Wissende des Unbewussten: Romantische Anthropologie und Ästhetik im Werk Richard Wagners 9783110292879, 9783110292763

What is the underlying conception of human nature that informs Richard Wagner’s operatic reforms? This study locates the

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German Pages 440 [444] Year 2013

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Table of contents :
Einführung
Der Fall Wagner – neu aufgerollt
Forschungsstand und Methode
Zur Terminologie
Das Unbewusste / Subjektivität
Anthropologie
Die Romantik / die Romantiker
Oper / Musikdrama / Musiktheater
Aufbau der Studie
1 Das Unbewusste als Grund und Abgrund: Was bedeutet ›romantische Subjektivität‹?
1.1. Das Sein vor dem Bewusstsein: Zur Konzeption des Unbewussten in der frühromantischen Philosophie
1.2. Die Theorie der Bewusstwerdung in Schellings Naturphilosophie
1.3. Das Unbewusste in der romantischen Anthropologie (Kluge, Schubert)
1.4. Das Unbewusste im romantischen Kunstwerk
2 »Erwacht, sich selber erkennet kaum«: Die prekäre Entstehung des Bewusstseins
2.1. Das Erwachen ins Bewusstsein und seine naturphilosophischen Grundlagen
2.1.1. Das Rheingold-Vorspiel oder: Das Unbewusste erwacht
2.1.2. »Ein Wort! Ein einzig Wort!« – Die Entstehung der Sprache
2.2. Die Verwirrung des erwachten Subjekts
2.2.1. Wotans und Elsas Erwachen
2.2.2. Erwachensszenen bei Kleist und Hoffmann
2.3. Die Erweckung des Unbewussten
3 Die Verheißung der Vergangenheit: Wagners mythisches Zeitbewusstsein
3.1. Das triadische Modell des Mythos
3.1.1. Wagners dramaturgischer Dreischritt
3.1.2. Die Idee des Goldenen Zeitalters in der Romantik
3.2. Die Zürcher Kunstschriften und die Dialektik der ›Neuen Mythologie‹
3.2.1. Elemente romantischer Mythologie in den Kunstschriften
3.2.2. Phantasie als Synthese
3.2.3. Zur Bewusstwerdung des Unbewussten in den Kunstschriften
3.3. Mythos und romantisches Zeitempfinden
3.3.1. Die Ahnung der Erinnerung: Romantische Mythomotorik
3.3.2. Die Psychologie des ›Einst‹ in Wagners Musikdramen
3.4. Muttersegens letzter Gruß: Kindheit, Trauma, Sexualität
3.4.1. Das Goldene Zeitalter der Kindheit und seine Schattenseiten
3.4.2. Sehrende Sehnsucht: Traumatische Urszenen von Lohengrin bis Parsifal
4 »Laß mich ihn sehn wie ich ihn sah«: Asthetik und Anthropologie des Blicks
4.1. »Ein neues höheres Auge«: Zum Motiv der Hellsichtigkeit
4.1.1. Hellsichtigkeit und ihre Folgen für die Sinneshierarchie in der Musikästhetik Wagners, Schopenhauers und der Romantik
4.1.2. Zur Potenzierung des Blicks in der romantischen Anthropologie
4.1.3. Das höhere Sehen in Wagners Musikdramen
4.2. Die Sprache(n) des stummen Blicks
4.2.1. Das Wechselspiel von Blick, Gestik und Musik
4.2.2. Zur Konkurrenz von Intuition und Diskursivität in der Romantik
4.3. Bilder und ihre Geschichten
4.3.1. Flucht vor dem Wort ins Bild: Der fliegende Hollander
4.3.2. Die Versprachlichung des Blicks bei Schelling, Carus und Hoffmann
4.3.3. Die Deutung der Bilder: Vom Lohengrin zur Traumnovelle
4.4. Geheimnisse des Wieder-Sehens: Zum Motiv des Déjà-vu
4.4.1. Urbild und Abbild: Die romantische Konzeption der Anamnesis
4.4.2. Traumbild und Trauma: Das Déjà-vu bei Richard Wagner
5 Geschichte des Ich: Zum Zusammenhang von Identität und Erzählung
5.1. Der fliegende Holländer: Musikdrama als Identitätsdrama
5.2. Dynamische Subjektivität: Schelling, Schubert, Carus
5.3. Fallgeschichte und Anamnese: Lektüren des Ich in der romantischen Literatur
5.4. »Siegmund heiß’ ich«: Namensgebung und Anamnese bei Wagner
5.4.1. Selbstvergewisserung: Warum bei Wagner so viel erzählt wird
5.4.2. Die Entstehung männlicher Identität durch Narration in den Musikdramen Die Walküre, Parsifal und Tristan und Isolde
5.5. Individualität und Dynamik in Oper und Drama
5.6. Der Ring des Nibelungen als Familienroman
5.6.1. Zum Gegensatz von Glauben und Wissen im Lohengrin
5.6.2. Vom Unbewussten zum Unterbewussten: Zur Topologie des Rings
5.6.3. Die Rekonstruktion der Geschichte: Siegfried und Brünnhilde
5.6.4. Das Subjekt und seine Familie: Wagners Ring und die erzählende Prosa der Moderne
6 Die Ekstase der Erinnerung: Plötzlichkeit, Wahnsinn, Gedächtnis
6.1. Tristans Taumel: Wahnsinn als Gedächtnisstörung
6.2. Wahnsinn und Gedächtnis in der Romantik
6.2.1. Die Darstellung des Wahnsinns in Platons Phaidros und Cervantes’ Don Quixote
6.2.2. Das Gedächtnisproblem im Magnetismus
6.2.3. Plötzlichkeit und Wahnsinn bei Kleist und Hoffmann
6.3. Plötzlichkeit vs. Erzählung
6.4. Die Heilung des Wahnsinns in Die Meistersinger von Nürnberg
6.4.1. »All mein Erinnern ist mir schnell geschwunden«: Tannhäuser
6.4.2. Deuten und Merken: Die Meistersinger
Ausblick und Schluss
Literaturverzeichnis
Siglen
Weitere Quellen
Forschungsliteratur
Abbildungsnachweise
Danksagung
Personenregister
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Wissende des Unbewussten: Romantische Anthropologie und Ästhetik im Werk Richard Wagners
 9783110292879, 9783110292763

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 199

Martin Schneider

Wissende des Unbewussten Romantische Anthropologie und Ästhetik im Werk Richard Wagners

De Gruyter

Der Autor dankt dem Richard-Wagner-Verband-International für die großzügige Gewährleistung eines Druckkostenzuschusses.

Zugl. Univ. München, Diss. 2011

ISBN 978-3-11-029276-3 e-ISBN 978-3-11-029287-9 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Fall Wagner – neu aufgerollt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Unbewusste / Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Romantik / die Romantiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oper / Musikdrama / Musiktheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

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Das Unbewusste als Grund und Abgrund: Was bedeutet ›romantische Subjektivität‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Das Sein vor dem Bewusstsein: Zur Konzeption des Unbewussten in der frühromantischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Theorie der Bewusstwerdung in Schellings Naturphilosophie . . . 1.3. Das Unbewusste in der romantischen Anthropologie (Kluge, Schubert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Das Unbewusste im romantischen Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 3 13 13 14 15 15 16

18 21 27 35 45

»Erwacht, sich selber erkennet kaum«: Die prekäre Entstehung des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Das Erwachen ins Bewusstsein und seine naturphilosophischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Das Rheingold-Vorspiel oder: Das Unbewusste erwacht . . . . . . 2.1.2. »Ein Wort! Ein einzig Wort!« – Die Entstehung der Sprache . . 2.2. Die Verwirrung des erwachten Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Wotans und Elsas Erwachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Erwachensszenen bei Kleist und Hoffmann. . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die Erweckung des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 50 60 64 65 69 77

Die Verheißung der Vergangenheit: Wagners mythisches Zeitbewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das triadische Modell des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Wagners dramaturgischer Dreischritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Die Idee des Goldenen Zeitalters in der Romantik . . . . . . . . .

85 88 88 96

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V

3.2. Die Zürcher Kunstschriften und die Dialektik der ›Neuen Mythologie‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Elemente romantischer Mythologie in den Kunstschriften . . 3.2.2. Phantasie als Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Zur Bewusstwerdung des Unbewussten in den Kunstschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Mythos und romantisches Zeitempfinden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Die Ahnung der Erinnerung: Romantische Mythomotorik . . 3.3.2. Die Psychologie des ›Einst‹ in Wagners Musikdramen . . . . . . 3.4. Muttersegens letzter Gruß: Kindheit, Trauma, Sexualität . . . . . . . . 3.4.1. Das Goldene Zeitalter der Kindheit und seine Schattenseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Sehrende Sehnsucht: Traumatische Urszenen von Lohengrin bis Parsifal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

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VI

»Laß mich ihn sehn wie ich ihn sah«: Ästhetik und Anthropologie des Blicks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. »Ein neues höheres Auge«: Zum Motiv der Hellsichtigkeit . . . . . . . . 4.1.1. Hellsichtigkeit und ihre Folgen für die Sinneshierarchie in der Musikästhetik Wagners, Schopenhauers und der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Zur Potenzierung des Blicks in der romantischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3. Das höhere Sehen in Wagners Musikdramen . . . . . . . . . . . . . 4.2. Die Sprache(n) des stummen Blicks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Das Wechselspiel von Blick, Gestik und Musik . . . . . . . . . . . 4.2.2. Zur Konkurrenz von Intuition und Diskursivität in der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Bilder und ihre Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Flucht vor dem Wort ins Bild: Der fliegende Holländer. . . . . . 4.3.2. Die Versprachlichung des Blicks bei Schelling, Carus und Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Die Deutung der Bilder: Vom Lohengrin zur Traumnovelle . . 4.4. Geheimnisse des Wieder-Sehens: Zum Motiv des Déjà-vu . . . . . . . 4.4.1. Urbild und Abbild: Die romantische Konzeption der Anamnesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2. Traumbild und Trauma: Das Déjà-vu bei Richard Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Geschichte des Ich: Zum Zusammenhang von Identität und Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 5.1. Der fliegende Holländer: Musikdrama als Identitätsdrama . . . . . . . . 260 5.2. Dynamische Subjektivität: Schelling, Schubert, Carus . . . . . . . . . . . 269

5.3. Fallgeschichte und Anamnese: Lektüren des Ich in der romantischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. »Siegmund heiß’ ich«: Namensgebung und Anamnese bei Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1. Selbstvergewisserung: Warum bei Wagner so viel erzählt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2. Die Entstehung männlicher Identität durch Narration in den Musikdramen Die Walküre, Parsifal und Tristan und Isolde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Individualität und Dynamik in Oper und Drama . . . . . . . . . . . . . . . 5.6. Der Ring des Nibelungen als Familienroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.1. Zum Gegensatz von Glauben und Wissen im Lohengrin . . . . 5.6.2. Vom Unbewussten zum Unterbewussten: Zur Topologie des Rings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.3. Die Rekonstruktion der Geschichte: Siegfried und Brünnhilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.4. Das Subjekt und seine Familie: Wagners Ring und die erzählende Prosa der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Die Ekstase der Erinnerung: Plötzlichkeit, Wahnsinn, Gedächtnis . . . . . 6.1. Tristans Taumel: Wahnsinn als Gedächtnisstörung . . . . . . . . . . . . . 6.2. Wahnsinn und Gedächtnis in der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1. Die Darstellung des Wahnsinns in Platons Phaidros und Cervantes’ Don Quixote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2. Das Gedächtnisproblem im Magnetismus . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3. Plötzlichkeit und Wahnsinn bei Kleist und Hoffmann . . . . . 6.3. Plötzlichkeit vs. Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Die Heilung des Wahnsinns in Die Meistersinger von Nürnberg . . . . 6.4.1. »All mein Erinnern ist mir schnell geschwunden«: Tannhäuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2. Deuten und Merken: Die Meistersinger . . . . . . . . . . . . . . . . .

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302 315 324 324 326 329 338 342 344 356 356 360 364 372 385 385 390

Ausblick und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Weitere Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 VII

Sein Bewußtsein schult sich in der Nacht, die das Bewußtsein zu verschlingen droht. Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner

Einführung

Der Fall Wagner – neu aufgerollt Das Werk Richard Wagners gehört zu jenen Ereignissen der jüngeren Kulturgeschichte, über die sich die Nachwelt kein eindeutiges Urteil zu bilden vermag. Im Gegensatz zu Shakespeare, Mozart oder Goethe gilt Wagner seit jeher als Problemfall. Er ist ein Künstler, dem so viel Bewunderung wie Verachtung zuteil wurde. Die einen hielten seine Werke für den Höhepunkt der Operngeschichte und verehrten ihn als ihren »Meister«, die anderen sahen in ihm vor allem einen Dilettanten, Sprachpanscher und Antisemiten. Die Kritik an Wagners Musikdramen entzündete sich nicht zuletzt an ihrer eigentümlichen Ästhetik. Es war Friedrich Nietzsche, der diese in Der Fall Wagner als Symptom einer kranken Kultur zu beschreiben versucht hat. Wagners Musik laufe darauf hinaus, »die Nerven zu überreden«. Er sei ein »Magnétiseur«,1 also ein Nervenarzt, der seine Patienten in Hypnose versetze. Doch wer sich von dieser Kunst Heilung oder gar Erlösung erhoffe, so Nietzsche, gehe Wagner in die Falle. Denn in Wahrheit sei dieser selbst die Krankheit, für deren Heilung er sich halte: Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärferen Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Principien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet (– eine Kranken-Galerie! –): Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lässt. Wagner est une névrose. […] Unsre Aerzte und Physiologen haben in Wagner ihren interessantesten Fall, zum Mindesten einen sehr vollständigen. Gerade, weil Nichts moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excellence […]. Er ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um.2

Hysterie, Hypnose, nervöse Maschinerie: Nietzsche greift hier ein Vokabular auf, das im 19. Jahrhundert die Entdeckung jenes Phänomens begleitete, das man »das Unbewusste« genannt hat. Dieses steht, wie Nietzsche richtig beobachtet hat, im

1

2

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Aufl., München 1988 [1980], Bd. 6, S. 29. Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen Hervorhebungen in Zitaten immer aus dem Original. Ebd., S. 22f.

1

Zentrum von Wagners Musikdramen. Der Zuschauer sieht Figuren, die mit den Tiefenschichten ihres Bewusstseins konfrontiert werden, mit dem, was jenseits der Grenze des Ich liegt und das Ich deshalb gefährdet. Dies gilt für die frühen ebenso wie für die späten Werke. Im Fliegenden Holländer gerät Senta durch das träumerische Anschauen eines Bildes in ekstatischen Rausch. Im Parsifal ist es Kundry, die immerzu schlafen will, aber keine Ruhe findet. Sie wird von einem traumatischen Erlebnis verfolgt, das sie in den Wahnsinn treibt. Wiederholt geraten die Protagonisten in einen Zustand, in dem sie in eine gebannte Starre verfallen, wie hypnotisiert erscheinen. Dies zeigt sich nicht nur an Wotan, der zu Beginn des Rheingolds völlig entrückt scheint, vom Anblick Walhalls »gefesselt« wird und noch »im Traume« zu sprechen beginnt. Auch die Liebespaare in Wagners Musikdramen sind bei ihrem ersten Aufeinandertreffen meist völlig in das Anschauen des anderen versunken und nehmen ihre Umgebung nicht mehr wahr. Wagner hat in seinem Leben viele philosophische Wandlungen vollzogen. Aber es gab immer eine Konstante: das Unbewusste und seine Bedeutung für das Subjekt. In dieser Frage erwies sich Wagner zeit seines Lebens als ein Nachfolger der romantischen Anthropologie und Literatur. In seinem Musiktheater versah er das menschliche Bewusstsein mit einem tiefen, undurchdringlichen Grund. Wie ein kleiner Nachen schwimmt es auf einem riesigen Ozean, der es jederzeit in die Tiefe zu reißen droht. Ob man dieses Menschenbild zutreffend findet oder nicht: Wagners Bühnenwerke schaffen eine Ästhetik, die den Zuschauer mit Nachdruck von der Existenz des Unbewussten zu überzeugen versucht. Und gerade weil Wagners Kunst das Vor-Bewusste und Irrationale inszeniert, tut eine wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema Not. Nur eine distanzierte Betrachtung von Wagners Konzeption des Unbewussten ist in der Lage, diese als kulturell und historisch bedingtes Konstrukt zu erfassen und damit eine der wichtigsten Voraussetzungen für Wagners Anthropologie und Ästhetik in den Blick zu bekommen. Dies ist der Grund, warum diese Arbeit den »Fall Wagner« neu aufrollt. Dabei folgt sie Nietzsches Einsicht, dass das Werk Wagners als Symptom auf die Pathologie der modernen Kultur verweist. Es gilt, die Musikdramen nicht als Antwort, sondern als Problem zu verstehen, nicht als ästhetischen Zufluchtsort vor einer rationalisierten Moderne, sondern als Kunstwerke, die die Widersprüche ihrer Zeit in sich aufgenommen haben. Wenn vom Unbewussten die Rede sein wird, soll es nicht um eine transzendente Instanz gehen, die dem Subjekt Erlösung bietet. Im Gegenteil: Die Studie kommt zu dem Schluss, dass in den Musikdramen Richard Wagners jene zerrissene Subjektivität zu Tage tritt, die aus der Dichotomie von Unbewusstem und Bewusstsein resultiert und in der Romantik erstmals virulent wurde. Von dieser Beobachtung ausgehend, soll gezeigt werden, welche Konsequenzen diese Anthropologie für die Ästhetik Wagners hatte: Seine Reform des Musiktheaters hängt eng mit dem Menschenbild zusammen, das er von der Romantik übernahm.

2

Forschungsstand und Methode Die Zahl der Publikationen zum Werk Richard Wagners ist kaum mehr zu überschauen, weshalb ein lückenloser Literaturbericht zweifellos Buchformat annehmen würde. Da Wagner nicht nur Komponist, sondern auch Autor und Theaterpraktiker war und sich zudem mit ästhetischen, philosophischen und religiösen Themen beschäftigte, fällt die Interpretation seines Werkes nicht in die Domäne eines einzigen Fachgebietes. »Wie er über alles mitreden wollte, so will alles über ihn mitreden«, formulierte der Germanist Dieter Borchmeyer treffend.3 Es gibt, abgesehen von der Unmenge an jährlich erscheinender Liebhaber-Literatur zum Thema, sowohl literatur-, theater- und musikwissenschaftliche, als auch politologische, philosophische und psychoanalytische Arbeiten, die sich mit Wagner auseinandersetzen – und das nicht nur im deutschen Sprachraum. Bei der Darstellung des Forschungsstandes ist deshalb Beschränkung gefragt. Aus diesem Grund soll im Folgenden zunächst ein kurzer Überblick über die dominierenden Tendenzen der Wagner-Forschung gegeben werden, die dann mit dem eigenen methodischen Ansatz verglichen werden. In einem zweiten Schritt wird dann der Forschungsstand in Bezug auf die beiden übergreifenden Themen dieser Arbeit vorgestellt: den Einfluss des Unbewussten und der Romantik auf das Werk Richard Wagners. Was die zahlreichen Einzelstudien zu den weiteren Untersuchungsaspekten angeht, so werden sie an dieser Stelle nicht referiert. Genaueres hierzu erfährt der Leser in der Diskussion der entsprechenden Kapitel. In der Forschung lassen sich vor allem zwei Ansätze ausmachen, die beide eine lange Deutungstradition für sich beanspruchen können. Da ist zum einen das Bemühen, den zeitlosen Charakter von Wagners Werk zu betonen, wobei einmal der Mythos, einmal die Religion im Vordergrund steht. Anfang der sechziger Jahre war es der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt, der die Verarbeitung von Archetypen der griechischen Mythologie in Wagners Musikdramen in den Fokus seiner Interpretation stellte. 4 Im Zuge von Wieland Wagners Versuch, das Werk seines Großvaters nach der nationalsozialistischen Rezeption gleichsam ins Universale

3

4

Dieter Borchmeyer, Wagner-Literatur – Eine deutsche Misere. Neue Ansichten zum »Fall Wagner«. In: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur, 3. Sonderheft, Forschungsreferate, 2. Folge, 1993, S. 1–62, hier S. 15. Vgl. hierzu Wolfgang Schadewaldt, Wagner und die Griechen. In: Schadewaldt, Hellas und Hesperien, Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, 2 Bde., 2. Aufl., Zürich, Stuttgart 1970 [1960], Bd. 2, S. 341–405. Es handelt sich dabei um Bayreuther Vorträge, die in den Jahren 1962 bis 1964 in den Programmheften der Festspiele abgedruckt wurden. Vgl. zu Wagners Rezeption der griechischen Kultur auch Ulrich Müller, Richard Wagner und die Antike. In: Richard-Wagner-Handbuch, hg. von Ulrich Müller / Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 7–18 sowie Ulrich Müller / Oswald Panagl (Hgg.), Ring und Gral. Texte, Kommentare und Interpretationen zu Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«, »Tristan und Isolde«, »Die Meistersinger von Nürnberg« und »Parsifal«, Würzburg 2002.

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und Vorgeschichtliche zu wenden, war auch Schadewaldt zu jenem Kreis von Gelehrten gestoßen, die die intellektuelle Fundierung des ›neuen Bayreuth‹ garantieren sollten.5 Ihren wichtigsten Impuls erhielten die auf den Mythos bezogenen Wagner-Deutungen jedoch in den achtziger Jahren. In seinem Buch Die Wahrheit des Mythos, in dem er die Gleichwertigkeit des mythischen gegenüber dem wissenschaftlichen Welterklärungsanspruch betonte, beschäftigte sich der Philosoph Kurt Hübner auch mit Richard Wagner. In dessen Werk sah Hübner »zeitlich undatierbare, numinose Urereignisse« zur Darstellung gebracht.6 Dieser Spur ist vor allem Dieter Borchmeyer gefolgt, der insbesondere den Ring des Nibelungen als Reaktualisierung des Mythos begreift und die Tetralogie in Bezug auf mythische Archetypen interpretiert. Borchmeyer kommt darüber hinaus das Verdienst zu, die stoffgeschichtlichen Bezüge und literarischen Einflüsse auf das Schaffen Richard Wagners mit philologischer Präzision herausgearbeitet zu haben. Dies betrifft die zahlreichen Verbindungen zwischen den Werken Goethes, Schillers und Wagners ebenso wie die Rezeption Wagners in den Schriften Nietzsches und Thomas Manns.7 Auch neuere Arbeiten beschäftigen sich mit dem geschichts- und gesellschaftsenthobenen Gehalt von Wagners Werk. Zu nennen ist hier Ulrike Kienzle, die in ihrem Buch …daß wissend würde die Welt! nicht nur die philosophische, sondern auch die religiöse Dimension der Musikdramen, allen voran Parsifal, darzulegen versucht und dabei Verbindungen zu Christentum, Buddhismus und indischer Philosophie aufzeigt.8 Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie sich weniger für die

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Dass Schadewaldt durch seine Tätigkeit als Dekan der Universität Freiburg in den Jahren 1933 und 1934 die nationalsozialistische Politik des Rektors Martin Heidegger unterstützte, tat seiner Publikationstätigkeit für die Programmhefte der Bayreuther Festspiele keinen Abbruch. Schadewaldts Biographie ist noch relativ harmlos im Vergleich zu den notorischen Nazis, die nach 1945 in den Programmheften publizieren durften. Besonders der Fall Hans Grunskys bezeugt, dass sich die Ideologie des deutschen Faschismus gut mit der in Bayreuth angesagten Mythos-Exegese vereinbaren ließ. Grunsky veröffentlichte Aufsätze, die sich mit dem mythischen Gehalt von Wagners Werken beschäftigten und bezog sich dabei auch auf Wieland Wagners Inszenierungen. Noch 1958 druckten die Programmhefte einen Beitrag Grunskys zum Lohengrinmythos, in dem er sich auf den antisemitischen »Wissenschaftler« Leopold von Schroeder bezog. Vgl. hierzu Udo Bermbach, Richard Wagner in Deutschland. Rezeption und Verfälschungen, Stuttgart, Weimar 2011, S. 479–485. Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 400. Zur Auseinandersetzung mit Hübners und Borchmeyers Thesen vgl. die Abschnitte 3.1.1. und 3.2.2. der vorliegenden Studie. Vgl. hierzu Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt am Main 2002. Borchmeyers Interpretation des Ring des Nibelungen findet sich ebd., S. 276–307. Die Untersuchung von Wagners Mythos-Begriff hat im expliziten Anschluss an die Studien von Hübner und Borchmeyer weitergeführt: Petra-Hildegard Wilberg, Richard Wagners mythische Welt. Versuche wider den Historismus, Freiburg im Breisgau 1996. Ulrike Kienzle, … daß wissend würde die Welt! Religion und Philosophie in Richard Wagners Musikdramen, Würzburg 2005. Genannt seien an dieser Stelle auch die Arbei-

sozialhistorischen Aspekte, als für universalisierbare Denkmuster und intertextuelle Bezüge in Wagner Werk interessieren. Mit diesen Deutungen konkurriert ein zweiter Strang der Forschung, der die gesellschaftliche, ja sozialrevolutionäre Bedeutung von Wagners Werk in den Vordergrund stellt und es dabei im 19. Jahrhundert verankert. Ihren Ausgangspunkt nehmen diese Arbeiten in George Bernard Shaws Buch The Perfect Wagnerite aus dem Jahr 1898,9 in dem Shaw den Ring des Nibelungen in den Kontext des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts stellte. Drei Jahrzehnte später schrieb Theodor W. Adorno im Exil seinen Versuch über Wagner, den er erstmals 1952 publizierte und in dem er auch auf den politischen und revolutionären Charakter von Wagners Werk verwies.10 Weitergeführt wurde dieser Gedanke ab den sechziger Jahren von Hans Mayer, der das Denken und Schaffen Wagners im Umfeld Feuerbachs, Bakunins und Proudhons verortete und die Musikdramen aus dem Kontext ihrer Entstehungszeit zu deuten versuchte.11 Von hier aus lässt sich eine Linie ziehen zu den Studien des Politologen Udo Bermbach, die den Einfluss insbesondere des Frühsozialismus auf Wagners ästhetische Schriften und Bühnenwerke detailliert darlegen.12 Dabei geht es Bermbach nicht um die Leugnung mythischer Denkmuster in Wagners Werk, sondern um die Erweiterung des Mythos-Begriffs um eine soziale und politische Komponente.13 Die Tatsache, dass sich Wagner die über-

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ten des Mediävisten Peter Wapnewski, die eine lesenswerte Darstellung der Musikdramen beinhalten und auch literarhistorische Bezüge nicht nur zur mittelalterlichen Literatur herstellen. Vgl. Peter Wapnewski, Tristan, der Held Richard Wagners, Berlin 1981; Peter Wapnewski, Die Oper Richard Wagners als Dichtung. In: Richard-WagnerHandbuch, hg. von Ulrich Müller / Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 223–352; Peter Wapnewski, Liebestod und Götternot. Zum »Tristan« und zum »Ring des Nibelungen«, Berlin 1988; Peter Wapnewski, Weißt Du wie das wird …? Richard Wagner – »Der Ring des Nibelungen«, München, Zürich 1995. In jüngster Zeit ist zur Stoff- und Wirkungsgeschichte erschienen: Yvonne Nilges, Richard Wagners Shakespeare, Würzburg 2007. Bernard Shaw, Ein Wagner-Brevier. Kommentar zum Ring des Nibelungen, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1991 [1973]. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970ff., Bd. 13, S. 7–148. Nicht verschwiegen werden sollte die Rolle von zwei Werken, die Adornos Auseinandersetzung mit Wagner entscheidende Impulse gaben. Es handelt sich um die immer noch anregenden Studien von Paul Bekker, Wagner. Das Leben im Werke, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1924 sowie Ernest Newman, The Life of Richard Wagner, 4 Bde., New York 1933–1947. Mayers Arbeiten sind zusammengefasst in Hans Mayer, Richard Wagner, hg. von Wolfgang Hofer, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1998. Udo Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, Stuttgart, 2. Aufl., Weimar 2004 [1994]; Udo Bermbach, »Blühendes Leid«. Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen, Stuttgart 2003. Siehe zu diesem Thema auch die Studie von Manfred Kreckel, Richard Wagner und die französischen Frühsozialisten. Die Bedeutung der Kunst und des Künstlers für eine neue Gesellschaft, Frankfurt am Main 1986. Dies wird bereits in einigen Beiträgen einer Münchener Ringvorlesung deutlich, die

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lieferten Mythen konstruktiv aneignet und neu deutet, bietet Bermbach hierfür die Grundlage. So bezieht er etwa den Ring nicht nur auf die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sondern sieht in ihm eine Bankrotterklärung jeglicher modernen Politik.14 Beide Deutungsstränge haben immer wieder die Bayreuther Inszenierungen beeinflusst oder wurden von diesen angeregt. Man denke nur an die Ring-Deutungen Wieland Wagners (1951–1958, 1965–1968) und Alfred Kirchners (1994–1999), die den mythischen und zeitenthobenen Gehalt der Tetralogie betonten, oder diejenigen Patrice Chéreaus (1976–1980) und Jürgen Flimms (2000–2004), die den sozialgeschichtlichen und politischen Impetus des Werkes dezidiert herausstellten. Dennoch sollte die Wagner-Literatur nicht auf diese beiden Forschungsrichtungen reduziert werden. Denn auch die Arbeiten, die sich mit Wagners Ästhetik und seiner Reform des Musiktheaters beschäftigen, verdienen Erwähnung. Anfang der siebziger Jahre stellte der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus wichtige gattungstheoretische Überlegungen zu Wagners Musikdramen an, wobei es ihm gelang, deren Neuerungen gegenüber den überlieferten Formen des Musiktheaters überzeugend darzustellen.15 Weitere wichtige Beiträge zu dieser Fragestellung boten Dieter Borchmeyers Das Theater Richard Wagners und Stefan Kunzes Der Kunstbegriff Richard Wagners.16 Auch in jüngster Zeit hat die theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Wagner Früchte getragen, wobei vor allem Stephan Möschs Studie Weihe, Werkstatt, Wirklichkeit zu nennen ist.17 Sie ist vor allem deswegen innovativ, weil sie unter Berücksichtigung neuerer Theoriebildungen zur Performativität die Aufführungspraxis des Parsifal untersucht und dabei den plurimedialen Charakter des Musikdramas interdisziplinär in den Blick nimmt. Und last but not least soll an dieser Stelle auch die musikwissenschaftliche Wagner-Forschung zur Sprache kommen. Natürlich kann auch hier keine umfassende

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sich mit Wagners Mythos-Begriff beschäftigte. Vgl. Dieter Borchmeyer (Hg.), Wege des Mythos in die Moderne. Richard Wagner und »Der Ring des Nibelungen«, München 1987. Vgl. Bermbach, »Blühendes Leid«, S. 165–245. Carl Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, Stuttgart 1996 [1971]; Carl Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, München, Kassel, Basel u.a. 1990 [1971]. Dieter Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners. Idee, Dichtung, Wirkung, Stuttgart 1982; Stefan Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners. Voraussetzungen und Folgerungen, Regensburg 1983. Vgl. zu Wagners ästhetischer Theorie auch Rainer Franke, Richard Wagners Zürcher Kunstschriften, Hamburg 1983, S. 99–160 sowie Sven Friedrich, Das auratische Kunstwerk. Zur Ästhetik von Richard Wagners Musiktheater-Utopie, Tübingen 1996. Die neueste Studie zu gattungstheoretischen Fragestellungen stammt von Dorothea Kirschbaum, Erzählen nach Wagner. Erzählstrategien in Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«, Hildesheim, Zürich, New York 2010. Stephan Mösch, Weihe, Werkstatt, Wirklichkeit. Parsifal in Bayreuth 1882–1933, Stuttgart 2009.

Darstellung gegeben werden, zumal es sich bei vorliegender Studie in erster Linie um eine literaturwissenschaftliche handelt. Es sei jedoch auf die bemerkenswerte Tatsache hingewiesen, dass aus Reihen der musikologischen Forschung Kritik an der Qualität der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Wagner laut wurde.18 »Versagt die Musikwissenschaft vor der Musik Richard Wagners?« So betitelte der Herausgeber der Sämtlichen Werke, Egon Voss, seinen Vortrag auf einer im Jahr 2000 abgehaltenen Würzburger Wagner-Tagung. Voss beklagte, dass »die Musik in der Auseinandersetzung mit Wagner allenfalls eine Rolle am Rande« spiele und die Musikwissenschaftler auf Tagungen »nahezu regelmäßig in der Minderheit« seien.19 Tatsächlich ist nicht zu bestreiten, dass die Zahl der wegweisenden musikwissenschaftlichen Studien im Falle Richard Wagners überschaubar ist. Für diese These spricht, dass die Interpretationen von Carl Dahlhaus, die vor nunmehr über vierzig Jahren geschrieben wurden, immer noch als Grundlage für die Beschäftigung mit Wagner dienen.20 Als weitere wichtige Referenz sind die Arbeiten von Werner Breig zu nennen, die im Hinblick auf den Zusammenhang von Textmetrik und musikalischer Struktur gerade für interdisziplinär forschende Wissenschaftler aufschlussreich sind.21 Dennoch wäre es vermessen zu behaupten, dass es keine aktuelle musikologische Auseinandersetzung mit Wagners Musikdramen gebe. Neben dem erwähnten Würzburger Symposion sind hier die Sammelbände Richard Wagner, Konstrukteur der Moderne und Narben des Gesamtkunstwerks zu nennen, die den modernen Gehalt von Wagners Partituren auf hohem theoretischem Niveau reflektieren. Auch die jüngst erschienene Studie von Tobias Janz zur Klangdramaturgie des Rings stellt einen innovativen Beitrag zum Verständnis von Wagners Kompositionsweise dar.22

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Egon Voss, Versagt die Musikwissenschaft vor der Musik Richard Wagners? In: Der »Komponist« Richard Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft. Symposion Würzburg 2000, hg. von Ulrich Konrad / Egon Voss, Wiesbaden, Leipzig, Paris 2003, S. 15–32. Ebd., S. 15. Vgl. zur musikwissenschaftlichen Wagner-Forschung der siebziger Jahre neben den beiden bereits zitierten Monographien von Dahlhaus auch die folgenden Sammelbände: Carl Dahlhaus (Hg.), Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, Regensburg 1970 sowie Carl Dahlhaus (Hg.), Richard Wagner. Werk und Wirkung, Regensburg 1970. Vgl. Werner Breig, Wagners kompositorisches Werk. In: Richard-Wagner-Handbuch, hg. von Ulrich Müller / Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 353–470; Werner Breig, Zur musikalischen Struktur von Wagners Ring des Nibelungen. In: In den Trümmern der eignen Welt. Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«, hg. von Udo Bermbach, Berlin, Hamburg 1989, S. 39–62; Werner Breig, Wagners Begriff der »dichterisch-musikalischen Periode«. In: »Schlagen Sie die Kraft der Reflexion nicht zu gering an«. Beiträge zu Richard Wagners Denken, Werk und Wirken, hg. von Klaus Döge / Christa Jost / Peter Jost, Mainz, London, Madrid u.a. 2002, S. 158–172. Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.), Richard Wagner. Konstrukteur der Moderne, Stuttgart 1999; Richard Klein (Hg.), Narben des Gesamtkunstwerks. Wagners Ring des Nibelun-

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Doch zurück zur Literaturwissenschaft, der das Hauptaugenmerk dieses Überblicks gilt. Auch in ihrem Fall kommt man nicht umhin, eine gewisse Distanz zum Thema Richard Wagner festzustellen. Dies trifft in erster Linie auf die deutsche Germanistik zu. Bereits vor zwanzig Jahren beklagte Dieter Borchmeyer die »Selbstverweigerung« des Faches »gegenüber einem der zentralen Ereignisse der deutschen Kulturgeschichte«.23 Dieses Urteil ist noch heute von trauriger Aktualität. Über die Gründe kann nur spekuliert werden: Sei es, dass Wagners Libretti in ihrer literarischen Qualität eher belächelt als ernst genommen werden, sei es, dass die meisten Germanisten in ihm einen Fall für Musikwissenschaftler sehen. Fest steht, dass die philologische Beschäftigung mit Richard Wagner weit weniger produktiv ausfällt, als dies bei anderen Autoren der Fall ist. Während neue literaturwissenschaftliche Methoden anhand der Texte längst »klassisch« gewordener Autoren immer wieder erprobt und intensiv diskutiert werden, sind in die Auseinandersetzung mit Wagners Werk wenig innovative Impulse eingeflossen oder aus ihr hervorgegangen. Das gilt insbesondere für die kulturwissenschaftliche Ausrichtung der germanistischen Forschung, die in den letzten Jahrzehnten wichtige Fragestellungen aufgeworfen hat: diejenige nach der Rolle der Kunst bei der kulturellen Modellierung von Subjektivität und Identität, nach ihrer Bedeutung für die Konstitution von Erinnerung und Gedächtnis und ihrem Verhältnis zu den zeitgenössischen Wissenschaften und der historischen Anthropologie.24 Die vorliegende Studie will zeigen, dass die Untersuchung dieser Fragen zu einem neuen Verständnis der Werke Richard Wagners beitragen kann. Sie begreift Wagners Musiktheater als Ausdruck des kulturellen Umfeldes, in dem es entstanden ist, als »poetische Organisation und soziale Reflexion des anthropologischen Selbstverständnisses« seiner Zeit.25 Die Erkenntnisse, die dieser methodische Ansatz verspricht, können dann auf gattungstheoretische Fragestellungen bezogen werden. In anderen Worten: Die Studie unternimmt den Versuch, die kulturhistorischen und anthropologischen Voraussetzungen von Wagners Reform des Musiktheaters zu verstehen. Damit einher geht ihre interdisziplinäre Ausrichtung. Denn gerade die

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gen, München 2001; Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners »Ring des Nibelungen«, Würzburg 2006. Borchmeyer, Wagner-Literatur, S. 2. Einen Überblick über die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft bieten unter anderem Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hgg.), Methoden der literaturund kulturwissenschaftlichen Textanalyse: Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Stuttgart, Weimar 2010; Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hgg.), Einführung in die Kulturwissenschaften, Stuttgart, Weimar 2008; Sabina Becker, Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien, Reinbek bei Hamburg 2007; Franziska Schößler, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen 2006; Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2006. Jörg Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, 2 Bde., Tübingen 1998, S. 5.

Musiktheater-Forschung kann zeigen, dass die Forderung nach Interdisziplinarität sehr gut mit kulturwissenschaftlichen Prämissen vereinbar ist. Das Musiktheater ist eine plurimediale Kunstform, in der verschiedene Codes ineinandergreifen,26 weshalb in dieser Arbeit die aus den Libretti Wagners gewonnenen Thesen anhand der Partituren überprüft werden.27 Diese semiotischen Strukturen sollen dann auf ihre kulturellen Voraussetzungen und Bedeutungen hin untersucht werden. Ein Schwerpunkt dieser Arbeit besteht deshalb darin, das Wechselspiel zwischen verschiedenen Medien und Zeichen in den Musikdramen Richard Wagners vor dem Hintergrund der romantischen Anthropologie zu analysieren. Der Konflikt von Unbewusstem und Bewusstsein wird als ein Konflikt von non-verbalen und verbalen Codes zu beschreiben versucht. Nach dieser Darstellung der dominierenden Tendenzen der Forschung und des eigenen methodischen Ansatzes soll nun die Rolle des Unbewussten und der Romantik in der Wagner-Literatur referiert werden. Obwohl Wagner häufig und an zentralen Stellen seiner ästhetischen Schriften explizit vom Unbewussten spricht und dieser Begriff auch in seinen Musikdramen eine zentrale Rolle spielt, wurde er bisher höchstens kursorisch erwähnt. Seine Voraussetzungen und Folgen wurden nicht reflektiert, weshalb er oft sehr unscharf gebraucht wird.28 Der Erfolg, den die Idee des Unbewussten in der jüngeren Kulturgeschichte hatte, versperrt offenbar den Blick darauf, dass sie ein historisches Konstrukt ist. Wir alle sprechen wie selbstverständlich vom Unbewussten, ohne genau zu wissen, was es damit eigentlich auf sich hat. Das mag im Alltag hingehen, in der Wissenschaft ist es pro26

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Vgl. hierzu Manfred Pfisters Definition des Dramas, die auf folgenden Kriterien beruht: Plurimedialität, performative Kommunikation, Überlagerung von innerem und äußerem Kommunikationssystem, Kollektivität von Produktion und Rezeption. Pfister selbst weist darauf hin, dass nicht nur das Drama, sondern auch das Musiktheater die hier genannten Kriterien erfüllt. Vgl. Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, 11. Aufl., München 2001 [1971], S. 33. Eine Untersuchung, die sich allein auf den Text stützt und die Musik ignoriert, bleibt unvollständig. Und man wird auch, wie Egon Voss zu Recht betont hat, »der Wagnerschen Musik nicht gerecht, wenn man sie nur aus sich verstehen will.« Voss, Versagt die Musikwissenschaft, S. 18. Ein Beispiel hierfür ist die folgende Beschreibung: »Wagners Protagonisten erleben ihr Dasein als fortgesetztes Träumen; in Zuständen des Entrücktseins vom Alltäglichen erhalten sie Zugang zum Bereich des Unbewussten und der Transzendenz.« Ulrike Kienzle, Liebe, Schlaf und Tod im Werk Richard Wagners. Wandlungen eines romantischen Motivs vom »Holländer« bis zum »Parsifal«. In: Eros, Schlaf, Tod, hg. von José Sanchez de Murillo / Martin Thurner, Stuttgart 2007, S. 335–371, hier S. 335. Zum einen ist fraglich, ob Wagners Figuren ihr Leben tatsächlich als »fortgesetztes Träumen« erleben. Sind sie nicht eher zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein hin- und hergerissen? Zum anderen ist es problematisch, das Unbewusste in einem Atemzug mit der Transzendenz zu nennen. Zwar kennt die Romantik eine metaphysische Überhöhung des Unbewussten, diese wird aber von anderen, in die Moderne weisenden Vorstellungen begleitet – man denke nur an Carl Gustav Carus’ Unterscheidung zwischen einem »absoluten« und einem »relativen« Unbewussten (vgl. Kap. 5.5.).

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blematisch. Auch die bisherige Literatur zu psychologischen Aspekten in Wagners Werk konnte hier keine Abhilfe schaffen. Dies zeigt Dieter Schicklings Abschied von Walhall – Richard Wagners erotische Gesellschaft ebenso wie Robert Doningtons Buch über den Ring des Nibelungen und seine Symbole.29 Hier wird jeweils mit Hilfe eines von der Nachwelt entwickelten psychoanalytischen Modells das Werk Wagners zu deuten versucht. Der Unterschied zwischen Schickling und Donington besteht allein darin, dass sich jener auf Sigmund Freud, dieser auf Carl Gustav Jung bezieht.30 Der Erkenntnisgewinn einer solchen Vorgehensweise hält sich in Grenzen, denn weder Schickling noch Donington wagen sich an eine Untersuchung der historischen Voraussetzungen der Wagnerschen Anthropologie. Dies ist aber der einzige Weg, deren Eigenheiten zu verstehen und mit der späteren Psychoanalyse vergleichen zu können. Noch mehr überrascht, dass es keine neuere Monographie gibt, die die Wirkung der romantischen Anthropologie auf das Denken und Schaffen Richard Wagners untersucht. Der Einfluss der Romantik auf Wagner scheint in der Forschung eine Selbstverständlichkeit zu sein, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Ist es nicht anachronistisch, sich mit diesem Thema zu beschäftigen? Tatsächlich war es vor allem die ältere Forschung, die sich mit dem Verhältnis Wagners zur Romantik auseinandergesetzt hat. Dabei ging sie nicht selten von dem beliebten, aber fragwürdigen Diktum aus, dass Wagner die Romantik »vollendet« habe. Dies wurde vor allem in Bezug auf das Gesamtkunstwerk zu zeigen versucht: Wagner sei es gelungen, die ästhetischen Utopien der Romantik in seinen Musikdramen zu verwirklichen. Zu nennen sind hier unter anderem Kurt Knopfs schmale Dissertation über Die romantische Struktur des Denkens Richard Wagners aus dem Jahr 1932 sowie die zwanzig Jahre später erschienene Studie von Othmar Fries über Richard Wagner und die deutsche Romantik.31 Vor allem Fries geht in seiner Arbeit von einem idealisierten, teilweise auch verkitschten Bild Richard Wagners aus,32 über philologische Bezüge zwischen dessen Musikdramen und der romantischen

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Vgl. Dieter Schickling, Abschied von Walhall. Richard Wagners erotische Gesellschaft, Stuttgart 1983; Robert Donington, Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und seine Symbole. Musik und Mythos, Stuttgart 1976. Allerdings ist Doningtons Studie insgesamt von höherer Qualität, da man wenigstens etwas über die archaische Symbolwelt des Rings erfährt und ein System der Leitmotive an die Hand bekommt. Schicklings Studie dagegen beruht weitgehend auf Behauptungen und Vorannahmen, die selten durch eine genaue philologische Untersuchung gestützt werden. Vgl. Kurt Knopf, Die romantische Struktur des Denkens Richard Wagners, Jena 1932; Othmar Fries, Richard Wagner und die deutsche Romantik. Versuch einer Einordnung, Zürich 1952. Um nur ein Beispiel zu geben: Laut Fries zählt Wagner »zu jenen, ach so seltenen, schöpferischen Menschen […], denen es beschieden war, aus der Musik einen ganzen Kosmos aufzubauen und dem Welt- und Lebensgefühl eines Volkes, einer Epoche gültigen Ausdruck zu verleihen.« Fries, Richard Wagner und die deutsche Romantik, S. 12f.

Literatur erfährt man nur sehr wenig. Umso nachdrücklicher ist das Verdienst von Paul Arthur Loos hervorzuheben, der in seinem Buch Richard Wagner – Vollendung und Tragik der deutschen Romantik zahlreiche Verbindungen zwischen Wagner und der Romantik herausgearbeitet und dabei auch verschiedene Wissensfelder in den Blick genommen hat. Dabei versucht Loos, jenseits von »kritiklos schwärmerischem Wagnerianertum und kenntnisarm mißverstehender Wagnerfeindschaft« an seinen Untersuchungsgegenstand heranzugehen.33 Zwar ist auch bei ihm noch die These virulent, dass Wagners Werk ein »Letztes und Äußerstes« bilde, »das nicht mehr überschritten werden« könne.34 Aber bei genauerem Hinsehen hat Loos, dessen Interpretationen an Thomas Mann und Friedrich Nietzsche geschult sind, sehr genau die Ambivalenz und das moderne Potential der Romantik und Richard Wagners erkannt. Er versteht deren Werke als Diagnose der Psyche des modernen Menschen35 und setzt sich mit anthropologischen Themen wie Traum, Schlaf, Wahnsinn und Krankheit auseinander.36 Allerdings ist sein Buch eher ein groß angelegtes Essay als eine philologische Untersuchung, seine Intuitionen belegt Loos meist nur mit kursorischen Beispielen. Die Thesen Thomas Manns und Nietzsches werden letztlich nur unwesentlich erweitert. Seit der Veröffentlichung von Loos’ Studie im Jahr 1952 ist keine größere Monographie mehr erschienen, die sich ausschließlich dem Einfluss der Romantik auf Richard Wagner gewidmet hätte. Dennoch wurde auch in neueren Darstellungen wiederholt darauf hingewiesen, dass romantische Topoi in Richard Wagners Musikdramen Eingang gefunden haben. Als Beispiele seien hier die Interpretationen Dieter Borchmeyers und Ulrike Kienzles genannt.37 Und in jüngster Zeit hat Manfred Frank in seiner Aufsatzsammlung Mythendämmerung auf die Bedeutung der romantischen Mythologie für die Mythos-Konzeption Wagners hingewiesen.38 Von all diesen Ansätzen unterscheidet sich die vorliegende Studie in einem wichtigen Punkt: Sie stellt die Idee des Unbewussten in der romantischen Anthropologie und Literatur sowie die damit verbundene Konzeption einer aporetischen

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Paul Arthur Loos, Richard Wagner. Vollendung und Tragik der deutschen Romantik, München 1952, S. VIII. Ebd., S. 490. »In der Psychologie aber seiner Kunst erscheint wiederum die Ich-Problematik der Zeit: seine Götter und Helden sind in mancher Hinsicht moderne Charaktere.« Ebd., S. 54. Ebd., S. 274–328. Vgl. etwa Borchmeyers Interpretation der romantischen Opern Wagners als »Künstlerdramen« sowie seine Untersuchung zum »Mythos der Nacht« in Wagners Tristan und Isolde in Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 185–206 u. 261–287. Siehe zu weiteren Einflüssen der Romantik auch Borchmeyer, Richard Wagner, S. 143–196. Die Bedeutung der »romantischen Religiosität« und der Musikästhetik der Frühromantik für Richard Wagner untersucht Ulrike Kienzle, … daß wissend würde die Welt, S. 22– 24 u. 52–71. Vgl. Manfred Frank, Mythendämmerung. Richard Wagner im frühromantischen Kontext, München 2008.

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Subjektivität ins Zentrum. Dadurch werden Bezüge zwischen verschiedenen romantischen Wissensbereichen und dem Werk Richard Wagners sichtbar, die der Forschung bisher entgangen sind. Dies gilt für die von F.W.J. Schelling begründete Naturphilosophie ebenso wie für die Schriften der Anthropologen Gotthilf Heinrich von Schubert und Carl Gustav Carus. Auch die therapeutische Praxis des Mesmerismus, die im Zentrum der romantischen Medizin steht, wird zum ersten Mal als Voraussetzung von Wagners Musikdramen verstanden. Von diesen Wissensfeldern ausgehend, werden neue Wege sichtbar, die von der romantischen Literatur zu Richard Wagner führen. Dabei folgt die Studie vor allem den Spuren zweier Autoren, die den anthropologischen Diskurs ihrer Zeit produktiv umgesetzt haben: Heinrich von Kleist und E.T.A. Hoffmann. Dass das Werk Kleists in der Wagner-Forschung praktisch keine Rolle spielt, ist erstaunlich.39 Denn es waren Kleists Dramen und Erzählungen, die mit ihrer Darstellung einer modernen und gebrochenen Subjektivität Richard Wagner den Weg wiesen. Dies gilt in noch stärkerem Maße für E.T.A. Hoffmann. Er wurde zwar als Vorläufer Wagners wahrgenommen, allerdings fast ausschließlich im Hinblick auf die Ästhetik.40 Und das, obwohl bekannt ist, wie intensiv sich Wagner als Jugendlicher mit Hoffmanns fiktionalen Texten auseinandersetzte und diese auch in späten Jahren immer wieder zur Hand nahm. 41

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Eine Ausnahme bildet Dieter Borchmeyer, Lohengrin: Jupiters Inkognito. Schillers »Semele« und Kleists »Amphitryon« als mythische Grundschrift einer romantischen Oper. In: »Schlagen Sie die Kraft der Reflexion nicht zu gering an«. Beiträge zu Richard Wagners Denken, Werk und Wirken, hg. von Klaus Döge / Christa Jost / Peter Jost, Mainz, London, Madrid u.a. 2002, S. 62–68. Vgl. hierzu, in chronologischer Reihenfolge: Linda Siegel, Wagner and the Romanticism of E.T.A. Hoffmann. In: The Musical Quarterly 51, H. 4, 1965, S. 597–613; Klaus Kropfinger, Wagner und Beethoven. Untersuchungen zur Beethoven-Rezeption Richard Wagners, Regensburg 1975, S. 54–57; Monika Eberl, Richard Wagner und E.T.A. Hoffmann. Berührungspunkte zwischen Utopisten. In: Musica 40, H. 4, 1986, S. 333–338; Friedrich, Das auratische Kunstwerk, S. 53–59; Ann-Katrin Kaiser, Die Kunstästhetik Richard Wagners in der Tradition E.T.A. Hoffmanns, Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien 2009. Auf die eminente Bedeutung Hoffmanns für die Musik der Romantik verweisen Carl Dahlhaus / Norbert Miller, Europäische Romantik in der Musik, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2007, S. 55–279. Dass Wagner in seiner Jugend ein begeisterter Leser E.T.A. Hoffmanns war, ist nicht zuletzt auf den Einfluss seines Onkels Adolf zurückzuführen, der mit Hoffmann bekannt war. Dies zeichnet nach: Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner. Sein Leben. Sein Werk. Sein Jahrhundert, München 1983 [1980], S. 21f., 57, 64–67. Die spätere Lektüre Hoffmanns ist durch die Tagebücher Cosima Wagners belegt. Um nur einige wenige Stellen zu nennen: CT I, 230, 288, 291 sowie CT II, 168, 658, 939. Wie sehr Wagner selbst die Nähe zu Hoffmann gespürt hat, zeigt eine Aufzeichnung aus eben diesen Tagebüchern: »H. Pl. erzählt von E.T.A. Hoffmann, und R. teilt mit, daß der Chordirektor Fischer, welcher Hoffmann gekannt habe, behauptete, R. sähe ihm ähnlich, vielmehr erinnere an ihn; R. meint, er könne es sich denken.« (Eintrag vom 25. Juli 1878, CT II, 145) Und an anderer Stelle (25. April 1882) heißt es: »Wir besprechen es in der Frühe, daß

Zur Terminologie Das Unbewusste / Subjektivität Im Zentrum dieser Arbeit steht ein unmöglicher Begriff. Denn das Un-Bewusste ist per definitionem ein Gebiet, das jenseits jeglicher Reflexion liegt. Kann man das Unbewusste überhaupt wissenschaftlich untersuchen? Man kann, denn als Literaturwissenschaftler hat man es nicht mit Wahrheiten, sondern mit Darstellungen zu tun. Aus diesem Grund wird es in dieser Studie nicht um das Unbewusste als objektive Gegebenheit, sondern um die Rede vom Unbewussten gehen, um seine Konzeption in philosophischen, anthropologischen und literarischen Texten. Dabei interessiert vor allem die romantische Variante dieser Konzeption, da sie es war, die Richard Wagner entscheidende Impulse gegeben hat. Des Weiteren steht die Tatsache, dass das Unbewusste nur durch seinen Bezug auf das Bewusstsein seinen Sinn erhält, im Zentrum der folgenden Auseinandersetzung mit diesem Begriff. Es geht nicht um das Unbewusste an sich, sondern um das Wechselspiel von Unbewusstem und Bewusstsein. Was bedeutet es für den Menschen, wenn sein Wachbewusstsein einen Schatten erhält, einen dunklen Doppelgänger, der ihn bei allen seinen Handlungen begleitet? Eine Antwort Wagners und der Romantiker lautet: Der Mensch kann sich nur erkennen, wenn er sich das Unbewusste bewusst zu machen versucht. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht also die Frage, wie sich Subjektivität unter der Bedingung des Unbewussten konstituiert. Deshalb wird in dieser Arbeit wiederholt von der Bewusstwerdung des Unbewussten die Rede sein. Darauf spielt der Titel dieser Arbeit an, der Wagners Zürcher Kunstschriften entnommen ist: Die Figuren versuchen sowohl in romantischen Texten als auch in Wagners Musikdramen »Wissende des Unbewußten« (SSD III, 50) zu werden. Was die Romantiker unter dem Unbewussten verstanden, wird das erste Kapitel ausführlich darlegen. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass neben der begrifflichen Unschärfe auch die geographische, geschichtliche und disziplinäre Entgrenzung des Phänomens einer wissenschaftlichen Darstellung Probleme bereitet. Die Beschreibung unbewusster Vorgänge in der menschlichen Kultur lässt sich nicht auf die Diskussion innerhalb der deutschen Romantik beschränken. Bereits die Antike beschäftigte sich mit den Phänomenen des Rausches, des Schlafes und des Traumes. 42 Und natürlich gab es im 19. Jahrhundert auch andere Theorien des Unbewussten – man denke nur an Johann Friedrich Herbart, Theodor Fechner oder Eduard von Hartmann. Zwar wäre es verführerisch, die Entdeckungsgeschichte des Unbewussten im Jahr 1800 mit Schellings System des transzendentalen

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man nur mit den ganz Großen verkehren solle oder mit ›den begabten Exzentrischen‹ wie Hoffmann, Carlyle etc.« (CT II, 937). Die immer noch ausführlichste, wenn auch in mancher Hinsicht veraltete Darstellung der Geschichte des Unbewussten in der europäischen Kultur bietet Henri F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, 2. Aufl., Zürich 2005 [1973].

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Idealismus beginnen und im Jahr 1900 mit Sigmund Freuds Traumdeutung enden zu lassen. Aber diese Sicht ist verkürzt und wird der Komplexität des Gegenstandes nicht gerecht. Wenn sich diese Arbeit dennoch auf die romantische Konzeption des Unbewussten und deren Folgen im 19. Jahrhundert beschränkt, so geschieht das immer mit dem Bewusstsein, damit nur einen Ausschnitt einer langen Rezeption in den Blick zu bekommen. Trotzdem kann so eine Linie aufgezeigt werden, die von romantischen Autoren über Richard Wagner zu Sigmund Freud führt. 43 Es geht dabei nicht darum, Wagner als Vordenker der Psychoanalyse zu affirmieren. Wenn die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen seiner Darstellung des Unbewussten und derjenigen der Romantik und Freuds untersucht werden, dann deshalb, um Wagners Rolle in der Entdeckungsgeschichte des Unbewussten angemessen beurteilen zu können. Anthropologie Es gibt eine romantische Anthropologie, die in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist.44 Auch in dieser Arbeit werden anthropologische Schriften, etwa diejenigen Gotthilf Heinrich von Schuberts oder Carl Gustav Carus’, eine wichtige Rolle spielen. Doch um Missverständnissen vorzubeugen, soll gleich zu Beginn betont werden, dass der Begriff der Anthropologie weiter gefasst wird. Nicht nur die Naturphilosophie Schellings enthält anthropologisches Wissen, sondern auch die literarischen Texte der Romantik. Diese nehmen die Theorien der Anthropologie nicht nur auf, sondern setzen sie auch produktiv um. Zwischen Literatur und Anthropologie besteht ein hoher Grad der Affinität. Beiden ist es darum zu tun, ein Bild vom Menschen zu entwerfen.45

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Die Verbindungen, die zwischen der romantischen Konzeption des Unbewussten und der Psychoanalyse bestehen, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass die These vom romantischen Einfluss auf Freud auch auf Kritik gestoßen ist. So gibt Bettina Gruber zu bedenken, dass Freud im Gegensatz zur Romantik keinen religiösen Begriff des Unbewussten entwerfe. Vgl. Bettina Gruber, Romantische Psychoanalyse. Freud, C.G. Jung und die Traumtheorien der Romantik. In: Traum-Diskurse der Romantik, hg. von Peter André Alt / Christiane Leiteritz, Berlin, New York 2005, S. 334–358. Gegen dieses Argument lässt sich jedoch einwenden, dass sich die romantische Konzeption des Unbewussten nicht auf ihre religiöse oder metaphysische Komponente reduzieren lässt und durchaus Elemente bereit hält, die auf die Psychoanalyse vorausweisen. Vgl. etwa Manfred Engel, Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur – am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, hg. von Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt, Tübingen 2002, S. 65–91; Stefan Schweizer, Anthropologie der Romantik. Körper, Seele und Geist. Anthropologische Gottes-, Welt- und Menschenbilder der wissenschaftlichen Romantik, Paderborn 2008. Vgl. Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 20.

Dabei beschäftigten sie sich nicht nur mit dem Vernunftwesen Mensch, sondern auch mit dessen Trieben, Affekten und, im Falle der Romantik und Wagners, mit dem Unbewussten. Dies gilt es immer im Auge zu behalten, wenn in dieser Studie von »romantischer Anthropologie« die Rede ist. Die Romantik / die Romantiker Es wird in dieser Arbeit nur selten zwischen der Früh- und Spätromantik unterschieden, sondern meist von der »Romantik« und den »Romantikern« gesprochen. Natürlich ist die Eingrenzung dieses Begriffs nicht so eindeutig, wie man meinen könnte. Man wird nicht nur im Werk Heinrich von Kleists oder E.T.A. Hoffmanns Ideen finden, die auf andere Epochen verweisen. Auch bestehen zwischen Autoren wie Novalis und Carl Gustav Carus große Unterschiede, die nicht zuletzt darin begründet sind, dass Carus sein Hauptwerk Psyche im Jahr 1846 veröffentlicht – fast ein halbes Jahrhundert nach Novalis’ Tod. Wenn dennoch an der pauschalisierenden Bezeichnung »Romantiker« festgehalten wird, so geschieht dies aus einem einfachen Grund: Alle Autoren, auf die sich die Studie bezieht, teilen zumindest eine grundlegende Idee: Das Bewusstsein hat einen unbewussten Grund, der der Reflexion nicht zugänglich ist. Was es damit genau auf sich hat, wird das erste Kapitel zeigen. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass bei allen berechtigten Einwänden die Rede von der »Romantik« und den »Romantikern« durch den Untersuchungsgegenstand begründet ist. Oper / Musikdrama / Musiktheater Wagners Werke ab dem Fliegenden Holländer werden konsequent als »Musikdramen« bezeichnet. Natürlich ist diese eindeutige Abgrenzung vom Begriff der Oper problematisch, zumal die so genannten ›romantischen Opern‹ Wagners bis zum Lohengrin in ihrer Struktur noch an überlieferte Formen des Musiktheaters angelehnt sind. Zudem stand Wagner selbst der Verwendung des Begriffes ›Musikdrama‹ skeptisch gegenüber. 46 Dennoch hat dieser heuristischen Wert, da mit dem Fliegenden Holländer und den auf ihn folgenden Werken eine einschneidende Reform des Musiktheaters eingeleitet wird. Wagner verstand es nicht nur, traditionelle Gattungselemente mit neuem dramatischen Sinn zu versehen, sondern änderte auch auf grundlegende Weise die Gestaltung des Librettos und der Komposition. Er ersetzte das Wechselspiel von Rezitativ und Arie durch eine an das Sprechtheater angelehnte Dialogstruktur, komponierte einen durchgängigen Tonsatz, führte 46

Wagner selbst stand dem Begriff Musikdrama skeptisch gegenüber. Vgl. hierzu seinen Aufsatz Über die Benennung »Musikdrama« (SSD IX, 302–308). Dies mag, wie Carl Dahlhaus vermutet, darin begründet sein, dass Wagner sein Werk nicht auf einen Terminus technicus reduziert wissen wollte. Vgl. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 9.

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Leitmotive ein und schaffte die periodische Satzstruktur zugunsten einer ›musikalischen Prosa‹ ab. Im Übrigen leistet der Terminus ›Oper‹ auch als neutrale Gattungsbezeichung ungenügende Dienste. Seit dem 18. Jahrhundert war Oper neben dem Singspiel, dem dramma per musica und der commedia per musica nur einer von vielen Begriffen, der zudem in verschiedenen Variationen gebräuchlich war: komische Oper, große Oper, Operette, opera buffa, etc. Aus diesem Grund ist es sinnvoller, ›Musiktheater‹ als neutralen Oberbegriff zu verwenden.

Aufbau der Studie Die Studie entfaltet ihre Thesen schrittweise, ein Kapitel baut auf das andere auf. Dennoch sind die Kapitel bewusst so gestaltet, dass sie eine eigene Sinneinheit bilden. Wer sich also nur über den Blick oder die Erzählung bei Wagner informieren möchte, kann die entsprechenden Abschnitte konsultieren, ohne die gesamte Studie lesen zu müssen. Diese Vorgehensweise bringt es mit sich, dass sich Überschneidungen nicht immer vermeiden lassen, an verschiedenen Stellen werden bereits geäußerte Gedanken wieder aufgegriffen, um sie im Kontext der jeweiligen Ausführungen verständlich werden zu lassen. Der Aufbau der Studie folgt, wenn man das erste einführende Kapitel unberücksichtigt lässt, einem Dreischritt: Im zweiten und dritten Kapitel geht es um die Trennung von Unbewusstem und Bewusstsein, im vierten und fünften Kapitel um den Versuch, das verlorene Unbewusste wiederzufinden. Das sechste Kapitel stellt dann die These auf, dass dieses Wiederfinden im Werk Wagners nicht nur scheitert, sondern auch das Gedächtnis der Figuren bedroht. Das erste Kapitel informiert über die theoretische Grundlage der Arbeit. In ihm werden die romantische Konzeption des Unbewussten und die daraus resultierende Vorstellung einer aporetischen Subjektivität anhand verschiedener Wissensbereiche (Philosophie, Anthropologie, Literatur) erläutert. Das zweite Kapitel untersucht dann, wie sich die Entstehung des Bewusstseins aus dem Unbewussten in romantischen Texten und in den Musikdramen Richard Wagners im Motiv des Erwachens manifestiert. Hier tritt zum ersten Mal zu Tage, wie das Subjekt durch die Dichotomie von Unbewusstem und Bewusstsein destabilisiert wird. Das dritte Kapitel knüpft unmittelbar an das zweite an. Es stellt die Frage, welche Konsequenz diese Dichotomie für das Zeitempfinden des Subjekts hat: Die Figuren sehnen sich nach dem unbewussten Urgrund ihrer Existenz zurück, nach jenem verheißungsvollen »Einst«, das in einer entrückten Vergangenheit liegt. Darüber hinaus zeigt das Kapitel, dass dieses Zeitgefühl mit Wagners Konzeption des Mythos in Beziehung gesetzt werden kann. Dadurch wird es neue Bezüge zwischen der ›Neuen Mythologie‹ der Romantik und den Zürcher Kunstschriften herstellen. Auch das vierte und das fünfte Kapitel hängen eng miteinander zusammen. Sie untersuchen, wie in der Romantik und bei Wagner versucht wird, das verlorene Unbewusste wieder bewusst werden zu lassen. Diese ›Anamnesis‹, also Wiedererinnerung, beruht sowohl 16

auf visuellen als auch verbalen Codes. Entsprechend ist die Arbeitsteilung dieser beiden Kapitel: Das vierte beschäftigt sich mit dem Blick, das fünfte mit der Rolle der Erzählung. Vor allem hier wird deutlich werden, wie eng im Werk Wagners der Zusammenhang von Anthropologie und Ästhetik ist. An einer abschließenden Deutung versucht sich dann das sechste Kapitel. Es widmet sich dem Problem, dass die anamnetische Bewusstwerdung des Unbewussten bei Wagner meist in eine Ekstase mündet, in ein Außer-Sich-Sein, das die Konstitution des Subjekts als labil erscheinen lässt. Die stete Bedrohung durch den Wahnsinn, der die Figuren ausgesetzt sind, lässt sich auch als eine Destabilisierung des Gedächtnisses verstehen, der Wagner durch seine Ästhetik entgegenzuwirken versucht.

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Das Unbewusste als Grund und Abgrund: Was bedeutet ›romantische Subjektivität‹?

Spätestens seit Ricarda Huchs Studie über die Romantik gelten die Romantiker als »die Entdecker des Unbewußten«.1 Diese These ist richtig und falsch zugleich. Falsch, weil der Begriff des Unbewussten älter ist als die Romantik. Dass es in der Psyche des Menschen Vorgänge gibt, die sich seinem reflektierenden Bewusstsein entziehen, wusste man bereits im 18. Jahrhundert. Der Philosoph Johann Georg Sulzer bemerkte im Jahr 1759, es gebe »dunkle Urtheile« und »dunkle Empfindungen« in unserem Inneren, die von den »Jahren unserer Kindheit« herrührten.2 Der Begriff ›Unbewußtseyn‹ taucht dann das erste Mal im Jahr 1776 auf, und zwar in den Philosophischen Aphorismen des Anthropologen Ernst Platner. Er fand eine schnelle Verbreitung und wurde nicht nur von Immanuel Kant, sondern auch von Johann Wolfgang Goethe aufgegriffen.3 Richtig ist das Diktum von den Entdeckern des Unbewussten jedoch, weil erst in der Romantik das Unbewusste zum Grundstein eines groß angelegten Theoriegebäudes wurde. Es fand nun nicht mehr nur kursorische Erwähnung, sondern rückte in verschiedenen Wissensbereichen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Ärzte, Anthropologen, Philosophen und Schriftsteller zeigten ein großes Interesse für all jene Phänomene, die jenseits der Grenzen des Bewusstseins4 liegen: Was ge-

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Ricarda Huch, Die Romantik. Blütezeit. Ausbreitung und Verfall, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 81. Die Studie umfasste ursprünglich zwei Bände, die erstmals in den Jahren 1899 und 1902 erschienen. Zit. nach Ludger Lütkehaus (Hg.), Tiefenphilosophie. Texte zur Entdeckung des Unbewussten vor Freud, Hamburg 1995, S. 22. Damit in engem Zusammenhang steht Leibniz’ Theorie der ›petites perceptions‹. Zur Begriffsgeschichte des Unbewussten vgl. neben der Anthologie von Lütkehaus die Überblicksartikel von M. Kaiser-El-Safti, Unbewußtes; das Unbewußte. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel, Darmstadt 1971ff., Bd. 11, S. 124– 133 und Holger Brandes, Das Unbewußte. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hg. von Hans-Jörg Sandkühler, 4 Bde., Hamburg 1990, Bd. 4, S. 647–651. Manfred Engel betont, dass sich auch Platner noch auf Leibniz bezieht, der neue Begriff also noch kein neues Konzept markiert. Vgl. Engel, Naturphilosophisches Wissen, S. 71. Zu Kants Verwendung des Begriffs siehe Brandes, Das Unbewußte, S. 649. Zu Goethe vgl. das entsprechende Textbeispiel in der Anthologie von Lütkehaus, Tiefenphilosophie, S. 74. Der Terminus Bewusstsein wurde von Christian Wolff (1679–1754) in die deutsche Philosophie eingeführt. Er verwendete ihn zur Übersetzung von lateinischen, bzw. fran-

schieht mit dem Menschen, wenn er schläft oder in Hypnose versetzt wird? Was erzählen seine Träume? Erlauben sie den Zugang zu einem höheren Wissen, das den empirischen Naturwissenschaften verschlossen bleibt? Wollte die Aufklärung noch die dunklen Vorstellungen bannen, indem sie sie mit dem Licht des Verstandes bis in die letzten Winkel ausleuchtete, maßen die Romantiker den Nachtseiten der Seele einen hohen Wert bei. Das war freilich nicht ganz unproblematisch, denn schließlich birgt die Nacht auch Gefahren. Sie ist so dunkel wie unermesslich und es ist ein Leichtes, sich in ihr zu verlieren. »Ich freue mich auf jede Nacht indem ich das Unbewußtseyn und dunkele Träumen dem hellern Leben vorziehe« schreibt Karoline von Günderrode in Melete, »warum grauet mir doch vor der langen Nacht und dem tiefen Schlummer?«5 Die Bilder, die die Romantiker für das Unbewusste bemühen, sind stets ambivalent: faszinierend und bedrohlich zugleich. Die Regionen, die an den Rändern des Bewusstseins liegen, erscheinen nicht nur als Nacht, sondern auch als weiter und gewaltiger Ozean. Oder als Berg, der prächtige Schätze bereit hält, in dessen labyrinthischen Schächten und Gängen man sich aber auch leicht verirren kann. Und schließlich als im doppelten Wortsinne ›ungeheurer‹ Urwald, etwa in der berühmten Formulierung Jean Pauls, der »das ungeheure Reich des Unbewußten« das »wahre innere Afrika« genannt hat.6 Anders gesagt: Obwohl mit dem Unbewussten eine Vorstellung bezeichnet ist, in der sich das Subjekt immer schon übertroffen findet – die Nacht, das Meer, der Berg, etc. –, steht es doch mit diesem ›großen Anderen‹7 in tiefer Beziehung. Die Romantiker haben diese Beziehung zu erklären versucht, indem sie behaupteten, das Unbewusste sei der Ursprung des Bewusstseins. Dieses sehne sich nach jenem zurück, aber weil das Unbewusste eine so gewaltige Macht darstelle, fürchte sich das Bewusstsein zugleich vor ihm. »Eine Notwendigkeit gebiert uns alle in die

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zösischen Fachausdrücken wie ›cogitatio‹, ›conscience‹ und ›perception‹. Vgl. Günther Gödde, Traditionslinien des Unbewussten. Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Tübingen 1999, S. 25. Karoline von Günderrode, Sämtliche Werke und Ausgewählte Studien. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. von Walter Morgenthaler, Basel, Frankfurt am Main 1990–1991, Bd. 1, S. 358. Die hier wiedergegebenen Zitate stammen aus einem der Briefe an Eusebio, die in der posthum veröffentlichten Textsammlung Melete enthalten sind. Jean Paul, Sämtliche Werke, hg. von Norbert Miller, Darmstadt 2000, Bd. I/6, S. 1182. Ludger Lütkehaus spricht in seinem kurzen Abriss der Geschichte des Unbewussten im 19. Jahrhundert zutreffend von dem »Gefährlichen« und »Vielversprechenden«, das in der Metapher vom »inneren Afrika« mitschwingt. Er weist zudem darauf hin, dass dieses Bild in der Entdeckungsgeschichte des Unbewussten »bemerkenswert oft wiederkehrt«, die Texte Sigmund Freuds eingeschlossen. Lütkehaus betont, dass diese »geographische, explorative und koloniale Metapher nicht von dem realhistorischen Kontext zu trennen« sei und stellt die Frage, »ob die Entdeckungsgeschichte des Unbewußten nicht auch als innerer Kolonisierungs-, Aneignungs-, womöglich Enteignungsprozeß zu verstehen ist.« Lütkehaus, Tiefenphilosophie, S. 3. Der Begriff des ›großen Anderen‹ wird der Philosophie Jacques Lacans entliehen, ohne damit allen Implikationen zu folgen, die Lacan mit ihm verband.

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Persönlichkeit, eine gemeinsame Nacht verschlingt uns alle«, heißt es bei Karoline von Günderrode. »Warum untertauchen in dem alten Meer, und darinn zerrinnen mit Allem was dir lieb ist?«8 In dieser Verbindung von Sehnsucht und Schrecken, die dem Unbewussten entgegengebracht wird, offenbart sich das Dilemma romantischer Subjektivität: Das Bewusstsein verdankt seine Existenz einem dunklen UrGrund, der es ständig wieder einzuholen droht. Erschreckend ist dieses Szenario auch, weil man dem Unbewussten nicht mit den Mitteln des Verstandes beikommen kann. Das Unbewusste war in der Romantik auch Ausdruck einer tiefgehenden Verunsicherung. Was durch sein Auftauchen in die Krise gerät, ist das cartesianische Cogito, das ›Ich denke, also bin ich‹: Die Romantiker glauben nicht, dass der Mensch durch Denken und Reflexion dem Ursprung seiner Existenz auf die Spur kommen kann. Dieser bleibt immer im Dunkeln, den Augen des Bewusstseins unkenntlich, kurz: un-bewusst.9 Diesen Gedanken wird das folgende Kapitel näher erläutern. Ausgehend von den wesentlichen Bereichen der romantischen Wissensbildung soll ein genaues Bild jener Konzeption des Unbewussten gezeichnet werden, die sich im Werk Richard Wagners wiederfindet. Zunächst wird dabei auf die frühromantische Philosophie eingegangen, die sich vor der Wende zum 19. Jahrhundert in Jena an den Theorien Johann Gottlieb Fichtes entspinnt. In ihr wird zum ersten Mal der Gedanke virulent, dass das Bewusstsein seinen Grund im Unbewussten findet. Dem folgt an zweiter Stelle eine kurze Darstellung der Naturphilosophie Schellings, die den Begriff des Unbewussten dynamisiert und damit einen großen Einfluss auf die romantische Anthropologie ausüben sollte. In dieser wurde, wie die Untersuchung des animalischen Magnetismus zeigt, das Unbewusste nicht nur theoretisch reflektiert, sondern auch praktisch erforscht. Und schließlich soll durch ein kurzes Zitat aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen angedeutet werden, welchen Weg die romantische Literatur bei ihrer Beschäftigung mit dem Unbewussten einschlug.

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Günderrode, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 358. Ludger Lütkehaus hat seiner Anthologie von Texten, die sich zwischen 1800 und 1900 mit dem Phänomen des Unbewussten beschäftigten, folgende »Generalthese« zugrunde gelegt: »Die Entdeckung des Unbewußten vollzieht sich […] als Kritik des Bewußtseins, als Kritik der neuzeitlichen Subjektphilosophie«. (Lütkehaus, Tiefenphilosophie, S. 13) Die weit verbreitete These von der Begründung individueller Subjektivität durch Descartes bedarf allerdings einer Einschränkung, auf die Peter v. Zima verweist: Zwar sei es richtig, dass Descartes »durch eine noch nie dagewesene Introspektion das Wahrheitskriterium, das Plato in eine objektivierte Welt der reinen Formen projizierte, im Einzelsubjekt ansiedelt.« Aber Descartes habe dieses Subjekt ausdrücklich als »Beauftragten« eines »göttlichen Auftraggebers« aufgefasst. Peter V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen 2000, S. 94f.

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Das Sein vor dem Bewusstsein: Zur Konzeption des Unbewussten in der frühromantischen Philosophie

Die folgende Darstellung der romantischen Entdeckungsgeschichte des Unbewussten beginnt in der Philosophie. Um zu verstehen, was die Frühromantiker Hölderlin und Novalis unter dem Unbewussten verstanden, muss man einen kleinen Schritt zurück machen.10 Im ausgehenden 18. Jahrhundert diskutierten die Philosophen in Deutschland ein paradoxes Phänomen, das sie ›Selbstbewusstsein‹ nannten.11 Es lässt sich mit einer bekannten Metapher veranschaulichen: dem Blick in den Spiegel.12 Wer sich in diesem erkennt, tut dies dank Reflexion. Das Ich ist in ein anschauendes und ein angeschautes, in Subjekt und Objekt getrennt. Und doch weiß jeder, der in den Spiegel blickt, dass er sich selbst betrachtet und keinen anderen. Anders gesagt: Er ist, obwohl er in zwei Teile zerfällt, mit sich identisch. ›Ich = Ich‹ lautet die philosophische Formel dieses Paradoxons. Doch wie konnte es sein, dass das Ich ohne Entzweiung nicht möglich ist, zugleich aber als Einheit erfahren wird? Johann Gottlieb Fichte gab für die Beantwortung dieser Frage einen wichtigen Denkanstoß. In seiner Wissenschaftslehre betonte er, dass sich das Ich nicht allein als reflexive Bewegung erklären lasse, da es sonst in einen nicht endenden Regress laufen würde.13 Unser Bewusstsein würde ins Unendliche gespiegelt werden und

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Eine ausführliche Darstellung des geistesgeschichtlichen Kontextes der philosophischen Frühromantik bieten die Studien von Dieter Henrich und Manfred Frank. Vgl. hierzu Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992; Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991; Manfred Frank, »Unendliche Annäherung«. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main 1998. Letzterer hat seine zentralen Überlegungen zusammengefasst dargestellt in: Manfred Frank, Philosophische Grundlagen der Frühromantik. In: Athenäum – Jahrbuch für Romantik 4, 1994, S. 37–130. Die deutsche Diskussion um das Selbstbewusstsein entzündete sich an der Philosophie Immanuel Kants. Dieser unterschied zwischen einem transzendentalen, einheitsstiftenden und einem empirischen Selbstbewusstsein. Bei Fichte rückt der Begriff gegenüber dem Ich in den Hintergrund, wogegen Hölderlin in Urteil und Sein Ich und Selbstbewusstsein ausdrücklich aufeinander bezieht. Vgl. hierzu den Überblick von Walter Jaeschke, Selbstbewußtsein. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel, Darmstadt 1971ff., Bd. 9, S. 352– 371. Zur Spiegel-Metapher in Bezug auf die Konzeption von Subjektivität vgl. die Studie von Ralf Konersmann, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Frankfurt am Main 1991. Im Rahmen seiner Interpretation von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater weist Konersmann auch auf die romantische Kritik der Reflexion hin, die in enger Verbindung mit dem Bild des Spiegels steht (ebd., S. 54–58). Fichtes Kritik am sogenannten ›Reflexionsmodell‹ von Selbstbewusstsein findet sich in seinem Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre von 1797. Vgl. hierzu Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur

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so in unzählige Einzelteile zerfallen. Damit wir uns beim Blick in den Spiegel als mit uns identisch erfahren, müsse es einen Grund des Ich geben. Und dieser, so Fichtes Gedanke, liegt jenseits der Reflexion. Der Grund könne nicht in Subjekt und Objekt getrennt werden, sondern müsse als Einheit gedacht werden, die der Reflexion ihren Halt gibt. Deshalb unterschied Fichte zwei Arten von Bewusstsein: Zum einen das Selbstbewusstsein, in dem das Ich sich zu sich selbst wie zu einem Gegenstand verhält und mit dem es sich identisch weiß. Zum anderen aber – und das war Fichtes Innovation – gibt es noch ein weiteres Bewusstsein, das unmittelbar ist und sich in dem Satz »Ich bin« ausdrückt. In diesem jedem Menschen zugänglichen Bewusstsein wird eine Einheit manifest, die über die Trennung von Subjekt und Objekt hinausweist. Sie garantiert, dass wir uns selbst als Identität erfahren. Fichte nannte diese Einheit das »absolute Ich«.14 Doch damit handelte er sich ein großes Problem ein. Denn die Einheit, die das Ich erst ermöglicht, bleibt dem Ich zugeordnet. Und da dieses immer auf Reflexion angewiesen ist, bleibt auch die Trennung in Subjekt und Objekt aufrecht erhalten. Dass somit das Rätsel des Selbstbewusstseins nicht gelöst, sondern nur verschoben wurde, hat Heinrich Heine in seiner satirischen Kritik Fichtes wie folgt formuliert: Das Ich soll über seine intellektuellen Handlungen Betrachtungen anstellen, während es sie ausführt. Der Gedanke soll sich selber belauschen, während er denkt, während er allmählig warm und wärmer und endlich gar wird. Diese Operation mahnt uns an den Affen, der am Feuerherde vor einem kupfernen Kessel sitzt und seinen eigenen Schwanz kocht. Denn er meinte: die wahre Kochkunst besteht nicht darin, daß man bloß objektiv kocht, sondern auch subjektiv des Kochens bewußt wird.15

Wie konnte man nun diesem Zirkelschluss entkommen? Die Antwort der Frühromantiker ist so einfach wie konsequent. Wenn das Ich immer auch Reflexion, also Trennung in Subjekt und Objekt bedeutet, der Grund des Ich aber diese Trennung nicht aufweisen darf, dann muss er außerhalb desselben liegen. Zum ersten Mal deutlich wird dies in Hölderlins Skizze »Urteil und Sein« aus dem Jahr 1795.16

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konkreten Subjektivität, München 1997, S. 106–109. In dieser Studie findet sich auch ein Überblick über die verschiedenen Ausprägungen dieser Kritik in der Philosophiegeschichte (ebd., S. 97–120). Vgl. hierzu die Darstellung in: Henrich, Der Grund im Bewußtsein, S. 41f. Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Stuttgart 1997, S. 109. Dies hat Dieter Henrich gezeigt. Er betont, dass Hölderlin im Gegensatz zu Fichte davon ausgeht, dass im Gedanken Ich »nichts anderes als Selbstbewußtsein« angezeigt sein kann. Da dieses »kein in sich einfacher Grund« ist, muss für das Ich »eine andere Weise von Einheit vorausgesetzt werden – eine solche nämlich, für die der Gedanke ›Ich‹ nicht selbst schon als der adäquate Ausdruck gelten darf.« (Henrich, Der Grund im Bewußtsein, S. 41) An diese Darstellung schließt diejenige Manfred Franks an, demzufolge diese »kleine Niederschrift eher einem Cento aus Formulierungen der grundsatzkritischen Zeitgenossen als einem Originalwerk« gleiche. Dennoch füge Hölderlin »die überkommenen Denkanstöße« zu einem »eigentümlichen Ganzen« zusammen (Frank,

Urteilen ist für Hölderlin die »Ur-Teilung«,17 die jedem Selbstbewusstsein zugrunde liegt: »Wie kann ich sagen: Ich! ohne Selbstbewußtsein? Wie ist aber Selbstbewußtsein möglich? Dadurch daß ich mich mir selbst entgegensetze, mich von mir selbst trenne, aber ungeachtet dieser Trennung mich im entgegengesetzten als dasselbe erkenne.«18 Dieses Erkennen im Entgegengesetzen wird nun aber nur durch ein Sein möglich, das allem Selbstbewußtsein vorausliegt. »Wo Subjekt und Objekt schlechthin, nicht nur zum Teil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Teilung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verletzen, da und sonst nirgends kann von einem Sein schlechthin die Rede sein«.19 Dieses ist es, das die Identität, die ›Ich = Ich‹ ausdrückt, überhaupt erst ermöglicht. Und gerade weil ohne dieses Sein kein Bewusstsein möglich wäre, muss es selbst unbewusst bleiben.20 Die Frühromantiker behaupten also, dass der Grund des Bewusstseins diesem selbst verschlossen bleiben muss. Sie verweisen damit die Reflexion in ihre Schranken. Dennoch gilt es immer im Auge zu behalten, dass sie die Reflexion nicht vollständig aufgeben – schließlich gäbe es ohne diese kein Bewusstsein. Nur kann das Bewusstsein das Sein nicht vollständig in sich aufgehen lassen. Dazu Manfred Frank: »Daß wir Einheit erkennen (und nicht stete Gespaltenheit), können wir nicht der Reflexion, sondern nur der Intervention des Seins zuschreiben. Daß wir sie aber wirklich erkennen, geht aufs Konto der Reflexion. Sie erlaubt dem Sein zu erscheinen, aber sie erschafft es nicht.«21 Sein und Bewusstsein bleiben, obwohl getrennt, aufeinander bezogen. Das Sein bildet den Zielpunkt des Bewusstseins. Diesen kann die Reflexion allerdings nie erreichen, sondern wird zu einer ›unendlichen Annäherung‹. Der frühromantische Begriff des Bewusstseins22 erscheint da-

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Philosophische Grundlagen der Frühromantik, S. 49). Frank weist wie Henrich nachdrücklich auf die Überwindung des Fichteschen Denkens durch Hölderlin hin. Dass sich das ›Sein‹ nicht in Reflexion auflösen lasse, sei der entscheidende Gegensatz der frühromantischen Philosophie zum deutschen Idealismus (ebd., S. 57). Dies zeigt er, über Henrich hinausgehend, auch an den Schriften Novalis’ und Friedrich Schlegels. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt am Main 1992–1994, Bd. 2, S. 502. Die Herleitung ist zwar aufschlussreich, etymologisch aber falsch. Ebd., S. 503. Ebd., S. 502. Die Frühromantiker postulierten ein Sein, so Manfred Frank, »das, selbst unbewußt, dem Bewußtsein seine Einheit erfahren läßt.« Frank, Philosophische Grundlagen der Frühromantik, S. 69. Ebd., S. 69f. Eine Pointe der frühromantischen Philosophie besteht darin, dass Selbstbewusstsein und Bewusstsein nicht mehr deutlich voneinander abgegrenzt werden. Denn sie verwirft die Unterscheidung Fichtes von Selbstbewusstsein als einer Subjekt-Objekt-Trennung und jenem unmittelbaren Bewusstsein von sich, wie es sich im absoluten Ich ausdrücke. Die Romantiker gehen davon aus, dass jede Form von Bewusstsein immer ein Bewusstsein von etwas ist, also auf Reflexion angewiesen bleibt. Den absoluten Seins-

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mit als notwendiges, aber vergebliches Streben nach dem eigenen Grund. In diesem Sinne schreibt F.W.J. Schelling in seinen Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802): Jeder ist von Natur getrieben, ein Absolutes zu suchen; aber indem er es für die Reflexion fi xieren will, verschwindet es ihm. Es umschwebt ihn ewig, aber er kann es nicht fassen. Es ist nur da, inwiefern ich es nicht habe, und inwiefern ich es habe, ist es nicht mehr.23 (S I/4, 357)

Entscheidend ist nun dabei, dass sich dieser Begriff des Seins bzw. des Absoluten mit dem des Unbewussten verbindet. Besonders deutlich wird dies wiederum bei Schelling, und zwar in seinem 1800 erschienenen System des transzendentalen Idealismus: So kann jenes Höhere selbst weder Subjekt noch Objekt, auch nicht beides zugleich, sondern nur die absolute Identität sein, in welcher gar keine Duplicität ist, und welche eben deßwegen, weil die Bedingung alles Bewußtseins Duplicität ist, nie zum Bewußtsein gelangen kann. Dieses ewig Unbewußte, was, gleichsam die ewige Sonne im Reich der Geister, durch sein eignes ungetrübtes Licht sich verbirgt, und obgleich es nie Objekt wird, doch allen freien Handlungen seine Identität aufdrückt, ist zugleich dasselbe für alle Intelligenzen […]. (S I/3, 600)

Das »ewig Unbewußte« ist an dieser Stelle kein beliebiger Ersatz für das Absolute.24 Denn der Begriff zeigt an, dass die Beziehung zum Bewusstsein erhalten bleibt. Das Un-Bewusste drückt »allen freien Handlungen seine Identität« auf, wie Schelling betont. Wenn gilt, dass das Bewusstsein ohne das Unbewusste nicht denkbar ist, so ist auch der Umkehrschluss richtig: Das Unbewusste hätte keine Sinn, wenn es nicht das Bewusstsein gäbe. Aber beide können, obwohl sie miteinander verwoben sind, nicht ineinander aufgelöst werden.

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Grund kann es sich deshalb nicht verfügbar machen. Wichtiger als die Unterscheidung von Selbstbewusstsein und Bewusstsein ist deshalb die von Unbewusstem und Bewusstsein. Dieser folgt auch die vorliegende Studie. Novalis formuliert diese Einsicht in seinen so genannten Fichte-Studien: »Durch das freywillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendliche freye Thätigkeit in uns – das Einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und was wir nur durch unsre Unvermögenheit ein Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden. Dies uns gegebne Absolute läßt sich nur negativ erkennen, indem wir handeln und finden, daß durch kein Handeln das erreicht wird, was wir suchen.« Novalis, Schriften, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart 1960ff., Bd. 2, S. 269f. In ihrer Untersuchung über Das Unbewusste im Deutschen Idealismus geht Elke Völmicke auf den Umstand ein, »daß in den idealistischen Systementwürfen vom Absoluten auch als von dem ewig Unbewußten die Rede ist«. Darin sieht sie zum einen den »Abschied von einer unkritischen Substanzmetaphysik«, zum anderen werde durch den Begriff des Unbewussten der Bruch mit der Vorstellung bemerkbar, dass der Gedanke des Unbedingten bzw. des Ursprungs »die Möglichkeit eines restlosen Begreifens im Sinne der Deduktion des Wissens aus einem unwandelbaren Grund« voraussetze. Elke Völmicke, Das Unbewusste im Deutschen Idealismus, Würzburg 2005, S. 20.

Bevor nun in einem zweiten Schritt die Naturphilosophie Schellings in den Blick rückt, sei an dieser Stelle bereits darauf verwiesen, wie stark die frühromantische Konzeption des Unbewussten andere Wissensbereiche beeinflusst hat. Dies zeigt sich unter anderem in der psychologischen Theorie, die Carl Gustav Carus im Jahr 1846 in Psyche – Zur Entwicklungsgeschichte der Seele entwickelte. Diese Schrift stellt den ersten Versuch dar, den Begriff des Unbewussten in eine systematische Psychologie einzubinden.25 »Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins«, stellt Carus gleich zu Beginn fest.26 Das heißt, wie er an späterer Stelle ausführt, dass »Alles was wir bewußtes Seelenleben nennen dürfen, ganz wesentlich als durch das Unbewußte bedingt anzusehen ist.«27 Dabei hält auch Carus das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem in der Schwebe. Das Unbewusste müsse als »indefinissabel, gleichsam als ein gegebenes x« angesehen werden,28 über ihm hänge »der Schleier der Isis«.29 Deshalb mokiert sich Carus über den »Abweg« jener Psychologen, die

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Ludger Lütkehaus betont, dass Carus in Psyche, aber auch schon in seinen Vorlesungen über Psychologie (1831) »die Erkenntnisse der ganzen klassisch-romantischen Epoche« zusammenfasse. Es gebe »neben denen der Schlegel und Schleiermacher, der Novalis und Solger« auch »die der romantischen Ärzte und Naturphilosophen, […] die von Carus in eine zusammenhängende Lehre vom Unbewußten integriert werden« (Lütkehaus, Tiefenphilosophie, S. 35). Günter Gödde weist in seiner Studie Traditionslinien des Unbewussten darauf hin, dass Carus das Verdienst zugeschrieben werde, »die beiden Termini ›unbewußt‹ und ›das Unbewußte‹ […] als Fachbegriffe in die Psychologie eingeführt zu haben.« (Gödde, Traditionslinien des Unbewussten, S. 26) Und Henri F. Ellenberger geht sogar davon aus, dass Psyche »der erste Versuch war, eine wirklich vollständige und objektive Theorie über das unbewußte Seelenleben aufzustellen.« (Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 292). Zur Stellung Carus’ innerhalb der Psychologie des 19. Jahrhunderts vgl. Klaus Sachs-Hombach, Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Entstehung und Problemgeschichte. Freiburg, München 1993, S. 55–71. Dass die Schriften Carl Gustav Carus’ auch unabhängig vom Begriff des Unbewussten einen wichtigen Beitrag zur romantischen Anthropologie leisten, wurde von Stefan Schweizer herausgearbeitet, der Carus in seiner Studie über die romantische Anthropologie ein eigenes Kapitel widmet. Vgl. Schweizer, Anthropologie der Romantik, S. 329–419. Die Bedeutung Carus’ als romantischer Anthropologe lässt sich auch auf seine Mehrfachbegabung zurückführen. Im Alter von 22 Jahren verfügte er über zwei Doktortitel, Dr. med. und Dr. phil. Er entschied sich zunächst für eine medizinische Karriere, und nachdem ihn König Anton von Sachsen 1827 den Titel eines Hof- und Medizinalrates verliehen hatte, konnte er seine anderen Talente voll entfalten. Er trat nicht nur als Maler in Erscheinung, sondern auch als Schriftsteller und Naturforscher. Zu Carus’ Biographie und dem Vergleich zu anderen romantischen Ärzten vgl. Dietrich von Engelhardt, Romantische Mediziner. In: Klassiker der Medizin. Von Philippe Pinel bis Victor von Weizsäcker, hg. von Dietrich von Engelhardt / Fritz Hartmann, 2 Bde., München 1991, Bd. 2, S. 95–118, hier S. 108f. Carl Gustav Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, Pforzheim 1846, S. 1. Ebd., S. 174. Ebd., S. VI. Ebd., S. 67. Der ›Schleier der Isis‹ ist eine beliebte Formulierung bei Novalis und Hoff-

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in der Nachfolge Herbarts und Hegels versuchten, »das zuletzt doch immer in gewisser Beziehung geheimnisvolle und mystische Gebiet der Seele mit entschiedener Gewalt durchaus vor dem bewußten Wirken des Geistes vollständig zu entschleiern und in allen seinen Strahlungen nachzuweisen, so daß gleichsam das Geheimnisvolle und Unbewußte derselben als solches ganz aufgehoben und nicht mehr geduldet werden soll.«30 Aber zugleich hält er fest: »Wäre es eine absolute Unmöglichkeit, im Bewußten das Unbewußte zu finden, so müßte der Mensch verzweifeln zum Erkennen seiner Seele, d.h. zur eigentlichen Selbsterkenntnis zu gelangen«.31 So bleibt auch in der Theorie, die Carl Gustav Carus von der »Welt unseres Bewußtseins« entwirft, nur die Möglichkeit der unendlichen Annäherung: Der Anfangspunkt [unseres Bewusstseins, M.S.] liegt für uns in einer ganz unergründlichen Ferne und wir haben keinen Begriff davon, und der Endpunkt – welcher das vollständige Erkennen eines höchsten Grundes aller Existenz – ein vollendetes Selbstbewußtsein wäre, ist ebenfalls durchaus unerreichbar und unbestimmbar. Die ganz unbegränzte Approximation gegen beide Seiten hin ist dagegen durchaus frei gegeben, aber das eigentliche Erreichen bei keinem dieser Zielpunkte gedenkbar.32

Dieser Auszug formuliert sehr präzise den Leitgedanken der vorliegenden Studie: Das Subjekt versucht permanent, sein Unbewusstes zu ergründen, muss dabei aber zwangsläufig scheitern. Genau dies, so die These, wird in romantischen Texten und in den Musikdramen Richard Wagners durchgespielt. In ihnen gestaltet sich die Suche nach sich selbst als Suche nach dem Grund des Bewusstseins. Dafür stehen dem Subjekt zwei Wege offen: Der erste ist die bewusste Erforschung des Unbewussten, die reflexive und diskursive Annäherung. Diese kann aber nie vollständig zum Ziel führen, weil das Unbewusste keine Reflexion, sprich: Trennung in Subjekt und Objekt duldet. Der zweite Weg ist das völlige Eintauchen ins Unbewusste, etwa in Rausch und Ekstase oder den entrückten Visionen von hellsehenden Somnambulen. Aber dieser Weg führt ebenfalls nicht zum Ziel, weil der Mensch sich in solch entrückten Zuständen selbst verliert, alle Reflexion und damit auch das Bewusstsein aufgelöst ist. Der Grund unseres Bewusstseins, so könnte man sagen,

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mann, um die Unerschließbarkeit des Unbewussten für das Bewusstsein zu veranschaulichen. Die Romantiker setzen sich damit der Enthüllungsrhetorik der Aufklärung entgegen, die ihr anschaulichstes Beispiel im Frontispiz der Encyclopédie d’Alemberts und Diderots gefunden hat: Dieses zeigt die Künste und Handwerke bei der Enthüllung der verschleierten Wahrheit. Vgl. hierzu Ralf Konersmann, Kulturelle Tatsachen, Frankfurt am Main 2006, S. 386–394. Die Auswirkungen dieser Diskussion auf das Musiktheater Mozarts zeigt der Aufsatz von Jörg Krämer, Modell Zauberflöte. Das »Unwirkliche« als kulturelle Tatsache. In: Modell Zauberflöte. Der Kredit des Möglichen. Kulturgeschichtliche Spiegelungen erfundener Wahrheiten, hg. von Mathias Mayer, Hildesheim, Zürich, New York 2007, S. 55–74. Carus, Psyche, S. Vf. Ebd., S. 1. Ebd., S. 97.

ist immer auch sein Abgrund. Da, wo das Unbewusste waltet, ist das Ungeheure und Unheimliche nicht weit. Zwar ist es dem Bewusstsein unentbehrlich, zugleich aber auch unverfügbar. Die Selbstfindung des Subjekts endet notwendig in Selbstverfehlung, die Psyche des Individuums bleibt in Bewusstsein und Unbewusstsein gespalten. Romantische Subjektivität lässt sich deshalb in letzter Konsequenz nur als Aporie begreifen.

1.2.

Die Theorie der Bewusstwerdung in Schellings Naturphilosophie

Warum Schellings Naturphilosophie für die romantische Konzeption des Unbewussten so wichtig war, lässt sich mit einem Wort benennen: Dynamik. Sein »Hauptirrthum in Bezug auf das Zeitalter« sei, bemerkt Schelling ironisch, »daß ich die Natur nicht mechanisch, sondern dynamisch ansehe. Könnte man mich nur davon überzeugen, daß sie im bloßen Mechanismus besteht, so wäre meine Bekehrung sogleich vollbracht; dann ist die Natur unleugbar todt, und jeder andere Philosoph kann Recht haben, nur ich nicht.« (S I/7, 103) Wie Hölderlin und Novalis geht Schelling in seiner Naturphilosophie von einer ursprünglichen Identität aus, die er dem Bewusstsein vorausgehen lässt. Diese nennt er in einer frühen Schrift »Geist«.33 Seine These ist, dass dieser Geist von dem »steten Bestreben« durchdrungen ist, »für sich selbst endlich, d.h. seiner selbst bewußt zu werden.« (I/1, 382) In dem, was wir Natur nennen, spiegelt sich das Ringen des Geistes um Bewusstsein. Die verschiedenen Entwicklungsstufen der Natur, die von der unbelebten Materie bis zu organischen Wesen führen, sind Manifestationen des zunächst bewusstlosen Geistes, der sich dem Bewusstsein mehr und mehr annähert, um im Menschen schließlich zu Bewusstsein zu erwachen. Im System des transzendentalen Idealismus (1800) beschreibt Schelling dieses Zu-Sich-Kommen der Natur im Menschen wie folgt: Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder allgemeiner, das ist, was wir Vernunft nennen […] (I/3, 341).

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Hier ist von den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796/1797) die Rede. Schelling hat den Begriff ›Geist‹ in den frühen naturphilosophischen Schriften allerdings nicht konsequent verwendet. Er spricht an manchen Stellen, genau wie auch im System des transzendentalen Idealismus (1800), noch in Anlehnung an Fichte vom ›absoluten Ich‹. Die Abkehr von der Ich-Philosophie und die definitive Hinwendung zu einem dem Bewusstsein vorgeordneten Prinzip erfolgte erst im Jahr 1801. Vgl. hierzu Manfred Frank, Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankfurt am Main 1995, S. 71–117.

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Die Natur geht dem Menschen also voraus, dieser erscheint als die »höchste und letzte« Stufe des in ihr sich symbolisierenden Ringens um Selbstbewusstsein. Sie ist als bewusstlose Tätigkeit die Voraussetzung dafür, dass menschliches Bewusstsein überhaupt entstehen kann.34 Insofern lässt sie sich als der dem Menschen unbewusste Grund seiner Existenz bezeichnen, als sein Vor-Bewusstes. Schelling schreibt: »Es gibt einen Idealismus der Natur, und einen Idealismus des Ichs. Jener ist mir der ursprüngliche, dieser der abgeleitete.« (I/4, 84) Das heißt nichts anderes, als dass der Geist bei Schelling eine Geschichte erhält, in der die Natur und der Mensch für eine jeweils eigene Entwicklungsstufe stehen. In einem Knittelvers-Gedicht aus dem Jahr 1800, dem »Epikurisch Glaubensbekenntniß Heinz Widerporstens«, hat Schelling dieses Modell seiner Naturphilosophie in anschauliche Reime gegossen. Die Natur erscheint darin als ein »Riesengeist«, der nach Bewusstsein strebt. Dieser kommt im »Menschenkind« schließlich »zum Besinnen«35: Wüßt’ auch nicht wie mir vor der Welt könnt’ grausen, Da ich sie kenne von innen und außen. […] Stickt zwar ein Riesengeist darinnen, Ist aber versteinert mit allen Sinnen, Kann nicht aus dem engen Panzer heraus, Noch sprengen sein eisern Kerkerhaus, Obgleich er oft die Flügel regt, Sich gewaltig dehnt und bewegt, In todten und lebend’gen Dingen Thut nach Bewußtseyn mächtig ringen. […] Und kämpfend so mit Füß’ und Händ Gegen widrig Element, Lernt er im Kleinen Raum gewinnen, Darinn er zuerst kommt zum Besinnen. In einen Zwergen eingeschlossen Von schöner Gestalt und g’radem Sprossen (Heißt in der Sprache Menschenkind) Der Riesengeist sich selber findt. Vom eisernen Schlaf, vom langen Traum Erwacht, sich selber erkennet kaum. Ueber sich selbst gar sehr verwundert ist Mit großen Augen sich grüßt und mißt,

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Die romantische Naturphilosophie gründet sich ganz wesentlich auf dem Prinzip der Polarität, für die das Begriffspaar unbewusst / bewusst nur ein Beispiel ist. Der Kommentar der hier verwendeten Ausgabe bemerkt, das Gedicht enthalte »eine gedrängte Darstellung von Schellings naturphilosophischen Grundgedanken: nämlich der Einheit von Natur und Geist und der Vorstellung des Naturgeschehens als sukzessivem, zielgerichtetem Prozeß der Bewußtwerdung.« Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. von Jörg Jantzen et al., Stuttgart 1976ff., Bd. 8, S. 399.

Möcht’ alsbald wieder mit allen Sinnen In die große Natur zerrinnen, Ist aber einmal losgerissen, Kann nicht wieder zurückfließen, Und steht Zeitlebens eng und klein In der eignen großen Welt allein. Fürchtet wohl in bangen Träumen, Der Riese möcht’ sich ermannen und bäumen, Und wie der alte Gott Satorn Seine Kinder verschlingen im Zorn. Weiß nicht, daß er es selber ist, Seiner Abkunft ganz vergißt, Thut sich mit Gespenstern plagen, Könnt’ also zu sich selber sagen: Ich bin der Gott, den sie im Busen hegt, Der Geist, der sich in allem bewegt […].36

Diese Verse zeigen sehr deutlich, welche wesentlichen Ideen die Naturphilosophie Schellings mit sich bringt. Die erste beruht auf der Tatsache, dass der Mensch in der Natur sein eigenes Unbewusstes erblickt. Beide haben an der Entwicklung eines einzigen Geistes teil, der in der Natur bewusstlos und im Menschen bewusst erscheint. Daraus folgt unweigerlich, dass beide miteinander in enger Beziehung stehen. Novalis hat dies in Die Lehrlinge zu Sais wie folgt beschrieben: Die Natur wäre nicht die Natur, wenn sie keinen Geist hätte, nicht jenes einzige Gegenbild der Menschheit, nicht die unentbehrliche Antwort dieser geheimnißvollen Frage, oder die Frage zu dieser unendlichen Antwort.37

In Schellings Gedicht wird freilich auch die dunkle Seite dieser »geheimnisvollen« Beziehung offenbar. Gerade weil er das Rätsel der Natur und seiner eigenen Existenz nie vollständig ergründen kann, erscheint ihm jene als bedrohlich. Sie gleicht dem Gott Saturn, der seine Kinder verschlingen will. Auch die Naturphilosophie kennt also die Unheimlichkeit des Unbewussten.

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Ebd., S. 428–430. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 99. Wie Gerhard Schulz in dem Kommentar der von ihm herausgegebenen Novalis-Anthologie berichtet, stammt die erste Nachricht von der Entstehung der Fragment gebliebenen Lehrlinge zu Sais aus einem Brief an A.W. Schlegel vom 24. Februar 1798. Die Arbeit an den vorliegenden Teilen des Romans schloss Novalis dann vermutlich Anfang des Jahres 1799 ab. In dieser Zeit setzte sich Novalis intensiv mit Schellings Naturphilosophie auseinander. In Leipzig hatte er Schelling persönlich kennengelernt, allerdings missbilligten er und Friedrich Schlegel dessen Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797). Gerhard Schulz betont, dies sei aber eher auf die Tatsache zurückzuführen, dass »eigene verwandte Naturansichten in beiden heranreiften.« Novalis, Werke, hg. von Gerhard Schulz, München 1969, S. 675.

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Zweitens konzipiert Schelling mit seiner Theorie ein triadisches Schema.38 Zunächst erscheint der Geist in der Natur als rein bewusstlose Tätigkeit. Dann erwacht er im Menschen zu Bewusstsein, ist nun also in eine bewusstlose und eine bewusste Seite gespalten. Diese Trennung versucht der Mensch in einem dritten Schritt zu überwinden – was sich freilich problematisch gestaltet: Da die Abspaltung von der Natur nicht mehr rückgängig zu machen ist (»kann nicht wieder zurückfließen«), bleibt dem Mensch allein die Möglichkeit, in der Natur den Grund seiner eigenen Existenz zu erkennen. Dies deuten die letzten Verse des hier zitierten Gedichts an: »Könnt’ also zu sich selber sagen: / Ich bin der Gott, den sie im Busen hegt«. Auf die Frage, wie diese ›Bewusstwerdung des Unbewussten‹ verwirklicht werden könnte, hat Schelling im System des transzendentalen Idealismus eine Antwort gegeben, die in der Romantik schnell Karriere machen sollte: Nur die Kunst vermag es, bewusstlose und bewusste Tätigkeit in einem einzigen Produkt zu vereinigen. Damit ist ein Punkt erreicht, an dem verschiedene Aspekte der romantischen Konzeption des Unbewussten unterschieden werden können. Zum einen wird das Unbewusste als höhergeordnetes Prinzip definiert, das als Grund des menschlichen Bewusstseins fungiert und von diesem nie vollständig ergründet werden kann. Zum anderen erscheint es in der Naturphilosophie als ein dynamischer Prozess und geht als Vorbewusstes dem Bewusstsein voraus. Hier ließe sich ein dritter Aspekt anfügen, der in den bisherigen Ausführungen nicht zum Tragen kam, aber in der Romantik durchaus präsent ist: Das Unbewusste als Ort der Triebe, der nicht-bewussten physischen Gemütszustände, Gefühle und Leidenschaften.39 Alle drei Aspekte des Unbewussten haben die Ästhetik und die Musikdramen Richard Wagners entscheidend geprägt. Allerdings stellt sich die Frage, ob es wirklich nur die Romantik war, aus der Wagner seine Konzeption des Unbewussten gewonnen hat, oder ob nicht auch noch andere Einflüsse im Spiel waren. Versteht nicht auch Hegel die Welt als mähliche Bewusstwerdung des Weltgeistes? Und taucht das Unbewusste nicht auch bei Schopenhauer als triebhafter ›Wille‹ auf, der zugleich ein unergründbares Absolutes darstellt? Warum überhaupt auf Schelling Bezug nehmen, wo man doch weiß, dass

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Ein triadisch angelegtes Weltbild aus ursprünglicher Einheit, Entzweiung und Rückkehr existierte natürlich bereits vor der Romantik, etwa im Humanismus und in der Gegenreformation, oder der Ästhetik Schillers. Auch die Idee des Goldenen Zeitalters (vgl. 3.1.2.) ist bereits vor der Wende zum 19. Jahrhundert virulent. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Romantiker dieses triadische Modell neu konzipiert haben. Dies deckt sich mit Manfred Engels Klassifizierung des romantischen Begriffs des Unbewussten, in der er das »allgemeine Naturleben als Basis aller physischen und geistigen Produktionsakte« als Vor-Bewusstes von demjenigen Unbewussten unterscheidet, das identisch ist mit dem »Absoluten, der undenkbaren, da notwendigerweise bewußtseinstranszendenten ursprünglichen Einheit von Subjekt und Objekt.« Engel, Naturphilosophisches Wissen, S. 72.

der junge Wagner stark von Hegel beeinflusst war40 und sich in späten Jahren als Anhänger Schopenhauers verstand?41 Tatsächlich hat sich Wagner meist negativ über Schellings Philosophie geäußert – vielleicht ist auch dies einer der Gründe, warum deren Bedeutung für sein Werk bisher kaum untersucht wurde. 42 In Mein Leben berichtet Wagner: »Ich hatte mir das Buch Schellings über den ›transzendentalen Idealismus‹ […] verschafft, zerbrach mir aber vergebens den Kopf, bei der Lektüre der ersten Seiten davon etwas zu denken« (ML, 442). Wie Cosimas Tagebücher belegen, konnte er auch mit der Spätphilosophie Schellings wenig anfangen. Er glaubte darin einen Gottesbegriff zu erkennen, der ihm missfiel.43 Dennoch sollte dieses negative Urteil nicht unhinterfragt übernommen werden. Der Einfluss Schellings auf Wagner lässt sich durchaus rekonstruieren. So wie ihm die Hegelsche Gedankenwelt durch Feuerbach vermittelt wurde, 44 dürften Wagner die Grundgedanken der Naturphilosophie Schellings durch die Lektüre der romantischen Literatur vertraut gewesen sein. 45 Natürlich ist die Frage, ob Wagner nun

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Zum Einfluss Hegels auf Wagners Denken vgl. die Ausführungen in 3.2.2. Über Wagners Rezeption Schopenhauers sind unzählige Aufsätze und Abhandlungen erschienen. Noch zu Wagners Zeiten erschien die Studie von Friedrich Hausegger, Richard Wagner und Schopenhauer. Eine Darlegung der philosophischen Anschauungen Richard Wagners an Hand seiner Werke, Leipzig 1878. Einen umfassenden Vergleich leistete in den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts dann die Arbeit von Edouard Sans, Richard Wagner et la pensée schopenhauerienne, Paris 1969. Für den deutschen Sprachraum vgl. den Überblick von Hartmut Reinhardt in Ulrich Müller / Peter Wapnewski (Hgg.), Richard-Wagner-Handbuch, Stuttgart 1986, S. 101–113 sowie in jüngster Zeit die Studie von Kienzle, …daß wissend würde die Welt. Tatsächlich muss man weit zurückgehen, um auf eine vergleichende Studie zwischen Schelling und Wagner zu stoßen. Eine solche ist die schmale Jenaer Dissertation von Kurt Knopf aus dem Jahr 1932, die Wagners Idee des Gesamtkunstwerkes aus der Kunstphilosophie Schellings herzuleiten versucht (Knopf, Die romantische Struktur). In jüngster Zeit hat Manfred Frank in einem kurzen Abschnitt seines Buches Mythendämmerung den Versuch unternommen, »Wagner mit Schelling« zu lesen. Dabei geht es Frank vor allem um einen Vergleich der Mythos-Konzeption. Vgl. Frank, Mythendämmerung, S. 79–86. Vgl. hierzu CT II, 625, 632 u. 639. So resümiert er seine Beschäftigung mit der Philosophie vor der Begegnung mit Schopenhauers Werk in Mein Leben wie folgt: »Schon in meiner frühesten Zeit war durch einige Gespräche mit Lehrs in Paris dieser Trieb in mir angeregt worden, welchem ich bisher durch meine Versuche, bei den Leipziger Professoren, dann aus einem Schellingschen, später aus einem Hegelschen Buche Befriedigung zu verschaffen getrachtet hatte, bis, da diese Versuche mich alsbald abschreckten, einige Feuerbachsche Schriften mir den Grund hiervon anzugeben geschienen hatten.« An Schopenhauer habe ihn dagegen sofort »die große Klarheit und männliche Präzision« gefesselt, mit der dieser die »Erörterung der schwierigsten metaphysischen Probleme« anging (ML, 522). Richard Wagner wurde bereits in seiner Jugend durch seinen Onkel Adolf mit der Literatur der Romantik vertraut gemacht. Adolf Wagner war ein Gelehrter, der mit zahlreichen Romantikern in Kontakt stand. Neben der Naturphilosophie dürfte Wagner auch mit Schellings Mythos-Konzeption über den Umweg der romantischen Mythologen

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ein Hegelianer, Schellingianer, Schopenhauerianer oder Romantiker war, letztlich müßig. Die unterschiedlichen Gedankenströme des 19. Jahrhunderts fließen bei ihm in einem höchst komplexen und eigentümlichen Kunstwerk zusammen. Was Wagners Konzeption des Unbewussten angeht, ist die Rolle Schellings und der Romantik allerdings höher zu bewerten als diejenige Hegels und Schopenhauers. Um dies zu begründen, seien kurz die Gemeinsamkeiten und Unterschiede genannt, die sich in diesem Punkt in den verschiedenen Modellen finden lassen. Zunächst gilt es einzuräumen, dass nicht nur bei Schelling, sondern auch bei Hegel der Geist eine Geschichte hat. Dies wird zum ersten Mal deutlich in seiner Phänomenologie des Geistes, die den Aufstieg von der bloßen Wahrnehmung über das Selbstbewusstsein bis zur Vernunft beschreibt.46 Ebenso begreift Hegel die Natur als einen Prozess. Im zweiten Teil seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften bezeichnet er sie »als ein System von Stufen […], deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert«. 47 Und auch der subjektive Geist erscheint in seiner Anthropologie in einer Stufenfolge begriffen: Hegel scheidet die Seele, in der der subjektive Geist »an sich oder unmittelbar« wirkt, 48 vom Bewusstsein, in dem die Seele durch Reflexion zum Ich wird. Der entscheidende Unterschied zwischen Schelling und Hegel ist aber, dass letzterer das ewig Unbewusste nicht kennt. Alles lässt sich bei ihm als eine Bewegung von Unmittelbarkeit, Negation und Aufhebung philosophisch erklären. Dagegen betont Schelling, dass die Entwicklung des Geistes zwar einer Geschichte gleiche, diese sich jedoch nie völlig in Reflexion und Begriffe auflösen lasse. Anders als bei Hegel gibt es in der Natur- und Geschichtsphilosophie Schellings und der Romantik einen opaken Rest, der dem Bewusstsein unzugänglich bleiben muss. In diesem zentralen Punkt stimmen sie mit Richard Wagner überein. Dieser inszeniert zwar in seinen Musikdramen fortlaufend Bewusstwerdungen der Figuren, die durch das Erzählen ihrer eigenen Geschichte ihr Unbewusstes zu ergründen versuchen. Aber letztlich scheitern sie damit und werden auf die unaufhebbare Trennung von Unbewusstem und Bewusstsein zurückgeworfen. Nun lässt sich von Schellings Naturphilosophie nicht nur eine Linie zu Hegel, sondern auch zu Arthur Schopenhauers Konzeption des Willens ziehen. Dass diese in der Entdeckungsgeschichte des Unbewussten einen wichtigen Platz einnimmt, wurde in der Forschung mehrmals betont. Dabei zeigt sich, dass Schopenhauer, obwohl er den Willen aus Kants Konzept des ›Ding an sich‹ herleitete, wichtige

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bekannt geworden sein. Manfred Frank hält fest, dass in die Schriften von Friedrich Creuzer und Johann Arnold Kanne, die Wagner bekannt waren, zahlreiche Gedanken Schellings eingeflossen waren. Vgl. Frank, Mythendämmerung, S. 80. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986 [1969–1971], Bd. 3. Hegel, Werke, Bd. 9, S. 31. Hegel, Werke, Bd. 10, S. 38.

Prämissen Schellings übernimmt.49 Wenn er schreibt, dass im Willen »eine wirkliche Identität […] des Subjekts mit dem Objekte« unmittelbar gegeben sei, und dies als »Wunder« bezeichnet,50 so erinnert das an die Schellingsche Definition des ewig Unbewussten als »absolute Identität« von Subjekt und Objekt. Des Weiteren geht Schopenhauer davon aus, dass die bewusste Erkenntnis »dem Willen gleichsam so entsprossen ist wie der Kopf dem Rumpf«,51 womit er das naturphilosophische Modell einer Entstehung des Bewusstseins aus dem Unbewussten wiederholt. Drittens weist die Blick-Metaphorik, die Schopenhauer zur Verdeutlichung seiner Thesen verwendet, Parallelen zur Schellingschen Philosophie auf. Der Wille erscheint Schopenhauer zufolge vor allem in der »unorganischen und vegetabilischen Natur« als »blinder, unaufhaltsamer Drang«52 , der aber im Menschen zur Anschauung seiner selbst gelangen könne: In der Welt der Vorstellungen sei »dem Willen 49

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Die Verbindung zwischen Schopenhauer und Schelling wurde schon von Herbart und Fortlage bei ihrer jeweiligen Rezension der Welt als Wille und Vorstellung erkannt. Seitdem, schreibt Sandro Barbera, sei sie »ein Gemeingut der Schopenhauer-Forschung«. Als wichtigsten Aspekt nennt Barbera die »Naturphilosophie, die Schopenhauer durch wiederholte und bedeutende Veränderungen, aber in ständiger Auseinandersetzung mit Schelling, entworfen hat.« Sandro Barbera, Schopenhauer und Schelling. Aufzeichnungen über den Begriff der Entzweiung des Willens. In: Schopenhauer und die Schopenhauer-Schule, hg. von Fabio Ciracì / Domenico M. Fazio / Matthias Koßler, Würzburg 2009, S. 73–87, hier S. 73. In seinem Aufsatz zeigt Barbera dies anhand des Motivs der »Entzweiung des Willens«, also der Spaltung in ein Unbewusstes und ein Bewusstes. Dieser Aspekt habe Schopenhauer an Schellings Naturphilosophie ganz besonders interessiert, so Barbera. Günter Gödde verweist in diesem Zusammenhang auf den Einfluss von Schellings ›Freiheitsschrift‹ (1809) auf Schopenhauer, in der die Natur auch als Drang, Trieb und Begierde erscheine. Vgl. Gödde, Traditionslinien des Unbewussten, S. 58–61. Einen ausführlichen Vergleich zwischen der Philosophie Schopenhauers und Schellings unternimmt Robert Jan Berg, Objektiver Idealismus und Voluntarismus in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers, Würzburg 2003. Darin findet sich ein ausführlicher Überblick über die Forschungsliteratur zu Schelling und Schopenhauer, u.a. mit einem aufschlussreichen Hinweis auf den Versuch Eduard von Hartmanns, Schelling als Synthese von Hegel und Schopenhauer zu lesen (ebd., S. 12–28). Auch die Parallelisierung des Willens mit der romantischen Konzeption des Unbewussten wurde in der Forschung wiederholt festgestellt. Henri F. Ellenberger bemerkt, dass Schopenhauer »den Willen mit dem Unbewußten gleichsetzt, wie es einige Romantiker auffaßten.« (Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 295) Manfred Engel bezeichnet Schopenhauers Wille sowie das ›absolut Unbewusste‹ von Carus und Hartmann als »späte Ausprägungen« der romantischen Konzeption des Unbewussten. Vgl. Engel, Naturphilosophisches Wissen, S. 72. Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Frankfurt am Main 1986 [1960ff.], Bd. 3, S. 171. Als Schopenhauer im ersten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung auf diese Stelle seiner Frühschrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813) rekurriert, hält er fest, die »ganze gegenwärtige Schrift« sei »die Erklärung« eben dieses Wunders. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 160. Ebd., S. 256. Ebd., S. 380.

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sein Spiegel aufgegangen […], in welchem er sich selbst erkennt«.53 »Der Wille, der bis hieher im Dunkeln höchst sicher und unfehlbar seinen Trieb verfolgte, hat sich auf dieser Stufe ein Licht angezündet«.54 Genau in diesem Sinne schreibt Schelling, »das Wesen des Geistes« liege in der »Tendenz sich selbst anzuschauen« (S I/1, 380). Und schließlich hat Schopenhauers in sein Werk die naturphilosophische Idee aufgenommen, dass die Natur stufenweise zum menschlichen Bewusstsein steigt. Er spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen Graden der Objektität des Willens. In der anorganischen Natur sei diese am schwächsten, im Menschen am stärksten. Es verwundert also nicht, dass Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) lobende Worte für die Naturphilosophie findet. Deren Verdienst sei es, zwischen den verschiedenen Erscheinungen des Willens Analogien gefunden zu haben – was Schopenhauer als Indiz seiner These versteht, dass »in allen Kräften der unorganischen und allen Gestalten der organischen Natur einer und derselbe Wille es ist, der sich offenbart«.55 Dennoch sollte man die Nähe der beiden Systeme nicht überbewerten.56 Im Gegensatz zu Schelling wollte Schopenhauer partout nicht glauben, dass das Natur- und Weltgeschehen einem vernünftigen Plan folge – vor allem aus diesem Grund hat er sich mehrmals abfällig über Schelling geäußert. Schopenhauers Modell der Welterklärung folgt keiner linearen, sondern einer zyklischen Logik: Der Wille läuft letztlich in einer sinnlosen und zerstörerischen Kreisbewegung ins Leere. Die Bedürfnisse und Triebe, die sich in ihm ausdrücken, können höchstens für kurze Zeit befriedigt werden: Das Leiden nimmt immer wieder von Neuem seinen Lauf. Deshalb behandelt Schopenhauer für Wagners Werk so wichtige Phänomene wie die Geschichte, die Erinnerung und das Gedächtnis als nachrangig.57 Diese sind Ausdruck der oberflächlichen Welt der Erscheinungen, in denen lediglich die vergebliche Suche des Willens nach Befriedigung zum Ausdruck kommt. Dies ist der erste Grund, warum man die Bedeutung Schopenhauers für Wagner nicht überschätzen sollte. Der zweite ist, dass seine Konzeption des Unbewussten in vielen Punkten bereits von Schelling und den Romantikern formuliert wurde. Richard Wagners Entdeckung der Schopenhauerschen Theorie, die relativ spät erfolgte, ist in diesem Sinne als eine Weiterführung der Romantik zu verstehen.58 Der Rückgriff auf Schelling und die Romantiker bietet also entschei-

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Ebd., S. 379. Ebd., S. 223. Ebd., S. 213. Nicht zuletzt deshalb, weil Schopenhauer in Schellings Philosophie einen Rückfall in vorkantische Denkmuster zu erkennen glaubt. Vgl. hierzu Barbera, Schopenhauer und Schelling, S. 74. Siehe hierzu den entsprechenden Abschnitt in 6.4.2. Dies wurde in der Forschung bisher vor allem im Hinblick auf die romantische Musikästhetik herausgearbeitet, die Wagner in Schopenhauers Musikphilosophie wiedergefunden hat. Vgl. hierzu Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas,

dende Vorzüge: Im Gegensatz zu Schopenhauer erkennen sie den philosophischen Wert der Geschichte an, weisen diesen aber anders als Hegel in seine Schranken. Sie sind dynamische Denker, die zugleich von der Unergründlichkeit des Unbewussten überzeugt sind. Aus diesem Grund stehen sie der Anthropologie und der Ästhetik Richard Wagners sehr nahe.

1.3.

Das Unbewusste in der romantischen Anthropologie (Kluge, Schubert)

Das Unbewusste spielte auch in dem Menschenbild, das die romantische Anthropologie entwarf, eine entscheidende Rolle. Es ist wichtig, diesen Teil der Entdeckungsgeschichte des Unbewussten zu kennen, da die anthropologische Forschung seit dem 18. Jahrhundert das philosophische und theologische Wissen durch empirische Beobachtungen ergänzte. In ihr wurden Leib und Seele nicht wie bei Descartes voneinander getrennt, sondern aufeinander bezogen; es entstand ein medizinisch-psychologischer Diskurs, der auf die Philosophie zurückwirkte und andere Wissensbereiche wie die Literatur stark beeinflusste.59 Dies gilt insbesondere für die Anthropologie der Romantik, die von philosophisch interessierten Ärzten wie Franz von Baader (1765–1841), Lorenz Oken (1779–1851), Gotthilf Heinrich von Schubert (1780–1860) und Carl Gustav Carus (1789–1869) geprägt wurde. Ihre Konzeption des Unbewussten beruhte neben der Naturphilosophie Schellings60

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S. 153; Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 111; Stefan Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners, S. 103ff. Allerdings fehlt bisher eine grundlegende Untersuchung, die die romantische Prägung der Wagnerschen Schopenhauer-Rezeption kritisch untersucht. Vgl. hierzu Košenina, Literarische Anthropologie, S. 7–17. Manfred Engel weist darauf hin, dass Schellings Naturphilosophie und ihre drei Grundprinzipien (Polarität, Organismus, Historie) der romantischen Anthropologie als Grundlage dienten. Allerdings wäre Schellings Leistung nicht möglich gewesen »ohne den seit Mitte des 18. Jahrhunderts gesamteuropäisch erfolgenden Paradigmenwechsel von mechanischen zu organizistischen Modellen.« Engel nennt hier Herder, Blumenbach und Goethe. Schellings Verdienst sei es gewesen, diese »Theorieelemente erstmals zu einem geschlossenen System zusammengestellt zu haben.« (Engel, Naturphilosophisches Wissen, S. 67f.) Einen Überblick über die wichtigsten Einflüsse und Ideen sowie die Wirkung von Schellings Naturphilosophie im Hinblick auf die Naturwissenschaft gibt Dietrich von Engelhardt, Prinzipien und Ziele der Naturphilosophie Schellings. Situation um 1800 und spätere Wirkungsgeschichte. In: Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und Geschichte, hg. von Ludwig Hasler, Stuttgart 1981, S. 77–98. Engelhardt hält fest, dass sich »der allgemeine Zeitgeschmack« bereits »um 1815« wieder von der Naturphilosophie abgewandt habe. Davon ausgenommen sei allerdings Schellings Aufnahme bei den romantischen Naturforschern und Medizinern der Zeit, etwa Ritter, Eschenmayer, Troxler, Oken und Carus. Dies bedeute jedoch nicht, dass die Naturforschung und Medizin der Zeit »insgesamt unter dem Einfluß von Idea-

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auch auf der medizinischen Praxis des animalischen Magnetismus. Diese geht auf den deutschen Arzt Franz Anton Mesmer zurück, der vor allem im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts wirkte. Durch händisches Bestreichen seiner Patienten löste Mesmer krisenhafte Anfälle aus, die er als heilsam betrachtete. Er erklärte sie physikalisch mit dem Wirken eines universellen Fluidums. Seine Lehre wurde von seinem Schüler, dem Marquis de Puységur, weiterentwickelt. Dieser kann als der eigentliche Entdecker dessen gelten, was man ›magnetischen Schlaf‹ nannte.61 Puységur versetzte die Patienten via Hypnose in einen Tiefschlaf, in dem sie aber ansprechbar waren. Sie zeigten in diesem somnambulen Zustand sogar außergewöhnliche Fähigkeiten, konnten sich etwa an Gegebenheiten erinnern, deren Spur im Wachbewusstsein ausgelöscht war, sowie kommende Ereignisse vorhersagen. Auch schien sich die Sinnesleistung der Patienten im magnetischen Schlaf zu verändern, da sie mit geschlossenen Augen ihre Umgebung beschreiben konnten. Diese Phänomene führte Puységur, anders als sein Lehrer Mesmer, auf psychische Ursachen zurück.62 Obwohl der Magnetismus in der Zeit von 1775 bis 1840 eine Blütezeit erlebte63 und von zahlreichen Ärzten in Deutschland und Europa praktiziert wurde, blieb ihm die wissenschaftliche Anerkennung verwehrt. Dazu schreibt Jürgen Barkhoff: Sein Blick in die Abgründe des Unbewußten, sein den Anspruch der Verstandesbestimmtheit konterkarierendes Ernstnehmen von dem, was dabei an Phantasmen der Einbildungskraft zutage trat, und nicht zuletzt sein kosmologisch inspiriertes Vernetzungsmodell von Mensch, Umwelt und Transzendenz hatten, egal ob sie, wie bei Mesmer, aufklärerisch-mechanizistisch oder, wie bei den Romantikern, naturphilosophischidealistisch formuliert waren, kaum eine Chance im Diskurs der Wissenschaften.64

Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, wie der Magnetismus auf die romantische Konzeption des Unbewussten wirkte. Ihren Ausgang nimmt die Analyse dabei in der 1811 erschienenen Schrift Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel des Arztes Carl Alexander Ferdinand Kluge. Eine ausführliche Beschäf-

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lismus und Romantik« gestanden habe, so Engelhardt. Im Gegenteil: Schelling sei von Anfang an hart angegriffen und verurteilt worden – eine Reaktion, die sich im ganzen 19. Jahrhundert fortgesetzt habe (ebd., S. 84–87). Eine andere Bezeichnung für den magnetischen Schlaf ist ›künstlicher Somnambulismus‹; sie geht ebenfalls auf Puységur zurück. 1843 erhielt der magnetische Schlaf bzw. der künstliche Somnambulismus dann von James Braid den Namen ›Hypnotismus‹. Vgl. hierzu Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 113–120. Zur Entstehung des animalischen Magnetismus vgl. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 95–120 sowie Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, Stuttgart, Weimar 1995, S. 1–54. Ebd., S. XI. Was die romantische Medizin als Ganzes betrifft, setzt Dietrich von Engelhardt ihren Wirkungszeitraum »vom Ende der 90er Jahre des 18. bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts« an (Engelhardt, Romantische Mediziner, S. 95). Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. XII. Der Begriff »idealistisch« ist an dieser Stelle eher irreführend, weil die Theorien Schuberts mit dem Idealismus Hegelscher Prägung nicht viel gemein haben. Besser wäre es, an dieser Stelle von »spekulativ« zu sprechen.

tigung mit diesem Text lohnt nicht nur, weil Kluge eine übersichtliche, sachliche und anschauliche Zusammenfassung des Magnetismus gibt, sondern auch, weil das darin entwickelte Modell »zur Folie praktisch aller Interpretationen des Mesmerismus in der Romantik« wurde.65 Bis zum Jahr 1818 wurde das Kompendium dreimal aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt.66 Zu seinen Rezipienten zählte auch Gotthilf Heinrich von Schubert, der sich in seinen einflussreichen Werken Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft und Symbolik des Traumes intensiv mit dem Magnetismus auseinandersetzte und diesen naturphilosophisch zu deuten versuchte. Kluge unterteilt in seinem Buch die magnetische Behandlung in sechs Grade, die je nach Intensität des erreichten Schlafes unterschieden sind. Zunächst befindet sich der Patient im »Grad des Wachens«, in dem er in der »Sphäre des Gewöhnlichen«67 verharrt. Mit Beginn der Behandlung durch den Magnetiseur gelangt er zum »Halbschlaf« und von da schließlich zum dritten Grad, der die Bezeichnung »magnetischer Schlaf« trägt. Hier tritt der Mensch »aus der Verbindung mit der Außenwelt und geht zur innern Dunkelheit über«.68 Der Patient ist nun in völliger Bewusstlosigkeit, bevor er im vierten Grad, der »vollkommenen Krise«, zu höherem Bewusstsein erwacht. Mit diesem Grad beginnt der eigentliche somnambule Zustand: Der Magnetisierte ist »schlafend, im Schlafe aber wachend«, so Kluge.69 »Der, zwar nicht aus seinem Schlafe, sondern nur in sich selbst, erwachte Kranke gelangt nun wieder zu seinem vorigen Bewußtseyn; er findet und erkennt sich wieder, aber in einem abgeänderten Verhältniße zu den Umgebungen.«70 In den folgenden Graden wird diese höhere Wahrnehmung noch gesteigert. Der Kranke erlangt in der »Clairvoyance« zunächst eine »helle und lichtvolle Erkenntniß seines innern Körper- und Gemüthszustandes«, bevor sich diese Selbstbeschauung in der »Ecstase« über »das Nahe und Ferne, im Raume und in der Zeit« ausbreitet.71 Wie in dieser Beschreibung deutlich wird, geht Kluge von einer zirkulären Bewegung aus, die den Kranken zunächst von der Außen- in die Innenwelt und von da aus zu einer Synthese beider führt:

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Ebd. S. 97. Ebd., S. 93. Ein Hinweis auf die große Bedeutung des Buches ist auch die Tatsache, dass der neunseitige Artikel, den die Brockhaus-Enzyklopädie im sechsten Band ihrer Auflage von 1815 dem Magnetismus widmet, im Wesentlichen auf Kluges Kompendium beruht. Siehe hierzu Katharine Weder, Kleists magnetische Poesie. Experimente des Magnetismus, Göttingen 2008, S. 20. Carl Alexander Ferdinand Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel, Berlin 1811, S. 108. Ebd., S. 109. Ebd., S. 110. Ebd., S. 126. Ebd., S. 111f.

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Je höher er in diese Grade hinaufrückt, um so mehr entfernt er sich von der Sinnenwelt und nähert sich dem Intellectuellen; sein durch jenes Zurücktreten bewirkter extensiver Verlust wird ihm gleichsam intensiv wieder ersetzt, bis er endlich, zur höchsten Intension gesteigert, auch gleichzeitig wieder die möglich größte Extension erlangt.72

Um seine These zu begründen, zitiert Kluge einen anonymen Autor aus Nordhoffs Archiv, der die magnetischen Grade in diesem Sinne interpretiert: Wie der Mensch überhaupt anfänglich außer sich verloren und mit der ihn umgebenden Welt verwachsen, nicht sowohl in sich, als vielmehr in den Dingen lebt, sich erhält und findet, dann abgetrennt, in sich zurückfällt, sich in sich ergreift und befestiget, und nun sich und die Welt begreifend, zur Besonnenheit gelangt, – also verhält sich auch der Mensch in den durch den animalischen Magnetismus versetzten Zuständen.73

Im künstlichen Somnambulismus versinken die Patienten demnach nicht aus dem Bewusstsein ins Unbewusste, sondern es handelt sich eigentlich um eine Bewusstwerdung des Unbewussten, in der der Mensch sich selbst und seine Verbindung zur Außenwelt erst wirklich begreift. Im sechsten Grad, so Kluge, sind Körper und Geist »zur reinsten Harmonie verschmolzen«. Der Patient ist »allem Gröbern, Sinnlichen« entrückt und in den Zustand »einer ruhigen, ernsten und höhern Selbstbetrachtung versetzt.«74 Bereits hier deutet sich an, was in Kluges späterer physiologischer Analyse zum Tragen kommen wird: Die Bewusstseinsfunktionen werden in der utopisch anmutenden Vision eines vollständigen Zu-Sich-Kommens des Menschen nicht ausgeschlossen, sondern durch das Unbewusste zu ihrer eigentlichen Bestimmung hin erweitert. Nicht umsonst erklärt der Artikel aus Nordhoffs Archiv die für die Romantik so wichtige Idee der Besonnenheit, das ruhige und umsichtige Verfügen über die chaotische Gefühlswelt, zum Zielpunkt der magnetischen Kur. Kluge betont ausdrücklich, dass der »Grad der Entzückung«, der in einigen Fällen als Steigerung des sechsten Grades aufgetreten sei, nicht mehr Teil der magnetischen Behandlung sein könne. Denn in ihm ist der Mensch »empfindungs- und bewußtlos«, da das Intellektuelle »durchgehends aufgehoben« und das »Leben aus der Sphäre des Animalischen ganz in die des Vegetativen zurückgedrängt zu seyn scheint«.75 Kluge legt seiner Beschreibung des Magnetismus also einen Dreischritt zugrunde, in dem die Synthese unbewusster und bewusster Fähigkeiten des Menschen als Zielpunkt erscheint. Dies wird in seiner physiologischen Grundlegung des Magnetismus noch klarer. Kluge unterscheidet zwei Nervensysteme: das Ganglien- und das Cerebralsystem.76 Während das Cerebralsystem der Sitz des Bewusstseins sei,

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Ebd., S. 106. Ebd., S. 108. Ebd., S. 238. Ebd., S. 113. Dabei ist zu beachten, dass die Beschreibung des Antagonismus von Ganglien- und Cerebralsystem nicht auf Kluge, sondern auf Johann Christian Reil und dessen Abhand-

regele das Gangliensystem die Funktionen des »vegetativen Lebens«.77 Es wirke »bewußtlos, nach blinder Nothwendigkeit«, seine Perzeption werde durch eine »Anima distributiva« gesteuert. »Die Sinne schlafen noch unentwickelt im thierischen Chaos, kommen aber, wenn das Ganglien-System potenziert und mit dem Cerebral-Systeme in Verbindung gesetzt wird, zum Vorscheine, und die Empfindung gelangt dann erst zum Bewußtseyn.«78 Je höher man die Tierklassen hinaufgehe, desto stärker trete das Cerebralsystem hervor, »bis endlich im Menschen das vegetative und animalische Leben im Gemeingefühle und Selbstbewußtseyn einen Schlußstein findet, der es zur Einheit der Individualität und Persönlichkeit auffaßt.«79 Kluge lässt dabei keinen Zweifel, dass das Gangliensystem die »Hauptquelle der Lebenskraft« ist. »Es kann auch für sich allein, aber das Cerebral-System nicht ohne das Ganglien-System seyn, weil es gleichsam die Blüthe und Frucht von diesem ist.«80 Diese Beschreibung eines allmählichen Hervortretens des Cerebralaus dem Gangliensystem kann in ihrer Bedeutung für die romantische Konzeption des Unbewussten gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie bietet der bis dato nur spekulativ deduzierten Theorie der Entstehung des Bewusstseins aus dem Unbewussten eine physiologische Grundlage und bestätigt die Annahme, dass die Natur stufenweise bis zur Entstehung von Willen und Individualität im Menschen hinaufsteigt. Für Kluge ist das Unbewusste primär, das Bewusstsein sekundär – für die Romantiker gilt das Gleiche. Dass beide, Unbewusstes und Bewusstsein, in einem dritten Schritt wieder zusammengeführt werden müssen, um so die für das Bewusstsein verloren geglaubten, im Unbewussten schlummernden Kräfte wiederzufinden, ließ sich aus Kluges Beschreibung des Magnetismus ebenfalls herauslesen. Zwar betont er, dass im normalen Wachzustand Ganglien- und Cerebralsystem voneinander getrennt seien. Zwischen beiden liegen Nervenäste, die Kluge im Anschluss an Reil den »Apparat der Halbleitung« nennt.81 Dieser garantiere, dass beide Systeme isoliert voneinander funktionieren und vom Gangliensystem immer nur ein »Gemeingefühl« ins Bewusstsein trete. Jedoch könne es »unter gewissen Umständen« geschehen, dass »einzelne Isolatoren Conductoren werden« und »beide Sphären in ein anderes Ver-

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lung Ueber die Eigenschaften des Ganglien-Systems und sein Verhältniß zum CerebralSystem aus dem Jahr 1805 zurückgeht. Der Unterschied zwischen Reil und Kluge besteht aber darin, dass dieser die Perzeption des Gangliensystems unbewusst, und zwar durch eine »Anima distributiva« erfolgen lässt. Vgl. hierzu Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 96. Es sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass Reil nicht der Entdecker der Unterscheidung zwischen Ganglien- und Cerebralsystem ist. Diese findet sich, wie Manfred Engel schreibt, zuerst bei Xavier Bichat und dann bei Christoph Wilhelm Hufeland. Vgl. Engel, Naturphilosophisches Wissen, S. 70. Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, S. 269. Ebd., S. 272. Ebd., S. 274. Ebd., S. 273. Ebd., S. 266.

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hältniß treten.«82 Eben dies geschehe im magnetischen Schlaf, der sich somit laut Kluge als ein Ineinanderwirken von Ganglien- und Cerebralsystem physiologisch erklären lässt. Über den fünften und sechsten Grad schreibt er: Die zuvor dunkeln Gemeingefühle werden nun durch diese, gleich dem Cerebral-Systeme, geschehene Vereinigung des Ganzen in einem Punkte, gesonderter, bestimmter, und bis zur Klarheit der Sinnesempfindung gesteigert. Die sonst bewußtlose, nur in der Bildung sich verwirklichende Idee, gelangt nun, noch innerhalb des Ganglien-Systems, zum Bewußtseyn, und der Instinkt reifet jetzt zum Willen. Das aus der sonst gleichgeltenden Masse des Ganglien-Systems nun zum Brennpunkte des Ganzen erhobene und zu einem Sensorio potenzirte Sonnengeflecht wird ein neuer Gegensatz dem Sensorio des Cerebral-Systems; das Gehirn hört dadurch auf, absoluter Centralpunkt des Organismus zu seyn, wird zu einem relativen Ganglion depotenzirt, somit dem GanglienSysteme näher verbunden, und ihm gleichsam einverleibt; die Thätigkeit des einen wird bestimmend für die des andern […]; neue, bisher schlummernde Kräfte verwirklichen sich, und begründen jene Menge zuvor nie gekannter Erscheinungen.83

Das Unbewusste nimmt in dieser Theorie das Bewusstsein in seine Dienste. Das Gehirn wird zu einem Teil des Gangliensystems und stellt so sicher, dass dessen dunkle Empfindungen bewusst werden. Damit erklärt Kluge, dass im fünften und sechsten Grad des Somnambulismus die Aussagen des Patienten immer deutlicher und klarer werden. Bei genauerem Hinsehen offenbart das Zitat jedoch Widersprüche. Zwar scheint es zunächst so, als wolle Kluge das Cerebralsystem nicht völlig aus der neu entstandenen Struktur des höheren Bewusstseins ausschließen, sondern als »relatives Ganglion« integrieren. Das Bild des Einverleibens zeigt jedoch an, dass das zum Bewusstsein erwachte Gangliensystem die herkömmlichen Bewusstseinsfunktionen zu verschlingen droht. Die beiden Systeme werden zwar als miteinander »verbunden«, aber auch als konkurrierend beschrieben. Das Sonnengeflecht wird zum »Gegensatz« des Gehirns, wodurch dieses »depotenzirt« wird. Diese metaphorische Unschlüssigkeit Kluges zeugt davon, dass die von der frühromantischen Philosophie als epistemologisches Problem beschriebene Bewusstwerdung des Unbewussten selbst vor der Sprache physiologischer Darstellungen nicht haltmacht: Die Synthese von Bewusstsein und Unbewusstem zu denken, ohne das eine dabei vollständig in das andere aufzulösen, bleibt auch in der magnetisch ausgerichteten Medizin eine prekäre Aufgabe. Dennoch ist die Bedeutung von Kluges Lehrbuch für die Romantik unbestritten. Zwar bildete der aufklärerisch orientierte Arzt den »Höhe- und Schlußpunkt innerhalb der nervenphysiologisch-vitalistischen Richtung der Magnetiseure«84 und leitete seine Theorien nicht von naturphilosophischen Axiomen ab. Aber in Kluges Analyse magnetischer Phänomene begann sich

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Ebd., S. 274. Ebd., S. 328f. Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 93.

bereits eine triadische Struktur herauszukristallisieren, in der das Bewusstsein aus dem Unbewussten entsteht, um dann wieder zu ihm zurückzukehren. Es war für Schubert deshalb ein Leichtes, Kluges Darstellung des Magnetismus für seine Naturphilosophie zu nutzen. Zwar ging Schubert erst in der 1814 erschienenen Symbolik des Traumes 85 ausführlich auf Kluge ein, aber er hatte bereits 1808 in seinen Vorlesungen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft 86 den Magnetismus in das triadische Modell der Naturphilosophie einzufügen versucht. Wie Schelling geht Schubert von einer ursprünglichen Identität von menschlichem Bewusstsein und Natur aus, die der Mensch vergessen habe und nun wiederfi nden müsse. Dies interpretiert er geschichtsphilosophisch als ›Goldenes Zeitalter‹: In diesem habe der Mensch in völliger Harmonie mit der Natur gelebt, er habe deren geheime Sprache verstanden und über das höchste Wissen von den innersten Zusammenhängen der Welt verfügt. Dieses Wissen sei dem gegenwärtigen Menschen aber nicht verloren, er habe es nur vergessen. Es schlummere in der Natur, in alten Mythen und Tempeln und harre seiner Entdeckung und Erweckung. Für Schubert waren die entrückten Zustände, in die die Somnambulen während ihrer magnetischen Krisen gerieten, ein erstes Anzeichen dafür, dass dem Menschen seine höchsten Fähigkeiten und damit auch das Goldene Zeitalter eines Tages wiederkehren könnten. Es geht ihm in erster Linie um den utopischen Gehalt des Magnetismus: »Die Seele soll sich in dem jetzigen, verkümmerten Zustande, wieder eines höheren und ursprünglichen – eines neuen, künftigen Lebens fähig machen«.87 Deshalb widmet Schubert dem Magnetismus in der 13. Vorlesung der Ansichten eine ausführliche Darstellung.88 Im Einklang mit den zeitgenössi-

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Gotthilf Heinrich von Schubert, Die Symbolik des Traumes. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1814, Darmstadt 1968. Eine Ausgabe der Symbolik aus dem Jahr 1862 findet sich in Richard Wagners Wahnfried-Bibliothek. Vgl. Richard-Wagner-Museum Bayreuth, Katalog der Wahnfried-Bibliothek. Online abrufbar unter: http://www. wagnermuseum.de/downloads/Wahnfried-Bibliothek.pdf (Datum des letzten Besuchs: 1.05.2012), S. 353. Die Ansichten sind dagegen in Wagners Büchersammlung nicht vertreten. Gotthilf Heinrich von Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Dresden 1808, Darmstadt 1967. Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 90. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 326–360. Schubert hatte sich bereits zuvor als Arzt mit dem Magnetismus beschäftigt, vgl. Schubert, Einige Versuche über den thierischen Magnetismus. In: Allgemeine medicinische Annalen 3, 1803, S. 170–176. Zum Wirken Schuberts als Arzt und zu seiner Stellung innerhalb der romantischen Medizin vgl. Engelhardt, Romantische Mediziner, S. 104. Die meisten Beispiele entstammen jedoch den Arbeiten des Arztes und Magnetiseurs Eberhard Gmelin, der seine Fallgeschichten zwischen 1787 und 1793 in vier Büchern dokumentierte, die den nachfolgenden Autoren als Referenz dienten. Die Titel der Schriften lauten im Einzelnen: Eberhard Gmelin, Ueber thierischen Magnetismus. In einem Brief an Herrn Geheimen Rath Hoffman zu Mainz, Tübingen 1787; Eberhard Gmelin, Ueber den thierischen Magnetismus. Zweytes Stück, Tübingen 1787; Eberhard Gmelin, Neue Untersuchungen

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schen Fallgeschichten berichtet Schubert, wie die Patienten während dieses Tiefschlafes gleichsam in ein höheres Bewusstsein erwachen. Ihre Sinnesleistung werde potenziert und sie würden fähig, in Zeiten zurückzugehen, »wohin die gewöhnliche Erinnerung nicht reicht«,89 sowie Ereignisse vorherzusagen. Schubert glaubt mit diesen Beispielen die naturphilosophische Grundthese seines Buches beweisen zu können: So behalten jene merkwürdigen Thatsachen nichts mehr, was mit den unveränderlichen Gesetzen der Natur, und mit andern Erscheinungen derselben in Widerspruch stünde. Vielmehr können sie uns zu einem der wichtigsten und klaresten Beweise jener vorherbestimmten Harmonie des Lebens aller Einzelnen, mit dem ihres Ganzen dienen, welche ein Hauptgegenstand dieser Untersuchungen gewesen.90

Schubert sieht sich durch die Existenz des magnetischen Schlafes in seiner wichtigsten Annahme bestätigt: Im Menschen schlummern außergewöhnliche Begabungen, die es ihm eines Tages ermöglichen werden, die ursprüngliche Harmonie mit der Natur wieder herzustellen. Zwar räumt er ein, dass magnetische Behandlungen abnorme, »von dem gesunden Leben abweichende[n] Zustände« hervorrufen könnten, doch sei ihre Wirksamkeit in Wahrheit »von einem viel erhabeneren Umfange […]. Wir haben in ihnen aus der Analogie des Ganzen die noch unausgebildeten Organe eines künftigen höheren Daseyns gesehen.«91 Im sechsten Kapitel der Symbolik des Traumes erhält diese Theorie dank der Vorarbeit Kluges ein physiologisches Fundament. Schubert schildert detailgetreu die Wechselwirkungen zwischen dem Ganglien- und dem Cerebralsystem, wobei er wie Kluge davon ausgeht, »daß die Bewegungen und Rührungen des Gangliensystems im normalen (und wachenden) Zustand nicht zum Gehirn gelangen und

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über den thierischen Magnetismus, Tübingen 1789 sowie Eberhard Gmelin, Materialien für die Anthropologie, 2 Bde., Tübingen, Heilbronn, Rotenburg ob der Tauber 1791–1793. Zu Gmelin vgl. die Darstellung in Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 86– 91 sowie Gerhard Bauer, Eberhard Gmelin (1751–1809). Sein Leben und sein Werk. Ein Beitrag zum Quellenstudium des thierischen Magnetismus im deutschsprachigen Raum, Heilbronn 1994. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 335. Ebd., S. 371. Barkhoff sieht den Versuch Schuberts und seiner Nachfolger kritisch, die Phänomene des Magnetismus zum empirischen Beleg der Naturphilosophie zu machen: »Das Systemdenken, dem sie empirische Stütze sein müssen, verlangt ihnen eine Eindeutigkeit und gesetzmäßige Zuverlässigkeit ab, die ihren seltenen, flüchtigen, uneindeutigen Charakter, ihren eben doch unzweifelhaften Ausnahmestatus überfordert und ihre Interpreten diesem gegenüber unsensibel und damit unkritisch macht. Axiomatische, vorwissenschaftliche Grundentscheidungen und die Zwänge eines deduktiv aufgestellten Systems weisen den empirischen Beobachtungen nur mehr eine Belegfunktion zu, die diese überfordert; ein Grundproblem romantischer Naturwissenschaft, das sich in späteren, auf Schubert aufbauenden naturphilosophischen Systematisierungen noch verschärft.« Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 104. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 364.

von der Seele nicht empfunden werden«.92 In außergewöhnlichen Zuständen wie der Nachtwandlerei, dem Wahnsinn und dem künstlichen Somnambulismus werde diese Scheidewand jedoch aufgehoben, das Gangliensystem übernehme die Herrschaft über das Gehirn und ermögliche so die potenzierten Sinneswahrnehmungen, von denen die somnambulen Zustände magnetisierter Patienten zeugten. Die »Gegend des Magengeflechts und der Herzgrube« werde nun zum »Organ des Erkennens«, zu einer Art höherem Auge.93 Mit dieser Theorie sieht Schubert nun nicht nur den materiellen Beweis für jene Bewusstseinserweiterung erbracht, die während magnetischer Behandlungen beobachtet wurde. Er fügt diese Erkenntnis auch in ein triadisches Geschichtsmodell ein: Die im Somnambulismus nur zeitweilig wirkende Aufhebung der Scheidewand zwischen beiden Nervenbereichen deute auf die Wiederkehr der enormen Fähigkeiten des Gangliensystems hin. Über diese habe der Mensch am Ursprung seiner Geschichte frei verfügen können: Jener Theil seiner Natur, durch welchen er mit höherer Kraft auf die Außenwelt zu wirken vermochte, war der, welcher noch jetzt sich als bildende, schöpferische Kraft beurkundet – die Region seiner Gefühle – das Gangliensystem, ein Kreis, welcher in dem jetzigen Zustande der Einwirkung des Willens größtentheils verschlossen ist.94

Früher sei das Gangliensystem nicht »in dem Geschäft materieller Bildung befangen« gewesen, sondern »ursprünglich gerade umgekehrt, das für den höheren Einfluß empfängliche, diesen leitende Organ«.95 In der Gegenwart sei es nun in den menschlichen Körper gleichsam eingekerkert, es sei »jener gefallene, in die Materie befangene Phosphorus unseres Wesens«,96 für dessen Tätigkeit nur noch »ein kleiner, enger Bezirk«97 übrig geblieben sei. Doch es sei gerade das Gangliensystem, das in somnambulen Zuständen dem Menschen wieder den Weg in eine höhere geistige Welt öffne. Dies geschehe freilich nur für kurze, begrenzte Zeit – wenn der Mensch aus Schlaf oder Hypnose erwache, übernehme das Cerebralsystem, das Bewusstsein, wieder die Herrschaft. Nichtsdestotrotz äußert Schubert die Hoffnung, dass in ferner Zukunft die ursprünglichen Fähigkeiten des Gangliensystems dauerhaft zurückkehren könnten: Und wenn auch diese Wiedervereinigung unsrer im jetzigen Zustande getrennten Natur nur selten durch jene Mittel noch im jetzigen Dasein gelingt, so wird uns doch das höchste Bemühen unserer Natur in einem künftigen Daseyn seine höchste Frucht tragen.98

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Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 102. Ebd., S. 105. Ebd., S. 189. Ebd., S. 190. Ebd., S. 157. Ebd., S. 158. Ebd., S. 163.

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Dass Schubert mit dem Magnetismus ein opakes und verdrängtes Feld medizinischen Wissens in ein naturphilosophisches und geschichtsteleologisches System einfügte, war für die romantische Konzeption des Unbewussten von enormer Bedeutung. Dabei war Schuberts Wirkung besonders auf die Literatur der Romantik groß. Von ihm bezogen E.T.A. Hoffmann und Heinrich von Kleist einen Großteil ihres Wissens über die Naturphilosophie und den Magnetismus. Schuberts Erfolg beruhte nicht zuletzt darauf, dass er ein begabter Popularisierer war. Er vermengte in seinen Schriften philosophische, psychologische, medizinische und theologische Diskurse99 zu einer Theorie, die er in eine verständliche Sprache zu bringen verstand. Es gelang ihm, das stählerne Begriffsgerüst der Schellingschen Naturphilosophie in anschauliche Bilder zu fassen. Der Jargon der Universitätsphilosophie war seine Sache nicht; er spürte der Harmonie von Mensch und Natur mit dem Gestus eines Forschers nach, der zwar religiös inspiriert ist, seine Theorien aber anhand empirischer Phänomene zu beweisen sucht.100 Nicht zuletzt deshalb bildet sein Werk ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Philosophie, Anthropologie und Literatur.

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100

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Schubert studierte zunächst Theologie, praktizierte dann als Arzt und wandte sich schließlich vollständig der Wissenschaft zu. 1819 wurde er auf einen Lehrstuhl für Naturgeschichte nach Erlangen berufen, 1827 dann als Professor für Allgemeine Naturgeschichte nach München. Vgl. hierzu Dietrich von Engelhardt, Schuberts Stellung in der romantischen Naturforschung. In: Gotthilf Heinrich Schubert. Gedenkschrift zum 200. Geburtstag des romantischen Naturforschers, Erlangen 1980, S. 11–36. In jüngster Zeit hat Tobias Leibold den ambitionierten Versuch unternommen, Schuberts Anthropologie als eine neue Form der Wissensvernetzung zu lesen: Tobias Leibold, Enzyklopädische Anthropologien. Formierungen des Wissens vom Menschen im frühen 19. Jahrhundert bei G. H. Schubert, H. Steffens und G. E. Schulze, Würzburg 2009, S. 208–240. Jürgen Barkhoff betont die Distanz Schuberts zu Schellings spekulativen Systementwürfen und weist dabei auf den Einfluss Johann Gottfried Herders hin. Schubert bleibe wie Herder einem religiösen Fundament verpflichtet, er betreibe Naturforschung als ›physica sacra‹, »die die Offenbarung Gottes in der Natur aufzuspüren bemüht ist und zu diesem Zweck gleichermaßen empirisch-sichtend wie einfühlend verfährt, dicht an den Objekten bleibt und eine Mitte zu halten bemüht ist zwischen nüchterner Naturbeobachtung und frommer Naturandacht« (Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 101). Auch Manfred Engel betont, dass die romantische Anthropologie als Ganzes die »transzendentale Grundlegung« und die »streng deduktive Systemkonstruktion« der Schellingschen Philosophie nicht übernommen habe. »Wie in der Aufklärung sind auch in der Romantik die meisten Anthropologen philosophisch ambitionierte Ärzte« (Engel, Naturphilosophisches Wissen, S. 69). Nicht verwunderlich ist deshalb, dass Schelling und seine Schüler Schuberts Symbolik des Traumes als Indiz einer »unsystematischen Spekulationswut« einstuften. Dies hält fest: Peter-André Alt, Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2002, S. 266.

1.4.

Das Unbewusste im romantischen Kunstwerk

Bisher wurde das Unbewusste aus philosophischer und anthropologischer Perspektive betrachtet. Ziel dieser Arbeit soll es aber sein, seine Darstellung innerhalb eines Kunstwerkes zu analysieren. Dabei sieht sich der Interpret zunächst mit dem Problem konfrontiert, dass die romantische Theorie der Kunst eine nicht geringe Aufgabe zuwies. Da der Versuch, sich das Unbewusste mittels Reflexion bewusst zu machen, in der Philosophie lediglich zu einer unendlichen Annäherung führt, liegt die Hoffnung der Romantiker auf dem Werk des Künstlers. Berühmt sind die Ausführungen Schellings am Ende des Systems des transzendentalen Idealismus, als er allein der Kunst die Fähigkeit zuspricht, das Unbewusste dem Bewusstsein darstellen zu können. »Das Kunstwerk«, so Schelling, »reflektirt uns die Identität der bewußten und der bewußtlosen Thätigkeit. Aber der Gegensatz dieser beiden ist ein unendlicher, und er wird aufgehoben ohne alles Zuthun der Freiheit. Der Grundcharakter des Kunstwerks ist also eine bewußtlose Unendlichkeit. […] So wird durch dasselbe ein Unendliches endlich dargestellt. Aber das Unendliche endlich dargestellt ist Schönheit.« (S I/3, 619f.) Diese Verbindung aus bewusster und unbewusster Tätigkeit im Kunstprodukt stellt sich Schelling ganz konkret vor: Nur die Kunst verbinde bewusste, handwerkliche Tätigkeit mit unbewusst wirkendem Genie. Schelling spricht in diesem Zusammenhang von der »unergründliche[n] Tiefe, welche der wahre Künstler, obwohl er mit der größten Besonnenheit arbeitet, unwillkürlich in sein Werk legt« (619). Ebenso verweisen Hölderlin und Novalis in ihren Schriften auf den Vorrang der Kunst vor der Philosophie, und fast ein halbes Jahrhundert später wird auch Carl Gustav Carus am Schluss von Psyche es dem Dichter überlassen, sich dem Rätsel des Unbewussten zu widmen: »Alles – Alles – löst sich hier in geheimnisvollen Nebel, und, wenn wir dem Dichter gestatten, hier frei auf seine Weise sich zu ergehen, so geziemt es der Wissenschaft hier bescheiden ihre Volumina zu schließen.«101 Ob das romantische Kunstprodukt diesem hohen Anspruch in der Praxis gerecht wurde, ist freilich eine ganz andere Frage. Man kann ihr auf verschiedenen Wegen nachspüren: Erstens müsste untersucht werden, inwieweit sich im Produktionsprozess willkürliche und unwillkürliche Tätigkeiten überschneiden. Zweitens wäre zu zeigen, ob die Wirkung romantischer Kunstwerke auf die Tiefenschichten der Seele zielt und beim Rezipienten die Dichotomie von Unbewusstem und Bewusstem voraussetzt oder sogar erst erzeugt. Drittens könnte man der Darstellung des Unbewussten in der fiktionalen Welt nachgehen: Haben die Figuren in romantischen Texten ein Unbewusstes und welche Konzeption von Subjektivität folgt daraus? Und viertens stellt sich die Frage nach der Relation von Inhalt und Form: Sind die Kunstwerke anders gestaltet, weil in ihnen das Unbewusste eine zentrale Rolle spielt? Die vorliegende Studie widmet sich den letzten beiden Punkten: Sie

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Carus, Psyche, S. 493.

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untersucht, wie die romantische Literatur das philosophische und anthropologische Wissen aufgreift und ästhetisch umsetzt. Dabei wird deutlich werden, dass Autoren wie Novalis, Hoffmann und Kleist in ihren Texten die Konsequenzen aufzuzeigen versuchen, die die Idee des Unbewussten für das moderne Individuum hat. Dies lässt sich exemplarisch anhand des Anfangs von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen zeigen, der wie Schellings System des transzendentalen Idealismus im Jahr 1800 erschien: Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken. [...] So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt’ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; [...] Ich glaubte, ich wäre wahnsinnig, wenn ich nicht so klar und hell sähe und dächte, mir ist seitdem alles viel bekannter. Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Thiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. [...] Sonst tanzte ich gern; jetzt denke ich lieber nach der Musik. Der Jüngling verlohr sich allmählich in süßen Phantasien und entschlummerte.102

In diesem Auszug wird der Übergang vom Bewusstsein ins Unbewusste poetisch dargestellt. Der Protagonist ist angetrieben von unerfüllbarer Sehnsucht nach dem Absoluten, das durch das Bild der »blauen Blume« veranschaulicht wird. Von diesem Grundgedanken ausgehend weitet der Text seinen Blick. Es werden sämtliche Aspekte sichtbar, die für die Darstellung des Unbewussten in der romantischen Literatur eine zentrale Rolle spielen werden. Da ist zum einen die Inszenierung des Wechselspiels von Bewusstsein und Unbewusstem als ein Wechselspiel von Wachen und Schlafen. Sodann findet sich in diesem Auszug das mythische Bewusstsein der Romantik abgebildet: Der Weg vom Bewussten zum Unbewussten führt aus dem einförmigen Takt der messbaren Zeit hinaus in das »Einst« der »alten Zeiten«, als die Menschen des Goldenen Zeitalters noch in Harmonie mit der Natur lebten. Und es werden bereits sämtliche Medien erwähnt, die den Zugang zum Unbewussten garantieren sollen. Die Anspielung auf die Hellsichtigkeit und die Musik wird ergänzt durch die Erzählung des Fremden, die Heinrichs Sehnsucht nach dem Unbewussten erst auslöst. Genau diese Aspekte sind es, die auch in den Musikdramen Richard Wagners die Beschäftigung mit dem Unbewussten bestimmen. Aus diesem Grund werden die folgenden Kapitel diese genauer in den Blick nehmen. Dabei wird aber immer eine Erkenntnis im Vordergrund stehen, die ebenfalls in Novalis’ Romananfang deutlich wird: Die Überschreitung der Grenze zum Unbewussten birgt für das Subjekt Gefahren. Heinrich »verlor« sich in seinen süßen Phantasien und »entschlummerte« ins Reich der Träume. Dieses Versinken des Bewusstseins steht in 102

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Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 195f.

engem Zusammenhang mit der Bedrohung durch den Wahnsinn, dem sich Heinrich ausgesetzt sieht. Das Subjekt ist in der Romantik und bei Wagner ein zerrissenes, weil es der Dichotomie von Unbewusstem und Bewusstem unterworfen ist. Fortwährend wird eine Suche nach dem eigenen Ich in Szene gesetzt, die zwangsläufig scheitern muss.103 Ein Motiv, das bei Heinrich von Kleist und E.T.A. Hoffmann noch deutlicher zu Tage tritt als bei Novalis.104 Nicht zufällig wird in den Lebens-Ansichten des Katers Murr, die Hoffmann zwischen 1819 und 1821 veröffentlichte, die Aporie romantischer Subjektivität beim Namen genannt: »Da geriet ich in einen Zustand, der auf seltsame Weise mein Ich meinem Ich entfremdend, doch mein eigentliches Ich schien.« (SäW 5, 57) Natürlich sollte man nicht den Fehler machen, die romantische Literatur für eine bloße Illustration der Philosophie zu halten. Anders als in einem theoretischen Text wird in ihr der prekäre Übergang vom Bewusstsein ins Unbewusste dargestellt. Indem Literatur begriffliche Reflexion mit sinnlicher Wahrnehmung verknüpft, geht sie immer schon über die reine Verstandestätigkeit hinaus: Die Nacht bricht ein, der Mond beleuchtet das Zimmer, Heinrich erinnert sich an die blaue Blume. Novalis’ Roman denkt nicht nur über die Welt nach, er erzählt diese Welt auch. Eben deshalb ist die Frage, mit Hilfe welcher Medien der Zugang zum Unbewussten geschaffen werden könne, in der romantischen Literatur nicht nur eine anthropologische, sondern auch eine ästhetische. Dies gilt noch mehr für die Musikdramen Richard Wagners, in denen die Bewusstwerdung des Unbewussten im Wechselspiel von Blick, Wort und Musik dramatisch inszeniert wird. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass sich ihre Ästhetik mit der Konzeption romantischer

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In seinem Grundkurs Literaturgeschichte hat Gerhard Lauer die »Grundfigur der Romantik« zu Recht aus der »idealistischen Erkenntnisproblematik« hergeleitet: »Die Einheit des Selbstverhältnisses ist daher nicht beobachtbar, weil die Differenz in Subjekt und Objekt die Bedingung der Selbsterkenntnis ist.« Dass sich das Individuum, »das sich selbst zu erkennen trachtet, sich gerade darin verfehlt«, sei »in praktisch allen Werken der Romantik zu finden. Immer geht es um die romantische Selbstvermittlung, um ein Ich, das nach sich selbst fragt, in dieser Frage mit sich selbst identisch ist und sich doch als Differenz, als Objekt wahrnimmt. Der Bezug auf Ganzheitsverweise wie Gott, Freundschaft, Liebe, Natur, Religion, Tod und immer wieder auch Kunst sind [sic] daher in dem Sinne ›unendlich‹ notwendig, damit das Selbst im Fortschreiten jener Ganzheit entgegen geht, der er [sic] sich verdankt, die aber zugleich unerreichbar ist.« Gerhard Lauer, Grundkurs Literaturgeschichte, Stuttgart 2008, S. 109. Diese Zerrissenheit wird bereits im Werk Jean Pauls deutlich, der die philosophische Diskussion um das Selbstbewusstsein aufmerksam verfolgte. Sandra Hesse, die das Verhältnis von Jean Paul zur Frühromantik untersucht hat, gelangt zu folgendem Schluss: »Zwar gelangen beide Seiten zu dem Schluß, daß das Ich nicht als Wissen von sich, sondern als Selbstgefühl hervortritt, doch in der Ausgestaltung dieses Philosophems beschreiten sie unterschiedliche Wege. So schlägt sich die Konstitution des Selbstbewußtseins bei den Frühromantikern im unendlichen Streben des endlichen Ich nieder, bei Jean Paul dagegen im ›göttlichen Instinkt‹ des janusköpfigen Menschen.« Sandra Hesse, Das janusköpfige Ich. Jean Paul, Fichte und die Frühromantik, Heidelberg 2010, S. 137.

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Subjektivität in Verbindung bringen lässt. Warum und wie Wagner das Musiktheater seiner Zeit reformierte, hängt mit jener Idee des Unbewussten zusammen, die die Romantik entwickelte. Dies ist der Grundgedanke, dem diese Arbeit folgt.

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»Erwacht, sich selber erkennet kaum«: Die prekäre Entstehung des Bewusstseins

Die wohl bekanntesten Erwachensszenen der deutschen Literatur stammen aus der Feder Franz Kafkas. »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.«1 Ebenso unwirklich ist die Situation, in der sich Josef K. in Der Proceß nach seinem Erwachen wiederfindet. Am Morgen seines Geburtstages, noch »halb aufrecht«2 im Bett sitzend, wird er von Unbekannten verhaftet. Und zu Beginn von Das Schloß wird K. vom Sohn des Kastellans und den Dorfbewohnern geweckt, die von ihm eine Aufenthaltserlaubnis fordern. Kafka inszeniert in diesen Textanfängen das Erwachen aus dem Unbewussten ins Bewusstsein als ein Erwachen des Individuums in eine fremde und feindliche Kultur. Die Figuren seiner Erzählungen und Romane sind nach ihrem Erwachen völlig orientierungslos, das Verhältnis zu ihrem Körper, ihre Identität und ihre Rolle in der Gesellschaft sind prekär. »Was ist mit mir geschehen?« fragt Gregor Samsa bestürzt,3 und Josef K. sucht verzweifelt seinen Geburtsschein, um den fremden Männern seine Identität zu beweisen. 4 In all diesen Szenen greift Kafka ein romantisches Motiv auf.5 Sein Diktum, dass »der Augenblick des Erwachens« zugleich »der riskanteste Augenblick im Tag«6 sei, findet sich schon bei seinen Vorläufern ins Werk gesetzt. »Vom eisernen Schlaf, vom langen Traum / Erwacht, sich selber erkennet kaum«, lautet die entsprechende Formel, die in Schellings Gedicht von »Heinz Widerporsten« beschreibt, wie das »Menschenkind« zu Bewusstsein kommt.7 Vor allem E.T.A. Hoffmann und Heinrich von Kleist werden dieser Beschreibung folgen. So sagt etwa Kreisler in Die Lebens-Ansichten des Katers Murr:

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Franz Kafka, Gesammelte Werke in zwölf Bänden, hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main 1994, Bd. 1, hier S. 93. Kafka, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 9. Auch K. ist zu Beginn von Das Schloß »halbaufgerichtet«. Vgl. Kafka, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 10. Kafka, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 93. Kafka, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 13. Zum Einfluss von Kleist auf Kafka vgl. David Wellberry, Der zerbrochne Krug. In: Kleists Dramen. Interpretationen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 11–32, hier S. 13. So eine Formulierung von K. aus dem Kapitel »Verhaftung«. Die Stelle wurde von Kafka allerdings wieder gestrichen. Vgl. Franz Kafka, Schriften / Tagebücher / Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born et al., Frankfurt am Main 1982ff., Bd. 5/2, S. 168. Schelling, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 8, S. 429.

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Ewig unerforschlich bleibt uns das erste Erwachen zum klaren Bewußtsein! – Wäre es möglich, daß dies mit einem Ruck geschehen könnte, ich glaube, der Schreck darüber müßte uns töten. – Wer hat nicht schon die Angst der ersten Momente im Erwachen aus tiefem Traum, bewußtlosen Schlaf, empfunden, wenn er sich selbst fühlend, sich auf sich selbst besinnen mußte! (SäW 5, 102)

Es ist diese prekäre Überschreitung der Grenzlinie zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, die die Erwachensszenen in den Texten Hoffmanns und Kleists kennzeichnet. Wenn ihre Figuren das erste Mal ihre Augen aufschlagen, wirkt das Unbewusste im Bewusstsein so stark nach, dass sie verwirrt und verstört jeglichen Halt zu verlieren drohen. In der Romantik wird somit bereits deutlich, was dann bei Kafka endgültig zum Gemeinplatz der Literatur werden sollte: Das moderne Subjekt ist kein souverän handelndes Vernunftwesen, sondern wird durch die Existenz des Unbewussten zutiefst verunsichert. Gleiches gilt, wie dieses Kapitel zeigen wird, für die Erwachensszenen in den Musikdramen Richard Wagners.

2.1.

Das Erwachen ins Bewusstsein und seine naturphilosophischen Grundlagen

2.1.1.

Das Rheingold-Vorspiel oder: Das Unbewusste erwacht

Ihren Ausgangspunkt nimmt die Analyse in der romantischen Naturphilosophie. In dieser wird die Entstehung des Bewusstseins aus dem Unbewussten häufig mit der Metapher des Erwachens beschrieben: Die Natur, die lange geschlafen hat, schlägt im Menschen ihre Augen auf. Besonders deutlich wird diese Metaphorik im Werk Gotthilf Heinrich von Schuberts: Da sinkt die Welt noch einmal, wie von langer Anstrengung ermüdet, in die Tiefe des mütterlichen Elements, und die vielstrebenden Kräfte, umfängt noch einmal der alte chaotische Schlummer. Bis endlich, gestärkt zu dem letzten höchsten Werk, die wieder erwachende Natur den Menschen, und das Angesicht der jetzigen organischen Welt erzeugt.8

Das Wort vom »alten chaotischen Schlummer« gibt einen Hinweis darauf, dass Schuberts Beschreibung des Erwachens der Natur auf mythologischen Vorstellungen beruht: Das Chaos geht bei Hesiod der Entstehung der Welt voraus und er-

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Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 18. Dass diese Wortwahl Schuberts nicht zufällig ist, bezeugen zahlreiche andere Stellen in den Ansichten. So heißt es etwa zu Beginn der zwölften Vorlesung, die den Titel »Über die in einem jetzigen Daseyn schlummernden Kräfte eines künftigen« trägt, dass das Wort »aufsteigend« in der Naturphilosophie nicht ohne Bedeutung sei, »denn es scheint mehr als wahrscheinlich, daß das allgemeine Leben wie aus einem tiefen Schlaf an der Gränze des Anorgischen erwachend […] eines allmäligen Hinaufsteigens und mannigfaltiger Übergänge bis zum Daseyn des Menschen bedürfe.« (ebd., S. 301).

scheint als »gähnender Abgrund«.9 Damit in enger Verbindung steht die Idee, dass Leere und Nacht den Ursprung der Dinge bilden. »Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe« heißt es im Schöpfungsbericht der Luther-Bibel (1. Mose 1,2). In seiner 1811 erschienenen Schrift Die Weltalter weist Schelling auf die Universalität dieser Vorstellungen hin: »Dunkelheit und Verschlossenheit ist der Charakter der Urzeit. Alles Leben wird zuerst und bildet sich in der Nacht; darum wurde diese von den Alten die fruchtbare Mutter der Dinge, ja nebst dem Chaos das älteste der Wesen genannt.«10 Dass Schelling hier von einer »fruchtbaren Mutter« spricht, zeigt, dass die Nacht zugleich als ein passives, gebärendes Element gedacht wird. Dies braucht nun freilich ein zeugendes bzw. »weckendes« Gegenüber, das in den Mythen meist als lichtvolles, ätherisches Element erscheint. Das ist in Hesiods Theogonie der Fall, wo Uranos, der Himmel, mit seiner Mutter Gaia die zwölf Titanen zeugt. Der romantische Mythologe Johann Arnold Kanne, dessen Werk Schubert als Quelle diente, betont ausdrücklich die Rolle des Gottes als »Lichtquell« und verweist auf die Bedeutung dieses »zeugenden Lichtprincips« in den Schöpfungserzählungen.11 Von diesen archaischen Kosmogonien beeinflusst, übernahmen die Romantiker die darin dargestellte Emanation der Natur in ihre Philosophie. So paraphrasiert Schubert (sehr frei) den Anfang der germanischen Göttergeschichte Völuspá: Vor Anbruch der Zeit, heißt es, war weder Sand noch Meer, weder Sturm noch Wind; noch war keine Erde und kein Himmel, sondern nur ein empfängliches Chaos. Da erschien die Sonne vom Mittag her, und es keimte das erste Grün.12

Das Licht scheint auf das Chaos und erweckt die Natur: Dieses Bild prägt auch die naturphilosophisch fundierte Kosmogonie, die E.T.A. Hoffmann in Der goldene Topf entwirft.13 Hoffmann, der mit den Schriften Schuberts und Kannes

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Der Entlehnung ins Deutsche und damit auch dem heutigen Sprachgebrauch liegt Platons Auffassung zugrunde, der das »Chaos« als ein »wüstes Durcheinander« beschreibt. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Elmar Seebold, 23. Aufl., Berlin, New York 1995, S. 151. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter. Fragmente, in den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. von Manfred Schröter, München 1946, S. 24. Johann Arnold Kanne, Erste Urkunden der Geschichte oder allgemeine Mythologie, Bayreuth 1808, S. 15. In dieser ausführlichen Studie, die von einem Vorwort Jean Pauls eingeleitet wird, vergleicht Kanne zahlreiche mythologische Motive verschiedener Kulturen mit dem Ziel, ihre universellen Elemente herauszuarbeiten. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 59. Karl Simrock lehnt sich mit seiner Übersetzung dagegen stärker an Hesiod an, wenn er statt » empfängliches Chaos« von »gähnender Abgrund« spricht. Vgl. Götterlieder der Älteren Edda, hg. von Hans Kuhn, Stuttgart 1991, S. 10. Die vorliegende Studie schreibt den Titel in Vollform und folgt damit der hier verwendeten Ausgabe der Werke Hoffmanns. Die Schreibweise Der goldne Topf, die in der Forschungsliteratur sehr häufig gebraucht wird, findet sich erst in der zweiten Auflage der Fantasiestücke von 1819. Wie die Herausgeber in ihrem Kommentar betonen, lässt

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vertraut war,14 beschreibt in der dritten Vigilie seines Märchens das Erwachen der Welt: Der Geist schaute auf das Wasser, da bewegte es sich und brauste in schäumenden Wogen und stürzte sich donnernd in die Abgründe, die ihre schwarzen Rachen aufsperrten, es gierig zu verschlingen. Wie triumphierende Sieger hoben die Granitfelsen ihre zackigt gekrönten Häupter empor, das Tal schützend, bis es die Sonne in ihren mütterlichen Schoß nahm und mit ihren Strahlen wie mit glühenden Armen es umfassend pflegte und wärmte. Da erwachten tausend Keime, die unter dem öden Sande geschlummert, aus dem tiefen Schlafe und streckten ihre grüne Blättlein und Halme zum Angesicht der Mutter herauf und wie lächelnde Kinder in grüner Wiege ruhten in den Blüten und Knospen Blümlein, bis auch sie von der Mutter geweckt erwachten […]. (SäW 2/1, 244f.)

Die Natur wird in diesem Auszug zweimal geweckt: Zum ersten Mal durch den Blick des Geistes, der das Wasser in Bewegung versetzt: eine Erweiterung des biblischen Motivs vom Geist, der über den Wassern schwebt. Und ein zweites Mal durch die Sonne, die hier zugleich die Rolle des mütterlichen Elements einnimmt. In Das Rheingold entwirft Richard Wagner eine Kosmogonie, die den mythisch-naturphilosophischen Beschreibungen Hoffmanns gleicht.15 Das Libretto beschreibt den Bühnenraum als »nach oben zu lichter« und »nach unten zu dunkler« werdend. Er ist in der Höhe »von wogendem Gewässer« erfüllt, das »über den nächtlichen Grund dahinfließt«, nach allen Seiten hin sind »in dichtester Finsternis tiefere Schlüfte« anzunehmen. Während bei Hoffmann das Chaos durch die »Abgründe, die ihre schwarzen Rachen aufsperrten«, und die »zackigt gekrönten Häupter« der Granitfelsen dargestellt wird, ragen bei Wagner »schroffe Felsenriffe aus der Tiefe auf«, der Boden ist in ein »wildes Zackengewirr zerspalten« (R, 7). Natürlich war Wagner diese Melange aus Licht, Nacht und Chaos nicht nur aus der romantischen Literatur, sondern auch aus dem zeitgenössischen Musiktheater bekannt.

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sich nicht entscheiden, ob diese Änderung auf Hoffmann zurückgeht. Dieser wählte in herausgehobenen Äußerungen die Vollform (vgl. SäW 2/1, 753f.). Hoffmann traf sich in Dresden häufig mit Adolf Wagner, dem Onkel Richard Wagners. Adolf Wagner war auch ein guter Freund Kannes. Im Kommentar zu Der goldene Topf wird vermutet, dass Hoffmann »auf diesem direkten Wege einige der Anschauungen und Motive kennengelernt« haben könnte, »die in die Atlantis-Mythe eingegangen sind.« (ebd., 757) In seinem Buch Mythendämmerung weist Manfred Frank darauf hin, dass Adolf Wagner als Mitautor von Kannes Werk System der indischen Mythe (1813) in Erscheinung trat. Vgl. Frank, Mythendämmerung, S. 57. Dies verwundet nicht, wenn man bedenkt, dass Der goldene Topf bereits in Wagners Jugend zu seinen Lieblingslektüren zählte. In frühen Jahren war Wagner ein begeisterter Leser Hoffmanns. Er lieh sich die Bücher von seinem Onkel Adolf, den Hoffmann während seiner Arbeit an Der goldene Topf kennenlernte. Vgl. hierzu Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 15, 64–67. Wie Cosima Wagners Tagebücher belegen, fand Richard Wagner im Alter zu dieser Jugendlektüre zurück. Ende Dezember 1871 lesen er und Cosima Der goldene Topf »mit viel Freude«. Am Neujahrstag 1872 nennt Cosima Richard dann den »Ordinar Lindhorst«, woraufhin dieser sie »Feuerlilie« und Nietzsche »Anselmus« tauft (CT I, 331–335).

So gibt bereits der Nebentext zum Vorspiel von Heinrich Marschners romantischer Oper Hans Heiling einen Hinweis darauf, dass die Naturphilosophie auch in die Libretto-Dichtung Eingang gefunden hat. Der junge Wagner sah die Oper im Uraufführungsjahr 1833 in Würzburg, wo er gerade als Chordirektor arbeitete. Selbst wenn er sich danach in einem Brief an seine Schwester Rosalie negativ über Marschners Werk äußerte,16 sind die Parallelen zu seinem fast zwanzig Jahre später entstandenen Rheingold nicht zu übersehen. Auch der Beginn von Hans Heiling deutet die Entstehung der Welt an: Der Zuschauer sieht eine »weitgewölbte Höhle im tiefsten Grund der Erde« sowie »scharfgeklüftete Wände von Bergkrystall; […] aus ihrem Grunde sprudeln silberne Bergwässer hervor. Im Hintergrunde zieht sich seitlich ein Weg über die zackigen Felsabsätze in bedeutender Höhe bis zu einer Höhlenöffnung hinauf, durch welche ein bleicher Tagesschimmer hereinfällt.«17 Entscheidend ist nun aber, wie Marschner und Wagner die im Bühnenbild angelegte Kosmogonie jeweils vertonen. Marschner hält die Orchestereinleitung äußerst kurz, der Vorhang hebt sich bereits im sechzehnten Takt.18 Der Zuschauer sieht die Erdgeister bei der Arbeit, sie tragen »geschäftig Stufen und Juwelen herbei«, »wälzen Felsblöcke, tragen Lasten«, einige von ihnen halten dabei einen »Gänsemarsch« ein. »Rastlos geschafft in stetiger Kraft« singen sie dazu im Chor.19 Die Musik, die Marschner zu dieser Szene komponierte, versucht die Härte und Regelmäßigkeit dieser Arbeit zu versinnbildlichen. Die schwerfällige Gesangslinie des Chors bleibt in ihrem Rhythmus 16 Takte lang unverändert, gleiches gilt für die Orchesterbegleitung, die in Takt 28 mit ihren Akkordbrechungen einsetzt.20 Es ist offenkundig, dass Marschner sich nicht dafür interessiert, den im ersten Bühnenbild angelegten Urzustand der Welt in Musik zu setzen, sondern sich darauf beschränkt, die Starrheit und Strenge des Unterweltreichs der Erdgeister zu veranschaulichen. Wenn Wagner von der Musik des Hans Heiling beeinflusst wurde, dann in seiner Darstellung der schuftenden Nibelungen in der dritten Szene des Rheingolds.21

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Am 11. Dezember 1833 schreibt er, dass die Musik zwar »recht hübsch« sei, »besonders die einzelnen Stücke«, aber »ein so gänzlicher Mangel an Totaleffekt« sei ihm noch »in keiner Marschnerschen Oper vorgekommen.« (SB I, 140) Man sollte bei diesem Zitat aber bedenken, dass der junge Wagner Heinrich Marschner, der von 1827 bis 1831 musikalischer Direktor der Dresdener Oper war, durchaus schätzte. Unter anderem schrieb er im September 1833 eine Tenorarie für Marschners Oper Der Vampyr. Heinrich Marschner, Hans Heiling. Romantische Oper in drei Aufzügen und einem Vorspiel, Dichtung von Philipp Eduard Devrient, Leipzig [1895], S. 31. Marschner, Hans Heiling. Vollständiger Klavierauszug vom Componisten, Leipzig 1833, S. 2. Marschner, Hans Heiling (1895), S. 31. Marschner, Hans Heiling (1833), S. 2f. Diese Vermutung äußert zumindest Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters, Bd. 2, 4. Aufl., Kassel 2008 [1991], S. 132.

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Im Vorspiel setzt er dagegen tiefer als Marschner an, indem er die im Libretto sich andeutende Entstehung der Welt zum Erklingen zu bringen versucht: Das Vorspiel ist, um mit Thomas Mann zu sprechen, ein »Schöpfungspoem der Musik«, das den »Anfangszustand der Welt« in Szene setzt.22 125 Takte lang überlässt Wagner der Musik das Wort – so lange dauert es, bis der Vorhang sich das erste Mal hebt (SW 10/I, T. 126). Damit wird das statische Bild des Nebentextes unweigerlich dynamisiert, Wagner komponiert das Werden der Welt aus ihrem Ursprung. Bei dem zu Beginn ertönenden Es muss die zweite Gruppe der Kontrabässe einen Halbton tiefer gestimmt werden, um den von Wagner gewünschten Effekt zu erzielen. Dieser erste Ton liegt außerhalb der herkömmlichen Temperatur, man könnte deuten: außerhalb der Reichweite des kulturell Geformten, in der numinosen »Finsternis« (R, 7) der Weltennacht. Doch dieses Ur-Ei23 des Anfangstones Es springt schon nach vier Takten auf, der Klang spaltet sich in den Grundton Es und die von den Fagotten intonierte Quinte B. In Takt 17 kommt dann ein Horn hinzu, das einen aufsteigenden Dur-Dreiklang spielt.24 Dabei findet auch eine farbliche Differenzierung statt: Mit dem Übergang von dem fahlen Fagott- zum helleren Hornklang klart die Musik auf, oder, um in der Sprache des Nebentextes zu bleiben, sie wird »nach oben zu lichter«.25 Die Natur gerät in Bewegung: Kanonisch setzen in immer kürzeren Abständen die verbleibenden sieben Hörner ein, die jeweils in gleicher Tonlage dasselbe aufsteigende

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Hans Rudolf Vaget (Hg.), Im Schatten Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner. Texte und Zeugnisse 1895–1955, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2005 [1999], S. 171. Thomas Mann spricht von der »Urzelle« (Vaget, Im Schatten Wagners, S. 162), Reinhard Wiesend von einer »Ursubstanz«, einem »präexistenten, geräuschnahen tiefen Brummton«. Reinhard Wiesend, Die Entstehung des »Rheingold«-Vorspiels und ihr Mythos. In: Archiv für Musikwissenschaft 49, H. 2, 1992, S. 122–145, hier S. 140. Dieter Borchmeyer nennt den Anfangston einen »brummenden Urton der Welt«. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 282. Dass Es-Dur seit der hochbarocken Oper die Tonart des Numinosen war, ist bekannt. Ludwig Finscher weist in diesem Zusammenhang auf das Es-Dur der Zauberflöte und den Auftritt des Eremiten im Finale des Freischütz hin. Vgl. Ludwig Finscher, Mythos und musikalische Struktur. In: Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«. Ansichten des Mythos, hg. von Udo Bermbach / Dieter Borchmeyer, Stuttgart, Weimar 1995, S. 27–37, hier S. 29. Dass der matte und farblose Klang des Fagotts von Wagner wiederholt auf den des Horns bezogen wurde, hat Egon Voss herausgearbeitet: »Sein Klang erscheint als ›Schatten‹ des Hornklangs, als sein Echo, oder seine andeutende Vorausnahme.« Als Beispiel nennt Voss eine Stelle aus der zweiten Szene des Rheingolds, als Loge das plötzliche Erbleichen der Götter zu begründen versucht. Das Motiv der goldenen Äpfel erklingt zunächst in den Fagotten, dann in den Hörnern. »Die Hörner als Originalinstrumentation entsprechen dem voll bewußt gewordenen Gedanken; die matteren Fagotte dagegen sind nur Hinweis auf das Folgende, in ihrem Klang deutet sich das Bewußtwerden des Gedankens erst an.« Egon Voss, Studien zur Instrumentation Richard Wagners, Regensburg 1970, S. 174.

Abb. 1: Rheingold-Vorspiel, Einsatz der Hörner (SW 10/I, T. 17–24)

Motiv spielen. Diese unruhige Bewegung und Beschleunigung führt aber paradoxerweise zu einem statischen Klangbild, da es durch das Ineinanderklingen der Hörner in den Takten 29 bis 48 unmöglich ist, einer Motivlinie zu folgen. Eine solche wird erst in Takt 49 mit dem Einsatz der Celli dominant, die das Dreiklangmotiv der Hörner rhythmisch in Achteltriolen differenzieren, beschleunigen und mit den später einsetzenden Bratschen und Violinen in einen helleren Klangraum führen. Gleichzeitig wird dasselbe Motiv von den Hörnern rhythmisch verändert nach unten geführt, während es in den Fagotten weiterhin aufsteigt. Und nachdem die Violinen in Takt 72 eben diese Dreiklangfigur zu ihrem vorläufig höchsten Punkt Es3 geführt haben, gleitet sie in den Streichergruppen wieder hinunter zum Anfangston Es, von dem aus die Celli das Motiv in Takt 81, dieses Mal zu Sechzehnteln beschleunigt, abermals nach oben führen. Statik und Bewegung, Aufstieg und Abstieg, Dunkelheit und Helligkeit gehen also auseinander hervor und ineinander über. Wenn man die Bedeutung der Wagnerschen Komposition ermessen will, gilt es, diese dynamische Dialektik der Naturentstehung zu verstehen. Leider hat die Forschung sie einem statischen MythosBegriff geopfert. So beschreibt Ludwig Finscher zwar das paradoxe Zusammenspiel von Ruhe und Dynamik, Licht und Dunkelheit detailliert und treffend, zieht daraus aber den Schluss, dass »bei aller Dynamik dieser Entfaltung einer musikalischmythischen Welt« diese selbst »statisch, in sich ruhend, elementar, ein Archetypos« sei und deshalb das Vorspiel »ein mythisches Bild, eine Arché« darstelle.26 Diese Interpretation übersieht, dass die dialektische Entfaltung von Wagners Musik den zentralen Gedanken der romantischen Naturphilosophie wiedergibt. Für Schelling war die Natur sowohl natura naturans, also Subjekt und Produktivität, als auch natura naturata, Objekt und Produkt: ein »Wechselspiel von Hemmen und von

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Finscher, Mythos und musikalische Struktur, S. 32.

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Streben«.27 Ohne jemals nur das eine oder das andere sein zu können, trete die Natur erst dort ins Sein, wo beide Prinzipien ineinanderwirkten. Wäre die Natur nichts als Produktivität, bliebe sie ohne Gestalt, wäre sie nichts als Produkt, wäre in ihr kein Werden und Entstehen. Natur, so Schelling, ist nur als Zusammenspiel beider Tendenzen vorstellbar, wobei die eine stets auf das Auflösen des Bestehenden, die andere auf die Erhaltung der Ordnung bedacht ist. »Es ist schlechterdings kein Bestehen eines Produkts denkbar, ohne ein beständiges Reproducirtwerden. Das Produkt muß gedacht werden als in jedem Moment vernichtet, und in jedem Moment neu reproducirt« schreibt Schelling in seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799). Um seine Gedanken zu veranschaulichen, vergleicht er die Natur mit einem »Strom«. Dieser sei zunächst »reine Identität«, bilde aber einen »Wirbel«, sobald er einem Widerstand begegne. »Dieser Wirbel ist nichts Feststehendes, sondern in jedem Augenblick Verschwindendes, in jedem Augenblick wieder Entstehendes.« Daraus folgt für Schelling: »Daß etwas in der Natur permanent werde, ist selbst nur aus jenem Ankämpfen der Natur gegen alle Permanenz erklärbar.« (S I/3, 288–290) Genau dieser Theorie der Natur folgt Wagner zu Beginn seiner Tetralogie: Statische und dynamische Kräfte wirken zusammen, ohne dass eine Seite je die andere zum Erliegen bringen könnte. Dies unterschlägt eine Interpretation, die das Vorspiel als mythisches Ur-Bild deutet. Eine solche kann sich im Übrigen einzig auf die Tatsache berufen, dass der Es-Dur-Akkord das ganze Vorspiel über nicht moduliert wird.28 Aber die Wirkung eines Tonsatzes kann nicht auf die Stabilität seiner Tonart reduziert werden. Wäre das Rheingold-Vorspiel ein für sich stehendes, in sich ruhendes Bild, könnte es satztechnisch unabhängig von dem bestehen, was nach ihm kommt. Aber das ist nicht der Fall, denn Wagner begreift die Musik des Vorspiels als Vorbereitung: Immer unruhiger, schneller und durch die Hinzunahme des restlichen Orchesters auch lauter werdend, mündet die Musik in Takt 137 endlich in den Gesang Woglindes. Gerade in diesen letzten Takten entsteht durch die wiederholt anschwellende Dynamik in den Streichern sowie die mehrmals ungeduldig zum dreigestrichenen G als dem höchsten Punkt des Tonsatzes drängenden Motivlinien der Holzbläser der Eindruck eines immer wieder neu ansetzenden Aufstrebens.29 Wie im Goldenen Topf, wo das Wasser in »schäumenden Wogen«

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Schelling, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 8, S. 430. In diesem Sinne schreibt Ludwig Finscher: »Erst in dem Moment, in dem sich die Sorge um die Stabilität des Naturzustandes meldet – Floßhilde: ›Besser bewacht des Schlummernden Bett, sonst büßt ihr beide das Spiel!‹ –, wird die Stabilität der Tonalität verlassen.« (Finscher, Mythos und musikalische Struktur, S. 32) Dagegen ließe sich allerdings einwenden, dass Floßhilde nicht um die Stabilität des Naturzustandes besorgt ist, sondern lediglich die Bestrafung des Vaters fürchtet. Reinhard Wiesend weist darauf hin, dass Woglindes Gesang am Ende einer Achttaktgruppe einsetzt, womit das Prinzip der bis dahin herrschenden Sechzehntaktgruppen unterbrochen wird: »Nachdem etwa nach den Takten 80, 96, 112 und 128 wichtige Neu-

aufbraust, schlagen die Wellen am Ende des Vorspiels zum Rheingold immer höher und mächtiger, bis sie schließlich in Woglindes Gesang hineinschwappen. Hier wie dort drängt die Natur mit allen Mitteln aus sich heraus in einen höheren Bewusstseinszustand, und deshalb macht nicht das beharrliche Verbleiben in Es-Dur die Bedeutung dieser Komposition aus, sondern das paradoxe Moment einer dem ewigen Urzustand entspringenden Dynamik der Weltwerdung. Die zentrale Idee der romantischen Naturphilosophie, dass die Natur sich aus eigenen Kräften überwindet und zu Bewusstsein kommt, wird hier in Töne gesetzt. Für diese These spricht, dass Wagner an mehreren Stellen von Oper und Drama, das der Ausarbeitung des Ring des Nibelungen vorausging, die Natur im Schellingschen Sinne als das »immer Werdende« (OuD, 224) bezeichnet. Sie müsse uns »unverständlich« bleiben, solange wir sie nur als etwas »Erschaffenes« ansehen, »wogegen sie uns jetzt verständlich ist, wo wir sie als das Seiende, d.h. das ewig Werdende erkennen«. An einer anderen Stelle wird der Zusammenhang zur romantischen Naturphilosophie noch deutlicher: »Organisches Werden ist aber nur das Wachsen von unten nach oben, das Hervorgehen aus niederen Organismen, zu höheren, die Verbindung bedürftiger Momente zu einem befriedigenden Momente.« (351f.) Die Entstehung des menschlichen Bewusstseins aus der Natur, die Wagner hier beschreibt, verbindet sich zugleich mit der Entstehung der Sprache. Das zeigt seine Deutung der letzten Symphonie Beethovens, in der er die Wortwerdung aus dem Urgrund der Natur ästhetisch vorgebildet sieht.30 Aus der »unermeßlichen Tiefe der Beethovenschen Musik« habe sich eine Melodie an die Oberfläche gedrängt, um am Ende der ›neunten Symphonie‹ »das helle Sonnenlicht des Tages zu grüßen.« (298) Der Schlusschor des letzten Satzes wird als das Ergebnis eines Bewusstwerdungsprozesses gedeutet: Das Bild von der Musik, die sich aus der Tiefe in die lichtvolle Höhe der Sprache drängt, ist eindeutig naturphilosophisch geprägt. Der Beginn des Rheingold zeigt, wie stark die Metaphorik von Wagners ästhetischen Schriften auf sein künstlerisches Schaffen gewirkt hat.31 Hier wird der Aufstieg der Musik zur Sprache ästhetische Wirklichkeit. »Weia! Waga! / Woge, du Welle, / walle zur Wiege!« (R, 7): Der Gesang Woglindes gibt zunächst nichts als

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ansätze stattfinden, setzen die Singstimmen in T. 137, also bereits nach acht Takten ein, deren mächtig drängender Schub die volle Ausdehnung einer Sechzehntakteinheit nicht mehr abwarten zu können scheint.« Wiesend, Die Entstehung des »Rheingold«Vorspiels, S. 126. Das ungeduldige Über-Sich-Hinauswachsen der Natur bestimmt also nicht nur Dynamik, Instrumentation und Melodik, sondern auch die Metrik des Tonsatzes. Mit der Bedeutung Beethovens für die Kunstschriften Richard Wagners haben sich ausführlich beschäftigt: Rainer Franke, Richard Wagners Zürcher Kunstschriften, S. 99–160 sowie Kropfinger, Wagner und Beethoven, S. 89–176. Auf die naturphilosophische Komponente, die an dieser Stelle von Wagners Beethoven-Rezeption deutlich wird, gehen aber beide nicht ein. Vgl. hierzu auch Kropfinger, Metapher und Dramenstruktur. Bemerkungen zur Sprache in Richard Wagners »Oper und Drama«. In: Musica 38, H. 5, 1984, S. 422–428.

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Naturlaute wieder (Weia, Waga), bevor in einem ersten Satz Wörter auftauchen, die die Umgebung mit sprachlicher Bedeutung aufladen: Woge, Welle, Wiege. In einem nächsten Schritt ist es dann Floßhilde, die den kindlich anmutenden Dialog zwischen Woglinde und Wellgunde mit reiflich überlegtem Zweifel unterbricht: »Des Goldes Schlaf / hütet ihr schlecht; / besser bewacht / des Schlummernden Bett, / sonst büßt ihr beide das Spiel!«32 (8) Indem der Mensch die Naturphänomene mit Zeichen versieht, wird er der Reflexion fähig, die sein Bewusstsein wesentlich kennzeichnet. Diese Differenzierungsbewegung von der Natur über den Urlaut bis zur reflektierenden Sprache ist für die Deutung der ersten Szene von Wagners Tetralogie entscheidend. Weil sie die Abspaltung der menschlichen Reflexionsfähigkeit vom Unbewussten der Natur unterschlägt, greift eine Interpretation der im Ring verwendeten Stabreimverse als »mythische Ursprache«33 zu kurz. Denn hört man genau hin, so markiert der von Wagner inszenierte Übergang von der Natur ins Bewusstsein zugleich eine Trennung. Der Wechsel von Takt 136 zu Takt 137 (SW 10/I) ist deshalb sehr ambivalent: Zwar wird die Kontinuität durch die Beibehaltung der Tonart und die Sechzehntelfiguren in den Violinen bewahrt, mit Ausnahme der Hörner verstummen die Holz- und Blechbläser jedoch abrupt. Es wirkt, als beginne mit dem Erwachen des menschlichen Bewusstseins ein völlig neuer Abschnitt.34

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Musikalisch hervorgehoben wird diese abermalige Differenzierung durch die erste Modulation der Tonart Es-Dur ins parallele c-Moll (SW 10/I, T. 158). Eine solche sieht Dieter Borchmeyer im Ring des Nibelungen am Werk. Diese Ursprache würde »das gigantische dichterische Gebäude der Tetralogie« tragen und »der archaischarchetypalen Struktur des Mythos« entsprechen (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 284). Borchmeyer beruft sich hierbei auf Friedrich Nietzsche, der in der vierten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen behauptet, Wagner habe die Sprache in einen »Urzustand« zurückgezwungen, »wo sie fast noch Nichts in Begriffen denkt«. Denn die Wortsprache, so Nietzsche, berge die Gefahr, dass sie »in uns den theoretischen Menschen aufweckt und dadurch uns in eine andere unmythische Sphäre hinüberhebt: so dass wir zuletzt durch das Wort nicht etwa deutlicher verstanden hätten, was vor uns vorgieng, sondern gar Nichts verstanden hätten.« Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 486. Siehe zu diesem Thema auch die Ausführungen in 5.5. Hierzu bemerkt Richard Klein: »Tatsächlich erweckt die Musik hier trotz gleichbleibender klanglicher und figurativer Strukturen den Eindruck, als habe sie gleichsam geträumt und wache nun plötzlich auf […]. Mit dem abrupten Einsatz von Woglindes Stimme auf subdominantischer Klangfunktion nimmt der Höhepunkt der Es-DurSteigerung des Vorspiels ein Ende, das mit dem Bild vom Zerplatzen dessen, was vorausgegangen ist, oder von einer Art Schuß durch den Zeittunnel, nicht ganz inadäquat beschrieben scheint. Inmitten aller kontinuierlichen Bewegung geschieht ein fundamentaler Riß.« Richard Klein, Gebrochene Temporalität. Die Revolution der musikalischen Zeit im »Ring des Nibelungen«. In: Narben des Gesamtkunstwerks. Wagners Ring des Nibelungen, hg. von Richard Klein, München 2001, S. 169–214, hier S. 188. Schellings System des transzendentalen Idealismus, in dem der Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein philosophisch verhandelt wird, weist übrigens eine ähnliche Struktur auf. Zwar will Schelling darin erklären, wie die Natur in Potenzen

Indem Wagner Reflexion und Sprache aus der Natur entstehen lässt, knüpft er an ähnlich lautende Überlegungen Jean-Jacques Rousseaus und Johann Gottfried Herders an. Rousseaus These, dass der Mensch mit dem Schritt zu Reflexion und Sprache den Naturzustand verlasse, greift Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) auf.35 Er beschreibt das Entstehen der Sprache als ein Auftauchen aus dem Ozean des Unbewussten, als ein Erwachen aus langem Traum: Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammlen, auf Einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. […] Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden.36

Besser kann man die Erwachensszene des Rheingold-Vorspiels nicht in Worte fassen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass der Weg von Herder und Rousseau zu Wagner über die Romantiker führt. Deshalb sei noch einmal Schuberts Interpretation der Völuspá zitiert, in der die Sprachentstehung ebenfalls als entscheidender Entwicklungssprung der Naturgeschichte gedeutet wird. Nachdem die Welt durch die Strahlen der Sonne geweckt wurde, erhalten die Naturerscheinungen ihren Namen: Als nun die Sonne zuerst mit ihren Strahlen den links stehenden Mond, nach der Rechten die Heere des Himmels erleuchtete, da wußte die Sonne ihren Saal noch nicht noch der Mond seine Veste, die Sterne kannten ihre Stätte noch nicht. Bis die Söhne der Götter zu dem Thron des höchsten Gottes giengen, welcher für das Dunkel den Nahmen der Nacht offenbarte, und den Morgen, Mittag und Abend, die Zeiten und den Wandel der Gestirne mit ihrem Nahmen benannte.

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schrittweise zum Bewusstsein aufsteigt, sieht sich dann jedoch gezwungen, diese Entstehung des Bewusstseins und der menschlichen Freiheit als eine absolute, also von allen vorherigen Potenzen unabhängige Handlung zu beschreiben. Er spricht deshalb von einem »Abbrechen«, das einen völligen Neubeginn markiere: »Da diese Handlung eine absolute ist, so kann sie durch keine der vorhergehenden Handlungen bedingt seyn, mit derselben wird also der Zusammenhang von Handlungen, in welchem jede folgende durch die vorhergehende nothwendig gemacht ist, gleichsam abgebrochen, und es beginnt eine neue Reihe.« (S I/3, 533). Herder konnte dies den Schriften Rousseaus entnehmen, die vor den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts erschienen waren. Rousseaus Essai sur les origines des langues, in dem eine Theorie der Sprachentstehung aus den Gefühlen des Menschen entworfen wird, erschien allerdings erst posthum im Jahr 1781. Johann Gottfried Herder, Werke, hg. von Günter Arnold et al., Frankfurt am Main 1984ff., Bd. 1, S. 722f.

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Und wie interpretiert Schubert diese in der Edda entworfene Kosmogonie? »Es scheint diese alte Sage zu verkünden, wie die Natur durch das lebendige Wort, durch den Geist des Menschen erst ihr eignes Wesen erkannt habe, sich ihrer gleichsam erst selber bewußt worden sey.«37 Schubert sieht im Anfang der Völuspá also nicht nur die Emanation der Natur, sondern auch die des menschlichen Bewusstseins abgebildet, in dem die Natur erst zu sich selbst gelange. 2.1.2. »Ein Wort! Ein einzig Wort!« – Die Entstehung der Sprache Die im Rheingold exemplarisch in Szene gesetzte Entstehung des Bewusstseins aus dem Unbewussten als ein Erwachen ist kein singuläres Ereignis in Wagners Werk, sondern bildet ein entscheidendes Strukturelement seiner Musikdramen. Fast immer lässt Wagner seine Figuren aus tiefem Schlaf und Traum zu sich kommen. 38 Sie treten nicht auf, sondern wachen auf. Dies gilt für Tannhäuser, der zu Beginn mit dem Haupte emporzuckt, »als fahre er aus einem Traume auf« (T, 10), genauso wie für Elsa, die während ihrer Vernehmung durch den König somnambul-entrückt scheint, beständig schweigt und nur durch Gebärden spricht (L, 11f.). Erst 44 Takte nach ihrem Auftritt entgleiten ihr ihre ersten Worte: »Mein armer Bruder!« (SW 7/I, T. 308) Auch Wotan erwacht in der zweiten Szene des Rheingolds, spricht aber zunächst nur leise, wie »im Traume« (R, 26). Isolde liegt zu Beginn des ersten Aufzuges »auf einem Ruhebett, das Gesicht in die Kissen gedrückt«, als sie vom Gesang des jungen Seemannes geweckt wird und »jäh« auffährt (TuI, 7). Im Parsifal liegt der sieche Amfortas »ausgestreckt« in seiner Sänfte, bevor er sich zu seinen ersten Worten »ein wenig« erhebt (P, 9). Zu Beginn desselben Musikdramas ist Gurnemanz mit seinen Knappen »schlafend unter einem Baume gelagert«, dann reißt ihn der Morgenweckruf der Posaune aus seinen Träumen (7). Und schließlich sind auch Eva und Walther in den Meistersingern zunächst stumm; sie sprechen nur durch ihre Blicke. Eva erwidert die »bald dringend, bald zärtlich durch Gebärden sich ausdrückenden Bitten und Beteuerungen schüchtern und verschämt«, bevor

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Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 59. Johanna Dombois gelangt in ihrer Dissertation über das Schlaf-Motiv bei Wagner zu demselben Befund. Neben den hier genannten Beispielen erwähnt sie noch den Holländer, der »vom Gesang der Matrosen kurz vor der Nachtruhe« eingeleitet werde. Der Schluss, den Dombois daraus zieht, ist aber zu allgemein: »Das Schlafmotiv liefert die mythische und/ oder utopische Antriebskraft, die es braucht, um das musikalische Drama zu initialisieren.« Johanna Dombois, Die »complicirte Ruhe«. Richard Wagner und der Schlaf, [Manuskript] 2007, S. 159f. In der Wagner-Forschung ist Dombois’ Dissertation die einzige ausführliche Arbeit, die sich dem Motivfeld »Schlaf« widmet. Sonst befasst sich gerade einmal ein Aufsatz näher mit diesem für Wagner so wichtigen Thema: Ulrike Kienzle untersucht dabei den Zusammenhang des Schlafes mit den Topoi der Liebe und des Todes, ohne aber auf die zahlreichen Erwachensszenen einzugehen. Vgl. Kienzle, Liebe, Schlaf und Tod.

Walther am Ende der Messe auf Eva eindringt und sie auffordert, zu sprechen: »Ein Wort! Ein einzig Wort!«39 (M, 8) All dies zeigt, dass Wagner nicht nur im Rheingold das Erwachen der Figuren als einen Übergang vom Unbewussten über den Naturlaut bis zur Sprache inszeniert hat. Dieses Modell wiederholt sich bereits im Ring an mehreren Stellen – wobei Wagner zugleich die traditionelle Form der Auftrittsarie überwindet. Das erste Beispiel stammt aus der Walküre, wo Brünnhilde bei ihrem ersten Auftritt als unbändiges Naturwesen erscheint. Die ersten Laute, die sie von sich gibt, erinnern in ihrer Urwüchsigkeit an den Gesang Woglindes: »Hojotoho! Hojotoho! Heiaha! Heiaha!« Derart »jauchzend« springt Brünnhilde »von Fels zu Fels« (W, 34), während sie mit ihrem Gesang den punktierten Rhythmus des bereits in den Takten 66ff. (SW 11/II) im Orchester erklungenen Walküren-Motivs imitiert; die übermäßige Quinte tut dabei das Ihre, um der geballten und unmäßigen Kraft der Wotanstochter Ausdruck zu verleihen (T. 94).40 Erst nach dieser recht ungewöhnlichen Auftrittsarie hören wir die ersten Worte Brünnhildes, mit denen sie Wotan vor der Ankunft Frickas warnt. Wagner hält ihren Gesang dabei in rezitativischem Stil, das Orchester beschränkt sich zunächst auf Einwürfe in piano. Auch Siegfried wird bei seinem ersten Auftritt als Naturwesen geschildert, das erst allmählich zur Sprache findet. »Aus dem Walde« kommend, betritt er in »wilder Waldkleidung« und »mit jähem Ungestüm« die Bühne. Siegfried gibt, wie Woglinde und Brünnhilde, zunächst nichts als Naturlaute von sich: »Hoiho! Hoiho!«, die dann in ein »Hau ein! Hau ein!« übergehen. Dabei treibt er einen großen Bären »mit lustigem Übermute« gegen Mime an und lacht »unbändig« (Sf, 9). Sein Gesang entspringt der Musik des Orchesters, das in den Kontrabässen zunächst nichts als ein chromatisches Grummeln von sich gibt (SW 12/I, T. 250). Dann erklingt in der höheren Lage der Celli und Violinen der Hornruf Siegfrieds, dessen erste drei Töne dem punktierten Rhythmus von Brünnhildes Walküren-Motiv folgen. In Triolen drängen die Streicher in eine höhere Lage, bis dann Siegfried, noch außerhalb der Bühne, durch sein erstes »Hoiho!« in den Takten 254f. den Einsatz für die restlichen Violinen gibt. Die Streicher steigen nun im crescendo immer weiter nach oben, bis Siegfried mit seinem zweiten Ruf (T. 257f.) schließlich die Bühne betritt. Die Harmonik ist in dieser Szene anders als bei Brünnhildes Auftritt in der Walküre gestaltet. Es sind keine übermäßigen Dreiklänge, die Siegfrieds Herkunft aus der

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Eine Variante erfährt das Motiv in den ersten Auftritten Siegmunds und Kundrys, die zunächst zwar wach sind, sich aber kurz nach ihrem Erscheinen schlafen legen: Siegmund »sinkt zurück und bleibt einige Zeit regungslos ausgestreckt«, bevor er erwacht und nach einem »Quell« verlangt (W, 8f.); Kundry wirft sich, kurz nachdem sie Gurnemanz den Balsam für Amfortas überreicht hat, mit den Worten: »Ich bin müde« auf den Boden (P, 10). Vgl. hierzu Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 132. Wie Kienzle festhält, gehört das Motiv zu den ältesten, die sich in der Entstehungsgeschichte des Rings nachweisen lassen. Es findet sich bereits auf einem Skizzenblatt von 1850.

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Natur veranschaulichen, sondern die Grundstufen der Kadenz: der Quartsprung des Gesangs und die Quinte des Hornmotivs. Der Übermut Siegfrieds wird so zugleich in seiner ganzen Einfachheit und Naivität deutlich. Er ist deshalb jedoch nicht weniger problematisch: Als am Höhepunkt des Auftrittes Siegfrieds schallendes Gelächter in Takt 265 das dreigestrichene C erreicht, konterkarieren die Celli und Tuben mit ihrem Fis den scheinbar strahlenden Glanz des Gesangs. Der Tritonus weist als Advocatus Diaboli auf den Schatten, den Siegfrieds Lichtgestalt wirft. In noch subtilerer Weise interpretiert Wagner in einem seiner späteren Werke das Entstehen der Individualität als einen naturgeschichtlichen Prozess. Die Rede ist von den Meistersingern von Nürnberg, genauer gesagt von Walthers ›Bewerbungs-Lied‹ im ersten Akt. In dessen Versen klingt abermals das Motiv der Natur- und Bewusstseinsentstehung an. Das »Fanget an!«, mit dem Walther seinen Gesang eröffnet, ist hier durchaus programmatisch zu verstehen. »So rief der Lenz in den Wald, / daß laut es ihn durchhallt: / und wie in fernren Wellen / der Hall von dannen flieht, / von weither naht ein Schwellen, / das mächtig näher zieht« (M, 46). Diese Stelle wirkt, als wolle Walther das Rheingold-Vorspiel in Worte fassen. Der Lenz weckt den Wald durch seinen Ruf, die Wellen des Halls schwellen immer stärker an: Die Natur erwacht. Die zweite Strophe des Liedes41 wiederholt dieses Modell, deutet es aber als ein Erwachen des Subjekts. »Doch: fanget an! / So rief es mir in die Brust, / als noch ich von Liebe nicht wußt’. / Da fühlt’ ich’s tief sich regen, / als weckt’ es mich aus dem Traum« (M, 47). Es ist kein Zufall, dass Walther vom Stuhl aufsteht, bevor er diese Strophe anstimmt. Wagner gibt so das Erwachen des Bewusstseins szenisch sinnfällig wieder. Musikalisch bemüht er sich wie im Rheingold, den Eindruck von Natürlichkeit zu erzeugen – wenn auch mit anderen Mitteln. Als Walther zu Anfang bei dem Wort »an« die Quarte F2 erreicht, intonieren sämtliche Instrumentengruppen einen Takt lang einen F-Dur-Akkord, der durch die Fermate in die Länge gezogen wird (SW 9/I, T. 1701). Als dieser erhaben-numinose Eröffnungsklang verebbt, stimmen die Streicher ein unruhigwirbelndes Motiv an, das im Crescendo in höhere Lagen drängt. Auffällig ist dabei, dass die Singstimme vom Orchester getragen wird, sei es von Holzbläsern in den Takten 1708ff. und 1715ff. 42 oder von den Streichern, die ab Takt 1723 die auftaktigen Triolen des Gesanges stützen: Die enge Verbundenheit der im Gesang sich ausdrückenden Subjektivität mit den im Orchester erklingenden Tönen gelangt so zu musikdramatischer Darstellung. Das Erwachen des Bewusstseins ist im Vorspiel des Rheingolds und in Walthers erstem Lied in den Meistersingern ganz im Sinne der romantischen Naturphilosophie als ein Hinauswachsen der Natur über sich selbst inszeniert, was sich jedes Mal in den Bildern des Schwellens und Drängens dargestellt findet. Es ist wichtig,

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Das Zwischenspiel »In einer Dornenhecken« (M, 47) wird hier bewusst ausgelassen. Zur Interpretation der Figur des Beckmesser vgl. 6.4.2. Erst von den Hörnern (T. 1715–1719), dann von Oboen und Klarinetten (T. 1720–1722).

dieses ideengeschichtliche Muster bei der Analyse der anderen Erwachensszenen in Wagners Musikdramen im Auge zu behalten. So schildert bereits der zweite Aufzug des Holländers das schrittweise Zu-Sich-Kommen des Subjekts. Auch hier ist der Nebentext aufschlussreich: »Senta, in einem Großvaterstuhle zurückgelehnt und mit untergeschlagenen Armen, ist im träumerischen Anschauen des Bildes im Hintergrunde versunken.« (H, 20) Nichts weist hier auf einen »Auftritt« hin, alles dagegen auf eine vollständige Regression. 43 Senta ist, als der Zuschauer sie das erste Mal erblickt, noch in ihrem Unbewussten gefangen, einem Zustand, den Wagner hier – wie auch in vielen anderen Werken – mit der Metapher des Versunkenseins veranschaulicht. Damit klingt in der Bildsprache des Holländer-Librettos an, was im Rheingold in Bühnenbild und Musik offen zu Tage tritt: Die Beschreibung des Unbewussten als Meer oder Strom, wie sie in der Romantik üblich war. 44 Der Eindruck dieses traumverlorenen Zustandes wird dadurch verstärkt, dass Senta zu Beginn der Szene schweigt – im Gegensatz zu den Mädchen und ihrer Amme Mary. 45 Als man dann ihre Stimme zum ersten Mal hört, sind ihre Worte kaum zu vernehmen, denn sie »singt leise einen Vers aus der folgenden Ballade vor sich hin.« (22) Währenddessen erklingt im Orchester die Melodie des Refrains (SW 4/I, Nr. 4, T. 159–162). Um den Gegensatz zwischen den Bewusstseinszuständen Sentas und der Mädchen noch deutlicher zu machen, reduziert Wagner die Instrumentation auf die Holzbläser und notiert pianissimo possibile. Gleichzeitig ist als Tonart nicht mehr das A-Dur der Mädchen, sondern das a-Moll von Sentas Ballade notiert, 46 entsprechend löst der Sechs-Achtel-Takt den Zwei-Viertel-Takt ab. Nur vier Takte dauert dieser Abschnitt, und doch verdeutlicht er die Traumverlorenheit Sentas auf eindrückliche Weise: Sie ist in einer anderen Welt als die Mädchen. Von hier aus führt eine direkte Linie zur eigentlichen Ballade.47 Bevor Senta diese anstimmt, klingt noch einmal der Beginn der Ouvertüre an und die Fagotte und Ophikleïden spielen das Holländer-Motiv, das durch dieselbe punktierte 43 44

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Eine Regression, die außerdem eine genealogische Dimension hat, schließlich sitzt Senta in einem »Großvaterstuhl« (H, 20). »Selbst der Schlaf ist nichts als die Flut jenes unsichtbaren Weltmeers, und das Erwachen das Eintreten der Ebbe«, heißt es in Novalis’ Die Lehrlinge zu Sais (Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 104). Wackenroder und Tieck sprechen in den Phantasien über die Kunst vom »geheimnisvollen Strome in den Tiefen des menschlichen Gemütes«. Wilhelm Wackenroder, Werke und Briefe, hg. von Gerda Heinrich, München 1984, S. 327. Erinnert sei hier auch an Karoline von Günderrode, die in Melete das Hinübergleiten ins »Unbewußtseyn« als ein »Untertauchen in dem alten Meer« beschreibt. Günderrode, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 358. Mary: »So singt! Dem Rädchen läßt’s nicht Ruh. – / Du aber, Senta, schweigst dazu?« (H, 21). Die folgenden Ausführungen richten sich nach der Ur-Fassung von 1841, in der die Ballade noch nicht nach g-Moll transponiert wurde. Natürlich kommt Senta bereits zu Wort, bevor sie die Ballade anstimmt. Als sie Mary fragt: »Was hast du Kunde mir gegeben« (H, 22) verlässt sie ihre Stellung nicht, wird dann aber, als sie sich im Folgenden an die Mädchen wendet, »heftig« und »ärgerlich«

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Rhythmik eröffnet wird wie das Walküren-Motiv und Siegfrieds Hornruf (T. 311– 344). Genau dieses Motiv übernimmt dann Senta in ihrem »Johohoe!« (T. 321f.), das sie ohne jede Orchesterbegleitung intoniert. Auch im Holländer lässt sich also beobachten, wie Wagner die Bewusstwerdung seiner Figuren musiktheatralisch inszeniert: Senta ist zunächst im Unbewussten versunken, dann kommt sie vom Schweigen zum Summen, vom Summen zum Urlaut, und von dort schließlich in Takt 326 zum Wort: »Traft ihr das Schiff im Meere an«. Wie bei dem ersten Erscheinen Brünnhildes und Siegfrieds nimmt auch hier das Orchester das Gesangsmotiv vorweg, dieses steigt gleichsam aus dem Unbewussten der Musik ins Bewusstsein der Figur. Das Erwachen Sentas hat dabei allerdings eine besondere Pointe: Denn obwohl hier ganz offensichtlich ein Erwachen in die Sprache inszeniert wird, lässt Wagner doch keinen Zweifel daran, dass Senta, indem sie die Ballade anstimmt, in ihre Traumwelt gleitet. Sie entfernt sich immer mehr von der Realität, die der Gesang der Mädchen und die Mahnungen ihrer Amme Mary repräsentieren. Und doch ist dieser Zustand unterschieden zu ihrem völligen Versunkensein im Unbewussten zu Beginn des Aktes. Dieses Ineinanderwirken von unbewussten und bewussten Zuständen nach dem Erwachen und die damit verbundenen Konflikte gilt es näher zu beschreiben, wenn man der Wagnerschen Konzeption der Bewusstseinsentstehung gerecht werden will.

2.2.

Die Verwirrung des erwachten Subjekts

In sämtlichen Musikdramen Wagners, von Der fliegende Holländer bis zu Parsifal, hat das Erwachen der Figuren aus dem Schlaf eine eminente Bedeutung. 48 Seine Konzeption der Subjektivität ist eine dynamische: Das Bewusstsein wird nicht als ein immer schon vorhandenes vorausgesetzt, sondern sein Gewordensein musikdramatisch inszeniert. Dabei vergisst Wagner aber nicht, dass die Entstehung des Bewusstseins eine Trennung vom Unbewussten beschreibt und das Subjekt deshalb in einem Wechselspiel von Schlafen und Wachen, Traum und Realität gefangen ist. Bereits die romantische Anthropologie hat den Schlaf bekanntlich nicht bloß als einen defizitären Zustand zum Wachen begriffen, sondern als einen eigenen, bedeutenden Grundzustand des menschlichen Daseins, der auch nach dem Erwachen weiter wirkt. 49 In den Worten und Taten von Wagners Figuren ist dies spürbar: Das

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(23). Senta erwacht also vorübergehend, bevor sie zu Beginn der Ballade wieder in ihre Traumwelt sinkt. Es sei angemerkt, dass auch in Cosimas Tagebüchern genau dieser Moment des Erwachens durchgehend inszeniert wird. Zahllose Einträge beginnen mit der Schilderung, wie Richard geschlafen hat, und widmen sich der Frage, ob er gut in den Tag erwacht ist. Wagner wurde oft von Alpträumen geplagt und beklagte sich über seinen schlechten Schlaf. Vgl. hierzu Engel, Naturphilosophisches Wissen, S. 72–74. Engel verweist in diesem Zusammenhang auf die Theorien von Carus, Troxler und Leupoldt.

Unbewusste schimmert noch in ihrem Bewusstsein durch, bedrängt sie und bringt sie durcheinander. Sie sind zwischen der Welt des Schlafes und der des Wachens zerrissen; ihre Subjektivität ist zutiefst prekär. Um diese Behauptung zu belegen, werden zunächst zwei Szenen genauer analysiert: Die ersten Auftritte Wotans und Elsas im Rheingold respektive im Lohengrin. 2.2.1. Wotans und Elsas Erwachen Wotan wird geweckt, als der Tag beginnt.50 Die »freie Gegend auf Bergeshöhen«, in der die zweite Szene spielt, liegt zunächst noch »in nächtlicher Beleuchtung«, bevor »der hervorbrechende Tag« mit »wachsendem Glanze« sein Licht auf Walhall wirft (R, 25). Wotan und Fricka liegen derweil schlafend »auf blumigem Grunde«. Fricka erwacht als erste. Sobald sie die Burg erblickt, »staunt und erschrickt« sie und versucht Wotan zu wecken. Umsonst: Ihr Gemahl ist noch ganz im Unbewussten befangen, spricht zunächst nur »im Traume, leise«. Erst als Fricka ihn »rüttelt«, erwacht er und erhebt sich. Doch er wird sogleich »vom Anblicke der Burg gefesselt«, deren Fertigstellung er in stolzen Worten preist: »Vollendet das ewige Werk« (26). Dass Wotan sich nicht von seinen Traumbildern lösen kann, wird in der Musik noch deutlicher. Diese schildert den Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein als ein Wechselspiel von Auf- und Abstieg.51 In Takt 773 (SW 10/I) beginnt sich die zweite Hälfte des in den Tuben erklingenden Walhall-Motivs zu verselbständigen und drängt, angeregt durch die triolischen 32stel-Stöße der Trompeten und Posaunen, in eine höhere Lage. Damit gehen das Anschwellen der Dynamik und die Weitung des Klangraums durch die allmähliche Vervollständigung der Instrumentengruppen einher. Als das Walhall-Motiv dann in Takt 779 erneut in vollständiger Gestalt einsetzt, erklingt es kräftig-hell, von Trompeten und Posaunen getragen. Es liegt eine große Terz höher als zu Beginn, gleichzeitig hat die Phrase den Quintenzirkel von Des- bis nach F-Dur durchschritten. Dieser Vorgang wird dann aber sofort wieder zurückgenommen. F-Dur wird vermollt (T. 781), die Dynamik geht

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Die musikalische Analyse dieser Szene greift auf eine Passage meiner Magisterarbeit zurück, die ich im März 2005 am germanistischen Institut der LMU München eingereicht habe. Vgl. Martin Schneider, Erinnernde Ahnung. Optische Wahrnehmung in Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen« und ihre anthropologischen und ästhetischen Implikationen, Magisterarbeit (LMU München) 2005, S. 89–92. Eckehard Kiem hat gezeigt, dass das Auf- und Absteigen in der Musik auch in der Erzählung Loges, die sich in derselben Szene des Rheingolds befindet, den Bewusstwerdungsprozess charakterisiert. »Wagners Musik spricht hier nicht nur von Ring, Gold, Besitz und Macht; er zeichnet auch gleichzeitig in einem subtilen Prozeß des Ab- und Auftauchens nach, wie Ring und Macht als Bewusstseinsinhalte Gestalt annehmen«. Eckehard Kiem, Beziehungszauber und Zeitverhängnis. In: Narben des Gesamtkunstwerks. Wagners Ring des Nibelungen, hg. von Richard Klein, München 2001, S. 215– 230, hier S. 218f.

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vom mezzoforte ins piano zurück, bevor der Abschnitt unschlüssig und schwankend auf As-Dur endet. Dieses Auf- und Absteigen entspricht dem zögerlichen Aufwachen, dem Zwischenzustand, in dem sich Wotan befindet. Dieser Zustand ist höchst prekär; der Wachtraum, in den Wotan in dieser Szene verfällt, bietet keinen festen Halt. Von dieser drohenden Instabilität zeugt – trotz aller schmetternden Herrlichkeit – auch die Komposition: Nicht nur der Drei-Viertel-Takt deutet den schwebenden Charakter des Abschnittes an, vor allem ist es der harmonische Rhythmus des WalhallMotivs selbst, der das Wanken Wotans musikalisch in Szene setzt.

Abb. 2: Die Instabilität des Walhall-Motivs (SW 10/I, T. 769-773, Ausschnitt)

Obwohl das Motiv in den harmonischen Schritten I-IV-I-V-I eine stabile Kadenz entwickelt, wird seine Tonika Des-Dur nicht auf dem ersten, sondern auf dem dritten Schlag erreicht (T. 770). Deshalb muss es ständig neu ansetzen.52 Die in Takt 773 beginnende Sequenzierung der zweiten Motivhälfte wiederholt immer wieder aufs Neue in verschiedenen Tonstufen den V-I-Kadenzschritt, ohne aber zum Ziel zu gelangen: Die Tonika wird nicht auf Schlag Eins erreicht. Die vorhandene harmonische Stabilität ist nur eine scheinbare, da ihr eine taktmetrische Instabilität unterlegt ist. Die Lösungen, die Wagner anbietet, schaffen keine überzeugende Schlusswirkung. In den Takten 785 und 786 erklingt der Dominantseptakkord in Es auf der schweren, die Tonika As auf der leichten Zählzeit. Erst in Takt 787

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Manfred Hermann Schmid hat diese vergebliche Suche des Walhall-Motivs nach einer abschließenden Kadenz anhand der Schlüsse des Rheingolds und der Götterdämmerung herausgearbeitet. Vgl. Manfred Hermann Schmid, »Unendliche Melodie«. Zu den Schlüssen in Wagners »Ring«. In: Der »Komponist« Richard Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft. Symposion Würzburg 2000, hg. von Ulrich Konrad / Egon Voss, Wiesbaden, Leipzig, Paris 2003, S. 49–64.

erreicht die Tonika den Schlag Eins – aber nur durch eine Punktierung der vorletzten Achtel im vorhergehenden Takt. Der Schluss wirkt eher erzwungen als zwingend. Der Einwand, der durch das Walhall-Motiv markierte Abschnitt erreiche nach einer auch rhythmisch stabilen Kadenz in Takt 824 endlich Des-Dur, hat nur begrenzte Gültigkeit. Tatsächlich wird in den Takten 820f. ein plagaler Ganzschluss angedeutet, durch den wiederum mittels eines punktierten Rhythmus in Takt 822 Des-Dur erreicht wird. Hier ist das eigentliche Walhall-Motiv zu Ende, den Schluss erreicht es nur mit Hilfe der Gesangsmelodie Wotans, die bei »Bau« (T. 823) bei gleichzeitig erklingendem Dominantseptakkord auf As ihr Ende fi ndet. Wurde der Schluss in Takt 787 erzwungen, so wirkt er hier wie angehängt. Seine Wirkung gewinnt er nicht aus dem Walhall-Motiv selbst, sondern aus dem Gesang Wotans. Aber selbst dieser hat nicht genug Kraft, den Schluss herbeizuführen: Zuvor schon hat die erste Trompete die rhythmische Schlussfigur aus Takt 821 aufgenommen und führt diese nun, als der Gesang bereits verklungen ist, bis ins Des-Dur. Es wird also ein zweites ›Anhängsel‹ benötigt, bevor der Abschnitt in einen feierlichen, aber dennoch trügerischen Des-Dur-Schluss überführt wird.53 Die Musik kontrastiert somit die Worte Wotans, die Walhall als feste und unerschütterliche Burg preisen: »Prachtvoll prahlt / der prangende Bau! Wie im Traum ich ihn trug, / wie mein Wille ihn wies, / stark und schön / steht er zur Schau: / hehrer, herrlicher Bau!« (R, 26f.) Den nahtlosen Übergang vom Traum in die Realität, den diese Verse suggerieren, straft die kompositorische Ausführung Lügen: Diese beschreibt Walhall als ein eindrucksvolles, doch schimmerndes und wankendes Traumbild – das von Frickas Gesang buchstäblich zerrissen wird: »Auf, aus der Träume / wonnigem Trug!« (26) mahnt sie, wobei Violinen und Celli in forte eine in Sechzehnteln und Zweiundreißigstel hinunter sausende Ganztonfigur spielen, die wie ein Blitz brutal in den zuvor sanft im pianissimo schwebenden Tonsatz fährt. Gleichzeitig intonieren die Holzbläser zusammen mit den restlichen Streichern einen verminderten Septakkord, dem Fricka harmonisch folgt, indem sie mit ihren ersten beiden Tönen einen Tritonus anstimmt (SW 10/I, T. 799). Durch diese scharfen Klänge wird Wotan auch in der Musik aus dem Schlaf zu rütteln versucht. Verstärkt wird der Gegensatz zum WalhallMotiv noch dadurch, dass Frickas zwei Takte währender Gesang im Viervierteltakt gehalten ist. Dieses metrische und harmonische Aufbegehren Frickas gegen die ruhmsüchtigen Träume ihres Gemahls wiederholt sich in Takt 827, wo auf dem dritten Schlag ein C-Dur-Sextakkord erklingt, der in schärfstem Gegensatz zum entrückten Des-Dur Wotans steht. Bemerkenswert ist hierbei vor allem, dass Wagners Komposition auf die Operntradition anspielt. Wotan scheint tat-

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Wagner hat diesen Schluss mehrfach geändert, bevor er seinen Vorstellungen entsprach. Vgl. hierzu Warren Darcy, Wagner’s »Das Rheingold«, Oxford 1996, S. 132–134.

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sächlich eine Auftrittsarie zu singen, die den Namen verdient.54 Frickas Gesang ist dagegen eine rezitativische Deklamation, die Streicher beschränken sich zu seiner Stützung auf akkordische Einwürfe. Wagner lädt die überlieferten Formen, indem er sie gegeneinander hält, mit neuer Bedeutung auf und macht sie so musikdramatisch fruchtbar: Die Arie steht für weltentrücktes Schwärmen, der Rezitativ für realistischen, reflektierten Zweifel. Ganz ähnlich ging Wagner bereits im Lohengrin vor. Wichtig für das in diesem Musikdrama evozierte Konzept von Subjektivität ist vor allem Elsas Traumerzählung. In ihr wird die Entrücktheit Elsas sprachlich und musikalisch fassbar. Ganz offenbar ist ihr somnambuler Zustand, in dem sie die Bühne betritt,55 mit der Realität nur schwer vereinbar. Obwohl sie dem König mit Gesten antwortet, versäumt sie es, sich gegen die Vorwürfe Friedrichs zu verteidigen, und erzählt stattdessen von ihrem Traum, in dem ihr ihr »Streiter« erschienen sei. Dabei ist sie derart in ihrem Inneren gefangen, dass sie sich von den Einwürfen des Königs und Friedrichs, die ihre Erzählung unterbrechen, kaum beeindrucken lässt. Sie erzählt einfach dort weiter, wo sie aufgehört hat – ganz so, als wäre nichts geschehen (L, 15).56 Verstärkt wird dieser Eindruck der Entrückung durch die Tatsache, dass die Erzählung einer eigenen metrischen Form folgt. Elsa spricht nicht wie Friedrich oder der König in Blankversen, sondern in dreihebigen Jamben, die, kreuzgereimt, weibliche und männliche Kadenzen aufweisen (12–16).57 Wiederum macht Wagner hier die überlieferte Ästhetik dramaturgisch sinnfällig: Während der Blankvers vor allem in den klassischen Dramen Schillers und Goethes Verwendung fand, erinnert das Versmaß von Elsas Traumerzählung an die Metrik romantischer Volkslieder, etwa an Wilhelm Müllers Der Lindenbaum oder Joseph von Eichendorffs Das zerbrochene Ringlein. Um Elsas Darstellung als typisch romantische Figur zu betonen, unterlegt Wagner ihren Worten einen entsprechenden Ton, den die zeitgenössischen Zuhörer sicherlich zu erfassen wussten. Dazu kommt, dass die Traumerzählung auch musikalisch einer eigenen Logik gehorcht und vor allem von der Musik Friedrichs klar abgegrenzt wird (SW 7/I, T. 323ff.). Elsas Traumerzählung ist in Viertaktgruppen58 eingeteilt und

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Auch wenn Wagner offenbar, wie Felix Mottl in seinem Klavierauszug notiert, sich Wotan während dieser Arie noch »sitzend« vorgestellt hat. Vgl. Richard Wagner, Das Rheingold. Klavierauszug mit Text von Felix Mottl, Frankfurt am Main, Leipzig, London u.a. 1942, S. 66. Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen in 4.1.3. Wagner markiert dieses nahtlose Anknüpfen mit drei Punkten, die er dem zweiten Teil der Erzählung voranstellt (L, 15). Elsas Arie »Euch Lüften, die mein Klagen« im zweiten Akt folgt diesem Schema ebenfalls (L, 35). Eine Ausnahme bilden die Takte 335–339 (5 Takte), 363–365 (3 Takte) sowie 490–492 (3 Takte). Diese Abweichungen stellen aber die Stabilität des Tonsatzes nicht in Frage.

steht tonartlich stabil in As-Dur. Als Friedrich auf diese antwortet und sich dabei über Elsas »träumerische[n] Mut« mokiert (L, 14), notiert Wagner einen Tonartenwechsel nach B-Dur. Wichtiger als die tonartliche Entgegensetzung ist in dieser Szene aber die stilistische: Während Elsas Traumerzählung an eine Arie erinnert, singt Friedrich im Wagnerschen Sinne ›musikdramatischer‹: Sein Gesang ist deklamatorisch gehalten, während das Orchester sich nicht nur auf ein rezitativisches Accompagnato beschränkt, sondern an musikalischer Eigenständigkeit gewonnen hat (T. 390ff.). So erhält Elsas erstes Erscheinen eine opernästhetische Pointe, denn Wagner lässt seine Heldin ihre erste Arie nicht singen, um ihre szenische Präsenz zu festigen, sondern um ihr allmähliches Entgleiten in eine Phantasiewelt darzustellen. Damit führt er, wie im Rheingold, die Tradition der Auftrittsarie ad absurdum, setzt sie aber zugleich sinnvoll ein. 2.2.2. Erwachensszenen bei Kleist und Hoffmann Wotans und Elsas Träume sind nicht nur schimmernd und instabil, sie scheinen auch mit der Realität, die von Fricka und Friedrich repräsentiert wird, unvereinbar zu sein. Durch seinen Auftritt wird Wotan nicht gefestigt, sondern gefährdet. Der folgende Konfl ikt mit den Riesen, der durch den Bau Walhalls ausgelöst wird, ist die unausweichliche Folge. Und auch das Erscheinen Lohengrins, in das Elsas Erzählung schließlich mündet, ist mit der Realität nicht in Einklang zu bringen und führt zur Katastrophe. Diese Gefährdung der Figuren ist also nicht – wie etwa bei Verdi – das Ergebnis eines moralischen Konfliktes oder einer tragischen Schicksalsverwicklung, sondern Ausdruck des Einbruches unbewusster Wünsche in ihr Bewusstsein. Das erste Betreten der Welt erscheint bei Wagner als durch und durch riskanter Moment, da sich in ihm Außen- und Innenwahrnehmung unversöhnlich gegenüberstehen und das Unbewusste, dem das Subjekt seine Existenz verdankt, dieses zugleich ins Wanken bringt. Diese These lässt sich durch eine Analyse der literarischen Vorbilder Wagners fundieren.59

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Man kann Wotans Erwachen neben den hier hergestellten Bezügen auch mit dem Beginn von Faust II vergleichen, wo Faust bei Anbruch des Tages »auf blumigen Rasen gebettet, ermüdet, unruhig, schlafsuchend« ist. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in 40 Bänden, hg. von Friedmar Apel et al., Frankfurt am Main 1985ff., Bd. 7/I, S. 203. Zur Bedeutung des Faust für das Werk Wagners vgl. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 345–352. Den Hinweis, dass in der zweiten Szene des Rheingolds Goethes Faust II und Kleists Prinz Friedrich von Homburg anklingen, verdanke ich Dr. Frieder von Ammon von der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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An erster Stelle ist hier Heinrich von Kleist zu nennen.60 Elsa ist zweifellos eine Nachfolgerin des Käthchens von Heilbronn.61 Als dieses erstmals die Bühne betritt, findet es sich wie Elsa vor Gericht wieder. Und auch das Käthchen wirkt, anstatt sich wortreich zu verteidigen, verstört und entrückt, in Anbetung des Grafen vom Strahl versunken. Ihre Rede ist seherisch und prophetisch: »Wenn hier gesündigt ward, ist er der Richter, / Und ihr sollt zitternd vor der Schranke stehn!« Doch das Käthchen ruft bei den Richtern nur Unverständnis und Ablehnung hervor: »Du Närrin, jüngst der Nabelschnur entlaufen, / Woher kommt die prophet’sche Kunde dir? / Welch ein Apostel hat dir das vertraut?« entgegnet ihr Graf Otto.62 Sowohl Kleist als auch Wagner konfrontieren also den schwärmerischen Zustand ihrer Figur mit der aufklärerischen Institution par excellence, dem Gericht, und schöpfen daraus dramatisches Potential. Der intertextuelle Verweis auf Kleist ist auch für die Analyse von Wotans Erwachen aufschlussreich, denn der Beginn des Prinz Friedrich von Homburg erinnert an die zweite Szene des Rheingolds.63 Der Zuschauer sieht einen »Garten im alt-

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Der Einfluss Heinrich von Kleists auf Wagners Werk ist völlig unerforscht. In der Bibliographie von Wagners Dresdener Bibliothek als auch in der Wahnfried-Bibliothek sind die Gesammelten Schriften Kleists in der Ausgabe von Ludwig Tieck (1826) verzeichnet, es finden sich auch Kleists politische Schriften, seine Briefe sowie eine Biographie. Siehe hierzu Curt von Westernhagen, Richard Wagners Dresdner Bibliothek 1842–1849. Neue Dokumente zur Geschichte seines Schaffens, Wiesbaden 1966, S. 95 sowie: RichardWagner-Museum Bayreuth, Katalog der Wahnfried-Bibliothek, S. 199–201. Aus Cosimas Tagebüchern geht hervor, dass Wagners Zugang zu Kleists Käthchen in erster Linie ein emotionaler war. So schreibt Cosima am 15. Februar 1870: »Bei Tisch erzählt er, er habe im ›Käthchen von H.‹ gelesen und sei in Tränen zerflossen, gedenkend meiner Träume, daß Loldi wahrscheinlich eine Art Käthchen werden würde. […] Abends im ›Käthchen von Heilbronn‹ auch gelesen, wie ich R. sage, wie merkwürdig es sei, daß man am Schluß noch so ergriffen sei, da man alles wisse, so erwidert R., weil hier alles musikalisch ist, es nicht ankommt auf Überraschung, sondern auf Erfüllung.« (CT I, 198f.) Am 14. November 1875 gehen Richard und Cosima in eine Aufführung des Stückes: »Abends in ›Käthchen von Heilbronn‹, wie unvermeidlich müssen R. und ich furchtbar weinen, die ganze Darstellung aber so entsetzlich, daß das Publikum in einem fort lacht.« (CT I, 948). Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Ilse-Marie Barth et al., Frankfurt am Main 1987ff., Bd. 2, S. 274. Zur Deutung der Käthchen-Figur vor dem Hintergrund des Magnetismus vgl. die Ausführungen in 4.1.2. Wagners Rezeption des Homburg ist ebenfalls belegt. Dabei wird deutlich, dass Wagner trotz kritischer Bemerkungen Kleists letztes Drama sehr geschätzt hat. Am 11. November 1864 schreibt er (nicht ganz ohne Ironie) an Hans von Bülow, dass Kleist ihm »große Freude« mache, »ich habe für die Prinzessin von Homburg gar nicht Lob genug!« Richard Wagner, Briefe an Hans v. Bülow, Jena 1916, S. 229. In der Schrift Über Schauspieler und Sänger aus dem Jahr 1872 nennt Wagner »Kleist’s wundervollen ›Prinz von Homburg‹« als Beispiel für die hohe deutsche Theaterkunst (SSD IX, 186). Am 8. März 1874 lesen er und Cosima den zweiten Akt des Dramas: »kleine Enttäuschung, die Konzeption unübertrefflich, aber manches Stockende in der Ausführung, auch fehlt der große Atem, der durch Schiller’s Werke weht.« Wagner erinnert sich bei dieser Gelegenheit

französischen Styl. Im Hintergrunde ein Schloß, von welchem eine Rampe herabführt.«64 Diese Zweiteilung des Bühnenraums in Garten und Schloss, Natur und Kultur entspricht derjenigen Wagners, der Wotan auf »blumige[m] Grunde« liegend Walhall erblicken lässt. Dass auch Kleist dieses Gegenüberstehen von Natur und Kultur als eine Dichotomie von Unbewusstem und Bewusstsein versteht, zeigt der Fortgang seines Dramas. Der Kurfürst und seine Entourage blicken »vom Geländer der Rampe« auf den Prinzen, der »halb wachend, halb schlafend« im Garten sitzt und einen Lorbeerkranz flicht.65 Nachdem sie herabgestiegen sind, spielt der Kurfürst dem Prinzen einen Streich, indem er den Kranz seiner Nichte Natalie in die Hand drückt. Daraufhin besteigen sie wieder die Rampe, und der Prinz, noch ganz im Traum befangen, folgt ihnen. Doch als sie die Tür öffnen, um ins Schloss zu gehen, verweigert der Kurfürst dem Prinzen den Eintritt: »In’s Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg, / In’s Nichts, in’s Nichts!« – die Tür »fliegt rasselnd vor dem Prinzen zu.« Dieser bleibt kurz verwundert vor ihr stehen, geht dann wieder von der Rampe hinab und sieht, unten angekommen, »wieder nach der Tür hinauf.«66 Die Rampe symbolisiert den Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein, der dem Prinzen nicht gelingen will. Wie Wotan befindet auch er sich in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, seine träumerischen Visionen handeln ebenfalls von Ruhm und »Mannesehre« (R, 26).67 Es sind unbewusste Wünsche, die im Lauf des Dramas mit der Realität konfrontiert werden. Bei Kleist wird dabei sehr deutlich gezeigt, wie das Unbewusste die Figuren nach ihrem Erwachen aus der Fassung bringt.68 So fällt der Prinz unversehens um, als ihn sein

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daran, eine Aufführung des Stückes in seiner Jugend besucht zu haben (CT I, 799, vgl. auch CT I, 1095). Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 557. Ebd., S. 557. Der Hofkavalier vermutet, dass der Prinz den Lorbeer im hinteren Teil des Gartens gefunden hat, »wo der Gärtner / Mehr noch der fremden Pflanzen auferzieht.« (ebd., S. 559) Neben den Topoi des Meeres und des Berges ist auch der mit fremdartigen Pflanzen gefüllte Garten in der Romantik eine wichtige Metapher für das Unbewusste. Man denke etwa an den Garten in E.T.A. Hoffmanns Novelle Das steinerne Herz. Wagner wird diese Metapher im Parsifal aufnehmen (s. 5.4.2.). Darüber hinaus symbolisiert der Lorbeer an dieser Stelle nicht nur die Dichterkrone, ihm wird traditionell auch eine einschläfernde Wirkung zugesprochen. Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 560f. In der Forschung wurde Homburgs Somnambulismus auf den animalischen Magnetismus zurückgeführt und vor diesem Hintergrund auf seine politische Botschaft hin untersucht. Dabei kommt Jürgen Barkhoff zu dem Schluss: »Das Stück vom somnambulen Preußenoffizier zwischen Insubordination gegen und Unterwerfung unter die Staatsräson ist ein Lehrstück, wie eine auf dem System von Befehl und Gehorsam aufgebaute Macht sich auch die Antriebe des Unbewußten manipulativ verfügbar macht.« Vgl. Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 259. Zur Manipulierbarkeit des Nachtwandlers Homburg siehe auch Weder, Kleists magnetische Poesie, S. 328–353. Auf den Einfluss der zeitgenössischen Anthropologie auf den somnambulen Prinzen verweist auch Košenina, Literarische Anthropologie, S. 185–189. Erika Fischer-Lichte zeichnet im Homburg-Kapitel ihrer Geschichte des Dramas die In-

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Freund, der Graf Hohenzollern, beim Namen ruft, und zeigt sich im folgenden Gespräch noch völlig geistesabwesend: »Welch’ eine Reiterei?« fragt er auf den Hinweis des Grafen, dass er doch eigentlich schon mit seinen Mannen in die Schlacht reiten sollte. »So wahr ich Leben atm’, er weiß nicht mehr, / Daß er der märkschen Reuter Oberst ist?!« ruft Hohenzollern entsetzt. Tatsächlich merkt der Prinz gar nicht, dass er sich in einem Garten befindet. Er sucht, aufgescheucht und verwirrt von den Worten seines Freundes, seine Rüstung, bevor er schließlich zugeben muss, dass er die Kontrolle vollständig verloren hat: »Bei meinem Eid! / Ich weiß nicht, liebster Heinrich, wo ich bin.«69 Bereits in seinem Lustspiel Der zerbrochne Krug hatte Kleist diese Verwirrtheit des Subjekts seinen Zuschauern vor Augen geführt.70 Auch dieses Drama beginnt mit einer Erwachensszene. Der Dorfrichter Adam sitzt in der Gerichtsstube und verbindet sich ein Bein. Als der Schreiber Licht auftritt und ihn fragt, wann er denn hingefallen sei, antwortet Adam: »Jetzt, in dem Augenblick, da ich dem Bett’ / Entsteig’. Ich hatte noch das Morgenlied / Im Mund’, da stolpr’ ich in den Morgen schon«. Natürlich ist die Erzählung Adams, da er lügen muss, eine fingierte. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Kleist hier den Beginn des Dramas mit einer Reflexion über das Erwachen des Subjekts in eins setzt. »Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt / Den leid’gen Stein zum Anstoß in sich selbst«, so Adam zu Licht.71 Ein entscheidender Satz: Denn er wirft die für Kleists Epoche so wichtige Frage auf, ob das Ich Herr im eigenen Hause ist oder nicht. Adams Sprache verrät die Antwort, die Kleist gibt: Zwar trägt Adam den leidigen Stein zum Anstoß tatsächlich in sich selbst, aber es ist nicht sein autonomes Bewusstsein, sondern die verborgenen Wünsche seines Unbewussten, die sich in Adams verworrene Verse einnisten: Da ich das Gleichgewicht verlier, und gleichsam Ertrunken in den Lüften um mich greife, Fass’ ich die Hosen, die ich gestern Abend Durchnäßt an das Gestell des Ofens hing. Nun faß ich sie, versteht ihr, denke mich,

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stabilität des Prinzen nach, wobei sie davon ausgeht, dass Kleist, obwohl er die klassische Form des antiken Dramas vollendet auf die Bühne bringt, im Prinzen ein prekäres Konzept von Individualität entwickelt. Kleist entdecke in diesem Drama das Unbewusste und konfrontiere es mit dem Prinzip des Bewusstseins. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 2, Von der Romantik bis zur Gegenwart, Tübingen 1990, S. 10–20. Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 562f. Prinz Friedrich von Homburg und Der zerbrochne Krug sind natürlich nicht die einzigen Werke Kleists, die anhand einer Erwachensszene die Zerbrechlichkeit moderner Subjektivität thematisieren. Auch in Penthesilea gestaltet Kleist den ersten Auftritt Achilles’ in ähnlicher Weise. Dieser wirkt völlig geistesabwesend und benommen, als er mit den anderen griechischen Soldaten spricht. Vgl. ebd., S. 26f. Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 287.

Ich Tor, daran zu halten, und nun reißt Der Bund; Bund jetzt und Hos’ und ich, wir stürzen, Und häuptlings mit dem Stirnblatt schmettr’ ich auf Den Ofen hin, just wo ein Ziegenbock Die Nase an der Ecke vorgestreckt.72

David Wellberry weist bei seiner Interpretation dieser Stelle darauf hin, dass Adam versuche, »seine Fassung wiederzugewinnen, die Fragmentierung, die ihn sich selber entfremdet, zu heilen.« Aber genau das funktioniere nicht: »Jede Lüge, mit der er sich zuzudecken versucht […] verrät ein Stück von der Wahrheit, die er verschleiern will«.73 Diese These belegt Wellberry mit einem Hinweis auf den Ziegenbock als traditionelles Symbol des sexuellen Begehrens. Wenn Adam behaupte, er sei mit dem Haupt gegen den Bock geschlagen, so mache er damit nicht nur seinen physischen, juristischen und theologischen Fall sinnfällig, sondern nenne gleichzeitig den im Unbewussten liegenden Grund: »So lebt in Adams wachem Zustand der Traum der vergangenen Nacht fort, in dem sein Begehren die eigene verworrene Wahrheit inszeniert hat.«74 Die Verworrenheit Adams drücke sich auch auf sprachlicher Ebene aus, die syntaktische Fügung zerreiße (»und nun reißt der Bund«) und zerfalle in parataktische Reihung (»Bund jetzt und Hos und ich, wir stürzen«). Wellberrys Interpretation gipfelt in der Einsicht, dass dieses Scheitern der Sprachintention letztlich das Kantische ›Ich denke‹, das alle Vorstellungen begleiten können müsse, parodiere: »denke mich, / Ich Tor«. »Die noch traumschwere Sprache greift das Subjekt an, stellt es bloß«, schließt Wellberry.75 Nun ist Heinrich von Kleist nicht der einzige Autor aus der Vorgängergeneration Wagners, der den Textanfang als ein Erwachen des Subjekts deutet und damit dessen Fragilität heraushebt. David Wellberry geht von zwei literarischen Traditionssträngen aus. Die Autoren des ersten führten den Leser zu Beginn in ein Traumreich, indem sie die Helden langsam in den Schlaf gleiten lassen. Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Marcel Prousts Recherche dienen Wellberry hier als Paradebeispiele. Einen zweiten Strang bildeten dagegen die Texte Kleists und Kafkas, die vom Traum ins Wachsein führten, »jedoch so, daß der Traum

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Ebd., S. 289. Wellberry, Der zerbrochne Krug, S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Die Sprache von Kleists Komödie war wiederholt Thema in der neueren Forschung. Monika Schmitz-Emans betont, dass Kleist »konventionelle Zeichenrelationen problematisiert, Verweisungsbezüge stört und durcheinanderbringt, ein ›Babel der Kommunikation‹ inszeniert.« Sie sieht darin einen Vorgriff auf Nietzsches Theorie, dass die Wahrheit nichts als ein »Konstrukt« sei, »errichtet mittels Sprache selbst« Monika Schmitz-Emans, Das Verschwinden der Bilder als geschichtsphilosophisches Gleichnis. »Der zerbrochene Krug« im Licht der Beziehung zwischen Bild und Text. In: KleistJahrbuch 23, 2002, S. 42–69, hier S. 46 u. 50. Zur »Verwirrung des Sprechens« im Zerbrochnen Krug siehe auch Franz M. Eybl, Kleist-Lektüren, Wien 2007, S. 85–89.

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dem wachen Bewußtsein nachhaltig innewohnt, ein opaker, absurder Rest«.76 Ihre Werke entsprächen der Theorie von Kafkas Zeitgenossen Freud, der den Traum als »uninterpretierbares Gebilde« bezeichnet, das die »verworrenen Erzählungen seiner Patienten durchkreuzt«.77 Diesem zweiten literarhistorischen Strang von Erwachensszenen kann man nun nicht nur den Namen Richard Wagner hinzufügen, sondern auch den Namen E.T.A. Hoffmann. Wie Kleist ist auch er ein Autor, den Wagner nachweislich und intensiv rezipiert hat. Und wie Kleist hat auch er den Übergang vom Schlafen ins Wachen in seinen Texten dargestellt. »Ein durchdringendes Läuten, der gellende Ruf: Das Theater fängt an! weckte mich aus dem sanften Schlaf, in den ich versunken war.« (SäW 2/1, 83) So beginnt die 1813 erstmals erschienene Erzählung Don Juan. Bemerkenswert dabei ist allerdings nicht nur der Zusammenfall des Weckrufes mit dem Beginn des Textes, sondern die folgende Beschreibung: »Bässe brummen durcheinander – ein Paukenschlag – Trompetenstöße – ein klares A, von der Hoboe ausgehalten – Violinen stimmen ein« (ebd.) Es handelt sich um die Einstimmung des Orchesters, das im Theater nebenan gleich Mozarts Don Giovanni aufführen wird. Hoffmann eröffnet seinen Text mit Musik, die das Erwachen des Protagonisten begleitet. Zu beachten sind dabei die Gedankenstriche, die die verwirrte Wahrnehmung des entstehenden Bewusstseins charakterisieren – dieses Stilmittel in Wagners Libretti wird an späterer Stelle dieser Arbeit noch eine Rolle spielen (vgl. 6.1.). Auch der Versuch des Erzählers, seine Umgebung zu deuten, schlägt zunächst fehl und verrät seine unbewussten Phantasien: »Ich reibe mir die Augen. Sollte der allezeit geschäftige Satan mich im Rausche –? Nein! ich befinde mich in dem Zimmer des Hôtels, wo ich gestern Abend gerädert abgestiegen.« (ebd.) Dass Hoffmann seine Erzählung mit der Einstimmung der Musik zu Don Giovanni beginnen lässt, ist mehr als ein erzähltechnischer Trick. Denn Mozarts Oper repräsentiert in dieser Erzählung das Unbewusste des Erzählers, seine Träume und Phantasien, mit denen er im weiteren Verlauf konfrontiert werden wird und die ihn destabilisieren. Von seinem Hotelzimmer führt eine Tapetentür ins Theater, durch die er Zugang zu seiner Wunschwelt hat.78 Dort begegnet er der geheimnisvollen Donna Anna, in deren Nähe er »in eine Art Somnambulism« verfällt (88) und die ihn die Musik als »eine lang verheißene Erfüllung der schönsten Träume aus einer anderen Welt« erleben lässt, die nun »wirklich in das Leben« eindringe (89). Der Zauber des Unbewussten, dem der Erzähler in Hoffmanns Don Juan verfällt, be-

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Wellberry, Der zerbrochne Krug, S. 14. Ebd., S. 13. Die Tür ist einer von vielen symbolischen Zugängen zum Unbewussten bei Hoffmann, sie taucht auch in Das Majorat auf, wo die Ruinen der dunklen Familienvergangenheit hinter einer zugemauerten Tür verborgen liegen: »Alles, Malerei und Schnitzwerk, trug die dunkle Farbe langverjährter Zeit; um so mehr fiel der helle kahle Fleck an derselben Wand, durch die zwei Türen in Nebengemächer führten, auf; bald erkannte ich, daß dort auch eine Tür gewesen sein müßte, die später zugemauert worden« (SäW 3, 206).

stimmt sein Bewusstsein von Beginn an: Es ist die Anziehungskraft des eigenen Ursprungs, der er erliegt. Noch eindringlicher schildert Hoffmann dieses Erwachen aus dem Unbewussten in Die Elixiere des Teufels (1815f.). Interessant ist hierbei der Beginn des zweiten Abschnitts des zweiten Teils, wo Medardus erwacht: Eine sanfte Wärme glitt durch mein Inneres. Dann fühlte ich es in allen Adern seltsam arbeiten und prickeln; dies Gefühl wurde zu Gedanken, doch war mein Ich hundertfach zerteilt. Jeder Teil hatte im eignen Regen eignes Bewußtsein des Lebens und umsonst gebot das Haupt den Gliedern, die wie untreue Vasallen sich nicht sammeln mochten unter seiner Herrschaft. […] ›Das sind meine Glieder, die sich regen, jetzt erwache ich!‹ So dachte ich deutlich, aber in dem Augenblick durchzuckte mich ein jäher Schmerz, helle Glockentöne schlugen an mein Ohr. […] Die Glockentöne dauerten fort – ich glaubte noch im Walde zu sein, aber wie erstaunte ich, als ich die Gegenstände rings umher, als ich mich selbst betrachtete. In dem Ordenshabit der Capuziner lag ich, in einem hohen einfachen Zimmer, auf einer wohlgepolsterten Matraze ausgestreckt. (SäW 2/2, 254)

Auffällig sind an diesem Textbeginn zwei Dinge: Erstens lässt Hoffmann dem Erwachen des Ich das Erwachen des Körpers und des Gefühls vorausgehen. Er sieht hier sogar eine lineare Entwicklung am Werk, die vom Körper zum Gefühl, vom Gefühl zum Gedanken und schließlich zum Ich führt. Hier zeichnet sich bereits jenes Modell ab, das Carl Gustav Carus Jahrzehnte später auf der Grundlage der romantischen Naturphilosophie als Entwicklung des Individuums beschreiben wird.79 Doch Hoffmann geht noch weiter und zeigt, wie instabil und gefährdet das so entstandene Ich ist. Es existiert nur in Fetzen, die mühsam zusammengesetzt werden müssen. Und es unterliegt falschen Wahrnehmungen, bevor es merkt, wo es sich wirklich befindet. Allerdings versteht man dieses Zitat nur halb, wenn man nicht den letzten Satz des vorhergehenden Abschnittes hinzuzieht. Dieser endet mit den Worten: »ich sank bewußtlos nieder.« (253) Virtuos deutet Hoffmann hier die Einteilung in Abschnitte als Riss, der das Bewusstsein seines Helden durchzieht, und macht so die formale Gestaltung seines Romans inhaltlich sinnfällig. Bereits ein Jahrhundert vor Kafka wird das Postulat des ›Ich wache, also bin ich‹80 von Kleist und Hoffmann in ihren Büchern subvertiert. Sie tun dies mit den ihnen zur Verfügung stehenden literarischen, sprich: erzähltechnischen, dramatischen und sprachlichen Mitteln. Doch auch wenn Hoffmann sich im Don Juan bemüht, das Erwachen des Helden musikalisch zu inszenieren, so ist dies letztlich nur eine Beschreibung von Musik und nicht die Musik selbst. Wagner dagegen verarbeitet die Entstehung des Bewusstseins aus dem Unbewussten tatsächlich musikdramatisch. Erst durch die Hinzunahme der Musiksprache wird bei Wagner deutlich, was bei Kleist und Hoffmann im Text allein evident ist: Dass das Individuum noch

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Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen in 5.2. Diese treffende Formulierung ist dem Aufsatz von Wellberry entnommen (Der zerbrochne Krug, S. 12).

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im Wachzustand unweigerlich in seinem ihm unbewussten Begehren gefangen ist und ihm dadurch die Realität entgleitet. Senta träumt vom Holländer, Elsa von Lohengrin, Wotan von Walhall. Dabei erliegen sie der Faszination ihrer Träume derart, dass sie sich – wie uns die Musik erzählt – in ihre innere Welt einschließen und von der Realität abkapseln. Genau dieses träumende Wachwerden ist es, das Wagners Helden ihre Zerbrechlichkeit verleiht. Allerdings dauert im Holländer, genauso wie im Tannhäuser oder im Ring, die Verstörung der Figuren nur kurze Zeit. Wagners Helden fassen sich wieder recht schnell. Tannhäuser versucht sich abrupt von Venus und damit von der Macht des Unbewussten loszusagen, Wotan reißt sich nach seinem Abgleiten in den Traum zügig zusammen und steht seiner Frau Fricka Rede und Antwort. Damit erscheint der ›Göttervater‹, die das Gesetz repräsentierende Herrschergestalt, zu Beginn noch relativ stabil – anders als Richter Adam im Zerbrochnen Krug.81 Wotans Fall inszeniert Wagner erst im weiteren Verlauf der Tetralogie. Auch Tannhäusers, Elsas oder Sentas Hang zum Wahn, den ihre somnambule Veranlagung hervorruft, wird erst im Verlauf der Handlung deutlich. Dennoch schimmert bei Wagner die Instabilität moderner Subjektivität während des Erwachens durch, und zwar im Zusammenspiel von Musik und Libretto. Einzig in Tristan und Isolde kommt Wagner der Kleistschen Radikalität sehr nahe. Dort schildert er die Verlorenheit, die dem Erwachen unmittelbar folgt, noch eindringlicher. Dies ist nicht nur in jener berühmten Szene zu Beginn des dritten Aktes der Fall, in der Tristan nach seinem schmerzhaften Erwachen völlig verloren und orientierungslos wirkt. Schon am Anfang des Musikdramas liegt Isolde »auf einem Ruhebette, das Gesicht in die Kissen gedrückt.« Als der junge Seemann sein Lied beendet, fährt sie »jäh« auf und »blickt verstört um sich.« Eine Verstörung, die in ihren Worten nachhallt: »Brangäne, du? – / Sag, wo sind wir?« (TuI, 7) Selbst als Brangäne versucht, Isolde behutsam an die Realität heranzuführen, indem sie ihr in blumigen Worten klarmacht, dass sie sich auf einem Schiff befinden und bald das Land erreichen müssten, hält Isoldes Verwirrung an: »Welches Land?« (8) Die Musik, die Wagner zu dieser Szene komponiert hat, gibt zunächst das Jähe und Unvermittelte von Isoldes Erwachen wieder. Im forte fahren die Streicher in den ausklingenden Gesang des Seemanns, werden aber, als Isoldes erstes Aufbäumen einer matten Verzweiflung weicht, wieder ruhiger (SW 8/I, T. 135ff.). Das Orchester hält sich sehr zurück, als Isolde ihre knappen Fragen an Brangäne richtet, während des »Sag, wo sind wir?« hören wir nur noch Isoldes Stimme (T. 142ff.). Hier hat Wagner vollständig mit der Operntradition gebrochen: Ein größerer Gegensatz zu einer Auftrittsarie als dieses stammelnde Fragen der bereits zu Beginn wie vernichtet wirkenden Isolde ist nicht denkbar. Doch sollte man dabei nicht übersehen,

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In Prinz Friedrich von Homburg scheint der Kurfürst dagegen stabil und kontrolliert, und steht damit dem Prinzen diametral entgegen. Siehe hierzu Fischer-Lichte, Geschichte des Dramas, S. 13.

dass Wagner Brangänes anschließenden Gesang sehr arios gestaltet, er steht zudem auf einem stabilen Ostinato in Kontrabässen und Hörnern (T. 150ff.). Die musikdramatische Situation, die Wagner noch bei Elsas Auftritt im Lohengrin und bei Wotans Erwachen im Rheingold geschaffen hat, verkehrt sich zu Beginn des Tristan in ihr Gegenteil: Nun ist es die in der Realität stehende Figur, die die Arie singt, und die erwachende, die diese jäh unterbricht. Diente die arienhafte Gestaltung von Elsas und Wotans Auftreten dazu, ihr Eingeschlossensein in einer Traumwelt zu beschreiben, so ist es nun Brangäne, deren Realitätssinn durch ihren Gesang fragwürdig erscheint – ganz im Sinne der im Tristan entwickelten Idee, nach der der Tag nichts als falscher Traum sei.

2.3.

Die Erweckung des Unbewussten

Es gibt noch eine zweite Kategorie von Erwachensszenen, die mit den bisher beschriebenen in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Nachdem die Figuren erwacht sind, sehnen sie sich nach ihrem verlorenen Ursprung, dem Unbewussten, zurück. Ein Beispiel hierfür ist wiederum Isolde. Als diese sich nach ihrem Erwachen schließlich doch erinnert, wohin ihre Reise sie führen wird, bricht sie in Wut aus: »Entartet Geschlecht, / unwert der Ahnen! / Wohin, Mutter, / vergabst du die Macht, / über Meer und Sturm zu gebieten? […] Erwache mir wieder, / kühne Gewalt, / herauf aus dem Busen, / wo du dich bargst! […] Treibt aus dem Schlaf / dies träumende Meer, / weckt aus dem Grund / seine grollende Gier« (TuI, 8f.). Entscheidend ist hier das Wort »wieder«: Isolde beklagt den Verlust ihrer Zauberkräfte, also ihres Zugangs zu der Macht der Natur, die einerseits im Außen liegen, aber auch als Unbewusstes in ihrem Innern, im »Busen«. Ihren Ahnen war dieser Zauber noch gegeben, sie jedoch hat ihn verloren. Deshalb versucht sie nun verzweifelt, ihn wiederzufinden, indem sie ihn wachruft. Unschwer ist hier das Denkmuster der romantischen Naturphilosophie zu erkennen, nach der der Mensch durch das Erwachen seines Bewusstseins seine harmonische Verbindung zur Natur verloren hat. Deshalb muss er das Wissen, das in ihr schlummert, wieder wecken. Meist geschieht dies durch den Blick, dem in der Romantik demiurgische und vitalisierende Kräfte zugesprochen werden. Schubert vergleicht in seiner Symbolik des Traumes das »erkennende Auge« mit einer »bauenden, schaffenden Hand«, das gleichbedeutend mit dem »Organ der körperlichen Erzeugung« sei.82 Und in den »Blütenstaub«-Fragmenten sagt Novalis über die Anschauung, in ihr liege das »Gefühl einer unerschöpflichen Kraft«, sie sei »absolut belebend«. »Indem wir uns selbst betrachten – beleben wir uns selbst.«83 Nach dem Vorbild des Pygmalion-

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Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 79f. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 460.

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Mythos84 wird der Blick in der Romantik ein weckender, Leben spendender und gebärender. Nicht nur weckt Florio in Eichendorffs Marmorbild die steinerne Venus durch intensives Schauen zum Leben, auch Olimpias Augen scheinen durch den Blick Nathanaels in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann mit Leben erfüllt zu werden: Nun erschaute Nathanael erst Olimpia’s wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpia’s Augen feuchte Mondesstrahlen auf. (SäW 3, 36)

Auch Richard Wagner übernahm diese Metaphorik des weckenden Blickes. In Das Kunstwerk der Zukunft vergleicht er die Musik mit dem Meer.85 Letzteres zeichne sich durch ein natürliches, ungezügeltes Sehnen aus. Es müsse durch den Blick des Menschen geweckt werden, um kulturellen Wert zu erhalten. Wagner führt aus, wie der »sonnenumstrahlte, schlank und rüstig sich bewegende Mensch durch den Blitz seines glänzenden Auges die Flamme dieses Sehnens« zünde, die dann schließlich, nachdem sich das so aufgewühlte Meer besänftigt habe, »als mildglänzendes Licht« aufleuchte (SSD II, 84). Unschwer ist hier die zweite kosmogonische Urszene des Rheingolds zu erkennen, nämlich die Erweckung des Goldes durch die Strahlen der in die Wassertiefe scheinenden Sonne. Gerade als Alberich, außer sich über das falsche Spiel der Rheintöchter, sein wütend-verzweifeltes »Fing’ eine diese Faust!« brüllt, dringt durch die Flut »von oben her ein immer lichterer Schein«, der sich »zu einem blendend hell strahlenden Goldglanze entzündet; ein zauberisch goldenes Licht bricht von hier durch das Wasser.« Das Rheingold ist geweckt: »Lugt, Schwestern! / Die Weckerin lacht in den Grund«, singt Woglinde, und ihre Schwestern antworten ihr: »Durch den grünen Schwall / den wonnigen Schläfer sie grüßt. / Jetzt küsst sie sein Auge, / daß er es öffne« (R, 19). In der Musik wird dieser Vorgang, genau wie im Vorspiel, als Aufhellung und Aufstieg beschrieben. Der unruhige Paukenwirbel auf G wird zunächst von einem verminderten Septakkord überlagert, der Alberichs Wut charakterisiert. Dieser löst sich dann in Takt 510 nach G-Dur auf (SW 10/I). Das Rheingold-Motiv, das in den Takten 515 bis 517 zum ersten Mal in den Hörnern erklingt,86 wird erst zur Zwei-, dann zur Dreistimmigkeit erweitert und steigt in der Folge immer höher, bis es in Takt 535 auf G2 seinen höchsten Punkt erreicht. Harmonisch drängt der Satz nach C-Dur, der Tonart, die von Haydn in seiner Schöpfung als Lichttonart charakterisiert wurde.

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Darauf hat hingewiesen: Lothar Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs, Frankfurt am Main 1981, S. 302f. Zu Beginn des entsprechenden Abschnittes schreibt Wagner: »Noch dürfen wir das Bild des Meeres für das Wesen der Tonkunst nicht aufgeben.« (SSD II, 82). Bezeichnend für die Entwicklungstechnik der Wagnerschen Leitmotive ist, dass das durch verminderte Septakkorde gekennzeichnete Motiv (der Zorn Alberichs) rhythmisch und diastematisch dem Rheingold-Motiv ähnelt.

Sie wird durch das Hinzufügen der G-Dur-Septime in Takt 532 angestrebt und in Takt 534 erreicht. Die Übernahme des Motivs durch den strahlenden Klang der Trompeten gibt dieses Erwachen auch in den Instrumenten wieder. Dieses musikalisch in Szene gesetzte Motiv der weckenden Sonne wiederholt sich nun in Wotans und Siegfrieds Bemühen, Zugang zum Unbewussten zu erlangen: Ihre Blicke sind weckende Blicke. In der Walküre berichtet Sieglinde von der Macht, die Wotans verbliebenes Auge besitzt: »Doch des andren Strahl, / Angst schuf er allen, / traf die Männer / sein mächt’ges Dräu’n: / mir allein weckte das Auge / süß sehnenden Harm« (W, 23f.). Die Weckkraft des Auges wird von Mime in Siegfried ausdrücklich mit einem Geburtsvorgang in Verbindung gebracht: »Lang schon schied ich/ aus der Mutter Schoß;/ mir leuchtete Wotans Auge,/ zur Höhle lugt’ es herein: / vor ihm magert/ mein Mutterwitz.« (Sf, 32) Dieses Motiv klingt auch an, als Wotan Brünnhilde am Schluss der Walküre »auf beide Augen« küßt (W, 107), um sie in den Schlaf zu zaubern: Eine Umkehrung der oben analysierten Szene im Rheingold, wo das Gold durch den Kuss der Sonne auf die Augen geweckt wird. Diese Macht des weckenden Blicks Wotans geht dann auf seinen Enkel über. »Mit dem Auge, das als andres mir fehlt, / erblickst du selber das eine, / das mir zum Sehen verblieb«, sagt Wotan zu Siegfried in einer der rätselhaftesten Stellen des Rings (Sf, 104).87 Tatsächlich scheint Siegfried die Fähigkeiten seines Großvaters geerbt zu haben. Als er Brünnhilde weckt, nennt diese ihn verzückt »Wecker des Lebens, / siegendes Licht!« (113). Es erstaunt daher nicht, dass Wagner bei Siegfrieds Auftritten meist die Sonne aufgehen lässt.88 Eine Variation erfährt die Erweckung 87

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Im Jahr 1878 hat der Arzt Otto Eiser in den Bayreuther Blättern versucht, diese Stelle und auch die anderen Begründungen von Wotans Augenverlust (Abgabe des Auges an Fricka / Verlust des Auges am Quell) vor dem Hintergrund der Schopenhauerschen Philosophie zu deuten. Das Ergebnis zeigt, wie nahe er dabei dem naturphilosophischen Modell und der Metaphorik Schellings kommt. Er spricht von einer »Spaltung, welche mit der Entstehung des Bewusstseins beginnt und mit der höheren Entwickelung des Intellekts bis zur vollsten Objektivation der Aussenwelt zunehmen muss, wo alsdann der zum Individuum gewordene Wille gleichsam sich selbst von aussen her betrachtet, sein Auge aus sich selbst herausversetzt.« Otto Eiser, Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«. Ein exegetischer Versuch. In: Bayreuther Blätter 1, H. 11, 1878, S. 309–366, hier S. 357. Die Publikation des Eiserschen Aufsatzes ging übrigens auf Nietzsche zurück. Dieser hielt ihn für »verständnißreich« und sandte ihn Wagner und Cosima zu, mit der Bitte, »bei der Frage, wo Wotan sein Auge verlor«, ein »entscheidendes Nein oder Ja an den Rand« zu setzen. Cosima wollte dem aber nicht Folge leisten. Sie antwortete: »Mir ist Alles mythischer Vorgang; Wotan hat um Fricka zu gewinnen sein Auge geopfert, und sagt zu Siegfried, mit dem linken Auge das ich nicht habe, siehst Du mein rechtes, das genügt mir, und ich frage nicht weiter: ›was hat der Dichter damit sagen wollen‹, denn was er sagt nehme ich buchstäblich und sinnlich.« Dieter Borchmeyer / Jörg Salaquarda (Hgg.), Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung, Frankfurt am Main 1994, S. 293–295. Vgl. etwa den zweiten Aufzug des Siegfried, als Mime und Siegfried »bei anbrechendem Tag« die Bühne betreten (Sf, 63). Gleiches geschieht im Vorspiel der Götterdämmerung. Hier treten Siegfried und Brünnhilde aus ihrem Steingemach, als der Tag anbricht

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durch den Blick im Wachrufen des Unbewussten. Wotan nennt sich selbst den »Weckrufer« (Sf, 94), in dieser Rolle ruft er in Siegfried erst Fafner und dann Erda wach, die als schlafende und allwissende Naturwesen die Macht des Unbewussten repräsentieren. Siegfried tut es ihm darin gleich: Mit einem Hornruf weckt er Fafner, und selbst als er vor der schlafenden Brünnhilde sitzt, versucht er sie zunächst mit einem kräftigen »Erwache! erwache!« (111) wieder ins Leben zu rufen. Spuren dieses Motivs lassen sich auch im Lohengrin nachweisen, wo die Somnambule Elsa vom Heerrufer des Königs gerufen wird (L, 11), sowie im Parsifal, wo Klingsor Kundry mit den Rufen »Herauf! Hieher! zu mir!« zu sich befiehlt (P, 39). Die Wagner-Forschung hat die Charakterisierung Wotans und vor allem Siegfrieds als »weckendes Licht« sowie die kosmogonischen Inszenierungen des Rheingolds wiederholt zum Anlass genommen, die Figuren als Teile eines mythologischen Rasters zu deuten. So legt Gerhart von Graevenitz in seinem Buch Mythos dar, wie Wagner im Ring des Nibelungen den »Götteranordnungen« des romantischen Mythologen Franz Joseph Mone folge. Darin erscheine Allvater als »das neuplatonische Prinzip des schöpferischen Einen und des Lichts«, aus dem Wotan hervorgehe.89 Und da das von Mone entworfene germanische Pantheon dem Gesetz der Emanation gehorche, sei Siegfried »Wotans Geschöpf und mikrokosmischer Spiegel […]. Wie aber schon Othin/Wotan Spiegelung Allvaters war, so spiegelt sich dieses Ur-Eine und ursprüngliche Licht durch Othin/Wotan hindurch in Sigfrit, dem Sonnengott.«90 Berufen kann sich diese Interpretation auf eine Stelle in Wagners Wibelungen-Schrift, in der es heißt, dass wir in der »ältesten Bedeutung des Mythus« Siegfried als »Licht- oder Sonnengott zu erkennen« haben (SSD II, 119). Aus diesen und ähnlichen Äußerungen Wagners schließt Dieter Borchmeyer in seiner Interpretation des Rings, dass Siegfried im Sinne Mircea Eliades der »primordiale Heros« sei, »der zwar nicht mehr selbst Licht- und Sonnengott ist, aber dessen Weltschöpfungsakt reaktiviert.«91 Der »Lichtgestalt Siegfried« stehe »der Finsterling Hagen« gegenüber, im Ring kehre »naturzyklisch-archetypal die Überwindung des Lichts durch die Finsternis wieder«,92 so Borchmeyer, der Siegfrieds Lebens- und Todesweg deshalb als eine Entsprechung des genau vorgezeichneten »hero-pattern« der modernen Sagenforschung deutet.93

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(G, 13f.). Und als Siegfried schließlich zu Beginn des zweiten Aufzugs auftritt, lautet der Nebentext: »Die Sonne geht auf und spiegelt sich in der Flut.« (53). Gerhart von Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987, S. 277. Ebd., S. 279. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 291. Ebd., S. 292. Borchmeyer listet sieben Charakteristika auf, die in diesem Schema für einen Helden typisch sind und alle auf Siegfried zutreffen: Erstens »eine die menschliche Normalität sprengende Herkunft«, zweitens »die Geburt in der Verborgenheit«, drittens »die Erziehung durch eine halbmenschliche mythische Gestalt«, viertens »die frühe Offenbarung außergewöhnlicher physischer Kraft«, fünftens »der Kampf mit einem Untier«,

Diese Deutungen sind philologisch sicher wohlbegründet, bei genauerem Hinsehen greifen sie aber zu kurz. Denn in ihrer Logik liegt es, den Taten des Helden absolute Notwendigkeit zu unterstellen und sein Schicksal als eine Fatalität zu interpretieren, die sich aus einem vorgegebenen Schema ableitet. »Über dem Wotan des Ring und seinen Mitgöttern waltet das Schicksal«, so Graevenitz. Dieses erfasse auch den Nachtalben Alberich und seinen Sprössling Hagen: »Beide Helden verderben, Licht- und Nachtgötter ereilt gleichermaßen der vom Schicksal diktierte Untergang, der ausbalancierte Dualismus endet ›fatalistisch‹.«94 Und für Borchmeyer ist Siegfrieds früher Tod ein Hinweis darauf, dass durch ihn das Heldenschema abgerundet werde.95 Überhaupt glaubt er aufgrund der mythischen Grundlage der Siegfried-Figur schließen zu können, dass der mythische Held sich nicht »mit modernen intellektuellen oder humanistischen Wertmaßstäben« messen lasse.96 An dieser Stelle gehen die mythologisch-kosmogonischen Spielarten der Ring-Interpretation eindeutig über ihre eigenen Möglichkeiten hinaus. Wagners Musikdramen sind komplizierter, wie eine kurze Analyse zweier zentraler Erweckungsszenen zeigt. Nachdem Wotan Erda zu Beginn des dritten Siegfried -Aktes aus dem Schlaf gerufen hat, entspinnt sich ein Streit. Von Wotans Erzählung mehr und mehr verwirrt, fordert Erda ihn auf, die Nornen oder Brünnhilde um Rat zu fragen. »Dich Mutter lass’ ich nicht ziehn«, entgegnet ihr Wotan trotzig und dringt weiter in sie: »Bist du der Welt / weisestes Weib, / sage mir nun: / wie besiegt die Sorge der Gott?« Die Antwort Erdas ist vernichtend: »Du bist – nicht / was du dich nennst!« (Sf, 97) Ein bemerkenswerter Satz, der eine Anspielung auf die Erdgeist-Szene in Goethes Faust enthält, wo Faust mit einem ähnlichen Urteil des von ihm heraufbeschworenen Naturwesens konfrontiert wird: »Du gleichst dem Geist den du begreifst, / Nicht mir!« Der Erdgeist sagt von sich, er schaffe »am sausenden Webstuhl der Zeit«. Er walle »auf und ab«, wehe »hin und her«. Darauf antwortet ihm Faust: »Der du die weite Welt umschweifst, / Geschäftiger Geist, wie nah fühl’ ich mich

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der sechstens »die Unverwundbarkeit oder den Gewinn eines unermeßlichen Schatzes (Nibelungenhort) zur Folge hat« und siebtens »meist die Befreiung und erotische Eroberung einer Jungfrau« (ebd., S. 293). Graevenitz, Mythos, S. 278. In diesem Sinn deutet auch Stefan Kunze das Verhältnis von Mythos und Individualität bei Wagner: »Der Mythos suggeriert einen Zustand des Vorindividuellen, der, insofern als er zum Überindividuellen tendiert, das stoffliche Äquivalent zur Idee des Kunstwerks als der Synthese jeglicher Individualisierung darstellt. Man könnte die eigentlichen Handlungen der Wagnerschen Dramen und vor allem die motivierenden Konflikte, aus denen das Geschehen hervorgeht, darauf zurückführen, daß sich aus einem vorindividuellen, namenlosen Zustand, der als zeitlos denkbar ist, individuelle Kräfte, Personen, Aktionen herauslösen. Die Individualisierung aber führt unweigerlich zur Vernichtung der Individuen«. Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners, S. 184. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 295. Ebd., S. 292.

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dir!«97 Der Erdgeist stellt das Prinzip der alldurchdringenden Naturweisheit dar – genau wie Erda und ihre Töchter, die Nornen, die das Seil des Wissens »weben« (Sf, 95). »Bekannt ist dir / was die Tiefe birgt, / was Berg und Tal, / Luft und Wasser durchwebt«, so Wotan über Erda. »Wo Wesen sind / weht dein Atem; / wo Hirne sinnen / haftet dein Sinn: / alles, sagt man, / sei dir bekannt.« (94) Und wie Faust versucht auch Wotan, den Fähigkeiten dieses übermenschlichen Wesens nachzueifern. Das Bild des Umherschweifens, das Goethe benutzt, kehrt bei Wagner im Motiv des Wanderns wieder. So sagt Wotan über sich selbst: »Die Welt durchzog ich, / wanderte viel, / Kunde zu werben, / urweisen Rat zu gewinnen.« (ebd.) Der ruhelose Wissensdurst, der den Wanderer Wotan nach den tiefsten Geheimnissen der Welt forschen lässt, verleiht ihm etwas Faustisches, und das heißt: modernes. Denn wie Faust scheitert auch er bei seinem Versuch, sich die Mächte der Natur verfügbar zu machen. Während Faust den Anblick des Erdgeistes erst gar nicht erträgt, weist Erda Wotans Wunsch brüsk ab, in das über ihn verhängte Fatum einzugreifen. Wotan ist keine bloße Reaktualisierung des germanischen Göttervaters, sondern repräsentiert die Tragik des modernen Menschen, der sich zu den Göttern aufzuschwingen versucht und dabei fällt; ein Prometheus, oder besser gesagt: ein Prothesengott. Der Unterschied zu Faust liegt lediglich in Wotans Reaktion auf diese Erkenntnis. Jener stürzt zusammen und ruft verzweifelt: »Nicht dir? / Wem denn? / Ich Ebenbild der Gottheit, / Und nicht einmal dir!«98 Anders Wotan, der erkennt, dass die einzige ihm mögliche Freiheit ist, die Notwendigkeit des Schicksals anzuerkennen: »Was in Zwiespalts wildem Schmerze / verzweifelnd einst ich beschloß, / froh und freudig / führ’ ich frei es nun aus« (Sf, 98). Freiheit ist eines der Schlüsselworte der Moderne. Die Schriften Kants und der deutschen Idealisten kreisen um diesen Begriff, und vor allem die Letztgenannten versuchen, ihn mit der in Natur und Vorsehung liegenden Notwendigkeit in Einklang zu bringen. Dass der »Gott« Wotan hier über seine Freiheit reflektiert, sollte jenen zu denken geben, die den Ring immer noch als die Verwirklichung eines mythologischen Schemas deuten, in dem die Figuren nichts als Erfüllungsgehilfen des Fatums sind. Wagner kommt es nicht auf die Reaktualisierung überlieferter Strukturen an. Er will vielmehr verstehen, wie das sich als frei begreifende moderne Individuum auf das alte und wirkungsmächtige Wissen bezogen bleibt, ohne es sich ganz aneignen zu können. Die Szene zwischen Wotan und Erda ist ein schönes Beispiel hierfür: Indem Wotan Erda, die »Urweltweise« (93), weckt, versucht er, das ihm unbewusst gewordene, in der Tiefe schlummernde Wissen sich wieder ins Bewusstsein zu rufen. Die Existenz mythischer Strukturen in Wagners Werken lässt sich philologisch nachweisen, aber es wäre verkürzt, diese darauf zu reduzieren. Der Mythos ist bei Wagner Mittel, nicht Zweck. Seine Figuren sind nicht nur Götterväter, Wunschmaiden oder Sonnengötter, sondern auch reflektierende Subjekte.

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Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 7/I, S. 37f. Ebd., S. 38.

Dies zeigt sich auch bei Siegfried. Als dieser der schlafenden Brünnhilde den Helm löst und ihr »langes, lockiges Haar« erblickt, gerät er zunächst ins Schwärmen: »Schimmernde Wolken / säumen in Wellen / den hellen Himmelssee« (109). Brünnhilde ist hier das Wellenmädchen, ein Naturwesen. Deshalb gerät Siegfried in große Angst, als er Brünnhildes Rüstung aufschneidet und zum ersten Mal eine Frau sieht: »Das ist kein Mann! – –« (110) Die Anerkennung der Alterität, eines echten Gegenübers markiert hier den Augenblick der Spaltung des Unbewussten vom Bewusstsein. Siegfried muss zum ersten Mal einsehen, dass es etwas außer ihm gibt, dass seinem Bewusstsein Grenzen gesetzt sind – daher die ungeheure Angst. Sofort geht es darum, diese Trennung zu überwinden und den verlorenen Urgrund wiederzufinden: »Mutter! Mutter!« ruft Siegfried verzweifelt, so wie sein Vater Siegmund nach seinem Erwachen »Ein Quell! Ein Quell!« rief (W, 9). Dazu muss nun das Unbewusste wiedererweckt werden. Dies erkennt Siegfried, wenn er sagt: »Wie end’ ich die Furcht? / Wie fass’ ich Mut? – / Daß ich selbst erwache, / muß die Maid ich erwecken!« (111) Vor allem der letzte Satz stellt eine erstaunliche Reflexion dar und wurde von der Wagner-Forschung bisher nicht genug beachtet. Denn er gibt den zentralen Gedanken der Naturphilosophie wieder: Die Natur schlägt im Menschen ihre Augen auf. Indem Brünnhilde, die Natur, erwacht, erwacht auch Siegfried zu Bewusstsein. Konziser könnte man nicht ausdrücken, dass das Ich immer auf seine unbewussten Voraussetzungen bezogen bleibt. Bereits zuvor setzt Wagner diese Idee in Szene: Als Siegfried das Blut des von ihm erweckten Fafners trinkt, versteht er plötzlich die Sprache des Waldvogels (76) und erhält so Zugang zu dem Wissen, das bisher in der Natur schlummerte. Auch hier hat das Weckrufen den Zweck, den Weckrufer zu wecken. Allerdings sei eingeräumt, dass diese Bewusstwerdung des Unbewussten auch als eine Regression gedeutet werden kann. Siegfrieds Hinwendung zur Natur zeugt zweifellos von einem anti-modernen Impuls in Wagners Werk. Es ist nicht der einzige: Die Idee der ›Erlösung‹, die in so vielen seiner Musikdramen zum Ausdruck kommt, zählt ebenso dazu wie der religiös-verklärte Schluss des Parsifal. Diese Versuche, die Zerrissenheit des Subjekts nachträglich zu heilen, geißelte Nietzsche als feige Ausflucht und Dekadenz. Sie ändern aber nichts an der Tatsache, dass Wagner genau erkannt hatte, dass das moderne Individuum zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, zwischen Notwendigkeit und Freiheit zerrissen ist und sich deshalb in einer verhängnisvollen Situation befindet. Diese hat er in seinen Musikdramen in aller Deutlichkeit zur Darstellung gebracht. Gerade die Begegnung Wotans mit Erda und diejenige Siegfrieds mit Brünnhilde zeigen, wie im Ring mythologische Formen beschworen werden, um ihnen eine moderne Bedeutung abzugewinnen. Dass der Sonnengott Siegfried nicht nur das »weckende Licht« ist, als das ihn Brünnhilde preist, sondern erst durch die Erweckung der Natur sein eigenes Bewusstsein gewinnt, hat zur Konsequenz, dass er auf das Unbewusste angewiesen bleibt. Wie konfliktreich diese Beziehung ist, deutet sich im Streit zwischen dem Göttervater Wotan und Erda an, wo der Versuch einer Aneignung des verloren gegangenen Wissens scheitert und stattdessen die Unüberwindbarkeit des Gegen83

satzes zwischen naturhafter Notwendigkeit und individueller Freiheit betont wird. In diesem Sinne sind Wotan und Siegfried mythische und moderne Helden, unfrei und frei zugleich.

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Die Verheißung der Vergangenheit: Wagners mythisches Zeitbewusstsein

Am Ende des letzten Kapitels begann sich herauszukristallisieren, dass die ›Rückkehr zum Unbewussten‹ eines der zentralen Motive in Richard Wagners Musikdramen bildet. Isolde will das »träumende Meer«, das in ihrem Inneren schlummert, wieder wecken; Wotan reißt die Urmutter Erda aus dem Schlaf, um ihr Prophezeiungen zu entlocken; Siegfried versteht plötzlich die Sprache der Natur. Mit dieser Regression einher geht ein Zeitbewusstsein, das für die Romantik typisch ist. Wie das Werk Wagners sind die Texte dieser Epoche durchdrungen von einer Sehnsucht nach dem, was einmal gewesen ist. Weil sie die entzauberte Welt einer aufgeklärten und rationalisierten Moderne überwinden wollen, richten Wagner und die Romantiker ihren Blick zurück in die Vergangenheit. Es ist nicht der Blick des forschenden Historikers, sondern des Utopisten, der sich ferne und vergessene Orte erträumt, in denen der Mensch noch in Harmonie mit der Natur lebte oder die Religion einen Zusammenhalt stiftete, der der individualisierten Gesellschaft der Gegenwart verloren gegangen ist. Diese Orte heißen Griechenland, Atlantis oder das Mittelalter. Um dieses Zeitbewusstsein zu veranschaulichen und seine wichtigsten Aspekte zu beleuchten, soll zunächst ein Text ins Blickfeld rücken, in dem diese Verklärung der Vergangenheit deutlich wird. Die Rede ist von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Meister Martin der Küfner, die gleich mit ihrem ersten Satz die deutsche Renaissance in enthusiastischen Worten preist: Wohl mag Dir auch, geliebter Leser! das Herz aufgehen in ahnungsvoller Wehmut, wenn du über eine Stätte wandelst, wo die herrlichen Denkmäler altdeutscher Kunst, wie beredte Zeugen, den Glanz, den frommen Fleiß, die Wahrhaftigkeit einer schönen vergangenen Zeit verkünden. (SäW 4, 502)

Nürnberg und seine Blüte am Ende des 15. Jahrhunderts gehörten seit Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen zum Mythenrepertoire der Romantik. Der Beginn von Meister Martin – der zahlreiche Parallelen zum Dürer-Kapitel der Herzensergießungen aufweist – bildet da keine Ausnahme: Der Erzähler rühmt den »wundervollen Bau des Brunnens am Markte«, das »Sakramenthäuslein in St. Laurenz« und »Albrecht Dürers tiefsinnige Meisterwerke« (503). Waren die Romantiker also konservative Nostalgiker, die das Vergangene restaurieren wollten? So einfach ist es nicht. Hoffmanns Text zeigt, dass ihnen die Grenzen ihres Unternehmens sehr wohl bewusst waren: Das, was einmal war, kehrt nicht wieder. So äußert der Erzähler Zweifel, ob die Beschwörung einer unter85

gegangenen Epoche wirklich sinnvoll ist. Er beklagt, dass die Menschen, die das damalige Nürnberg bewohnten, nicht wiederkommen werden. Was »das ewig rollende Rad der Zeit fortriß« (502), ist unwiederbringlich verloren. Die Erinnerung an die glanzvolle Vergangenheit ist deshalb nur ein schöner Traum. Wer aus ihm erwacht, dem bleibt einzig eine »tiefe Sehnsucht« zurück, die mit »süßen Schauern« seine Brust durchbebt (ebd.). Vor allem aber zeigt der Text, warum die Romantik diesen sehnsüchtigen Blick in die Vergangenheit aufrechterhält: weil sich mit ihm die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbindet. Spricht der Erzähler nicht von einer »ahnungsvollen« Wehmut, die die Erinnerung an Nürnberg auslöse? So gelesen geht es nicht um die Wiederherstellung einer vergangenen Epoche, sondern um die bessere Welt, die sich in ihr erst ankündigt. Der »Glanz« und die »Wahrhaftigkeit«, die der Erzähler in Nürnberg entdeckt, wecken in ihm eine Sehnsucht, die zugleich eine Ahnung ist. In der Vergangenheit suchen die Romantiker nach dem Stoff, aus dem sich die Zukunft schaffen lässt. Sie nennen ihn ›Mythos‹. Er birgt einen unerfüllten Wunsch, eine Verheißung, die es zu verstehen gilt, um die Welt mit neuem, utopischem Zauber zu belegen. Die Ästhetik der Romantik ist deshalb weder eine der Restauration noch eine des ungebrochenen Fortschrittsoptimismus. Sie gründet vielmehr in der Annahme, dass der Schritt nach vorn ohne den Schritt zurück nicht denkbar wäre. Dabei erkannten Autoren wie Novalis und E.T.A. Hoffmann das psychologische Potential, das der Mythos in sich trägt. Auch dies zeigt sich in Meister Martin der Küfner. In einer der ersten Szenen dieser Novelle lädt Meister Martin den Ratsherren Jacobus Paumgartner in sein Haus ein. Um ihn zu bewirten, ruft er seine Tochter Rosa. Als diese den Raum betritt, friert der Erzähler die Handlung plötzlich ein und entwirft eine ausführliche Beschreibung von Rosas Gesichtszügen. Der Leser solle sich an die »Meisterwerke unseres großen Albrecht Dürers erinnern«, an dessen »Jungfrauengestalten voll hoher Anmut, voll süßer Milde und Frömmigkeit«. Und weiter: Denk’ an den edlen zarten Wuchs, an die schön gewölbte, lilienweiße Stirn, an das Inkarnat, das wie Rosenhauch die Wangen überfliegt, […] denk’ an alle Himmelsschönheit jener Jungfrauen und Du schauest die holde Rosa. (507f.)

An dieser Stelle wird Rosa vom Erzähler als Mutter Gottes typologisiert und damit in ein mythologisches Wissenssystems eingeordnet. Wie vielen anderen Frauengestalten Hoffmanns werden auch Rosa die ikonographischen Attribute mittelalterlicher Marienverehrung zugeschrieben: die Lilie und die Rose.1 Die Figur der Rosa wird verdoppelt; sie ist zum einen die Tochter Meister Martins, zum anderen

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Während die Rose seit dem Mittelalter ein typisches Attribut der Mutter Gottes ist (man denke an Beinamen wie ›Rose ohne Dornen‹ oder ›Die schönste Rose unter den Frauen‹), ist die Lilie traditionell als Symbol der Jungfräulichkeit mittelalterlichen Mariendarstellungen beigeordnet. Dies wird besonders aus den Annunziata-Darstellungen der Kunstgeschichte ersichtlich.

die heilige Maria. Diese Mythologisierung wird kurz darauf wiederholt. Als Rosa Paumgartners Hand zum Gruß an ihre Lippen drückt, färben sich die blassen Wangen des alten Herrn […] hochrot und wie der Abendschein im Versinken noch einmal aufflackernd das schwarze Laub plötzlich vergoldet, so blitzte das Feuer längst vergangener Jugend auf in seinen Augen. (508)

Begeistert lässt Paumgartner den Meister Martin wissen, dass »die schönste Himmelsgabe, die Euch der Herr beschert hat«, seine Tochter Rosa sei (ebd.). Nicht nur der Erzähler, sondern auch Paumgartner verklärt Rosa, indem er sie metaphorisch in den Himmel hebt. Dabei ist sein Entzücken sehr irdischer Natur, wie der Vergleich der sinkenden Abendsonne mit dem »Feuer längst vergangener Jugend« verrät. In Paumgartner erwacht das sexuelle Begehren seiner Jünglingsjahre und »vergoldet« sein Alter. Diese metaphorische Beschreibung von Paumgartners Innenleben reicht aber tiefer, in das Zeiterleben des Individuums. Es ist der Lichtstrahl der untergehenden Sonne, der zu Paumgartners Vision führt, seine Jugend ist zugleich die Lichtquelle, die die Projektion in die Zukunft ermöglicht. Diese Idee ist es, die das Modell romantischer Selbst- und Welterkennnung entscheidend bestimmt: Das gegenwärtige Ereignis ruft vergangene Sehnsüchte und Ahnungen hervor, die die Zukunft aufleuchten lassen. Das Objekt, auf den sich der Blick des Betrachters richtet – in diesem Fall Rosa –, wird auf eine andere Zeitebene gehoben, gleichsam mythologisiert. Die Gegenwart wird in diesem Wahrnehmungsakt zur Bühne eines Wechselspiels aus Vergangenheit und Zukunft. Das so konstituierte Bewusstsein ist aber zugleich ein tragisches: Die mythologischen Projektionen, die in Paumgartner aufsteigen, sind nicht nur verführerisch, sondern auch unerreichbar, wie die Bilder von der engelsgleichen Himmelsschönheit und dem Gold als Symbol der Vollendung ahnen lassen. In Wahrheit bleibt dem alten Herren in dieser Szene nichts als die wehmutsvolle Ahnung des fast erloschenen Feuers seiner Jünglingsjahre, nichts als die Verheißung der Vergangenheit. Diese Beschreibung von Subjektivität als einem gleichzeitigen Nicht-Mehr-Sein und Noch-Nicht-Sein-Können ist für die Romantik von zentraler Bedeutung. Und nicht nur für sie, sondern auch für Richard Wagner. Um diese These zu belegen, soll zunächst gezeigt werden, dass nicht nur die Naturphilosophie, sondern auch das Geschichtsverständnis der Romantik einem Dreischritt folgt: Auf das ursprüngliche Goldene Zeitalter folgt die als defi zitär erlebte Gegenwart, die nur durch ein erneutes (und erneuertes) Goldenes Zeitalter überwunden werden kann. Dieses triadische Modell ist es, was die formale Anlage von Wagners Musikdramen wesentlich bestimmt. In einem zweiten Schritt sollen dann auch seine ästhetischen Schriften auf dieses Modell hin untersucht werden, bevor sich das Kapitel der Frage zuwendet, wie sich die Mythos-Konzeption der Romantiker und Wagners von einer zunächst rein soziopolitischen und ästhetischen zu einer psychologischen Diagnose wandelt und damit zu einer der Grundlagen der Theorien Sigmund Freuds wird. 87

3.1.

Das triadische Modell des Mythos

3.1.1.

Wagners dramaturgischer Dreischritt

Die Analyse beginnt mit einer Beobachtung, die die formale Anlage von Richard Wagners Musikdramen betrifft: Das Bühnenbild oder die Ausgangssituation des Anfangs kehrt am Schluss wieder. So steigt Senta am Schluss des Holländers auf ein »vorstehendes Felsenriff«, von wo aus sie »dem absegelnden Holländer« nachruft und sich schließlich ins Meer stürzt (H, 55f.). Abgesehen von der Tatsache, dass bereits zu Beginn des ersten Aufzuges ein »steiles Felsenufer« (7) die Bühne bestimmte, gibt der dritte Akt die Handlung des ersten unter umgekehrten Vorzeichen wieder: Während das Schiff des Holländers im ersten Akt an der Küste anlegt, legt es im dritten Akt wieder ab. Eine ähnliche Wiederholungsstruktur ist im Tannhäuser zu beobachten, wo der Titelheld zu Beginn aus dem Venusberg flieht, um am Schluss wieder dorthin zurückzukehren. Und in der letzten Szene des Lohengrin macht Wagner die Wiederkehr des ersten Bühnenbildes sogar explizit: »Als der Vorhang in die Höhe gezogen wird, stellt die Bühne wieder die Aue am Ufer der Schelde, wie im ersten Aufzuge, dar.« (L, 66) Dort war Lohengrin auf die bittenden Rufe Elsas hin erschienen, und dort verlässt er die Brabanter wieder. Ähnliches geschieht am Ende des Rings, wo durch das mächtige Anschwellen des Rheines (G, 111) das Bühnenbild des Vorspiels zitiert wird. Das Gold, das zu Beginn der Natur entrissen wurde, wird ihr jetzt wieder zurückgegeben. In Wagners letztem Werk, Parsifal, wird dann das Prinzip einer iterativen Dramaturgie auf die Spitze getrieben – der dritte Akt wiederholt den ersten Akt bis ins Detail. Die Reihenfolge der Auftritte ist jeweils dieselbe: Zunächst sieht der Zuschauer Gurnemanz, dann Kundry und schließlich Parsifal. Im ersten Akt berichtet Gurnemanz, wie Titurel Kundry in einem »Waldgestrüpp« gefunden habe (P, 15), im dritten Akt wird er selbst sie dann hinter einer Dornenhecke finden (66). Zudem »besprengt« Kundry zu Beginn Parsifal mit Wasser (26), im dritten Akt tut es ihr Gurnemanz gleich (75). Auch die Orte wiederholen sich: Die Handlung spielt zunächst in der Natur, nahe der Gralsburg, zu der Gurnemanz und Parsifal dann schließlich aufbrechen, um am Gralsamt teilzunehmen. Etwas komplizierter liegen die Dinge in Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg. In beiden Musikdramen nimmt Wagner das Bühnenbild des ersten Aktes am Schluss nicht wieder auf.2 Dennoch entspricht in den Meistersingern die letzte Szene des dritten Aktes der Situation am Ende des ersten: Walther singt den Meistern vor. Darüber hinaus markieren die drei Akte einen Übergang vom Tag in die Nacht und wieder zum Tag: In keinem anderen Musikdrama Wagners bil-

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Der erste Akt des Tristan spielt auf dem Schiff, das Isolde nach Cornwall fährt, der dritte auf Tristans Burg Kareol. In den Meistersingern verlegt Wagner die Handlung des ersten Aktes zu Beginn ins Innere der Katharinenkirche, der dritte endet dann auf der Festwiese.

det sich die triadische Struktur derart präzis in der Dramaturgie des Zeitablaufes ab. Im Tristan hingegen sind, auch wenn sich dort nicht der Anfang im Schluss spiegelt, alle drei Akte nach dem gleichen Muster angelegt: Tristan und Isolde sind zunächst getrennt, finden zusammen, schließlich sucht Tristan den Tod – den er im dritten Akt dann auch findet.3 Durch diese Wiederholungsstruktur lädt Wagner eine dramaturgische Technik mit kultureller Bedeutung auf. 4 Denn in dem Dreischritt, den seine Musikdramen inszenieren, kristallisiert sich ein mythologisches Modell heraus, das triadisch angelegt ist und in der Romantik unter der Idee des ›Goldenen Zeitalters‹ kursiert: Dieses stellt eine ursprüngliche Einheit dar, während der sich Natur, Mensch und Gott in Harmonie befanden. Diese Einheit ist zerbrochen und muss deshalb in einem dritten Schritt, dem neuen Goldenen Zeitalter, wieder erreicht werden. Wagners Werke, so könnte man sagen, erzählen in verschiedenen Varianten von der Vertreibung aus dem Paradies und deren Folgen.5 Exemplarisch hierfür ist der Ring des Nibelungen, wo der Raub des Goldes durch Alberich eine Versehrung des Naturzustandes andeutet, die durch die Rückgabe des Goldes an die Rheintöchter am Schluss wieder geheilt werden soll. Diese These ist nicht neu. Bereits in den achtziger Jahren hat die Forschung6 die Mythos-Konzeption Wagners in diesem Sinne interpretiert. Als einflussreich

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Bereits am Ende des zweiten Aktes lässt sich Tristan in Melots Schwert fallen – ohne an dieser Wunde sofort zu sterben (TuI, 77). Eine Geste, die an die Entschlossenheit erinnert, mit der Tristan im ersten Akt den Todestrank zu sich nahm: »Vergessens güt’ger Trank! / Dich trink’ ich sonder Wank.« (38). Als dramaturgische Technik hat Carl Dahlhaus in seinem Buch Wagners Konzeption des musikalischen Dramas die triadische Struktur von Wagners Werken interpretiert. »Das triadische Schema ist aber nicht auf die Gliederung der Dramen in Akte beschränkt, sondern spiegelt sich gleichsam im Großen wie im Kleinen und greift einerseits auf die Zusammenfassung von Dramen zu einem Zyklus und andererseits auf die Unterteilung der Akte in Szenen über.« Auch er kommt zu dem Schluss, dass in Wagners Musikdramen »der dritte Akt dem ersten« entspricht, und zwar als »Wiederkehr, die zugleich eine Inversion bedeutet« Allerdings interessiert sich Dahlhaus ausschließlich für die dramaturgischen Hintergründe dieser Struktur, die für ihn eine vom Klassizismus herrührende geschlossene Form darstellt, mit deren Hilfe Wagner der Vielstoffigkeit seiner Musikdramen Herr werden wollte. Darüber hinaus würde durch die Analogisierung des ersten und dritten Aktes die Mitte der Dramen hervorgehoben. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 33–35. In seinem Buch Mythendämmerung spricht Manfred Frank deshalb in Bezug auf Wagner explizit von einem Modell der Buße: »Ödipus muss eine Tabuverletzung, Siegfried einen Eidbruch, Parsifal eine Verstocktheit des Herzens büßen, um der Gnade des Überirdischen wieder würdig zu werden.« Frank, Mythendämmerung, S. 10. Wagners Verhältnis zum Mythos gehört zu den meistuntersuchten Themen der Forschung. Ich stütze mich in meinem kurzen Abriss im Wesentlichen auf die ausführliche Darstellung bei Petra-Hildegard Wilberg, Richard Wagners mythische Welt, S. 59–63. Schon zu Wagners Lebzeiten bemühten sich Exegeten wie Franz Müller oder Hans von Wolzogen die Quellen des Ring des Nibelungen zu untersuchen und ihn so stoff-

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erwies sich dabei Kurt Hübners Buch Die Wahrheit des Mythos, in dem sich auch ein Kapitel über Wagner findet. Hübner geht davon aus, dass in Wagners Werk »zeitlich undatierbare, numinose Urereignisse« zur Darstellung gebracht würden, die er im Anschluss an die antike Philosophie »Archái« nennt.7 Diese Ereignisse seien als mythisch zu bezeichnen, weil sie sich in dem verstreuten Einzelnen widerspiegeln und immer dort identisch wiederkehren, wo Entsprechendes geschieht. Überall, wo der Mythos durch Machtgier miß-

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geschichtlich zu situieren. In neuerer Zeit zeugen u.a. die Arbeiten Peter Wapnewskis von diesem Bemühen (Wapnewski, Weißt Du wie das wird…?). Vgl. aber auch den Beitrag von Volker Mertens in Müller / Wapnewski (Hgg.), Richard-Wagner-Handbuch, S. 19–59 sowie den Sammelband von Müller / Panagl (Hgg.), Ring und Gral. Auch der Einfluss der antiken Mythen kam dabei nicht zu kurz. Dies zeigen die Interpretationen von Schadewaldt, Wagner und die Griechen sowie Müller, Richard Wagner und die Antike. Nach dem Zweiten Weltkrieg war jedoch auch die Tendenz zu beobachten, Wagner zu »entmythologisieren« und seine Musikdramen unter dem Einfluss von George Bernard Shaws The Perfect Wagnerite vor dem geschichtlichen Hintergrund des 19. Jahrhunderts zu deuten. Vgl. hierzu etwa Hans Mayer, Richard Wagner. Ihren berühmtesten szenischen Ausdruck fand diese Interpretationslinie in Patrice Chéreaus Bayreuther Inszenierung des Rings. Dieser Tendenz entgegen stehen die Analysen Kurt Hübners, Dieter Borchmeyers und Petra-Hildegard Wilbergs, die die Bedeutung des Mythos für Wagners Denken in den Vordergrund stellen. Zu einer differenzierten Haltung gelangt in diesem Zusammenhang Stefan Kunze, der zwar den Mythos bei Wagner als »Instrument des Antirationalismus« bezeichnet, aber auch darauf hinweist, dass er »von jeder Daseins- und Vorstellungsform, in der der Mythos Wirklichkeitscharakter besaß«, durch eine »unüberbrückbare Kluft« getrennt sei. Deshalb begreift Kunze Wagners Mythos als eine »artifizielle Setzung« (Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners, S. 182). Auch Udo Bermbachs Deutung des Mythos als Zivilreligion ist von einer Skepsis gegenüber den gesellschaftlichen Konsequenzen eines einseitig anti-aufklärerischen, metaphysischen Mythos-Begriffs geprägt. Vgl. hierzu Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 190–207. In der Musikwissenschaft wurde u.a. der strukturale Mythos-Begriff Claude Lévi-Strauss’ diskutiert. Dieser bezeichnete in seinem Buch Le cru et le cuit Wagner als »Le père irrécusable de l’analyse structurelle«. Claude Lévi-Strauss, Le cru et le cuit. Mythologiques 1, Paris 1964, S. 23. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser These siehe Carl Dahlhaus, Musik als strukturale Analyse des Mythos. Claude Lévi-Strauss und »Der Ring des Nibelungen«. In: Wege des Mythos in die Moderne. Richard Wagner und »Der Ring des Nibelungen«, hg. von Dieter Borchmeyer, München 1987, S. 65–74 sowie Reinhold Brinkmann, Mythos – Geschichte – Natur. Zeitkonstellationen im »Ring«. In: Richard Wagner. Von der Oper zum Musikdrama, hg. von Stefan Kunze, Bern, München 1978, S. 61–77. Zu einer musikwissenschaftlichen Interpretation, die den Mythos-Begriff Kurt Hübners stützt, gelangt Finscher in seinem bereits besprochenen Aufsatz »Mythos und musikalische Struktur«. Man könnte beim Begriff der Archái natürlich an Aristoteles’ Poetik denken, wo der Mythos als eine Erzählung definiert wird, die aus Anfang, Mitte und Ende (arché, peripéteia und lýsis) besteht. Vgl. Aristoteles, Poetik, hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994. Bei genauerem Hinsehen beruht die Hübnersche Theorie des Ur-Einen, das sich in der Vielheit spiegele, jedoch auf Platons Ideenlehre.

braucht wird (besonders in Staat und Gesellschaft), wirkt Wotans Verhängnis, überall wo Natur gnadenlos zerstört wird, wirkt der Fluch des Nibelungen […].8

Nun spricht Hübner dem Mythos nicht nur den formalen Aspekt der Wiederholung zu, sondern unterlegt ihm eine triadische Struktur: Er habe die Funktion, den Sündenfall der Welt durch die Wiederkehr des Numinosen zu heilen. Allerdings sieht Hübner dieses Modell nicht schon im Ring des Nibelungen vollendet, sondern begreift diesen nur als ein Zwischenglied innerhalb von Wagners Werk. Dieses deutet er als einen Dreischritt von der ursprünglichen Nacht (Tristan) zur Schuld (Ring) bis zur Wiederherstellung der Einheit (Parsifal ).9 Das Goldene Zeitalter, die Versöhnung des Menschen mit der Natur, kehre nicht bereits am Ende der Götterdämmerung, sondern erst im Parsifal, genauer: im »Karfreitagszauber und in der Wiederherstellung des Heiltums« zurück.10 Dieter Borchmeyer hat diese Theorie seines Lehrers Kurt Hübner weitergeführt und philologisch fundiert.11 Er nimmt dabei zum einen Wagners ästhetische Schriften in den Blick und bringt zum anderen Hübners Begriff der Archái mit anderen Mythos-Deutungen in Verbindung. Diese reichen von den primordialen Ereignissen des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade12 bis hin zu Thomas Manns Reflexionen über Wagners Begriff des Mythos.13 Auch Borchmeyer spricht in Bezug auf den Ring des Nibelungen von einer Wiederherstellung der ursprünglichen Harmonie mit der Natur: »In den Tiefen des Rheins herrscht noch das Goldene Zeitalter«, schreibt er, »das hier seinem Namen gemäß wirklich durch das Gold symbolisiert wird, das Gold, das noch nicht seiner mythischen Unschuld beraubt ist«.14 Deshalb werde am Ende der Götterdämmerung, als die Rheintöchter das Gold wieder zu sich nehmen, »die Welt in ihren paradiesischen Urzustand zurückgeführt«.15

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Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 400. Ebd., S. 397. Hübner sieht damit in der Götterdämmerung den Mythos untergehen. »Der Untergang der Götter« sei »zugleich derjenige eines alten ehrwürdigen Mythos«, bzw. »die Zerstörung des numinosen Bereiches« komme »aus dem Numinosen selbst« (ebd., S. 390f.). Wagner inszeniere also einen »Mythos vom Untergang des Mythos« (ebd., S. 386). Jedoch zielt Hübners Interpretation darauf, den Mythos nach seinem Untergang wieder auferstehen zu lassen. Das unterscheidet seine Interpretation von derjenigen Manfred Franks, der im Ring »die Abdankung des Mythos unter dem Schein der Mythologie« ausmacht. Frank, Mythendämmerung, S. 86. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 405. In Borchmeyers Buch Richard Wagner heißt es in explizitem Anschluss an die Thesen Hübners: »Eine Arché ist eine Urgeschichte, in der ein numinoses Wesen zum erstenmal eine bestimmte Handlung vollzieht, die sich seitdem identisch wiederholt.« Die »Urtypen« (Urkönigtum, Urheldentum, Urstadt), von denen Wagner in Die Wibelungen spreche, entsprächen »genau den von der Mythosforschung definierten ›numinosen Urtypen‹ (Kurt Hübner)«. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 281. Ebd., S. 278. Ebd., S. 283. Ebd., S. 285. Ebd., S. 304. Auch Klaus Kropfinger findet im Ring des Nibelungen die Idee des Gol-

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Hübners und Borchmeyers Analysen geben wichtige Hinweise auf Wagners mythisches Denken. Aber sie bedürfen in einigen Punkten einer Erweiterung. Zum einen sehen sie den Mythos vor allem im Ring des Nibelungen und Parsifal am Werk, die restlichen Musikdramen erscheinen ihnen in dieser Hinsicht weniger gehaltvoll.16 Und das, obwohl sich durchaus eine Kontinuität mythischen, das heißt: triadischen Denkens in Wagners Musikdramen erkennen lässt. Zum anderen kommt bei ihnen der Einfluss der romantischen ›Neuen Mythologie‹ zu kurz. Dieser ist aber vor allem deshalb von Bedeutung, weil er die Theorie der identischen Wiederkehr von numinosen Ursprungsereignissen als problematisch erscheinen lässt. Zudem übersehen Hübner und Borchmeyer die psychologische Dimension des mythischen Denkens bei Wagner: dass er nämlich wie vor ihm die Romantiker das Modell einer verlorenen Goldenen Zeit in das Innenleben seiner Figuren trägt. Er kennt nicht nur das kollektive, sondern auch das individuelle Unbewusste, die Sehnsucht nach der Kindheit. Zunächst zum ersten Punkt: der Kontinuität mythischen Denkens in Wagners Musikdramen. Wie jeder Versuch der Kategorisierung eines Werkes sieht sich diese Behauptung mit den Selbstdeutungen des Autors konfrontiert. Obwohl er sich bereits in Jugendjahren und während seines Aufenthaltes in Paris von 1839 bis 1842 intensiv mit der griechischen Antike beschäftigte,17 hat Wagner in seiner Autobiographie Mein Leben den Sommer 1847 als das Schlüsselereignis seiner Mythen-

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denen Zeitalters wieder. Indem die Rheintöchter das Gold zurückerhalten, werde die versehrte Natur »in des Wortes wahrster Bedeutung wieder ›ursprünglich‹. Damit ergibt sich – stark vereinfacht – ein Grundraster, das sich […] als die Folge von uralter goldner Zeit, deren Verlust durch Versehrung von Natur und Liebe und wiedergewonnener goldner Zeit erweist.« Klaus Kropfinger, Wagners triadische Zeitbeschwörung. In: Der Raum Bayreuth. Ein Auftrag aus der Zukunft, hg. von Wolfgang Storch, Frankfurt am Main 2002, S. 70–93, hier S. 85. Die Gegenposition zu dieser Deutung vertritt Udo Bermbach. Er hält die Idee, dass der Schluss des Rings eine ›restitutio in integrum‹ darstelle, für »nicht haltbar« und »inhaltlich abwegig«. Stattdessen hält er fest: »Nichts wird je wieder so sein, wie es einmal war. Die Rückkehr zur Politik und ihren Mitteln, die Zuhilfenahme ihrer Ordnungsmodelle und Ordnungsmöglichkeiten, der erneute Rückgriff auf die klassichen Mittel des bürgerlichen Staates und der bürgerlichen Gesellschaften erscheinen nach den gemachten Erfahrungen ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen ist allerdings das Entstehen einer ›ganz anderen Welt‹, der Aufschein einer nicht-politischen oder meta-politischen Utopie«. Bermbach, »Blühendes Leid«, S. 243f. Den Tristan bezieht Hübner zwar in seine Deutung mit ein, wertet ihn aber zugleich gegenüber dem Ring und Parsifal ab: »Die mythische Dichtung der Weltgeschichte durch Wagner liegt im ›Ring‹ und im ›Parsifal‹. Der ›Tristan‹ ist in diesem Zusammenhang nur insofern von Bedeutung, als er dem Natur- und Erdmutter-Mythos, um dessen Zerstörung ja alles kreist, die chtonisch-metaphysische Grundlage gibt (mythische Nacht).« (Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 401) Und Dieter Borchmeyer kommt zu dem Schluss, dass Wagner erst im Ring des Nibelungen den Mythos ästhetisch konsequent umgesetzt habe. Romantische Opern wie Lohengrin sind für ihn in dieser Hinsicht allenfalls eine Vorstufe. Vgl. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 207f. Müller / Wapnewski (Hgg.), Richard-Wagner-Handbuch, S. 8.

rezeption dargestellt. Dieter Borchmeyer spricht sogar von einem »griechischen Jahr«.18 Während der Komposition des Lohengrin las Wagner Aischylos und Platon, aber auch Jacob Grimms Deutsche Mythologie, Franz Josef Mones Untersuchungen zur Geschichte der teutschen Heldensage und die Edda. Wagner beschreibt diese Zeit im Rückblick als einschneidendes Bildungserlebnis. Aischylos habe er damals »zum ersten Male bei gereiftem Gefühle und Verstande« gelesen (ML, 356). »Meine Ideen über die Bedeutung des Dramas und namentlich auch des Theaters haben sich entscheidend aus diesen Eindrücken gestaltet«, heißt es, während erst durch die Lektüre der Wälsungasage »das bereits seit längerer Zeit in mir sich bildende Bewußtsein von der urheimischen Innigkeit dieser alten Sagenwelt […] die Kraft zu der plastischen Gestaltung, welche meine späteren Arbeiten leitete«, gewonnen habe (357). Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Wagner in Zukunftsmusik eine andere Darstellung gegeben hat. Dort lässt er seine Hinwendung zum mythischen Denken bereits mit Der fliegende Holländer einsetzen: »Mit diesem und allen folgenden Entwürfen wendete ich mich auch für die Wahl des Stoffes vom historischen Gebiete ein- für allemal zum Gebiete der Sage.«19 (SSD VII, 120) Einen auf den ersten Blick überzeugenden Lösungsvorschlag für diesen Widerspruch innerhalb der Selbstdeutungen Wagners bietet die Interpretation Dieter Borchmeyers. Er erkennt in den Vorgängerwerken des Rings noch Elemente des Historischen: Der Mythos verdränge die Historie in Wagners Werk nur »allmählich«, in den romantischen Opern werde diese zur Sage, »in der sich die Geschichte ins Gewand des Wunderbaren kleidete.«20 Doch die romantische Oper und ihre Melange aus Mythos und Geschichte sieht Borchmeyer mit dem Abschied Lohengrins »an ihr Ende gelangt.« Die Symbole des Horns, des Schwerts und des Rings, die Lohengrin dem zukünftigen Herzog Gottfried überreicht, seien »Zeichen des entschwundenen Numens«, eine »Reminiszenz an einen Weltzustand […], in dem das Heilige vom Profanen noch nicht geschieden war.« Daraus schließt Borchmeyer: »Die Entzauberung der Welt läßt es nicht mehr zu, das Mythische unmittelbar aus der historischen Wirklichkeit hervorgehen zu lassen. Der Neuansatz von Wagners Musikdramatik mit und im Ring des Nibelungen besteht nun darin, das Mythische in einer von der Geschichte abgelösten Kunstwelt zur Erscheinung zu bringen.«21 Ob die Kunstwelt von Wagners Tetralogie tatsächlich völlig von der Geschichte abgelöst ist, wie Borchmeyer glaubt, oder ob deren Handlung den Stoff der Ge-

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Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 76. Borchmeyer geht in diesem Zusammenhang auch auf die Rezeption der griechischen Klassik durch Wagner ein (ebd., S. 76–85). Ausführlich mit diesem Thema beschäftigt hat sich bereits zuvor Schadewaldt, Wagner und die Griechen. Diese letzte Deutung Wagners wurde dann auch von der Bayreuther Dogmatik übernommen, die die Vorgängeropern des Holländers aus ihrem Kanon ausschließt. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 235. Ebd., S. 207.

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schichte nicht einfach so geschickt verwebt, dass er dem Auge des Zuschauers fast unsichtbar bleibt, sei fürs erste dahingestellt. Die Auseinandersetzungen in dieser Frage, die in Patrice Chéreaus Bayreuther Ring-Inszenierung von 1976 ihren Höhepunkt fanden, können hier nicht diskutiert werden. Es gibt jedoch durchaus Argumente, die gegen Borchmeyers Interpretation sprechen: Zum einen wird Wagner seine Meistersinger, die ja bekanntlich nach der Konzeption des Rings entstehen, wieder in einen historischen Stoff kleiden. Und zum anderen sollte die Tatsache, dass sich der Mythos in den so genannten romantischen Opern mit dem Historischen vermischt, nicht darüber hinwegtäuschen, dass in allen diesen Bühnenwerken die Wiederkehr des Numinosen den dramaturgischen Zielpunkt bildet. Den Konventionen des Genres entsprechend kreist die Handlung um Geisterwesen: den Holländer, Venus und Lohengrin. Alle drei stehen in enger Verbindung zur Natur: Das Element des Holländers ist das Wasser, gleiches gilt für Lohengrin, der mit einem Nachen am Ufer Brabants ankommt. Venus’ Reich dagegen liegt im Inneren des Berges – der andere große romantische Topos einer mystifizierten Natur. Den Auf- bzw. Abtritten des Geisterwesens zu Anfang und Schluss des Werkes entspricht das ihm zugeordnete Bühnenbild. Im Holländer ist es das Meer, im Lohengrin der Fluss Schelde, und im Tannhäuser der Venusberg. Entscheidend für die mythologische Struktur von Wagners Werk ist nun, dass es eine Trennung zwischen der Welt des Numens und der des Menschen gibt. Der Versuch, diese Trennung aufzuheben, bildet den Zielpunkt der Handlung. Der Holländer sucht ein Weib, das ihn heiratet, um ihn von seinem Fluch zu erlösen. Tannhäuser ist zwischen zwei numinosen Symbolwelten hin- und hergerissen: Der heidnischen, wie sie Venus repräsentiert, und der christlichen, für die Elisabeth steht. Und Lohengrin ist wie der Holländer ein Geisterwesen, das seine Erlösung in der Heirat mit einer jungen, unbedingt treuen Frau sucht. Auch in den Bühnenbildern kommt diese Trennung zum Ausdruck: Während Wagner in den ersten und letzten Szenen seiner romantischen Opern das Reich der Natur evoziert, spielt die dazwischen liegende Handlung in kulturell determinierten Innenräumen, in Dalands Haus, der Burg von Antwerpen oder auf der Wartburg. Die jeweiligen Werkschlüsse lassen sich somit als eine Flucht aus der Kultur in die Natur deuten, eine Rückkehr zur Wiege der Menschheit. Es kann deshalb kein Zweifel daran bestehen, dass Der Ring des Nibelungen eine den romantischen Opern vergleichbare Anlage aufweist und seine Distanz zu diesen geringer ist, als Borchmeyer meint. Von hier aus führt eine Linie bis zu Parsifal, wo der Bezug auf das Heilige und Übersinnliche besonders intensiv ist. Allerdings ist es in diesem Musikdrama nicht die Natur, die mit dem Numinosen assoziiert wird, sondern das religiöse Kultobjekt des Grals. Er wird am Ende des ersten und letzten Aktes enthüllt, wobei die Gemeinde am Schluss des »Höchsten Heiles Wunder« (P, 83) preist, dem die Ritter teilhaftig werden dürfen. Die Wunde des Amfortas und seine Weigerung, das Gralsamt zu begehen, versinnbildlichen dabei die der Heilung vorausgehende Trennung des Menschen von Gott, deren Überwindung Wagner in seinem letzten Musikdrama zur Darstellung zu bringen versucht hat. 94

Weniger augenscheinlich ist dagegen die Bedeutung des Numinosen in Tristan und Isolde. Hier gibt es kein Geisterwesen, keinen Gral. Dennoch ist in diesem Werk das Metaphysische und Übersinnliche präsent, allerdings verlegt Wagner es in die Figurenrede und damit in die Reflexion. In ihren Worten beschwören Tristan und Isolde den Urgrund des Menschen. Im Liebesduett des zweiten Aktes übernehmen diese Rolle die »Ew’ge Nacht« (TuI, 67) und der mit ihr assoziierte »LiebesTod«: »In deinen Armen / dir geweiht / ur-heilig Erwarmen, / von Erwachens Not befreit.« (68) Der Tag dagegen und das in ihm liegende principium individuationis, also die Aufspaltung der Ur-Einheit in eine leidvoll erfahrene Zweiheit, werden von Tristan und Isolde mit einer »Trennungs-Klage« (68) bedacht. Das Ziel lautet auch im Tristan Wiedervereinigung mit dem Numen. Ihm wird, wie in Lohengrin 22 und im Ring, das Attribut des Goldes zugedacht: Isolde verlangt von Brangäne, den Todestrank in eine »goldne Schale« (TuI, 28) zu gießen. Der Verlust des numinosen Ursprungs und der Versuch, ihn wiederzugewinnen, bilden also den Grundgedanken der Musikdramen Richard Wagners. Diese lassen sich danach einteilen, ob die Wiederherstellung der Harmonie zwischen Mensch und Natur bzw. Mensch und Gott gelingt oder nicht. Als optimistische Spielarten des triadischen Modells können die Meistersinger und Parsifal gelten. Wenn Walther im dritten Akt der Meistersinger das wiedergewonnene Paradies besingt und Eva zur Frau erhält, oder am Schluss des Parsifal sich die Wunde des Sünders Amfortas schließt und sich eine »Glorienbeleuchtung« (P, 83) über die Gralsritter ergießt, dann scheint die restitutio in integrum tatsächlich zu gelingen. Demgegenüber bezeugen die drei romantischen Opern eher die Unvereinbarkeit des Numinosen mit der entzauberten Welt – hierin ist Borchmeyer zuzustimmen. Lohengrin verlässt am Schluss die irdischen Gefilde, Tannhäusers Rückkehr zu Venus scheitert, und der Holländer will mit seinem Geisterschiff wieder aufs Meer fliehen. Lohengrin ist dabei noch radikaler als die beiden Vorgängerwerke. Scheint dort noch die Erlösung des tragischen Helden – ähnlich wie im Tristan – wenigstens in einer jenseitigen Liebe möglich, ist Lohengrins Trennung von Elsa, die Scheidung des Menschen von der Transzendenz, endgültig und unumkehrbar. Dagegen geht in den Meistersingern der Optimismus so weit, eine Lösung aller Konflikte im Diesseits für möglich zu halten. Dabei wird sogar eine Vereinigung der christlichen und griechischen Kultur – »Parnaß und Paradies« – postuliert. Schwieriger verhält es sich mit dem Ring des Nibelungen. Es ist bekanntlich eine der größten Streitfragen der Wagner-Forschung, ob der Ring nun utopisch oder pessimistisch ende. Nachdem Brünnhilde den Rheintöchtern das Gold zurückgegeben hat, tritt der Rhein über die Ufer und Walhall beginnt zu brennen. Setzt der Schluss einen Weltenbrand ins Werk, der die menschliche Zivilisation in Schutt und Asche legt, oder deutet Wagner an, dass diese Zerstörung die Voraussetzung

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In Lohengrin wird der Titelheld als goldener, vollkommener Ritter beschrieben: »Ein golden Horn zur Hüften, / gelehnet auf sein Schwert« (L, 13) erscheint er Elsa im Traum.

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für den Aufbau einer neuen Welt ist? Nicht selten müssen Regisseure ihre Interpretation des Rings an dieser Frage messen lassen. Sie soll an dieser Stelle noch offen gelassen werden, festgehalten sei jedoch eines: Dass der letzte Schritt, die Wiederherstellung der ursprünglichen Harmonie, nicht in allen Werken Wagners gelingt, heißt nicht, dass das hier beschriebene triadische Modell nicht überall wirksam wäre. Man muss deshalb seinem Ursprung nachgehen. In der Kulturgeschichte Europas zeigt es sich am deutlichsten in der Idee des Goldenen Zeitalters, auf die sowohl Hübner als auch Borchmeyer in ihren Interpretationen zurückgreifen, ohne sie vollständig auszuleuchten. Es lohnt sich also, die Geschichte dieser Idee nachzuzeichnen, auch um besser zu verstehen, wie Wagner sie sich aneignet und was das Besondere seiner Rezeption ist. 3.1.2.

Die Idee des Goldenen Zeitalters in der Romantik

Da er mit der griechischen Literatur vertraut war, dürfte Wagner Hesiods Weltalter-Dichtung aus Werke und Tage gekannt haben, in der der Gedanke von einem Goldenen Zeitalter zum ersten Mal auftauchte.23 Doch Hesiod und die von ihm sich herleitende griechisch-antike Rezeption besangen das Goldene Zeitalter ausschließlich in der Vergangenheit. Die Idee, dass es auch in der Zukunft liegen könnte, wurde zum ersten Mal in der Hirtendichtung und in der auf Vergils Eklogen zurückgehenden Vorstellung arkadisch verklärter Landschaften deutlich. Die Erwartung eines kommenden Goldenen Zeitalters tritt auch in der Tradition des christlichen Chiliasmus zu Tage, der die Ankunft eines tausendjährigen Reiches unter der Herrschaft Christi propagiert. Jedoch ist anzunehmen, dass Wagners Rezeption in erster Linie von der Weiterentwicklung dieses Modells in der Moderne beeinflusst wurde. Für den deutschen Kulturraum waren hier zwei Werke maßgeblich: Lessings Erziehung des Menschengeschlechts (1780) und Schillers Ästhetische Briefe (1790). In beiden Schriften wird der negativ bewerteten Gegenwart ein in die ferne Vergangenheit und Zukunft projizierter Idealzustand der menschlichen Gesellschaft gegenübergestellt, wobei Schiller dem geschichtsphilosophischen Modell Lessings eine kunsttheoretische Wendung gibt. Die romantische Rezeption des Drei-Welten-Modells ist vor dem Hintergrund dieser Werke zu sehen.24 Entscheidend dabei ist, dass das Modell abstrakt genug war, um mit Vorstellungen ganz unterschiedlicher Herkunft versehen

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Vgl. zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen der Idee des Goldenen Zeitalters von der Antike bis zu Lessing die Arbeit von Hans Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965, S. 9–252. Konzis zusammengefasst finden sich die wesentlichen Ursprünge und Aspekte der romantischen Geschichtsphilosophie und der dafür zentralen Idee des Goldenen Zeitalters bei Detlef Kremer, Romantik. Lehrbuch Germanistik, 3. Aufl., Stuttgart, Weimar 2007 [2001], S. 74–80.

werden zu können. Schiller interpretiert die politischen Verhältnisse seiner Zeit als einen Zwangsstaat, dem er die griechisch-antike Polis auf der einen und den anzustrebenden ästhetischen Staat auf der anderen Seite gegenüberstellt. Und auch bei Schelling bleibt die griechische Polis das Ideal der Vergangenheit. Dieser Topos erfuhr dann in der Romantik mehrere Variationen. In Novalis’ »Europa«-Essai aus dem Jahr 1799 fungiert das Mittelalter als utopischer Ort, während Friedrich Schlegel in seiner Reise nach Frankreich (1803) Indien zum Urgrund der europäischen Kultur erklärt. Wenige Jahre später verlegte dann Schubert in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft das Goldene Zeitalter nach Atlantis. In diesem Buch findet sich die romantische Version des Drei-Welten-Modells beispielhaft formuliert. Am Ursprung der Menschheitsgeschichte habe ein »Urvolk« in einer »ersten heiligen Harmonie mit der Natur, ohne eignen Willen, erfüllt von dem göttlichen Instinkt der Weissagung und Dichtkunst« gelebt.25 Diese Epoche des »goldenen Zeitalters« sei von allen Völkern »als eine Zeit des seeligen Friedens, und paradiesischer Freuden« beschrieben worden. Doch mit dem Erwachen des menschlichen Willens sei das Band mit der Natur zerschnitten worden; der Mensch »versteht die Natur nicht mehr« und »die alte Weisheit, nur noch in der Asche glimmend«, sei »ihrem Untergange nahe.«26 Der Mensch sei damals »unbewußt in der Mitte jener höchsten Erkenntnisse und Kräfte gewesen, welche nun das spätere Geschlecht in hohem aber mühseligem Kampfe wieder erringen muß«.27 Neben diesen geschichtsteleologischen Entwürfen bestimmte das Schema von Paradies und Sündenfall auch die romantische Literatur.28 Inwieweit diese das Werk Wagners im Hinblick auf seine Konzeption des Goldenen Zeitalters beeinflusst haben könnte, hat Klaus Kropfinger in seinem Aufsatz Wagners triadische Zeitbeschwörung untersucht. Darin zitiert er aus den Tagebüchern Cosimas, 29 die nach der Lektüre von Shakespeares Der Sturm am 26. März 1882 notiert: Dann liest er mir, was Gonzalo beim Anblick der Insel vom Naturzustand sagt, worüber er von den seichten Fürsten gehänselt wird und gerade das sagt, was er, R., auch meint. (CT II, 917)

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Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 4. Ebd., S. 9. Ebd., S. 7f. Gerhard Neumann betont in diesem Zusammenhang, dass der »gründende Mythos« der romantischen Erzählsituation, »gleichsam ihr die Erzählstruktur aus sich heraustreibendes Organisationsmuster«, der »biblische Sündenfall in seinen verschiedenen Versionen« sei, »eingelagert in das Spannungsfeld zwischen christlichem Heilsmodell und aufklärerischem Fortschrittsoptimismus«. Gerhard Neumann, Romantisches Erzählen. Einleitung. In: Romantisches Erzählen, hg. von Gerhard Neumann, Würzburg 1995, S. 7–23, hier S. 16. Kropfinger, Wagners triadische Zeitbeschwörung, S. 77.

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Wie Kropfinger bemerkt, evoziert Gonzalo in dieser Passage die Idee des Goldenen Zeitalters,30 und es sei anzunehmen, dass sie es ist, auf die sich Wagners Zustimmung bezieht. Kropfinger sieht darin einen Hinweis auf die Bedeutung, »die dieses utopische Motiv für Wagner bereits früher und unter dem Einfluß der Frühromantik […] besaß.«31 Besonders Novalis und dessen Roman Heinrich von Ofterdingen hätten dabei eine Rolle gespielt.32 Dass die Idee des Goldenen Zeitalters in den Schriften des Novalis eine entscheidende Rolle spielt, ist bekannt.33 Die »Regeneration des Paradieses«, die er im Allgemeinen Brouillon beschwört,34 durchzieht als Idee nicht nur sein theoretisches,35 sondern auch sein episches Werk. Neben dem Heinrich von Ofterdingen kann man dabei an die Lehrlinge zu Sais denken: »Wie diese Wellen, lebten wir in der goldnen Zeit; in buntfarbigen Wolken, diesen schwimmenden Meeren und Urquellen des Lebendigen auf Erden […] und erst in jener großen Begebenheit, welche heilige Sagen die Sündflut nennen, ging diese

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»So ungemein wollt ich regieren, Herr, / Daß es die goldne Zeit verdunkeln sollte.« Vgl. William Shakespeare, Sämtliche Werke in drei Bänden. Nach der 3. Schlegel-Tieck-Gesamtausgabe von 1843/44, aus dem Englischen von A. W. Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin. München 1993, Bd. 1, S. 53. Kropfinger, Wagners triadische Zeitbeschwörung, S. 81f. Vgl. hierzu ebd., S. 83. Schon zu Beginn des Romans wird das Goldene Zeitalter evoziert: »Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Thiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten« (Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 195). Dieses Motiv wird dann mehrmals wieder aufgenommen. So sagt der Vater im Gespräch mit Heinrich über die biblischen Zeiten, dass in ihnen im Gegensatz zur Gegenwart »der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel« stattgefunden habe (ebd., S. 198). Auch die Kaufleute, die Heinrich zu Beginn seiner Reise trifft, sprechen über die »alten Zeiten«, wo »die Natur lebendiger und sinnvoller« gewesen sein muss »als heut zu Tage« (ebd., S. 210). Besonders deutlich wird der Einfluss des triadischen Geschichtsmodells aber in der AtlantisEpisode, wo der Jüngling die »Wiederkehr eines ewigen goldenen Zeitalters« besingt (ebd., S. 225). Die Episode folgt auch in ihrer formalen Anlage diesem Modell: Es wird eine ursprüngliche Harmonie entworfen, dann verlässt die Tochter das Elternhaus und kehrt schließlich mit einem Kind im Arm wieder. Offenbar plante Novalis, auch dem gesamten Roman diese Struktur zu geben. In seinem Bericht über die Fortsetzung des Romans wies Ludwig Tieck darauf hin, dass Heinrich am Schluss des Romans Mathilde samt Kind wiederfinden sollte: »Dieses Kind«, so Tieck, »ist die Urwelt, die goldne Zeit am Ende«. Novalis, Heinrich von Ofterdingen. Ein Roman, hg. von Wolfgang Frühwald, Stuttgart 2004, S. 187. Wolfgang Frühwald analysiert in dem Nachwort der von ihm herausgegebenen Ofterdingen-Edition deshalb richtig, dass »der ganze Roman […], wie seine einzelnen Teile, nach dem triadischen Grundschema der Drei-Zeitalter-Lehre angelegt« sei (ebd., S. 244). Vgl. hierzu die Studie von Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters. Auf sie beruft sich auch Kropfinger in seinem Aufsatz. Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 447. In diesem Zusammenhang lassen sich verschiedene Fragmente aus unterschiedlichen Schaffensperioden nennen, wobei Novalis abwechselnd vom »goldenen Zeitalter« oder vom »tausendjährigen Reich« spricht. Vgl. hierzu Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 269, 281, 288, 291 sowie Bd. 3, S. 63, 123, 421.

blühende Welt unter«.36 Genau wie im Ofterdingen spiegelt in den Lehrlingen ein in die Handlung eingelegtes Märchen das Drei-Welten-Modell: In diesem verlässt der Jüngling Hyazinth seine Heimat und das Mädchen Rosenblüte, findet beide aber am Schluss wieder.37 Neben Novalis war aber noch ein anderer Autor für die frühromantische Mythologie von großer Bedeutung: Friedrich Hölderlin, der seine triadisch strukturierte Geschichtsphilosophie in seiner Elegie Brot und Wein exemplarisch dargestellt hat.38 Bereits der Aufbau dieses Gedichts folgt einem Dreischritt: Die neun Strophen unterteilen sich in drei Gruppen von je drei Strophen. Dabei finden sich in jeder Strophe wiederum neun Distichen, die aus drei mal drei Distichon-Paaren zusammengesetzt sind.39 Die Elegie entwirft auf der Basis dieser Struktur eine TagNacht-Metaphorik, in der die Nacht die unerfüllte Zeit der Gegenwart, der Tag dagegen die Zeit geschichtlicher Vollendung in der griechischen Kultur bezeichnet. Dabei geht Hölderlin dialektisch vor: In der ersten Strophentrias schildert er die Nacht, in der zweiten die Erinnerung an den Tag und in der dritten abermals die Nacht. Diese erscheint nun aber als die Vorbereitung auf den künftigen, herannahenden Tag. 40 Das Problem ist nun aber, dass sich der direkte Einfluss Novalis’ und Hölderlins auf Wagner nur schwer nachweisen lässt. Was Novalis angeht, so sind seine Schriften weder in der Dresdener noch in der Bayreuther Bibliothek verzeichnet. Aus Cosimas Tagebüchern wissen wir einzig, dass Wagner im Frühjahr 1879 den Novalis-Essay von Thomas Carlyle »mit vielem Vergnügen« las. 41 Nicht viel anders verhält es sich mit Friedrich Hölderlin, dessen Werke Richard Wagner zu Weihnachten 1873 von Malwida von Meyenburg geschenkt bekommt. Als er daraufhin im Hyperion liest, erkennt er darin in erster Linie »Schwulst« und »unrichtige angehäufte Bilder«. Zu Cosima sagt er, er könne »nicht gut an solche Neugriechen glauben« (CT I, 768). 42 Doch auch wenn Richard Wagner die Frühromantiker 36 37

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Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 104f. Ebd., S. 91–95. Dass auch das Märchen Klingsohrs von der Idee einer Neuen Mythologie beeinflusst ist, zeigt der Aufsatz von Manfred Engel, »Neue Mythologie« in der deutschen und englischen Frühromantik. William Blakes »The Marriage of Heaven and Hell« und Novalis’ »Klingsohr-Märchen.« In: arcadia 26, H. 2, 1991, S. 225–245. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 285–291. Die Elegie wurde wahrscheinlich im Winter 1800/1801 vollendet. Eine Ausnahme bildet die siebte Strophe, die nur acht Distichen enthält. Dass dies auf einem Versehen beruht, hat Jochen Schmidt gezeigt, u.a. im Kommentar der hier verwendeten Ausgabe (ebd., S. 723). Vgl. zur Rolle dieses Gedichts im Kontext der Neuen Mythologie den Kommentar Jochen Schmidts (ebd., S. 722–749) sowie Young-Ki Lee, Friedrich Hölderlins Mythopoesie als Neue Mythologie, München 2007, S. 183–199 und Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, I. Teil, Frankfurt am Main 1982, S. 285–307. CT II, 332f., 352. Vgl. hierzu auch CT I, 780 sowie CT II, 73.

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Novalis und Hölderlin nur sehr spät und skeptisch rezipiert hat, so waren andere Autoren, die einen direkten Einfluss auf sein Werk ausgeübt haben, ebenfalls mit der triadisch angelegten Geschichtsphilosophie vertraut. Als Beispiel kann Heinrich von Kleist gelten, der sich wiederholt und sehr differenziert mit dem Topos von Paradies und Sündenfall auseinandersetzte. Dies zeigt sich in seinem Essai Über das Marionettentheater, aber auch in seinem Lustspiel Der zerbrochne Krug. 43 Dass er die Idee einer Wiederkehr des Anfangs auch dramaturgisch einzusetzen verstand, beweist sein letztes Drama, Prinz Friedrich von Homburg (1807). Dort findet sich am Schluss dasselbe Bühnenbild und dieselbe Tageszeit wie zu Beginn: »Schloß, mit der Rampe, die in den Garten hinabführt; wie im ersten Akt. – Es ist wieder Nacht.«44 Ähnlich wie im Ring des Nibelungen ist diese Wiederkehr aber höchst ambivalent: Während die überraschende Begnadigung des Prinzen und die abschließenden »Zum Sieg!«-Rufe der Soldaten auf eine optimistische Versöhnung individueller und gesellschaftlicher Interessen schließen lassen, werden Homburgs Zweifel an der Realität der Ereignisse durch Kottwitz bestätigt: Es sei »Ein Traum, was sonst?«45 Besonders lohnend ist der Blick in die Schriften des Novalis-Lesers E.T.A. Hoffmann, von denen zahlreiche nach dem strukturbildenden Merkmal des Goldenen Zeitalters angelegt sind. Dies gilt vor allem für die Märchen, deren triadische Struktur stark an Novalis’ Märchen von Hyazinth und Rosenblüte erinnert. Der Student Anselmus stößt zu Beginn von Der goldene Topf »in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen« (SäW 2/1, 229), worauf ihn das Weib, das die Äpfel feil bot, erbittert verflucht. Dieser symbolische Sündenfall deutet auf das Grundmuster des Märchens: Die Vertreibung aus dem paradiesischen Zustand des Goldenen Zeitalters und die Folgen für den Menschen. Wie in den Musikdramen Richard Wagners geht es im Goldenen Topf im Wesentlichen um die Frage, ob wir ins Paradies zurückfinden können. Anselmus wird immer wieder von den alten und vergessenen Urmächten des Goldenen Zeitalters eingeholt, das Hoffmann in der Nachfolge Schuberts in Atlantis verortet. Fantastische Wesen, denen das Merkmal des Goldes

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Zu Kleists Konzeption einer triadisch strukturierten Geschichtsphilosophie, besonders im Hinblick auf den Zerbrochnen Krug, vgl. den bereits zitierten Aufsatz von SchmitzEmans, Das Verschwinden der Bilder. Auf die Bedeutung des Mythos in Kleists Dramen verweist auch die Studie von Doris Claudia Borelbach, Mythos-Rezeption in Heinrich von Kleists Dramen, Würzburg 1998. Borelbach gelangt darin zu der Einschätzung, dass Kleist eine Mittelstellung zwischen Aufklärung und Romantik einnehme. Sein Werk, so Borelbach, »verweigert sich einer Apologie des Mythos offensichtlich nicht weniger als seiner rigorosen Verdammung im Zuge rationaler Kontrolle. Damit bezieht es eine doppelte Frontstellung gegen die aufklärerische These vom Mythos als Fabel und gegen Restitutionsversuche des Mythos, wie sie etwa die Frühromantiker oder das ›Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ vorschlagen.« (ebd., S. 12). Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 642. Ebd., S. 644.

zugeschrieben wird, 46 brechen in seinen bürgerlichen Alltag ein. Obwohl er fast dem Wahnsinn verfällt, entscheidet sich Anselmus am Schluss des Märchens für ein Leben »auf seinem Rittergute in Atlantis« (321), für die Rückkehr in die Urheimat des Menschen. Nach dem Vorbild des Goldenen Zeitalters ist auch das Märchen Nußknacker und Mausekönig angelegt. Pater Droßelmeier erzählt Marie zu Beginn »von einem schönen Garten […], darin ist ein großer See, auf dem schwimmen sehr herrliche Schwäne mit goldnen Halsbändern herum« (4, 242). Auch dieses Märchenreich kennt den Einbruch der Sünde. Noch in der Wiege liegend wird die Prinzessin Pirlipat aus Rache von Frau Mauserink verzaubert, »statt des weiß und roten goldgelockten Engelsköpfchens« sitzt ihr nun ein »unförmiger dicker Kopf« auf dem Körper (272). Erst als ihre Heilung gelingt, steht wieder »ein engelschönes Frauenbild da, das Gesicht wie von lilienweißen und rosaroten Seidenflocken gewebt, die Augen wie glänzende Azure, die vollen Locken wie von Goldfaden gekräuselt.« (279) Gleiches geschieht mit dem Nußknacker, einem verzauberten Jüngling, der durch Maries Liebe am Schluss des Märchens seine ursprüngliche Gestalt wiedergewinnt: »Wie Milch und Blut war sein Gesichtchen, er trug einen herrlichen roten Rock mit Gold, weißseidene Strümpfe und Schuhe« (304). 47 Diese mythologischen Strukturen reichen von den Märchen bis in die von historischen Schauplätzen geprägten Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. In Martin Meister der Küfner ist es die geheimnisvolle Prophezeiung der sterbenden Großmutter, die Martins Tochter Rosa verheißt, nur den Jüngling zu heiraten, der ein »Häuslein mit güldnem Prangen« (518) mit sich bringen wird. Tatsächlich wird sich diese Prophezeiung erfüllen, denn Friedrich, dem Martin die Hand seiner Tochter zunächst versagt, wird ein »trefflicher Goldschmidt« und »herrlicher Bildgießer« und bringt als solcher einen Pokal ins Haus, in dem Martin schließlich das prophezeite »Häuslein« wiederfindet (563f.). Bedenkt man, dass Hoffmanns Meister Martin genau wie Wagners Meistersinger nicht nur vom verklärenden Nürnberg-Bild der Romantik beeinflusst ist, sondern seinen mythologischen Gehalt auch im Motiv des Goldschmiedes versteckt, so muss es verwundern, dass die Forschung bisher nicht den engen Bezug zwischen diesen beiden Werken erkannt hat. Gleiches ließe sich über die Libretti der romantischen Oper sagen, die in einigen Fällen ebenfalls eine triadische Anlage aufweisen. Es ist anzunehmen, dass auch sie Wagners Ästhetik des Goldenen Zeitalters beeinflusst haben. Man weiß, dass er nicht nur ein großer Verehrer Carl Maria von Webers war, sondern auch

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Neben dem goldenen Topf als titelgebendem Motiv und den »in grünen Gold« erglänzenden »Schlänglein«, denen Anselmus zu Beginn begegnet (SäW 2/1, 234), spricht der Erzähler am Schluss auch von der Lilie, »die aus dem Golde, aus der Urkraft der Erde« entsprossen sei (320). Nach diesem Vorbild ist auch Das fremde Kind gebildet, dem die Kinder Felix und Christlieb in dem gleichnamigen Märchen im Wald begegnen. Auch ihm werden die Attribute des Goldes (SäW 4, 586, 590), der Lilie und der Rose (589) zugesprochen.

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während seiner Arbeit in Würzburg, Magdeburg und Riga romantische Opern anderer Komponisten einstudierte. 48 Deshalb ist es verwunderlich, dass sie in den literatur- und musikwissenschaftlichen Untersuchungen zu Wagner zu oft außer Acht gelassen werden. Bekanntlich spielt bereits Webers Der Freischütz mit einer Wiederholungsstruktur: Am Schluss kehrt die Anfangsszene wieder, nämlich die Bewährung des Schützen vor versammeltem Volk. Die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft erinnert dabei stark an Wagners Meistersinger. Anders als dort wird bei Weber allerdings der exponierte Konflikt am Schluss durch den unerwarteten (und auch unmotiviert scheinenden) Eingriff des Numinosen gelöst: Samiel tötet Kaspar und der Eremit rettet Max vor der Bestrafung durch den Fürsten. 49 Auch in Heinrich Marschners Der Vampyr wird am Schluss die Exposition wiederholt. Hier sind es die Auftritte des Vampyrmeisters am Anfang und am Ende der Oper, die für die genretypische Aura des Übersinnlichen sorgen. Gewährt der Vampyrmeister dem Lord Ruthwen zu Beginn noch eine Gnadenfrist, zieht er ihn am Schluss schließlich endgültig mit sich in die Tiefe.50 Besonders nah an den dramaturgischen Strukturen der Wagnerschen Werke sind aber Marschners Hans Heiling und Vincenzo Bellinis Norma. In beiden Opern ist mit dem Auftritt des numinosen Elementes zu Beginn ein Bühnenbild verknüpft, das am Schluss wiederkehrt. In Hans Heiling erscheint das »diamantschimmernde Felsenkönigreich« des Vorspiels wieder, in dem die Königin der Erdgeister thront.51 Dorthin kehrt Heiling nach seinem Ausflug in die Menschenwelt zurück. Und in Norma sieht der Zuschauer zu Beginn und zum Schluss den Hain der Göttin Irminsul, in dem neben der heiligen Eiche ein Druidenstein als Altar dient. Hier vollzieht Norma im ersten Akt ihr Amt als Priesterin und hier wird sie am Schluss auf dem Scheiterhaufen sterben.52

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Heinrich Maschners Der Vampyr wurde bereits in Wagners Jugendjahren am 29. März 1828 am Leipziger Schauspielhaus uraufgeführt. Hans Heiling kannte Wagner aus seiner Zeit als Chordirektor in Würzburg (s. 2.1.1.). Spohrs Jessonda und Bellinis Norma standen am Beginn von Wagners zweiter Magdeburger Spielzeit im Jahr 1835 auf dem Programm. Vgl. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 113. Norma war auch eine der ersten Opern, die Wagner in Riga einstudierte (ebd., S. 125). Vgl. Carl Maria von Weber, Der Freischütz. Romantische Oper in drei Aufzügen, Leipzig [o. J.]. Heinrich Marschner, Der Vampyr. Romantische Oper in zwei Aufzügen, Leipzig 1828. Marschner, Hans Heiling (1895), S. 98. Vgl. Vincenzo Bellini, Norma. Tragedia lirica in due atti, Milano 1964.

3.2.

Die Zürcher Kunstschriften und die Dialektik der ›Neuen Mythologie‹

3.2.1.

Elemente romantischer Mythologie in den Kunstschriften

An die Erkenntnis, dass Richard Wagners Musikdramen einer triadischen Struktur folgen, knüpft sich die folgende Frage an: Handelt es sich bei der Idee einer Wiederkehr des Goldenen Zeitalters tatsächlich um eine identische Wiederholung des Gewesenen? Oder steht das ›neue‹ Goldene Zeitalter auf einer höheren ontologischen Stufe, die gemäß den idealistischen Vorgaben des beginnenden 19. Jahrhunderts Reflexion und Unbewusstes, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit, Subjektivität und Objektivität miteinander zu versöhnen trachtet? Diese Frage führt von der Philologie in die Philosophie. Man muss, um sie zu beantworten, einen Umweg über Wagners ›Zürcher Kunstschriften‹ machen. Diese enthalten eine so ausführliche wie grundlegende Auseinandersetzung mit dem triadischen Modell, dass Wagners Mythos-Begriff ohne sie nicht verstanden werden kann. Genau mit der Auflösung des athenischen Staates hängt der Verfall der Tragödie zusammen. Wie sich der Gemeingeist in tausend egoistische Richtungen zersplitterte, löste sich auch das große Gesammtkunstwerk der Tragödie in die einzelnen, ihm inbegriffenen Kunstbestandtheile auf […]. (SSD III, 12)

Einheit vs. Zersplitterung – das ist eine der zentralen Dichotomien, um die Wagners ästhetische Theorien der Zürcher Jahre kreisen. Wie das Zitat aus Die Kunst und die Revolution (1849) zeigt, sieht Wagner in der attischen Tragödie eine ursprüngliche Harmonie der menschlichen Gesellschaft, die jedoch verloren gegangen sei. Stattdessen habe die Philosophie die Kunst abgelöst, die Menschheit sei in »die Nacht des unbefriedigten Denkens, des grübelnden Wahnsinns« (13) eingetreten, dem »verwilderten, an sich irren und zersplitterten Geiste« (29) sei die Tiefe der griechischen Kunst unverständlich geworden. Gleichwohl habe sich ein Bewusstsein der schmerzlichen Trennung erhalten, wie eine Stelle des im selben Jahr entstandenen53 Dramenentwurfs »Jesus von Nazareth« zeigt: Der Stand der Unschuld konnte den Menschen nicht eher zum Bewußtsein kommen, als bis sie ihn verloren hatten. Dieß Zurücksehnen nach ihm, das Ringen nach seiner Wiedererlangung ist die Seele aller Civilisationsbewegung, seitdem wir die Menschen aus der Sage und Geschichte kennen. (XI, 305)

Wie Wagner seinen eigenen Beitrag in der Geschichte der Zivilisation definierte, ist bekannt: Nur das »Kunstwerk« bzw. »Drama der Zukunft«, das er in den folgenden Schriften zum Ziel seiner Reform des Musiktheaters ausrief, könne die

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Zur Bedeutung von Jesus von Nazareth im Kontext der Revolutionsschriften vgl. Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 317–336 sowie Bernd Zegowitz, Richard Wagners unvertonte Opern, Frankfurt am Main, Berlin, Bern u.a. 2000, S. 192–195.

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Wiedererlangung verloren gegangener Kräfte garantieren. »Das Kunstwesen der Gegenwart«, schreibt er, zeichne sich durch die »Zersplitterung« der Kunstarten aus. »Stärken wir unseren Blick zu dieser Prüfung an der Kunst der Hellenen, und führen wir dann kühn und gläubig den Schluß auf das große, allgemeine Kunstwerk der Zukunft!« (III, 63) Der diesem Gedankengang implizite Dreischritt ist offensichtlich: Da sich die moderne Zivilisation durch Zersplitterung, Trennung und Verlust auszeichnet, hilft nur der Blick zurück in die zu vollendeter Harmonie verklärte Vergangenheit. Aus ihr soll das Wissen gewonnen werden, mit dem die Wunden, die die Moderne der Kultur geschlagen hat, in der Zukunft geschlossen werden können. Und auch das hierfür notwendige Heilmittel glaubt Wagner gefunden zu haben: die Kunst. Dieser fällt damit in seiner Ästhetik eine Aufgabe zu, die ihr bereits die Romantiker zugeteilt haben: Antidot zu sein gegen die Entzauberung einer rational strukturierten Gesellschaft. Hier wies ein kurzer Text den Weg, der heute unter dem Namen »Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus« firmiert.54 Diese Skizze, die in einer Handschrift Hegels erhalten ist, wurde erst sehr spät entdeckt und 1917 zum ersten Mal gedruckt. Auch wenn damit ausgeschlossen ist, dass Wagner sie gekannt hat, ist sie doch im Hinblick auf die romantische Theoriebildung äußerst aufschlussreich. In ihr findet sich zum ersten Mal die Rede von einer ›Neuen Mythologie‹: »Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben«.55 Mit ihr verbindet sich die Hoffnung auf eine »neue Religion«, die zugleich eine »sinnliche« sein soll und derer der »große Haufen« genauso bedürfe wie der »Philosoph«.56

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel / Friedrich Hölderlin / Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus. In: Theorie der Romantik, hg. von Herbert Uerlings, Stuttgart 2000, S. 54–56. Ihren Titel erhielt dieser vermutlich 1797 entstandene Text von der Nachwelt. Auf wen der Text letztlich zurückgeht, ist bis heute ungeklärt. Die Autorschaft wurde neben Hegel auch Hölderlin und Schelling zugesprochen. Selbst eine Gemeinschaftsproduktion wurde nicht ausgeschlossen. Hegel et al., Ältestes Systemprogramm, S. 55f. Auch Friedrich Schlegel verwendet den Begriff der Neuen Mythologie in seiner Rede über die Mythologie (1800). Zum romantischen Projekt einer Neuen Mythologie ist die bereits zitierte Studie Der kommende Gott von Manfred Frank grundlegend. Mit den aufklärerischen Wurzeln der Neuen Mythologie beschäftigt sich der Aufsatz von Manfred Engel, Träume und Feste der Vernunft. Zur Vorgeschichte des romantischen Projekts einer »Neuen Mythologie« in der Aufklärung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36, 1992, S. 47–83. An die Arbeiten Manfred Franks und Manfred Engels anknüpfend, setzt sich Young-Ki Lee mit der Neuen Mythologie im Werk Friedrich Hölderlins auseinander. Darin gibt sie auch einen ideengeschichtlichen Abriss des Mythenverständnisses der Goethezeit und zeichnet den Weg nach, der über Winckelmann, Herder und Moritz zum Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus und Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie führt. Lee, Friedrich Hölderlins Mythopoesie, S. 14–98. Hegel et al., Ältestes Systemprogramm, S. 55f. In der Formulierung vom großen »Haufen« liege nichts Abschätziges, betont Manfred Frank. Vielmehr denke der Verfasser

Erst wenn dies gelinge, »herrscht ewige Einheit unter uns.«57 Deshalb müsse auch die Poesie »am Ende« wieder das werden, »was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit«. »Denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.«58 Die kunstphilosophischen Theorien Tiecks, Wackenroders, Schlegels und Novalis’ basieren allesamt auf diesen Gedanken. Gleiches gilt auch für Richard Wagner, dessen Idee, dass der Mythos »die gemeinsame Dichtungskraft des Volkes« (OuD, 161) erfasse und deshalb als »das Gedicht einer gemeinsamen Lebensanschauung« (164) zu bezeichnen sei, sich ohne den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Neuen Mythologie nicht richtig erfassen lässt. Auch Wagner hoffte, so eine »neue Religion« schaffen zu können – unter der Voraussetzung, dass »die herrschende Religion des Egoismus« erst einmal »ausgerottet« sei (III, 123). Wagner war auch nicht der erste, der den zivilisatorischen Fortschritt mit einer Reform der Oper zu verbinden suchte. Bereits im Dezember 1813 erschien in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung ein Aufsatz, der ihm die Richtung wies: E.T.A. Hoffmanns Der Dichter und der Komponist. Die Bedeutung dieser Abhandlung für Wagner ist zum einen in der Tatsache begründet, dass sie wesentliche Momente seiner Ästhetik vorwegnimmt: Die Tonkunst eröffne da, »wo die arme Rede versiegt, erst eine unerschöpfliche Quelle der Ausdrucksmittel« (SäW 4, 115f.). Deshalb müsse »die Sprache höher potenziert« werden, »Musik, Gesang« sein (104). »Wurden, beiläufig gesagt, nicht schon die antiken Tragödien musikalisch deklamiert?« (110) Die Verbindung dieser Überlegungen zu Wagners Stabreimtheorie und seiner Antikenrezeption ist offensichtlich. Doch sollte man die theoretischen Ideen des Textes nicht von seiner poetischen Form trennen. Hoffmann hat seine Überlegungen zur Intermedialität der Oper nicht ohne Grund als Dialog gestaltet und in eine Rahmenhandlung eingefügt, ohne die die ästhetischen Reflexionen unverständlich bleiben müssen: Der Komponist Ludwig und der Dichter Ferdinand treffen sich nach langer Zeit mitten im Kriegsgetümmel wieder. Beide waren früher enge Freunde, Ludwig erinnert sich an die »glückselige Jugendzeit, die er mit dem

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des Systemprogramms hier an einen Anfang, in dem »Dichtung zugleich Mythos (und Gottesdienst) und Mythos zugleich Dichtung war, also nicht von einem isolierten Individuum herrührte und nicht nur zu einem privaten Individuum, sondern als ›sinnliche Religion‹ zum ›großen Haufen‹ sprach.« (Frank, Der kommende Gott, S. 185) Die Idee der ›wahren Kirche‹ findet sich bereits in Friedrich Schleiermachers Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum. Und in seinem Europa-Essai (1799) schreibt Novalis: »Soll der Protestantismus nicht endlich aufhören und einer neuen, dauerhafteren Kirche Platz machen?« (Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 524) Die Verbindung dieses Motivs zur Kunst zieht Novalis in den Blütenstaub-Fragmenten: »Der Priester muß uns nicht irre machen. Dichter und Priester waren im Anfang Eins – und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben«. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 444–446. Hegel et al., Ältestes Systemprogramm, S. 56. Ebd., S. 55.

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gemütlichen Ferdinand verlebt« (97). Dass Hoffmann hier einen »Augenblick des Wiederfindens« (ebd.) inszeniert, ist für das Verständnis des Textes von entscheidender Bedeutung. Als beide miteinander essen, erfüllte sie froher Mut und Sinn, die alte, herrliche Zeit umfing sie mit allen ihren bunten Farben und Lichtern, und alle jene holdseligen Erscheinungen, die ihr vereintes Kunststreben wie mit mächtigem Zauber hervorgerufen, kamen wieder in herrlichem Glanze erneuter Jugend. (98)

Ferdinand schwärmt von den »früheren, goldnen Tagen unsers Zusammenseins« (110), während Ludwig deren Verlust beklagt. Dies will Ferdinand jedoch nicht akzeptieren, er glaubt an die Heraufkunft einer neuen Zeit: »Die Morgenröte bricht an […]. Die goldnen Tore sind geöffnet und in Einem Strahl entzünden Wissenschaft und Kunst das heilige Streben, das die Menschen zu einer Kirche vereinigt.« (118) Die Trias aus Einheit, Trennung und Wiedervereinigung ist hier eine zweifache: Zum einen führt der Text das »Wiederfinden« von Dichter und Komponist, Wort und Ton vor, zum anderen weitet er dieses Ereignis aber in eine gesellschaftliche, ja sogar religiöse Dimension. Der Dichter und der Komponist stellt eine besondere Spielart der romantischen Kunsttheorie dar, weil er die Oper als die Kunstgattung herausstellt, die die Idee eines neuen Goldenen Zeitalters am besten verwirklichen könne. »In jenem ferne Reiche«, so Ludwig, in dem »wir der Seligkeit jenes Paradieses teilhaftig werden – da sind Dichter und Musiker die innigst verwandten Glieder einer Kirche: denn das Geheimnis des Worts und des Tons ist ein und dasselbe, das ihnen die höchste Weihe erschlossen.« (102) Wagners und Hoffmanns Theorien des Musiktheaters praktizieren also eine Engführung von Kunst, Religion, Mythologie und politischer Utopie, die für die Romantik typisch war. Dies wird in den Zürcher Kunstschriften anhand eines weiteren Begriffspaares deutlich, das ebenfalls der Neuen Mythologie entlehnt ist. Die Rede ist von Wagners konsequenter Entgegensetzung von Mechanismus und Organismus. 59 Es gehe darum, heißt es in Oper und Drama, die Gesellschaft im Hinblick auf die Bedürfnisse des Individuums zu »organisieren«, wobei Wagner betont, dass dieser Ausdruck »nicht ein mechanisches Arrangieren von oben herab«, sondern »ein Entstehenlassen aus der Wurzel« bedeute (OuD, 202). Hier klingt nicht nur die romantische Naturphilosophie an, sondern wiederum das Älteste Systemprogramm. Dieses will zeigen, »daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee.«60 Und »die Idee, die alle vereinigt«, sei

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Diese übersieht Manfred Frank in seiner Untersuchung der Neuen Mythologie im Werk Richard Wagners, da er sich zu sehr auf die gemeinschaftsstiftende Rolle des Mythos konzentriert. Vgl. Frank, Mythendämmerung, S. 31–36. Dennoch kommt ihm das Verdienst zu, als erster die Bedeutung der Neuen Mythologie für Wagner schlüssig herausgestellt zu haben. Hegel et al., Ältestes Systemprogramm, S. 54.

»die Idee der Schönheit«.61 Wie Manfred Frank gezeigt hat,62 ist der hier verwendete Begriff der »Idee« und die damit verbundene Kritik am Maschinen-Staat vor dem Hintergrund von Kants Definition des Organismus zu lesen. In der Kritik der Urteilskraft greift Kant auf das Beispiel eines Baumes zurück, der, den Gesetzen der Natur gemäß, nicht nur einen anderen Baum erzeugt, sondern einen von derselben Gattung. Er ist somit zugleich Ursache und Wirkung seiner Existenz, die sich deshalb nicht aus einem bloß mechanischen Kausalitätsprinzip erklären lässt. Ein Naturprodukt ist, wie Kant schreibt, ein »organisirtes Wesen«, das, anders als eine Maschine, eine »bildende Kraft« enthält, die dem Mechanismus die Richtung seiner Bewegung vorgibt.63 Genau diese Rolle spielt im »Systemprogramm« – auf die Ebene der Gesellschaft übertragen – der Mythos. Er stiftet Zusammenhalt und Sinn dort, wo die rational konstruierten Mechanismen des modernen Staates sich selbst überlassen sind. Wagners Kunstschriften übertragen diesen Gedanken auf das Musiktheater. Das »Erfinden der Mode« unterscheidet sich als »Mechanisches« ebenso vom »Künstlerischen« (III, 58) wie die modernen »Opernapparate« (OuD, 44) vom Drama, das »den Organismus der Menschheit« aufdecke (180) und selbst »ein immer neuer und neu sich gestaltender Leib« sei (356). Das »gesungene Couplet« der französischen Oper vergleicht Wagner mit dem »prosaischen Klippklapp der Mühle« und spottet über die »ekelhaft wohlbekannten Vaudeville-Maschinen-Fabrikate« (58). Der moderne Musiker verlange vom Dichter nicht den Menschen, »sondern vom Mechaniker den Gliedermann, den er mit seinen Gewändern nach Belieben drapierte«, ohne jedoch »das warme Pulsieren des menschlichen Leibes an dem Gliedermann« darstellen zu können (67).64 Wagners Furcht vor einem als kalt empfundenen, keiner organisch wirkenden Idee mehr unterstellten Maschinenwesen65 folgt den romantischen Vorgaben bis in die Bildsprache. In seinem »Europa«-Essai aus dem Jahr 1799 schreibt Novalis, die Aufklärung habe »die unendliche schöp-

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Ebd., S. 55. Vgl. hierzu Frank, Der kommende Gott, S. 157–170. Immanuel Kant, Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902ff., Bd. 5, S. 374. Natürlich darf man diese Metaphern nicht mit Wagners tatsächlicher Kompositionstechnik verwechseln. Reinhard Wiesend hat detailliert gezeigt, wie Wagner peinlich darauf bedacht war, jeglichen Eindruck eines mechanisch-technischen Schaffensprozesses zu »verwischen«, um den Eindruck eines organischen Wachsens zu erzeugen. Wiesend betont deshalb, dass Wagner vom Kunstbegriff Kants eine »tiefe Kluft« trenne (Wiesend, Die Entstehung des »Rheingold«-Vorspiels, S. 142). Dennoch stellt sich die Frage, ob die Bilder, in die Wagner in seinen Zürcher Kunstschriften die Beschreibung seines Schaffensprozesses kleidet, nicht über diesen selbst hinaus auf andere Aspekte seines Werkes verweisen. Fragwürdig ist deshalb das Urteil Thomas Manns, der in Leiden und Größe Richard Wagners den theoretischen Schriften Wagners eine »schlimm mechanistische Denkungsweise« unterstellt. Vaget, Im Schatten Wagners, S. 97.

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ferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle« gemacht, »die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle« sei.66 Und in den Schriften E.T.A. Hoffmanns findet sich Wagners Warnung vor dem mechanischen »Gliedermann« bereits formuliert. In dem Märchen Nußknacker und Mäusekönig wird die schöne Prinzessin Pirlipat, genauso wie der Jüngling, von den bösen Mächten in einen Nußknacker verwandelt, dessen Hände und Füße abgeschraubt und dessen »innere Struktur« mit dem kalten Blick des Wissenschaftlers analytisch betrachtet werden kann (SäW 4, 272f.). Erst am Schluss, mit der Vertreibung der bösen Mächte und der Rückkehr des Goldenen Zeitalters, gewinnen beide Märchengestalten ihren natürlichen Leib, ihre organische Form wieder. 3.2.2. Phantasie als Synthese Die Neue Mythologie der Romantik, deren Einfluss auf Wagners Zürcher Kunstschriften deutlich geworden sein sollte, gibt Aufschluss auf die eingangs gestellte Frage, ob es sich bei der Rückkehr des Mythos um die identische Wiederholung eines numinosen Urereignisses handele. Dies behaupten, wie der erste Abschnitt dieses Kapitels gezeigt hat, Kurt Hübner und Dieter Borchmeyer.67 Sie berufen sich dabei auf zwei unterschiedliche philosophische Referenzen. Zum einen evoziert der Begriff der Archái, »die sich in dem verstreuten Einzelnen widerspiegeln und immer dort identisch wiederkehren, wo Entsprechendes geschieht«,68 die platonische Ideenlehre. Zum anderen nennen Hübner und Borchmeyer Schellings Philosophie der Mythologie als Bezugspunkt, besonders die darin enthaltene Definition, dass die Mythologie »tautegorisch« und nicht »allegorisch« sei.69 Schelling schreibt, der Mythologie seien die Götter »wirklich existierende Wesen, die nicht etwas anderes sind, etwas anderes bedeuten, sondern nur das bedeuten, was sie sind« (S II/1, 196).

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Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 515. Man könnte dabei statt von einer identischen Wiederkehr numinoser Urereignisse auch schlichter von einer »Wiederholung von Grundmustern« sprechen. Diesen Weg beschreiten Aleida und Jan Assman in ihrer Darstellung des Mythos-Begriffs. »Solche Muster erschließen im Kampf gegen die auf Vergehen und Vergessen gerichtete Zeit die Chance einer unerschöpflichen Wiederkehr des Gleichen.« Aleida Assmann / Jan Assmann, Mythos. In: Kultbild und Rolle. Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 4, hg. von Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Karl-Heinz Kohl, Stuttgart 1998, S. 179–200, hier S. 192. Dies berge aber eine Gefahr: »Wären sie gänzlich gegen historische Entwicklungsschübe gefeit, müßten solche Paradigmatisierungen in eine Kanonisierung der Wirklichkeit münden, die jegliche Innovation verhindert.« (ebd., S. 193). Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 400. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 288f. Auch Kurt Hübner greift in seiner Wagner-Interpretation auf dieses Begriffspaar zurück. Vgl. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 397.

Dasselbe, so Dieter Borchmeyer, gelte auch für Richard Wagner. Für ihn sei der Mythos keine »Allegorie der sozialen Verhältnisse der Moderne«, vielmehr seien diese umgekehrt »Reaktualisierungen« der »Ursprungsgeschichten« des Mythos. In ihrem Licht werde »das historisch Einmalige zum Wiederholungsphänomen.«70 Die Zeitstruktur des Mythos sei deshalb »die Zirkularität der ewigen Wiederkehr«.71 Die ästhetischen Konsequenzen von Borchmeyers These ließen sich wie folgt illustrieren: Wenn ein Regisseur den Gott Wotan nicht mit einem Speer, sondern mit Aktentasche und Laptop auf die Bühne stellt, hat er Wagner nicht verstanden, weil er das Symbol des Speeres umdeutet und damit seinen zeitlos-mythischen Gehalt auf dem Altar des Regietheaters opfert. Denn tautegorisch gesehen ist der Speer das Symbol der Macht und muss nicht erst als ein solches interpretiert werden. Dieser Theorie zufolge wiederholen Wagners Musikdramen die numinosen Urereignisse identisch, weil sie selbst mythologisch und deshalb tautegorisch strukturiert sind.72 Hübner und Borchmeyer leiten aus dem Mythos einen Wahrheitsbegriff ab, der das Gegengewicht zu einem rational-wissenschaftlichen Weltbild schaffen soll. Diesen übertragen sie dann auf das Werk Wagners und heben so dessen modernitätskritisches Potential hervor.73 Dass es von da aus kein weiter Weg mehr zur Ritualisierung der Musikdramen ist, ist klar. Denn Rituale sind heilige Handlungen, die vorgeben, eine mythische Ursprungshandlung erneut zu realisieren. Es verwundert also nicht, wenn Kurt Hübner in Wagners Werk einen religiösen Charakter erkennt: Wer die Archái im Musikdrama erschaut, erschaut gleichsam die ›Ideen‹, an denen alles teilhat und durch die es ist, was es ist. Darin liegt für Wagner die Offenbarung eines Wunders, und darin liegt der sakrale Anspruch seiner Musikdramen.74

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Borchmeyer, Richard Wagner, S. 288f. Dieter Borchmeyer, Mythos. In: Wagner und Nietzsche. Kultur – Werk – Wirkung. Ein Handbuch, hg. von Stefan Lorenz Sorgner / H. James Birx / Nikolaus Knoepffler, Reinbek bei Hamburg 2008, S. 249–264, hier S. 250. Der von Hübner und Borchmeyer entworfene Begriff von Identität ist deshalb nicht zu verwechseln mit demjenigen, der dem fünften Kapitel dieser Arbeit zugrunde gelegt ist. Während Hübner und Borchmeyer mit einem substantialistischen Identitätsbegriff arbeiten (das Wesen bleibt erhalten), geht es in vorliegender Studie in erster Linie um eine dynamische Konzeption transitorischer Identität. In dieser Tradition der Wagner-Forschung steht auch die Dissertation Richard Wagners mythische Welt von Petra-Hildegard Wilberg, die den Begriff des Mythos bei Wagner klar von dem der Wissenschaft und dem des Historismus abzugrenzen versucht. Wilberg, die sich wie Dieter Borchmeyer explizit auf die Thesen Kurt Hübners beruft, will damit einer Tendenz begegnen, die »das Wagner-Verständnis der Nachkriegszeit« und die damit verbundenen Inszenierungen nachhaltig bestimmt habe, »und zwar unverkennbar in Abhängigkeit eines der philosophischen Moderne, insbesondere der Frankfurter Schule verpflichteten, historisch-reduktiven Mythosbegriffs.« Wilberg, Richard Wagners mythische Welt, S. 59. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 400.

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Eine solche Interpretation kann nun gar nicht anders, als im Bayreuther Festspielhaus und dem Bühnenweihfestspiel Parsifal die Erfüllung des Wagnerschen Schaffens zu sehen.75 Zwar hat dieses Kapitel gezeigt, dass die mythisch-religiöse Überhöhung der Kunst in Wagners Werk durchaus angelegt ist. Aber ob sie deshalb wirklich eine identische Wiederkehr der Archái ist, ist fraglich. Die Kritik an dieser Deutung soll mit einem Zitat Thomas Manns beginnen, der sich in seinem Versuch über das Theater aus dem Jahr 1908 mit dem religiösen Charakter von Wagners Musikdramen auseinandersetzte: Symbolik und Zeremoniell – einen Schritt weiter noch, oder kaum noch einen Schritt, und wir haben die szenische Handlung an dem Punkte, wo sie rituell und Weiheakt wird, wir haben das Theater auf seinem Gipfel – nämlich auf dem Hügel von Bayreuth, wir haben das Schauspiel dort, wo es ›Parsifal‹ heißt […].76

Mann schreibt, es sei dem »hieratischen Genie« Wagners gelungen, sein Theater zu einer »Weihestätte«, einem »Haus der Mysterien« zu machen. Es sei deshalb möglich, »daß in irgend einer Zukunft, wenn es einmal keine Kirche mehr geben sollte, das Theater allein das symbolische Bedürfnis der Menschheit zu befriedigen habe –, daß es die Erbschaft der Kirche antreten und dann allen Ernstes ein Tempel sein könnte.«77 Allerdings schien Thomas Mann bereits in dieser relativ frühen Auseinandersetzung mit Wagners Werk Zweifel an der Verwirklichung dieses hohen Anspruches zu haben: »Als der tragische Chor im Tanz um den Altar der Thymele schritt, da war das Theater ein Tempel. Und in Bayreuth hat es nach Jahrtausenden zum zweiten Male – wenigstens die Miene eines Nationalaktes und künstlerischen Gottesdienstes angenommen«.78 Keine identische Wiederholung also sei Wagner gelungen, sondern nur die Nachahmung eines ursprünglich rituellen Aktes – eine entscheidende Nuance. Ein Vierteljahrhundert später, im Jahr 1933, verspottete Mann dann in Leiden und Größe Richard Wagners den Tempel Bayreuth sogar als »Theater-Lourdes und Wundergrotte für die Glaubenslüsternheit einer mürben Spätwelt«.79 Es lohnt, dieser Spur, die Thomas Mann bei seiner Auseinandersetzung mit Wagners Modernität in dessen Werk entdeckt hat, weiter nachzugehen. Wagner schreibt 1849 in Die Kunst und die Revolution: Nein, wir wollen nicht wieder Griechen werden; denn was die Griechen nicht wußten, und weßwegen sie eben zu Grunde gehen mußten, das wissen wir. (III, 30)

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Stephan Mösch bestätigt den Ritual-Charakter des Parsifal und bezeichnet Wagners letztes Werk deshalb im Hinblick auf seine Aufführungsgeschichte als »konnektives Ritual«. Vgl. Mösch, Weihe, Werkstatt, Wirklichkeit, S. 23–27. Vaget, Im Schatten Wagners, S. 26. Ebd., S. 26f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 124.

Und über zwei Jahre zuvor, am Neujahrstag 1847, in einem Brief an Eduard Hanslick: Schlagen Sie die Kraft der Reflexion nicht zu gering an; das bewußtlos produzirte Kunstwerk gehört Perioden an, die von der unseren fern ab liegen: das Kunstwerk der höchsten Bildungsperiode kann nicht anders als im Bewußtsein produzirt werden. (SB II, 538)

Über dieses zweite Zitat schreibt Thomas Mann, es sei »ein Schlag ins Gesicht für die Theorie einer durchaus mythischen Herkunft« von Wagners Schaffen.80 Und damit hat er Recht: Beide Zitate zeigen, dass Wagner es offenbar für illusorisch hielt, die Tragödie der Griechen identisch zu wiederholen. Ihm war klar, dass sein Kunstwerk der Zukunft, auch wenn es auf eine grundlegende Kritik der Moderne abzielte, durch diese erst hindurchgehen müsse. Er wollte keine »Restauration«, wie er sie in der Weberschen Nationaloper am Werk sah, sondern eine »Revolution« (OuD, 52). Dies ist auch seine Hauptkritik am französischen Drama, dem nichts als die »Nachahmung und Wiederholung jener schon fertigen Dramen« übrig geblieben sei (142). Die große Frage der Zürcher Kunstschriften lautet deshalb: Wie kann man die Moderne überwinden, ohne ihre Errungenschaften aufzugeben? Wagner fand dieselbe Antwort wie die Mythologen der Romantik: Er interpretierte das Modell der Wiederkehr, das der Idee des Goldenen Zeitalters zugrunde liegt, dialektisch. Dies wird besonders in der Hauptschrift Oper und Drama deutlich, die auf sämtlichen Ebenen einem Dreischritt folgt. Ihn gibt das folgende Schema wieder, das Wagner in einem Brief an Theodor Uhlig mitteilte.81 Erst vor dem Hintergrund dieses Schemas wird verständlich, was Wagner meint, wenn er schreibt, der Mythos sei »Anfang und Ende der Geschichte« (OuD, 230). Er ließ diesem Satz einen langen Kommentar folgen, bei dem es sich offenkundig um eine Beschreibung dieses triadischen Modells handelt: Die Tonsprache ist Anfang und Ende der Wortsprache, wie das Gefühl Anfang und Ende des Verstandes, der Mythos Anfang und Ende der Geschichte, die Lyrik Anfang und Ende der Dichtkunst ist. […] Der Gang dieser Entwicklung ist aber ein solcher, daß er nicht eine Rückkehr, sondern ein Fortschritt bis zum Gewinn der höchsten menschlichen Fähigkeit ist […]. Wie im unbewußten Gefühle alle Keime zur Entwickelung des Verstandes, in diesem aber die Nötigung zur Rechtfertigung des unbewußten Gefühles liegt und erst der aus dem Verstande dieses Gefühl rechtfertigende Mensch der vernünftige Mensch ist; wie in dem durch die Geschichte, die auf gleiche Weise aus ihm entstand, gerechtfertigten Mythos erst das wirklich verständliche Bild des Lebens gewonnen wird: so enthält auch die Lyrik alle Keime der eigentlichen Dichtkunst, die

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Ebd., S. 127. SB III, 478. Dazu schrieb Wagner: »Eine figur will ich Dir noch mittheilen, von der ich nicht weiß, ob ich sie in meine schrift aufnehmen werde.« (477) Wie Klaus Kropfinger in seinem Kommentar zu Oper und Drama erklärt, folgte das Schema in der Urschrift auf den Schlusssatz des zweiten Teiles (OuD, 463). Es wurde aber nicht in die erste Auflage aufgenommen.

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Abb. 3: Wagners Schema zu »Oper und Drama« (SB III, 478) Deutscher Verlag für Musik, Leipzig

endlich notwendig nur die Rechtfertigung der Lyrik aussprechen kann, und das Werk dieser Rechtfertigung ist eben das höchste menschliche Kunstwerk, das vollkommene Drama. (OuD, 230f.)

Wagner geht davon aus, dass der Mensch sich zunächst vom rein unbewussten Gefühl zum Verstand entwickelt. Erst in einem dritten Schritt gelingt dann die Vernunftwerdung als eine Verbindung von Verstand und Gefühl. Diesem triadischen Modell entsprechen verschiedene Kunstarten, denen verschiedene Epochen zugeordnet werden. Dabei definiert Wagner den Mythos doppelt. Einmal als rein dem Gefühl entsprungen (der griechische Mythos), das andere Mal dann als »dramatischen Mythos«, der der Vernunft entspricht und im Drama der Zukunft seinen Ausdruck findet. Nimmt man diese Definition ernst, erscheinen Wagners theoretische Auseinandersetzungen mit dem Mythos, die sich im zweiten Teil von Oper und Drama finden, in einem anderen Licht. Dieser sei, so Wagner, »das Gedicht einer gemeinsamen Lebensanschauung des Volkes« (164). Dann aber habe sich der »reflektieren112

de Verstand« der anatomischen Wissenschaft zugewandt, die »den ganz entgegengesetzten Weg der Volksdichtung« verfolgt habe. »Wo diese unwillkürlich verband, trennte jene absichtlich«, schreibt er. »Die Naturanschauung des Volkes ist in Physik und Chemie, seine Religion in Theologie und Philosophie, sein Gemeindestaat in Politik und Diplomatie, seine Kunst in Wissenschaft und Ästhetik, sein Mythos aber in geschichtliche Chronik aufgegangen.« (165) Aus diesem Passus sollte man nun aber nicht schließen, dass Wagner in der Geschichte den Gegenpol des Mythos sah. Vielmehr war sie ihm ein notwendiges Durchgangsstadium zu seinem Kunstwerk der Zukunft. Seine Definition des Mythos wie auch seine gesamte Ästhetik der Zürcher Zeit beruhten nicht auf Polarität, sondern auf Dialektik.82 Das beweist die Tatsache, dass nicht nur der Begriff des Mythos, sondern auch die Gesamtanlage von Wagners theoretischem Hauptwerk dem oben abgebildeten Schema folgt. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Musik (im Schema: Tonsprache), der zweite mit der Dichtung (Wortsprache), der dritte mit dem Drama als Vereinigung beider (Worttonsprache). Die zentrale Metapher, die diesen Vorgang ins Bild fasst und so das Gedankengebäude von Oper und Drama zusammenhält, ist der Inzest des Ödipus:83 Die Sprache (Ödipus) ist das Kind der Musik, sie muss sich wieder mit ihrem Mutterelement (Iokaste) vereinigen, um das Drama der Zukunft (Antigone) zu gebären. »Die Musik ist ein Weib«, schreibt Wagner und fährt in Anspielung auf Fouqués Undine fort, »ein Wellenmädchen, das seelenlos durch die Wogen seines Elementes dahinrauscht« (118). So auch die »mütterliche Urmelodie, aus der einst die Wortsprache geboren wurde« (294) – wie Beethoven im Schlusssatz seiner neunten Symphonie gezeigt habe, als er das Wort »aus den ungeheuren Mutterwehen der Musik heraus gebären ließ« (264). Aus dem »urmelodischen Ausdrucksvermögen« (242) sei also »das Wort und die Wortsprache« hervorgegangen, »wie der Verstand aus dem Gefühle erwuchs, der somit die Verdichtung dieses Weiblichen zum Männlichen« sei. Doch das Kind sehnt sich nach der Mutter zurück: »Wie der Verstand nun wiederum das Gefühl zu befruchten hat«, so dränge es »das Wort des Verstandes, sich im Tone wiederzuerkennen, die Wortsprache in der Tonsprache sich gerechtfertigt zu finden.« In einer Fußnote merkt Wagner an: »Sollte es mir als trivial ausgelegt werden können, wenn ich hier […] an Oidipus erinnere, der von Jokaste geboren war und mit Jokaste die Erlöserin Antigone erzeugte?« (243) So wie der Mythos also nur über die Geschichte zum dramatischen Mythos gelangen kann, führt der Weg zur Worttonsprache bei Wagner notwendig über die Wortsprache. Man sollte sich deshalb von Wagners vertrackten Formulierungen nicht

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Dies betont auch Udo Bermbach, der zu Wagners Verwendung des Begriffspaares »Gefühl« und »Verstand« schreibt: »Liest man in den ›Zürcher Kunstschriften‹ all jene Passagen, die sich mit dem Verhältnis von Gefühl und Verstand beschäftigen, so sieht man sehr schnell, daß beide in einem Wechselbezug zueinander stehen, daß beide dialektisch miteinander verbunden sind.« Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 187. Ihm widmet er im zweiten Teil eine ausführliche Darstellung: OuD, 189f.

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täuschen lassen: Der dialektische Dreischritt, der Oper und Drama zugrunde liegt, ist einfach zu verstehen.84 Aber wo liegen seine Ursprünge? Natürlich denkt man zuerst an die Philosophie Hegels. Man weiß, dass Wagner die Philosophie der Geschichte sowie die Phänomenologie des Geistes gelesen hat, jedoch sind die entsprechenden Quellen widersprüchlich.85 Die Wagner-Forschung hat sich jedenfalls wiederholt mit dem Einfluss Hegels beschäftigt. Sei es, dass sie aus der Handlung der Musikdramen, allen voran des Rings, eine dialektische Struktur abzuleiten versuchte,86 sei es, dass

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Er bestimmt Wagners ästhetische Ausführungen in Oper und Drama in allen wichtigen Bereichen. So beschreibt er die Entstehung der Versmelodie als eine Geburt, die »die entzückende Vermählung des zeugenden dichterischen Gedankens mit dem unendlichen Gebärungsvermögen der Musik« feiere (OuD 293). Gleiches gilt für seine Sprachtheorie, in der das Verhältnis von Vokal und Konsonant ebenfalls dialektisch aufgefasst wird: »Was den Vokal gebar und ihn zu besonderster Verdichtung zum Konsonanten nach außen bestimmte, zu dem kehrt er, von außen bereichert, als ein besonderer zurück, um sich in ihm, dem nun ebenfalls Bereicherten, aufzulösen: dieser bereicherte, individuell gefestigte, zur Gefühlsuniversalität ausgedehnte Ton ist das erlösende Moment des dichtenden Gedankens, der in dieser Erlösung zum unmittelbaren Gefühlsergusse wird.« (288). Den ersten Hinweis auf die Lektüre der Philosophie der Geschichte gibt Wagner in Mein Leben. Über den Winter 1848/49 berichtet er: »Ich wählte nun zu meiner Einführung in die Philosophie Hegels ›Philosophie der Geschichte‹. Hier imponierte mir vieles, und es schien mir, als müßte ich auf diesem Wege in das Innere des Heiligtumes gelangen. Je unverständlicher viele im spekulativen Sinne resümierende Phrasen des ungeheuer berühmten, als Schlußstein aller philosophischen Erkenntnis mir gepriesenen gewaltigen Geistes erschienen, desto mehr fühlte ich mich angeregt, der Sache von dem ›Absolutum‹ und was damit zusammenhing auf den Grund zu gehen.« (ML, 442) Konterkariert wird diese Stelle von einem Zeugnis Friedrichs Pechts aus dem Jahr 1845, das u.a. Wagners Biograph Martin Gregor-Dellin wiedergibt: »Bei einem Besuche, den ich ihm eines Tages machte, fand ich ihn in Feuer und Flammen über Hegels Phänomenologie, die er gerade studierte und in seiner exzentrischen Art mir als das erste aller Bücher pries. Zum Beweis las er mir eine Stelle vor, die ihm eben besonders imponiert hatte. Da ich sie nicht ganz verstand, bat ich ihn, sie noch einmal zu lesen, wo wir sie dann beide nicht verstanden. Er las sie also zum dritten- und viertenmal, bis wir uns endlich ansahen und fürchterlich zu lachen anfingen, wo es denn mit der Phänomenologie ein Ende hatte.« (Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 206) Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch der Einfluss des Linkshegelianers Ludwig Feuerbach. In Wagners Autobiographie findet sich der Hinweis, dass er Feuerbachs Gedanken über Tod und Unsterblichkeit im Jahr 1849 gelesen habe (443). Dennoch setzt Ulrike Kienzle den Beginn des Einflusses Feuerbachs auf Wagner in die frühen vierziger Jahre, weil Feuerbachs Schrift zunächst anonym erschienen sei und sich bereits vor 1849 Feuerbachsche Ideen in Wagners Werk nachweisen ließen. Vgl. Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 30f. So geht Wolfram Ette ausführlich auf »dialektische Strukturen im Ring« ein. Vgl. Wolfram Ette, Mythos und negative Dialektik in Wagners »Ring«. Mit einem Anhang zur »modernen Mythosforschung«. In: Narben des Gesamtkunstwerks. Wagners Ring des Nibelungen, hg. von Richard Klein, München 2001, S. 133–165, hier S. 143–146. Auch Sandra Corse ist hier zu nennen, die in einer Studie davon ausgeht, dass Hegels Phä-

sie den Dreischritt von Oper und Drama auf das Denken Hegels zurückführte. Ein Argument für diese Interpretation ist die Tatsache, dass Wagner aus dem Manuskript von Oper und Drama eine polemische Attacke auf die Hegelsche Philosophie wieder gestrichen hat. Ursprünglich hieß es darin in Bezug auf Meyerbeer sarkastisch: »Der modernste opernkomponist hat somit praktisch das system der hegelschen philosophie zum handgreiflich sicheren abschluß gebracht.« (OuD, 401) Klaus Kropfinger vermutet in seinem Kommentar, dass Wagner den Passus gestrichen haben könnte, weil ihm klar geworden sei, dass »das ›Drama der Zukunft‹, als Negation der Oper und Synthese der Künste, weit eher ins Hegelsche Schema paßte als Meyerbeers Werk.« (466) Tatsächlich gibt es gute Argumente, aus denen sich eine inhaltliche Nähe Wagners zu Hegel ableiten lässt. So zeichnet etwa Petra-Hildegard Wilberg das triadische Modell, das Oper und Drama zugrunde liegt, sehr genau nach und vergleicht es mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie.87 Genau wie Dieter Borchmeyer, der schreibt, dass Wagner in Oper und Drama dem »dialektischen Dreischritt« folge und durchaus »im Hegelschen Sinne« argumentiere. Allerdings bewertet Borchmeyer dies als reinen »Systemzwang«, den Wagner später in seinen »Brief- und Gesprächsäußerungen« immer wieder durchbrochen habe. Vor allem polemisiert Borchmeyer gegen die überhebliche Konstruktion dieses Dreischritts, dessen Weg immer schmaler werde, »je mehr er sich dem Ziel nähert. Am Ende findet nur noch einer auf ihm Platz.«88

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nomenologie des Geistes das bestimmende Modell für den Ring abgegeben habe. Vgl. hierzu Sandra Corse, Wagner and the New Consciousness. Language and Love in the »Ring«, London, Toronto 1990, S. 25. Siegfried Mauser stellt zwar ebenfalls dialektische Strukturen in der Dramaturgie des Rings fest, vergleicht Wagner und Hegel jedoch vor allem in ihrer Wirkung. Dabei kommt er zu einem Schluss, der an die Wagner-Kritik Adornos erinnert: »Beabsichtigt wird einerseits der Eindruck völliger Spontaneität und Selbstverständlichkeit, der bei genauerer Betrachtung als Ergebnis eines komplizierten, rationalen Verfahrens erscheint. [...] Beide wirken als Magier und Demagogen, deren System der Überredung in der durchrationalisierten Darstellung von scheinbar Natürlichem gründet.« Siegfried Mauser, Wagner und Hegel. Zum Nachwirken des Deutschen Idealismus im »Ring des Nibelungen«. In: Richard Wagner und die Musikhochschule München, die Philosophie, die Dramaturgie, die Bearbeitung, der Film, hg. von Gernot Gruber / Robert Münster / Erich Valentin / Günther Weiß, Regensburg 1993, S. 45–60, hier S. 58. Wilberg, Richard Wagners mythische Welt, S. 254–262. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Wolfram Ettes Aufsatz über »Mythos und negative Dialektik in Wagners Ring«. Darin deutet Ette das Antigone-Motiv als einen klaren Hinweis auf die Phänomenologie des Geistes, wo es bereits eine zentrale Rolle spiele. Auch Wagner habe über ein »dialektisches Ingenium« verfügt, weshalb er, wie Hegel, sein triadisches Modell des Staates und der Tragödie in den Mythos von Antigone gefasst habe. Vgl. Ette, Mythos und negative Dialektik, S. 140. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 89. An einer anderen Stelle vergleicht Dieter Borchmeyer die idealistische Tradition »einer triadischen Konstruktion der Geschichte« mit Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung. Dabei zieht er einleuchtende Parallelen zwischen Schiller und Wagner und kommt zu dem

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Dass Wagner sich selbst zum Verwirklicher der letzten großen Synthese der Künste, des Musikdramas aufschwang, ist jedoch nur ein Nebeneffekt des dialektischen Schemas, nicht dessen eigentliches Telos. Zur Kritik taugt dieses Argument deshalb kaum. Vielmehr stellt sich die Frage, ob der von Borchmeyer und Wilberg eingestandene Einfluss der idealistischen Dialektik auf Wagners Denken nicht ihrer These einer zeitenthobenen ›Wahrheit des Mythos‹ entgegenläuft. Kurt Hübner, auf den sich beide berufen, operiert mit der Ideenlehre Platons, in der anders als bei Hegel nicht das Werden, sondern das ewig Seiende im Zentrum steht. Dem widerspricht aber der emanzipationsphilosophische Zug in Wagners Schriften, den er vom deutschen Idealismus und den Linkshegelianern, aber auch von der romantischen Naturphilosophie übernahm. Emanzipation heißt: Es gibt eine Entwicklung, in der das Ende auf einer anderen, höheren Stufe als am Anfang steht. So entäußert sich im triadischen Schema der Hegelschen Philosophie zwar »Gott in Natur und Geschichte, die dann in der Entwicklung des Geistes wieder zu ihm zurückkehren.« 89 Aber die Identität, die diese Rückkehr zum Ursprung stiftet, ist keine reine Selbstbeziehung. Geist, Idee und Begriff sind bei Hegel dadurch gekennzeichnet, sich »im Durchgang durch die Differenz gewinnen und behaupten zu müssen.«90 Dagegen lesen Hübner und Borchmeyer Wagners Mythos-Konzeption als reine Ursprungsphilosophie, in der der Urgrund auch in seiner Entäußerung in der Geschichte immer das bleibt, was er ist. So verfehlen sie ein wesentliches Element der Wagnerschen Ästhetik.91

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Schluss, dass es bei Wagner die »Leistung des Orchesters« sei, die bewirke, dass »der endzeitliche Mythos« vom »urzeitlichen« unterschieden werden könne (ebd., S. 136f.). Zu kritisieren ist an dieser These, dass die modernen Elemente in Wagners Werk ausschließlich in die Musik verlegt werden. Die hier gegebene Darstellung des Hegelschen Systems folgt dem konzisen und souveränen Überblick in Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3.3, Stuttgart 2008, S. 243. Ottmann findet für diesen schwierigen Gedanken ein anschauliches Beispiel: »Schon jede Pflanze demonstriert, daß zwischen Anfang (Keim) und Ende (Blüte) Identität und Unterschied besteht. A fortiori ist dies beim Geist der Fall.« (ebd. S. 245). Aus diesem Grund ist der Interpretation Udo Bermbachs der Vorzug zu geben, der über die Konzeption des »Kunstmythos« bei Richard Wagner schreibt: »Mit ihm verbindet sich die Hoffnung, die Identität von Mensch und Natur werde sich auf einer höheren, durch Reflexion hindurchgegangenen Stufe wiederherstellen lassen, auch wenn die alte Unversehrtheit beider unwiderruflich verloren ist.« (Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 199) In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass Hübners und Borchmeyers Hinweis auf Schellings Konzeption des »tautegorischen« Mythos nicht verfängt. Dies hat Wolfram Ette gezeigt: »Denn für Schelling kann die Mythologie dann – und nur dann tautegorisch verstanden werden, wenn man sie geschichtsphilosophisch begreift. […] Schelling verfolgt, wenn man so will, ein kritisches Geschäft. Seine späte Geschichtsphilosophie weist der Mythologie den Bereich zu, innerhalb dessen sie allein Wahrheit beanspruchen kann. Davon, die Wahrheit überhaupt darzustellen, ist sie aber weit entfernt. Der Begriff des Tautegorischen hat bei ihm die Reflexion historischer Distanz zur unabdingbaren Voraussetzung.« (Ette, Mythos und

Damit ist der wichtigste Einwand gegen eine Theorie der identischen Wiederholung benannt. Allerdings gilt es dabei zu beachten, dass sich Wagners emanzipatorische Dialektik nicht allein von Hegel herleiten lässt, sondern auch auf der Neuen Mythologie der Romantik beruht. Letztlich stellt Hegels System den Versuch dar, die dialektische Geschichte des Geistes vollständig in Reflexion aufzulösen. Ein solches Ziel verfolgt Wagner nicht, da er die Phantasie für den Schlüssel hält, mit dem sich das Tor zu einem neuen Zeitalter öffnen lasse. Hierüber gibt wiederum das oben abgebildete Schema Aufschluss. Auf dem Weg, der vom Mythos über die Geschichte zum dramatischen Mythos führt, fungiert die Phantasie, so Wagner, als »die Vermittlerin zwischen Anfang und Mittelpunkt, wie zwischen diesem und dem Ausgangspunkte« (OuD, 230). Nicht zufällig setzt sich Wagner, bevor er sich mit dem Mythos beschäftigt, eingehend mit dem Begriff der Phantasie auseinander. Diese ist für ihn gleichsam die Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis des Mythos. Er definiert sie dabei als eine Tätigkeit, die die von außen einströmenden Bilder im Gehirn umwandele und verdichte, um sie dann wieder nach außen mitzuteilen. Diese »Verdichtung«, so Wagner, sei »das eigentliche Werk des dichtenden Verstandes«. Doch »um diese gedachte Wirklichkeit« mitzuteilen, müsse der Dichter »sie dem Gefühle in einem ähnlichen Bilde darstellen, als wie das Gefühl sie ihm ursprünglich zugeführt hat, und dies Bild ist das Werk der Phantasie.« (218f.) Doch damit dieses Bild auch dem Rezipienten verständlich werde, bedürfe es eines gemeinsamen Maßstabes: »Niemand kann sich verständlich mitteilen als an die, welche die Erscheinung in dem gleichen Maße mit ihm sehen: dieses Maß ist aber für die Mitteilung das verdichtete Bild der Erscheinung selbst, in welchem diese sich den Menschen erkenntlich darstellen. Dieses Maß muß daher auf einer gemeinsamen Anschauung beruhen« (160). Bedenkt man nun, dass Wagner diese gemeinsame Anschauung als Mythos definieren wird, so wird der Zusammenhang von Phantasie und Mythos klar: Die Phantasie stellt sicher, dass die chaotische Masse an Daten zu einem verständlichen Bild zusammengefasst wird, und der Mythos bildet die von allen geteilte Maßeinheit, nach der sich die Phantasie dabei richten muss. Beide sind also aufgrund ihrer synthetischen Wirkung verschwistert.92

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negative Dialektik, S. 158) Bei Ette findet sich ebenfalls eine gründliche Kritik an dem von Hübner und Borchmeyer vertretenen Mythos-Begriff (ebd., S. 150–165). Die Bedeutung von Vernunft und Phantasie in Oper und Drama ist allein Grund genug, an einer Theorie zu zweifeln, die Wagners Anthropologie und Ästhetik auf Sinnlichkeit und Körperlichkeit reduzieren will und deshalb die idealistischen und romantischen Elemente in Wagners komplexem Denksystem ausblendet. Dies tut Stefan Pegatzky, wenn er schreibt, dass durch die Idee der »überzeugenden Körperlichkeiten« das Werk Wagners »zum Paradigma der nach-idealistischen Kunst des 19. Jahrhunderts« werde. Stefan Pegatzky, Das poröse Ich. Leiblichkeit und Ästhetik von Arthur Schopenhauer bis Thomas Mann, Würzburg 2002, S. 88.

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Wagner stellt sich mit dieser Theorie in eine Traditionslinie, die mit Herder ihren Anfang nimmt und über die Neue Mythologie der Romantik führt. In der im 18. Jahrhundert einsetzenden Diskussion über die Rolle der Einbildungskraft nahm Herder bekanntlich eine radikale Kritik am aufklärerisch-rationalistischen Vernunftbegriff vor. Die Vernunft, so Herder, sei nicht analytisch, sondern synthetisch zu begreifen. In Iduna, oder der Apfel der Verjüngung (1796) schreibt er: »Unsre Vernunft bildet sich nur durch Fiktionen«.93 Sie zeichne sich also ganz wesentlich durch die Fähigkeit zur Zusammensetzung und Verdichtung aus, welche dem Vermögen, Phänomene zu analysieren und zu zerlegen, notwendig vorausgehen müsse. Erst durch diesen Gedanken wird klar, warum es im »Ältesten Systemprogramm« heißt, die »neue Mythologie« müsse eine »Mythologie der Vernunft« werden: »Ehe wir die Ideen ästhetisch d.h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. […] Die Mythologie muß philosophisch werden, und das Volk vernünftig«.94 Im Bewusstsein, in einem »unfantastischen Zeitalter«95 zu leben, wächst in der Romantik das Interesse an der Mythologie. Diese soll aber keine bloße Restauration der alten Mythologie darstellen, sondern neu sein. Und das heißt: mit den Mitteln einer synthetisch wirkenden Vernunft produziert. In diesem Sinne stellt Wagner in seinem Schema die »Vernunft« als den Endpunkt von Kunst, Politik und Mythologie dar; an sie denkt er zweifellos, wenn er den »Gewinn der höchsten menschlichen Fähigkeit« zum Ziel seiner Ästhetik ausruft (230). Durch die Vermittlung der Phantasie werden Gefühl und Verstand, Tonsprache und Wortsprache, Geschichte und Mythos zu einer höheren, vernünftigen Einheit. Genau wie für Wagner war für die Romantiker klar, dass wir nicht wieder Griechen werden können. »Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schönere, größere?«96 Dieses Schlegel-Wort aus der Rede über die Mythologie ist der 93

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Herder, Werke, Bd. 8, S. 156. Obwohl Manfred Frank in seinem Buch Der kommende Gott den Zusammenhang von Phantasie, Vernunft und Mythos von Herder ableitet und seine Wirkung auf die Romantik beschreibt, übersieht er ihn bei seiner WagnerDeutung. Dies könnte daran liegen, dass er sich bei ihr vor allem auf Das Kunstwerk der Zukunft stützt. Vgl. Frank, Mythendämmerung, S. 25–92. Hegel et al., Ältestes Systemprogramm, S. 56. Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler, München, Paderborn, Wien 1958ff., Bd. 2, S. 331. Ebd., S. 313. Übrigens räumt auch Kurt Hübner ein, dass weder Hölderlin noch Wagner »mit der Idee der Wiederkehr des goldenen Zeitalters die Herstellung unveränderter Urzustände« verbinden. Doch seine Antwort kann nicht überzeugen: »Wieder stoßen wir hier auf eine Variante der Grundvorstellung, daß das gleiche in verschiedenem Gewande wiederkehrt, weil die Substanz der Archái nur im Sterblichen offenbar wird, das ewigem Wandel unterliegt.« (Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 409) Bei der Beantwortung der Frage, warum Wagners triadisches Gedankengebäude keine identische Wiederholung postuliert, reichen weder Platons Ideenlehre noch die aristotelische Ontologie von potentia und actus aus. Man kommt, wie dieses Kapitel zu zeigen versucht, an der Philo-

Wahlspruch der Romantiker. Sie schließen sich Herders und Lessings Einsicht an, dass man sich die überlieferten Mythen mit Hilfe der Einbildungskraft produktiv aneignen müsse und keinesfalls hinter die Aufklärung zurückfallen dürfe.97 Für Novalis’ Konzeption des Goldenen Zeitalters ist dieser Gedanke ebenso zentral98 wie für Schelling, der im Jahr 1800 sein System des transzendentalen Idealismus mit der Hoffnung beschließt, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebenso viel einzelne Ströme in den allgemeinen Ocean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie seyn werde, ist im Allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existirt hat, ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist.99 (S I/3, 629)

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sophie der Moderne nicht vorbei, weshalb in dieser Arbeit der Neuen Mythologie der Romantik als Referenz der Vorzug gegeben wird. In seinem Buch Der kommende Gott hat Manfred Frank den Einfluss Herders und Lessings auf die Romantik dargestellt. In Herders Vom neuern Gebrauch der Mythologie (1767) werde betont, dass niemand »die maschinenmäßige Wiederholung abgelebter Mythen« vorschreibe, »wohl aber sei es denkbar – denn die menschliche Einbildungskraft sei ein Vermögen der Produktivität und der Innovation –, in das hundertmal Wiederholte ›neuen Geist‹ zu hauchen« (Frank, Der kommende Gott, S. 127). Und über Lessing: »Seine Verheißung will nicht die Leistungen der Analyse zurücknehmen, sondern sie der Kontrolle einer neuen Totalität unterwerfen, zu deren Konzeption die Analyse unfähig ist.« (ebd., S. 190). Dies hat Hans-Joachim Mähl gezeigt. Novalis ging es in seinem triadischen Geschichtsmodell um das Erreichen einer »höheren, gebildeten Einheit, die das Mannigfaltige, den Reichtum an Individuellem vereinigt, ohne ihn aufzulösen oder zu vernichten«. Diese Einheit solle auf keinen Fall »den Entfaltungsprozess der Geschichte« rückgängig machen (Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters, S. 307). Es ist vielmehr eine »wissende Einheit«, so Mähl, keine »ursprünglich-natürliche«. Novalis wende sich ausdrücklich gegen den »Kindergeist« der Herrnhuter, die wieder »zu einer verlorenen naiven Kindlichkeit« zurückkehren wollten, die jedoch nur »auf dem Wege über die Vernunft, nur über die Trennung des Erwachsenenseins wiedergewonnen werden kann.« (ebd., S. 366) Klaus Kropfinger, der diese Forschungsergebnisse Mähls ebenfalls auf Wagner bezieht, betont zu Recht, dass »die Wendung gegen die Restauration eines Scheingriechenthums im Kunstwerke« Novalis und Wagner verbinde. Kropfinger, Wagners triadische Zeitbeschwörung, S. 82. Man sollte sich hier von der Metapher des »Zurückfließens« nicht täuschen lassen: Schellings Mythologie ist nicht nur regressiv ausgerichtet. Vielmehr ist das Zitat im Zusammenhang seines Systems zu sehen, in dem ein progressiv aufsteigendes Stufenmodell entworfen wird, das mit der Kunst als »Organon der Philosophie« seinen Höhepunkt und Abschluss findet. Schellings Bild vom Ozean, dem die Poesie zu vergleichen sei, erwies sich in der Folge übrigens als sehr wirkungsmächtig. So schreibt A.W. Schlegel in seiner Kunstlehre (1801/1802), die Poesie sei »das Ursprünglichste«, »die Ur- und Mutterkunst aller übrigen« und deshalb auch »die letzte Vollendung der Menschheit, der Ozean, in den alles wieder zurückfließt«. August Wilhelm von Schlegel, Kritische

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Und diese Mythologie, daran lässt Schelling keinen Zweifel, müsse eine »neue Mythologie« sein (ebd.). Noch in der Geschichtsphilosophie des späten Fichte kehrt dieses triadisch-dialektische Modell wieder. In Die Grundzüge des Gegenwärtigen Zeitalters, die 1806 erschienen, geht Fichte von einem »Weltplan« aus, der dem Dreischritt von Paradies, Sündenfall und Erlösung folge. Dabei nennt er fünf Epochen der Geschichte, die vom »Stand der Unschuld« über den »Stand der anhebenden Sünde« zum »Stand der vollendeten Sündhaftigkeit« führen. Dies ist für Fichte – ganz im Sinne der Romantik – die Zeit, in der er lebt. Von hier an folgt die Besserung: Die Menschheit werde zunächst zum »Stand der anhebenden Rechtfertigung« finden, sie werde der Wissenschaft fähig. Im »Stand der vollendeten Rechtfertigung«, der einer »Heiligung« gleiche, gelange die Menschheit dann zu einer »Vernunft-Kunst«. Fichte fasst sein System wie folgt zusammen: Der gesamte Weg aber, den zufolge dieser Aufzählung die Menschheit hienieden macht, ist nichts anders, als ein Zurückgehn zu dem Punkte, auf welchem sie gleich anfangs stand, und beabsichtigt nichts, als die Rückkehr zu seinem Ursprunge. Nur soll die Menschheit diesen Weg auf ihren eignen Füßen gehen: mit eigner Kraft soll sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zuthun gewesen […].100

Die Anklänge an die Neue Mythologie sind hier unüberhörbar. Genau wie bei Gotthilf Heinrich von Schubert, der in den Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) die Grundlagen für »eine neue höhere Zeit«101 bereitstellen will und dabei – fast gleichlautend mit Fichte – hervorhebt: »Jene glückliche Nachwelt wird sich das durch ihr eignes hohes Streben wieder erringen, was der ersten Vorwelt ohne ihr Verdienst, von der Natur gegeben war.«102 Deshalb betont Manfred Frank zu Recht, dass die Mythologie nach romantischer Ansicht als »dialektischer Prozeß« zu verstehen ist, »der von einer ihrer selbst nicht mächtigen Einheit über die Vielheit zu einer nunmehr offenbaren, sich selbst begreifenden Einheit (zurück) führt«.103 Die Romantiker hatten eine »kühne Hoffnung«, so Frank: »Sollte nicht

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Schriften und Briefe, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1968, Bd. 2, S. 227. Und 1808 las man in der Zeitung für Einsiedler einen Aufsatz Jacob Grimms, in dem es hieß: »Ferner ergibt sich, wie Poesie und Geschichte in der ersten Zeit der Völker in einem und demselben Fluß strömen.« Jacob Grimm, Gedanken, wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten. In: Theorie der Romantik, hg. von Herbert Uerlings, Stuttgart 2000, S. 166–170, hier S. 167. Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth et al., Stuttgart, Bad Cannstatt 1962ff., Bd. I/8, S. 201. Hierzu bemerkt Gerhard Gamm: »Der Weg zum vernünftigen Leben führt gleichwohl notwendig durch das Extrem der Unwahrheit; die Emanzipation der Subjektivität verlangt, aus der paradiesischen Unschuld des unmittelbar gelebten Lebens auszubrechen und sich auf sich selbst zu stellen.« Gerhard Gamm, Der deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997, S. 39. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 12. Ebd., S. 384. Frank, Der kommende Gott, S. 311. Frank zeigt auch die ungeheure Wirkungsmacht

die normative Substanz der Vorweltreligion(en) von den normativen Ressourcen der Vernunft selbst – und damit erstmals wirklich glaubwürdig – im Bloch’schen Sinne ›beerbt‹ werden können? Sollte die Mythologie nicht selbst – bei Bewahrung ihrer numinosen Kraft – vernünftig werden können?«104 Durch die Phantasie wird der Mythos, der in vormoderner Zeit objektiv gegeben war, subjektiv vermittelt. Die Instanz, die in der Romantik diese Vermittlung garantiert, ist der Dichter. Indem er den Mythos schafft, »offenbart« er gleichsam die in der Natur verborgenen Mysterien.105 Dabei stoßen die Romantiker nun aber auf ein theoretisches Problem. Denn sie definieren die Mythen als kollektive Gebilde, die die »gemeinsame Anschauung« des Volkes wiedergeben und so sozialen Zusammenhalt stiften. Die Kunst, fordert Schelling, müsse eine »allgemeine Symbolik« (S I/6, 571) sein, eine Sprache, die alle Glieder einer Gesellschaft miteinander verbinde und von allen geteilt und verstanden werde. Dies funktioniere nur, wenn es eine gemeinschaftliche »Öffentlichkeit« gebe (572). Eine solche existiert aber in einer modernen Gesellschaft nicht mehr, weshalb die Neue Mythologie sie erst herstellen soll – ein Zirkelschluss.106 Zwar forderten die Romantiker dezidiert, dass die Neue Mythologie eine Dichtung des Volkes sein müsse. Ihr Ziel war keine elitäre Kunstschöpfung eines einzelnen Genies, sondern, wie es im »Ältesten Systemprogramm« heißt, die »ewige Einheit« von Philosoph und Volk. »Aufgeklärte und Unaufgeklärte« sollten sich »die Hand reichen«.107 In diesem Sinne spricht Novalis in den Lehrlingen zu Sais von einer »in allen Ständen hervorbrechenden Dichtkunst«.108 Doch die modernen Dichter hätten bis jetzt »nur jeder allein« geschaffen, klagt Friedrich Schlegel in seiner Rede über die Mythologie, es fehle der Poesie »an einem Mittelpunkt«.109 Ein schwieriges Unterfangen, an dem sich Achim von Arnim mit Des Knaben Wunderhorn und Jacob Grimm mit seiner Deutschen Mythologie versuchten. Schelling dagegen überließ dessen Verwirklichung lieber der Geschichte: »Wie aber eine neue Mythologie, welche nicht Erfindung des einzelnen Dichters, sondern eines neuen, nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts seyn kann, selbst entstehen könne, dies ist ein Problem, dessen Auflösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist.« (S I/3, 629)

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dieser Idee auf die europäische Geistesgeschichte, indem er in Der kommende Gott Spuren der Neuen Mythologie in den Schriften Mallarmés und Karl Marx’ bis hin zu JeanPaul Sartre und Jürgen Habermas nachweist. Vgl. hierzu auch Frank, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, II. Teil, Frankfurt am Main 1988. Frank, Mythendämmerung, S. 14. Zum Begriff der Offenbarung in der Neuen Mythologie vgl. Frank, Der kommende Gott, S. 247f. Ihn hat Manfred Frank anhand der Theorien Schellings und Wagners herausgearbeitet: Frank, Mythendämmerung, S. 59f. Hegel et al., Ältestes Systemprogramm, S. 56. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 87. F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 312.

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Diese Zitate sollten den letzten Zweifel daran ausräumen, dass das ästhetische Projekt der Neuen Mythologie in der Romantik immer auch als ein politisches gedacht wurde. Der Mythos soll leisten, was die aufgeklärte Moderne nicht mehr zu leisten imstande ist: eine Gemeinschaft zu schaffen, die über einen transzendenten Zusammenhalt verfügt. Ohne diese Idee ist der konservative Nationalismus mancher Romantiker, etwa eines Achim von Arnim, nicht zu verstehen. Das deutsche Volk wird als eine kulturelle Einheit entworfen, die der drohenden politischen Zersplitterung und Ohnmacht entgegenwirkt. Der politische Aspekt der Neuen Mythologie tritt nicht nur in Richard Wagners theoretischen Abhandlungen, sondern auch in seinen Musikdramen deutlich zu Tage.110 Bereits Lohengrin stellt ja die Frage, ob eine Gemeinschaft durch eine mythische Gestalt vor dem Untergang bewahrt werden kann. Der Versuch scheitert, was Wagner aber nicht daran hindert, sich in seinen Zürcher Kunstschriften weiter mit der gemeinschaftsstiftenden Kraft des Mythos zu beschäftigen. Der Staat erscheint dort als Maschinenwesen, die Moderne als Zersplitterung einer ursprünglichen Einheit. Doch Wagners Ziel ist nicht die Herstellung einer Nation, sondern eines emanzipierten Volkes. So ist seine Schrift vom Kunstwerk der Zukunft noch voller sozialrevolutionärem Enthusiasmus: Gemeinsam werden wir aber auch den Bund der heiligen Nothwendigkeit schließen, und der Bruderkuß, der diesen Bund besiegelt, wird das gemeinsame Kunstwerk der Zukunft sein. In ihm wird auch unser großer Wohlthäter und Erlöser, der Vertreter der Nothwendigkeit in Fleisch und Blut, – das Volk, kein Unterschiedenes, Besonderes mehr sein; denn im Kunstwerk werden wir Eins sein. (SSD III, 50)

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Die bislang gründlichste Deutung der Politik und der Öffentlichkeit im Werk Wagners hat Udo Bermbach in seinen bereits erwähnten Studien Der Wahn des Gesamtkunstwerks und »Blühendes Leid« vorgelegt. Auch Bermbach betont die einheitsstiftende Funktion von Wagners Kunstbegriff, unterschätzt dabei aber die politische Stoßrichtung der Neuen Mythologie. Er schreibt, dass »die Romantiker darauf abzielten, das Leben selbst bereits in der Gegenwart, innerhalb der bestehenden politischen, gesellschaftlichen wie sozialen Verhältnisse, ästhetisch werden zu lassen, es gleichsam als Kunstwerk anzulegen und zu führen.« (Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 213) Das ist insofern falsch, als der Idee einer Neuen Mythologie auch die Stiftung einer neuen Gemeinschaft von Menschen zugrunde lag. Den bisher einzigen Versuch, Richard Wagners politisches Denken konsequent aus dem Konzept der Neuen Mythologie heraus zu verstehen, bietet die Aufsatzsammlung Mythendämmerung von Manfred Frank. Bedauerlicherweise setzt sich Frank darin nicht mit der Wagner-Forschung auseinander, weder mit den Theorien Udo Bermbachs noch mit der Mythos-Konzeption Kurt Hübners und Dieter Borchmeyers. Doch nicht nur dafür erntete er Kritik, sondern auch für seine in der Tat fragwürdige These, dass Wagner im Ring des Nibelungen die »Abdankung des Mythos« betreibe: »Weit entfernt, daseinsrechtfertigende Kraft zu verkörpern, wird er zum Spiegel der Katastrophe des Daseins. Die tröstenden und belebenden Hoffnungen der ›Neuen Mythologie‹ haben sich verbraucht« (Frank, Mythendämmerung, S. 86). Zur Kritik dieser Interpretation vgl. Dieter Borchmeyers Rezension des Buches in: wagnerspectrum 4, H. 2, 2008, S. 274–282.

Die Frage, wer »der Künstler der Zukunft« werde, beantwortet Wagner am Ende dieser Schrift in eindeutigen Worten: »Der Dichter? Der Darsteller? Der Musiker? Der Plastiker? – Sagen wir es kurz: das Volk.« (169) Am Schluss von Oper und Drama klingt dies allerdings schon ganz anders: Wo der Staatsmann verzweifele, der Politiker die Hände sinken lasse und der Sozialist sich mit »fruchtlosen Systemen« plage, könne nur noch der Künstler »mit klarem Auge Gestalten ersehen […], wie sie der Sehnsucht sich zeigen«. Und weiter: Sein Genuß ist Mitteilung, und – wendet er sich ab von den sinnlosen Herden, die auf dem graslosen Schutte weiden, und schließt er um so inniger die seligen Einsamen an die Brust, die mit ihm der Quellader lauschen –, so findet er auch die Herzen, ja die Sinne, denen er sich mitteilen kann. (OuD, 391)

Noch die Meistersinger von Nürnberg zeugen von dieser Spannung zwischen Volk und Künstler. Es wäre aufschlussreich, den letzten Akt einmal auf Wagners Rezeption der Neuen Mythologie hin zu untersuchen. Dort ist es ja das Preislied Walthers, das am Schluss die Utopie einer Volksgemeinschaft realisiert. Zugleich deutet sich in den berühmten Schlussworten des Hans Sachs die romantische Verbindung von Ästhetik und Politik an: »Zerging’ in Dunst / das heil’ge röm’sche Reich, / uns bliebe gleich / die heil’ge deutsche Kunst!« (M, 166) Auch wenn man streiten kann, ob hier Kunst und Gemeinschaft tatsächlich zusammen gedacht oder nicht viel eher getrennt werden: Dass die Idee der Neuen Mythologie auch noch für den späten Wagner große Bedeutung hatte, ist offensichtlich. Dies ändert freilich nichts an der Tatsache, dass auch er letztlich an ihrer Utopie gescheitert ist. Die Bayreuther Festspiele sind weder ein sozialrevolutionäres Ereignis noch eine Stätte zur Regeneration des Volksgeistes, sondern Teil des ordinären kapitalistischen Kulturbetriebes. Vielleicht ist das nicht unbedingt ein Nachteil, wenn man die Wirkungsgeschichte der Neuen Mythologie bedenkt, die von den Romantikern über Richard Wagner und Friedrich Nietzsche bis hin zu ihrer verfälschenden Rezeption in den Thingspielen der Nationalsozialisten führte.111 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass Richard Wagner bereits am Schluss von Oper und Drama die Begrenztheit der politischen Utopien erkannte und nun nicht mehr vom Volk, sondern lieber vom individuellen Künstler sprach. Eine Kehrtwende, die sich nicht mit den Enttäuschungen des Sozialrevolutionärs Wagner begründen lässt.112 Vielmehr scheint es so, dass Wagner letztlich nur dem Einzelnen 111

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Diese Wirkungsgeschichte hat Manfred Frank untersucht (Frank, Mythendämmerung, S. 25–53). Frank hält an anderer Stelle in Bezug auf die Umsetzung der Idee einer Neuen Mythologie fest: »Dies Hysteron-Proteron von zur Gemeinschaft verbundener Gesellschaft und neuer Mythologie wird […] desaströse Folgen für den Gedanken ihrer Realisierbarkeit unter den Bedingungen der entfesselten Moderne haben.« (ebd., S. 60). Deshalb irrt Manfred Frank, wenn er behauptet, dass sich Wagners positives Bild des Mythos mit der Abfassung des Rings aufgrund »enttäuschter Revolutionserfahrungen« getrübt habe (ebd., S. 16). Dies kann den von Frank angenommenen Bruch in Wagners Denken nicht erklären, da alle drei Zürcher Kunstschriften nach dem gescheiterten

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eine freie, bewusste und subjektive Aneignung des Mythos zutraute. »Das Unvergleichliche des Mythos ist, daß er jederzeit wahr und sein Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist«, schreibt er in Oper und Drama. Und fügt an: »Die Aufgabe des Dichters war es nur, ihn zu deuten.« (OuD, 199) Ein »nur« mit großen Folgen: An dieser Stelle räumt Wagner ausdrücklich ein, dass der Prozess der Aneignung des Mythos nur ein reflexiver sein kann. Das Verhältnis des modernen Menschen zum Mythos ist auch für ihn keines von absoluter Unmittelbarkeit, auch wenn seine Ausführungen oft etwas anderes suggerieren. Es gilt deshalb von rein tautegorischen Auslegungen seines Mythos-Begriffs Abstand zu nehmen. Sonst könnte es uns ergehen wie dem wahnsinnigen Maler Godofredus Berklinger in E.T.A. Hoffmanns Der Artushof. Dieser sitzt vor einer grauen Leinwand und behauptet steif und fest, auf ihr sein Gemälde »Das wiedergewonnene Paradies« zu erblicken. Dabei handele es sich um kein allegorisches Bild, es »soll nicht bedeuten sondern sein.« (SäW 4, 190) Hoffmann entlarvt hier nicht nur das Verhältnis des modernen Künstlers zum Mythos als subjektive Projektion, sondern auch das Bedürfnis nach einer Auslöschung der Reflexion im Umgang mit dem Mythos als gefährlichen Irrweg. 3.2.3. Zur Bewusstwerdung des Unbewussten in den Kunstschriften In seiner Auseinandersetzung mit dem Mythos stellt Wagner unter dem Einfluss der Neuen Mythologie der Romantik verschiedene Gegensatzpaare heraus, um sie dann in einer höheren Einheit zusammenzuführen: Ton und Wort, Mythos und Geschichte, Gefühl und Verstand. Doch hinter diesen steht eine letzte und für das Verständnis der Wagnerschen Ästhetik zentrale Dichotomie, ohne die die Synthese auf einer höheren Stufe nicht verständlich wäre: Der Gegensatz zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein.113 In der Theorie Wagners unterscheidet sich die erste Epoche des triadischen Modells von der dritten dadurch, dass letztere die zu Beginn nur unbewusst angelegte Harmonie nun mit Bewusstsein vollziehe. Erinnert sei hier noch einmal an Wagners Brief an Hanslick, wo dieser Zusammenhang wie folgt in Worte gefasst wird: »Das bewußtlos produzirte Kunstwerk gehört Perioden an, die von der unseren fern ab liegen: das Kunstwerk der höchsten Bildungsperiode kann nicht anders als im Bewußtsein

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Dresdener Mai-Aufstand von 1849 entstanden sind, der Revolutionär Wagner bei ihrer Niederschrift also bereits gescheitert war. Zudem wendet sich Wagner, wie gezeigt, schon in Oper und Drama von der Utopie einer Neuen Mythologie ab, was Frank, da er sich hauptsächlich auf Das Kunstwerk der Zukunft bezieht, übersieht. Wagner spricht an vielen Stellen der Zürcher Kunstschriften von dem Gegensatz von »Unwillkür« und »Willkür«. Vgl. hierzu Franke, Richard Wagners Zürcher Kunstschriften, S. 161–172. Der Gedanke, dass man bei Wagners Begriff des Unwillkürlichen »ständig an das Freud’sche ›Es‹« denken müsse, findet sich schon bei Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 391.

produzirt werden.« (SB II, 538) Auf den ersten Seiten von Das Kunstwerk der Zukunft entwirft Wagner das entsprechende Bewusstwerdungsmodell, das sich an der Naturphilosophie Schellings orientiert: Von dem Augenblicke an, wo der Mensch seinen Unterschied von der Natur empfand, somit überhaupt erst seine Entwickelung als Mensch begann, indem er sich von dem Unbewußtsein thierischen Naturlebens losriß, um zu bewußtem Leben überzugehen, […] von diesem Augenblicke an beginnt der Irrthum als erste Äußerung des Bewußtseins. […] In der Lösung dieses Irrthumes besteht die Erkenntniß, und diese ist das Begreifen der Nothwendigkeit in den Erscheinungen, deren Grund uns Willkür däuchte. Durch diese Erkenntniß wird die Natur sich ihrer selbst bewußt, und zwar im Menschen. […] Die Bethätigung des durch die Wissenschaft errungenen Bewußtseins, die Darstellung des durch sie erkannten Lebens, das Abbild seiner Nothwendigkeit und Wahrheit aber ist – die Kunst. (SSD III, 43f.)

Die dramatische Handlung, so Wagner, sei »der Zweig vom Baume des Lebens, der unbewußt und unwillkürlich diesem entwachsen«, und dann, »von ihm abgelöst, in den Boden der Kunst gepflanzt wird«. Aus diesem entsprieße dann ein neuer Baum, der dem Leben »das Unbewußtsein in ihm zum Bewußtsein von sich erhebt.« (162) Kurz: Der »Gang der menschlichen Entwickelung« sei der »vom Unbewußtsein zum Bewußtsein, vom Unwissen zum Wissen« (52). Was Wagner in Oper und Drama als Vernunft bezeichnet, ist ganz wesentlich als das Ergebnis dieser Bewusstwerdung zu verstehen. Denn die »Keime zur Entwickelung des Verstandes« seien bereits »im unbewußten Gefühle« angelegt. Im Verstand finde sich aber auch »die Nötigung zur Rechtfertigung des unbewußten Gefühles«, weshalb »erst der aus dem Verstande dieses Gefühl rechtfertigende Mensch der vernünftige Mensch« sei (OuD, 230f.). In diesem Sinne sagt Wagner in Das Kunstwerk der Zukunft, das »Ende der Wissenschaft« sei das »gerechtfertigte Unbewußte« (SSD III, 45). Der Dichter ist deshalb »der Wissende des Unbewußten, der absichtliche Darsteller des Unwillkürlichen« (OuD, 277).114 Anders als die den »Urmythos« schaffenden Urvölker, deren »dichterisch gestaltende Kraft« eine »unbewußt gemeinsame« gewesen sei (170), müsse der Dichter »im Denken bereits so einig mit sich sein, daß er aller Hülfe des logischen Mechanismus sich begeben und mit vollem Bewußtsein sich an das untrügliche Empfängnis des unbewußten, reinmenschlichen Gefühles mitteilen kann.«115 (206) Wagner definiert seine Neue Mythologie genau in diesem Sinne: Wollen wir nun das Werk des Dichters nach dessen höchstem denkbaren Vermögen genau bezeichnen, so müssen wir es den aus dem klarsten menschlichen Bewußtsein gerecht-

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Dass Richard Wagners Diktum vom Dichter als dem Wissenden des Unbewussten sein Vorbild in der Romantik hat, erwähnt bereits Loos, Richard Wagner, S. 274. In Das Kunstwerk der Zukunft sprach Wagner noch dem Volk die Fähigkeit zu, vom Unbewussten zum Bewusstsein zu gelangen: »Denn im Kunstwerk werden wir Eins sein, – Träger und Weiser der Nothwendigkeit, Wissende des Unbewußten, Wollende des Unwillkürlichen«. (SSD III, 50).

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fertigten, der Anschauung des immer gegenwärtigen Lebens entsprechend neu erfundenen und im Drama zur verständlichsten Darstellung gebrachten Mythos nennen. (227)

Dass er damit den Romantikern folgt, zeigt ein Vergleich mit August Wilhelm Schlegels Kunstlehre aus den Jahren 1801/02. In ihr beschäftigte sich Schlegel ebenfalls mit dem Mythos: In den früheren Epochen der Bildung gebiert sich in und aus der Sprache, aber ebenso notwendig und unabsichtlich als sie, eine dichterische Weltansicht, d.h. eine solche, worin die Phantasie herrscht. Das ist die Mythologie. Diese ist gleichsam die höhere Potenz der ersten durch die Sprache bewerkstelligten Naturdarstellung; und die freie selbstbewußte Poesie, welche darauf fortbaut, für welche der Mythus wieder Stoff wird, den sie dichterisch behandelt, poetisiert, steht folglich noch um eine Stufe höher.116

Entscheidend sind hier die Attribute »frei« und »selbstbewusst«. Auch bei Schlegel garantieren sie, dass die neue Mythologie auf einer höheren Stufe als die alte steht. Bei Wagner steht über dem Dichter allerdings noch der Künstler, den man mit einem von Ludwig II. auf Richard Wagner gemünzten Bonmot einen »Worttondichter«117 nennen könnte. Er vereint in sich die Eigenschaften des unbewusst komponierenden Musikers und des bewusst schaffenden Dichters – auch er also ein ›Wissender des Unbewussten‹. Ihm hat Beethoven, wie Wagner glaubt, durch das Finale seiner neunten Symphonie den Weg gewiesen, als er die Geburt des Wortes aus der Musik, des Bewusstseins aus dem Unbewussten vorführte. Allerdings sei Beethoven selbst seine Errungenschaft nicht bewusst gewesen. »Immer noch im vollsten Irrtume befangen, löste dennoch seine Tat der Welt die Binde vom Gesicht« (74). Beethovens Melodie118 habe das »Geheimnis der Musik gelöst: wir wissen nun, und haben die Fähigkeit gewonnen, mit Bewußtsein organisch schaffende Künstler zu sein.« (113) Dichter und Musiker müssten beide den Erdball von einem gemeinsamen Punkte aus durchwandern, um sich am Schluss wieder zu treffen. Nur so würde ihnen, »was sie früher in ahnungsvollen Träumen sich so und so gestaltet dachten«, am Ende »bewußt« werden. »Sie sind eins; denn jeder weiß und fühlt, was der andere weiß und fühlt. Der Dichter ist Musiker geworden, der Musiker Dichter« (313). Dass Wagner in der ihm eigenen Unbescheidenheit dies nur als Bild verstanden haben wollte und er in Wahrheit nicht an ein Künstlerduo, sondern an sich selbst dachte, als er diese Zeilen schrieb, räumte er selbst ein.119

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A.W. Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, Bd. 2, S. 226. König Ludwig II. und Richard Wagner. Briefwechsel, hg. vom Wittelsbacher Ausgleichs-Fonds und von Winifred Wagner, bearbeitet von Otto Strobel, 5 Bde., Karlsruhe 1936, Bd. 5, S. 114. Der Melodie kommt bei Wagner eine zentrale Aufgabe bei dieser Bewusstwerdung des Unbewussten im Spannungsfeld von Musik und Sprache zu: »Die Melodie ist die Erlösung des unendlich bedingten dichterischen Gedankens zum tiefempfundenden Unbewußtsein höchster Gefühlsfreiheit: sie ist das gewollte und dargetane Unwillkürliche, das bewußte und deutlich verkündete Unbewußte«. (OuD, 292f.). Hinsichtlich der Frage, »ob wir uns Dichter und Musiker in zwei Personen oder nur

Schließlich sei er durch sein bisheriges Schaffen als Künstler »vom Unbewußtsein zum Bewußtsein« gelangt (371). Es besteht also kein Zweifel, dass die romantische Konzeption des Unbewussten in Wagners theoretischen Schriften deutliche Spuren hinterlassen hat. Das triadische Modell, das durch die Beschäftigung mit dem Mythos in sein Denken und Schaffen drang, hat die naturphilosophische Idee einer Bewusstwerdung des Unbewussten nicht abgelöst, sondern ergänzt.120 Die Frage ist nun, wie sich diese theoretische Erkenntnis auf die Musikdramen übertragen lässt. Dieses Kapitel ging ja von der Beobachtung aus, dass Wagner in allen seinen Werken eine triadische Struktur entwirft, in der es um die Trennung vom und die Wiederversöhnung mit dem Numinosen geht. Dank der Darstellung der romantischen Neuen Mythologie ist nun klar, dass diese Rückkehr zum Numinosen nicht eine bloße Wiederherstellung des bereits Gewesenen ist, sondern einem dialektischen Modell gehorcht: Das, was zu Beginn rein unbewusst war, soll nun mit Bewusstsein wiedergefunden werden. Idealtypisch hat Wagner dieses Modell in Oper und Drama am Beispiel der Antigone entworfen, die durch ihre »vollbewußte« Liebe den unmenschlichen Staat Kreons überwunden habe: »In diesem Bewußtsein des Unbewußten war sie der vollendete Mensch« (198). Natürlich heißt das nicht, dass in Wagners Musikdramen diese Utopie eingelöst würde. Aber die Bewusstwerdung des Unbewussten bildet dennoch das heimliche Ziel der Handlung. In einem nächsten Schritt soll nun gezeigt werden, dass Wagner das Wiederfinden des Goldenen Zeitalters nicht nur als einen politischen und ästhetischen, sondern auch als einen individuellen Prozess begreift. In seinem Werk lässt sich jene Verlagerung mythischen Denkens vom Kollektiv ins Individuum beobachten, die im 19. Jahrhundert mehrmals theoretisch reflektiert wurde. Zum Beispiel von Schelling, der in seiner Philosophie der Mythologie (1842) die »mythologischen Vorstellungen« als das Ergebnis eines Verdrängungsprozesses definierte. Sie entstünden dadurch, dass »die in der äußeren Natur schon besiegte Vergangenheit im Bewußtseyn wieder hervortritt, jenes in der Natur schon unterworfene Prinzip jetzt noch einmal sich des Bewußtseyns selbst bemächtigt.« (S II/2, 129) Man könnte diese

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in einer zu denken haben sollen« (OuD, 369), bevorzugt Wagner letztere Variante. Er begründet dies mit der soziologischen Trennung von Dichter und Musiker in der »heutigen staatlichen Gesellschaft« (370). »Nur der Einsame« habe die Kraft, dieses waghalsige Unternehmen »mit trunkenem Mute« in die Tat umzusetzen. »Denn er allein ist von zwei künstlerischen Gewalten gedrängt; denen er nicht widerstehen kann und von denen er sich willig zum Selbstopfer treiben läßt.« (371) Woraufhin Wagner in einer Fußnote die Aufmerksamkeit auf seine Person und seine Künstlerbiographie lenkt: »Ich muß hier ausdrücklich meiner selbst Erwähnung tun« (ebd.). Das die Dialektik von Unbewusstem und Bewusstem für das Verständnis der Zürcher Kunstschriften zentral ist, übersieht auch Udo Bermbach. Zwar betont er völlig zu Recht, dass Wagners Diktum von der »Gefühlswerdung des Verstandes« keinen Irrationalismus predigt. Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 187f. Aber was Wagner damit genau meinte, lässt sich nur mit dem Begriff des Unbewussten erschließen.

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Zeilen so deuten, dass das Wissen und die Verhaltensweisen vergangener Kulturen in der Psyche des Individuums bewahrt bleiben. Sie sind im Unbewussten gespeichert und können jederzeit wieder hervortreten. Das moderne Bewusstsein gründet also auf archaischen Denkmustern. In diesem Sinne schreibt Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches (1878), der träumende Mensch gleiche einem »Wilden«, denn er sei während des Schlafes nur Unzusammenhängendes zu denken imstande. »Im Schlaf und Traum machen wir das Pensum früheren Menschenthums noch einmal durch.«121 Damit in enger Verbindung steht die Idee, dass der Mensch in seiner individuellen Geschichte die phylogenetische Entwicklung des Geschlechts erneut durchlaufe. Sie gelangte vor allem durch die Schriften Ernst Haeckels zu großem Einfluss und fand dank der Psychoanalyse ihren Weg ins 20. Jahrhundert. So setzt Sigmund Freud in seiner Studie über Das Unheimliche aus dem Jahr 1919 seinen Untersuchungsgegenstand in Beziehung mit der alten Weltauffassung des Animismus. Dieser habe sich ausgezeichnet »durch die Erfüllung der Welt mit Menschengeistern« sowie »die narzißtische Überschätzung der eigenen seelischen Vorgänge«. Freud geht davon aus, dass »wir alle in unserer individuellen Entwicklung eine diesem Animismus der Primitiven entsprechende Phase durchgemacht haben«, weshalb mit dem »Unheimlichen« der Moment bezeichnet sei, in dem animistische Vorstellungen wieder akut würden.122 Es ist bekannt, dass die Phase, die sich durch primären Narzissmus kennzeichnet, für Freud die Kindheit war. »Der Säugling«, schreibt er in Das Unbehagen in der Kultur (1930), »sondert noch nicht sein Ich von einer Außenwelt als Quelle der auf ihn einströmenden Empfindungen.«123 In der ersten Zeit unserer Existenz gleichen wir also den ersten Menschen. »Wie der Planet noch um seinen Zentralkörper kreist, außer daß er um die eigene Achse rotiert, so nimmt auch der Mensch am Entwicklungsgang der Menschheit teil, während er seinen eigenen Lebensweg geht.«124 Indem die Urerfahrung, die das mythische Denken darstellt, in die Frühphase der individuellen Entwicklung verlegt wird, erscheint der Mythos in den Schriften Freuds als eine »anthropologische Universalie von gegenwärtiger Aktualität«.125 Der Ödipus-Komplex, den Freud für eine solche Universalie hielt, bietet das Muster, mit dessen Hilfe das moderne Subjekt seine Psyche zu deuten vermag. Im Unbewussten eines jeden jungen Mannes schlummert der archaische Wunsch, seinen Vater zu töten und mit seiner Mutter zu schlafen. Der Mythos, der einst allgemein verbindlich war, führt sein Leben im Innenraum des Subjekts fort. Er ist dem modernen Menschen, wie es bei Hoffmann heißt, nur als »innerer Sinn« zugänglich (SäW 2/1, 321).

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Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 2, S. 32. Sigmund Freud, Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt am Main 1969ff., Bd. 4, S. 263. Freud, Studienausgabe, Bd. 9, S. 199. Ebd., S. 266. Assmann / Assmann, Mythos, S. 190.

Dass auch Richard Wagner diese Internalisierung des Mythos reflektierte, zeigt seine Schrift Oper und Drama. In einer berühmten Formulierung heißt es dort, der Mythos sei »Anfang und Ende der Geschichte« (OuD, 230). Selten wird jedoch die Erklärung zitiert, die Wagner diesem Urteil folgen ließ: Diese Entwicklung werde nicht nur von der Menschheit im allgemeinen, sondern von jedem sozialen Individuum dem Wesen nach durchschritten (ebd.).

Die Bedeutung dieses Satzes für das Werk Richard Wagners lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen. Denn er formuliert eine Einsicht, die in Wagners Musikdramen zur Darstellung gelangt ist: Dass nicht nur die Gesellschaft als Ganzes, sondern auch die Seelengeschichte jedes Einzelnen ein mythologisches, vorbewusstes Stadium kennt. Wie die Romantiker und Freud transferiert Wagner das von der Aufklärung verdrängte Wissenssystem des Mythos ins Subjekt – auch deshalb ist sein Werk ein wichtiges Verbindungsglied zwischen dem beginnenden und dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Diese These soll nun anhand einiger ausgewählter Beispiele näher ausgeführt werden. Dabei konzentriert sich die Untersuchung zunächst auf das spezifische Zeitgefühl, dem die Figuren in Wagners Musikdramen unterworfen sind: Ihre Wahrnehmung der Gegenwart bleibt immer an ein entrücktes ›Einst‹ gebunden, als das unter anderem die Kindheit fungiert. Sodann wird gezeigt, wie dieses mythische Bewusstsein mehr und mehr ins Traumatische abgleitet, das Unbewusste von einem Ort der Sehnsucht und des Goldenen Zeitalters zu einem Ort des bedrohlichen Schmerzes und der verbotenen Wünsche wird.

3.3.

Mythos und romantisches Zeitempfinden

3.3.1.

Die Ahnung der Erinnerung: Romantische Mythomotorik

Für Thomas Mann war Richard Wagners Genie ein doppeltes. Was dessen Werk über »das Niveau alles älteren Schauspiels« hebe, seien zwei Mächte, »die man für feindlich einander entgegengesetzt halten sollte«, nämlich »Psychologie und Mythus.«126 Das Werk des Mythen-Schöpfers Wagner weise bis »ins Erste und Früheste menschlichen Bildträumens.« Am Ende der Götterdämmerung liege nicht nur der von Hagen ermordete Siegfried, sondern »der Sonnenheld selbst« auf der Bahre, »erschlagen von bleicher Finsternis«.127 Dagegen dringe der Psychologe Wagner, über den »ein Buch zu schreiben wäre«, in das Innenleben des Subjekts vor. Dies treffe auf seine Musik, die durch die Leitmotive zu einem »Werkzeug psychologischer Anspielungen, Vertiefungen, Bezugnahmen« werde, genauso zu wie auf die Dichtungen, die »von Anfang an übers Librettomäßige hinaus« wiesen. Wie schon

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Vaget, Im Schatten Wagners, S. 91f. Ebd., S. 95.

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Der fliegende Holländer zeige, sei niemals vor Wagner »seelisch so Verschlungenes« gesungen worden.128 Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, wie diese Verquickung von Mythos und Psychologie bei den Figuren in Wagners Musikdramen ein Zeitgefühl hervorruft, das sich bereits in der Romantik beobachten lässt. Das Muster, um das es dabei geht, zeigt sich beispielhaft im dritten Aufzug der Meistersinger von Nürnberg. Dort gibt Walther in der Schusterstube des Hans Sachs die erste Version seines Preisliedes zum Besten. In den Versen dieses Liedes lässt Wagner geschickt das kulturelle mit dem subjektiven Zeiterleben verschmelzen. In der ersten Strophe beschreibt Walther, wie ihm in seinem Traum ein Baum erscheint und ein »Weib, so schön und hold ich nie gesehn«, dessen Frucht zeigt (M, 124). Er spielt dabei nicht nur auf das biblische Motiv des Sündenfalls an, sondern auch auf die Handlung des zweiten Aktes. Dort versteckte er sich mit Eva, als sie aus der Stadt fliehen wollten, unter einer Linde (81). »Eva aus dem Paradies« nannte Sachs die Tochter des Goldschmiedes Pogner deshalb spöttisch in seinem Schusterlied (85).129 In der dritten Strophe entwirft Walther dann die Utopie einer Rückkehr ins Paradies, wo ihm, einem antiken Poeta laureatus gleich, eine Frau den Lorbeerkranz aufsetzen wird: »Dort Huld-geboren, / nun Ruhm-erkoren, / gießt paradiesische Lust / sie in des Dichters Brust« (140).130 Dies geht am Schluss des Dramas tatsächlich in Erfüllung: Nachdem sein Lied von dem auf der Festwiese versammelten Volk begeistert aufgenommen worden ist, drückt Eva »einen aus Lorbeer und Myrten geflochtenen Kranz« auf Walthers Stirn (164). Die Erinnerung ist also ebenso wie die Ahnung doppelt konnotiert: durch das numinose Urereignis des Paradieses und das individuelle Erlebnis Walthers und Evas. Damit lässt sich in Walthers Preislied dieselbe Technik der Überlagerung von Mythos und Psychologie beobachten, die E.T.A. Hoffmann so häufig in der Figurenzeichnung seiner Texte eingesetzt hat. Nicht nur in Meister Martin der Küfner,131 sondern auch im Goldenen Topf wird zahlreichen Figuren eine Entsprechung auf der mythologischen Ebene zugewiesen. Der Archivarius Lindhorst ist ein aus Atlantis vertriebener Salamander, die wahre Gestalt des Apfelweibes eine Runkelrübe, der Konrektor Paulmann ein Uhu (SäW 2/1, 298). Entsprechend findet auch

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Ebd., S. 92. Das Bild des Baumes, das Walther in seinem Preislied bemüht, enthält übrigens auch eine intertextuelle Anspielung: In Gottfried von Straßburgs Tristan treffen sich die Liebenden unter einem Ölbaum. Vgl. die Baumgartenszene in Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. von Friedrich Ranke, 2 Bde., Stuttgart 2007, S. 282ff. In der Festwiesen-Version lauten die letzten Zeilen des Preisliedes: »Am lichten Tag der Sonnen / durch Sanges Sieg gewonnen / Parnaß und Paradies!« (M, 163) Hierzu bemerkt Klaus Kropfinger: »Des ›lyrischen Motivs‹ Einbeziehung in Walthers ›Traumlied‹, das schließlich im ›Preislied‹ nochmals überboten wird, versinnbildlicht in der schließlich kulminierenden Vorstellung von Liebe, Natur und Kunst das Ideal des ›goldenen Zeitalters‹.« Kropfinger, Wagners triadische Zeitbeschwörung, S. 91. Siehe hierzu die Ausführungen in der Einleitung dieses Kapitels.

die Bürgertochter Veronika ihr Gegenbild in einem Fabelwesen, der Schlange Serpentina.132 Der Erzähler selbst weist – im Vorgriff auf das ›serapiontische Prinzip‹ – darauf hin, dass die Wirkung der Poesie gerade darin bestehe, die Realität in der Phantasie zu spiegeln: Ja! in diesem Reiche, das uns der Geist so oft, wenigstens im Traume aufschließt, versuche es, geneigter Leser! die bekannten Gestalten, wie sie täglich, wie man zu sagen pflegt im gemeinen Leben, um dich herwandeln, wieder zu erkennen. (252)

Hoffmann taucht seine Figuren konsequent ins Licht des Mythos. Dies ruft auch in seinen Werken ein spezifisches Zeitbewusstsein hervor. Die Figuren erleben ihre Gegenwart als unerfüllt und sehnen sich nach der Vergangenheit: Der Archivarius würde gerne wieder der Salamander werden, der er einst war. Genau wie der junge Droßelmeier in Nußknacker und Mausekönig, der von Frau Mauserink in einen Nußknacker verzaubert wurde. Doch während Droßelmeier wieder seine ursprüngliche Gestalt finden wird und in das Paradies, aus dem er vertrieben wurde, zurückkehren kann, hält der Goldene Topf das ständige Wechselspiel zwischen Phantasiewelt und Realität, Erinnerung und Gegenwart bis zum Schluss in ironischer Schwebe. Zwar wird den Figuren ihre Herkunft aus dem Goldenen Zeitalter und damit ihre eigentliche Existenz immer wieder vor Augen geführt, die endgültige Rückkehr nach Atlantis scheint aber problematisch. Der Erzähler sieht den Studenten Anselmus am Schluss des Märchens »auf seinem Rittergute in Atlantis«, ihm selbst bleibt der Zugang aber verwehrt.133 Dem Menschen wird der Verlust der Urzeit zum vorherrschenden Lebensgefühl, ihm bleibt nur »ein unendliches Sehnen«, das ihm »die dunkle Kunde von dem wundervollen Reiche geben wird, das er sonst bewohnen durfte« (290). Dieses für die romantische Subjektivität typische Zeitempfinden erinnert auf den ersten Blick an entsprechende Ausführungen Schillers in Über naive und sentimentalische Dichtung, ein Text, der die möglichen ästhetischen Folgen eines triadischen Geschichtsverständnisses beschreibt. Wenn die Natur den vergangenen und das Ideal den zukünftigen Zustand repräsentiere, jene als »verloren«, dieses als »unerreicht« dargestellt würden, so seien sie ein Gegenstand der »Trauer« geworden. Dies nennt Schiller »Elegie«. Als Beispiele führt er »die Trauer über verlorne Freuden« an, »über das aus der Welt verschwundene goldne Alter, über das entflohene Glück der Jugend, der Liebe«.134 Die Romantiker gehen aber in einem wichtigen

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Als Veronika in den Zauberspiegel blickt, hört sie Anselmus den Satz sagen: »Ach! – sind Sie es liebe Mademoiselle Paulmann! aber warum belieben Sie sich denn zuweilen als ein Schlänglein zu gebehrden?« (SäW 2/1, 283). Vgl. zu dieser Spielart »verschobener Identität« bei Hoffmann den Überblick von Dirk Uhlmann, Identität, verschobene und nicht-identische. In: E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Detlef Kremer, Berlin 2009, S. 501–503. Siehe dazu den Kommentar der hier verwendeten Ausgabe (SäW 2/1, 774–777). Friedrich Schiller, Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke,

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Punkt über diese elegische Empfindung hinaus. Denn die goldene Zeit enthielt in ihrem Mythenverständnis eine Verheißung, die sich in der Gegenwart noch nicht erfüllt hat. In seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft schreibt Gotthilf Heinrich von Schubert, »fast anderthalb Jahrtausende« hätten »das göttliche Ideal der neuen Zeit […] mit tiefer Innigkeit in ihrem Schooß ernährt, ohne daß es gelungen wäre, weder in den Künsten noch in den Wissenschaften, es auszusprechen.«135 Man könnte diese Vorstellung mit Aleida und Jan Assmann »Mythomotorik« nennen: Die Erinnerung an die Vergangenheit wird nicht als Legitimierung der Gegenwart, sondern »als ›Motor‹ für die Verwirklichung kollektiver Ziele, Hoffnungen, Ideale« verwendet.136 Dies ist es, was die Romantiker als Neue Mythologie konzipierten, in deren Zentrum der »kommende Gott« Dionysos stand. Es wäre deshalb verfehlt, die Romantik als rückwärtsgewandte Altertümelei zu charakterisieren.137 Im Gegenteil: Ihr Mythos-Projekt hatte auf die fortschrittlichen Utopiebildungen des 19. Jahrhunderts einen enormen Einfluss. Das gilt nicht nur für den französischen Frühsozialismus,138 sondern auch für die Zürcher Kunstschriften Richard Wagners. Im Jahr 1849 machte sich Wagner Notizen zu einem Essay mit dem Titel »Das Künstlerthum der Zukunft«, den er allerdings nicht fertigstellte. Diesen Notizen findet sich ein Zitat des Lykurgos von Sparta vorangestellt: »Das Volk, das seine Vergangenheit nicht ehrt, hat keine Zukunft.«139 (SSD XII, 252) Ein Satz, der einen der zentralen Gedanken der Ästhetik wiedergibt, die Wagner in seiner Zürcher Zeit konzipierte. Der Entwurf der Zukunft war für ihn nur durch den Blick in die Vergangenheit, Fortschritt nur durch Rückschritt möglich.140 Das

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Weimar 1943ff., Bd. 20, S. 448–450. Schiller präzisiert, dass diese Phänomene nur dann zum Stoff einer elegischen Dichtung werden könnten, »wenn jene Zustände sinnlichen Friedens zugleich als Gegenstände moralischer Harmonie sich vorstellen lassen.« (ebd., S. 450). Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 12f. Assmann/Assmann, Mythos, S. 197. Deshalb ist es falsch, wie Dieter Borchmeyer zu behaupten, dass die Mythologie der Romantik sich durch ihre »antiquarischen Züge […] tiefgreifend von der späteren Mythoskonzeption Richard Wagners und Nietzsches« unterscheide. Borchmeyer, Mythos, S. 251. Aus diesem Grund verfängt Udo Bermbachs Argument nicht, dass Wagner »in direktem Gegensatz« zu den Romantikern und in der Nachfolge der französischen Frühsozialisten einen Vorrang des Lebens über die Kunst postuliere (Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 213). Zum Einfluss des Frühsozialismus auf Wagner vgl. auch Manfred Kreckel, Richard Wagner und die französischen Frühsozialisten. Wie Manfred Frank gezeigt hat, lassen sich zwischen dem Denken der Romantik, des Frühsozialismus und Wagners wichtige Parallelen ziehen. Vgl. Frank, Der kommende Gott, S. 219–231 sowie Frank, Mythendämmerung, S. 151–153. Nach heutigem Forschungsstand handelt es sich bei Lykurgos um keine historische, sondern eine mythische Person. Er galt als Vater der Verfassung Spartas. Hierzu schreibt Dieter Borchmeyer: »Wagners Rückkehr zu den Griechen gleicht dem

gilt sowohl für die Gesellschaft, als auch und vor allem für die Kunst. Deutlich wird dieser Gedanke in Eine Mittheilung an meine Freunde, wo Wagner schreibt: Alle unsere Wünsche und heißen Triebe, die in Wahrheit uns in die Zukunft hinübertragen, suchen wir aus den Bildern der Vergangenheit zu sinnlicher Erkennbarkeit zu gestalten, um so für sie die Form zu gewinnen, die ihnen die moderne Gegenwart nicht verschaffen kann. (IV, 311)

Noch im 20. Jahrhundert wird ein linker Denker wie Ernst Bloch den Versuch wagen, den utopischen Gehalt der Vergangenheit zu bewahren. Der Mythos, schreibt Bloch im Jahr 1932, stehe für »unvergangene, weil nie ganz gewordene […] utopische Inhalte in den Beziehungen der Menschen zu Menschen und zur Natur«.141 Die Idee, die Ressourcen der Zukunft aus den in der Vergangenheit abgelagerten Verheißungen zu gewinnen, blieb in der Romantik zwar zunächst auf das gesellschaftliche Kollektiv bezogen, wurde dann aber auf das Innenleben des Individuums übertragen. Auch das romantische Subjekt wird mythomotorisch angetrieben. In zahlreichen Texten ist die Sehnsucht nach dem Verlorenen und Wiederzugewinnenden ins Licht des Zukünftigen getaucht, Erinnerung und Ahnung werden konsequent verschränkt. »Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahndung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten.«142 Diese ah-

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Zurücktreten des Athleten, der den Schwung für den Sprung nach vorn oder in die Höhe gewinnen will.« Borchmeyer weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass Wagners Intention in diesem Punkt mit derjenigen Verdis übereinstimme, der während seiner Arbeit am Falstaff Ähnliches formuliert habe (Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 75). Borchmeyer übersieht bei seiner folgenden Beschäftigung mit der Wagnerschen Konzeption des griechischen Mythos, dass die Denkfigur eines Fortschritts durch Rückschritt auch romantische Wurzeln hat. Sie findet sich übrigens nicht nur in der Neuen Mythologie, wie ein Passus aus Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft beweist. Darin misst Schubert den Erfolg der Naturwissenschaft weniger an der Überwindung alter Wissenssysteme als an deren Wiederentdeckung. Fortschritt ist auch für Schubert zugleich Rückschritt: Nur die Wiederkehr des bereits Gewussten garantiere, dass der Mensch die höchste Stufe seiner Entwicklung erklimme. »Kopernicus war der erste, der, wie man sagt, durch das Lesen der Alten schon früher wieder auf die rechte Bahn der Untersuchungen geleitet, die so einfache Weltordnung wieder anerkannte, die seitdem von ihm den Nahmen hat.« (Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 155) Schubert geht so weit, zu behaupten, »daß jene weisen Alten, von denen ich in der 2ten Vorlesung sprach, auch die Keplerischen Gesetze gekannt haben.« (ebd., S. 156) Diese paradoxe Denkfigur einer Erneuerung aus dem Ursprung ist für Schubert ein Naturgesetz. Er betont, dass die Natur, »ehe sie ihr höchstes Werk beginnt, einer Wiedergeburt aus dem Element, aus welchem im Anfang alles ward, bedarf.« (ebd., S. 291) Die Formulierung »das höchste Werk« bezieht sich hier auf das Auftauchen des Menschen in der Naturgeschichte. Ernst Bloch, Werkausgabe, Frankfurt am Main 1985, Bd. 4, S. 126. Vgl. zu diesem Zitat Frank, Der kommende Gott, S. 36. Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 439f.

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nungsvolle Erinnerung, die Goethe seinen Wilhelm Meister zu Beginn von dessen Lehrjahren erleben lässt, wirkt im Rückblick wie eine Ankündigung romantischen Bewusstseins. Nur zwei Jahre später, 1797, veröffentlichte Friedrich Hölderlin den ersten Band seines Hyperion, in dem es heißt: Dann, wann es stille war, wie in den Tiefen der Erde, wo geheimnisvoll das Gold wächst, dann hob das schönere Leben meiner Liebe sich an. Da übte das Herz sein Recht, zu dichten, aus. Da sagt’ es mir, wie Hyperions Geist im Vorelysium mit seiner holden Diotima gespielt, eh’ er herabgekommen zur Erde, in göttlicher Kindheit bei dem Wohlgetöne des Quells, und unter Zweigen, wie wir die Zweige der Erde sehn, wenn sie verschönert aus dem güldenen Strome blinken. Und, wie die Vergangenheit, öffnete sich die Pforte der Zukunft in mir.143

Diese Stelle zeigt sehr schön, wie die Anverwandlung der mythischen Vergangenheit durch das Subjekt diesem erst ermöglicht, sich in die Zukunft zu projizieren. Wenn Friedrich Schlegel in seinem im Jahr 1799 erschienenen Roman Lucinde über Julius schreibt, dieser habe »sein Zeitalter« vergessen und bilde sich lieber »nach den Helden der Vorwelt«, so will er das durchaus nicht als nostalgische Regression, sondern als utopische Sehnsucht verstanden wissen. Für Julius »gab es keine Gegenwart, denn er lebte nur in der Zukunft«.144 Doch nicht nur die Neue Mythologie und die Idee des Goldenen Zeitalters, auch die Naturphilosophie hat ihren Anteil an diesem spezifisch romantischen Zeitempfinden. In ihrer Theorie markiert die Bewusstwerdung des Unbewussten den Übergang von der Zeitenthobenheit in die Zeitlichkeit. Psychologisch formuliert findet sich dieser Gedanke bei Carl Gustav Carus. Das Ich, schreibt dieser, »ist das Erfaßt-werden einer Gegenwart, in der bis dahin nur im untrennbaren Flusse von Vergangenheit und Zukunft sich offenbarenden Seele«. Es garantiere »in dem Strome des stets halb vergangenen halb zukünftigen Werdens, das Festhalten einer Gegenwart«.145 Doch mit dem Gewinn der Gegenwart geht der Verlust der Einheit von Vergangenheit und Zukunft einher. Dem Ich werden seine Erlebnisse und Erkenntnisse vergänglich, sie drohen in den Strom des Unbewussten zurückzusinken und vergessen zu werden. »Alles und Jedes, was Du denkst, wie Du denkst, was Du fühlst, wie Du es fühlst, was Du lebst und als was Du erscheinst, ist nur eine zeitweilige Offenbarung und kann auf ewige Dauer eben so wenig Anspruch machen, als es von jeher war.«146 Das Bewusstsein von Zeitlichkeit und Vergänglichkeit ist leidvoll. Dem Romantiker bleibt nichts als die ahnungsvolle Sehnsucht, die sich kunstgeschichtlich in den zahllosen Ruinenbildern der Epoche manifestiert. In diesem Sinne interpretiert Schubert den Bildzyklus Die Jahreszeiten von Caspar David Friedrich:

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Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 80. F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 5, S. 50. Carus, Psyche, S. 159. Ebd., S. 477.

Da blickt durch die Trümmer einer alten hohen Vergangenheit, der Mond mit vollem Licht herein. Der Himmel öffnet sich dort über dem Meer, und zeigt sich noch einmal in seinem klaren Blau, wie in der frühen Kindheit. Da wird in prophetischem Schimmer, jenseits des Meeres die Küste eines fernen Landes geahndet. Von seinem ewigen Frühling haben wir vernommen, und wie in ihm jenes tief im Innern wohnende, das wir als Knospe hinüberbringen, reifen wird.147

In dieser Passage wird die Zeitstruktur des romantischen Bewusstseins anschaulich: Der Blick in die Vergangenheit – die sowohl als eine kollektive als auch eine individuelle gedeutet wird – ermöglicht die Ahnung einer verheißungsvollen Zukunft, von der das Bewusstsein freilich nur einen »prophetischen Schimmer« erhascht. Die Erinnerung bekommt durch diese Verheißung erst ihren eigentlichen Sinn. In dieser unauflöslichen Verbindung des »epimetheïschen« mit dem »prometheïschen Princip«148 spiegelt sich das triadische Modell des Goldenen Zeitalters wider. Die Hinwendung zu einer fernvergangenen Zeit birgt immer schon die Hoffnung auf eine goldene Zukunft. Bis diese erreicht wird, bleibt das Ich ein unvollkommenes und unvollständiges, das sich gleichermaßen nach der verlorenen Vergangenheit und der Verheißung des Zukünftigen verzehrt. Bereits Novalis beschäftigten die ästhetischen Auswirkungen dieses Bewusstseinswandels. »Nichts ist poëtischer, als Erinnerung und Ahndung«, schreibt er in den Blütenstaub-Fragmenten.149 »In einem ächt poëtischen Buche«, spinnt er diesen Gedanken in einer späteren Studie fort, gehe erst »der rechte Sinn für die Welt auf. Alle Errinnerung [sic] und Ahndung scheint aus eben dieser Quelle zu seyn«.150 Ähnlich formuliert das A.W. Schlegel in seinen Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur. Die romantische Kunst, so Schlegel, »wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahnung«.151 Anders als Schlegel ließ Novalis seinen theoretischen Überlegungen aber eine künstlerische Umsetzung folgen. Das beste Beispiel hierfür ist sein Roman Heinrich von Ofterdingen, dessen zwei erste Bücher »Erwartung« und »Erfüllung« betitelt sind. In ihnen werden Ahnung und Erinnerung auf komplexe Weise miteinander verwoben,152 wobei sich das durch die formale Anlage hervorgerufene Zeitbewusstsein im Erleben der Hauptfigur widerspiegelt. Während Heinrich im ersten Buch voller jugendlicher Hoffnung auf das Kommende in die Welt aufbricht, sollte das zweite Buch von dem Schmerz geprägt sein, den Heinrich

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Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 307f. Carus, Psyche, S. 28. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 468. Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 558. A. W. von Schlegel, Sämmtliche Werke, hg. von Eduard Böcking, Leipzig 1846, Bd. 5, S. 16. Dies zeigt Wolfgang Frühwald im Nachwort der von ihm herausgegebenen Ausgabe des Ofterdingen. Er schreibt: »Erinnern und Ahnen, damit erstes und zweites Buch des Romans, sind wieder spiegelbildlich angeordnet; das Ahnen des ersten Teiles ist ein Hoffen auf Erfüllung, das Erinnern des zweiten Teiles Vergegenwärtigung des Erwartens.« Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 249.

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durch den Verlust der Vergangenheit erleidet. »Zukunft und Vergangenheit hatten sich in ihm berührt und einen innigen Verein geschlossen«, heißt es über Heinrich.153 Als er nachts mit dem Bergmann wandert, wird er in eine höhere, romantische Stimmung versetzt. Er sieht zur gleichen Zeit »die ernste Vorwelt« und »die klare fröliche Zukunft«, er fühlt, was er durch die Welt »geworden und was sie ihm werden würde«.154 Diese »geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen«155, die der Ofterdingen vornimmt, repräsentiert im Werk des Novalis die Figur der Jungfrau. Was diese so »unaussprechlich anziehend« mache, sei das »Vorgefühl der Mutterschaft – die Ahndung einer künftigen Welt, die in ihr schlummert, und sich aus ihr entwickeln soll. Sie ist das treffendste Ebenbild der Zukunft.«156 Die christliche Überlieferung verschmilzt dabei mit der ägyptischen, wie in Die Lehrlinge zu Sais, wo die »verschleyerte Jungfrau«, die »Mutter der Dinge«, mit der Göttin Isis gleichgesetzt wird.157 Nach ihr sucht der Jüngling Hyazinth und findet sie schließlich in seiner Heimat. Als er ihren Schleier lüftet, ist es aber nicht die Jungfrau, sondern seine Geliebte Rosenblütchen, die ihm in die Arme sinkt.158 Auf den Novalis-Leser E.T.A. Hoffmann hat diese doppelte Charakterisierung der heiligen Jungfrau als Urmutter und Prophetin eine große Wirkung ausgeübt. Die Frauenfiguren, in die sich die männlichen Helden von Hoffmanns Texten verlieben, werden oft mit der traditionellen Mariensymbolik gekennzeichnet. So hat Rosa in Meister Martin der Küfner eine »lilienweiße Stirn« (SäW 4, 508). Weitere Beispiele sind das »lilienblasse Antlitz« (3, 214) der jungen Baronin in Das Majorat und die Beschreibung der Prinzessin Pirlipat in Nußknacker und Mausekönig: Als diese von dem bösen Zauber der Frau Mauserink befreit wird, der ihr Gesicht entstellt hat, steht »ein engelschönes Frauenbild da, das Gesicht wie von lilienweißen und rosaroten Seidenflocken gewebt, die Augen wie glänzende Azure, die vollen Locken wie von Goldfaden gekräuselt.«159 (4, 279) Auch in den Elixieren des Teufels hat Hoffmann die weibliche Hauptperson, Aurelie, als Marienfigur charakterisiert. Als Medardus Aurelie zum ersten Mal erblickt, glaubt er, sie sei »ganz wie die heilige Rosalia gekleidet« (2/2, 57). Diese Vision erfüllt sich am Schluss, als Aurelie in

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Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 322. Ebd., S. 252. Novalis ging es darum, Erinnerung und Ahnung zu verschmelzen, um daraus ein höheres Gefühl transzendenter Zeitenthobenheit zu gewinnen. Die verschiedenen Zeitebenen sollten nach seinen Plänen in einem dritten Buch mit dem Titel Verklärung aufgehoben werden. Vgl. hierzu das Nachwort von Wolfgang Frühwald in Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 248f. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 257f. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 618. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 93. Ebd., S. 95. Weiß, Rot und Gold sind auch die Farben, mit denen der Nußknacker, alias Droßelmeiers Neffe, am Schluss beschrieben wird: »Wie Milch und Blut war sein Gesichtchen, er trug einen herrlichen roten Rock mit Gold, weißseidene Strümpfe und Schuhe« (SäW 4, 304).

eine Art imitatio Mariae verfällt: »Aber siehe, da richtete sich Aurelie langsam auf, und erhob die Hände betend zum Himmel, und aufs neue stürzte alles Volk auf die Knie nieder und rief: Sancta Rosalia, ora pro nobis.« (345) Dass den zu Heiligen stilisierten Frauenfiguren die Fähigkeit der Ahnung zugesprochen wird, wird deutlich in der Szene, in der sich Medardus aus Sehnsucht nach seiner Geliebten auf das Lustschloss des Fürsten begibt. Als er dort schließlich vor ihrem Zimmer steht, sieht er Aurelie in folgender Stellung: Sie »kniete, den Rücken mir zugekehrt vor einem Tabourett auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag« (226). Hoffmann inszeniert hier ein beliebtes Motiv der Renaissance-Kunst: eine »Verkündigung«, in der ein Engel der vor einer aufgeschlagenen Bibel knienden Jungfrau Maria die Geburt Jesu prophezeit. Wie Novalis deutet auch Hoffmann den traditionellen Beinamen Marias, »Annunziata«, in einen Aktiv um. Aurelie wird nicht wie Maria etwas verkündet, sie verkündet selbst. In den Frauengestalten erblicken die männlichen Helden Hoffmanns die Verheißung ihrer Erlösung. »O all’ ihr Heiligen, meine Ahnung«, ruft Aurelie, als sie vor ihrer Weihe einen Blick auf Medardus wirft (339), der, nachdem sie kurz darauf ermordet wird, ihren Tod als »die Verheißung der Sühne« (347) deutet. Nichts verfehlte jedoch die Intention von Hoffmanns Texten mehr, als diese Verklärung der Frauengestalten für bare Münze zu nehmen. »Ach keine hohe Heilige bin ich« (226), sagt Aurelie zu Medardus – ohne verhindern zu können, dass er sie dennoch dazu macht. Der Blick des Mannes formt die Frau zu der mythischen Gestalt, auf die er seine Erlösungshoffnung projizieren kann.160 3.3.2. Die Psychologie des ›Einst‹ in Wagners Musikdramen Von hier führt ein direkter Weg zu Wagners Holländer, dessen Titelheld zwischen Verheißung und Hoffnungslosigkeit hin- und hergerissen ist und dem einzig eine Frau Erlösung verspricht. Bereits seine Auftrittsarie verdeutlicht auf eindringliche Weise das Zeitempfinden, das mit dieser Bewusstseinshaltung einhergeht. Sie teilt sich in drei Abschnitte, die musikalisch unterschiedlich gestaltet sind und in denen sich die verschiedenen Zeitebenen überlagern.161 Der Beginn der Arie ist auf das Vergangene gerichtet: »Wie oft in Meeres tiefsten Schlund / stürzt’ ich voll Sehn-

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In Das Gelübde hat E.T.A. Hoffmann die Stilisierung des Bürgermädchens zur Mariengestalt auf die wohl konsequenteste Weise vorgeführt. In diesem Text erscheint die geheimnisvolle Cölestine als negative Marienfigur. Sie ist verschleiert (SäW 3, 286) und stellt ein Marienbild in ihrem Zimmer auf (289). Der Knabe, den sie gebiert, wird als »sühnender Mittler« bezeichnet und trägt ein »Agnusdei« auf der Brust (291). Doch Cölestine hat ein »totenbleiches« und »marmorweißes Antlitz« (290). Wie Kleists Marquise von O. hat Cölestine eine unerklärliche Jungfrauengeburt (308), die allerdings aufgeklärt wird. Xaver, den Hermenegilda – wie Cölestine mit richtigem Namen heißt – mit ihrem Mann Stanislaus verwechselt, ist der Vater des Kindes. Als sie dies erfährt, bricht Hermenegilda zusammen (314) und erklärt, nachdem sie wieder erwacht ist, fortan im Kloster leben zu wollen. Auf die Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Zeitstruk-

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sucht mich hinab: – doch ach! den Tod, ich fand ihn nicht!« (H, 10) Als der Holländer dann aber von dem Piraten spricht, den er, lebensmüde, zum Kampf herausforderte, wird ihm seine Erinnerung plötzlich gegenwärtig. Der Dialog mit dem Piraten ist in direkter Rede wiedergegeben, ihm folgt das Präsens: »Doch ach! des Meers barbar’scher Sohn / schlägt bang das Kreuz und flieht davon.« (11) Besonders interessant im Hinblick auf die Zeitstruktur der Arie ist der nun folgende Passus: Dich frage ich, gepries’ner Engel Gottes, / der meines Heils Bedingung mir gewann: / war ich Unsel’ger Spielwerk deines Spottes, / als die Erlösung du mir zeigtest an? – (ebd.)

Hier lässt Wagner die Zeitebenen nicht aufeinander folgen, vielmehr sind diese unauflöslich miteinander verwoben. »Als die Erlösung du mir zeigtest an«: Eine für Wagner typische Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft; seine Hoffnung auf Erlösung gewinnt das Subjekt aus der Erinnerung. Entscheidend ist dabei, dass die zentrale Frage, um die seine Existenz kreist, für den Holländer eine akute ist: »Dich frage ich«. Die Gegenwart des Holländers konstituiert sich aus der Verheißung, die das in der Vergangenheit liegende Erlösungsversprechen des Engels birgt. Zu einem späteren Zeitpunkt des Musikdramas, im zweiten Akt, glaubt der Holländer dann in dem Bürgermädchen Senta diesen Engel wiederzufinden: »Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil: / würd’ es durch solchen Engel mir zu Teil!« (37) Die Verheißung der Vergangenheit geht wie bei E.T.A. Hoffmann mit der Mythologisierung der Frauengestalten einher. Die Anrufung des Engels bildet zugleich das Herzstück der Auftrittsarie des Holländers (SW 4/I, Nr. 2, T. 126ff.). Sie hebt sich nicht nur textmetrisch (fünfstatt vierhebige Jamben), sondern auch musikalisch ab. Die scharfe Akzentuierung der anderen Arienteile wird aufgehoben, durch das 34 Takte dauernde, in pianissimo gehaltene tremolo der Streicher scheint die metrische Struktur zu zerfließen und kann höchstens durch die harmonischen Wechsel vom Moll ins Dur erahnt werden: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen ineinander über, der Abschnitt schwebt in Zeitenthobenheit. Nimmt man nun noch die Tatsache hinzu, dass der letzte Teil der Arie ausschließlich auf das Kommende gerichtet ist – der Holländer hofft in seiner Verzweiflung auf den Tag des jüngsten Gerichts –, so ergibt sich in der Anlage eine triadische Struktur: Der erste Abschnitt richtet sich in die Vergangenheit, der letzte in die Zukunft und der Mittelteil bildet den Knotenpunkt, in dem Gegenwart, Erinnerung und Ahnung unauflöslich verwoben sind.162 Die temporale Struktur der ersten Holländer-Arie bildet das Vorbild für Wotans langen Monolog im zweiten Aufzug der Walküre. Auch dieser folgt in seiner

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turen der Musikdramen Wagners und ihre Verbindung zum romantischen Kunstbegriff hat Stefan Kunze hingewiesen. Vgl. Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners, S. 67. Es ist deshalb falsch, wenn Hans Mayer die Figur des Holländers als Ausdruck einer reinen Regression und Senta als zukunftsorientiert beschreibt: »Repräsentiert die Holländer-Gestalt vor allem die Bindung an das Vergangene, so verkörpert Senta die Sehnsucht nach dem Neuen«. Hans Mayer, Richard Wagner, S. 78.

Gliederung den drei Dimensionen der Zeit.163 Zunächst schildert Wotan seiner Tochter Brünnhilde seinen Aufstieg zum obersten Gott, den Raub des Rheingolds durch Alberich und den Bau Walhalls. Ereignisse, durch die seine Gegenwart prekär geworden ist: »Durch Alberichs Heer / droht uns das Ende: / in neidischem Grimm / grollt mir der Niblung« (W, 49f.). Da er seinem Feind nicht selbst gegenübertreten kann, sehnt Wotan am Schluss seiner Erzählung einen noch zu schaffenden Helden herbei, der »mit der eignen Wehr / schüfe die Tat, / die ich scheuen muß« (51). Den Nexus dieses triadisch konzipierten Abschnittes bildet die Prophezeiung Erdas, die Wotan empfängt, als er ein zweites Mal zu ihr, »die alles weiß / was einstens war« (48), zurückkehrt. Hier wiederholt sich das Grundmotiv, das alle Werke Wagners durchzieht: Das Bemühen, durch Regression – Erda ist der »Schoß der Welt« (ebd.) – eine Ahnung der Zukunft zu gewinnen. Auch in der so genannten ›Dresdener Version‹ des Tannhäuser ist es eine numinose Frauengestalt, nämlich Venus, die dem Helden zu Beginn ein verheerendes Schicksal voraussagt: »Zerknirscht, zertreten seh’ ich dich nahn, / bedeckt mit Staub das entehrte Haupt. / – ›O fändest du sie wieder, / die einst dir gelacht! / Ach, öffneten sich wieder / die Tore ihrer Pracht!‹« (T, 15) Tannhäuser wird diesem Spruch nicht entkommen und am Schluss des Musikdramas tatsächlich an die Tore des Venusbergs klopfen. Deshalb muss ihn die »heilige Elisabeth« (57), zu der er seine Geliebte mit seinen letzten Worten stilisiert, erlösen. Auch Wotans Kampf gegen das ihm prophezeite Schicksal scheint aussichtslos. Er ahnt bereits am Schluss seiner langen Erzählung, dass seine Pläne nicht aufgehen werden und seine Sehnsucht deshalb unerfüllt bleiben wird: »Zum Ekel find’ ich / ewig nur mich / in allem was ich erwirke! / Das andre, das ich ersehne, / das andre erseh’ ich nie« (W, 52). Auf besonders komplexe Weise stellt eine Szene aus dem ersten Akt der Walküre das Zusammenwirken von Erinnerung und Ahnung in der Figurenpsychologie dar. Die Rede ist von Siegmunds Monolog (SW 11/I, T. 790–927). Man kann diesen als eigenständige Einheit betrachten, da er formale Geschlossenheit aufweist.164 An

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Die Behauptung von Carl Dahlhaus, dass in Wotans Erzählung »die Gegenwart zu verblassen und zu schrumpfen« droht, weil sich »die Vergangenheit wie ein übermächtiger Schatten über sie legt«, greift deshalb zu kurz. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 55. Inwieweit man einzelne Abschnitte der Wagnerschen Musikdramen formell gliedern kann, ist in der musikwissenschaftlichen Wagner-Forschung seit jeher umstritten. Den Zankapfel bildete dabei zunächst der Begriff der ›dichterisch-musikalischen Periode‹, den Wagner in Oper und Drama verwendet und den Alfred Lorenz in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in seinen umstrittenen Untersuchungen zum »Geheimnis der Form bei Richard Wagner« aufgriff. Lorenz definierte die dichterischmusikalische Periode als Bar-Form (Stollen-Stollen-Abgesang) bzw. als Bogen (ABA). Vgl. Alfred Lorenz, Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner, 2. Aufl., Tutzing 1966 [1924–1933]. Carl Dahlhaus hat diese Verwendung des Terminus dichterisch-musikalische Periode kritisiert, ihr aber nicht jegliche Berechtigung abgesprochen (Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 95ff.). In jüngster Zeit hat

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seinem Beginn herrscht Nacht. In den Pauken ertönt der Rhythmus des HundingMotivs auf einem im Tongeschlecht undefinierten C (T. 793ff.). Siegmund sitzt nahe am Feuer auf seinem Lager und »brütet in großer Aufregung eine Zeit lang schweigend vor sich hin.« (W, 20) Der erste Abschnitt seines nun folgenden Monologes ist stringent in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeteilt. Er setzt mit der Erinnerung an eine Prophezeiung ein: »Ein Schwert verhieß mir der Vater, / ich fänd’ es in höchster Not.«165 (ebd.) Diese erste Verheißung wird nun aber von einer zweiten überlagert, die Siegmunds Reflexionen in dieser Szene steuert: die Erinnerung an Sieglinde. »Ein Weib sah ich, / wonnig und hehr« (20f.). Sodann wechselt der Text ins Präsens, Siegmund beklagt, dass die Frau, »zu der mich nun Sehnsucht zieht«, von einem Mann gefangen gehalten wird, »der mich – wehrlosen höhnt.« In dem berühmten Ausruf »Wälse! Wälse! / Wo ist dein Schwert?« (21) drückt sich dann die Hoffnung aus, dass die Prophezeiung des Vaters sich erfüllen möge und er mit dessen Schwert Sieglinde befreien könne. Die Pointe der Szene besteht darin, dass das Schwert, das in der Esche steckt, durch die aufsprühende Glut des Feuers erhellt wird, also tatsächlich auftaucht. Doch Siegmund deutet dieses Ereignis falsch. Obwohl man, wie der Nebentext verrät, »einen Schwertgriff haften sieht«, glaubt er den Blick Sieglindes wiederzuerkennen. Die Gegenwart, die das Aufleuchten des Schwertes markiert – »Des Blinden Auge / leuchtet ein Blitz« –, wird sofort auf die Vergangenheit bezogen: »Ist es der Blick / der blühenden Frau, / den dort haftend / sie hinter sich ließ« (ebd.). Die doppelte Verheißung, die Siegmunds Gedächtnis eingeschrieben ist, verzerrt seinen Blick auf die Gegenwart. Musikalisch gestaltet Wagner dieses Eindringen der ahnungsreichen Erinnerung in die Gegenwart durch den Gegensatz von Dur und Moll. Kompositionsgeschichtlich ist dieser Kunstgriff deshalb so interessant, weil Wagner den Tongeschlechtern eine bestimmte Zeitebene zuweist. Schon vor der ersten Erwähnung des Schwertes erklingt in der Basstrompete das ihm zugehörige Motiv als dunkle Vorahnung in der Paralleltonart von C-Dur, a-Moll (T. 806f.). Als dann das Schwert aufleuchtet (T. 849–852), hören wir es in der ersten Trompete zum ersten Mal in seiner Bestimmungstonart C-Dur, das durch eine c-Moll-Kadenz vorbereitet wurde. Bereits kurz nach dem Aufscheinen des Feuers deutet sich in den Takten 857f. eine erste

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jedoch Werner Breig schlüssig begründen können, dass sich der Begriff für eine Analyse der Musikdramen ab dem Ring als untauglich erweist. Vgl. Werner Breig, Wagners Begriff der »dichterisch-musikalischen Periode«. In: »Schlagen Sie die Kraft der Reflexion nicht zu gering an«. Beiträge zu Richard Wagners Denken, Werk und Wirken, hg. von Klaus Döge / Christa Jost / Peter Jost, Mainz, London, Madrid u.a. 2002, S. 158–172. Wenn hier Siegmunds Monolog als Einheit bezeichnet wird, ist das vor allem mit einer formalen Geschlossenheit begründet, die sich durch die Lichtregie und den identischen Anfangs- und Schlusston ergibt. Diese Prophezeiung bestimmt auch die Geschichte Siegfrieds, die Mime ihm erzählt. »Sieh her, ein zerbrochnes Schwert! / Dein Vater, sagte sie, führt’ es, / als im letzten Kampf er erlag.« (Sf, 23).

Verdunkelung an. Auch hier geht Wagner recht einfach, aber sehr geschickt vor: Die Trompete hält die Gegenwart des Schwertes durch einen C-Dur-Klang wach, während die übrigen Instrumente in einen a-Moll-Akkord wechseln und so die aufkeimende Erinnerung darstellen, die die Präsenz des Schwertes buchstäblich verfärbt.

Abb. 4: Das Schwertmotiv, harmonisch verdunkelt (SW 11/I, T. 856-859)

Das mythische Bewusstsein Siegmunds erscheint in dieser Szene als besonders problematisch: Sie zeigt, wie das Subjekt, indem es auf die Verheißung der Vergangenheit fi xiert bleibt, seine Gegenwart zu verlieren droht. Das Bewusstsein von Wagners männlichen Helden konstituiert sich also aus einem vergangenen und verklärten Ereignis, das ihre Erwartung an die Zukunft bestimmt. Ob man dabei an den »Engel« Senta denkt, der dem Holländer Erlösung verheißt, an den ahnungsvollen Blick Sieglindes oder an Erdas Weissagung von Wotans Untergang: Die Verheißung der Vergangenheit ist, der Geschlechtstypologie der Romantik folgend, an eine Frau gebunden. Wichtiger für die Frage nach der Psychologisierung des Mythos ist aber die Tatsache, dass die temporale Struktur des Bewusstseins bei Wagner triadisch angelegt ist. Das Zeitempfinden der Figuren kreist um ein entrücktes, meist unerreichbares »Einst«, das sowohl präterital als 141

auch futurisch zu verstehen ist.166 Die triadische Struktur, die in der formalen Anlage von Wagners Musikdramen hervortritt, spiegelt sich somit in der psychischen Struktur der Figuren wider: Das Innere bildet das Äußere ab. Demzufolge lässt sich das Bewusstsein der in Wagners Musikdramen auftretenden Personen als eine Internalisierung mythischer Denkschemata begreifen. Dies verleiht Wagners Werk seine Modernität: Das Leiden an der Gegenwart verbindet sich bei den Figuren mit der Einsicht, dass die versprochene goldene Zeit unerreichbar und die Sehnsucht nach ihr meist unerfüllt bleiben muss. Das Glück, »jenes unbekannte Eden wiederzufinden«, wie der Jüngling Antonio in Hoffmanns Doge und Dogaresse hofft (SäW 4, 450), wird einzig Walther in den Meistersingern zuteil.

3.4.

Muttersegens letzter Gruß: Kindheit, Trauma, Sexualität

3.4.1. Das Goldene Zeitalter der Kindheit und seine Schattenseiten Die ›Verheißung der Vergangenheit‹ steht in enger Verbindung zu einem weiteren Topos, der für die Subjektivierung des Mythos in der Romantik von zentraler Bedeutung ist: die Kindheit. Diese wird von den Romantikern zum Symbol des Goldenen Zeitalters stilisiert. Berufen konnten sie sich dabei auf Vorläufer167 166

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Auf die Bedeutung des »Einst« im Werk Wagners hat unter anderem Thomas Mann hingewiesen: Die Sprache des Mythos bei Wagner sei »die Sprache des ›Einst‹ in seinem Doppelsinn aus ›Wie alles war‹ und ›Wie alles sein wird‹« (Vaget, Im Schatten Wagners, S. 95). Auf diese Diagnose bezugnehmend schreibt Dieter Borchmeyer über den Ring: »So spannt sich der Bogen des Nibelungenmythos vom Einst des paradiesischen Urzustandes der Welt […] zu dem vom abschließenden Verheißungsmotiv verkündeten Einst einer wiederhergestellten Naturordnung.« (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 306f.) Problematisch an beiden Interpretationen ist, dass sie die triadische Zeitstruktur nur im äußeren Handlungsablauf erkennen und nicht in der psychischen Struktur der Figuren. Stattdessen verlegen sie das Moment der modernen Psychologie und Subjektivität ausschließlich in die Musik. »Wie nie zuvor« werde die Musik bei Wagner »zum Werkzeug psychologischer Anspielungen«, schreibt Thomas Mann (Vaget, Im Schatten Wagners, S. 92). In diesem Sinne schreibt Borchmeyer, dass in Wagners System nur »durch das sentimentalische Organ des symphonischen Orchesters« im Musikdrama der Mythos wiedergeboren werden könne. Denn dieses Orchester statte »die naiven Konturen und Konstellationen« des Mythos »mit dem ganzen Bedeutungsreichtum des modernen Lebens« aus (Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 135). Auch Kurt Hübner bezieht die Leitmotivtechnik explizit auf die moderne Subjektivität: »Indem aber Wagner gerade eine Musik aus dem Geiste der Subjektivität auf seine Dramen anwandte, konnte er den Mythos im modernen Sinne ›verinnerlichen‹« (Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 407). Das Moment der triadischen Zeitstruktur in den Reflexionen der Figuren entgeht auch Klaus Kropfinger, der sich eingehend mit dem Motiv von Erinnerung, Gegenwart und Ahnung bei Wagner beschäftigt. Vgl. Kropfinger, Wagners triadische Zeitbeschwörung. Zu den Grundlagen der romantischen Konzeption von Kindheit vgl. die Studie von Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der

wie Friedrich Schiller, der in Über naive und sentimentalische Dichtung schrieb, die Gegenstände der Natur seien die »Darstellung unserer verlornen Kindheit, die uns ewig das theuerste bleibt«. Ein Erwachsener sehe, wenn er ein Kind betrachte, »zu seiner reinen Unschuld« hinauf. »Dem Menschen von Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegenstand seyn«, so Schiller.168 Das Kind, wie es uns empirisch fassbar vor Augen steht, weist für Schiller über sich hinaus ins Universelle. Es repräsentiert die Kindheit des gesamten Menschengeschlechts und erhält deshalb metaphysische Weihen. Diese religiöse Überhöhung verstärkt sich in zahlreichen romantischen Texten.169 Etwa bei Schubert, der das Goldene Zeitalter als »eine Zeit der Kindheit« beschreibt.170 Der Reiz des Kindesalters bestehe in einem »Abglanz des Göttlichen«, so Schubert.171 In diesem Sinne stellt auch Novalis in seinen »Blütenstaub«-Fragmenten fest: »Wo Kinder sind, da ist ein goldnes Zeitalter«.172 Als Symbol einer höheren Vergangenheit wird das Kind für Novalis zum mantischen Medium. Im Frühjahr 1799 notiert er sich einen Satz aus Wackenroders Phantasien über die Kunst, in dem die Kinder zu »Propheten einer schönen Zukunft« verklärt werden, »wie zarte Pflanzen, die unerklärlich aus der längst entflohenen goldenen Zeit zurückgekommen sind«. In ihnen lebe noch »dieser Ätherschimmer, diese Erinnerungen der Engelswelt«, denn »der dunkle Schatten der Erdgegenstände ist noch nicht verfinsternd in den Glanz hineingerückt«.173 Genau diesen Gedanken nimmt No-

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romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck, München 1989. Ewers nennt als Quellen des romantischen Kindheitsbegriffes Herder und Rousseau. Er betont dabei aber, dass in deren Werken zwar die Kindheit in ihrer Bedeutung aufgewertet und als eigenständige Lebensphase begriffen werde, jedoch noch nicht, wie dann bei den Romantikern, als vollkommene und glückselige Periode der individuellen Entwicklung (ebd., S. 52 u. 84). In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Vorstellung von einer ›Entdeckung‹ der Kindheit im 18. Jahrhundert überholt ist. Wie Klaus Arnold gezeigt hat, wurde bereits im Mittelalter die Kindheit als eigene Altersgruppe begriffen. Vgl. Klaus Arnold, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance, Paderborn 1980. Trotzdem weist Annette Simonis darauf hin, dass deutschsprachige Schriftsteller des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ihre Beschäftigung mit dem Kindesalter »als einen Neubeginn« sehen. Dies hänge unter anderem mit der Herausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie sowie der systematischen wissenschaftlichen Erforschung der Kindheit zusammen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzte. Vgl. Annette Simonis, Kindheit in Romanen um 1800, Bielefeld 1992, S. 15f. Schiller, Werke, Bd. 20, S. 414–416. Vgl. hierzu ausführlich Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform, S. 139–201. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 7. Die Kindheit wurde bereits in der Antike mit dem Goldenen Zeitalter in Verbindung gebracht, wo das Kind als Ausdruck der ursprünglichen Verbundenheit des Menschen mit der Natur galt. Vgl. Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters, S. 363. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 303. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 456. Wackenroder, Werke und Briefe, S. 288f. Zu Novalis’ Rezeption dieses Satzes vgl. Paul

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valis auf, wenn er schreibt, »der frische Blick des Kindes ist überschwenglicher, als die Ahndung des entschiedensten Sehers.«174 In seinen Dichtungen spielen Kindgestalten deshalb eine zentrale Rolle. Im Sais-Fragment ist die Rede von einem geheimnisvollen Kind, das die Lehrlinge einst besuchte, »es hatte große dunkle Augen mit himmelblauem Grunde, wie Lilien glänzte seine Haut«. Der Lehrer verkündet daraufhin: »Einst wird es wiederkommen […] und unter uns wohnen, dann hören die Lehrstunden auf.«175 Und am Schluss des Atlantis-Märchens erscheint die Königstochter mit einem Kind auf dem Arm, das die Heraufkunft der goldenen Zeit ankündigt.176 Bedenkt man die eingehende Beschäftigung des Novalis mit der christlichen Überlieferung, so verwundert es nicht, dass sich diese Kindgestalten in seiner geistlich-religiösen Dichtung schließlich als Christus-Figurationen entpuppen.177 E.T.A. Hoffmanns Darstellung der Kindheit war von dieser frühromantischen Idealisierung der Kindheit zweifellos beeinflusst, schließlich kannte er die Werke Novalis’ und Wackenroders sehr genau. Doch in seinen Texten wird die mythologische Dimension durch die psychologische ergänzt. Hoffmann interessiert sich für die Kindheit nicht nur, weil sie auf eine überindividuelle Wahrheit verweist, sondern weil sie das Seelenleben des Erwachsenen entscheidend prägt. Er schloss damit an die Anthropologie der Spätaufklärung an. So fragte Karl Philipp Moritz im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde: Sollten vielleicht gar die Kindheitsideen das feine unmerkliche Band sein, welches unsern gegenwärtigen Zustand an den vergangnen knüpft, wenn anders dasjenige, was jetzt unser Ich ausmacht, schon einmal, in andern Verhältnissen, da war?178

Bereits im 18. Jahrhundert erkannte man, dass die früheste Entwicklungsstufe des Menschen nur schlecht zur Verklärung taugt. Im Jahr 1759 schrieb der Schweizer Philosoph Johann Georg Sulzer über »dunkle Urtheile«, »dunkle Empfindungen« und ein »dunkles Verlangen« in unserem Inneren, die sich von den »Jahren unserer

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Kluckhohn, Neue Funde zu Friedrich von Hardenbergs (Novalis) Arbeit am »Heinrich von Ofterdingen«. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geistesgeschichte 32, H. 3, 1958, S. 391–409, hier S. 406. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 564. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 80f. Ewers versteht diese Kindgestalten in Novalis’ Werk als »allegorische Vergegenwärtigungen« des goldenen Zeitalters (Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform, S. 167). Siehe hierzu auch Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters, S. 362–371. Allerdings sollte man sie, wie Hans-Joachim Mähl betont, nicht darauf reduzieren (ebd., S. 368–371). Novalis steht im Einflussbereich der romantischen Neuen Mythologie, in der die Jesus-Figur eine entscheidende Rolle spielt. Diese verbindet sich, wie etwa in Friedrich Hölderlins Brot und Wein, mit dem antiken Dionysos-Mythos. Vgl. hierzu auch Frank, Der kommende Gott, S. 285–307. Karl Philipp Moritz, Werke, hg. von Horst Günther, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1993 [1981], Bd. 3, S. 105.

Kindheit« herschreiben würden. Aus dieser Dunkelheit stiegen noch im Leben des Erwachsenen Worte und Taten auf, mit deren Hilfe Licht in die Tiefe der Seele gebracht werden könne.179 Sulzer leitete daraus eine Art intrapsychischer Aufklärung ab, die den opaken Grund der Seele erhellen und so die dunklen Urteile überwinden sollte.180 Hoffmanns Beschäftigung mit dem Motiv der Kindheit ist deshalb so aufschlussreich, weil sich bei ihm die mythologische Interpretation mit der psychologischen überschneidet. Dabei wird deutlich, dass unsere frühesten Erinnerungen nicht nur ein Ort der ungetrübten Glücksseligkeit sind, sondern auch opake und traumatische Erfahrungen in sich bergen, die das Subjekt zu destabilisieren drohen.181 Sehr genau hat Hoffmann erkannt, dass in der Moderne das mythologische Wissen subjektiviert wird, der menschlichen Psyche kollektive und objektiv-verbindliche Muster eingewoben werden. Dieser Vorgang lässt sich an seinem Märchen Das fremde Kind ablesen. In ihm begegnen die Kinder Christlieb und Felix im Wald, fern von ihrem Elternhaus, einem Kind, das aus einer anderen Welt zu stammen scheint. Es spielt mit den beiden und lebt ihnen die Verbundenheit mit der Natur vor. In ihm finden Christlieb und Gottlieb das positive Gegenbild zum Magister Tinte, der sie in den Wissenschaften unterrichten und im Auftrag eines reichen Verwandten zivilisieren soll.182 Als das fremde Kind am Schluss von Christlieb und Felix Abschied nimmt und diese über den erlittenen Verlust in Verzweiflung geraten, antwortet es ihnen: Seht ihr mich auch nicht mit leiblichen Augen, so umschwebe ich euch doch beständig und helfe euch mit meiner Macht, daß ihr froh und glücklich werden sollet immerdar. Behaltet mich nur treu im Herzen […]. (SäW 4, 614)

Die Transformation des externalisierten, ausschließlich die Phänomene der Außenwelt wahrnehmenden, in einen internalisierten, von Imagination und Phantasie sich herleitenden Blick ist für die Romantik charakteristisch. Das fremde Kind, dem die Attribute des Goldes (586), der Lilie und der Rose (589) zugesprochen werden und das Christlieb und Felix somit als Repräsentant des Goldenen Zeitalters erscheint, entpuppt sich am Schluss des Märchens als subjektive Phantasie, als in-

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Zit. nach Lütkehaus, Tiefenphilosophie, S. 22. Ebd., S. 23. In Hoffmanns Texten wird damit beispielhaft durchgeführt, was der Germanist Gerhard Neumann als eines der wichtigsten Prinzipien romantischen Erzählens herausgestellt hat. Nämlich »jene heikle Grenzstelle zwischen Memoria und Oblivium, zwischen Festhalten und Verlöschen, aus der – psychologisch gesehen – Vergessen und Wiederkehr der Kindheit als individuelles Trauma, phylogenetisch gesehen aber das Vergessen und Erinnern von kulturellem Wissen – als das Verwandlungsspiel des Mythos – ihre Schlüsselrolle erhalten.« G. Neumann, Romantisches Erzählen (Einleitung), S. 15. Im Mai 1870 liest Richard Wagner seiner Familie aus Das fremde Kind vor und sagt, »daß der Druck der Zivilisation, der Bruch zwischen Natur und Kultur darin sehr gut ausgesprochen sei.« (CT I, 230).

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nere Erfahrung, die dem Individuum angesichts einer wissenschaftlich-rationalen Gesellschaft ein Refugium gewähren soll. Der letzte Satz des Märchens lautet: »Noch in später Zeit spielten sie in süßen Träumen mit dem fremden Kinde, das nicht aufhörte, ihnen die lieblichsten Wunder seiner Heimat mitzubringen« (615). Gleichwohl erscheint die so erlebte Kindheit bei Hoffmann nur in den Märchen als beschützende und glückverheißende Macht.183 Viel öfter wandelt sich das Goldene Zeitalter der Kindheit in eine Zeit der traumatischen Erlebnisse. So sagt Kreisler in den Lebens-Ansichten des Katers Murr: Als ich mich frei fühlte, da erfaßte mich jene unbeschreibliche Unruhe, die, seit meinen frühen Jugendjahren, so oft mich mit mir selbst entzweit hat. Nicht die Sehnsucht ist es, die, wie jener tiefe Dichter so herrlich sagt, aus dem höheren Leben entsprungen, ewig währt, weil sie ewig nicht erfüllt wird, weder getäuscht noch hintergangen, sondern nur nicht erfüllt, damit sie nicht sterbe; nein – ein wüstes wahnsinniges Verlangen bricht oft hervor nach einem Etwas, das ich in rastlosem Treiben außer mir selbst suche, da es doch in meinem eignen Innern verborgen, ein dunkles Geheimnis, ein wirrer rätselhafter Traum von einem Paradies der höchsten Befriedigung, das selbst der Traum nicht zu nennen, nur zu ahnen vermag, und diese Ahnung ängstigt mich mit den Qualen des Tantalus.184 (5, 82)

Hoffmann wendet die frühromantischen Begriffe der »ewigen Jugend« und der »Sehnsucht« ins Traumatische. Das Paradies wird bei ihm ein »dunkles Geheimnis, ein wirrer rätselhafter Traum«, die im »eignen Innern verborgen« liegen. Die Bewusstwerdung des Unbewussten bringt dem Individuum nicht mehr Hoffnung oder gar mystische Entrückung, sondern Tantalus-Qualen. Deren Ursprung, daran lässt Hoffmann keinen Zweifel, ist in der Kindheit zu suchen. Damit steht er in einer Linie mit anderen romantischen Autoren, in deren Texten die Traumata des Subjekts auf die Kindheit zurückgeführt werden. So etwa in Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert (1797) und Liebeszauber (1811), in Achim von Arnims Die Majoratsherren (1819), oder in Clemens Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817), wo das Annerl ihr uneheliches Kind aufgrund eigener traumatischer Erfahrungen ermordet.185 Das prominenteste Beispiel aus Hoffmanns Werk ist sicher Der Sandmann. Die ganze Novelle ist um ein schreckliches Kindheitsereignis des Studenten Nathanael aufgebaut: Der Advokat Coppelius, der seinen Vater regelmäßig in den Abendstun-

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Neben Das fremde Kind ist hier vor allem Nußknacker und Mäusekönig zu erwähnen. »Jener tiefe Dichter«, von dem Kreisler spricht, ist Ludwig Tieck. Kreisler paraphrasiert einen Passus aus dem ersten Teil des Phantasus. Vgl. Ludwig Tieck, Schriften, hg. von Manfred Frank et al., Frankfurt am Main 1985ff., Bd. 5, S. 33. Vgl. zu dieser Stelle auch den Kommentar der hier verwendeten Hoffmann-Ausgabe (SäW 5, 1010f.). Vgl. zu diesen Beispielen Kremer, Romantik, S. 84–86. Eine Zusammenfassung des Themas »Kindheit als Trauma« bei E.T.A. Hoffmann findet sich bei Detlef Kremer, Kindheit als Trauma. In: E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Detlef Kremer, Berlin 2009, S. 506–508. Kremer erwähnt neben den hier analysierten Erzählungen und Romanen noch Ignaz Denner und Die Marquise de la Pivardiere.

den besucht, versucht ihm, als er ihn eines Tages hinter dem Vorhang erwischt, die Augen auszustechen. Immer wieder holt Nathanael dieses Trauma ein, was seinen Aufstieg in der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich macht. Auch wenn es sich beim Sandmann um Hoffmanns wirkungsmächtigste Beschreibung der Nachtseiten der Kindheit handelt, so sind doch andere Textstellen aus seinem Werk für die vorliegende Fragestellung noch interessanter. Denn sie zeigen, was auch in Wagners Musikdramen virulent ist: dass das opake »Paradies der höchsten Befriedigung«, das Kreislers Leben aus den Fugen geraten lässt, sexuell konnotiert ist. Als Theodor in Das öde Haus das verführerische Bild eines Mädchens erscheint, erinnert er sich, wie er als Kind in den Spiegel schaute und daraus eine grüne Fratze hervortrat. »Kurz alles dieses tolle Zeug aus meiner frühen Kindheit fiel mir ein, Eiskälte bebte durch meine Adern« (3, 177). Ähnlich ergeht es Aurelie in Die Elixiere des Teufels, die als kleines Kind Zeugin wurde, wie ihre Mutter in verzweifelter Sehnsucht das Bild des Malers Francesko betrachtete. »Die Gestalt, das Gesicht dieses Mannes machte einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich, ich jauchzte auf vor Freude« (2/2, 238). Das Entzücken, das dieses Bild in der kleinen Aurelie auslöst, wird noch die Libido der Erwachsenen prägen. Zwar verliert sie das Bild aus dem Gedächtnis, fühlt sich aber zu Medardus, der als Abkomme Franceskos diesem ähnlich sieht, in unheimlicher Leidenschaft hingezogen. Hoffmann stellt dieses Erwachen der sexuellen Sehnsucht in der Kindheit als ein ins mythologische Einst entrücktes Ereignis dar, die Verheißung der Vergangenheit wird zum erotischen Versprechen. Im Kater Murr erzählt Kreisler, wie er sich als Zwölfjähriger unter einem Apfelbaum versteckt hielt und auf »die verhallende Stimme des Donners in den fernen Bergen« hörte, »die wie eine Weissagung von unaussprechlichen Dingen in meiner Seele wieder klang« (5, 83). Von Bedeutung ist hier vor allem die mythologische Rahmung des romantischen Zeiterlebens durch den biblischen Sündenfall, auf den der Apfelbaum anspielt. Der Sündenfall ist in den Worten Gerhard Neumanns der »gründende Mythos« romantischer Texte, gleichsam ein »die Erzählstruktur aus sich heraustreibendes Organisationsmuster«.186 Hoffmanns Novelle Doge und Dogaresse führt dies auf exemplarische Weise vor. Antonio, der jugendliche Held, verliebt sich in Annunziata, die junge Frau des Dogen von Venedig. Auch diese Liebe ist von einem Kindheitserlebnis geprägt. Als Knabe, so erinnert sich Antonio, legte er sich eines Tages »unter einen großen Baum«. Dort sieht er seine spätere Geliebte zum ersten Mal. »Ein Engelskind mit himmlischem Antlitz stand neben mir«. Just zuvor hat das Mädchen, wie sie ihm berichtet, eine »kleine schwarze Schlange« erschlagen, die Antonio beißen wollte (4, 463). Dieser ist von dieser Rettungstat so überwältigt, dass er Annunziata küsst. Geschickt setzt Hoffmann in dieser Szene zwei zentrale Motive der christlichen Ikonographie in Beziehung: Marienfigur und Sündenfall. Die Verheißung der Liebe, die Annunziata im Namen trägt, erscheint im Bild der schwarzen Schlange

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zugleich als lebensbedrohliches Ereignis. Obwohl Annunziata die Schlange mit einem Nußzweig erschlägt und so die Gefahr zu bannen scheint,187 kehrt diese zurück: als Annunziata, nachdem sie Antonio wiedergesehen hat, von einem Skorpion gebissen wird. Das in der Kindheit geweckte Begehren erscheint so im buchstäblichen Sinn des Wortes als Trauma: eine Wunde, mit der das Subjekt gezeichnet ist. Ebenso ergeht es dem Knaben Franz in den Elixieren des Teufels. Als die Äbtissin dessen Namen erfährt, ruft sie mit der »tiefsten Wehmut: Franziskus! Und hob mich auf und drückte mich heftig an sich, aber in dem Augenblick preßte mir ein jäher Schmerz, den ich am Halse fühlte, einen starken Schrei aus« (2/2, 18). Das »diamantne Kreuz« der Äbtissin fügt ihm eine Wunde zu, die auch dem Mönch Medardus, wie Franz sich später nennen wird, als lebenslanges Mal erhalten bleibt, »eine rote kreuzförmige Narbe […], die die Zeit nicht vertilgen konnte« (205). Ihre Bedeutung erhält diese Szene aus der Tatsache, dass es sich bei der Äbtissin um eine ehemalige Geliebte von Medardus’ Vater handelt. Die Verwundung des Knaben ist »ein Akt der Initiation«, so Detlef Kremer, durch den die Äbtissin »das erotische Verhältnis zum Vater am Sohn symbolisch wiederholt.«188 Das Erwachen des sexuellen Begehrens in der Kindheit enthält bei Hoffmann also eine inzestuöse Komponente. Dies wird nicht nur in den Elixieren des Teufels, sondern auch in Die Bergwerke zu Falun deutlich. In dieser Novelle wird der junge Bergmann Elis Fröbom von der Sehnsucht nach einer mysteriösen »Königin« getrieben, die ihn immer tiefer in den Berg eindringen lässt.189 In einer Traum-

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Gerhard Neumann deutet diese Szene als »Umdeutung des Sündenfalls zum Heilsgeschehen. Was im erzählten Traum geschieht, ist nichts Geringeres als die Verwandlung der Verführerin Eva in die Erlöserin Maria.« Er belegt dies mit einem Hinweis auf die traditionelle christliche Ikonographie: Der Nußzweig, mit dem Annunziata die Schlange erschlägt, deute auf die reine Erlösungstat Christi. »Was der Traum Antonios in Szene setzt, ist das Erwachen zum Leben, das den Sündenfall unterschlägt – und mit ihm das vergessene Geheimnis des erotischen Rätsels.« Gerhard Neumann, Narration und Bildlichkeit. Zur Inszenierung eines romantischen Schicksalsmusters in E.T.A. Hoffmanns Novelle »Doge und Dogaresse«. In: Bild und Schrift in der Romantik, hg. von Gerhard Neumann / Günter Oesterle, Würzburg 1999, S. 107–142, hier S. 117f. Kremer, Kindheit als Trauma, S. 507. Dass das Bergwerk spätestens seit Novalis’ Heinrich von Ofterdingen in der Romantik »zu einer zentralen Metapher für die verborgenen Seelenareale des Subjekts« avancierte, hält Thorsten Valk in seiner Interpretation der Novelle fest. Thorsten Valk, Die Bergwerke zu Falun. Tiefenpsychologie aus dem Geist romantischer Seelenkunde. In: E.T.A. Hoffmann, Romane und Erzählungen, hg. von Günter Saße, Stuttgart 2004, S. 168– 181, hier S. 169. Auch Hartmut Böhme betont bei seiner Analyse von Tiecks Runenberg und Hoffmanns Bergwerken, dass der Berg in romantischen Erzählungen das Unbewusste repräsentiert. Das Gleiche gelte für den Raum des unendlichen Meeres, der zu Beginn der Bergwerke evoziert wird: »Die Raumordnung in den Bergwerken ist darum so interessant, weil hier dem Berginnern als Topos des Unbewußten das entgrenzte Meer korrespondiert. Venusberg und Meer sind identische Symbolfelder.« Hartmut Böhme, Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodynamik der Venuskultnovellen von Tieck, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann. In: Literatur und Psychoanalyse, hg. von Klaus

Sequenz geht der Anblick der Königin und ihres paradiesischen Reiches mit dem Erwachen der Sexualität einher. »Ein unbeschreibliches Gefühl von Schmerz und Wollust ergriff den Jüngling, eine Welt von Liebe, Sehnsucht, brünstigem Verlangen ging auf in seinem Innern.« (4, 217) Gleichzeitig hört Elis die Stimme seiner Mutter, die »wie in trostlosem Weh« seinen Namen ruft. »Er glaubte ihre Gestalt zu schauen oben an der Spalte. Aber es war ein holdes junges Weib« (ebd.). In keinem anderen Text Hoffmanns wird die libidinöse Begierde, die sich auf eine junge Frau richtet, so deutlich mit dem mythologisch entrückten Ur-Bild der Mutter in Verbindung gebracht.190 Später wird Elis in den Tiefen des Berges einen Almandin entdecken, von dem er schwärmt: Er ist schöner als der herrlichste blutrote Karfunkel, und wenn wir in treuer Liebe verbunden hineinblicken in sein strahlendes Licht, können wir es deutlich erschauen, wie unser Inneres verwachsen ist mit dem wunderbaren Gezweige das aus dem Herzen der Königin im Mittelpunkt der Erde emporkeimt. (236f.)

Dieses »Verwachsen« der Psyche des Individuums mit der Mutter findet seinen Ausdruck in der »Lebenstafel«, die in den Almandin eingegraben ist: Das Skript des Lebens liegt im Ursprung des Subjekts verborgen, der innigen Verbindung mit seinen frühesten Erfahrungen kann es sich nicht entziehen. In diesem Sinne kann man den Hinweis zu Beginn der Erzählung verstehen, Elis seien die Zauber der Bergwelt »schon zur frühesten Knabenzeit in seltsamen geheimnisvollen Ahnungen« aufgegangen (216).191

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Bohnen, Kopenhagen 1981, S. 133–176, hier S. 140. Ausführlich untersucht hat Böhme das »Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie« in seinem Buch Natur und Subjekt, Frankfurt am Main 1988, S. 67–144. Zur stoffgeschichtlichen Einordnung von Hoffmanns Bergwerken und deren Adaption in Wagners gleichnamigem Opernentwurf vgl. Zegowitz, Richard Wagners unvertonte Opern, S. 143–175 sowie Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 189–194 und Kaiser, Die Kunstästhetik Richard Wagners, S. 289–299. Eine der Quellen von Hoffmanns Erzählung findet sich übrigens bei Schubert, der in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft das Ereignis von einem verunglückten und in Vitriol konservierten Bergmann wiedergibt. Vgl. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 216. Hartmut Böhme macht darauf aufmerksam, dass in Elis’ Traum ein für romantische Sozialisationskrisen strukturbildender Entwicklungskonflikt deutlich werde: Entweder der junge Mann wählt die »narzißtische Ordnung der allmächtigen Mutter (die Bergkönigin)« oder er entscheidet sich für die Eroberung einer jungen Frau (Ulla), in der zwar »die Imago der ödipal besetzten Mutter noch durchschimmert, doch so, daß dadurch das Spiel normativer Sozialrollen (Ehemann, Vater, Versorger, Beruf) gerade ermöglicht wird.« (Böhme, Romantische Adoleszenzkrisen, S. 144) Dass Hoffmanns Novelle über den Bergmann Elis Fröbom »neben dem Sandmann zum meistzitierten Demonstrationsobjekt einer psychoanalytischen Literaturinterpretation« wurde, hebt der Kommentar der hier verwendeten Hoffmann-Ausgabe hervor (SäW 4, 1330). Die vom Inzestwunsch geprägte Mutter-Sohn-Beziehung wird auch in Das Fräulein von Scuderi thematisiert, einer Erzählung Hoffmanns, die Wagner noch im Alter »mit vielem Vergnügen« las (CT II, 989). In dieser Novelle steigert sich, wie Detlef Kremer

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3.4.2. Sehrende Sehnsucht: Traumatische Urszenen von Lohengrin bis Parsifal Der Germanist Detlef Kremer deutet die Darstellungen inzestuöser Kindheitserlebnisse in der Romantik vor dem sozialgeschichtlichen Hintergrund der bürgerlichen Kleinfamilie, die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert herauszubilden begann.192 Sie basierte auf den Ideen von Privatheit und Intimität, die einzelnen Mitglieder der Familie standen in einem engen und emotionalen Verhältnis. Der Partner und die Kinder wurden nicht mehr mit Gleichgültigkeit, Distanz oder Strenge behandelt, sondern mit Herzlichkeit und Wärme. Dieses Idealbild werde in einigen Texten der Romantik, so Kremer, ins Negative gewendet. Die Familie erscheint als ein »Treibhaus, in dem Konflikte und Katastrophen weit besser gedeihen als Glück und Identität«.193 Die traumatischen Urszenen, denen das Individuum in der bürgerlichen Familie ausgesetzt war, prägten auch die dichterischen Phantasien Richard Wagners.194 Deutlich wird dies erstmals im Lohengrin. Dort ist Elsa, eine

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festhält, »das frühkindliche zu einem vorgeburtlichen Trauma« (Kremer, Kindheit als Trauma, S. 507). Cardillacs Mutter lässt sich, als sie im ersten Monat mit ihm schwanger geht, von einer »blitzenden Juwelenkette« eines spanischen Cavaliers zum Ehebruch verführen. Als sie dabei nach der Kette des Cavaliers greift, stirbt dieser wie vom Schlag getroffen. Cardillac leitet aus dieser Urszene sein Schicksal ab: »Mein böser Stern war aufgegangen und hatte den Funken hinabgeschossen, der in mir eine der seltsamsten und verderblichsten Leidenschaften entzündet. Schon in der frühesten Kindheit gingen mir glänzende Diamanten, goldenes Geschmeide über Alles.« (SäW 4, 832) Zu Recht hat die Hoffmann-Forschung deshalb herausgestellt, dass sich Cardillacs Goldgier mit gutem Grund als verdeckte Sehnsucht nach der Vereinigung mit der Mutter lesen lässt. So vergleicht etwa Friedrich A. Kittler das Kreuzmal des Medardus in den Elixieren mit dem Motiv der Juwelen im Fräulein von Scuderi. Er kommt zu dem Schluss, dass in beiden Texten »ein Juwel oder Idol, dem in erotisch-religiöser Konfusion das Begehren einer Idealmutter gegolten hat, als buchstäbliches Trauma ins Kind« wandere. Friedrich A. Kittler, Dichter – Mutter – Kind, München 1991, S. 207. Das Gold, bei Novalis noch mythisch aufgeladenes Symbol der Vollendung menschlichen Schicksals, wird bei Hoffmann zum Ersatzobjekt der Inzestphantasie. Zur Entstehung der bürgerlichen Familie und der damit verbundenen Konzeption von Intimität vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat, 5. Aufl., München 1998 [1983], S. 117–123. Nipperdey beschreibt die wesentlichen Eigenschaften der modernen Kleinfamilie: Die Gründung der Ehe auf der Basis personalisierter Liebe bringt einen »neuen Stil« in die Beziehung von Mann und Frau. Statt »fester Rollen« herrschten nun »Informalität und Spontaneität. Die Anrede mit ›Du‹ und dem Vornamen setzte sich hier durch.« Den Frauen werden neue Freiheiten zugestanden, gleichzeitig bleiben sie aber als naive, unreflektierte und »nach innen« gewandte Wesen dem Mann untergeordnet. Sie sind es, die für die Erziehung der Kinder die Hauptverantwortung tragen. Diese werden das »Objekt spontaner Zuwendung, von Vergnügen und Entspannung. […] Lob, Ermunterung und Liebe bestimmten mehr als die Strafe den Erziehungsstil, der Stock wird weitgehend aus der Bildungsschicht verbannt.« Kremer, Romantik, S. 85f. Der Begriff der ›Urszene‹ wird hier weiter gefasst als bei Sigmund Freud, der ihn noch auf das Belauschen des elterlichen Beischlafes durch das Kind beschränkte. Das Thema

Waise, durch ein ins »Einst« verlegtes schreckliches Erlebnis gezeichnet, von dem ihr Pflegevater Friedrich in seiner Eingangserzählung berichtet: »Lustwandelnd führte Elsa einst den Knaben / zum Wald, doch ohne ihn kehrte sie zurück« (L, 9). Dass ihr Bruder von Ortrud in einen Schwan verzaubert wurde, scheint Elsa vergessen oder verdrängt zu haben und reagiert stattdessen mit »bleichem Zagen und Erbeben« (ebd.). Diese traumatische Trennung der Geschwister wird am Schluss des Musikdramas heilsgeschichtlich zu kompensieren versucht. Der Gesellschaft wird der Thronfolger Gottfried zurückgegeben, wobei eine »weiße Taube« (75) der Metamorphose des Schwanes in den Jüngling den Segen schenkt. Doch als Elsas verlorener Bruder das Land betritt und ihr Kindheitstrauma geheilt zu sein scheint, sinkt sie in seinen Armen »entseelt« zu Boden (76). Im zweiten Aufzug der Walküre wiederholt Wagner das Motiv der traumatischen Geschwistertrennung in der frühen Kindheit. Dort ist es Sieglinde, die als Kind von ihrem Bruder getrennt wurde. Nachdem sich die Geschwister wiedergefunden haben, muss Siegmund gegen Hunding in den Kampf ziehen und Sieglinde deshalb alleine zurücklassen – das Trauma ihrer Kindheit wiederholt sich. Es verwundert also nicht, dass sie, als sie sich schlafen legt, in ihrem Traum eben dieses erschütternde Erlebnis ihrer Kindheit zu verarbeiten sucht: »Kehrte der Vater nun heim! / Mit dem Knaben noch weilt er im Forst. / Mutter! Mutter! / mir bangt der Mut« (W, 70). Feinde kommen und brennen ihr Elternhaus nieder. »Zu Hilfe, Bruder! / Siegmund! Siegmund!« ruft Sieglinde, bevor sie erwacht (W, 70). Sieglindes Traum ist deshalb von Bedeutung, weil er das Gegenstück zum inzestuösen Rausch des ersten Aktes bildet. Dass Sieglinde mit Siegmund schläft, erscheint nun nicht mehr als utopische Tat einer höheren, von gesellschaftlichen Zwängen befreiten Liebe.195 Die Sehnsucht nach ihm ist eher Ausdruck eines Traumas, das sich in

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des Inzests, das in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt, wurde in der Wagner-Forschung nicht sozialgeschichtlich, sondern intertextuell interpretiert. Es wurde vor allem Wagners Rezeption des griechischen Ödipus-Mythos hervorgehoben, der in Oper und Drama, aber auch im Ring des Nibelungen eine wichtige Rolle spielt. Vgl. hierzu Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 230–253; Eckhard Roch, Psychodrama. Richard Wagner im Symbol, Stuttgart, Weimar 1995, S. 185–213; Christine Emig, Arbeit am Inzest. Richard Wagner und Thomas Mann, Frankfurt am Main, Berlin, Bern u.a. 1998. Auf den Einfluss der Völsungen-Sage auf den Inzest Siegmund und Sieglindes verweist Jürgen Schläder und stellt zugleich die dramaturgischen Veränderungen heraus, die Wagner in der Walküre an seiner Stoffvorlage vornimmt. Vgl. Jürgen Schläder, Siegmund und Sieglinde. Die Läuterung aus schwerer Sünde. In: »Alles ist nach seiner Art«. Figuren in Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«, hg. von Udo Bermbach, Stuttgart, Weimar 2001, S. 104–119. Einen sowohl anthropologischen als auch tiefenpsychologischen Ansatz verfolgt dagegen Nike Wagner, Wagner-Theater, Frankfurt am Main 1998, S. 89–107. Deshalb ist eine Interpretation fragwürdig, die im Inzest Siegmund und Sieglindes einen »Gründungsakt« der »wiederentdeckten mythischen Zeit« bzw. die »Utopie einer ›Erlösung‹ des Gesellschaftszustands im höheren Naturzustand des neuen Goldenen Zeitalters« erblickt (Emig, Arbeit am Inzest, S. 111).

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Sieglindes Unbewusstes eingeschrieben hat. Das Bild des Feuers, das im ersten Akt das sexuelle Verlangen symbolisierte,196 kehrt nun in der Beschreibung des brennenden Elternhauses wieder: »Schwarze Dämpfe – / schwüles Gedünst – / feurige Lohe / leckt schon nach uns« (ebd.). Genau an dieser Stelle wird die Bratschenmelodie, die bisher den Tonsatz geführt hat, von einem gedämpften Horn brutal unterbrochen (SW 11/II, T. 1930). Das Motiv des Inzests spielt nicht nur in der Walküre, sondern auch in den Meistersingern von Nürnberg eine wichtige Rolle. Davon zeugt der Dialog zwischen Eva und Sachs im zweiten Aufzug. In ihm macht Eva Sachs Avancen, indem sie ihn bittet, im Wettsingen um sie als Braut zu werben. »Gesteht nur, daß ihr wandelbar«, sagt sie vorwurfsvoll, »Gott weiß, wer jetzt Euch im Herzen mag hausen! / Glaubt’ ich mich doch drin so manches Jahr.« (M, 71) Auf die Replik Sachs’, dass seine Liebe eine väterliche gewesen sei, erwidert Eva, dass er nach dem Tod seiner Frau sie doch »für Weib und Kind« ins Haus hätte nehmen können. »Da hätt ich ein Kind und auch ein Weib«, so Sachs, »’s wär’ gar ein lieber Zeitvertreib!« (72) Eine Antwort, deren heiter-scherzhafter Komödienton nicht über die inzestuöse Grundstimmung hinwegtäuschen kann, die in diesem Dialog vorherrscht. Zwar wird Sachs die Hochzeit mit seiner Ziehtochter Eva verwehrt, aber es ist, wie Wagners Biograph Martin Gregor-Dellin zu Recht bemerkt,197 doch erstaunlich, dass der Lehrjunge David am Schluss Evas Amme Magdalene heiratet – eine Frau, die dem Alter nach seine Mutter sein könnte. Die Lehrbuben machen sich in der ersten Szene des zweiten Aktes deshalb mit einem vielsagenden Spottvers über David lustig: »Johannistag! Johannistag! / Da freit ein jeder wie er mag / […] da gibt’s Geschlamb’ und Geschlumbfer! / Der Alte freit / die junge Maid, / der Bursche die alte Jumbfer!« (61) Dass bereits die Kindheit das sexuelle Begehren des Erwachsenen formt, lässt sich auch an den männlichen Helden von Wagners Musikdramen beobachten. Die Rede ist von Siegfried, Tristan und Parsifal. Alle drei haben ihre Mutter bei der Geburt oder in ihrer frühen Kindheit verloren, wobei Wagner die psychologische Dimension dieses dem mythologischen Heldenschema entlehnten Modells sichtbar macht. »Da bang sie mich geboren, / warum aber starb sie da?« fragt Siegfried, unter der Linde sitzend. Die Antwort kennt er nicht, aber ihm wird klar, dass mit dem frühen Verlust der Mutter eine tiefe Sehnsucht verbunden ist: »Ach! möcht’

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»Heiß in der Brust / brennt mir der Eid, / der mich dir Edlen vermählt.« (W, 25) »Heiligste Minne / höchste Not, / sehnender Liebe / sehrende Not, / brennt mir hell in der Brust« (32). Am Schluss zieht Siegmund Sieglinde »mit wütender Glut an sich« (33). Diese Metaphorik wird im dritten Akt des Siegfried wieder aufgenommen, wo Siegfried zu Brünnhilde sagt: »Mir in die Brust / brach nun die Lohe, / es braust mein Blut / in blühender Brunst; / ein zehrendes Feuer / ist mir entzündet; / die Glut, die Brünnhilds / Felsen umbrann, / die brennt mir nun im Gebein! – / Du Weib, jetzt lösche den Brand! / Schweige die schäumende Glut!« (Sf, 117). Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 486.

ich Sohn / meine Mutter sehn! – – / Meine – Mutter! – / Ein Menschenweib! –« (Sf, 69) Die erotische Konnotation dieser Sehnsucht wird dann im dritten Akt deutlich, nachdem Siegfried Brünnhilde geweckt hat. Diese ist für ihn Geliebte und Mutter zugleich. »Dich zarten nährt’ ich / noch eh’ du gezeugt; / noch eh’ du geboren / barg dich mein Schild«, sagt sie und Siegfried versteht diese Worte auf erhellende Weise falsch: »So starb nicht meine Mutter? / Schlief die minnige nur?« (113) 198 Von dieser Szene führt eine direkte Linie zum zweiten Akt des Parsifal. Nachdem Kundry Parsifal erzählt hat, dass seine Mutter Herzeleid gestorben ist, als er ein Knabe war, sinkt Parsifal »schmerzlich überwältigt« zu Kundrys Füßen nieder. »Wehe! Wehe! Was tat ich? Wo war ich? / Mutter! Süße holde Mutter! / Dein Sohn, dein Sohne mußte dich morden?« (P, 56) Kundry versucht darauf, Parsifals Schmerz durch die Erfüllung des sexuellen Begehrens zu heilen, das sich sehnsüchtig auf das verlorene Objekt richtet. »Die Liebe lerne kennen, / die Gamuret umschloß, / als Herzeleids Entbrennen / ihn sengend überfloß« (57). Diese Vermischung von mütterlicher und erotischer Liebe wird bereits in Kundrys vorhergehender Erzählung deutlich, wo es über Herzeleid heißt: »Wann dann ihr Arm dich wütend umschlang, / ward dir es wohl gar beim Küssen bang?« (55) Die letzten Worte, die Kundry an Parsifal richtet, bevor sie ihn küsst, bringen das Wagnersche Konzept der Geburt der Sexualität aus dem Geist des Traumas dann auf den Punkt: »Die Leib und Leben / einst dir gegeben, / der Tod und Torheit weichen muß, / sie beut / dir heut – / als Muttersegens letzten Gruß / der Liebe – ersten Kuß.« (ebd.) In keinem anderen Drama jedoch hat Richard Wagner die sehrende Sehnsucht, die der frühe Mutterverlust mit sich bringt, so eindringlich dargestellt wie im dritten Akt von Tristan und Isolde. Hier ist es die klagende Weise des Hirten, die wie die Prophezeiung des Engels im Holländer und Erdas Weissagung im Ring im »Einst« verborgen liegt. Doch während das verheißungsvolle Ereignis in diesen Werken noch in eine numinose Sphäre entrückt scheint, liegt es im Tristan in der Lebensgeschichte des Protagonisten verborgen. Die »alte Weise« markiert die traumatische Geburtsstunde des Subjekts, sie konstituiert sein Bewusstsein und stellt es zugleich in Frage. Als der verwundet niedergestreckte Tristan der Weise lauscht, glaubt er, diese bereits in seiner Kindheit vernommen zu haben. »Durch Abendwehen / drang sie bang, / als einst dem Kind / des Vaters Tod verkündet: durch Morgengrauen / bang und bänger, / als der Sohn / der Mutter Los vernahm. / Da er mich zeugt’ und starb, / sie sterbend mich gebar« (TuI, 88f.). Die Weise gleicht der Stimme der Mutter, die in Elis Fröboms Traum »wie in trostlosem Weh« ruft; oder aber der Stimme, die der zwölfjährige Kreisler unter dem Baum vernahm und »die wie eine Weissagung von unaussprechlichen Dingen in meiner Seele wieder klang«. Mit der Weise verbindet Tristan sein Schicksal; die Töne, die nun wieder zu ihm

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Thomas Manns Intuition, dass bei Siegfrieds Träumerei unter der Linde »der Muttergedanke ins Erotische verfließt«, erweist sich als durchaus begründet. Vaget, Im Schatten Wagners, S. 93.

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dringen, sind mehr als eine nostalgische Erinnerung an seine frühesten Jahre. Sie erinnern ihn daran, dass seine Geburt im doppelten Sinne des Wortes ein »Morgengrauen« war, eine Wunde, die dem Kind geschlagen wurde und die nun das rätselhafte Zentrum bildet, um das seine Existenz kreist. »Die einst mich frug, / und jetzt mich frägt, / zu welchem Los erkoren / ich damals wohl geboren?« »Mich sehnen – und sterben«, hofft der lebensmüde Tristan.199 Doch das bleibt ihm, wie er gleich darauf erkennen muss, verwehrt: »Nein! ach nein! / So heißt sie nicht: / Sehnen! Sehnen – / im Sterben mich zu sehnen, / vor Sehnsucht nicht zu sterben!« (89) Auch im Tristan erscheint die Sehnsucht, die in diesem Musikdrama durch und durch erotisch gefärbt ist, als Konsequenz des Mutterverlustes. In der Partitur wird die Qual, die dieses nicht enden wollende Begehren mit sich bringt, noch deutlicher. Der Keim hierfür ist bereits in der Melodie angelegt, die zu Beginn des Abschnitts vom Englischhorn gespielt wird (SW 8/III, T. 626ff.).

Abb. 5: Die alte Weise (SW 8/III, T. 626-630).

Das Englischhorn übernimmt einen motivischen Ausschnitt der Weise, der zu Beginn des Aufzuges in den Takten 82ff. als Teil eines Hirtenreigens erklang. In Triolen kreist die Melodie um den zentralen Ton Ges, der sowohl zum eingestrichenen als auch zum zweigestrichenen C einen Tritonus bildet und so der Oktave ein dissonantes Zentrum einschreibt. Die damit verbundene tonale Unschlüssigkeit wird

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Im Textbuch hatte Wagner an dieser Stelle ursprünglich einen Zweizeiler vorgesehen: »Mich sehnen – und sterben, / sterben – und mich sehnen!« (TuI, 89) Die zweite Zeile vertonte er jedoch nicht. Dies könnte seinen Grund darin haben, dass er den semantischen Unterschied zum folgenden Verzweiflungsausbruch, der ja die Unendlichkeit der Sehnsucht beklagt, betonen wollte.

durch die chromatischen Färbungen200 unterstrichen. Erst ab dem dritten Schlag von Takt 630 scheint die Weise sanft ins C-Dur zu gleiten, in Takt 631 wird schließlich das Ges in ein G verwandelt und dieser Ton einen Takt lang mit der Oktave C1-C2 umspielt. Die angedeutete tonale Auflösung ist jedoch nur eine scheinbare, denn nach dynamischer Steigerung endet die Phrase in Takt 632 im fortissimo auf dem Tritonus Ges. Dieses Intervall wiederholt Wagner an mehreren Stellen des folgenden Monologs. So in Takt 661, als die eigentlich »zart« notierte Hornmelodie unerwartet vom F ins H rutscht. Wagner notiert hierbei nicht nur sforzando, sondern dämpft auch, wie bei Sieglindes Traum, die Hörner. Solch quäkende Tritonus-Einbrüche finden sich auch in Takt 681 auf »einst« (!)201 und den folgenden Takten. Als Tristan dann seine Hoffnung kund tut, er möge nicht nur sich »sehnen«, sondern endlich »sterben« (T. 696–698), deutet Wagner in der Melodie des Englischhorns einen f-Moll-Akkord an, der jedoch durch den Paukenwirbel auf C vorgehalten wird. Die Auflösung ins f-Moll, in den Tod, erfolgt nicht. Stattdessen beginnt Wagner in Takt 699 etwas völlig anderes: Sämtliche Holzbläser setzen ein und übernehmen, mit Ausnahme der Fagotte, die Melodie des Englischhorns im forte. Die Hörner stimmen währenddessen das Anfangsmotiv des dritten Aufzuges an, wodurch im Zusammenspiel mit den Streichern der Tritonus Des-G entsteht. Den Höhepunkt erreicht dieser Abschnitt in Takt 711, wo Tristan das zweigestrichene A erreicht. Fast das ganze Orchester ist jetzt im Einsatz und schmettert die Weise im fortissimo. Der halbverminderte Septakkord, der dabei erklingt – und einen Tritonus in sich trägt – löst sich jedoch nicht auf, sondern wird lediglich um einen Halbton nach unten gerückt. Diese Beispiele aus den Musikdramen Richard Wagners zeigen, dass seine Figuren nicht zu jener vollendeten Synthese von Unbewusstem und Bewusstem gelangen, die er in seinen ästhetischen Schriften postulierte.202 Im Gegenteil: Die Rückkehr zu den Bildern der Vergangenheit garantiert einzig in den Meistersingern die Verwirklichung der Wünsche der Zukunft. Das Goldene Zeitalter der Kindheit zeigt seine Schattenseiten, die Erinnerung an das Einst wird zum Trauma. Was in der Ästhetik als optimistisches Modell entworfen wird, endet in der künstlerischen Umsetzung meist in unerfüllter Sehnsucht. Die Utopie, die Richard Wagner in der Theorie entworfen hat, wird von seinen Musikdramen nicht eingelöst.

200 201 202

Der Ton Ges wird mit den Tönen F und E umspielt, der Ton C2 mit dem zweigestrichenen Des. Wobei im Übrigen die harmonische Konstellation des Einleitungsakkordes des dritten Aufzuges auf derselben Tonstufe wiederholt wird. Dies wurde vor allem in der älteren Wagner-Forschung immer wieder übersehen. Leicht ließ man sich von Wagners theoretischen Ausführungen blenden und hielt sein »Gesamtkunstwerk« für eine gelungene Synthese aus Gefühl und Verstand, Intuition und Reflexion. Vgl. hierzu stellvertretend für andere Loos, Richard Wagner, S. 463–490.

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»Laß mich ihn sehn wie ich ihn sah«: Ästhetik und Anthropologie des Blicks

Die Geschichte des Musiktheaters ist auch eine Geschichte des Blicks. Bereits in der Entstehungszeit der Oper gelangte mit Jacopo Peris Euridice und Claudio Monteverdis Orfeo jener griechische Mythos auf die Bühne, in dem das Wieder-Sehen der Geliebten im Zentrum steht: die Orpheus-Sage. Seither haben sich zahllose Librettisten und Komponisten mit dem rätselhaften Augen-Blick der Liebe beschäftigt. Man denke nur an die Bildnis-Arie des Tamino in Mozarts Zauberflöte oder Richard Strauss’ Salome, in der der Blick des Begehrens eindrucksvoll in Szene gesetzt wird. Auch Richard Wagner hat sich in seinen Musikdramen mit dem Blick beschäftigt. Und dies nicht nur beiläufig, sondern sehr intensiv. In seinen ästhetischen Schriften spielt die optische Wahrnehmung eine ebenso große Rolle wie in seinen Bühnenwerken. Der Grund hierfür ist leicht zu benennen, seine Konsequenzen aber sind komplex. Für Wagner vermag der Blick, was der Sprache verwehrt bleiben muss: Einen unmittelbaren Zugang zum Unbewussten zu schaffen. Deshalb sprach er in einer späten theoretischen Schrift von der »Hellsichtigkeit des Musikers« und bezeichnete die Dichter als »Geisterseher«. Und deshalb ist Senta »im träumerischen Anschauen« des Porträts des Holländers »versunken«, wird Tristan »nachtsichtig« und Parsifal »welt-hellsichtig«. Für die Beantwortung der Frage, unter welchen medialen Voraussetzungen die Bewusstwerdung des Unbewussten im Werk Wagners vonstatten geht, ist die optische Wahrnehmung deshalb ein wichtiges Element. Aber sie ist nicht das einzige. Denn das Musiktheater besteht nicht nur aus visuellen, sondern auch aus verbalen Codes. Die Figuren schauen nicht nur, sie sprechen auch. Und das heißt: Die stummen Blicke und das unbewusste Wissen, das sie transportieren, muss dem Bewusstsein vermittelt, also mit Hilfe der Sprache gedeutet werden. Das wusste auch Richard Wagner, weshalb in seinen Musikdramen der Blick immer auf das Wort bezogen bleibt, das eine ist ohne das andere nicht denkbar. In den Blickszenen, die dieses Kapitel untersucht,1 soll es deshalb genau um diesen Übergang vom stummen Blick in die Sprache gehen. Dass eine eingehende Analyse des Blicks in Wagners Werk lohnen könnte, hat die Wagner-Forschung immer wieder betont.2 Dabei wurde vor allem in der Li1

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Einige Passagen dieses Kapitels greifen auf meine Magisterarbeit zurück, die ich im März 2005 am Institut für Germanistik der LMU München eingereicht habe. Vgl. Schneider, Erinnernde Ahnung. So spricht Dieter Borchmeyer im Zusammenhang mit seiner Erörterung der »Wagner-

teraturwissenschaft Wagners »Poetik des Blicks« als eine »Poetik des Mitleids« verstanden.3 Doch sie ist mehr als das, da in ihr die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Erkennens in den Vordergrund rückt. Der Blick erscheint in Wagners Musikdramen immer auch als ein prekäres Welt- und Selbstverstehen des Subjekts. Um dies deutlich zu machen, entfaltet sich die Argumentation in vier Schritten: Zuerst soll gezeigt werden, welche Rolle die Potenzierung des Blicks zu einem »höheren Auge« in Wagners Ästhetik und in seinen Musikdramen spielt und wie er dabei von Schopenhauer und der Romantik beeinflusst wurde. Dabei wird auch die Frage nicht zu kurz kommen, wie sich der Blick zum Wort und zur Musik verhält. In einem zweiten Schritt wird dann dargelegt, dass das Versunkensein in die Anschauung, die Wagners Bühnenwerke in Szene setzen, nicht selten mit

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schen Urszenen« in Anlehnung an einen Begriff Jean Starobinskis von einer »Poetik des Blicks« bei Wagner. Vgl. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 36. Auch Egon Voss erwähnt in seiner Analyse des ersten Walküre-Aktes die eminente Bedeutung des Blicks bei Wagner. Vgl. Egon Voss, »Wagner und kein Ende«. Betrachtungen und Studien, Zürich, Mainz 1996, S. 191. Dennoch gibt es nur zwei Aufsätze, die sich diesem Thema widmen. Heinz Beckers musikwissenschaftliche Untersuchung »…Wonnig weidet mein Blick« beschäftigt sich hauptsächlich mit der Kommunikation durch den Blick, der »Augensprache«, und streift kurz weitere Aspekte der Blickmotivik in Wagners Werk. Vgl. Heinz Becker, »…wonnig weidet mein Blick.« Blick und Augensprache bei Richard Wagner. In: Neue Zeitschrift für Musik 150, H. 10, 1989, S. 4–10. Ulrich Müller und Oswald Panagl erwähnen neben der Kommunikation zwei weitere Funktionen des Blicks in den Musikdramen: Den »bösen Blick« sowie die erotische Konnotation optischer Wahrnehmung. Dabei untersuchen sie vor allem die damit einhergehenden antiken und mittelalterlichen Traditionen und legen eine Wortfeldanalyse »im Sinnbezirk der optischen Wahrnehmung« vor. Vgl. Ulrich Müller / Oswald Panagl, »Ein Blick sagt mehr als eine Rede«. Motiv und Bedeutung des Blicks in den Musikdramen Richard Wagners. In: Ring und Gral. Texte, Kommentare und Interpretationen zu Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«, »Tristan und Isolde«, »Die Meistersinger von Nürnberg« und »Parsifal«, hg. von Ulrich Müller / Oswald Panagl, Würzburg 2002, S. 315–337. Diese These vertritt Dieter Borchmeyer. Die »Urszene« hierfür macht er in den Feen aus. Dort erinnert sich Arindal an den gebrochenen Blick einer von ihm erlegten Hirschkuh, die sich als Fee Ada entpuppt. Borchmeyer vergleicht Arindal mit Parsifal, der durch den Blick in das Auge des durch ihn erlegten Schwans des Mitleids fähig werde (SSD X, 335). Auch werde Isoldes Liebe zu Tristan durch deren mitleidvollen Blick ausgelöst: »Er sah mir in die Augen. Seines Elendes jammerte mich« (VII, 11). An dieser Stelle erklingt das so genannte »Blickmotiv« (SW 8/I, T. 668–670, Gesangsstimme), das eines der wichtigsten Leitmotive des Tristan ist. Und da auch Senta mitleidig auf das Porträt des fliegenden Holländers schaut (H, 31), kommt Borchmeyer zu dem Schluss: »Der Blick des Opfers erweckt den Blick des Mitleids – der zum Liebes-Blick wird.« (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 36f.) Im Zusammenhang mit seiner Parsifal-Analyse setzt Borchmeyer auch Kundrys Verfluchung durch den Blick des Heilands und ihr anschließendes Suchen nach dem verzeihenden Blick mit dieser Thematik in Verbindung (ebd., S. 315). Ulrich Müller spricht in diesem Zusammenhang von einem Übergang von »Agape« in »Eros«. Vgl. Müller / Panagl: »Ein Blick sagt mehr als eine Rede«, S. 336. Jedoch scheint mir eine Reduzierung des Themenfeldes der optischen Wahrnehmung auf den Begriff des Mitleids, wie diese Deutungen sie vornehmen, sehr verkürzt.

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dem Preis der Sprachlosigkeit erkauft wird. Weshalb, drittens, die Blicke gedeutet werden müssen und die Bilder eine Geschichte bekommen. Dies wird in erster Linie am Motiv des Liebes-Blicks zu zeigen sein, der auch im vierten und letzten Abschnitt dieses Kapitels im Zentrum steht – diesmal jedoch unter dem Aspekt des Déjà-vu, des so überwältigenden wie rätselhaften Wieder-Erkennens und WiederErinnerns des anderen.

4.1.

»Ein neues höheres Auge«: Zum Motiv der Hellsichtigkeit

4.1.1.

Hellsichtigkeit und ihre Folgen für die Sinneshierarchie in der Musikästhetik Wagners, Schopenhauers und der Romantik

Am Neujahrstag des Jahres 1860 schreibt Richard Wagner einen Brief an Mathilde Wesendonck, die sich gerade in Rom aufhält. Dies nimmt Wagner zum Anlass, über die Betrachtung plastischer Kunst nachzudenken – schließlich birgt die ›Ewige Stadt‹ unzählige Kunstschätze. »Sehen und schauen Sie für mich mit«, schreibt er, »ich habe es nöthig, dass es Jemand für mich thut.« Denn mit ihm habe es »da eine eigene Bewandtniss: das habe ich wiederholt, und endlich am Bestimmtesten in Italien kennen gelernt. Ich werde eine Zeitlang durch bedeutende Wirkung auf mein Auge ungemein lebhaft ergriffen: aber – es dauert nicht lange.« Es scheine, so Wagner, dass ihm das Auge »als Sinn der Wahrnehmung der Welt nicht genügt.« Was er damit meint, macht die folgende Passage deutlich: Es muss da einen unbeschreibbaren inneren Sinn geben, der ganz hell und thätig nur ist, wenn die nach aussen gewendeten Sinne etwa nur träumen. Wenn ich eigentlich nicht mehr deutlich sehe, noch auch höre, ist dieser Sinn am thätigsten, und er zeigt sich in seiner Function als productive Ruhe: ich kann’s nicht anders nennen. Ob diese Ruhe mit der von Ihnen gemeinten plastischen Ruhe übereinstimmt, weiss ich nicht; nur weiss ich, dass jene Ruhe von innen nach aussen dringt, dass ich mit ihr im Centrum der Welt bin, während die sogenannte plastische Ruhe mir mehr nur wie von aussen bewirkte, formell thätige Beschwichtigung der inneren Unruhe erscheint. Befinde ich mich in dieser inneren Unruhe, so vermag kein Bild, kein plastisches Kunstwerk auf mich zu wirken: das prallt wie wesenloses Spielwerk ab. Erst der Blick darüber hinweg ersieht mir dann das, was mich beruhigt. Es ist diess auch der einzige Blick, der mich an andern sympathisch berührt, dieser Blick über die Welt hinaus: er ist ja auch der einzige, der die Welt versteht. (SB XII, 26f.)

Diese Briefstelle ist ein erster Hinweis auf jene bedeutende Wende in Wagner Ästhetik, die sich in seinen späten theoretischen Schriften vollzog. In ihnen rückt der höhere, nach innen gerichtete Blick ins Zentrum. Deutlich wird dies bereits in dem Essay Zukunftsmusik, der ebenfalls aus dem Jahr 1860 stammt. Die im einleitenden Teil geäußerte Bemerkung über die Entwicklung der Natur greift den Grundgedanken der Zürcher Kunstschriften, die Bewusstwerdung des Unbewussten, wieder auf:

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Dürfen wir die ganze Natur im großen Überblick als einen Entwickelungsgang vom Unbewußtsein zum Bewußtsein bezeichnen, und stellt sich namentlich im menschlichen Individuum dieser Prozeß am auffallendsten dar, so ist die Beobachtung desselben im Leben des Künstlers gewiß schon deßhalb eine der interessantesten, weil eben in ihm und seinen Schöpfungen die Welt selbst sich darstellt und zum Bewußtsein kommt. (SSD VII, 88)

Anders als in den Zürcher Kunstschriften gestaltet sich dieser Prozess der Bewusstwerdung nun aber in erster Linie durch die Hellsichtigkeit des Dichters. Dies zeigt sich unter anderem in jener Passage, in der Wagner die Sage als stoffliche Grundlage der Dichtung zu rechtfertigen versucht: Wie durch die charakteristische Scene, so durch den sagenhaften Ton wird der Geist sofort in denjenigen träumerischen Zustand versetzt, in welchem er bald bis zu dem völligen Hellsehen gelangen soll, wo er dann einen neuen Zusammenhang der Phänomene der Welt gewahrt, und zwar einen solchen, den er mit dem Auge des gewöhnlichen Wachens nicht gewahren konnte […] (121).

Das innere Schauen des Weltzusammenhangs bezieht Wagner nun sowohl auf die Dichtung als auch auf die Musik. »Wie diesen hellsehend machenden Zauber endlich die Musik vollständig ausführen soll, begreifen Sie nun leicht«, schreibt er (ebd.). Doch ist genau dies nicht so einfach zu verstehen, wie Wagner glaubt. Wie das Wechselspiel von Text und Musik durch die Hellsichtigkeit des Musikdramatikers genau beeinflusst wird, führt er in Zukunftsmusik nicht im Detail aus. Er deutet allenfalls an, dass er an eine »Verschmelzung des Gedichtes mit der Musik« (123) denkt, die er im Tristan verwirklicht sieht. Dort sei »im Gewebe der Worte und Verse bereits die ganze Ausdehnung der Melodie vorgezeichnet, nämlich diese Melodie dichterisch bereits konstruirt.« (123) Der Dichter solle »dem Musiker das diesem selbst verborgene Geheimniß ablauschen, daß die melodische Form noch zu unendlich reicherer Entwickelung fähig ist« (129). Er dürfe in seiner Dichtung nur das Nötigste sagen, damit der Musiker »das Verschwiegene zum hellen Ertönen« bringen kann (130) – letzterer schafft, so könnte man sagen, aus einer Art ›Hellhörigkeit‹. Wie der Dichter sich auf den Sagenstoff, so solle der Musiker sich auf die versteckten Geräusche der Natur konzentrieren. Wagner vergleicht den Musiker mit einem Spaziergänger, der an einem Sommerabend in den Wald geht, um die Geräusche der Stadt zu vergessen. Indem er »seine vom Druck des Stadtgeräusches befreiten Seelenkräfte zu einer neuen Wahrnehmungsweise spannend, gleichsam mit neuen Sinnen hörend, immer inniger auflauscht«, kann er schließlich die im »immer beredter werdenden« Schweigen (131) verborgene »unendliche Melodie« (130) wahrnehmen. Was Wagner in Zukunftsmusik skizzierte, führte er zehn Jahre später in Beethoven aus. In keiner anderen seiner Schriften werden die verschiedenen Konnotationen der Hellsichtigkeit derart detailliert behandelt. Auch in Beethoven entfaltet Wagner seine Argumentation vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Unbewusstem und Bewusstsein. Dies wird bereits in der Einleitung deutlich. Dort heißt 159

es, die Beschreibung des Wesens eines Dichters wie Goethe müsse sich an dem Punkte verwischen, »wo dieses Schaffen aus einem bewußten in ein unbewußtes übergeht, d.h. wo der Dichter die ästhetische Form nicht mehr bestimmt, sondern diese aus seiner inneren Anschauung der Idee selbst bestimmt wird. Gerade aber in dieser Anschauung der Idee liegt wiederum die gänzliche Verschiedenheit des Dichters vom Musiker begründet.« (SSD IX, 65) Damit sind die Eckpfeiler gesetzt, auf die Wagner im Folgenden sein Gedankengebäude stützen wird: Die Verschiedenheit der »inneren Anschauung« bei Musiker und Dichter und deren Konsequenz für die Bestimmung des musikalischen Dramas. Für Wagner steht die Musik auf der Seite des Unbewussten, die bildende Kunst repräsentiert das Bewusstsein. Zwischen diesen beiden Polen schafft der Dichter, der »mit seinem bewußten Gestalten sich dem Bildner zuneigt, während er auf dem dunklen Boden seines Unbewußtseins sich mit dem Musiker berührt.« (65) Als Beispiele dienen Wagner hier Goethe und Schiller: Der erste sei eher der bildenden Kunst und damit auch der Epik zugeneigt gewesen, während letzterer der Musik näher stand und deshalb sich erst im Drama richtig entfaltet habe (65f.). Zunächst wendet sich Wagner aber dem Schaffen des Musikers zu – schließlich entstand seine Schrift anlässlich des 100. Geburtstages Beethovens. Im Rückgriff auf die Philosophie Schopenhauers sagt er, dass das Bewusstsein zwei Seiten besitze: eine nach innen, dem »Willen« zugewandte und eine nach außen, auf die »Erscheinungen« zielende. Zusätzlich unterscheidet er zwei Modi der Wahrnehmung: den optischen und den akustischen. Wagner schreibt, es gebe eine »Schallwelt«, in der sich im Gegensatz zu den Erscheinungen der »Lichtwelt« der Wille unmittelbar und universal ausdrücke (69). Das heißt: Wir können unser Unbewusstes nicht nur sehen (etwa im Traum), sondern auch hören. Und wenn wir es hören, so Wagner, sind wir dem Willen noch unmittelbarer verbunden als im Zustand der Hellsichtigkeit. Erstaunlich ist nun, dass Wagner diesem Schema nicht konsequent folgt. Nur wenige Seiten später entwickelt er die These, dass die Schallwelt selbst Ergebnis eines nach innen gerichteten Sehens ist. Sie entsteht erst, nachdem sich der Wille »in den Zustand des Hellsehens« versetzt hat. Dabei schafft sich der Wille für das unmittelbare Bild seiner Selbstschau ein zweites Mittheilungsorgan, welches, während es mit der einen Seite seiner inneren Schau zugekehrt ist, mit der anderen die mit dem Erwachen nun wieder hervortretende Außenwelt durch einzig unmittelbar sympathische Kundgebung des Tones berührt. Er ruft; und an dem Gegenruf erkennt er sich auch wieder […] (73f.).

Obwohl die Schallwelt über ein höheres Erkenntnispotential als die Lichtwelt verfügen soll, lässt Wagner das Hören aus dem Sehen entstehen – ein offensichtlicher Widerspruch, der auch durch die folgenden Ausführungen nicht gelöst wird. Zu Wagners Verteidigung sei gesagt, dass bereits die Musikphilosophie Schopenhauers von dieser medientheoretischen Unschlüssigkeit zeugt. Im berühmten § 53 des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung wird die Musik, obwohl sie doch 160

in unmittelbarem Kontakt zum Willen stehen soll, als dessen »Abbild« definiert.4 Dieser Widerspruch – den Schopenhauer-Exegeten gerne überlesen – durchzieht auch die Beethoven-Schrift und wurde von Wagner offenbar nicht bis ins letzte Detail durchdacht. Das wird auch in der Beschreibung Beethovens als Künstler deutlich, der nach Wagners Vorstellung genau das vollbringe, was sich zuvor auf metaphysischer Ebene durch den Willen selbst ereignete: Die innere Schau wird von Beethoven in Musik umgesetzt. Die »entzückende Hellsichtigkeit des Musikers« (SSD IX, 73) sieht Wagner auf vollkommene Weise in Beethoven verwirklicht. Dies könne man sogar an der Physiognomie seines Gehirnes beobachten, das von einer dicken und festen Hirnschale umgeben gewesen sei: »So schützte die Natur in ihm ein Gehirn von übermäßiger Zartheit, damit es nur nach innen blicken, und die Weltschau eines großen Herzens in ungestörter Ruhe üben könnte.« (90) Wagner schreibt von »einem nach innen gewendeten Auge, das nach außen gerichtet zum Gehör wird« (79). Es wird jedoch nicht ganz klar, ob Beethoven dabei im eigentlichen Sinne sieht oder nicht doch in erster Linie mit dem Ohr wahrnimmt.5 Für letztere Deutung spricht, dass Wagner Beethovens Taubheit mit der Blindheit der antiken Seher vergleicht (92) und damit die Existenz eines inneren Hörens suggeriert; er spricht außerdem von Beethovens »innerster Tonweltschau« (83). Auch hat er in einem Gespräch mit Cosima im November 1878 den Unterschied zwischen optischer und akustischer Wahrnehmung betont. Zwar könnte er die Bilder zu Beethovens siebter Symphonie sofort ausführen, »freilich wenn man es täte, würde man sogleich sehen, wie himmelweit von der Musik man dann wäre, wie ihr fremdartig diese Bilder erschienen, trotzdem sie sie erweckt« (CT II, 234). Andererseits beschreibt er eindeutig das von Beethoven »wahrgenommene innerste (Traum-) Bild der Welt« (SSD IX, 79) als eine »Hellsichtigkeit des tiefsten Welttraumes« (81). Dass der Musik ein Sehen in Bildern vorausgehen soll, hat Wagner auch in anderen Zusammenhängen betont, etwa in den Briefen an Mathilde Wesendonck. Dieser beschreibt er den Tristan mit den Worten: »Sie werden einmal einen Traum hören, den ich dort zum Klingen gebracht habe!« (SB X, 384) Und in einem anderen Brief: Leider werden meine Gesichtsfunktionen immer stumpfer: meinen Blick fesselt gar nichts, und alles Lokale, so wie Alles was dran haftet oder haften kann, und wären’s die grössten Meisterbilder der Welt, zerstreut mich nicht, ist mir gleichgültig. Ich hab’ das Auge nur noch, um Tag oder Nacht, hell oder düster, zu unterscheiden. Es ist wirklich ein Absterben gegen aussen und nach aussen: ich sehe nur noch innere Bilder, und die verlangen nur nach Klang. (SB XIII, 338)

Noch komplizierter wird die ästhetische Theorie des späten Wagner durch die Tatsache, dass sich zum Verhältnis von Bild und Ton noch ein weiteres Element ge-

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Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 359. Zur Diskussion um die Entstehung der Musik aus Bildern bei Wagner vgl. auch Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 109ff.

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sellt: die Gebärde des Schauspielers, die ebenfalls die inneren Bilder des Musikers auslösen kann.6 »Bei Wagner steht im Anfang die Hallucination: nicht von Tönen, sondern von Gebärden. Zu ihnen sucht er erst die Ton-Semiotik«,7 schreibt Nietzsche in Der Fall Wagner und berührt damit einen Punkt, der bereits in Beethoven reflektiert wird. Es scheine, so Wagner, als ob das wach gewordene Auge des Musikers an den Erscheinungen der Außenwelt so weit haftet, als diese ihm ihrem inneren Wesen nach sofort verständlich werden. Die äußeren Gesetze, nach welchen dieses Haften an der Gebärde, endlich an jedem bewegungsvollen Vorgange des Lebens sich vollzieht, werden ihm zu denen der Rhythmik, vermöge welcher er Perioden der Entgegenstellung und der Wiederkehr konstruirt. (SSD IX, 80)

Deutlicher wird dies noch in Über das Opern-Dichten und Komponieren im besonderen aus dem Jahr 1879. Dort fordert Wagner das Hervorgehen des musikalischen Motivs aus dem Betrachten des Blicks konkreter Personen, die so zu »Wahrtraumgestalten«8 würden. Der Musiker solle dabei wie folgt vorgehen: Er stelle sie sich in ein Dämmerlicht, da er nur den Blick ihres Auges gewahrt; spricht dieser zu ihm, so gerät die Gestalt selbst jetzt wohl auch in eine Bewegung [...]; endlich erbeben ihre Lippen, und eine Geisterstimme sagt ihm etwas ganz Wirkliches, durchaus Faßliches, aber auch Unerhörtes [...] so daß – er darüber aus dem Traume erwacht. Alles ist verschwunden; aber im geistigen Gehöre tönt es ihm fort: er hat einen Einfall gehabt, und dieser ist ein sogenanntes musikalisches Motiv.9

Nun geht es aber in Beethoven nicht nur um die Frage, wie der Musiker durch Hellsichtigkeit Zugang zum Unbewussten finden könne. Schließlich braucht es für ein Musikdrama auch jemanden, der das Libretto schreibt, und deshalb stellt Wagner dem Musiker Beethoven den Dichter Shakespeare zur Seite.10 Dieser ist

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Wagner hat übrigens auch dem Schauspieler selbst die Fähigkeit zur Hellsichtigkeit zugesprochen. In Über Schauspieler und Sänger bemerkt er hierzu: »Von Garrick wird erzählt, dass er in Monologen mit weit offenem Auge niemand sah, nur zu sich allein sprach, das Universum vergaß.« Richard Wagner, Späte Schriften zur Dramaturgie der Oper, hg. von Egon Voss, Stuttgart 1997, S. 52. Die Vorstellung, dass der Schauspieler ein mit vollem Bewusstsein schaffender Träumer ist, findet sich bereits bei E.T.A. Hoffmann. Vgl. hierzu Peter von Matt, Die Augen der Automaten. E.T.A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst, Tübingen 1971, S. 10. Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, S. 27f. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen Theodor W. Adornos zum gestischen Charakter von Wagners Musik. Vgl. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 13, S. 32ff. Inzwischen hat sich auch die zeitgenössische Wagner-Forschung der Untersuchung der Geste in Wagners Werk angenommen. Vgl. hierzu die Arbeit von Martin Knust, Sprachvertonung und Gestik in den Werken Richard Wagners. Einflüsse zeitgenössischer Deklamations- und Rezitationspraxis, Berlin 2007. Wagner, Späte Schriften zur Dramaturgie der Oper, S. 188. Ebd., S. 186f. Schon in der frühen Novelle Eine Pilgerfahrt zu Beethoven wird die Frage des Erzählers, wie man zu Werke gehen müsse, um ein »musikalisches Drama zu Stande zu bringen«

für ihn – wie für die Romantiker – der Inbegriff des genialen Dichters, der »im Wachen fortträumende Beethoven«, respektive ein »Geisterseher« (SSD IX, 108f.).11 Indem Wagner das Wirken Beethovens als einen nächtigen Somnambulismus und die Kunst Shakespeares als ein »bei wachem Gehirne eintretendes Hellsehen« (109) beschreibt, versucht er den Unterschied zwischen Musiker und Dichter fassbar zu machen: Das Wirken des Musikers geht dem des Dichters voran. Wagner glaubt, dass »durch die Wirkung der Musik auf uns das Gesicht in der Weise depotenzirt wird, daß wir mit offenen Augen nicht mehr intensiv sehen« (75). Dies ermöglicht es, die Geistergestalten Shakespeares wahrzunehmen, welche »durch das völlige Wachwerden des inneren Musikorganes zum Ertönen gebracht werden« (110). Oft wurde aus diesen Ausführungen geschlossen, dass in der Beethoven-Schrift im Gegensatz zu Oper und Drama die Musik dem Drama vorgeordnet sei.12 Der späte Wagner stehe ganz unter dem Einfluss der Schopenhauerschen Musikphilosophie, die er auf seine Theorie des Musikdramas zu übertragen versuche. Doch die Vorstellung, dass die Musik das Drama bereits in sich trage, wird von Wagner nicht konsequent durchgehalten. Bereits Carl Dahlhaus hat darauf hingewiesen, dass die Theorie von der »Depotenzierung des Gesichts« in scharfem Kontrast zu einer anderen Stelle in Beethoven stehe, an der es heißt, das »allein das Drama, und zwar nicht das dramatische Gedicht, sondern das wirklich vor unseren Augen sich bewegende Drama, als sichtbar gewordenes Gegenbild der Musik« (111f.) die Musik »bestimmen« könne. Dahlhaus sieht sich deshalb gezwungen, einen »kompositionstechnisch-empirischen und einen ästhetisch-metaphysischen« Musikbegriff bei Wagner zu unterscheiden.13 Eine andere Stelle suggeriert eher eine Gleichwertigkeit von Musik und Drama, wobei »die eine dieser Welten die andere vollkommen deckt, so daß jede in der anderen enthalten ist, wenngleich sie in durchaus verschiedenen Sphären sich zu bewegen scheinen.« (107) Diese These von der »gleichmäßigen gegenseitigen Durchdringung der Poesie und der Musik«, wie es bereits in Zukunftsmusik heißt (VII, 116), wird durch Äußerungen Wagners in einer späteren Schrift gestärkt. In Über die Bestimmung der Oper sagt er über

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von Beethoven mit der Antwort beschieden: »Wie es Shakespeare machte, wenn er seine Stücke schrieb« (SSD I, 109). Vgl. zum Bild Shakespeares in der Beethoven-Schrift: Yvonne Nilges, Richard Wagners Shakespeare, S. 110–122. Ein Gedanke, der sich übrigens bereits bei Goethe findet. In Shakespear und kein Ende! (1815) schreibt Goethe, Shakespeare sei ein Dichter für den »innern Sinn«, die Imagination. »Es gibt keinen höhern Genuß und keinen reinern, als sich mit geschloßnen Augen, durch eine natürlich richtige Stimme, ein Shakespear’sches Stück nicht deklamieren, sondern rezitieren zu lassen.« Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 638f. Vgl. zur Rolle der Beethoven-Schrift in der Diskussion um die Stellung der »absoluten Musik« bei Wagner: Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 110–116; Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners, S. 139–146; Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 107–111. Letzterer weist darüber hinaus auf den Einfluss hin, den die Schrift auf Nietzsches Musikphilosophie hatte. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 114f.

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Shakespeare und Beethoven, dass die Unterschiedlichkeit beider Werke dadurch aufgehoben werde, dass »uns plötzlich die einzige Erklärlichkeit der einen aus der anderen einleuchtet«. Zwischen beiden herrsche eine »Urverwandtschaft«.14 Das Verhältnis von Musik und Dichtung wird also auch in Beethoven nicht endgültig geklärt. Wagner zögert, die letztere zugunsten der ersten abzuwerten. Es wird auch nicht deutlich, wie sich Bild und Ton bei der Genese des Musikdramas konkret zueinander verhalten. Dieter Borchmeyer gelangt aufgrund solcher Unschlüssigkeiten zu dem Urteil: »Eine klare Vermittlung zwischen der von Nietzsche skizzierten älteren und neueren Lehre über das Verhältnis zwischen der Musik und ihren Determinanten (bzw. Parallelen) auf der Ebene des dichterischen Wortes und Bildes oder der rhythmischen und mimischen Gebärde hat Wagner nicht gefunden. Dieses Verhältnis ist bei ihm nur in Widersprüchen faßbar.«15 Deshalb besteht wohl die hauptsächliche Veränderung der in Beethoven entwickelten ästhetischen Ideen gegenüber den Zürcher Kunstschriften eben nicht in einer Aufwertung der Musik – diese gilt Wagner bereits in Oper und Drama als das Mutterelement der Oper –, sondern in einer Aufwertung der visuellen Wahrnehmung. Die Hellsichtigkeit wird zum entscheidenden ästhetischen Kriterium erhoben, weil sie die herkömmliche, nach außen gerichtete Wahrnehmung von Auge und Ohr potenziert und so das Wechselspiel von Unbewusstem und Bewusstsein in Gang setzt.16 Zwar spielt auch in den Zürcher Kunstschriften die Metaphorik des Blicks eine wichtige Rolle, doch geschieht dies vor einem anderen Hintergrund: Wagners Bestreben, der modernen Kultur durch das Musikdrama die verloren gegangene Sinnlichkeit wieder zurückzugeben. Dabei beschäftigte ihn vor allem die Frage, unter welchen medialen Voraussetzungen diese »Sinnlichkeit« dem Zuschauer des Musiktheaters vermittelt werden könne. Auch hier bezieht Wagner Auge und Ohr aufeinander, allerdings ist seine Vorgehensweise eine ganz andere als in den späten Schriften. Er versucht, die gewünschte Wirkung in das Modell einer »gegenseitigen Versicherung« beider Sinne zu fassen – einen hellsichtigen Blick, der beiden Wahrnehmungsarten übergeordnet ist, kennt Wagner in dieser Phase seiner Theoriebildung noch nicht. Ein beiläufiger Einschub in Die Kunst und die Revolution verdeutlicht seine diesbezüglichen Vorstellungen. Dort heißt es, in der griechischen

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Wagner, Späte Schriften zur Dramaturgie der Oper, S. 30. Noch erstaunlicher ist, dass Wagner es in dieser Schrift für legitim hält, mitten in einer Oper ins gesprochene Wort zu wechseln, denn damit »sei nun keineswegs eine absolut niedrigere Sphäre angezeigt, sondern nur eine durchaus verschiedne, andersartige« (ebd., S. 35). Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 110f. Diese ästhetischen Überlegungen Wagners hatten auch theaterpraktische Konsequenzen. Der Vorhang, den Wagner für das Bayreuther Festspielhaus entwickelte, sollte den Blick des Zuschauers nach Innen lenken. Dies hat Johanna Dombois gezeigt. Der Vorhang fungiere als »Auge, das zwischen Erweckungsphantasien und Traumverlorenheit vermittelt.« Johanna Dombois, Das Auge, das wechselnd sich öffnet und schließt. Zur Szenographie des Wagner-Vorhangs. In: wagnerspectrum 4, H. 2, 2008, S. 209–235, hier S. 227.

Tragödie hätten die »Thaten der Götter und Menschen« ihren »vollendetsten Ausdruck« gefunden, »wo Auge und Ohr, wie Geist und Herz, lebendig und wirklich Alles erfaßten und vernahmen« (SSD III, 11). Wie diese Parallelisierung von Ohr und Herz zeigt, spricht Wagner vor allem der akustischen Wahrnehmung die Möglichkeit zu, sich nach innen zu wenden und so das Gefühl zu erfassen. Mit dieser Aufwertung des Gehörs steht er in der Tradition Johann Gottfried Herders, der dieses in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache als »die eigentliche Tür zur Seele, und das Verbindungsband der übrigen Sinne« bezeichnete.17 Entsprechend heißt es bei Wagner in Das Kunstwerk der Zukunft: »Dem Auge stellt sich der äußere, dem Ohre der innere Mensch dar« (III, 63).18 Bei der Rezeption des Dramas durch das Auge denkt Wagner bereits in den Kunstschriften vor allem an die Wahrnehmung der Gebärde: Der leibliche Mensch und die unwillkürlichen Äußerungen seiner, durch äußere Berührung empfangenen, Eindrücke in sinnlichem Schmerz oder sinnlicher Wohlempfindung, stellen sich dem Auge unmittelbar dar; mittelbar theilt er ihm aber auch die Empfindungen des, dem Auge unmittelbar nicht erkennbaren, inneren Menschen mit, durch Miene und Gebärde […] (63f.).

Wie sich Wagner dabei das Zusammenwirken von Auge und Gehör vorstellt, wird in seinem Exkurs über die Tanzkunst deutlich. Wie der Dichter seine Absicht nur durch die Hinzunahme der Musik vollenden könne, bedürfe auch die Tanzkunst der Tonkunst. Zwar sei die Tanzkunst die Bedingung für »die Kundgebung aller

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Herder, Werke, Bd. 1, S. 746. Neben dieser Textstelle sind für die Herdersche Bestimmung des Gehörs noch der unveröffentlicht gebliebene vierte Teil der Kritischen Wälder (1769) sowie die Kalligone und die Adrastea zu nennen. Wie Jörg Krämer gezeigt hat, stehen die Theorien Herders für die Emanzipation des Ohres und damit auch der Musik gegenüber dem Auge. Dies blieb für die ästhetische Bewertung des Musiktheaters, das im Zeitalter der Aufklärung von der zunehmenden Dominanz des Sehens geprägt worden war, nicht ohne Folgen. Vgl. Jörg Krämer, Auge und Ohr. Rezeptionsweisen im deutschen Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts. In: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, hg. von Erika Fischer-Lichte / Jörg Schönert, Göttingen 1999, S. 109–132. Zu Herder siehe auch: Peter Utz, Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, S. 23f. Herders Anregungen wurden von der Romantik, in deren Verlauf es ebenfalls zu einer Aufwertung des Ohres gegenüber dem allein auf das Außen gerichteten Auge kommt, dankbar aufgenommen. Allerdings betont Peter Utz, dass sich die Grenze zwischen Klassik und Romantik »nicht einfach als Grenze zwischen Auge und Ohr festlegen« ließe (ebd., S. 177). Auf die enge Verbindung zwischen Herders und Wagners Theorien verweist Arne Stollberg, Ohr und Auge – Klang und Form. Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker, Stuttgart 2006, S. 111–242. Stollberg hat dabei den Einfluss Herders philologisch rekonstruiert: Obwohl Wagner verschiedene Werke Herders besaß, hält Stollberg es für wahrscheinlicher, dass Wagner die Theorien Herders durch die Vermittlung der Romantik rezipierte (ebd., S. 114–116).

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anderen Kunstarten«, da sich in ihr »der wirkliche leibliche Mensch« darstelle (71). Dieser ist Voraussetzung aller Dicht- und Tonkunst, da Gesang und Deklamation auch körperliche Vorgänge sind. Deshalb müsse jede Kunst »ohne Mittheilung an das Auge« unbefriedigend bleiben (72). Aber Wagner betont ausdrücklich, dass die an das Auge gerichtete Tanzkunst ihre notwendige Ergänzung in der Tonkunst finde, die sich dem Ohr mitteilt. Durch den sowohl visuell, »durch Zusammenschlagen der Hände, dann hölzerner, metallener oder sonstiger schallgebender Gegenstände« (73), als auch akustisch wahrnehmbaren Rhythmus sind beide unauflöslich miteinander verbunden. Wagner schreibt, der rein optisch, als »Abstraktion der leiblichen Bewegung« wahrgenommene Rhythmus, der »Geist der Tanzkunst«, sehne sich nach der Tonkunst. Diese ermögliche die Vollendung durch das Gefühl, »die Fähigkeit des Ausdruckes tieferer Herzensfülle«: Diese andere Kunstart, in welcher die Tanzkunst nothwendig sich zu erkennen, wiederzufinden, aufzugehen sich sehnt, ist die Tonkunst, die das markige Gerüst ihres Knochenbaues im Rhythmus eben aus der Tanzkunst empfängt. [...] Ist der Rhythmus als bewegungsbindendes, einheitgebendes Gesetz, der Geist der Tanzkunst – nämlich die Abstraktion der leiblichen Bewegung –, so ist er, als sich bewegende, fortschreitende Kraft dagegen das Gebein der Tonkunst. Je mehr dieses Gebein sich mit dem Fleische des Tones umhüllt, desto unkenntlicher verliert sich das Gesetz der Tanzkunst in das besondere Wesen der Tonkunst; um so mehr erhebt die Tanzkunst sich aber auch zur Fähigkeit des Ausdruckes tieferer Herzensfülle, mit welchem sie einzig dem Wesen des Tones zu entsprechen vermag. (74)

In Oper und Drama knüpft Wagner an diese Ausführungen an. In dieser Schrift geht er davon aus, dass Ohr und Gefühl nur erregt werden können, wenn zuvor das Auge durch die Gebärde angesprochen wurde. »Ohr und Auge müssen sich einer höher gestimmten Mitteilung gegenseitig versichern, um dem Gefühle sie überzeugend zuzuführen« (OuD, 331), so Wagner. Diese »gegenseitige Versicherung«, die im Musikdrama sich ganz konkret im Zusammenwirken von darstellerischer Gebärde und Orchester ereignet, wird auch hier durch die »Anregung« und »Erweckung« des Gehörs durch das Auge ermöglicht: Das ihr Unaussprechliche theilt dem Gehöre nun aber gerade die Sprache des Orchesters mit, und eben aus dem Verlangen des durch das schwesterliche Auge angeregten Gehöres gewinnt diese Sprache ein neues, unermeßliches, ohne diese Anregung stets aber schlummerndes oder – wenn aus eigenem Drange allein erweckt – unverständlich sich kundgebendes, Vermögen. (336)

Dieses Modell der Erweckung des schlummernden Unbewussten – dem sich das zweite Kapitel gewidmet hat – besitzt auch für die Herleitung des Stabreims, der »Worttonsprache« Gültigkeit. Wagner vergleicht den Konsonanten mit der »physiognomische[n] Außenseite des Menschen«, die sich »dem Auge des Sprachverständnisses« mitteilt (280). Den Vokal fasst er dagegen »als den ganzen inneren Organismus des lebendigen menschlichen Leibes« auf (284), der sich »dem ›Ohre‹ des Gehörs selbst« zuwendet (286). Auch die Wahrnehmung der Sprache basiert also auf der »gegenseitigen Versicherung« von Auge und Ohr, das »Mitteilungsorgan 166

des inneren Menschen« überzeuge unser Gehör »nur dann zu vollständiger Gewissheit, wenn es sich dem ›Auge und dem Ohre‹ dieses Gehörs gleichbefriedigend mitteilt.«19 (286) Und schließlich ist auch die Gesamtstruktur des von Wagner angestrebten Kunstwerks der Zukunft durch die Auge/Ohr-Metapher geprägt.20 Er betont dies gegen Ende von Oper und Drama, wo er eine Definition des Musikdramas gibt: Das Drama allein ist das räumlich und zeitlich an unser Auge und unser Gehör so sich mitteilende Kunstwerk, daß wir an seinem Werden selbsttätigen Mitanteil nehmen und das Gewordene daher als ein Notwendiges, klar Verständliches durch unser Gefühl erfassen. (OuD, 351)

Wie der Vergleich zwischen den Zürcher Kunstschriften auf der einen sowie Zukunftsmusik und Beethoven auf der anderen zeigt, erfährt die optische Wahrnehmung im Laufe der Theoriebildung eine Aufwertung. Ist es in Das Kunstwerk der Zukunft oder Oper und Drama allein das Gehör, das nach innen gerichtet ist, übernimmt in den späteren Schriften der potenzierte Blick diese Rolle. Beethoven, der Musiker, wird zu einem somnambulen Hellseher stilisiert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, wie Wagner versucht hat, die Ästhetik der Züricher Zeit im Nachhinein umzudeuten. In der später verfassten Einleitung zum dritten und vierten Band seiner Sämtlichen Schriften und Dichtungen, die die Kunstschriften umfasst, versucht er eine Neudefinition der darin zentralen Begriffe »Sinnlichkeit« und »Gedanken«. Es handele sich hier »um die Gegensätze der intuitiven und der abstrakten Erkenntniß«, wobei es nicht nur um die »Resultate« dieser Erkenntnisarten gehe, sondern auch »um die subjektiven Befähigungen«, diese auszuüben. Wenn er von Sinnlichkeit gesprochen habe, sei damit eigentlich »Anschauungsvermögen« gemeint, genauer: »sinnliches Anschauungsvermögen« (SSD III, 5). Ob man Wagner darin folgen muss, sei dahingestellt. Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass er die Kontinuität seiner Ästhetik zu retten versucht, indem er die linkshegelianische Terminologie der Philosophie Schopenhauers zuschlägt. Dass diese hinter den Ausführungen in Zukunftsmusik und Beethoven steht, ist eindeutig. Für Schopenhauer, den Platoniker, stellt die Schau der

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Auch lässt sich Wagners »Genitivmetapher« vom »Auge und Ohr des Gehörs« auf ähnlich lautende Formulierungen Jean Pauls beziehen, der von »Herzohren« und »hundert Argusohren« spricht. Dies hat gezeigt: Kropfinger, Metapher und Dramenstruktur, S. 426. Darauf verweist ebenfalls Klaus Kropfinger. Für Kropfinger besteht die Aufgabe der Auge/Ohr-Metapher in Oper und Drama vor allem darin, den Stabreim als Keim eines größeren musikdramatischen Zusammenhangs darzustellen. So wie der Stabreim Sprache und Musik verbinde, tue dies auch das Musikdrama. Kropfinger hält diese Konzeption aber nicht für kohärent: »Hier klafft nun einer der Risse, die Wagners Dramentheorie durchziehen.« Denn mit Dahlhaus hält auch er die formbildende Wirkung des Stabreimes für gering, »weitaus deutlicher ist hingegen die auflösende, vom irregulären Versrhythmus ausgehende Rolle« (ebd., S. 427).

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Ideen die höchste Stufe der Erkenntnis dar. Wer zu ihr gelange, werde »rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge«. Dies bleibe allerdings dem Genie und dem zu Resignation gelangten Heiligen vorbehalten. Hierzu bemerkt Schopenhauer: Demnach ist Genialität die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren [...], sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern […].21

Auch Wagners physiologische Beschreibung des genialen Beethoven geht auf Schopenhauer zurück. Dieser schwärmt von den »breiten, hohen, schön gewölbten Stirnen«, die die Physiognomie der »außerordentlichen Geister« kennzeichnen und unter denen »strahlende Augen hervorleuchten«.22 Wagners Reflexionen über die Hellsichtigkeit in Beethoven nehmen ihren Ausgang in Schopenhauers Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt, der 1851 im Rahmen der Parerga und Paralipomena erschien.23 Dass Wagner diese Abhandlung kannte und sehr schätzte, bezeugt ein Brief an August Röckel vom April 1855: »Gelegentlich will ich Dir doch auch noch die kleineren Schriften Sch.[openhauer]’s besorgen, unter denen sich auch eine sehr ausführliche Abhandlung über Somnambulismus ec. befindet: daraus wirst Du ersehen, wie einzig tief gerade dieser Philosoph auf das hier vorliegende Problem eingegangen ist« (SB VII, 131). Die Beethoven-Schrift folgt in weiten Teilen den im Versuch über das Geistersehen entwickelten Ideen. Wagner konnte daraus nicht nur die Unterscheidung in »theorematische« und »allegorische« Träume,24 sondern auch eine klare Definition des Somnambu-

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Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 266. Ebd., S. 22f. Der Definition des Genies als eines zum »höheren Sehen« befähigten Wesens begegnet man auch in Wagners Autobiographie Mein Leben. Es besteht Grund zu der Annahme, dass seine berühmte Selbststilisierung zum somnambulen Künstler im Zusammenhang mit dem Rheingold-Vorspiel (ML, 512) auf den Einfluss Schopenhauers zurückgeht, da sie »bis in Einzelheiten der Diktion dem Vokabular des Philosophen« entspricht (Wiesend, Die Entstehung des »Rheingold«-Vorspiels, S. 139). Friedrich Nietzsche tat es Wagner darin gleich, als er im vierten Teil der Unzeitgemäßen Betrachtungen die Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses durch Wagner wie folgt beschreibt: »Er schwieg und sah dabei mit einem Blick lange in sich hinein, der mit einem Worte nicht zu bezeichnen wäre. [...] Was aber Wagner an jenem Tage innerlich schaute – wie er wurde, was er ist, was er sein wird – das können wir, seine Nächsten, bis zu einem Grade nachschauen.« Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 434. Dieser Einfluss wurde in der Forschung wiederholt betont. Bereits Edouard Sans hat auf die Bedeutung dieser Schrift für die Wagnerschen Theorien der Hellsichtigkeit hingewiesen. Vgl. Sans, Richard Wagner et la pensée schopenhauerienne, S. 64f. u. 199ff. Und Dieter Borchmeyer betont, dass Wagner »jene Gesetze nach der Analogie des Träumens und somnambulen Hellsehens« auf der Grundlage »der Schopenhauerschen Traumtheorie« entwickelt habe (Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 108). Auch in jüngster Zeit wurde diese These wieder aufgegriffen, etwa von Stollberg, Ohr und Auge, S. 128f. Für Schopenhauer sind theorematische Träume diejenigen, die zur eigentlichen Hellsichtigkeit führen, wohingegen der normale »allegorische« Traum lediglich eine mittel-

lismus und des Geistersehens entnehmen. Aus Schopenhauers Annahme, dass das Wahrträumen »auch bei wachem Gehirne zur Ausübung gelangen kann«25 und sich daraus das Geistersehen erklären lasse, resultiert Wagners Beschreibung des »Geistersehers« Shakespeare als des »im Wachen fortträumende[n] Beethoven«. Auch die Idee Schopenhauers, dass die »Wahrträume« nicht von den äußeren Sinnesorganen, sondern von einem von innen aus wirkenden »Traumorgan«26 herrühren, wurde von Wagner übernommen. Entscheidend ist aber der Grundgedanke, den Schopenhauer in seiner Schrift zu beweisen versucht: Durch die Hellsichtigkeit gelangten sowohl der somnambule Wahrträumer als auch der Geisterseher zum »Ding an sich«, dem »Willen«. Dies sieht Schopenhauer durch die Tatsache bewiesen, dass der Hellseher sich in seinem Geist von Zeit und Raum unabhängig bewegt – um es in den Worten Tristan und Isoldes auszudrücken: »in ungemess’nen Räumen« wandelt (TuI, 68).27 Gerade dieser Gedanke ist es, der Wagner dazu bewog, die Traumtheorie Schopenhauers weiterzuentwickeln und auf die Ästhetik des Musikdramas anzuwenden. Denn in unmittelbarem Kontakt zum Willen steht ja nach Schopenhauer vor allem die Musik, also war es naheliegend, beide Bereiche aufeinander zu beziehen. »Wagners Verfahren ist die Verknüpfung mehrerer Gedankenkreise aus Schopenhauers Schriften, eine Anwendung Schopenhauers auf Schopenhauer«, bemerkt Klaus Kropfinger,28 der glaubt, dass die Beethoven-Schrift darauf abziele, Wagners »Konzeption des Musikdramas im Spiegel der Philosophie Schopenhauers theoretisch zu retten.«29 Dabei zeigt sich, wie wenig im Grunde genommen die in Beethoven entwickelten Gedanken zum Musikdrama mit Schopenhauer in Einklang stehen. Zwar geht auch Schopenhauer davon aus, dass die Musiksprache eines

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bare Übersetzung darstellt. Vgl. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 307f. Ralf Eisinger rückt den allegorischen Traum ins Zentrum seiner Gesamtinterpretation des Wagnerschen Musikdramas. Vgl. Ralf Eisinger, Richard Wagner – Idee und Dramaturgie des allegorischen Traumbildes, München 1987. Er beruft sich dabei auf die Bedeutung des Allegorie-Begriffs bei Walter Benjamin, der auf die Fähigkeit der Allegorie, den Übergang von Wort in Ton zu garantieren, hingewiesen habe (ebd., S. V). Mit Hilfe des »allegorischen Traumbildes«, das sich in der Musik verwirkliche, wolle Wagner letztendlich die Entfremdung des bürgerlichen Zeitalters überwinden, so Eisinger (ebd., S. X). Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 329. Ebd., S. 289. In Magie und Mantik, so Schopenhauer, »leisten wir daher unabhängig von den Beschränkungen, welche Raum, Zeit und Kausalität herbeiführen, was wir sonst und alltäglich nur unter diesen vermögen. In ihnen hat also unser innerstes Wesen oder das Ding an sich jene Form der Erscheinung abgestreift und tritt frei von ihnen hervor.« (ebd., S. 319) Bereits im ersten Band seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung geht Schopenhauer auf das magnetische Hellsehen ein. Dort schreibt er, im magnetischen Hellsehen dringe »das Licht der Erkenntnis in die Werkstätte des blindwirkenden Willens« ein und beleuchte so »die vegetativen Funktionen des menschlichen Organismus«. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 224. Kropfinger, Wagner und Beethoven, S. 153. Ebd., S. 150.

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Komponisten, dem es gelänge, in der Melodie den Willen abzubilden, »wie eine magnetische Somnambule Aufschlüsse gibt über Dinge, von denen sie wachend keinen Begriff hat.«30 Auch räumt er ein, »daß unsere Phantasie so leicht durch sie [die Musik, M.S.] erregt wird und nun versucht, jene ganz unmittelbar zu uns redende unsichtbare und doch so lebhaft bewegte Geisterwelt zu gestalten und sie mit Fleisch und Bein zu bekleiden«,31 woraus letztendlich die Oper entstehe. Doch für Schopenhauer besteht zwischen der optischen und der akustischen Wahrnehmung ein entscheidender Gegensatz. Erste sei aktiv, die zweite passiv, deshalb kann es für ihn »kein Analogon der Musik für das Auge geben«.32 In den im zweiten Band seines Hauptwerks enthaltenen Ergänzungen zur »Metaphysik der Musik« führt er aus, dass der Hang zur Materialisierung der Musik »nicht ihr Verständnis noch ihren Genuß« befördere, sondern ihr »vielmehr einen fremdartigen, willkürlichen Zusatz« verleihe. Es sei besser, »sie in ihrer Unmittelbarkeit und rein aufzufassen.«33 Es verwundert nicht, dass Schopenhauer Wagner als Dichter zwar schätzte, sich jedoch mit dessen Versuchen, zwischen Musik und Dichtkunst eine Art »Gütergemeinschaft« herzustellen, nicht einverstanden zeigte.34 Um aus Schopenhauers Theorie der Hellsichtigkeit eine Definition des eigenen Musikdramas herzuleiten, musste Wagner Theorieteile, die Schopenhauer explizit getrennt wissen wollte, zusammendenken. Gegen eine einseitige Herleitung der Ästhetik des späten Wagner aus den Schriften Schopenhauers spricht auch die Tatsache, dass die in dessen Traum- und Musiktheorie geäußerten Ideen Wagner bereits aus der Romantik bekannt waren.35 Die Begegnung mit der Philosophie Schopenhauers war für ihn in vielerlei Hinsicht eine Weiterführung romantischer Überzeugungen.36 Dies gilt auch für die

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Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 363. Ebd., S. 365. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 46. Ebd., S. 577. Dies belegen Äußerungen Schopenhauers gegenüber Karl Hebler. Zitiert nach Kropfinger, Wagner und Beethoven, S. 151. Vgl. hierzu im Hinblick auf die Traumtheorie der Romantik: Walter Hinderer, Traumdiskurse und Traumtexte im Umfeld der Romantik. In: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hg. von Gerhard Neumann / Gabriele Brandstetter, Würzburg 2004, S. 213–241 sowie das entsprechende Kapitel in: Alt, Der Schlaf der Vernunft, S. 265–279. Einen Zusammenhang zwischen den Traum-Theorien der Romantik und Wagners stellte bereits Paul Arthur Loos her. Vgl. Loos, Richard Wagner, S. 274–292. Carl Dahlhaus betont, dass Wagners Schopenhauer-Rezeption »einen Rückgriff auf die romantische Musikästhetik« einschließe, »deren Grundgedanken Wagner um 1840 geteilt, jedoch 1850/51, in ›Oper und Drama‹, zurückgedrängt hatte.« (Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 153) Diese Behauptung gilt es allerdings insofern zu differenzieren, als sich auch in Oper und Drama Einflüsse romantischer Ästhetik finden. Dieter Borchmeyer weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bereits in Oper und Drama die Metapher der Musik als ›Mutterschoß‹ von Bedeutung sei (Borch-

Assoziation höheren Sehens mit der Musik. Letztere fungiere in der Romantik »als ästhetisches Gegenstück des starstechenden Arztes«, so Peter Utz. »Wie dieser das reale Auge, so entbindet sie das imaginäre Auge der Phantasie.«37 Dies lässt sich bereits in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders beobachten. Der Musiker Joseph Berglinger, der dort beschrieben wird, lebt »immer in schöner Einbildung und himmlischen Träumen […]. Ja, bei manchen Stellen der Musik endlich schien ein besonderer Lichtstrahl in seine Seele zu fallen; es war ihm, als wenn er dabei auf einmal weit klüger würde und mit helleren Augen und einer gewissen erhabenen und ruhigen Wehmut auf die ganze wimmelnde Welt herabsähe.«38 Die Parallelisierung der platonischen Vorstellung von Lichtstrahlen, die das Auge wirft,39 mit akustischen Phänomenen ist noch im Werk E.T.A. Hoffmanns virulent. »Der Ton«, sagt Johannes Kreisler in den Lebens-Ansichten des Katers Murr, sei »eigentlich auch ein Blick«, der »aus einer Lichtwelt durch zerrissene Wolkenschleier hinabstrahlet« (SäW 5, 274). Auch der Ritter Gluck verwendet dieses Bild: »Da fuhren Lichtstrahlen durch die Nacht, und die Lichtstrahlen waren Töne, welche mich umfingen mit lieblicher Klarheit.« (2/1, 25) Diese Engführung von Blick und Gehör führt bereits bei Hoffmann dazu, dass die traditionelle Sinneshierarchie außer Kraft gesetzt wird. Allerdings bleibt wie in Schopenhauers Musikphilosophie und Wagners Beethoven auch bei ihm im Unklaren, ob nun die Musik dem Sehen vorausgeht oder umgekehrt. »Ich erwachte von meinen Schmerzen und sah ein großes, helles Auge, das blickte in eine Orgel, und wie es blickte, gingen Töne hervor« (ebd.). 40 Der Erweckung der Musik durch

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meyer, Das Theater Richard Wagners, S. 106). Auch er kommt zu dem Schluss: »Aus der romantischen Musikästhetik, in der Schopenhauers Metaphysik ihrerseits gründet, war ihm die Idee der Musik als der Sprache des Urgrunds aller Dinge bereits vertraut« (ebd., S. 111). Vgl hierzu auch Kunze, Der Kunstbegriff Richard Wagners, S. 103ff. und Stollberg, Ohr und Auge, S. 111–242. Letzterer verweist über die Romantik hinaus auf den Einfluss Herders. Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 182. Wackenroder, Werke und Briefe, S. 230–232. Dieser durch die Musik ausgelöste höhere Blick kann jedoch auch ein berauschender und ekstatischer sein. »Die Laute schien sich unter seinen Händen zu beseelen, und sein Blick schien trunken in eine geheimere Welt hinüber zu schauen«, heißt es in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 225). Eine Beschreibung, die auf Tannhäusers entzückten und entrückten Blick während des Sängerkrieges vorausweist (T, 35). In seiner Strahlentheorie fasste Platon verschiedene Ideen der Vorsokratiker zusammen. Er entwickelte dabei die später auch für das Mittelalter grundlegende Vorstellung, dass vom Auge Strahlen ausgehen, die durch die Augen des Betrachters in dessen Körper eindringen. Vgl. Katharina Weisrock, Götterblick und Zaubermacht. Auge, Blick und Wahrnehmung in Aufklärung und Romantik, Opladen 1990, S. 23ff. Auch in Friedrich Schlegels Lucinde fungiert der höhere Blick gleichsam als Synthese der anderen Sinne: »Ein neuer Sinn schien mir aufgetan; ich entdeckte in mir eine reine Masse von mildem Licht. Ich kehrte in mich selbst zurück und in den neuen Sinn, dessen Wunder ich schaute. Er sah so klar und bestimmt, wie ein geistiges nach Innen gerichtetes Auge: dabei waren aber seine Wahrnehmungen innig und leise wie die des

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den Blick, wie sie dieses Zitat aus Ritter Gluck suggeriert, steht das durch die Musik erst ausgelöste höhere Sehen gegenüber. Am prominentesten hat Hoffmann dies in Beethovens Instrumental-Musik formuliert. Dort schreibt er, die Musik sei »die romantischste aller Künste«, sie schließe dem Menschen »ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt« (2/1, 52). Durch sie würden wir »entzückte Geisterseher« (54). Richard Wagners Rheingold-Vorspiel, das er bekanntlich vor seiner Schopenhauer-Lektüre komponierte, ließe sich als eine erste Umsetzung dieser romantischen Idee lesen. Schließlich führe es, wie Dieter Borchmeyer schreibt, »vom tönenden Sein zum sichtbar Seienden, vom Hören zum Schauen, prosaisch gesagt: Vom Orchestergraben zur Bühne«. 41 4.1.2. Zur Potenzierung des Blicks in der romantischen Anthropologie Internalisierung und Potenzierung des Blicks durchdringen nicht nur den musikästhetischen Diskurs der Romantik. Das höhere Sehen ist ein Topos, der in vielen Wissensfeldern der Epoche eine bedeutende, wenn nicht sogar entscheidende Rolle spielt. Dies gilt nicht zuletzt für die romantische Literatur, in der der Versuch deutlich wird, die Sinnestheorie der Aufklärung hinter sich zu lassen und die hierarchische Anordnung und Begrenzung der fünf Sinne zu überwinden. 42 Als Jean Paul die potenzierte Wahrnehmungskraft des Magnetismus kennenlernt, fragt er: »Warum wäre dieses noch fünfsinnliche mechanische Gewand das letzte? Warum soll den Geist kein dynamisches umgeben, gleichsam ein allgemeines Sensorium?«43 Die Suche nach einem solchen allumfassenden ›sechsten Sinn‹ steht im Zentrum der romantischen Medientheorie. Von der herkömmlichen Wahr-

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Gehörs, und so unmittelbar wie die des Gefühls.« F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 5, S. 19. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 283. Vgl. hierzu Gerhard Neumann / Günter Oesterle (Hgg.), Bild und Schrift in der Romantik, Würzburg 1999, S. 9. Peter Utz hat die Bedeutung des Auges für die Aufklärung mit der großen Informationsleistung dieses Organs zu begründen versucht: »Die alte Sinneshierarchie wird nun durch Leistung neu legitimiert.« Als aufklärerischer Akt par excellence erscheine dabei die Heilung des Blinden durch den Arzt. Der Triumph der Wissenschaft sei zugleich ein Triumph des Auges gewesen. »Aufklärung heißt, die Augen öffnen.« Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 8f. Jean Paul, Sämtliche Werke, hg. von Norbert Miller, Darmstadt 2000 [1959ff.], Bd. II/2, S. 890. Die Beschäftigung Jean Pauls mit dem animalischen Magnetismus dokumentiert und analysiert ausführlich Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 137–160. »Kein anderer romantischer Dichter«, so Barkhoff, »steht in seinen Literarisierungen des Mesmerismus den theoretischen Entwürfen der romantischen Naturphilosophen so nahe wie Jean Paul. […] Keiner schließlich war ein ähnlich kompetenter Kenner der vielfältigen Literatur zum Thema.« (ebd., S. 137) Dass Jean Paul dem Magnetismus wichtige Argumente gegen die materialistischen Theorien von Helvétius und La Mettrie entnahm, zeigt Barkhoff anhand seiner Diskussion von Pauls Mutmassungen (1813). Vgl. ebd., S. 140.

nehmung abweichende Bewusstseinszustände wie Verklärung, Hellsichtigkeit und Somnambulismus rücken ins Zentrum der Reflexion. Dahinter steckt, wie immer in der Romantik, eine Kritik der Moderne. Indem sie einen höheren, inneren Sinn postulieren, versuchen die Romantiker sich von der technischen und rationalistischen Durchleuchtung der Welt, wie sie sich im beginnenden 19. Jahrhundert abzeichnete, abzugrenzen.44 Die Wissensvermittlung durch den Blick soll nun nicht mehr nur an äußere Licht- und Raumverhältnisse gebunden werden. 45 Ihre Texte spüren mit Hilfe einer veränderten Wahrnehmung den Geistern und Gespenstern nach, die die Aufklärung verdrängt hat, und spielen virtuos mit der Dialektik von Sinnlichem und Übersinnlichem, von Sichtbarem und Unsichtbarem. Dabei ist jedoch auffällig, dass die Romantiker die alte Sinneshierarchie, die sie eigentlich überwinden wollen, nur neu definieren: Denn der sechste Sinn wird von ihnen meist als eine gesteigerte optische Wahrnehmung, als ein höheres Auge beschrieben. Diese Konzeption des ›Neuen Sehens‹ greift zurück auf alte kulturgeschichtliche Muster. Dass das Auge als primäres Organ der Erkenntnis fungiert, wird schon etymologisch deutlich. Das deutsche ›wissen‹ leitet sich von dem indogermanischen Wort für ›erkennen, erblicken‹ her. 46 In der Philosophie übte vor allem die in Platons Höhlengleichnis gegebene Definition der wahren Erkenntnis als ein Aufstieg zum Licht, als ein Schauen der göttlichen Wahrheit, 47 einen enormen Einfluss aus. Auch die Idee, dass sich dieser höhere Blick nach innen richten müsse, wurde bereits lange vor der Epoche der Romantik geäußert. Schon Augustinus sprach von einem inneren »Auge des Herzens«, das auf Gott gerichtet sei;48 in der Neuzeit findet sich dieser Gedanke bei Jakob Böhme wieder, der dem nach innen gerichteten Auge die Fähigkeit zur Weisheit zuspricht. 49 Einen weiteren wichtigen Impuls gewinnt die romantische Suche nach dem höheren, nach innen gerichteten Blick aus der idealistischen Philosophie, die am Ende des 18. Jahrhunderts nach den Grundlagen der Subjektivität zu fragen beginnt.

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Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 184–186. Zum Begriff des ›Neuen Sehens‹ in der Romantik siehe Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 293–360. Zur Begrenzung und Aufhebung der visuellen Erkenntnisbedingungen in der Goethezeit vgl. Michael Titzmann, Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der optischen Codierung von Erkenntnisprozessen. In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Feldstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, hg. von Jürgen Link / Wulf Wülfing, Stuttgart 1984, S. 100–120, hier S. 112ff. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, S. 894f. Platon, Sämtliche Werke, hg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 1994, Bd. 2, S. 420–423. Vgl. hierzu Robert P. Newton, Eye Symbolism and German Poetry. In: Colloquia Germanica 16, H. 2/3, 1983, S. 97–130, hier S. 104. Ebd., S. 105.

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Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgiebt, ab, und in dein Inneres; ist die erste Foderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling thut. Es ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst.50

Der erste Satz von Johann Gottlieb Fichtes Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre gab die Richtung vor. Fichtes Schriften waren mehr als eine bloße Eingemeindung des pietistischen Innerlichkeitsdiskurses in die Philosophie. Sie waren die Grundlage für eine neue Erkenntnistheorie. ›Blicke in dein Inneres‹: Dies ist die moderne Übersetzung des griechischen gnothi seautón, des ›Erkenne dich selbst‹. Im Zentrum der Fichteschen Philosophie steht der Begriff der ›intellektuellen Anschauung‹, in der das Ich ohne Reflexion weiß, was es ist. In ihr konstituiert es sich und schaut sich zugleich an. Hatte Kant eine solch schöpferisch wirkende Anschauung noch abgelehnt, avanciert sie bei Fichte zur Bedingung aller Erkenntnis. Hölderlin geht einen Schritt weiter und weist in »Urteil und Sein« die »intellektuale Anschauung«51 dem »Sein« zu, das als Urgrund vor allem Bewusstsein liege: »Wo Subjekt und Objekt schlechthin, nicht nur zum Teil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Teilung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verletzen, da und sonst nirgends kann von einem Sein schlechthin die Rede sein, wie es bei der intellektualen Anschauung der Fall ist«.52 In diesem Auszug wird philosophisch formuliert, was zu einem Zentralmotiv der Romantik avancieren sollte: Die Schau des Unbewussten, in der Subjekt und Objekt noch nicht getrennt sind. Schelling beschreibt dieses höhere Sehen im achten seiner Philosophischen Briefe wie folgt: Uns allen nämlich wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser Innerstes, von allem, was von außenher hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen, und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben. (S I/1, 318)

Von hier aus war der Weg zu Religion und Mythologie nicht mehr weit. In seiner Schrift Über die Religion (1799) hält Friedrich Schleiermacher apodiktisch fest, das Wesen der Religion sei »weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.«53 Ohne das Anschauen sei alles Denken »ein leeres Spiel mit Formeln«, so Schleiermacher, »wem die Begierde fehlt das Unendliche anzuschauen, der hat

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Fichte, Gesamtausgabe, Bd. I/4, S. 186. Schelling, Hölderlin und Novalis sprechen anders als Fichte von ›intellektualer Anschauung‹. Vgl. zum Begriff der intellektualen Anschauung bei Kant, Fichte und in der Frühromantik ausführlich: Manfred Frank, »Intellektuale Anschauung«. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewußtsein: Kant, Fichte, Hölderlin, Novalis. In: Die Aktualität der Frühromantik, hg. von Ernst Behler / Jochen Hörisch, Paderborn, München, Wien u.a. 1987, S. 96–126. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 502. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hans-Joachim Birkner et al, Berlin, New York 1980ff., Bd. I/2, S. 211.

keinen Prüfstein und braucht freilich auch keinen, um zu wißen, ob er etwas ordentliches darüber gedacht hat.«54 Gleiches gilt laut Friedrich Schlegel für die Mythologie: »Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen«.55 Deshalb gehe die Entdeckung des Mythos mit der Wiedergewinnung der »divinatorischen Kraft« einher. »Der Nebel wird von Euren Augen sinken; es wird helle vor Euch werden.«56 Im Rückgriff auf ein traditionelles Inspirations-Modell beschreiben die Romantiker den Dichter als Seher. »Der ächte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft«, heißt es bei Novalis.57 Dabei dürfte vor allem die auf Vergil und Horaz zurückgehende Tradition des ›Poeta vates‹ auf die Romantik Einfluss gehabt haben – sie war bereits von Friedrich Gottlieb Klopstock aufgegriffen worden. Der Blick ins Innerste der Welt, der eigentlich Gott vorbehalten ist, wird auch dem Dichter oder Künstler zugestanden. In der Kunst, so steht es in Wackenroder und Tiecks Herzensergießungen, scheinen alle Teile des Menschen »zu einem einzigen, neuen Organ zusammenzuschmelzen«. Sie schließe uns »die Schätze der menschlichen Brust auf, richtet unsern Blick in unser Inneres und zeigt uns das Unsichtbare […] So möchte man vielleicht sagen, daß Gott wohl die ganze Natur oder die ganze Welt auf ähnliche Art, wie wir ein Kunstwerk, ansehen möge.«58 Und in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen heißt es: Dagegen ist von der Dichtkunst sonst nirgends äußerlich etwas anzutreffen. Auch schafft sie nichts mit Werkzeugen und Händen; das Auge und das Ohr vernehmen nichts davon: denn das bloße Hören der Worte ist nicht die eigentliche Wirkung dieser geheimen Kunst. Es ist alles innerlich […].59

An einer anderen Stelle des Romans wird deutlich, dass sich mit dieser Innerlichkeit ein neues, gleichsam höheres Sehen verbindet, das seine Anregungen aus den Zuständen gewinnt, in denen die herkömmlichen Sinne an ihre Grenzen stoßen: Wenn es wahr ist, daß erst eine geschickte Vertheilung von Licht, Farbe und Schatten die verborgene Herrlichkeit der sichtbaren Welt offenbart, und sich hier ein neues höheres Auge aufzuthun scheint […].60

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Ebd., S. 213. F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 318. Ebd., S. 322. Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 281. Gotthilf Heinrich von Schubert schreibt in den Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft: »Wir wissen daß bey den Persern dem lebendigen Wort eine schaffende Kraft, und die höchste Gewalt über den Geist und das Wesen der Dinge zugeschrieben worden. Das Sprechen geschah durch höhere Begeisterung, wie die des Dichters oder Sehers; dem Sprecher des lebendigen Worts waren die Zukunft und Vergangenheit offenbart, weil der ewige Geist, in welchem das Künftige ist, wie das Vergangene, durch ihn sprach.« Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 60. Wackenroder, Werke und Briefe, S. 193f. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 210. Ebd., S. 204. Dieser potenzierte Blick wird an mehreren Stellen des Romans zitiert.

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Auch für E.T.A. Hoffmann bildet die Imagination die Grundlage des künstlerischen Schaffensprozesses, wie Peter von Matt dargelegt hat.61 Dies wird nicht zuletzt in den Serapionsbrüdern deutlich. Dort rügt Lothar die Werke eines Dichters, der kein »wahrhafter Seher« sei. Sie seien nichts anderes als »trügerische Puppen, mühsam zusammengeleimt aus fremdartigen Stoffen!« Der Einsiedler Serapion jedoch, der »wirklich geschaut was er verkündete«, sei deshalb auch ein »wahrhafter Dichter« (SäW 4, 68).62 In scharfem Gegensatz zu dieser kunstreligiösen Verklärung der Hellsichtigkeit stehen zahlreiche Texte der Romantik, in denen die gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit als bedrohlich erscheint. So etwa in Heinrich von Kleists Penthesilea, in der die platonische Tradition der Schau der höchsten Idee in ihr Gegenteil verkehrt wird. PENTHESILEA die während dessen unverwandt in die Sonne gesehen: Daß ich mit Flügeln weit gespreizt und rauschend, / Die Luft zerteilte –! PROTHOE. Wie! MEROE. – Was sagte sie? / PROTHOE. Was siehst du, Fürstin –? MEROE. Worauf heftet sich –?63

Penthesileas höheres Sehen steht nicht für eine überlegene Erkenntnis, sondern für den Wahnsinn, dem sie mehr und mehr verfällt. Gegen Ende des Dramas schaut sie nur noch durch ihre Umgebung hindurch.64 Dass der Geisterseher aus der Perspektive der Gesellschaft als Wahnsinniger erscheint und damit eine prekäre Existenz führt, wusste auch E.T.A. Hoffmann.65 In seinen Prosatexten führt der potenzierte Blick nur selten zu jener kontemplativen Besonnenheit, die den Romantikern in ihrer Produktionsästhetik so wichtig war. Die Erzählung Der Sandmann, in der die Augen-Metapher eine zentrale Rolle spielt, entlarvt auch die Gefahren einer Überhöhung der optischen Wahrnehmung.

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So ist etwa zu Beginn des zweiten Teiles vom »höhern überirrdischen [sic] Sinn« des Dichters die Rede (ebd., S. 333). Zur Kontextualisierung des Begriffs des »neuen höheren Auges« innerhalb der Romantik vgl. Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 183f. Von Matt geht davon aus, dass bei Hoffmann »eine Zweiteilung des Entstehungsprozesses [...] eine Art von Doppelphasigkeit« sichtbar werde (von Matt, Die Augen der Automaten, S. 11). Die erste Phase bilde dabei das innere Sehen, das dann durch einen mechanisch-automatischen Prozess in das Kunstwerk übergehe. Kritisiert wurde diese These von Peter Utz, der einwendet, dass »die Radikalität der Trennung von Innen und Außen« bei Hoffmann zu stark sei, als dass sie durch ein Primat des »Inneren Schauens« gelöst werden könnte. Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 264. Vgl. hierzu Pikulik, Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 354–360. Pikulik verweist in diesem Zusammenhang auch auf eine Stelle aus Arnims Kronenwächtern, in der dieser »das Dichten ein Sehen höherer Art« nennt (ebd., S. 355). Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 191. »DIE ERSTE AMAZONE Sie blicket immer auf die Priestrin ein. / DIE ZWEITE Grad’ ihr ins Antlitz– / DIE DRITTE Fest und unverwandt, / Als ob sie durch und durch sie blicken wollte.« (ebd., S. 244). Dass E.T.A. Hoffmanns Beschäftigung mit den Phänomenen des Traumes, des Somnambulismus sowie des magnetischen Schlafes im Werk Wagners Spuren hinterlassen hat, erwähnt bereits Siegel, Wagner and the Romanticism of E.T.A. Hoffmann.

Diese wird durch den Einsatz »künstlicher Augengläser« in Gang gesetzt, die der Wetterglashändler Coppola dem Nathanael verkauft. Mit diesen betrachtet Nathanael die leblose Puppe Olimpia: Wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpia’s Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathanael lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und fort die himmlisch-schöne Olimpia betrachtend. (SäW 3, 36)

Die Phantasien Nathanaels formen die Außenwelt. Die himmlische Schönheit, die er in Olimpia zu erkennen vermeint – »Du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – Du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt« (40) –, ist in Wahrheit nichts als eine gefährliche Projektion, die Nathanael unweigerlich in den Abgrund treibt. Auch in den Wahnsinns-Phantasien des Textes stehen die Augen im Zentrum: »Endlich, als sie schon am Traualtar stehen, erscheint der entsetzliche Coppelius und berührt Claras holde Augen; die springen in Nathanaels Brust wie blutige Funken sengend und brennend« (31). Dieser Angsttraum wird später wahr, als Spalanzani die blutigen Augen Olimpias an Nathanaels Brust wirft, woraufhin dieser ruft: »Hui – hui – hui! – Feuerkreis – Feuerkreis! dreh dich Feuerkreis – lustig – lustig!« (45) Durch das Hervortreten der inneren Bilder wird der Irrsinn endgültig besiegelt.66 Ähnlich wie Nathanael geht es dem Erzähler Theodor in Das öde Haus. Er verfügt über eine »Sehergabe« (165), eine Art sechsten Sinn für das Wunderbare, weshalb er sich als »Geisterseher« (176) bezeichnet. Wie im Sandmann wird Theodors Blick durch eine technische Gerätschaft, einen kleinen runden Taschenspiegel, auf seine inneren Phantasien gelenkt und das todstarre Bild eines Mädchens mit Leben gefüllt (176f.). Doch durch den Blick gelangen auch die dunklen Seiten des Unbewussten an die Oberfläche: in Gestalt des familiären Traumas, das das leerstehende Haus in sich birgt. Dass E.T.A. Hoffmann seine Kritik der Imaginationskraft aus den Diskursen der zeitgenössischen Psychiatrie entwickelte, zeigt seine Auseinandersetzung mit dem Magnetismus. Die Figur des Majors, die in der Erzählung Der Magnetiseur auftaucht, verfügt über einen höheren Blick ins Innere der Welt, der sich als gefährlich erweist. Dies wird im Bericht des Barons deutlich: Es war, wie ich mich genau erinnere, in der Nacht vom achten auf den neunten September im Jahr 17 – als ich lebhaft, als geschähe es wirklich, träumte, der Major öffnete leise meine Türe, käme langsam an mein Bette geschritten und legte, mich mit seinen hohlen schwarzen Augen auf eine furchtbare Weise anstarrend, die rechte Hand auf meine Stirn über die Augen, und doch konnte ich ihn vor mir stehen sehn. […] Ich bin

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Auf diesen Zusammenhang von gesteigertem Sehvermögen und Irrsinn hat auch die Hoffmann-Forschung hingewiesen. So betont Peter Utz, im Sandmann werde das Motiv des Auges »zum Brennpunkt, in dem aus den konzentrierten Strahlen des Sinnesdiskurses Nathanaels Wahnsinn auflodert.« Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 272.

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dein Gott, der dein Innerstes durchschaut, und alles was du darin jemals verborgen hast oder verbergen willst, liegt klar vor mir in besonderem Glanze erleuchtet. (SäW 2/1, 184)

Die Pointe dieser Szene ist eine doppelte: Erstens wird der Figur des Magnetiseurs die Sehkraft eines Somnambulen zugesprochen. Der Hypnotisierende ist zugleich der Hypnotisierte. Zweitens erscheint der Major nicht als ein Arzt, sondern als bedrohlich-diabolische Gestalt, die den göttlichen Blick ins Unbewusste in sein perverses Gegenteil verkehrt. Tatsächlich lässt sich Hoffmanns Rezeption des Mesmerismus nur verstehen, wenn man die enorme Bedeutung bedenkt, die der optischen Wahrnehmung in dieser Heilmethode zugesprochen wurde. Für die Ärzte, die den Magnetismus praktizierten, war der Blick das bevorzugte Zugangsmedium zum Unbewussten. Das händisch ausgeführte »Streichen« Mesmers wurde schon früh durch die so genannte ›Faszination‹ abgelöst, bei der die Patienten aufgefordert wurden, einen bewegten Punkt zu betrachten oder dem Hypnotiseur fest in die Augen zu schauen. Kombiniert wurde dies mit einer verbalen Methode, bei der der Hypnotiseur dem Patienten den Befehl gab, einzuschlafen. Die Suggestion durch das Wort, auf die der Major in obigem Auszug zurückgreift, war auch den Magnetiseuren nicht fremd.67 Der somnambule Zustand, in den einige der so hypnotisierten Patienten gerieten, zeichnet sich in den Beschreibungen der Magnetiseure vor allem durch seine gesteigerte Sehfähigkeit aus. In seinem Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel beschreibt Carl Alexander Ferdinand Kluge die Entstehung eines ›allgemeinen Sensoriums‹ im Sinne Jean Pauls. Den Somnambulen entstehe eine Art höheres Auge, das die herkömmlichen Organe ersetze. Diese schlössen sich zu Beginn des magnetischen Schlafes, das normale Auge sei entweder krampfhaft in die Höhe gezogen, oder starr […]. Durch das Verschlossenseyn dieser Organe wird der Sinn des Gesichtes aber nicht aufgehoben, sondern tritt mit einer oftmals noch vermehrten Stärke in den sämmtlichen Organen des Gefühls wieder hervor. Zunächst metamorphosirt sich das Getaste zum vollkommenen Gesichtssinne, so, daß der Somnambul durch dasselbe die feinsten Gesichtsgegenstände, sowohl ihren Umrissen, als Farben nach, auf das deutlichste unterscheiden kann.68

Kluge betont ausdrücklich, dass bei dieser Potenzierung des Blicks (die übrigens auch das Gehör betrifft69) die »Herzgrube« respektive die »Magengegend« als Stellvertreter-Organ des Auges fungiere.70 67 68 69

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Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 167f. Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, S. 129f. »Nächst dem Gesichte erleidet auch das Gehör des Somnambul eine ganz auffallende Veränderung; doch geschieht diese Metamorphose nicht immer gleich anfänglich, sondern gewöhnlich erst späterhin. […] Bisweilen tritt dieser Sinn sogar in einer solchen Vollkommenheit hervor, daß die entferntesten, leisesten und von keinem Andern wahrzunehmenden Töne, selbst durch Wände und Thüren, auf das deutlichste vernommen werden.« (ebd., S. 146f.). Ebd., S. 150.

In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Gotthilf Heinrich von Schubert im Anschluss an Kluge vom »Seherblick des Gangliensystemes«71 spricht, und den »Zustande des magnetischen Hellsehens« auf einen Sinn zurückführt, »welcher uns, über alle Beschränkung des Raumes hinüber, ungehindert von den Banden der Schwere und der Körperlichkeit, die lebendigen Einflüsse einer fernen und nahen, geistigen und körperlichen Welt zuführt.«72 Für Schubert war die im magnetischen Schlaf zu beobachtende potenzierte Wahrnehmung deshalb ein erstes Anzeichen für die Heraufkunft eines neuen Goldenen Zeitalters. Der Blick der Somnambulen zeige, dass die Sinne des Menschen den Kontakt zum Göttlichen herstellen könnten. Kluge zeigte sich in diesem Punkt viel skeptischer. Ohne die außergewöhnliche Wahrnehmungsleistung der Somnambulen zu leugnen, versuchte er ihr dennoch eine klare Grenze zu setzen. Das »Hervortreten des Göttlichen im Menschen«, auf das die Potenzierung der Sinne im magnetischen Schlaf deute, sei »alleiniges Eigenthum des Geistes, woran der Körper keinen Anteil hat«.73 Wenn behauptet werde, dass der Mensch fähig sei, »mit dem Geisterreiche in Verbindung zu treten und von Dingen Kunde zu erhalten, die […] über die Verhältniße des Raumes und der Zeit hinausreichen«, so sei dies, »wenn auch nicht fest zu behaupten, doch auch nicht geradezu zu leugnen, da es sich blos auf eine innere Wahrnehmung beschränkt und demnach nichts Widersprechendes enthält«. Geisterseherei ist für Kluge eben nur Geisterseherei und kein Beweis einer universellen Wahrheit. Es ist aufschlussreich, dass er den Transfer der im Inneren geschauten Bilder nach Außen, den Hoffmanns Erzählungen durchspielen, für gefährlich hält. »Geistersehereien, sie mögen nun gesucht seyn, oder unwillkürlich sich uns aufdringen, beruhen immer nur auf Illusion«.74 Von der geschichtstheologischen Überhöhung der somnambulen Anschauung, die Schubert postulierte, hätte der aufklärerische Arzt Kluge nicht viel gehalten. Dies hat E.T.A. Hoffmann, der sowohl mit Schuberts als auch mit Kluges Schriften vertraut war, sehr genau gesehen. Der höhere Blick erscheint bei ihm deshalb als zutiefst ambivalent: Die Fähigkeiten, die er dem Menschen verleiht, bergen immer schon die Gefahr des Missbrauchs und der Destabilisierung des Subjekts. 4.1.3.

Das höhere Sehen in Wagners Musikdramen

Gleiches gilt für das Werk Richard Wagners, in dem die Hellsichtigkeit eine große Rolle spielt. Anders als in den ästhetischen Schriften, in denen dieses Phänomen erst zu Beginn der sechziger Jahre auftaucht, lässt sich in Wagners Musikdramen seit dem Fliegenden Holländer eine ununterbrochene Beschäftigung mit dem höheren Sehen feststellen – auch dies ein Beleg für die These, dass es Wagner bereits vor

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Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 135. Ebd., S. 132f. Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, S. 363. Ebd., S. 365.

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seiner Entdeckung der Schopenhauerschen Philosophie aus der Romantik bekannt war. »Die Heldinnen Wagners kennzeichnet überhaupt ein Zug von Edelhysterie, etwas Somnambules, Verzücktes und Seherisches, das ihre romantische Heroik mit eigentümlicher Modernität durchsetzt.«75 Die Figuren der Senta und Elsa bestätigen diese Beobachtung Thomas Manns: Beide sind traumselige junge Mädchen, die durch ihren Hang zur gesteigerten Wahrnehmung ihrer Innenwelt als somnambule Patientinnen par excellence erscheinen. So ist Senta zu Beginn ihres Auftrittes »im träumerischen Anschauen des Bildes im Hintergrunde versunken« (H, 20). Später, bei Eriks Traumerzählung, erwähnt Wagner dann im Textbuch explizit den medizinhistorischen Kontext des Magnetismus: Senta versinkt »wie in magnetischen Schlaf, so daß es scheint, als träume sie den von ihm erzählten Traum ebenfalls« (H, 32). Deutlich wird der Einfluss des Magnetismus auch im Lohengrin, wo Elsa die Bühne in Gestalt einer Somnambulen betritt. Sie ist so auf ihr Inneres konzentriert, dass sie ihre Umgebung nicht wahrzunehmen scheint. Der Chor der Männer zeigt sich davon beeindruckt: »Ha, wie erscheint sie licht und rein!« (L, 11) Diese zwei Attribute wurden den Somnambulen in den Fallgeschichten des Magnetismus wiederholt zugesprochen – man denke nur an Justinus Kerners Darstellung Friederike Hauffes, der Seherin von Prevorst.76 Zieht man den Nebentext hinzu, tritt das Bild Elsas als Somnambule noch deutlicher hervor. Sie blickt, bevor sie dem König antwortet, »eine Zeit lang schweigend« vor sich hin und befindet sich in einem Zustand »ruhiger Verklärung« (12). Dann schildert sie in den folgenden Versen ihre Traumvision. Selbst nach der Aufforderung des Königs, sich jetzt endlich »vor Gericht« zu verteidigen, verharrt sie »ununterbrochen in der vorigen Stellung« (13). In der Partitur notiert Wagner, dass Elsas Mienen dabei »von dem Ausdruck träumerischen Entrücktseins zu dem schwärmerischer Verklärung« übergehen (SW 7/I, T. 350). An dieser Stelle wird abermals deutlich, dass Elsa dem Käthchen von Heilbronn gleicht.77 Gleich zu Beginn von Kleists gleichnamigem Drama, in dem sich

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Vaget, Im Schatten Wagners, S. 94. Vgl. Justinus Kerner, Die Seherin von Prevorst, 6. Aufl., Stuttgart 1892 [1829]. Der Einfluss des animalischen Magnetismus auf Kleist ist bekannt und gut erforscht. Vgl. hierzu die zitierte Monographie von Weder, Kleists magnetische Poesie sowie das entsprechende Kapitel bei Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 239–267. Als Beleg für Kleists lebhaftes Interesse am Magnetismus wird immer wieder eine Stelle aus G. H. v. Schuberts Selbstbiographie genannt, in der dieser schreibt: »Denn namentlich für Kleist hatten Mitteilungen dieser Art soviel Anziehendes, daß er gar nicht satt davon werden konnte und immer mehr und mehr derselben aus mir hervorlockte.« Helmut Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, München 1969, S. 139. Es ist bekannt, dass sich Schubert und Kleist in Dresden getroffen haben. Anzhelika Vaskinevitch, die die genauen Umstände dieses Treffens rekonstruiert hat, setzt hierfür den September 1807 an. Vgl. Anzhelika Vaskinevitch, »Bekanntschaften, daheim und auf Reisen«. G.H. Schuberts Beziehungen zu Kleist und

das Käthchen wie Elsa vor Gericht verteidigen muss, erscheint es als entrückte Somnambule. Sie hört nur auf die Worte des Grafen und reagiert nicht auf die Fragen der Richter.78 An einer späteren Stelle des Dramas berichtet der Graf, dass das Käthchen ständig schläft, »immer träumt«, ja sogar »im Schlaf spricht«. Ihre bevorzugte Schlafstätte befindet sich unter einem »Holunderstrauch«,79 wo der Zuschauer sie in der berühmten Szene des vierten Aktes in einem typisch luziden Magnetschlaf erlebt und der Graf vom Strahl einen magnetischen Rapport mit ihr herstellt.80 Zwar führt dies auf den ersten Blick zu einer Festigung der Liebe zwischen Käthchen und dem Grafen: Denn erst die Informationen, die er ihr in ihrer somnambulen Traumrede entlockt, bestätigen ihn in seiner Gewissheit, dass sie die ihm bestimmte Frau ist. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Beziehung zwischen Käthchen und dem Grafen allerdings als eine, die auf Gewalt und Unterwerfung beruht81 – sehr genau hat Kleist die dunklen Seiten des magnetischen

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Goethe im Jahre 1807 und ihre spätere Auswirkung. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 21, 2007/2008, S. 123–142, hier S. 128. Einen anderen Weg wählt Alexander Košenina, der Kleists Interesse für das Unbewusste aus der Erkenntnislehre von Leibniz, Baumgartens Entdeckung des Seelengrundes und der anthropologischen »Rehabilitierung des Empfindens gegenüber dem Erkennen« bei Sulzer oder Herder herleitet. Alexander Košenina, Vorbewußtsein und Traum in Kleists Anthropologie. In: Traum-Diskurse der Romantik, hg. von Peter André Alt / Christiane Leiteritz, Berlin, New York 2005, S. 232–255, hier S. 235. Von Košenina stammt auch der Überblick zu Kleists Anthropologie in: Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Ingo Breuer, Stuttgart, Weimar 2009, S. 243–246. Vgl. hierzu Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 242. Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 404f. Vgl. Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 242. Zum Phänomen des Rapports vgl. die Ausführungen zu Alberich und Hagen in diesem Abschnitt. Katharine Weder interpretiert diese Szene als animalmagnetische Versuchsanordnung, die eine »Nähe zum Experimentalparadigma in den Naturwissenschaften um 1800« erkennen lasse. Der Graf sei der Forscher, das Käthchen die Probandin. Weder, Kleists magnetische Poesie, S. 159. Dies betont Jürgen Barkhoff in seiner Interpretation des Käthchen. »Kleist destruiert das harmonikale Ensemble seiner Bilder in dem Moment, in dem er es errichtet. Das heißt auch, daß seine Poetisierung des Somnambulismus dessen versöhnliche Horizonte zugleich subvertiert.« (Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 249) Dies geschehe vor allem dadurch, dass Kleist »den Mechanismen somnambuler Interaktion ein Element der Gewalttätigkeit« einschreibe (ebd., S. 251). Einen gemäßigteren Deutungsansatz vertritt Katharina Weder, wenn sie die völlige Ohnmacht Käthchens gegenüber dem Grafen in Frage stellt. Während des Magnetrapports sei nicht das Käthchen dem Graf, sondern er dem Käthchen unterworfen (Weder, Kleists magnetische Poesie, S. 199). Dazu im Kontrast stehe jedoch die Schlussszene des Dramas, in der Käthchen in Ohnmacht fällt. Hier trete der im Magnetismus angelegte Machtmissbrauch deutlich zu Tage (ebd., S. 200f.). Dass eben diese Schlussszene eine idealisierende Deutung des Stückes fragwürdig erscheinen lässt, wurde in der Kleist-Forschung auch unabhängig vom Themenfeld des Magnetismus betont. Vgl. hierzu Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003, S. 141f. sowie den Über-

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Rapports gesehen, in dem sich die weiblichen Somnambulen ihrem Magnetiseur willenlos unterwarfen. Ebensowenig wie Kleists Käthchen sollte Wagners Elsa als eine Lichtgestalt betrachtet werden, die durch ihren Somnambulismus Zugang zu göttlichen Wahrheiten hat.82 Denn Elsa wird ihr höheres Sehen zum Verhängnis. Als in der Brautgemach-Szene des dritten Aktes ihre Zweifel an Lohengrin immer stärker werden, hat sie plötzlich eine Vision, in der sich ein Schwan dem Ufer nähert. »Vor sich hinstarrend« ruft sie: »Dort kommt er auf der Wasserflut geschwommen… / Du rufest ihn, – er zieht herbei den Kahn!« (64) Entscheidend ist an dieser Szene nicht, dass sich Elsas Vision tatsächlich erfüllt, sondern dass ihre Wahrnehmung durch innere Bilder überlagert und verzerrt wird, was Elsas psychische Verfassung als labil erscheinen lässt. Deshalb mahnt Lohengrin sie zur Besonnenheit – »Elsa, halt ein! Beruh’ge Deinen Wahn!« (ebd.) Aber vergeblich: ihr Somnambulismus droht in Irrsinn umzuschlagen. Gleiches gilt, im Fliegenden Holländer, für Senta. Diese wird durch ihren permanenten Blick auf das Bild des Holländers förmlich in es hineingezogen und gerät so in eine wilde Ekstase, auf die ihre Umgebung mit Entsetzen reagiert. »Sie ist von Sinnen!« rufen die Mädchen (H, 27). Die Geisterseherinnen Elsa und Senta sind im buchstäblichen Sinn entrückt: Ihre Visionen destabilisieren ihr Bewusstsein und isolieren sie in der Gesellschaft. Dies ist auch das Schicksal Tannhäusers. Diese Figur ist auch deshalb so interessant, weil sie beweist, dass in den ›romantischen‹ Opern Wagners nicht nur Frauen als Somnambule charakterisiert werden – in diesem Punkt ist der Darstellung Thomas Manns zu widersprechen. Auch Tannhäuser besitzt die Fähigkeit zur Hellsichtigkeit und auch seine Existenz wird dadurch gefährdet. Als er während des Sängerkrieges des zweiten Aktes einen Moment der Inspiration erfährt, nimmt seine Miene »den Ausdruck der Entzückung an, mit welchem er in die Luft vor sich hinstarrt«,83 seine Hand sucht »bewußtlos nach den Saiten der Harfe« (T, 35). Das

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blick von Yixu Lü, Das Käthchen von Heilbronn. In: Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Ingo Breuer, Stuttgart, Weimar 2009, S. 67–76, hier S. 74f. So zeigt schon die Charakterisierung der bösen Zauberin Ortrud als »wilde Seherin« (L, 32) an, dass der Blick ins Unbewusste auch negativ konnotiert ist. Die beängstigende Starrheit des Blicks steht bei Wagner auch in Zusammenhang mit einem anderen Bedeutungsfeld optischer Wahrnehmung: dem ›bösen Blick‹. Dieser taucht bereits im Holländer auf, wo der Blick des Holländers von Senta als düster beschrieben wird (H, 33). Erik bekommt es deshalb am Schluss des Musikdramas mit der Angst zu tun: »Entsetzlich! Dieser Blick...!« (53) Im Parsifal ist es Kundry, deren Blick ihren unheimlichen Charakter wiedergibt: »stechende schwarze Augen, zuweilen wild aufblitzend« (P, 9). Häufiger noch findet sich aber die Beschreibung des göttlichen Blicks. So wird Kundry vom Blick des Heilands verflucht (61). Und als Ortrud Lohengrins Hochzeit mit Elsa stören will, heftet dieser seinen Blick »fest und bannend« auf sie (L, 49) und fügt hinzu: »Zurück von ihr, Verfluchte! / Daß nie mein Auge je / euch wieder bei ihr seh’!« (54) Im Ring des Nibelungen ist genau dieser mächtige Blick der Gottheit von Bedeutung. Heinz Becker verweist in diesem Zusammenhang auf die »Todesverkündigung« im zweiten Akt der Walküre und das damit verbundene Blick-

Lied von der Göttin Venus, das Tannhäuser daraufhin anstimmt, ist also Ergebnis einer somnambulen Introspektion. Wie in Lohengrin und Der fliegende Holländer führt auch in diesem Musikdrama die Eruption der inneren Bilder zum Zerwürfnis mit der Gesellschaft. Die aggressive Reaktion der anderen Sänger auf Tannhäusers entzückte Vision macht das deutlich. Interessant ist nun, dass im Tannhäuser die durch die erhöhte Wahrnehmung ausgelösten Konflikte durch diese selbst geheilt werden sollen. Exemplarisch hierfür steht das Lied Wolframs, das ein religiös erhöhtes Sehen postuliert: Es wird der Blick wohl trunken mir vom Schauen, / mein Lied verstummt vor solcher Anmut Glanz. – / Da blick’ ich auf zu einem nur der Sterne, / der an dem Himmel, der mich blendet, steht: / es sammelt sich mein Geist aus jeder Ferne, / andächtig sinkt die Seele in Gebet. Und sieh! Mir zeiget sich ein Wunderbronnen, / in den mein Geist voll hohen Staunens blickt: / aus ihm er schöpfet gnadenreiche Wonnen, / durch die mein Herz er namenlos erquickt. (33)

Tannhäusers Blick in das triebhaft-sinnliche Unbewusste soll also durch eine religiöse Kontemplation ersetzt werden. Doch diese ist, wie das Vokabular von Wolframs Lied verrät, von jener Sexualität durchdrungen, die sie eigentlich bannen will.84 Dass eine Vermittlung zwischen diesen beiden Konzeptionen des höheren Blicks nicht gelingt, zeigt sich im dritten Akt in der Rede der Elisabeth. Diese schwört der Jungfrau Maria, ihr »sündiges Verlangen«, wenn auch »unter tausend Schmerzen«, abgetötet zu haben. Sodann wendet sie sich »mit verklärtem Gesichte gen Himmel« (47). Nicht nur in den so genannten romantischen Opern, sondern auch im Ring des Nibelungen ist das Motiv des höheren Sehens virulent. Dies lässt sich anhand der Charakterisierung verschiedener Figuren zeigen. So trägt Erda nicht nur die

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tabu: Der Anblick der Gottheit sei hier, wie im Mythos von Zeus und Semele, mit dem Tod verbunden. Vgl. Becker, »…wonnig weidet mein Blick.«, S. 7f. sowie Borchmeyer, Richard Wagner, S. 198ff. Sieglinde erzählt im ersten Akt der Walküre eindrucksvoll vom Auftritt Wotans beim Gastmahl von Hundings Sippe: »tief hing ihm der Hut, / der deckt ihm der Augen eines; / doch des andren Strahl, / Angst schuf er allen, / traf die Männer / sein mächt’ges Dräu’n« (W, 23). Der kulturgeschichtliche Topos des bösen Blicks tritt bereits in ›primitiven‹ Kulturen, aber auch in der griechischen Mythologie und im Mittelalter als todbringender Blick auf – man denke an Gorgo Medusa oder den Basilisk. Vgl. Müller / Panagl, »Ein Blick sagt mehr als eine Rede«, S. 316–321. Der böse Blick lebt in der Literatur der Moderne fort, wie zahlreiche Novellen E.T.A. Hoffmanns beweisen. So werden im Sandmann Coppelius’ »grünliche Katzenaugen« beschrieben, die »stechend hervorfunkeln« (SäW 3, 15). Vgl. hierzu und zu weiteren Beispielen aus der Goethezeit Titzmann, Bemerkungen zu Wissen und Sprache, S. 118. Dies hat Sven Friedrich gezeigt, indem er auf die erotische Konnotation der Metapher des »Bronnens« hingewiesen hat. »Mithin können Wolframs Lieder vom ›Wunderbronnen‹ und vom ›Abendstern‹ als Simulation der dämonischen Sinnlichkeit interpretiert werden, die nicht nur ausgesprochen wird, sondern sozusagen im Gewande der ideellen, sehnsuchtsvoll-romantisch verbrämten Geistigkeit verkleidet und ästhetisiert erscheint.« Sven Friedrich, Richard Wagner. Deutung und Wirkung, Würzburg 2004, S. 86.

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Züge einer mythologischen Ur-Mutter, sondern auch die einer Somnambulen. Ihr Schlafen, heißt es in Siegfried, sei »Träumen« (Sf, 95). Auch ist der Blick Erdas von der herkömmlichen Wahrnehmung der Zeit unabhängig: »Wie alles war, weiß ich; / wie alles wird, / wie alles sein wird, / seh’ ich auch« (R, 87), singt sie in der vierten Szene des Rheingolds. Ebenso deutlich zeigt sich der Einfluss des Magnetismus in der Figur des Hagen. Dieser befindet sich zu Beginn des zweiten Aufzuges der Götterdämmerung, obwohl sein Vater Alberich zu ihm spricht, in einem somnambulen Zustand. Der entsprechende Nebentext wirkt, als wäre er dem Wortlaut nach einer magnetischen Fallgeschichte entnommen: Hagen sitzt »leise, ohne sich zu rühren, so daß er immer fort zu schlafen scheint, obwohl er die Augen starr offen hält.« (G, 49) In dem Dialog, der sich im Folgenden zwischen Alberich und Hagen entspinnt, gibt der Vater seinem schlafenden Sohn Hagen Anweisungen, wie die Rache an Wotan auszuführen sei. Eindringlich mahnt er ihn, seine Bestimmung zu erfüllen und den Ring zurückzugewinnen. Dabei wiederholt er seine Worte, ganz so, als wolle er sie für immer in Hagens Unbewusstes einschreiben. »Schwörst Du mir’s Hagen?«, fragt er ihn zweimal und ruft ihm am Schluss zu: »Sei treu, Hagen, mein Sohn! / Trauter Helde, sei treu! / Sei treu! – treu!« (52f.) Die Unheimlichkeit dieser Szene lässt sich entschlüsseln, wenn man den kulturgeschichtlichen Hintergrund offenlegt, auf den sie sich bezieht. Wagner setzt hier ein therapeutisches Setting des Magnetismus in Szene, den so genannten Rapport zwischen dem Arzt und seinen somnambulen Patienten. Diese schienen zwar in ihrem Tiefschlaf völlig entrückt, waren aber fähig, mit dem Magnetiseur zu kommunizieren und auf dessen Fragen zu antworten. Dies gab den Ärzten nicht nur die Möglichkeit, mehr über die Krankheit ihrer Patienten zu erfahren, es erwuchs ihnen auch die Macht, deren Unbewusstes zu manipulieren. Eben dieser Rapport bot in der medizinischen Diskussion des Magnetismus immer wieder Anlass zu Skepsis und Kritik. Und auch in der Literatur: Bereits in Hoffmanns Der Magnetiseur erscheint der Arzt Alban als gefährlicher Verbrecher, der durch seine Therapie eine ganze Familie in den Ruin treibt. Aber auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts ist diese Bedrohlichkeit des hypnotisierenden Arztes zu spüren, etwa in der Bezeichnung des berühmten Psychiaters Charcot als »Napoleon der Neurosen«. Sie reicht bis hinein ins 20. Jahrhundert, wie die expressionistischen Stummfi lme Das Cabinet des Dr. Caligari und Dr. Mabuse der Spieler, aber auch Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer belegen. Wenn Alberich mit seinen Worten das Unbewusste seines Sohnes Hagen für seine Zwecke missbraucht, wird ein in der Kulturgeschichte gespeichertes Bild wachgerufen, das auch dem zeitgenössischen Zuschauer noch vertraut sein dürfte. Seine detaillierteste Ausführung erfährt das Motiv des höheren Sehens jedoch in der Figur des Wotan. Die Entwicklung, die Wotan im Laufe der Tetralogie durchlebt, steht in engem Zusammenhang mit seiner zunehmenden Fähigkeit zur Hellsichtigkeit. Ein erstes Indiz dafür, dass sich sein Blick nicht nur auf herkömmliche Art nach außen, sondern auch nach innen wendet, ist Wotans Einäugigkeit. Die Nornen berichten, dass der Göttervater zum Gewinn seiner Weisheit ein Auge 184

als »ewigen Zoll« (G, 8) zahlen musste.85 Doch die Weisheit, die sich Wotan durch sein höheres Sehen gewinnt, ist mit dem Rückzug aus der Realität erkauft. Genau dies versucht Wagner in der Entwicklung dieser Figur deutlich zu machen. Zu Beginn des zweiten Aufzugs von Siegfried tritt Wotan mitten in der Nacht als Wanderer auf. »Wie aus einem plötzlich zerreißenden Gewölk bricht Mondschein herein, und beleuchtet des Wanderers Gestalt«, heißt es hierzu im Nebentext (Sf, 56).86 Alberichs Argwöhnen, Wotan wolle ihm den Ring abermals stehlen, beantwortet dieser mit den Worten: »Zu schauen kam ich, / nicht zu schaffen« (57). Der Gegensatz von Schauen und Schaffen, den der Wanderer hier benennt, erinnert an eine Stelle in Oper und Drama, in der Wagner das Verhältnis von Alter und Jugend reflektiert. Nur »in der Ruhe des Alters« könne man »das Moment höchster dichterischer Fähigkeit« gewinnen. Diese Ruhe sei die des »Beschauenden«, so Wagner, »Liebesermahnung des Erfahrenen an den Unerfahrenen, des Ruhigen an den Leidenschaftlichen, des Beschauenden an den Handelnden« (OuD, 213). Diese Vorstellung scheint unmittelbar Eingang in den Ring gefunden zu haben, wo Wotan immer mehr zum »Beschauenden« wird und das Handeln Siegfried überlässt. Dieser Prozess vollendet sich in der Götterdämmerung. Waltraute, die Brünnhilde von Wotans Rückzug aus der Welt erzählt, beschreibt dessen Zustand wie folgt: Tief seufzte er auf, / schloß das Auge, / und wie im Traume / raunt’ er das Wort: – / ›des tiefen Rheines Töchtern / gäbe den Ring sie zurück, / von des Fluches Last / erlöst wär’ Gott und Welt!‹ (G, 40f.)

Die somnambul-visionäre Hellsichtigkeit, zu der Wotan hier am Schluss seiner Entwicklung gelangt, erstaunt umso mehr, wenn man die Realitätsferne und Instabilität bedenkt, durch die dieser Zustand noch bei seinem ersten Auftritt im Rheingold beschrieben wurde – dort drohte Wotan sich, wie das zweite Kapitel gezeigt hat, in das Traumbild Walhalls zu verlieren. Die Fähigkeit zur Introspektion erscheint auch im Ring des Nibelungen als ambivalent. Wird Wotans entrücktes Sehen zu Beginn als gefährliche, realitätsferne Weltenthobenheit charakterisiert, so ist es andererseits genau diese Seite seiner Persönlichkeit, die ihn zur Weisheit befähigt. Die Frage bleibt jedoch, ob sein traumverlorener Zustand in der Götterdämmerung qualitativ von dem im Rheingold verschieden ist und tatsächlich für jene Form der

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Dieses Motiv hat Wagner der Edda des Snorri Sturluson entnommen, in der Odin aus dem Mimirsbrunnen trinkt und ein Auge als Pfand zahlt. Vgl. Die Edda des Snorri Sturluson, hg. von Arnulf Krause, Stuttgart 1997, S. 28f. Dieter Borchmeyer hat anhand einer Stelle aus Cosimas Tagebüchern gezeigt, dass Wagner den Verlust von Wotans Auge durch die Unvereinbarkeit von geistiger und physischer Kraft erklärt hat (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 296). In der von Borchmeyer erwähnten Tagebuchstelle vom 23. Juni 1872 heißt es: »Wo diese racenhafte regelmäßige Schönheit eintritt, da ist das Gehirn depotensiert, da hat die Natur etwas anderes gewollt.« (CT I, 538). Hagens Hellsichtigkeit wird durch das die Nacht erhellende Licht des Mondes versinnbildlicht, das »auf ihn und seine nächste Umgebung« scheint (G, 49).

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ruhigen Kontemplation und besonnenen Weltschau steht, die Schopenhauer als die höchste Form der Erkenntnis galt. Die Bedeutung, die Wagner der Hellsichtigkeit im Ring des Nibelungen beimisst, wird auch anhand der Tonart Des-Dur deutlich. Dass diese innerhalb des Tonartengefüges des Ring des Nibelungen eine zentrale Position einnimmt, wurde in der Forschung immer wieder herausgestellt. Sie wird dabei meist als Tonart Walhalls und der durch Wotan repräsentierten Götterwelt gedeutet, zumal ihre Paralleltonart b-Moll Alberichs Nibelheim zugeordnet ist.87 Neben dieser unbestreitbaren Konnotation sprechen aber auch einige Anzeichen dafür, dass Des-Dur mit dem Motiv des »inneren Sehens« in Verbindung steht. So ließe sich das cisMoll der »Seherin« Erda als enharmonisch verwechselte Mollvariante zu Des-Dur lesen. Dafür spricht nicht zuletzt, dass Des-Dur Wotans traumseligen Auftritt zu Beginn des Rheingolds charakterisiert. Auch dass die Szene, die Hagens Somnambulismus schildert, in b-Moll beginnt, könnte nicht nur auf seine Abstammung vom Schwarzalben Alberich zurückzuführen sein. Besonders deutlich wird die Verknüpfung von Des-Dur und »innerem Sehen« im Ring aber an zwei anderen Stellen. So erklingt in der Waltrauten-Erzählung bei »Gott« Des-Dur (SW 13/I, T. 1341). Die innere Schau, in der sich Wotan hier befindet, wird mit der gleichen Tonart wie im Rheingold gekennzeichnet, diesmal erklingt Des-Dur jedoch auf der schweren Zeit der changierenden Viertel und scheint somit stabilisiert. Die Verwendung von Des-Dur an dieser Stelle auf das Walhall-Motiv zurückzuführen, reicht nicht aus, da dieses Motiv an vielen anderen Stellen im Ring in anderen Tonarten erklingt. Die zweite Szene findet sich in der Walküre, wo eine kurze aber eindrucksvolle Passage Des-Dur als Tonart des höheren Sehens charakterisiert. Doch dich kannt’ ich / deutlich und klar: / als mein Auge dich sah, / warst du mein Eigen: / was im Busen ich barg, / was ich bin, / hell wie der Tag / taucht’ es mir auf, / wie tönender Schall / schlug’s an mein Ohr, / als in frostig öder Fremde / zuerst den Freund ich ersah […] (W, 28).

So Sieglinde gegen Ende des ersten Aufzuges. Die Musik (SW 11/I, T. 1194ff.) spiegelt dabei das Aufsteigen des Wissens, den Prozess der Bewusstwerdung wider. Ab »Was im Busen ich barg« (T. 1203) erklingt in den ersten Violinen eine aufsteigende chromatische Figur. Sie symbolisiert das »Auftauchen« der Erinnerung, die Sieglinde nun »hell wie der Tag« erscheint. Ab »hell« notiert Wagner dann Des-Dur, das zwar in Takt 1209 ein erstes Mal angedeutet wird, aber erst auf »-sah« als Zieltonart des gesamten Abschnittes erreicht wird (T. 1219).

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Vgl. hierzu vor allem Robert Bailey, The structure of the »Ring« and its Evolution. In: 19th century music 1, H. 1, 1977, S. 48–61, hier S. 54. Auch Hans Blümer hat in seiner Auflistung der verschiedenen Bedeutungen der Tonarten im Werk Richard Wagners Des-Dur als Tonart des Göttlichen und Erhabenen charakterisiert. Vgl. Hans Blümer, Über den Tonartencharakter bei Richard Wagner, München 1958, S. 76ff.

Abb. 6: Sieglindes potenziertes Sehen in Des-Dur (SW 11/I, T. 1217-1219, Ausschnitt)

Als Zielpunkt sowohl in textlicher als auch musikalischer Hinsicht betont Wagner es stärker als den vorher genannten »Schall« und das »Ohr«. Es geht ihm in erster Linie um das »helle« Sehen, dem im Ring eindeutig die Tonart Des-Dur zugeordnet ist. Auch in den anderen Musikdramen Wagners spielt der potenzierte Blick eine wichtige Rolle. Tristan und Isolde ist das erste Libretto, das Wagner nach seiner Begegnung mit der Philosophie Schopenhauers ausführt. Dies könnte ein Grund für die Radikalität sein, mit der er das Motiv des höheren Sehens in diesem Musikdrama behandelt. Auch hier impliziert der nach innen gewendete Blick die Depotenzierung der nach außen gerichteten Sinne und die Destabilisierung des Subjekts. Bezeichnend für die Gesamtkonzeption des Werkes ist, dass es in einem abgeschlossenen Innenraum beginnt. Der Zuschauer sieht ein »zeltartiges Gemach [...] das nach dem Hintergrunde zu gänzlich geschlossen« ist (TuI, 7). Als die Vorhänge dann von Brangäne auseinandergezogen werden, fällt Isoldes Blick auf Tristan, der »sinnend in das Meer« schaut (10f.). Die permanente Introspektion Tristans und Isoldes wird so gleich am Anfang des Dramas szenisch sinnfällig. Sie wird durch den vermeintlichen Todestrank zur Hellsichtigkeit gesteigert. Beide werden nun fähig, das den herkömmlichen Sinnen verschlossene Reich des Unbewussten zu 187

schauen, welches mit der Nacht gleichgesetzt wird. Sie verschmähen das Tageslicht, werden »nacht-sichtig« (58). Die Wahrnehmung der Nebenfiguren wird mit den Worten »blinde Augen, blöde Herzen« (20) gekennzeichnet. Innen- und Außenraum sind, auch in der Musik,88 klar voneinander getrennt. Aus dieser ausschließlichen Konzentration des Sehsinns nach Innen resultiert, wie schon bei Elsas Wahnsinnsausbruch im Lohengrin, eine verzerrte Wahrnehmung der Außenwelt. »Ich weiss Alles! Ich verstehe Alles: – ich sehe klar, sonnenklar – – –! Ich werde wahnsinnig!« schreibt Wagner an Mathilde Wesendonck im Oktober 1858, mitten in der Arbeit am zweiten Akt des Tristan.89 Auch Tristan und Isolde nähern sich dem Wahnsinn, da sie die von der Außenwelt auf sie eindringenden Zeichen nicht mehr richtig deuten können. Isolde vermeint zu Beginn des zweiten Aufzugs statt des Hörnerschalls »des Quelles sanft / rieselnde Welle« (45) zu vernehmen.90 Und Tristan glaubt in seinem Fiebermonolog kurz vor seinem Tod das Schiff Isoldes bereits zu sehen, obwohl es noch nicht das Ufer erreicht hat: »Das Schiff, das Schiff! / Dort streicht es am Riff! / Sieh’st du es nicht?« fragt er Kurwenal (88). Mit dieser konsequenten Rückbesinnung auf die Romantik nimmt Wagner in seiner Zeit eine Sonderstellung ein.91 Trotzig halten seine Musikdramen mitten in der positivistischen und fortschrittsfreudigen Jahrhundertmitte an jenen Ideen fest, die in der Literatur des Realismus kaum eine Rolle mehr spielen. Wie stark sich die Werke Wagners von dieser unterscheiden, wird besonders anhand der differierenden Konzepte optischer Wahrnehmung deutlich. 1853, als Wagner das Libretto des Rings gerade abgeschlossen hatte, veröffentlichte Adalbert Stifter die Erzählung

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Jörg Krämer bemerkt hierzu: »Dem Außenraum ist überwiegend eine eher einfach scheinende, diatonisch geprägte Musik zugeordnet (das Lied des jungen Seemanns, die Chöre der Matrosen, Kurwenals Spottlied), während im Innenraum von Isoldes erstem Einsatz an jähe Chromatik und komplexe harmonische Strukturen vorherrschen.« Jörg Krämer, Wagners Rhetorik. Zur Gestaltung von Erinnern und Erkennen in »Tristan und Isolde«. In: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, hg. von Wolfgang Frühwald / Dietmar Peil / Michael Schilling / Peter Strohschneider, Tübingen 1998, S. 621–652, hier S. 624. Richard Wagner an Mathilde Wesendonck. Tagebuchblätter und Briefe 1853–1871, Leipzig 1913, S. 73. Vgl. zu dieser »Dialektik von Erkenntnis und Täuschung« im Tristan: Krämer, Wagners Rhetorik, S. 626. Das Motiv des Hörnerklangs taucht im Ring des Nibelungen gleich zweimal auf. In der Walküre ist es Sieglinde, die, nachdem sie aus ihrem Alptraum erwacht, Siegmunds Tod nur akustisch vernimmt: Der Kampf dringt zunächst nur über »Hornrufe« (W, 70) zu ihr her. Auch Gutrune, der »schlimme Träume« den Schlaf gestört haben, vermeint am Schluss der Götterdämmerung Siegfrieds Horn zu vernehmen (G, 100). Musikalisch lässt sich ihm höchstens Liszt an die Seite stellen. Beider Werk symbolisiere, so Carl Dahlhaus, »das musikalische Überleben der Romantik in einer positivistischen Epoche«. Carl Dahlhaus / John Deathridge, Wagner, Stuttgart, Weimar 1994, S. 89.

Turmalin. In ihr geht es nicht um die somnambule Schau des innersten Weltzusammenhangs, sondern um die Möglichkeiten und Wirkungen eines Sehens, das Stabilität verheißt und dessen Wahrnehmung der Außenwelt richtig und eindeutig ist.92 Stifter beschreibt einen Rentherrn, dessen Zimmer mit reproduzierten Bildnissen volltapeziert ist. Diesen kann sich der Betrachter mit Hilfe von Rollleitern und Rollstühlen nähern, um den korrekten Blickwinkel zu erzielen. Die Erzählung inszeniert einen wissenschaftlichen Blick, der Sicherheit verspricht und dem Subjekt die Kontrolle über seine Außenwelt zuspricht. Es ist der Betrachter, dessen Standpunkt die Welt regiert.93 Anders als in den Musikdramen Wagners wird das Subjekt bei Stifter durch die optische Wahrnehmung gefestigt. Daraus sollte man jedoch nicht ableiten, dass Wagners Auseinandersetzung mit der Hellsichtigkeit einen Anachronismus darstellt. Denn wie Liliane Weissberg in ihrer Analyse von Turmalin betont, ist das Sehen, das Stifter beschreibt, zu seiner Zeit bereits überholt. »Die Literatur des Realismus zeigte ein Vertrauen in den objektiven Blick und mußte ihn bereits als überlebte Illusion nostalgisch festschreiben.«94 Tatsächlich ist die Idee eines anderen, nach innen gerichteten Sehens nicht mit der Romantik gestorben. Sie wurde gegen Ende des Jahrhunderts wieder belebt, und dabei spielte Wagner eine wichtige Rolle. Man sollte in ihm deshalb nicht nur einen Epigonen der Romantik, sondern auch einen Vorläufer der Moderne sehen, die die Möglichkeiten und Gefahren des höheren Blicks abermals vermaß. Von Wagners Beethoven führt eine Linie zu Nietzsches Traumtheorie in Die Geburt der Tragödie sowie zu Stéphane Mallarmés Ideal eines imaginären Theaters.95 Der Wagnerianer Charles Baudelaire war ebenso von dem Gedanken der gesteigerten inneren Sehfähigkeit angetan wie Stefan George. Und nicht zuletzt wäre der Ein-

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Ich stütze mich im Folgenden auf Liliane Weissbergs Analyse der Erzählung. Vgl. Liliane Weissberg, Das starre Subjekt, das bewegliche Auge. Zur Geburt des »realistischen« Blicks. In: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, hg. von Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt, Tübingen 2002, S. 127–146. Wagner hat sich nie über Stifter, und Stifter nur einmal mittelbar über Wagner geäußert. Dennoch hat Dieter Borchmeyer, der auf dieses Faktum verweist, vor allem anhand des Versuchs Nietzsches, sich mittels Stifter von Wagner zu befreien, die zahlreichen Unterschiede zwischen den Zeitgenossen dargelegt. Vgl. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 305–316. Nicht zu unrecht wurde bemerkt, dass Descartes’ ›Ich denke also bin ich‹ einher geht mit der Erfindung der Zentralperspektive. Vgl. Neumann / Oesterle (Hgg.), Bild und Schrift in der Romantik, S. 9. Weissberg, Das starre Subjekt, S. 135. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 108. Wagners Einfluss auf die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts lässt sich auch am Begriff des Pessimismus festmachen. Zu diesem Schluss kommt Gerhard Kaiser, der das Motiv der Erlösung durch den Tod in Wagners Tristan, Raabes Unruhige Gäste (1885) und Meyers Die Versuchung des Pescara (1887) verglichen hat. Vgl. Gerhard Kaiser, Erlösung Tod. Eine Unterströmung des 19. Jahrhunderts in Raabes »Unruhige Gäste« und Meyers »Die Versuchung des Pescara«. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 38, 1997, S. 1–17.

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fluss Wagners auf Literatur, Theater und Film des deutschen Expressionismus eine eigene Untersuchung wert.

4.2.

Die Sprache(n) des stummen Blicks

4.2.1. Das Wechselspiel von Blick, Gestik und Musik Nun ist der Blick nicht das einzige Medium, das die Vermittlung zwischen Unbewusstem und Bewusstsein garantiert. Es wäre eine grobe Vereinfachung, wenn man seine Bedeutung im Werk Richard Wagners isoliert betrachten wollte. Die optische Wahrnehmung steht immer in Beziehung zu anderen Bedeutungsträgern, die das intermediale Gefüge des Musiktheaters bereit hält. Dies gilt für die Körpersprache der Figuren ebenso wie für ihre Worte, aber auch für die Musik des Orchesters. In einem nächsten Schritt soll deshalb gefragt werden, wie diese Beziehung zu beschreiben ist. Gibt es eine klar erkennbare Hierarchie, der Wagner in der Verwendung von Blick, Gestik, Wort und Musik folgt? Welcher dieser Codes ist eher dem Unbewussten zugeordnet, welcher dem Bewusstsein? Ein erneuter Blick auf die bisher analysierten Szenen könnte erste Hinweise für die Beantwortung dieser Fragen bringen. Die Beispiele Erdas, Hagens und Wotans zeigten, dass sich bei Wagners Figuren Züge von Somnambulismus erkennen lassen, und haben das in erster Linie an ihrem hellsichtigen Blick festgemacht. Nun ist es aber so, dass sie nicht nur schauen, sondern auch sprechen. Erda warnt Wotan in einer Prophezeiung vor seinem drohenden Ende, Hagen antwortet auf die eindringlichen Fragen seines Vaters Alberich, und Wotan »raunt« am Ende des Rings »wie im Traume« seine letzten, an Brünnhilde gerichteten Worte: »des tiefen Rheines Töchtern / gäbe den Ring sie zurück, / von des Fluches Last / erlöst wär’ Gott und Welt!« (G, 40f.) Wotans Worte klingen, ebenso wie diejenigen Erdas, prophetisch und orakelhaft. Es ist jene Sprache des Unbewussten, die auch Elsa spricht, als sie in ihrer Traumerzählung das Kommen Lohengrins ankündigt. Wagner greift hier auf die Figur der somnambulen Traumrednerin zurück, deren Worte unmittelbar aus ihrem inneren Blick hervorzugehen scheinen. Sie wird in den Fallgeschichten des Magnetismus beschrieben. So behauptete Justinus Kerner, dass seine berühmteste Patientin, die »Seherin von Prevorst« Friederike Hauffe, eine unverständliche »innere Sprache« gesprochen habe. Hauffe habe ihm berichtet, so Kerner, »daß ein einziges Zeichen dieser Sprache, oder ein Wort, oft mehr bedeute als ganze Reihen von Charakteren in unsrer Sprache, und daß man nach dem Tode in einem einzigen solchen Zeichen sein ganzes Leben überschauen könne.«96 In enger Verbindung hiermit steht das Phänomen des unbewussten Schreibens. Schubert berichtet in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwis-

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Kerner, Die Seherin von Prevorst, S. 199.

senschaft von einem besonderen Fall des magnetischen Schlafes. Ein Schriftsteller, von der »gefährlichen Krankheit seiner weit entfernten geliebten Schwester nicht unterrichtet«, schrieb schlafend ein Gedicht auf ihren Tod nieder. Auf dieses Motiv greift auch E.T.A. Hoffmann am Schluss von Der Goldene Topf zurück: Die Vision, in der ich nun den Anselmus leibhaftig auf seinem Rittergute in Atlantis gesehen, verdankte ich wohl den Künsten des Salamanders und herrlich war es, daß ich sie, als alles wie im Nebel verloschen, auf dem Papier, das auf dem violetten Tische lag, recht sauber und augenscheinlich von mir selbst aufgeschrieben fand. (SäW 2/1, 321)

Das Ideal der rein unbewussten Sprachproduktion, das dieser Auszug evoziert, wurde zu Wagners Zeiten von Spiritisten als automatisches Schreiben zu praktizieren versucht. Der Spiritismus fand in den frühen fünfziger Jahren in Europa Verbreitung. So soll etwa Victor Hugo während seines Exils in Jersey spiritistische Sitzungen abgehalten haben, bei denen Aischylos und Shakespeare dem Medium französische Verse eingaben.97 Geht die Sprache bei Wagner also unmittelbar aus dem Blick hervor? Vieles scheint dafür zu sprechen. Neben den genannten Beispielen finden sich weitere Szenen, in denen Wort und Blick parallelisiert werden. Während Siegmund im ersten Akt Sieglinde sein Leben erzählt, sieht er ihr dabei »in das Auge« (W, 14). Auch Wotan schaut bei seinem langen Monolog im zweiten Akt Brünnhilde »unverwandt in das Auge« (W, 47). Und im Lohengrin blickt der Titelheld während seiner Gralserzählung »in feierlicher Verklärung« vor sich hin (L, 70). Ästhetisch ließe sich dieses Modell leicht begründen. Hatte nicht schon Goethe die kontemplative Komponente des Epischen betont? Und sollte nicht auch Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie – die bekanntlich von Wagners Theorien beeinflusst wurde – die Idee des apollinischen Traumredners entwerfen, dessen Rede aus einem höheren Blick hervorgeht? Ganz so einfach ist es nicht. Dass in einigen Szenen eine unmittelbare Verbindung von Blick und Wort beobachtet werden konnte, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie verschiedenen Bewusstseinsschichten zugeordnet werden. Die Anschauung steht bei Wagner dem Unbewussten näher als die Sprache. In einem Brief an August Röckel schreibt er, der Moment des Erkennens durch den Blick sei ein unbewusster Vorgang, etwas »Unaussprechliches« (SB VI, 71). Diese Konstellation führt in den Musikdramen nicht selten zu einem semiotischen Konflikt: Oft bleiben die Figuren, während sie schauen, stumm. So etwa Senta, die bei ihrem ersten Auftritt lange schweigt und in das Porträt des Holländers »versunken« ist (H, 20). Diese Konnotation des Blicks mit der vorsprachlichen Versunkenheit ins Unbewusste wird auch zu Beginn von Tristan und Isolde deutlich. Tristan sagt zunächst nichts, sondern blickt »sinnend in das Meer« (TuI 10f.). Ähnliches lässt sich in der Walküre beobachten, wo Wotans Monolog ein gedankenverlorener Blick

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Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 239.

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vorausgeht. Wotan schaut Brünnhilde zunächst »lange ins Auge«, bevor er »wie aus tiefem Sinnen zu sich kommend« seine Erzählung beginnt (W, 46).98 Besonders deutlich zeigt Wagner die Entgegensetzung von Blick und Sprache anhand der weiblichen Figuren seiner romantischen Opern. Als der Landgraf im zweiten Akt des Tannhäuser seine Tochter Elisabeth auffordert, ihm endlich ihr »Herz« zu erschließen, gibt sie zur Antwort: »Blick mir ins Auge! Sprechen kann ich nicht« (T, 30). Dieses Motiv wird im dritten Akt wieder aufgenommen, als Wolfram die »mit verklärtem Gesichte gen Himmel« gewendete Elisabeth anzureden versucht. Sie macht »eine Gebärde, daß er nicht sprechen möge.« Auf seine Frage, ob er sie geleiten dürfe, drückt sie ihm ihre Antwort abermals »durch Gebärden aus« (T, 47f.). Auch Elsa spricht bei ihrem ersten Auftritt mit dem König nur durch Gesten. Sie blickt ihm »in das Auge und bejaht« seine Frage, oder erwidert, »durch eine Gebärde sprechend: ›nichts!‹« (L, 12) Es gibt also non-verbale Codes, durch die Wagner versucht, die stummen Blicke zum Sprechen zu bringen. Diese Blicksprache hat eine wichtige musikästhetische Komponente: In ihr kommt es zu einer semiotischen Überlagerung von Geste und Ton. Während im inneren Kommunikationssystem des Dramas der Blick von der Körpersprache gedeutet wird, ist es im äußeren Kommunikationssystem die Musik, die dem Zuschauer die Gedanken der Figuren vermittelt. Sie spricht, wo die Wortsprache schweigt. Wagner war der erste Komponist, so Heinz Becker, »der den Blick zur Augensprache vertieft und zu einem wesentlichen Ausdrucksmittel seiner musikalischen Konzeption« gemacht habe.99 Um die ästhetische Dimension dieses Phänomens zu verstehen, ist eine Beschäftigung mit den Zürcher Kunstschriften hilfreich. In diesen hat sich Wagner ausführlich mit der Frage beschäftigt, unter welchen medialen Bedingungen das Unbewusste dem Bewusstsein vermittelt werden könne. Dabei zieht er eine Parallele zwischen der Musik und dem Blick ins Auge, die dem Innenleben des Menschen näher stünden als etwa die bloße Wahrnehmung der Gebärde. In dieser drücke sich der Mensch nur mittelbar aus, während die »Gefühle des Herzens« nicht nur durch die Musik, sondern auch »durch den Ausdruck des Auges selbst, welches dem anschauenden Auge unmittelbar begegnet«, direkt mitgeteilt würden (SSD III, 64).100 In Oper und Drama führt Wagner diesen Gedanken weiter, indem er

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Bei den männlichen Figuren richtet sich der stumme Blick oft auf einen Fetisch. Als Alberich im Rheingold erkennt, dass die Rheintöchter ihn demütigen, verbleibt er »in sprachloser Wut, den Blick aufwärtsgerichtet« (R, 19). Dort erscheint als Ersatzobjekt für den unbefriedigten Sexualtrieb das Gold. Seine Augen werden »mächtig vom Glanze angezogen« und bleiben »starr an dem Golde haften.« (21) Ebenso ist Wotan in der vierten Szene »in die Betrachtung des Ringes verloren« (78) und kurz darauf »in den Anblick der Burg versunken.« (93). Becker, »…wonnig weidet mein Blick.«, S. 6. In diesem Sinne heißt es in Lohengrin: »Dich sah mein Aug’, – mein Herz begriff dich da.« (L, 60) Diese Idee kennt in der abendländischen Kulturgeschichte eine lange Tra-

die Musik mit der Physiologie des Menschen vergleicht. Das Innere der Musik, so Wagner, würden Harmonie und Rhythmus bilden. Sie seien »Blut, Fleisch, Nerven und Knochen«, deren Anblick dem »beschauenden Auge« verschlossen bleibe. Die Melodie gleiche dagegen dem Äußeren des Menschen. Betrachte man dieses, so bleibe man beim Auge haften, »der lebenvollsten und mitteilungsfähigsten Äußerung des ganzen Menschen«, der durch dieses Organ »zugleich sein Innerstes am überzeugendsten uns kundgibt.« Wagner fasst zusammen: So ist die Melodie der vollendetste Ausdruck des inneren Wesens der Musik, und jede wahre, durch dieses innerste Wesen bedingte Melodie spricht auch durch jenes Auge zu uns, das am ausdruckvollsten dieses Innere uns mitteilt, aber immer so, daß wir eben nur den Strahl des Augsternes, nicht jenen inneren, an sich noch formlosen Organismus in seiner Nacktheit erblicken. (OuD, 110)

Dass Wagner sowohl der Melodie als auch dem Auge die Fähigkeit zuspricht, das Innerste des Menschen abzubilden, ist für die Analyse der stummen Blicke in seinen Musikdramen aufschlussreich. So etwa für den Schluss des ersten Aktes der Götterdämmerung. Siegfried tritt, durch den Tarnhelm verkleidet, in der Gestalt Gunthers auf. Doch an seinem Blick kann Brünnhilde ihn erkennen. Sie streift »bewusstlos« seine Augen und in diesem Moment wird der Orchestersatz – gemäß den Vorgaben aus Oper und Drama – auf eine Melodie reduziert. Das Englischhorn begleitet den Blick Brünnhildes mit einem Motiv, das zu Beginn des Musikdramas ihre Liebe zu Siegfried charakterisierte (SW 13/I, T. 1772f.). Dieselbe Technik findet im Rheingold Anwendung, wo Fasolt den Anblick des durch den Hort schimmernden Auges Freias nicht erträgt. Dabei modifizierte Wagner seine Vorlage, das »Lied vom Drachenhort« der Älteren Edda. Dort ist es nur ein Barthaar des Otterbalges, das frei bleibt und dann durch den Ring Andwaranaut verdeckt wird.101 Wagner zog es vor, den Abschied Fasolts von Freia durch eine Blickszene zu beschreiben. Zu Fasolts Klagerufen spielt im Orchester die erste Oboe102 zweimal Freias Motiv, das

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dition. So werden schon in den Epen Homers dem Blick der Götter bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, anhand derer man sie identifizieren kann. Man denke nur an die ›kuhäugige‹ Hera oder die Helligkeit des Blicks, die Pallas Athene charakterisiert. Vgl. Weisrock, Götterblick und Zaubermacht, S. 22. Auch in der Bergpredigt wird der Charakter mit der optischen Wahrnehmung parallelisiert: »Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib Licht sein. Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein.« (Mt 6, 22/23) Im Mittelalter findet sich diese Vorstellung unter anderem in der Minnelyrik wieder. Das Auge galt als »Spiegel des Herzens«, der die Strahlen des Inneren wie ein Brennpunkt in sich vereinigt und nach außen reflektiert. Vgl. hierzu: Newton, Eye Symbolism, S. 108. Heldenlieder der Älteren Edda, hg. von Felix Genzmer, Stuttgart 1952, S. 38. Egon Voss bemerkt zur Verwendung der Oboe an dieser Stelle: »Der Klang macht den ›seelenvollen‹ und ergreifenden Blick eindringlich; die Funktion des Instruments« sei es hier, »›Stimme‹ der Unschuld und Reinheit zu sein. Das Rührend-Ergreifende des Oboenklangs entspricht dem Wesen Freias und ist Hauptmerkmal des Blicks, den Fasolt gewahrt.« Voss hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Oboe auch in anderen

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übrige Orchester tritt in den Hintergrund (10/II, T. 3395 u. 3401). Obwohl ihre restliche Gestalt verdeckt ist, genügt Fasolt ein Blick in ihr Auge, um Freias innerstes Wesen zu erkennen. Diese Anordnung wiederholt sich zu Beginn des zweiten Walküre-Aktes: Als Wotan in Brünnhildes Auge blickt, erklingt eine Melodie. Diesmal ist es die Bassklarinette, die das Liebesmotiv von Siegmund und Sieglinde spielt (11/II, T. 647).103 Die Wiedergabe des Blicks durch die Melodie stellt den seltenen Fall dar, dass die in Metaphern gekleidete Theorie von Oper und Drama eine exakte kompositorische Entsprechung hat.104 Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Verbindung von stummem Blick und Melodie nicht erst im Ring des Nibelungen virulent wird, sondern bereits in den vorhergehenden Musikdramen. Da diese im Gegensatz zum Ring vor den Kunstschriften entstanden, kann man den Schluss ziehen, dass Wagner in ihnen eine vorhandene kompositorische Technik reflektierte. Bestes Beispiel ist die Gebärdensprache Elisabeths und Elsas. Ihre Gesten werden durch Melodien ausgedrückt, wobei die Instrumente dem Figurentyp entsprechen. Im »Gespräch« Elisabeths mit Wolfram fungiert das Cello mit seiner baritonalen Lage als dessen »Stimme« (6/III, T. 247ff.),105 während Elisabeths Gebärden von der Klarinette gespielt werden (T. 259ff.). Elsas gestische Kommunikation mit dem König wird hingegen – wie im Falle Freias – von einer Oboen-Melodie getragen (7/I, T. 291ff.). Der Rückgriff auf non-verbale Codes kennzeichnet auch den Liebesblick.106 Als Senta und der Holländer sich das erste Mal in realiter sehen, wendet sie »ihren

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Werken Wagners, wie etwa in der Walküre oder den Meistersingern, den »›seelenvollen‹ Blick einer weiblichen Gestalt« charakterisiere. Voss, Studien zur Instrumentation Richard Wagners, S. 135f. Hierzu schreibt Voss: »Flucht und Liebesmotiv in dem Solo nach ›Sieh’, Brünnhilde bittet‹ übertragen die Liebesbeziehung zwischen Siegmund und Sieglinde auf das Verhältnis Wotan-Brünnhilde, so daß hinter dem Vater-Tochter-Bezug eine erotische Verbindung aufscheint. Daß sie hinter der Vater-Kind-Beziehung verborgen liegt, den Beteiligten selbst nicht bewusst, wird durch den dunklen und verhaltenen Klang der Bassklarinette zum Ausdruck gebracht.« (ebd., S. 167). Heinz Becker hat diese Wiedergabe des Blickes durch die Melodie am Beispiel der Todesverkündigungsszene in der Walküre als Verengung des Blicks zu beschreiben versucht (Becker, »…wonnig weidet mein Blick.«, S. 7f.). Dieser Begriff reicht aber nicht aus, um zu erklären, warum Wagner, als Siegmund Brünnhilde »lange in das Auge« blickt, in den Celli und Kontrabässen eine Unisono-Melodie komponiert (SW 11/II, T. 1523–1529). Wagner wollte mehr als die Verengung des Blicks darstellen, er wollte die in dieser Szene bestimmenden Gefühle Siegmunds zum Ausdruck bringen. Nicht umsonst hat er deshalb Celli und Kontrabässe als Instrumente verwendet, schließlich wurde durch sie auch das Siegmund-Motiv im ersten Akt exponiert. Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 69. Der Liebesblick bei Wagner wird in diesem Kapitel in erster Linie unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten analysiert. Das soll jedoch nicht heißen, dass die Erotisierung des Blicks bei Wagner keine Rolle spielen würde. So ist es im Rheingold der Blick, der Fasolt an Freia bindet: »Seh’ ich dies wonnige Auge, / von dem Weibe lass ich nicht

Blick nicht vom Holländer ab, sowie dieser […] nur in den Anblick des Mädchens versunken ist.« Der einzige, der spricht, ist Daland, der dadurch allerdings das Schweigen der Liebenden umso deutlicher macht. Auf seine Fragen antworten Senta und der Holländer gestisch: Senta »nickt beifällig mit dem Kopfe«, der Holländer »macht eine Bewegung des Beifalls.« (H, 36) In Tristan und Isolde wird diese Darstellung des Liebesblicks weitergeführt.107 Als die Protagonisten sich das erste Mal gegenübertreten, ist Isolde »mit furchtbarer Aufregung in seinen Anblick versunken. – Langes Schweigen.« (TuI 30) Kurz darauf nehmen sie den Liebestrank zu sich, was Wagner wie folgt beschreibt: Beide, von Schauer erfaßt, blicken sich mit höchster Aufregung, doch mit starrer Haltung, unverwandt in die Augen, in deren Ausdruck der Todestrotz bald der Liebesgluth weicht. – Zittern ergreift sie. Sie fassen sich krampfhaft an das Herz, – und führen die Hand wieder an die Stirn. – Dann suchen sie sich wieder mit dem Blicke, senken ihn verwirrt, und heften ihn von Neuem mit steigender Sehnsucht auf einander. (38)

Zieht man die Musik hinzu, die Wagner zu dieser Stelle komponiert hat, entsteht ein komplexes semiotisches Spiel aus Blick, Geste und Ton. Während Tristan und Isolde ihren Liebesblick mit Handbewegungen auszudrücken versuchen, begleitet sie das Orchester mit Versatzstücken des Vorspiels (SW 8/I, T. 1758ff.).108 Gestik und Musik laden sich so gegenseitig mit Bedeutung auf, die Melodielinien werden durch die körperliche und visuelle Kommunikation der Figuren interpretiert. Bei alldem bleibt die Wortsprache außen vor, die Szene beruht allein auf nicht-sprachlichen Codes. Dies ist ein entscheidender Unterschied zum Rheingold, wo die musikalischen Motive auch begrifflich exponiert werden – man denke an den »Rhein-

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ab.« (R, 84) Besonders deutlich klingt die Verbindung von optischer Wahrnehmung und Erotik in der Walküre an. Siegmund rühmt »des Sehens selige Lust« (W, 9), »wonnig weidet« sein Blick sich an Sieglinde (29). Und Wotan, dessen Abschieds-Monolog in der letzten Szene desselben Werkes von der Erinnerung an das leuchtende Paar der Augen seiner Lieblingstochter lebt, küsst Brünnhilde schließlich auf beide Augen (107). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch Wotans Augenverlust deuten, den er gegenüber Fricka wie folgt deutet: »Um dich als Weib zu gewinnen, / mein eines Auge / setzt’ ich werbend daran« (R, 29). Das Auge steht hier für die sexuelle Potenz Wotans, von der er einen Teil abgeben muss, will er in den Stand der Ehe treten. »Als junger Liebe Lust« ihm verblich und »nach Macht« sein Mut verlangte (W, 47), musste er dafür auch ein Auge lassen. Die Korrelation der Augen mit Sexualorganen, der »zeugende Blick« sowie der »Verlust des Sehvermögens« im Liebesakt gehören bereits in der Goethezeit zu den häufigsten Motiven in Verbindung mit der optischen Wahrnehmung. Vgl. Titzmann, Bemerkungen zu Wissen und Sprache, S. 119. Wie Jörg Krämer betont, wird in Tristan und Isolde der optischen Erkenntnisebene das Motivfeld des Schweigens zugeordnet, in dessen Raum »die Musik stoßen« kann. Krämer, Wagners Rhetorik, S. 639. Ulrike Kienzle geht in ihrer Interpretation dieser Szene davon aus, dass zu Beginn ein Motiv erklingt, das zuvor bei Isoldes Worten »todgeweihtes Haupt« erklang. Vgl. Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 164. Dabei handelt es sich aber um eine Variation, weshalb eine begriffliche Semantisierung der Musik in dieser Szene nicht vorliegt.

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gold«-Gesang der Rheintöchter und das »Verflucht sei dieser Ring« Alberichs. Dass diese Verbalisierung der Musik im Tristan verweigert wird, ist für die Ästhetik dieses Musikdramas zentral.109 Die »Kunst des tönenden Schweigens«, als die er in einem Brief an Mathilde Wesendonck die Musik des Tristan charakterisierte,110 ist ohne Gebärde und Blick nicht zu denken. Zugleich ist die Trank-Szene ein schönes Beispiel dafür, dass innerhalb von Wagners Musikdramen Deutungsprozesse generiert werden – eine Besonderheit, die dem Interpreten die Arbeit nicht leichter macht. Die begriffliche Fixierung von musikalischen Phänomenen – »Todesmotiv«, »Sehnsuchtsmotiv«, etc. – muss notwendig oberflächlich bleiben, weil sie das komplexe Spiel verschiedener Codes, das die Motivgenese bei Wagner begleitet, außer Acht lässt. Gleich zu Beginn der Meistersinger von Nürnberg greift Wagner das in den vorhergehenden Musikdramen entwickelte Gebärdenspiel des Liebesblicks auf. Im Inneren der Katharinenkirche steht Walther, »die Blicke auf Eva heftend.« Diese »kehrt sich wiederholt seitwärts nach dem Ritter um, und erwidert seine bald dringend, bald zärtlich durch Gebärden sich ausdrückenden Bitten und Beteuerungen« (M, 8). Diese stummen Gespräche treten in der Partitur als polyphone Zwischenspiele immer wieder zwischen den homophon gehaltenen Choral, wobei die Melodien Evas und Walthers nur von einzelnen Instrumenten gespielt werden und der Kontrast durch die daraus resultierende räumliche Klangtrennung noch verschärft wird.111 Doch anders als im Tristan drängt es die Protagonisten, ihre nonverbale Kommunikation begrifflich zu fassen: Am Ende der Szene bittet Walther Eva flehentlich, doch mit ihm zu sprechen: »Ein Wort! Ein einzig Wort!« (ebd.) 4.2.2. Zur Konkurrenz von Intuition und Diskursivität in der Romantik Die Beobachtung, dass in Wagners Musikdramen verschiedene Codes aufeinander bezogen werden, gibt Anlass, nach den dahinterstehenden ästhetischen Diskursen zu fragen. Dazu muss man ins 18. Jahrhundert zurückgehen. 1766 beschäftigte sich Gotthold Ephraim Lessing in seinem Aufsatz Laokoon mit den »Grenzen der Malerei und Poesie« – so der Untertitel des Textes. Lessings Überlegungen zeugen von einem Interesse an der Trennung und Reinheit der Künste, das im 18. Jahrhundert von großer Bedeutung war. Was kann ein Bild darstellen und was eine Erzählung? Die Antwort, die Lessing findet, ist so einfach wie folgenreich: Die Malerei hätte »neben einander geordnete Zeichen« zum Inhalt, die Dichtung dagegen »auf einander folgende Zeichen«.112 Die eine wird also als eine Raumkunst verstanden, die simultan und synchron strukturiert ist, die andere als eine Zeitkunst, in der 109 110 111 112

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Vgl. hierzu Krämer, Wagners Rhetorik, S. 639. Richard Wagner an Mathilde Wesendonck, S. 68. Vgl. Becker, »…wonnig weidet mein Blick.«, S. 6. Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, hg. von Wilfried Barner et al., Frankfurt am Main 1985ff., Bd. 5/2, S. 116.

ein Handlungsprozess beschrieben wird. Wichtig ist dabei, dass Lessing dies auch auf die Rezeption überträgt: Ein Bild wirke in einem Augenblick und unmittelbar, während die Erzählung dem Leser das Geschehen als einen Handlungsablauf präsentiere. Die Unterscheidung zwischen visuell wirkender Intuition einerseits und sprachlich vermittelter Diskursivität andererseits wurde jedoch nicht nur in Bezug auf die Gattungstheorie diskutiert. Auch in der Philosophie gewann sie an Bedeutung, vor allem in der Erkenntnistheorie Immanuel Kants, die dieser 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft präsentierte. Dort werden Anschauung und Begriff zwei verschiedenen Erkenntnisweisen zugeordnet: Sinnlichkeit und Verstand.113 Die Anschauung ist subjektiv und unmittelbar: Sie schafft ein Bewusstsein, das keine Trennung zwischen sich und dem Erkannten etabliert. Darin unterscheidet sie sich von begrifflich vermitteltem Wissen, das nicht in direktem Kontakt zur Wirklichkeit steht. Kant hatte mit dieser Unterscheidung jedoch keine epistemologische Hierarchie im Sinn. Er wollte vielmehr zeigen, dass Anschauung und Begriff notwendig aufeinander bezogen bleiben müssen. Bekanntlich sind diese ästhetischen und philosophischen Theorien in den Texten der Romantiker präsent. Sie übernahmen Kants Idee eines zweifachen Ursprungs der Erkenntnis, wobei sie die Unmittelbarkeit der Anschauung auf das Unbewusste bezogen. Die damit verbundene Entstehung des höheren Sehens führte jedoch anders als bei Kant zu einer Abwertung des begrifflichen Wissens. Auf die Spitze getrieben findet sich diese Idee in den Schriften Arthur Schopenhauers, der die Anschauung eindeutig über das abstrakte Wissen der Begriffe stellt: Wie aus dem unmittelbaren Lichte der Sonne in den geborgten Widerschein des Mondes gehen wir von der anschaulichen, unmittelbaren, sich selbst vertretenden und verbürgenden Vorstellung über zur Reflexion, zu den abstrakten, diskursiven Begriffen der Vernunft […]. Solange wir uns rein anschauend verhalten, ist alles klar, fest und gewiß. […]. Die Anschauung ist sich selbst genug; daher, was rein aus ihr entsprungen und ihr treu geblieben ist, wie das echte Kunstwerk niemals falsch sein noch durch irgendeine Zeit widerlegt werden kann: denn es gibt keine Meinung, sondern die Sache selbst. Aber mit der abstrakten Erkenntnis, mit der Vernunft ist im Theoretischen der Zweifel und der Irrtum, im Praktischen die Sorge und die Reue eingetreten.114

Nun sollte man vorsichtig damit sein, Schopenhauers scharfe Trennung von Anschauung und Sprache eins zu eins auf die Romantik zu übertragen. Dennoch ist auch ihr die Skepsis gegenüber einer Vorherrschaft der Begriffe anzumerken. Die Romantiker glaubten nicht, dass sich das Unbewusste vollends in jene Sprache auflösen lasse, die dem Verstand und der Reflexion zugänglich ist. Die Natur und die Träume seien vielmehr durch eine vergessene Ur- und Hieroglyphensprache ver-

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Kant, Werke, Bd. 3, S. 74f. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 72.

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schlüsselt, die der Mensch verlernt habe – eben jene orakelnde Traumsprache der somnambulen Seherinnen. Aus diesem Grund ist das Unbewusste in der Romantik in erster Linie durch visuelle und akustische Codes zugänglich. In einem fingierten Gespräch über Raffaels Sixtinische Madonna lässt A.W. Schlegel eine der Personen sagen: »Das wirkt so unmittelbar und geht gleich vom Auge in die Seele, man kommt nicht auf Worte dabei, man hat keine nöthig, um zu erkennen, was in unzweifelhafter Klarheit dasteht«. Worauf der Gesprächspartner erwidert: »Endlich wird doch einmal die Unzulänglichkeit der Sprache eingestanden.«115 Diesem Diktum folgte auch E.T.A. Hoffmann in seinen Schriften. Er ging davon aus, dass der Zugang zum Unbewussten eher durch Blicke und Töne als durch Worte hergestellt werden könnte: So wie nach dem Ausspruch eines geistreichen Physikers Hören ein Sehen von innen ist, so wird dem Musiker das Sehen ein Hören von innen, nehmlich zum innersten Bewußtsein der Musik, die mit seinem Geiste gleichmäßig vibrierend aus Allem ertönt was sein Auge erfaßt. So würden die plötzlichen Anregungen des Musikers, das Entstehen der Melodien im Innern, das bewußtlose oder vielmehr das in Worten nicht darzulegende Erkennen und Auffassen der geheimen Musik der Natur als Prinzip des Lebens oder alles Wirkens in demselben sein.116 (SäW 2/1, 453)

Diese Ausführungen Schlegels und Hoffmanns zeigen, dass die landläufige Vorstellung von der romantischen Idee eines ›Gesamtkunstwerkes‹ problematisch ist. Selbst wenn in der Romantik die Aufhebung der Trennung der Künste postuliert wurde, so war doch das Wissen von der unterschiedlichen Wirkungsweise der Medien noch präsent. Der Konflikt zwischen intuitiver und diskursiver Rezeption, auf den Lessing hingewiesen hatte, ist in der Theorie der Romantik allerorten zu spüren. Zugleich gewinnt er durch die Differenz von Unbewusstem und Bewusstem eine neue Dimension. Eines der besten Beispiele hierfür ist Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker (1810–12). Die in dieser einflussreichen Schrift enthaltenen Ausführungen über das Verhältnis von Bild und Sprache waren nicht nur für romantische Altertumswissenschaftler wie Bachofen von Bedeutung. Sie liegen auch noch einer ästhetischen Abhandlung wie Nietzsches Tragödien-Schrift von 1871 zu Grunde. Creuzer geht von einer stufenweisen Entwicklung der Mythologie aus. Zunächst gebe es eine Periode, in der das Volk nur »in stummen Handlungen dem Drang des andächtigen Gemüthes Luft macht«. Die letzte Stufe seien die »beredten Göttergeschichten«, wie sie sich bei Hesiod und Homer fänden.117 Zwischen diesen beiden liegt eine Periode, in der die optische Wahrnehmung im Vordergrund stand:

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A. W. von Schlegel, Sämmtliche Werke, Bd. 9, S. 81f. Bei dem »geistreichen Physiker« handelt es sich um Johann Wilhelm Ritter (1776–1810), einen engen Freund von Novalis und G. H. von Schubert. Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Bd. 1, Leipzig, Darmstadt 1810, S. 3.

Es war eine Zwischenperiode des Priesterthums. Diese Priester nun, einem so spracharmen Volke gegenüber gestellt, mit welchen Forderungen konnten sie ihm nahen? Nicht mit der Voraussetzung eines großen Vorraths von Begriffen und einer damit im Verhältniß stehenden geistigen Gewandtheit. Der Vernunftschluß, und Alles was dialektische Übung fordert, war hier so wenig an seiner Stelle, daß selbst der einfachste Satz des diskursiven Denkens seine Wirkung verfehlen mußte. […] Das reinste Licht der lautersten Erkenntniß muß sich zuvor in einem körperlichen Gegenstande brechen, damit es nur im Reflex, und im gefärbten, wenn auch trüberen Schein, auf das ungeübte Auge falle. Nur das Imposante kann aus dem Schlummer halbthierischer Dumpfheit aufwecken. Was ist aber imponirender als das Bild? Die Wahrheit einer heilsamen Lehre, welche auf dem weiten Wege des Begriffes verloren gehen würde, trifft im Bilde unmittelbar zum Ziele.118

Die »Lehrart« jener Zeit sei deshalb die »Offenbarung« gewesen und nicht das »Vordenken mit bestimmter Sonderung und Verbindung der verschiedenen Merkmahle eines Begriffs.«119 Die älteren Dichter hätten deshalb dort, wo von Lehre und Unterricht die Rede ist, immer von »Augenschein, von Zeigen und Weisen« gesprochen.120 Die »Exegeten« seien »Seher«.121 Auf diesem Vorrang des Schauens vor dem Begriff beruht Creuzers Definition des Symbolischen. Das Symbol deute zugleich das Geheimnis, das es darstelle, ohne es diskursiv zu erklären: »Die Verbindung solcher Zeichen mit dem Bezeichneten« sei deshalb nicht willkürlich, sondern »ursprünglich und göttlich«, so Creuzer. »Hierdurch ward also das Symbol hoch über andere Arten bildlichen Ausdrucks gestellt.«122 Das Symbol gewinnt seine epistemologische Kraft aus seiner unmittelbaren Beziehung zum Absoluten. Im Gegensatz dazu sei der »sondernde und sammelnde Verstand« zu sehen, der »in successiver Reihe […] einzelne Merkmahle zur Bildung eines Begriffs zusammenträgt, und eben so successiv wieder in seine Bestandtheile trennt«.123 Der Mythos, also die Versprachlichung der unmittelbaren Bildlichkeit, ist diesem diskursiven Denken näher als das Symbol. Während das Symbol für »momentane Totalität« stehe, ist der Mythos ein »Fortschritt in einer Reihe von Momenten.«124 Nun sollte man aus dieser Theorie nicht den Fehlschluss ziehen, dass das Unbewusste mit seiner imaginären Repräsentation in eins zu setzen sei. »Ein allgemeiner Drang der Menschennatur« fordere »bestimmte äußerliche Zeichen und Bilder für unbestimmte Gefühle und dunkeles Ahnden«, heißt es bei Creuzer. »In solcher Lage mußte der Priester […] selbst schöpferisch werden. Er mußte wirken und bilden; und wenn er jetzt das vorher Unsichtbare hinstellte in sichtbarer Gestalt«,

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Ebd., S. 4. Ebd., S. 7. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 42. Ebd., S. 66. Ebd., S. 83.

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dann »erzeugte« er das »Göttliche«.125 Damit ist man bei Wagners Theorie des Mythos angelangt, die sich eng an die Ideen Creuzers anlehnt. Wagner las Symbolik und Mythologie der alten Völker zum ersten Mal als Schüler.126 Auch war er es, der Friedrich Nietzsche auf die Mythos-Theorie Creuzers aufmerksam machte – ein Hinweis, der in Die Geburt der Tragödie nicht ohne Folgen blieb.127 Im Gespräch mit seiner Frau Cosima betont er noch im Dezember 1880: »Alle diese Leute wie Creuzer haben etwas gesehen, sie sind in Irrtümer verfallen, aber sie haben etwas gesehen.« (CT II, 628) Wagner gewinnt einen wichtigen Teil seiner Definition des Mythos128 aus dem, was Creuzer Symbol genannt hat – das unmittelbar entworfene Bild eines gemeinsamen Glaubens.129 War es bei Creuzer noch der Priester, der aus dem unbestimmten Gefühl des Volkes das Bild des Gottes schuf, so traut Wagner dies auch dem Volk selbst zu: Das Volk, das im Anfange sein Staunen über die weithin wirkenden Wunder der Natur in den Ausrüfen lyrischer Ergriffenheit äußert, verdichtet, um den staunenerregenden Gegenstand zu bewältigen, die weitverzweigte Naturerscheinung zum Gott, und den Gott endlich zum Helden. In diesem Helden, als dem gedrängten Bilde seines eigenen Wesens, erkennt es sich selbst […] (OuD, 62f.).

In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Wagner schreibt, der Mythos sei »das Gedicht einer gemeinsamen Lebensanschauung« (164) und sein Wesen sei das »plastischer Dichtheit« (163).130 Er macht die kontingente Masse der Außenwelt fassbar, indem er die »begreiflichen Realitäten der wirklichen Welt zu gedichteten Bildern«

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Ebd., S. 14. Vgl. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 55 u. 92. Ebd., S. 652. Manfred Frank hat die von Creuzer entwickelten Begriffe von Symbol und Mythos wie folgt auf Nietzsches Schrift bezogen: »Symbolik: das ist real und leiblich – in Rausch, Tanz und Musik – vollzogener Ritus; der Mythus entfaltet – in der Repräsentation des Sprachlichen – nur die Geschichte, die im Symbol zur Handlung zusammengedrängt war. […] Der Mythos, das ist Dionysos, von Apoll ausgelegt.« Frank, Der kommende Gott, S. 94. Dieter Borchmeyer sieht in der »Verdichtung« die zweite von vier Bedeutungen des Mythos bei Wagner: Die erste sei die »durch keinen Zeitbezug beschränkte Wahrheit des Mythos«, die zweite seine »Struktur ›dichtester Gedrängtheit‹«, die dritte seine »Unerschöpflichkeit«, die vierte die Tatsache, dass der Dichter den Mythos nicht schafft, sondern nur deutet. Vgl. Dieter Borchmeyer, Renaissance und Instrumentalisierung des Mythos. Richard Wagner und die Folgen. In: Richard Wagner im Dritten Reich, hg. von Saul Friedländer / Jörn Rüsen, München 2000, S. 66–91, hier S. 67. Diese Einteilung findet sich auch bei Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 192. Zur Problematik des Begriffes ›Wahrheit des Mythos‹ vgl. 3.1. und 3.2. Darauf aufmerksam macht auch Graevenitz, Mythos, S. 276. Diesen Gedanken formulierte Wagner bereits in seiner Wibelungen-Schrift: »Religion und Sage sind die ergebnißreichen Gestaltungen der Volksanschauung vom Wesen der Dinge und Menschen. Das Volk hat von jeher die unnachahmliche Befähigung gehabt, sein eigenes Wesen nach dem Gattungsbegriffe zu erfassen und in plastischer Personifizirung deutlich sich vorzustellen.« (SSD II, 123).

zusammenfasst (173). Diese »Verdichtung« sei »das eigentliche Werk des dichtenden Verstandes«, ja sogar »der Mittel- und Höhepunkt des ganzen Menschen«. Ihr Motor ist die Phantasie bzw. die Einbildungskraft mit ihrer synthetischen Wirkung.131 Damit der Dichter eine »gedachte Wirklichkeit« mitteilen könne, müsse er sie »dem Gefühle in einem ähnlichen Bilde darstellen, als wie das Gefühl sie ihm ursprünglich zugeführt hat«. Und dieses Bild sei »das Werk der Phantasie« bzw. »das Wunder« (218f.). Nur durch diesen romantischen Rekurs auf die religiös fundierte Imagination132 glaubt Wagner sein höchstes Ziel, die unmittelbare Wirkung der Kunst, erreichen zu können. Es geht ihm um »das unmittelbar zur Anschauung gebrachte, sinnlich dargestellte dramatische Kunstwerk« (127). Dieses kann nur mit Hilfe der synthetisch wirkenden Phantasie erreicht werden: Durch sie wird in einer dialektischen Bewegung der analytische, zersplitternde und nur mittelbar durch den Begriff sich äußernde Verstand, der in der Chronik der Geschichte und der schildernden Prosa tätig sei, überwunden. Während Wagner in Das Kunstwerk der Zukunft den »Begriff von einer Sache« noch als »das im Denken dargestellte Bild seines wirklichen Wesens« bezeichnete (SSD III, 55), treten Bild und Wort in Oper und Drama auseinander. Dort spricht Wagner von den »Augen« des Gefühles, das »Form und Farbe« erfasse. Was dieses unmittelbar erfasse, könne der moderne Dichter nur umständlich erklären, da er sich an das »Organ des kombinierenden, zersetzenden, teilenden und trennenden Verstandes« wende und deshalb »die von dem Gefühle abstrahierte, die Eindrücke und Empfängnisse des Gefühles nur noch schildernde, vermittelnde und bedingte Wortsprache« rede (OuD, 207f.).

4.3.

Bilder und ihre Geschichten

4.3.1.

Flucht vor dem Wort ins Bild: Der fliegende Holländer

Nun könnte man es dabei bewenden lassen und als Ergebnis dieser Untersuchung ein einfaches Schema festhalten: Blick, Gestik und Musik sind bei Wagner dem Unbewussten zugeordnet, die an Begriffe gebundene Wortsprache (mit Ausnahme höchstens der ›Traumsprache‹) dem Bewusstsein. Das wäre nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Denn wie immer bei Wagner liegen die Dinge komplizierter. Die Aufwertung der Intuition gegenüber der Diskursivität, die er von der Romantik übernimmt, birgt nämlich ein Problem. Zwar definiert Wagner das Drama, um es vom modernen Roman abzuheben, als verdichtetes Bild, das auf dem Wunder des Mythos basiere. Anders als der vielstoffige Roman habe das Drama die Schaffung »plastischer Einheit« zum Ziel (OuD, 150). Doch dieses Argument wird

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Vgl. hierzu Kap. 3.2.2. In Wagners Ausführungen zur Bildlichkeit lassen sich natürlich auch Elemente von Platons Ideenlehre ausmachen. Vgl. hierzu Hübner, Die Wahrheit des Mythos, S. 399–401.

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von einer anderen Forderung durchkreuzt: Das Drama, so Wagner, müsse auch als Prozess verstanden werden, in dem die Bewusstwerdung des Unbewussten zur Entfaltung kommt. In einem Entwurf aus der Zeit der Zürcher Kunstschriften bringt er diesen Gedanken auf den Punkt: Die bildende Kunst könne »nur das Gewordene, das Fertige« darstellen, nicht aber »das Werden, das sich selbst Zeugen.« Sie sei deshalb »nur monumental, bewegungslos«. Die dramatische Kunst dagegen zeige »das menschliche Leben selbst in der Bewegung«, ihr Gegenstand sei nicht »der abgeschlossene, zur Erscheinung gebrachte Akt, sondern die Darstellung des unbewußten Werdens, Erzeugens der Handlungen und Charaktere.« (SSD XII, 269) Diese Stelle zeigt sehr deutlich, dass die Lessingsche Trennung von Raum- und Zeitkunst für Wagner zum Problem wird: Denn das unmittelbar wirkende Bild ist statisch, das Drama dagegen dynamisch. Wenn die Kunst des Musiktheaters aber nun sowohl statisch als auch dynamisch ist, nicht nur das unmittelbare Gefühl, sondern auch die dramatische Entwicklung kennt, dann musste Wagner der intuitiven Anschauung ein diskursives, prozesshaftes Element zur Seite stellen.133 Er fand es in jenem Phänomen, das er in seinen Zürcher Kunstschriften eigentlich überwunden wissen wollte: der Geschichte, die durch Erzählung vermittelt wird. Hierfür findet sich in Der fliegende Holländer das grundlegende Modell. Es ist kein Zufall, dass Richard Wagner in seinem Rückblick auf die Entstehung dieses Musikdramas das Verhältnis von visueller Intuition und prozesshafter Entwicklung ins Zentrum rückte: Ich entsinne mich, noch ehe ich zu der eigentlichen Ausführung des »fliegenden Holländers« schritt, zuerst die Ballade der Senta im zweiten Akte entworfen, und in Vers und Melodie ausgeführt zu haben; in diesem Stücke legte ich unbewußt den thematischen Keim zu der ganzen Musik der Oper nieder: es war das verdichtete Bild des ganzen Drama’s, wie es vor meiner Seele stand; und als ich die fertige Arbeit betiteln sollte, hatte ich nicht übel Lust, sie eine ›dramatische Ballade‹ zu nennen. Bei der endlichen Ausführung der Komposition breitete sich mir das empfangene thematische Bild ganz unwillkürlich als ein vollständiges Gewebe über das ganze Drama aus; ich hatte, ohne weiter es zu wollen, nur die verschiedenen thematischen Keime, die in der Ballade enthalten waren, nach ihren eigenen Richtungen hin weiter und vollständig zu entwickeln, so hatte ich alle Hauptstimmungen dieser Dichtung ganz von selbst in bestimmten thematischen Gestaltungen vor mir. (SSD IV, 323)

Es ist aufschlussreich, die Metaphorik dieser Stelle ernst zu nehmen und die in ihr entworfene Produktionsästhetik kritisch zu hinterfragen. Denn Wagner suggeriert hier einen umstandslosen, weil »unwillkürlichen« Übergang vom Raum in die Zeit, vom Bild zum sich entwickelnden »Gewebe«. Damit verschleiert er, dass die kom-

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Dass die Frage nach der Diskursivierung der Sinne in der Geschichte des Musiktheaters von zentraler Rolle ist, hat Bernhard Jahn für das Musiktheater des Barock gezeigt. Vgl. Bernhard Jahn, Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740), Tübingen 2005.

positorische Ausarbeitung des »empfangenen« Einfalls ein bewusster und kein unbewusster Vorgang ist. Genau in diese Richtung stößt die Kritik Eduard Hanslicks, der betonte, dass »dem Opernkomponisten das Bild seines Dramas sich sukzessiv, als ein Werdendes entrollen« müsse.134 Tatsächlich denkt Hanslick hier wagnerischer als Wagner selbst. Denn nicht nur hat die Musikwissenschaft seit langem nachgewiesen, dass Wagners Inszenierungen unmittelbarer Eingebungen falsch sind und seine Kompositionsarbeit ein mühsames Suchen, Verwerfen und Finden war.135 Auch das Libretto des Holländers zeugt davon, dass der Transformation des Blicks in das Gewebe der Erzählung ein Bewusstwerdungsprozess zugrunde liegt und dieser sich konfliktreich gestaltet. Wie das zweite Kapitel gezeigt hat, erwacht Senta im zweiten Akt aus dem Unbewussten in die Sprache. Dieses Erwachen kann nun präziser beschrieben werden als Übergang von der stummen Anschauung in die Erzählung. Zwar ist Senta in den Anblick des Holländer-Porträts versunken und schweigt während des Gesangs der Mädchen, aber sie verlässt diesen unbewussten Zustand, weil sie die Geschichte kennen will, die dieses Bild erzählt. »Was hast du Kunde mir gegeben, / was mir erzählet, wer er sei!« (H, 22) sind ihre ersten Worte. Die Ballade, die diese Erzählung enthält, ist also nichts anderes als die Deutung des Bildes, die Versprachlichung eines imaginativen Zustandes. In ihr wird jene narrativ vermittelte Bewusstwerdung in Gang gesetzt, die im fünften Kapitel dieser Arbeit beschrieben wird. Das Bild drängt aus sich heraus ins Wort. Dieses Muster wiederholt sich, als der Holländer das Haus betritt und Sentas Blick von seinem Porträt auf seine reale Gestalt fällt. Sie bleibt »wie festgebannt stehen, ohne ihr Auge vom Holländer abzuwenden.« In dieser Stellung verharrt sie und auch der Holländer bleibt in ihren Anblick »versunken« (35f.). Das folgende Duett ist nun nichts anderes als der Versuch, diese rein unbewusste Anschauung ins Bewusstsein zu bringen, den Blick des anderen

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Zitiert nach: Attila Csampai (Hg.), Richard Wagner, Der fliegende Holländer. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 140. Das bekannteste Beispiel ist Reinhard Wiesends Aufsatz über das Rheingold-Vorspiel (vgl. Wiesend, Die Entstehung des »Rheingold«-Vorspiels). Was die Komposition von Sentas Ballade betrifft, so hat Wagner später in Mein Leben darauf hingewiesen, dass nicht nur die Ballade am Beginn der Komposition des Holländers stand, sondern auch »das Lied der norwegischen Matrosen und der Spuk-Gesang der Mannschaft des ›Fliegenden Holländers‹« (ML, 212). Dies bestätigt ein Brief an Meyerbeer vom 26. Juli 1840 (SB I, 401). Das Wagner-Werk-Verzeichnis setzt das Entstehungsdatum für diese vorab komponierten Nummern »frühestens im Mai 1840« an. John Deathridge / Martin Geck / Egon Voss, Wagner-Werk-Verzeichnis, Mainz, London, New York u.a. 1986, S. 227. Werner Breig hat die frühesten Skizzen des Musikdramas untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass »die musikalische Erfindung der Ballade […] nicht aus einem Zentrum, sondern von verschiedenen Punkten der Peripherie« komme. »Die Ballade differenziert nicht eine einheitliche Grundvorstellung, sondern koordiniert Heterogenes.« Werner Breig, Das »verdichtete Bild des ganzen Dramas«. Die Ursprünge von Wagners »Holländer«-Musik und die Senta-Ballade. In: Festschrift Heinz Becker, hg. von Jürgen Schläder / Reinhold Quandt, Laaber 1982, S. 162–178, hier S. 164.

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mit Worten zu deuten. »Wie aus der Ferne längst vergangener Zeiten / spricht dieses Mädchens Bild zu mir«. Da sich die Forschung zu oft auf die in diesem Duett ausgebreitete Erlösungs-Ideologie konzentrierte,136 übersah sie den zentralen Gedanken, der dem Gesang des Holländers und Sentas zugrunde liegt: Der Erkenntnisakt wird hier als ein hermeneutisches Problem inszeniert, die Bilder sollen zum Sprechen gebracht werden. »Versank ich jetzt in wunderbares Träumen, / was ich erblicke, ist es Wahn?« (37) Die Frageform macht deutlich, dass es Senta nicht gelingt, das, was sie sieht, eindeutig zu interpretieren. Ihr Blick geht tiefer als ihre Worte. »Wie ich ihn oft gesehn, so steht er hier. / Die Schmerzen, die in meinem Busen brennen, / ach! Dies Verlangen, wie soll ich es nennen?« (38) Sentas Unvermögen, ihr unbewusstes Wissen in Sprache zu fassen, ist einer der Gründe für das tragische Ende dieses Musikdramas. Als der Holländer, weil er sich von Sentas Treueversprechen an Erik verraten fühlt, den Entschluss zur Flucht fasst, erzählt er ihr noch einmal seine Geschichte. »Wohl kenn’ ich dich! Wohl kenn’ ich dein Geschick!«, antwortet Senta, »Ich kannte dich, als ich zuerst dich sah!« (54) Doch der Holländer verlangt die Anerkennung seiner Geschichte und seines Namens: »Du kennst mich nicht, – du ahnst nicht, wer ich bin!« (55) Zwei verschiedene Erkenntnismodelle stoßen in dieser Szene aufeinander: Obwohl Senta die Geschichte des Holländers ganz genau kennt – sie hat sie in der Ballade selbst gesungen –, ist die Anerkennung des anderen für sie letztlich nur durch den Blick möglich. Anders der Holländer, der auf die begriffliche Fixierung dieser Anerkennung besteht. Doch es gelingt den Liebenden in diesem Musikdrama nicht, ihre Gefühle zu versprachlichen und sie in eine gemeinsame Geschichte zu überführen. Stattdessen ›erlöst‹ Senta den Holländer, indem sie ihn auf die primäre Ebene der Imagination zurückführt. Im abschließenden Nebentext der Partitur entwirft Wagner ein Tableau, das den höheren Blick der christlichen Heiligen zitiert. Auf einem Felsriff erblickt man den Holländer, kniend vor Senta, beide in verklärter Gestalt. Eine blendende Glorie erleuchtet die Gruppe im Hintergrunde; Senta erhebt den Holländer, drückt ihn an ihre Brust, und deutet mit der einen Hand, wie mit ihrem Blicke, himmelwärts. Das leise immer höher gerückte Felsenriff nimmt unmerklich die Gestalt einer Wolke an.137 (56)

Eine regressive Lösung des dramatischen Konfliktes, die die Frage nach der Versprachlichung des Blicks nicht beantwortet, sondern unterdrückt.138

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Vgl. hierzu Kienzle, Liebe, Schlaf und Tod, S. 340–343. Dieser Nebentext stammt nicht aus der Urfassung von 1841, sondern wurde von Wagner später eingefügt. In der Urfassung heißt es lediglich: »Der Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt, entsteigen dem Meere; er hält sie umschlungen.« (SW 4/II, S. 261). Es geht an der zutiefst ambivalenten Konzeption dieser Schluss-Szene vorbei, wenn man das Tableau als einen Verweis auf die »traditionelle, christliche Jenseitsvorstellung« deutet, wie sie »im Kontext des Dramas in den Bildern von Fluch und Erlösung, Engel und

4.3.2. Die Versprachlichung des Blicks bei Schelling, Carus und Hoffmann Der fliegende Holländer offenbart die psychologische Dimension des prekären Übergangs von der Anschauung in den Begriff, ein Übergang, den die Zürcher Kunstschriften später unter mythologischen und gattungstheoretischen Gesichtspunkten behandeln werden. Abermals stößt man im Werk Wagners auf die enge Verbindung von Anthropologie und Ästhetik: Ebenso wie das Kunstprodukt konstituiert sich auch das Subjekt im Wechselspiel von unbewusstem Gefühl, Bild und Begriff. Bevor die Frage beantwortet wird, wie die folgenden Musikdramen die Transgression des unmittelbaren Liebesblicks in seine sprachliche Vermittlung in Szene setzen, soll auf den kulturgeschichtlichen Hintergrund dieses Zusammenhangs eingegangen werden. In der Einleitung zu Die Weltalter (1811) beschäftigt sich F. W. J. Schelling aus einer philosophischen Perspektive mit dem Verhältnis von Blick und Reflexion, Intuition und Diskursivität. Dabei betont er zunächst das außergewöhnliche Erkenntnispotential, das im unmittelbaren »Schauen« liege: Durch dieses, so Schelling, vermöge der Mensch »alle Zweyheit in sich aufzuheben« und könne so »gleichsam nur innerlich sehen und ganz im Ueberweltlichen leben«.139 Aber mit diesem ekstatischen Zustand der Verzückung ist der Erkenntnisprozess für Schelling keineswegs abgeschlossen. Im Gegenteil: Er setzt nun erst ein. Wir leben nicht im Schauen; unser Wissen ist Stückwerk, d.h. es muß stückweis, nach Abtheilungen und Abstufungen erzeugt werden, welches nicht ohne alle Reflexion geschehen kann. Daher wird auch der Zweck im bloßen Schauen nicht erreicht. Denn im Schauen an und für sich ist kein Verstand.

Dieses Urteil veranschaulicht Schelling mit einem Beispiel. »Ein jedes Ding durchläuft, um zu seiner Vollendung zu gelangen, gewisse Momente: eine Reihe aufeinander folgender Prozesse«. Das gelte auch für den »Verlauf in der Pflanze«, den »der Bauer so gut als der Gelehrte« sehe, ihn aber doch nicht kenne, »weil er die Momente nicht auseinanderhalten, nicht gesondert, nicht in ihrer wechselseitigen Entgegensetzung betrachten kann.« Ebenso ergehe es dem Menschen, er könne jene Folge von Prozessen, wodurch aus der höchsten Einfalt des Wesens zuletzt die unendliche Mannigfaltigkeit erzeugt wird, in sich durchlaufen und unmittelbar gleichsam erfahren, ja, genau zu reden, muß er sie in sich selbst erfahren. Aber alles Erfahren, Fühlen, Schauen ist an und für sich stumm und bedarf eines vermittelnden Organs, um zum Aussprechen zu gelangen. Fehlt dieses dem Schauenden oder stößt er es absichtlich von sich, um unmittelbar aus dem Schauen zu reden, so verliert er das ihm nothwendige Maß, er ist Eins mit dem Gegenstand und für jeden dritten wie der Gegenstand selber; ebendarum nicht Meister seiner Gedanken […].

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Teufel, Verdammnis und Himmelfahrt« angedeutet sei (Kienzle, Liebe, Schlaf und Tod, S. 343). Schelling, Die Weltalter, S. 6.

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Daraus schließt Schelling, dass dem Prinzip des nach innen gewendeten Schauens ein »äußere[s] Princip« an die Seite gestellt werden müsse: »Denn es muß alles erst zur wirklichen Reflexion gebracht werden, damit es zur höchsten Darstellung gelangen könne.« 140 1846, drei Jahre nach der Uraufführung des Holländers in Dresden, veröffentlicht der Leibarzt des sächsischen Königs Carl Gustav Carus sein Buch Psyche. Darin folgt er dem Schellingschen Diktum, dass wir nicht beim bloßen Schauen stehenbleiben können, sondern von ihm ausgehend einen Prozess der Erkenntnis durchlaufen müssen. Allerdings wird bei ihm die psychologische Dimension dieses Gedankens deutlich, denn er projiziert den Dualismus von Anschauung und Verstand auf das dipsychische Seelenmodell von Unbewusstem und Bewusstem. Carus unterscheidet zwischen der »Idee – das Bild des Seins vor allem Dasein – den Gottesgedanken – das Urbild – als solches das ewig sich selbst gleiche, zeit- und raumlose« und der »Substanz, […] das ewig Bewegliche und wirklich Bewegte, das Zeit und Raum durch diese Bewegung Bedingende«.141 Doch damit stellt sich auch ihm das Problem aller platonischen Philosophie: wie nämlich die Einheit und Zeitlosigkeit der Idee mit der offenbaren Vielgestaltigkeit und Vergänglichkeit des Daseins in Einklang gebracht werden kann. Diese Frage wird zu einer Frage an die Psychologie: Was ist am Unbewussten ewig und was vergänglich? Carus geht davon aus, dass das Urbild von »der unbewußten Werdelust einer göttlichen Idee«142 erfasst ist und sich in der Seele gleichsam zu »entfalten« versucht. Doch wie kann es das, ohne seinen absoluten Wahrheitsgehalt zu verlieren? Carus findet einen Ausweg aus diesem Dilemma, indem er die Entfaltung der Idee als eine Produktion von Abbildern versteht, wobei das Urbild nicht in jedem dieser Abbilder als ein und dasselbe erscheint. Die »Entwicklung der Seele zum Geiste« geschehe nur »allmählig, und in Maßgabe reicher sich anhäufender Vorstellungen, und mittels deren Vergleichung und Beurtheilung am Prüfstein der Energie der eingebornen Idee.«143 Bewusstwerdung ist also eine Folge von Bildern und damit vom Begriff der Geschichte nicht mehr weit entfernt. Man könne nicht davon ausgehen, so Carus, dass das »Vorübergehen noch so vieler Vorstellungen, Gefühle und Willensakte« das »Urbilde« nicht änderten und dieses wie »ein klarer Wasserspiegel« von den Bewegungen des Lebens unberührt bleibe.

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Ebd., S. 7. Carus, Psyche, S. 41. Carus hat die Nähe der Bilder zum Unbewussten auch in seinen Lebenserinnerungen reflektiert. Aus »frühester Zeit« seien immer nur »einzelne Bilder vorhanden«, heißt es darin. »Die allerfrühesten Erinnerungen« würden »nie einen Gedanken, sondern immer nur eine oder die andere Sinnesvorstellung, welche gleichsam daguerreotypisch besonders fest sich eingeprägt hatte, zutage fördern«. Zit. nach Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 3. Aufl., München 2006 [1999], S. 220. Carus, Psyche, S. 52. Ebd., S. 156.

»Die ganze Geschichte des zeitlichen Lebens, wenn sie nicht ein Resultat, ein gewisses Facit für die ewige Grundidee unseres Daseins enthielte, wenn jedes Leben nur wieder in sich erfolglos, in denselben Anfangspunkt zurückliefe, von welchem es ausgegangen, es entbehrte jedes vernünftigen Grundes«.144 Aus diesem Grund schreibt Carus zu Beginn seines Buches, dass wir zum Verständnis des »Unbewußten durch das Bewußtsein« nur finden können, wenn wir »in uns schauen und dazu gelangen – ich möchte sagen, unser Dasein geistig zu reconstruieren«.145 Indem Carus unmittelbare Anschauung und diskursive Rekonstruktion aufeinander zu beziehen versucht, verweist er auf eines der zentralen Probleme, das in der psychologischen und psychiatrischen Theoriebildung des 19. Jahrhunderts implizit verhandelt wurde: Wie verhalten sich Bild und Sprache zueinander, wenn Subjektivität als ein Prozess, als eine Bewusstwerdung des Unbewussten defi niert wird? Im Magnetismus fanden die somnambulen Patienten vor allem durch ihren höheren Blick Zugang zum Unbewussten. Wenn sie während ihres Tiefschlafes redeten, konnten sie sich nach ihrem Erwachen meist an nichts erinnern. Es blieb dem Arzt vorbehalten, dieses Wissen zu verbalisieren bzw. in Fallgeschichten aufzuschreiben. Dieser greife, so Jürgen Barkhoff, »während der Therapie direkt interpretierend in die symbolische Bildproduktion seiner Patientinnen ein.«146 Freuds Überwindung der Hypnose durch die Praxis der ›freien Assoziation‹ stellt deshalb auch einen mediologischen Umbruch dar: Der Weg zu den verborgenen Seiten der Seele führt nun vor allem über das Wort und nicht mehr über den Blick. Das heißt natürlich nicht, dass die Bilder aus Freuds Theorie ausgeschlossen sind. Im Gegenteil: Auch in seinem Modell des Seelenapparates werden sie den Tiefenschichten des Bewusstseins zugeordnet. In der Traumdeutung wird der Traum als eine dreifache Regression beschrieben: eine topische, eine zeitliche und eine formale. Er führt den Träumer vom Bewussten ins Unbewusste, von der Gegenwart in die Kindheit und von der Sprache in bildliche und symbolische Repräsentationen.147 Aber in der Psychoanalyse Freuds sollte der Patient anders als im Magnetismus am sprachlichen Deutungsprozess dieser inneren Bilder Anteil haben. Dennoch wäre es verfehlt, Freud als den Zielpunkt der Psychiatriegeschichte zu verstehen und in seinen Vorläufern nichts als unreflektiert arbeitende Wunder-

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Ebd., S. 228. Ebd., S. 3f. Jürgen Barkhoff, Inszenierung – Narration – his story. Zur Wissenspoetik im Mesmerismus und in E.T.A. Hoffmanns »Das Sanctus«. In: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hg. von Gerhard Neumann / Gabriele Brandstetter, Würzburg 2004, S. 91–122, hier S. 106. Gerhard Neumann und Günter Oesterle heben hervor, dass die »medizinischen Kuren« der romantischen Epoche »zugleich Hermeneutiken und Leseregeln für Buchstaben« enthielten, sie waren »visuelle, imaginäre Befunde«. Neumann / Oesterle (Hgg.), Bild und Schrift in der Romantik, S. 10f. Freud, Studienausgabe, Bd. 2, S. 524.

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heiler zu sehen. Der Magnetismus bot zu seiner Zeit eine innovative Methode, da er auf die veränderten Wahrnehmungsbedingungen der frühen Moderne reagierte. Er erfand ein neues Verfahren »der physischen wie der psychischen Sondierung und Auskultation«,148 in dem die Mediengrenzen, die die Aufklärung etabliert hatte, durch die potenzierte Wahrnehmungsleistung der Somnambulen überschritten wurden. Daraus entstand auch eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Blick und Wort. Die Autoren der Romantik wurden von diesen medizinischen und mediologischen Inventionen des Magnetismus inspiriert. Beispielhaft ist hier das Werk des multimedialen Künstlers par excellence, E.T.A. Hoffmann, der sich in seinen Erzähltexten intensiv mit dem Verhältnis von Bildlichkeit und Narration beschäftigte. Bereits in seiner frühen Novelle Don Juan findet der diesem Verhältnis zugrunde liegende hermeneutische Konflikt einer Versprachlichung des Unbewussten literarischen Ausdruck.149 In der Szene, in der der Erzähler plötzlich auf die geheimnisvolle Donna Anna trifft, können »keine Worte« sein Erstaunen ausdrücken: »Ganz sprachlos starrte ich sie an«. Das Verstummen wird hier, genau wie bei Wagner, von einer Intensivierung des Blicks begleitet; auch Donna Anna richtet »den durchdringenden Blick ihres seelenvollen Auges« auf den Erzähler. Dieser fühlt »die Notwendigkeit, sie anzureden, und konnte doch die, durch das Erstaunen, ja ich möchte sagen, wie durch den Schreck gelähmte Zunge nicht bewegen.« Schließlich entfährt ihm, »beinahe unwillkürlich«, die Frage: »Wie ist es möglich, Sie hier zu sehen?« (SäW 2/1, 87) Donna Anna antwortet ihm auf »Toskanisch«, das hier als Rätselsprache des Unbewussten fungiert: Wie Gesang lauteten die süßen Worte. Im Sprechen erhöhte sich der Ausdruck des dunkelblauen Auges, und jeder daraus leuchtende Blitz goß einen Glutstrom in mein Inneres […]: so geriet ich auch in der Nähe des wunderbaren Weibes in eine Art Somnambulism, in dem ich die geheimen Beziehungen erkannte, die mich so innig mit ihr verbanden […] (87f.).

Die Pointe dieser Szene ist, dass der Erzähler das potenzierte Sensorium des Unbewussten nicht in die Sprache des Bewusstseins zu übersetzen vermag: »allein, indem ich das, was sie sagte, deutsch hinschreiben will, finde ich jedes Wort steif und matt, jede Phrase ungelenk« (88). Hoffmann hat dieses Problem in verschiedenen Versuchsanordnungen durchgespielt. Eines seiner beliebtesten Motive ist die junge Sängerin, die das romantische Thema des Zeichentransfers vom Unbewussten ins Bewusstsein gleichsam inkarniert.150 So verbietet der Rat Krespel in der gleichnamigen Erzählung seiner

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Neumann / Oesterle (Hgg.), Bild und Schrift in der Romantik, S. 10. Es ist anzunehmen, dass Wagner die Novelle bereits in seiner Jugend kennengelernt hat. Außerdem erwähnt Cosima die Lektüre des Don Juan in ihren Tagebüchern (26. September 1870, CT I, 291). Vgl. hierzu auch die Interpretation der Erzählung Das Sanctus in 5.3.

mit einer außergewöhnlichen Stimme begabten Tochter Antonie das Singen, weil er um ihre Gesundheit fürchtet. Sie schweigt, als der Erzähler ihr das erste Mal begegnet. Dennoch versucht dieser ihren Gesang zu wecken, indem er auf dem Klavier ein Lied zu intonieren beginnt. »Da glühten Antonien’s Wangen, Himmelsglanz blitzte aus den neubeseelten Augen, sie sprang an das Pianoforte – sie öffnete die Lippen – Aber in demselben Augenlick drängte sie Krespel fort« (SäW 4, 50). Antonie ist es weder erlaubt zu singen noch sich zu verlieben. Der junge Mann B., der um sie wirbt und sie zum Singen bringt, wird von Krespel aus dem Haus gejagt. So bleibt Antonie stumm und zugleich an ihre Beziehung mit dem Vater gebunden. Dass der tragische Schluss der Erzählung den Tod der Tochter als ein Traumbild des Vaters inszeniert, ist deshalb kein Zufall. Krespel vermeint eines Nachts B. Klavier spielen zu hören, wobei Antonie »in leisen hingehauchten Tönen« zu singen beginnt, »die immer steigend und steigend zum schmetternden Fortissimo« werden. Krespel, dem diese Szene »entsetzliche Angst«, aber auch nie gefühlte »Wonne« einflößt, bleibt fasziniert in seinem Bett liegen, unfähig, sich zu bewegen. Plötzlich umgab ihn eine blendende Klarheit, und in derselben erblickte er B… und Antonien, die sich umschlungen hielten, und sich voll seligem Entzücken anschauten. Die Töne des Liedes und des begleitenden Pianofortes dauerten fort, ohne daß Antonie sichtbar sang oder B… das Fortepiano berührte. Der Rat fiel nun in eine Art dumpfer Ohnmacht, in der das Bild mit den Tönen versank. Als er erwachte, war ihm noch jene fürchterliche Angst aus dem Traume geblieben. Er sprang in Antoniens Zimmer. Sie lag mit geschlossenen Augen, mit holdselig lächelndem Blick, die Hände fromm gefaltet, auf dem Sopha, als schliefe sie, als träume sie von Himmelswonne und Freudigkeit. Sie war aber tot. (63f.)

In dieser Szene lässt sich unschwer das Vorbild für das Schlusstableau des Holländers erkennen. Während dort »blendende Glorie« (H, 56) das Bild erhellt, ist es in der Vision Krespels »blendende Klarheit«. Beide Male halten sich die Liebenden umschlungen, wobei Antonie und Senta die verklärten Züge einer Heiligen annehmen.151 Das intermediale Gefüge aus Bild und Ton, in das Krespels Traum eingelegt ist, wird bei Wagner musikdramatische Realität. Entscheidend ist dabei, dass in beiden Szenen die Sprache ausgeschlossen ist – das Lied dauert fort, ohne dass Antonie ihre Lippen bewegt. Der vermeintlich erlösende Schluss erscheint somit als tödliche Regression ins Unbewusste. Es kann gar nicht oft genug betont werden, wie genau Wagner Hoffmann gelesen hat. Es finden sich auch Prosatexte im Werk Hoffmanns, in denen der Konflikt zwischen dem Bild und seiner narrativen Deutung in Bezug auf die Kunstproduktion

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Im Textbuch schreibt Wagner wörtlich: »Er hält sie umschlungen.« (H, 56) Belegt ist, dass Wagner und Cosima Hoffmanns Erzählung am 27. September 1874 »mit großer Rührung« lesen (CT I, 854). Allerdings kann man davon ausgehen, dass Wagner bereits aus seiner Jugend mit ihr vertraut war – schließlich ist sie in seiner damaligen Lieblingslektüre, den Serapionsbrüdern, enthalten.

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reflektiert wird.152 Bestes Beispiel hierfür sind die Erzählungen Die Jesuiterkirche in G., Meister Martin der Küfner, Die Fermate sowie Doge und Dogaresse. Obwohl eine vergleichende Analyse dieser Texte aufschlussreich wäre,153 konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf letztgenannten, weil in ihm Hoffmanns poetologisches Konzept exemplarisch zum Ausdruck kommt. »Doge und Dogaresse« ist der Titel eines Gemäldes des Malers Carl Wilhelm Kolbe, das im September 1816 in der Berliner Akademie der Künste ausgestellt wurde und damals zahlreiche Zuschauer anzog. Zu Beginn des Textes wird das Gemälde ausführlich beschrieben: Es zeigt einen Dogen und eine »reich geschmückte« Dogaresse an einer Balustrade, zu der seitlich »ein junger Mensch in ein muschelförmig gewundenes Horn« stößt. Im Hintergrund sieht man das »mit hundert und aber hundert Segeln bedeckte Meer« und die »Türme und Paläste des prächtigen Venedig«. In den Goldrahmen des Bildes eingeschnitzt sind italienische Verse, die von der Vergeblichkeit der Liebe zeugen: »Ah senza amare / Andare sul mare / Col sposo del mare / Non puo consolare.«154 (SäW 4, 429) Hoffmann lässt die Gäste der Ausstellung rätseln, was der Maler habe darstellen wollen: »Nur ein Bild«, also die »augenblickliche Situation eines alten abgelebten Mannes«, wie sie sich in den Versen andeutet, oder »eine wirkliche geschichtliche Begebenheit«? (430) Einer der Zuschauer glaubt, dass man sich »mit dem ewigen Deuteln und Deuteln« nur »allen Genuß« verderbe. Da er auch ohne eine explizite Erklärung zu ahnen glaubt, was es mit dem Dogen und der Dogaressa »für eine Bewandtnis hat im Leben«, ergreife ihn »der Schimmer des Reichtums und der 152

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Das Verhältnis von Bildlichkeit und Narration bei E.T.A. Hoffmann ist gut erforscht. So setzt sich Monika Schmitz-Emans in ihrer umfassend angelegten Studie über Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare in einem eigenen Kapitel mit E.T.A Hoffmann auseinander. Vgl. Monika Schmitz-Emans, Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 193–218. Ausschließlich mit dem Verhältnis von Sprache und Bild bei E.T.A. Hoffmann setzt sich die folgende Dissertation auseinander: Melanie Klier, Kunstsehen. Literarische Konstruktion und Reflexion von Gemälden in E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüdern mit Blick auf die Prosa Georg Heyms, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, u.a. 2002. Zu der Novelle Doge und Dogaresse vgl. den Aufsatz von G. Neumann, Narration und Bildlichkeit. Dennoch sei kurz angedeutet, inwieweit sich die genannten Erzählungen mit dem Verhältnis von Bildlichkeit und Narration auseinandersetzen. In Die Jesuiterkirche in G. steht das unvollendete Gemälde des Malers Berthold im Zentrum, das eng mit dessen Lebensgeschichte verwoben ist. Die Erzählung Meister Martin der Küfner hat, wie der Serapionsbruder Lothar am Schluss verrät, ihren Ursprung ebenfalls in einem realen Bild des Malers Kolbe. Nicht umsonst betont der Erzähler zu Beginn, dass die Geschichte des Meister Martin ein Bild des »tüchtigen Bürgerlebens« sei (SäW 4, 503). In Die Fermate wird dieser bildliche Ursprung der Narration explizit genannt. Das reale Bild des Malers Hummel weckt Theodors Erinnerungen an seine »Jugendzeit« (73). In der deutschen Übersetzung, die Hoffmann den Versen nachstellt: »Ach! gebricht der Liebe Leben, / Kann auf hohem Meer zu schweben / Mit dem Gatten selbst des Meeres / Doch nicht Trost dem Herzen geben.« (430).

Macht«, die das Bild verströme (ebd.). Dieser Position, die die Versprachlichung der Anschauung ablehnt, wird nun aber eine hermeneutische Alternative entgegengestellt. Ein Fremder, der unbemerkt hinzutritt und das Bild »mit funkelnden Augen« betrachtet, versucht die Frage nach dem Widerspruch von augenblicklicher Situation und historischer Begebenheit wie folgt zu lösen: Es ist ein eignes Geheimnis, daß in dem Gemüt des Künstlers oft ein Bild aufgeht, dessen Gestalten, zuvor unkennbare körperlose im leeren Luftraum treibende Nebel, eben in dem Gemüte des Künstlers erst sich zum Leben formen und ihre Heimat zu finden scheinen. Und plötzlich verknüpft sich das Bild mit der Vergangenheit oder auch wohl mit der Zukunft, und stellt nur dar, was wirklich geschah oder geschehen wird. (430f.)

Was Hoffmann in diesem Zitat zu fassen versucht, ist die unauflösliche Verbindung von Blick und Wort, von Bildlichkeit und Erzählung. Jedes sichtbare Bild, so könnte man sagen, trägt in sich eine unsichtbare Geschichte, die sich mit dem Gesehenen »verknüpft« und es dem Zuschauer so zu deuten vermag.155 Dies ist genau dieselbe Konstellation, die Richard Wagner für die Entstehung des Holländers veranschlagte: Das unwillkürlich empfangene Bild, von dem ausgehend sich ein »Gewebe« über die Komposition ausbreitet. Bei Hoffmann ist es der Fremde, der den Betrachtern des Gemäldes diese »Erklärung des Bildes« gibt und die nun folgende Geschichte erzählt. »Ich werde sehr umständlich sein, denn anders mag ich nicht von Dingen reden, die mir so lebendig vor Augen stehen, als habe ich sie selbst erschaut.« Denn: »Jeder Historiker, wie ich nun einmal einer bin, ist ja eine Art redendes Gespenst aus der Vorzeit.«156 (431)

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Dies wurde in der Forschung wiederholt herausgestellt. Monika Schmitz-Emans betont, dass für Hoffmann die sichtbaren Bilder immer auf dahinter liegende unsichtbare Bilder verweisen. Diese müssten im »Medium der Erzählung« interpretiert werden. Eben dies sei der Kern des ›serapiontischen Prinzips‹. Als Beispiel nennt Schmitz-Emans auch die Erzählung Doge und Dogaresse. Vgl. Schmitz-Emans, Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare, S. 205f. In diesem Sinne deutet auch Gerhard Neumanns im selben Jahr erschienene Interpretation die Poetologie dieser Erzählung: Sie sei die »Inszenierung der Geburt eines literarischen Textes aus dem Konflikt zwischen Bild und Schrift, zwischen Sehen und Erzählen, zwischen Historie und Poesie.« Hoffmann lasse Wirklichkeit »aus der Spannung zwischen der Sichtbarkeit des Bildes und dem zu Gehör gelangenden Erzählakt, der das Verborgene ans Licht holt«, hervortreten (G. Neumann, Narration und Bildlichkeit, S. 113). Dies sei die Konstellation, auf die es beim serapiontischen Erzählen eigentlich ankomme: Auf der einen Seite das Gemälde, das »das Sichtbar-Reale« in einem »unbewußten Akt der Nach-Schöpfung« abbilde und in dem das Historische zu einem Augen-Blick gerinne. Auf der anderen Seite der »Erzählakt, der ein Geschehen, einen Lebens-Prozeß, ein Schicksals-Muster aus dem Bild gleichsam herauswindet, ihm Vergangenheit und Zukunft gibt« (ebd., S. 120). Die ausführlichste Beschäftigung mit der Novelle Doge und Dogaresse findet sich bei Klier, Kunstsehen, S. 53–111. In den Lebensansichten des Katers Murr wird diese Poetik durch jenes Bildnis symbolisiert, das, wenn man einen »stählernen Knopf an dem Rande drückt«, nicht nur ein weiteres Bild, sondern auch »ein Paar Blättchen« herausfallen lässt, die Kreisler das Bild und den mit ihm zusammenhängenden Mord zu deuten vermögen (SäW 5, 454).

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Gerhard Neumann hat in seiner Interpretation der Novelle darauf hingewiesen, dass es eigentlich zwei Geschichten seien, die erzählt würden. Zum einen die offenbare, politische Geschichte Venedigs, »zum anderen eine ›geheime‹ Geschichte, die unter der Oberfläche des Bildes verborgen zu sein scheint und erst im Erzählakt mühsam und stoßweise zu Tage kommt – durch Sonden des Erinnerns gewissermaßen, die in das dunkle Feld des Vergessenen und des Unbewußten hineingetrieben werden.«157 Es ist dies eben jene Geschichte, dessen anamnetischer Struktur sich das fünfte Kapitel dieser Arbeit ausführlich widmen wird: Sie rekonstruiert das Leben des jungen Mannes Antonio, dessen Schicksal eng mit der auf dem Bild dargestellten Situation verwoben ist. Nicht nur, weil seine Kindheitsliebe Annunziata die Dogaresse ist, die auf Kolbes Bild porträtiert wird. Auch der Augenblick, den das Bild exponiert, kehrt in der Erzählung wieder. Eines Abends gelingt es Antonio, als verkleideter Schiffer Zugang zu der Gondel zu finden, auf der der Doge jeden Abend mit der Dogaresse zu seinem Privathaus fährt. Hier entspinnt sich eine Szene, die vor allem wegen ihres intermedialen Gefüges von Bedeutung ist. Während der Doge Falieri seiner jungen Gattin in prächtigen Worten von der Geschichte Venedigs erzählt, ist diese völlig geistesabwesend. Plötzlich fängt »eine ferne Musik zu säuseln an«, es sind die Töne jener Verse, die in den Rahmen von Kolbes Bild eingeschnitzt sind: »Ah! senza amare…« Achtete nun der alte Falieri aber nicht auf jenen Gesang, so ging dafür seine Erzählung ganz verloren der Dogaressa. Die saß da, den Sinn ganz zugewendet den süßen Tönen, die über das Meer schwammen; sie starrte als der Gesang geendet, mit seltsamen Blick vor sich hin, wie jemand der aus tiefem Traum erwacht, die Bilder noch zu schauen, zu deuten strebt, die ihn umgaukelten. – Senza amare – senza amare – non pùo consolare lispelte sie leise und Tränen glänzten wie helle Perlen in den Himmelsaugen […] (474f.).

In diesem Zustand wird sie von Falieri auf die Balustrade geführt, doch dieser merkt nicht, wie Annunziata »sprachlos, den tränenschweren Blick in ein fernes Land gerichtet«, neben ihm steht. Genau in diesem Moment stößt »ein junger Mensch in Schifferkleidung« in ein muschelartiges Horn, so »daß die Töne weit über das Meer hin hallten.« (475) E.T.A. Hoffmann entwirft in diesem Tableau die Wagnersche Urszene schlechthin, wie sie nicht nur im Ring des Nibelungen, Tristan und Isolde und den Meistersin-

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G. Neumann, Narration und Bildlichkeit, S. 113f. Aleida Assmann, die das Verhältnis von Bild und Schrift in den Gedächtnistheorien der europäischen Kulturgeschichte untersucht hat, spricht von der »Inkommensurabilität der beiden Medien, die sich in wechselseitiger Unübersetzbarkeit verbunden mit dem unverminderten Anspruch auf wechselseitige Übersetzung ausprägt. […] Diese Struktur der Doppel- und Intermedialität ist nicht zuletzt auch verantwortlich für die Komplexität und Produktivität des individuellen wie kulturellen Gedächtnisses, das sich beständig zwischen Schichten des Bewußten und des Unbewußten bewegt.« Das »physiologische Substrat« dieser doppelten Struktur sei die Einteilung des Gehirns in eine sprach- und eine bildverarbeitende Gehirnhälfte. Assmann, Erinnerungsräume, S. 220.

gern zum Tragen kommt: Eine triadische Konstellation aus väterlichem Herrscher, seiner jungen, unglücklichen Frau und ihrem Geliebten.158 Denn wir sehen nicht nur den Dogen und die Dogaresse, sondern auch einen Schiffsjungen – als solcher hatte sich Antonio ja zu Beginn der Szene verkleidet. Diese figurale Anordnung ist in eine semiotische Konfiguration eingelegt, in der Blick und Musik dem Wort vorgeordnet werden: Die Frau ist stumm, ihr traumverlorener Blick richtet sich in ein Land fernab der Realität. Der Geschichte des patriarchalen Kollektivs schenkt sie kein Gehör und lauscht stattdessen der Musik, die der über die Meereswellen gleitende Gesang und das Horn des Schiffsjungen repräsentieren. Entscheidend ist nun aber, dass Annunziata, wie Hoffmann schreibt, die Bilder ihres Traumes nicht nur »zu schauen«, sondern auch »zu deuten« bestrebt ist. Kolbes Gemälde stellt kein fertiges Wissen, sondern den Versuch eines Erkenntnisaktes dar. Annunziata ist »von seltsamen dunklen Gefühlen im Inneren aufgeregt« (475), die sie nur in Bilder und Musik, aber nicht in Worte fassen kann. Dies übernimmt der eigenartige Historiker, der den Besuchern der Ausstellung die Bedeutung des Bildes erklärt, indem er es erzählt. Dadurch ermöglicht er nicht nur seinen Zuhörern, sondern auch dem Leser der Novelle, was Annunziata in dieser Situation verwehrt bleibt: Das Bild am Ende mit anderen Augen zu sehen. Als die Kunstfreunde es abschließend betrachten, geht ihnen seine »tiefere Bedeutung« auf. »Alle Wehmut der Liebesgeschichte Antonio’s und Annunziata’s kehrte, so oft sie das Bild auch noch anblicken mochten, wieder und erfüllte ihr innerstes Gemüt mit süßen Schauern.« (482) Das Unsichtbare, das im Bild verborgen liegt, wird durch die Erzählung ans Tageslicht befördert und verändert so den Blick des Betrachters.159 Diese Idee wird nicht nur in Doge und Dogaresse, sondern auch in Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels deutlich. Als der Prior dem Mönch Medardus die Lebensgeschichte seines Stammvaters Francesko überreicht, weist er ihn darauf hin, dass diese auch »verschiedene Zeichnungen« enthalte. Medardus schlägt sie auf und ihm fallen als erstes die zu Beginn des Romans beschriebenen Urbilder seiner Kindheit in die Augen, nämlich die in Umrissen angedeuteten und dann in Licht und Schatten ausgeführten Zeichnungen der Fresko-Gemälde in der heiligen Linde. Nicht das mindeste Erstaunen, nicht die mindeste Begierde, schnell das Rätsel zu lösen, regte sich in mir auf. Nein! – es gab kein Rätsel für mich, längst wußte ich ja Alles, was in diesem Malerbuch aufbewahrt

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Während dieses ödipale Dreieck in den Konstellationen Marke-Isolde-Tristan, SachsEva-Walther, Hunding-Sieglinde-Siegmund und Wotan-Brünnhilde-Siegfried offensichtlich wird, gibt es gute Gründe, es auch auf andere Werke Wagners zu übertragen. Etwa auf die Figurentrios Daland-Senta-Holländer, Wolfram-Elisabeth-Tannhäuser sowie Klingsor-Kundry-Parsifal. Es findet, wie auch Gerhard Neumann betont, eine Metamorphose statt, eine »Verwandlung der Sichtbarkeit des Bildes von Doge und Dogaresse durch jene gleichsam aus dem Unsichtbaren erklingende Geschichte, die durch das Erzählen des dämonischen Fremden in sie hineingewebt wurde«. G. Neumann, Narration und Bildlichkeit, S. 120.

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worden. Das, was der Maler auf den letzten Seiten des Buchs in kleiner, kaum lesbarer bunt gefärbter Schrift zusammen getragen hatte, waren meine Träume, meine Ahnungen, nur deutlich, in bestimmten scharfen Zügen dargestellt, wie ich es niemals zu tun vermochte.160 (SäW 2/2, 273)

Diese Ästhetik der Verknüpfung von Bild und Geschichte hat zur Konsequenz, dass der romantische Autor sich als multimedialer Künstler betätigen muss. Darauf weist der Serapionsbruder Lothar hin, als er in seinem abschließenden Kommentar zu Doge und Dogaresse sagt, der Autor Ottmar habe es sich »sauer werden« lassen, »als er die Erzählung schrieb. Denn außerdem daß ihn das hübsche Bild unseres wackern Kolbe zu dem Ganzen begeistert, lag Le Bret’s Geschichte von Venedig immer aufgeschlagen auf dem Tische« (483) – als Dichter ist E.T.A. Hoffmann Maler und Historiker zugleich. 4.3.3. Die Deutung der Bilder: Vom Lohengrin zur Traumnovelle Aus der Frage, wie sich Subjektivität im Spannungsfeld verschiedener Wahrnehmungsmuster konstituiert, gewinnt Hoffmann eine innovative Ästhetik. In dieser Hinsicht war er zweifellos ein wichtiger Vorläufer Richard Wagners. Auch Wagner begreift den Blick als Ausgangspunkt einer narrativen Deutung, die das in der Anschauung verborgene, unsichtbare und unbewusste Wissen zu erschließen versucht. Es geht bei dieser Semiose in erster Linie um jene Rekonstruktion der Lebensgeschichte, an die die Entstehung von Subjektivität gebunden ist (s. Kap. 5). Das Verstehen des Ich erscheint bei Wagner als ein Versuch, die Urbilder des Unbewussten mit dem eigenen Schicksal narrativ verknüpfen zu können. Obwohl diese Versprachlichung des Liebesblicks in eine gemeinsame Erzählung im Holländer scheitert, greift Richard Wagner dieses Motiv in Lohengrin wieder auf. Auch in diesem Musikdrama basiert die Liebe zunächst auf Imagination: Lohengrin erscheint als Elsas Traumbild, das von ihr im ersten Akt wie folgt geschildert wird: »In lichter Waffen Scheine / ein Ritter nahte da, / so tugendlicher Reine / ich keinen noch ersah. / Ein golden Horn zu Hüften, / gelehnet auf sein Schwert, / so trat er aus den Lüften / zu mir, der Recke wert.« (L, 13) In genau dieser Haltung betritt Lohengrin kurz darauf die Bühne, »in silberner Waffenrüstung, […] ein kleines goldenes Horn zur Seite, auf sein Schwert gestützt.« Die Männer und Frauen sind von dieser Erscheinung so ergriffen, dass sie sie als »unerhörtes, nie geseh’nes Wunder!« bezeichnen (18). Dies stimmt exakt mit Wagners späteren Ausführungen in Oper und Drama überein, in denen das Wunder als verdichtetes

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Diese Verbindung von Bildlichkeit und Erzählung wird an anderen Stellen des Romans ebenfalls deutlich. So zeigt der Arzt dem Medardus das Bild von dessen Ahnen Francesko, in dem dieser seine eigenen Züge erkennt. Dann erzählt er Medardus die dazugehörige Geschichte, weil dieser darin ein »Geheimnis« erahnt, »in das ich selbst verflochten war« (SäW 2/2, 174).

Bild definiert wird (OuD, 219). Lohengrin, so kann man sagen, ist das statische Traumbild, das in die dynamische Welt der Geschichte gerät. Der Konflikt, der damit verbunden ist, tritt in der Szene der ›Hochzeitsnacht‹ des dritten Aufzuges offen zu Tage. Lohengrin und Elsa sind zum ersten Mal alleine und versuchen in dieser intimen Situation nun, ihre Liebe in Worte zu fassen. Er macht den Anfang: Wie hehr erkenn’ ich unser Liebe Wesen! / Die nie sich sahn, wir hatten uns geahnt: / war ich zu deinem Streiter auserlesen, / hat Liebe mir zu dir den Weg gebahnt. / Dein Auge sagte mir dich rein von Schuld, / mich zwang dein Blick zu dienen deiner Huld.

Worauf Elsa antwortet: Doch ich zuvor schon hatte dich gesehn, / in sel’gem Traume warst du mir genaht: / als ich nun wachend dich sah vor mir stehn, / erkannt’ ich, daß du kamst auf Gottes Rat. / Da wollte ich vor deinem Blick zerfließen, / gleich einem Bach umwinden deinen Schritt, / als eine Blume, duftend auf der Wiesen, / wollt’ ich entzückt mich beugen deinem Tritt. / Ist dies nur Liebe? – Wie soll ich es nennen, / dies Wort, so unaussprechlich wonnevoll, / wie, ach! – dein Name, den ich nie darf kennen, / bei dem ich nie mein Höchstes nennen soll! (L, 59)

Genau wie der Holländer und Senta in ihrem Duett versuchen Lohengrin und Elsa das »Wesen« ihrer Liebe zu erkennen. Und auch sie stoßen dabei auf ein Deutungsproblem: Lohengrin begnügt sich mit der bloßen Anschauung, während Elsa mit der Unaussprechlichkeit ihrer Gefühle hadert. »Wie soll ich es nennen?« Diese Frage hatte bereits Senta gestellt, ihre Antwort aber nicht gesucht. Elsa geht einen Schritt weiter: Sie drängt darauf, Lohengrins Namen zu erfahren, den dieser nicht preisgeben will. Der entscheidende dramatische Konflikt dieser Szene ist also nicht der zwischen Sexualität und Keuschheit. Das Problem ist nicht, dass Lohengrin seiner engelsgleichen Gattin Elsa die Sinnlichkeit der Liebe verweigert.161 Im Gegenteil: Er will Elsa von der Frage nach seinem Namen abbringen, indem er sie in erotischen Worten zu verführen versucht: »Atmest du nicht mit mir die süßen Düfte? / O wie

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Diese These vertritt Egon Voss im Nachwort der hier verwendeten Ausgabe. Er deutet Elsas Bitte, Lohengrins Namen nur in der »Liebesstille« aussprechen zu dürfen (L, 60), als Hinweis auf ihren Wunsch, »das Frageverbot im Akt der Liebe aufzuheben« (106). Es scheint mir jedoch, als könnte man diese Szene auch umgekehrt lesen: Als den Versuch, das Moment der Reflexion gegenüber einer puren Sinnlichkeit zu bewahren. Allerdings ändert dies nichts an der Tatsache, dass der Konflikt zwischen Sexualität und Keuschheit in diesem Musikdrama von Bedeutung ist. Wie Voss zeigt, betrifft dieser in erster Linie Lohengrin, der sich, aus der ätherischen Sphäre des Grals kommend, nach irdischer Sinnlichkeit sehnt (104). Während der Hochzeitsnacht zieht er sich jedoch nicht »in die Keuschheit« zurück, wie Voss glaubt (106), sondern versucht Elsa in sinnlichen Worten dazu zu verführen, das Frageverbot nicht auszusprechen. Jedenfalls beweist die Brautgemachs-Szene eindrücklich, dass Versuche, den Begriff der Körperlichkeit als zentrales ästhetisches und anthropologisches Paradigma Wagners zu etablieren, zu kurz greifen. Diesen Versuch unternimmt Pegatzky, Das poröse Ich, S. 86–210.

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so hold berauschen sie den Sinn! / Geheimnisvoll sie nahen durch die Lüfte, – / fraglos geb’ ihrem Zauber ich mich hin.« Diese synästhetische Rede wird abermals durch den Vorrang des Blicks affirmiert: »Nicht brauchte deine Art ich zu erkunden, / dich sah mein Aug’, – mein Herz begriff dich da.« (60) Doch Elsa will sich mit bloßer, unmittelbarer Sinnlichkeit nicht begnügen. Sie, die die Bühne noch als traumtrunkene Somnambule betreten hat, will nun wissen, will Lohengrins Geschichte kennen.162 »Wär’ das Geheimnis so geartet, / das aller Welt verschweigt dein Mund?« […] O, wär’ es so, und dürft’ ich’s wissen, / dürft’ ich in meiner Macht es sehn«. Es ist bezeichnend, dass auch sie dabei auf die Metapher des Blicks rekurriert: »Laß dein Geheimnis mich erschauen, / daß, wer du bist, ich offen seh’!« (61) Es ist dies genau der Blick, mit dem E.T.A. Hoffmann in seinen Texten experimentierte: Er ermöglicht eine Anschauung, die durch die diskursive Vermittlung der ›unsichtbaren Geschichte‹ potenziert wird. Elsa interessiert sich für die Erzählung, die von dem Bild verborgen wird. Dieser Idee einer ›zweiten Aufklärung‹ steht Lohengrins Postulat reiner Sinnlichkeit entgegen – er will auf der ersten Stufe der reinen, vorbegrifflichen Anschauung stehenbleiben. Der Riss, der sich in diesem Musikdrama zwischen Glauben und Wissen auftut, läuft entlang der Medienund Geschlechtergrenzen. Er macht eine Vermittlung zwischen Blick und Begriff ebenso unmöglich wie die Vereinigung von Mann und Frau, die im Lohengrin nicht ohne Grund in der Hochzeitsnacht scheitert. Man sollte sich dabei jedoch, was Wagner betrifft, von der herkömmlichen Deutung verabschieden, die in der Unterdrückung der weiblichen Sexualität das größte Hindernis für die Emanzipation der Frau erblickt. Nicht Elsas erotisches Verlangen wird für Lohengrin zur Gefahr, sondern ihr Zweifel an der reinen Unmittelbarkeit des Gefühls. Sie fügt sich nicht wie Elisabeth und Senta in den stummen, verklärten Blick, der in Wagners romantischen Opern den Frauen vorbehalten ist, und wird genau dafür bestraft: »Ach, schweige, Elsa!« (61) Erst vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung lässt sich der erste Akt der Walküre verstehen. Dieser schildert einen Erkenntnisprozess, der durch optische Wahrnehmung gesteuert wird: Der Akt gleicht einem geschlossenen Drama, das durch den Blick strukturiert wird.163 Hundings Ausspruch »Wie gleicht er

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Zu Recht betont Ulrike Kienzle deshalb den emanzipatorischen Zug in Elsas Verhalten. Allerdings ist es fraglich, ob Kienzles Verweis auf Feuerbach wirklich schlüssig ist: »Indem sie ihre Devotion gegenüber dem Göttlichen überwindet, erfüllt Elsa gleichsam das Postulat Ludwig Feuerbachs, der Mensch habe sich aus seinem kindlichen Stand der religiösen Anbetung Gottes zu befreien und sich statt dessen dem lebendigen Menschen in freier, selbstbewußter Liebe zuzuwenden.« (Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 118) Dass aber Elsa in dieser Szene gerade die reine Sinnlichkeit überwinden will, deutet nicht unbedingt auf einen Einfluss Feuerbachs. Die dramaturgische Geschlossenheit des Akts macht eine solche Auslegung plausibel. Diese wurde von Egon Voss nachgewiesen (Voss, »Wagner und kein Ende«, S. 185–192). Der erste Akt der Walküre wirke wie eine »zweite Exposition«, so Voss. Auch werde alles, »was man für das Verständnis der unmittelbaren Vorgänge benötigt« (ebd., S. 188),

dem Weibe! / Der gleißende Wurm / glänzt auch ihm aus dem Auge« (W, 13) deutet bereits an, dass sich die gemeinsame Identität Siegmunds und Sieglindes in der Similarität ihrer Augen widerspiegelt.164 Deshalb verwundert es auch nicht, dass sie fortwährend versuchen, den anderen und damit auch sich selbst im Anblick des Geschwisters zu finden. Vor allem in den ersten zwei Szenen kommunizieren die Figuren hauptsächlich durch den Blick. Exponiert wird dieses Motiv, als Siegmund Sieglindes Wasser trinkt. Dabei »haftet sein Blick länger mit steigender Teilnahme an ihren Mienen« (W, 9). Kurz darauf trinken sie zusammen einen Trank, wobei sich beide »mit wachsender Ergriffenheit, eine Zeit lang stumm« anblicken (10). Doch obwohl auch für die Zwillinge der Walküre ihre Subjektivität zunächst an unmittelbare Anschauung gebunden ist, erschöpft sie sich nicht darin. Zwar erkennen sie sich, genau wie die Liebespaare der Vorgängerwerke, ›auf den ersten Blick‹: »Doch dich kannt’ ich / deutlich und klar: / als mein Auge dich sah, / warst du mein Eigen: / was im Busen ich barg, / was ich bin, / hell wie der Tag / taucht’ es mir auf« (28). Doch während Senta, Elisabeth und Lohengrin das Wesen des anderen durch die Unmittelbarkeit des Liebesblicks vollständig zu erfassen glauben, gelingt es Siegmund und Sieglinde, diesen in einer gemeinsamen Geschichte zu deuten. Eine entscheidende Rolle spielt dabei Sieglindes Erzählung von Wotans Auftritt während des Hochzeitsbanketts. In ihr steht der Blick Wotans im Zentrum: »Tief hing ihm der Hut, / der deckt’ ihm der Augen eines; / doch des anderen Strahl, / Angst schuf er allen, / traf die Männer / sein mächt’ges Dräu’n: / mir allein / weckte das Auge / süß sehnenden Harm, / Tränen und Trost zugleich.« (23f.) Dieser in der Erzählung gespeicherte Augen-Blick führt die Identitätsfindung Siegmund und Sieglindes an ihr Ende und lässt so die Vereinigung des Liebespaares, die in den vorhergehenden Musikdramen scheiterte, glücken: Deines Auges Glut / erglänzte mir schon: – / so blickte der Greis / grüßend auf mich, / als der Traurigen Trost er gab. / An dem kühnen Blick / erkannt’ ihn sein Kind – / schon wollt’ ich beim Namen ihn nennen – –

worauf Sieglinde kurz innehält und ihren Bruder fragt: »Wehwalt heiß’st du fürwahr? / […] Und Friedmund darfst du / froh dich nicht nennen?« Er antwortet:

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innerhalb der Handlung mitgeteilt. Der Bezug zur vorhergehenden Handlung sei den handelnden Personen nicht bewusst. Auch sei der erste Akt der Walküre der einzige im Ring, »der in einem völlig geschlossenen Innenraum« spiele (ebd., S. 191). Die Einheit dieses Aktes betont auch Theo Hirsbrunner, der zudem auf das Wechselspiel aus ›Sehen‹ und ›Benennen‹ eingeht. Allerdings fallen seine Einlassungen zu diesem Thema viel zu deskriptiv und textimmanent aus, das Bühnengeschehen wird mit keinem kulturellen oder geistesgeschichtlichen Kontext in Verbindung gebracht. Vgl. Theo Hirsbrunner, Sehen – hören – benennen. Zur Dramaturgie des ersten Walküre-Aktes. In: Die Musik als Medium von Beziehungsbefindlichkeiten. Mozarts und Wagners Musiktheater im aktuellen Deutungsgeschehen, hg. von Otto Kolleritsch, Graz 2002, S. 146–158. Die Idee eines gleißenden Wurmes als Charakterisierung des Auges entnahm Wagner dem »Wölundlied« der Älteren Edda. Vgl. Heldenlieder der Älteren Edda, S. 22.

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»Heiße mich du / wie du liebst daß ich heiße«. Es fällt schwer, diese Szene nicht als direkte Replik auf den Lohengrin zu lesen. Die begriffliche Vermittlung des unbestimmten Gefühls, die dort ausgeschlossen wurde, wird nun zum Höhepunkt der Liebe stilisiert. Die Geschwister wissen, wer ihr Vater war und schaffen sich so ihre Geschichte: »Dem so stolz / strahlte das Auge, / wie, Herrliche, her dir es strahlt, / der war – Wälse genannt.« (30f.) Dieser Umschlag vom Blick in den Begriff, vom unmittelbaren Liebes-Augenblick in die Reflexion der Erzählung, korreliert mit Wagners Reform des Musiktheaters. Es sei in diesem Zusammenhang an Carl Dahlhaus’ Unterscheidung zwischen den Kompositionstechniken von Oper und Musikdrama erinnert, die zwar etwas verkürzt ist, aber dennoch den Kern der Sache trifft: Musik in der Oper ist, grob und formelhaft gesprochen, affirmativ und an den Augenblick, die unmittelbare Gegenwart gebunden. Sie begründet und verknüpft nicht, sondern behauptet und setzt fest […]. Dagegen werden im Musikdrama, zu dessen konstitutiven Merkmalen die Leitmotivtechnik gehört, unablässig Fäden geknüpft und Zusammenhänge gestiftet. Alles, was geschieht, erinnert an Früheres, aus dem es hervorgeht oder mit dem es durch Analogie verbunden ist.165

Dieser Definition entspricht auf der Ebene der Handlung der Konflikt zwischen Intuition und Diskursivität, zwischen Blick und Erzählung. Es ist kein Zufall, dass Wagners Leitmotivtechnik erst im Ring des Nibelungen ausgereift ist, einem Werk, in dem die Unmittelbarkeit der Anschauung narrativ vermittelt wird. So können Inhalt und Form kongruieren: Auf der Bühne erzählen die Figuren, im Orchestergraben die Musik. Man kann an der kompositorischen Ausführung der beschriebenen Szenen sehr genau erkennen, wie die Musik nach und nach zum Akteur der Vermittlung wird. In der Brautgemach-Szene des Lohengrin wird zu Beginn noch die traditionelle Opernform zitiert (SW 7/III, T. 334–361). Wagner komponiert ein Duett mit den dazugehörigen Wortwiederholungen, einer klaren metrischen Struktur und einer stabilen Tonart (E-Dur). Danach ist es dann vor allem der Gesang Lohengrins, der arios gestaltet ist. Sein »Atmest du nicht mit mir die süßen Düfte« wird von stabilen Dreiklängen getragen, das Orchester fungiert, von wenigen melodischen Einwürfen abgesehen, als Begleitung der Gesangsstimme und entwickelt, anders als im Musikdrama, kein symphonisches Gewebe. Der Tonsatz ist in Viertaktgruppen eingeteilt, die in den Takten 459 und 475 mit einer klaren C-Dur-Kadenz abgeschlossen werden. Hier ist, wie Dahlhaus sagen würde, ein Behaupten und Festsetzen komponiert, das Lohengrins Lob des unmittelbaren Augen-Blicks affirmieren soll. Aus einem Brief, den Wagner während der Arbeit am Lohengrin im Mai 1846 an Hermann Franck schrieb, geht dieser Vorrang des Visuellen vor dem Diskursiven in der Gestaltung von Lohengrins Gesang deutlich hervor. Wagner

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Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 43.

zitiert zunächst die Verse des zweiten Arioso (»An meine Brust, du Süße, Reine!«), um dann auszuführen: Es widersteht mir, hier ebenfalls in Worten mehr anzudeuten, und behalte ich es mir ausdrücklich vor, hier durch die Musik den Ausdruck so zu vervollständigen, daß Niemand im Zweifel sein soll, wie Lohengrin zu Muth ist. Eben dies scheint mir der große Vorzug des vereinigten Ausdruckes des Gedichtes und der musikalischen Composition zu sein, daß die Menschen, die sich durch ihn aussprechen, in einer gewissen plastischen Unzerflossenheit und Ganzheit sich geben können, die durch zu vieles Nebenher-Motiviren nothwendig nur geschwächt werden kann. (Gott weiß, ob ich mich richtig ausdrücke!). (SB II, 513)

Plastik vs. Begründung: So ließe sich der Unterschied zwischen Lohengrins und Elsas Musik beschreiben. Während Wagner bemüht ist, den Partien Lohengrins eine eindeutige Gestalt zu geben, fallen die Elsa gewidmeten Passagen komplexer und vielschichtiger aus. Zwar sind auch diese aufgrund des Reimschemas metrisch klar strukturiert, aber der Orchestersatz gestaltet sich viel abwechslungsreicher. Als Elsa ihre erste Begegnung mit Lohengrin reflektiert, werden die Motive zitiert, die zu diesem Zeitpunkt erklungen sind (T. 382ff.). Ihre Musik erhält dadurch anders als die Lohengrins Zeitlichkeit. Dank Elsa dringen Erinnerung und Reflexion ins Drama. Dies wird auch durch zahlreiche Tempowechsel spürbar, die Elsas Zögern und Zweifeln kennzeichnen. Besonders auffällig sind die Takte 396–398 gestaltet, in denen Elsa fragt: »Ist dies nur Liebe?« Wagner hält diese Stelle in einer eigenartigen Schwebe, indem die Harmonik vom cis-Moll zum E-Dur-Dominantseptakkord gleitet und der Liegeakkord der Holzbläser den dynamischen Streichersatz ablöst. Genau diese Technik wird fünf Takte später wiederholt, als Elsa über den Namen Lohengrins spricht (T. 403f.). Auch diese Musik ist Erinnerungsmusik: Sie ist ein Anklang an jene Stelle im ersten Akt, in der Lohengrin sein »Ich liebe dich« singt. Das Orchester verstummt bei diesen Worten völlig, man vernimmt einzig die seltsam leere Quinte von Lohengrins Gesang (SW 7/I, T. 812). Die Frage »Ist dies nur Liebe?« ist also durchaus doppeldeutig: Sie zeigt nicht nur, dass die Benennung des Gefühls an eine Grenze stößt, sondern auch, dass Lohengrins Liebe eigentlich leer ist und erst mit Bedeutung gefüllt werden muss. Obwohl Wagner in der Brautgemach-Szene keine schroffen Übergänge komponiert166 und Elsas und Lohengrins Gesang nicht unvermittelt nebeneinander stellt, sind die Unterschiede in der musikalischen Darstellung beider Figuren doch greifbar. Die kompositorische Entwicklung, die Wagner zwischen dem letzten Akt des Lohengrin und dem ersten Akt der Walküre zurückgelegt hat, ist enorm. Die Palette 166

Zu Recht hält Werner Breig fest, dass Anfang und Schluss der Brautgemach-Szene in einer Weise verbunden würden, die bereits auf die ›Kunst des Übergangs‹ im Tristan vorausweise. Vgl. Werner Breig, Wagners kompositorisches Werk. In: Richard-WagnerHandbuch, hg. von Ulrich Müller / Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 353–470, hier S. 400.

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Abb. 7: Elsa: „Ist dies nur Liebe?“ (SW 7/III, T. 395-399).

seines musikalischen Ausdrucks ist nun so reich, dass er den Unterschied zwischen Anschauung und Erzählung mit anderen Mitteln darstellen kann. Dies zeigt sich in der Komposition der ersten intensiven Blick-Szene, in der Sieglinde Siegmund zu trinken gibt. An dieser Stelle greift Wagner zunächst auf die zu Beginn dieses Kapitels beschriebene Technik des ›stummen Blicks‹ zurück und rückt die Melodie in den Vordergrund: Das Orchester verstummt, man hört nur den Klang eines Solo-Violoncellos, das Siegmunds Motiv spielt (SW 11/I, T. 204). Dabei wird ein verminderter Dreiklang angedeutet: Das Cello beginnt auf C, sinkt bis zum Tritonus Fis hinunter und kehrt dann zum Ausgangston zurück. Das Instrument verstummt ein Viertelnote lang, um auf dem ersten Schlag des folgenden Taktes bei Es neu einzusetzen, welches dann wiederum zum Tritonus A hinunter gleitet: Die Melodie zeichnet einen verminderten Dreiklang (Fis-A-C-Es), dem sie nun immer weiter nach oben folgen könnte. Aber schon in Takt 210 steigt das Es nicht zum Fis, 220

sondern zum G auf. Das Motiv bricht aus der Logik des verminderten Dreiklangs aus. Zwei Takte später wird dann der Rahmen, in dem sich das Motiv bewegt, endgültig abgelegt.167 Es steigt zum B, nicht zum G auf. Dies ist zugleich der Beginn eines neuen, als ›Geschwisterliebe‹ bezeichneten Motivs, das im folgenden Takt 213 harmonisch fundiert wird: Das B fungiert nun als Quartvorhalt zum F-Dominantseptakkord. Die Melodie wird also genau in jenem Moment harmonisch gefärbt, in dem sich die Blicke Siegmunds und Sieglindes treffen. Wurden die Gefühle Siegmunds durch das in den Takten 204–212 erklingende Solo-Violoncello noch eindeutig und klar charakterisiert, erfahren sie ab Takt 213 eine Erweiterung, aber auch eine Verzerrung. In den ersten fünf Takten entstehen dabei über dem Grundton F verschiedene Harmonien, die Spannungen erzeugen, aber, anstatt sich aufzulösen, in eine nächste Spannung übergehen. DurDreiklänge in Grundstellung finden sich nur als Durchgangsakkorde auf leichten Zeiten, so etwa F-Dur in Takt 216 oder E-Dur in Takt 217. Die Melodie erzeugt Vorhalte und verhindert damit die Auflösung der Dissonanz auf der schweren Zählzeit. So wird etwa der Nonvorhalt des F-Dur-Akkordes in Takt 215 erst auf Schlag zwei aufgelöst, dasselbe geschieht mit dem a-Moll-Akkord in Takt 218. Auch die chromatischen Färbungen, die in der Melodie besonders ab Takt 216 einsetzen, tragen zur Auflösung der tonalen Struktur bei. So zieht der Wechsel in der Melodiestimme vom Es ins E in Takt 217 einen harmonischen Wechsel von einem B-Dur Quartsextakkord ins E-Dur nach sich. Wohin dieser Abschnitt harmonisch strebt, ist völlig unklar. Er ist in einer Sequenzlogik komponiert, die unendlich fortgesponnen werden könnte. Die avancierte Harmonik erlaubt es Wagner an dieser Stelle, das Sich-Versenken in den Blick des Gegenübers kompositorisch auszudrücken. Dabei tritt die Ambivalenz des Liebes-Augenblicks deutlich zu Tage: Er löst nicht nur eine unendliche Sehnsucht aus, sondern birgt auch die Gefahr, sich im Anblick des anderen zu verlieren. Die Harmonien konstruieren keinen festen

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Im Walküre-Vorspiel, das unter anderem auch den Zustand Siegmunds vor dem Eintritt in Hundings Haus beschreibt, spielt der verminderte Septakkord eine zentrale Rolle. Ab Takt 29 (SW 11/I) wird die Basslinie, wenn man den ersten Schlag des Taktes betrachtet, in der Logik eines verminderten Septakkords aufsteigend weitergeführt. Dies setzt sich bis Takt 37 fort, dann wechseln Celli und Kontrabässe taktweise zwischen B und Cis, was dem Ambitus eines verminderten Septakkordes entspricht. Auch der in Takt 80 einsetzende Paukenwirbel wird zwei Takte später von einer absteigenden Sequenz der Holzbläser unterbrochen, die wesentlich durch einen verminderten Septakkord (GisH-D-F) strukturiert wird. In der folgenden ersten Szene ergibt sich in Takt 171 aus den drei kleinen Terzen des Sieglinde-Motivs und dem Basston des Siegmundmotivs ein verminderter Septakkord. Und in Takt 173 deutet das E der Celli die Akkordbrechung des Sieglinde-Motivs als halbverminderten Septakkord. Als Siegmund aus seinem kurzen, durch eine F-Dur-Kadenz gekennzeichneten Schlaf erwacht, erklingt ebenfalls ein verminderter Septakkord (T. 182: Gis-H-D-F). Er wird in die alte Unruhe und Instabilität zurückgerissen.

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Halt, sondern drohen diesen aufzulösen – nicht umsonst hat Wagner die Harmonie in Oper und Drama ein »Gefühlschaos« genannt (OuD, 297). Die entscheidende Umdeutung der bloßen Anschauung in ein bestimmbares Zeichen geschieht am Ende der zweiten Szene, als Sieglinde die Bühne verlässt und sich ein letztes Mal nach Siegmund umdreht. Die semiotische Struktur dieses Abschnitts ist für die Bestimmung des Verhältnisses von Bild, Ton und Wort in Wagners Musikdramen von zentraler Bedeutung. Nachdem Hunding Sieglinde aufgefordert hat zu gehen, bleibt diese »eine Weile unentschieden und sinnend« stehen, dann wendet sie sich »langsam und zögernden Schrittes nach dem Speicher.« (SW 11/I, T. 716ff.) Wagner unterlegt diesem Nebentext Motive, die einmal von der Klarinette, einmal vom Englischhorn intoniert werden. Es ist jene von der Melodie getragene gestische Musik des stummen Blicks, wie sie dem Zuhörer an so vielen Stellen in Wagners Werk begegnet. Doch dank des Systems der Leitmotive, das im Verlauf des Dramas etabliert wurde, erfährt diese Darstellung des Blicks eine bedeutende Erweiterung. Als Sieglinde abermals »in Sinnen verloren« innehält und »mit halb abgewandtem Gesicht« stehenbleibt, erklingt jenes Motiv, das Siegmunds vergebliche Suche nach seiner Identität kennzeichnete: »Nun weißt du, fragende Frau, warum ich – Friedmund nicht heiße!« (T. 736–743) Die in diesen Takten anklingende C-Dur-Kadenz wird jedoch nicht ausgeführt, stattdessen führen die Bässe und Celli den Tonsatz ins As-Dur. Nun wendet Sieglinde »das Auge auf Siegmund, um seinem Blicke zu begegnen, den dieser fortwährend auf sie heftet.« Dazu erklingen im Orchester die Harmonien des Liebes-Blicks mit ihren chromatisch gefärbten Rückungen. Doch dann geschieht in Takt 764 der entscheidende Umschlag. Die endlose Schleife des Blick-Motivs wird unterbrochen und es erklingt in der Basstrompete das Schwert-Motiv in G-Dur, das in der folgenden Sequenz beinahe ins C-Dur aufgelöst wird. Diese Motivgenese im Orchester wird begleitet von Sieglindes Blick, der »andauernd und mit sprechender Bestimmtheit auf eine Stelle im Eschenstamme« geheftet ist. Dort steckt Wotans Schwert, das Siegmund sich gewinnen muss. Im Libretto lautet dieser Nebentext anders. Darin schreibt Wagner, Sieglinde weise mit ihrem Blick »bedeutungsvoll auffordernd« auf den Eschenstamm (W, 20). Dass er diese Formulierung in der Partitur änderte und von »sprechender Bestimmtheit« spricht, zeigt, dass ihm die Bedeutung dieser Szene für das Zeichengefüge seines Musikdramas durchaus bewusst war: Brünnhildes Blick verwandelt sich von einem stummen in einen sprechenden. Und es ist ausgerechnet die Musik, die die hierfür notwendige Reflexion und Vermittlung durch das Leitmotiv in Szene setzt. Zwar wird die Bedeutung des Schwertes noch nicht begrifflich erfasst – dies geschieht erst am Ende des Aktes (s. 5.4.2.) –, aber die Versprachlichung des Blicks erscheint nun nicht mehr unmöglich. Darin besteht der entscheidende Unterschied zur Komposition der Brautgemach-Szene des Lohengrin. Diese wird von dem Konflikt beherrscht zwischen der reinen Unmittelbarkeit der Musik und ihrer Fähigkeit, als quasi narratives Gewebe die in der Anschauung verborgenen Gefühle zu deuten. Die Leitmotive erscheinen in diesem Zusammenhang eher als Gefahr denn als Lö222

sung. Als das Motiv des Frageverbots zum ersten Mal in der Szene erklingt, fällt es im forte auf »droht« in den Gesang Elsas ein und gibt dem Tonsatz eine völlig neue Richtung (SW 7/III, T. 494ff.). Dasselbe geschieht, als Lohengrin Elsa warnt, sich nicht ihrem »Zweifel« hinzugeben (T. 621ff.). Dass das zentrale Leitmotiv der Szene nicht in den Tonsatz verwoben scheint, sondern eher dessen unauflöslichen Knoten bildet, verhindert, dass es zum Träger des Bewusstwerdungsprozesses der Figuren werden kann. Erst die Überwindung dieser ästhetischen Unschlüssigkeit ermöglicht in der Walküre die Transgression des Blicks in ein sprachlich vermitteltes Zeichen. Auch in den Meistersingern von Nürnberg wird der Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein als ein Übergang von der Anschauung in die Sprache beschrieben. Darum geht es in dem Dialog zwischen Walther und Hans Sachs, der sich zu Beginn des dritten Aufzuges entspinnt. Nachdem Walther berichtet hat, dass er einen »wunderschönen Traum« gehabt habe, fordert ihn Sachs auf: »Erzählt mir den.« Doch Walther weigert sich zunächst, weil er seine Vision zu verlieren fürchtet, wenn er darüber reflektiert: »Ihn selbst zu denken wag’ ich kaum; / ich fürcht’ ihn mir vergehen zu sehn.« (M, 118f.) Der Konflikt zwischen Intuition und Diskursivität erscheint in den Meistersingern in erster Linie als ein produktionsästhetisches Problem, dessen Lösung in der Definition der Kunst als einer Semiose, einem Deutungsprozess liegt: Mein Freund, das grad ist Dichters Werk, / daß er sein Träumen deut’ und merk’. / Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn / wird ihm im Traume aufgetan: / all Dichtkunst und Poeterei / ist nichts als Wahrtraum-Deuterei. (M, 119)

Genau dies geschieht im weiteren Verlauf der Handlung: Walther interpretiert sein Traumbild und formt die Worte mit Hilfe des Hans Sachs in ein Meisterlied. Dieser vergleicht diesen Vorgang mit einer Geburt168 und verkündet, als das Lied fertig ist: Ein Kind ward hier geboren: / jetzt sei ihm ein Nam’ erkoren. / So ist’s nach MeisterWeis’ und Art, / wenn eine Meisterweise geschaffen ward: / daß sie einen guten Namen trag’, / dran jeder sie erkennen mag. / […] Daß die Weise Kraft behalte zum Leben, / will ich nur gleich den Namen ihr geben: – / ›die selige Morgentraumdeut-Weise‹ / sei sie genannt zu des Meisters Preise. (143f.)

Es zeugt von Wagners eigentümlichem Genie, mit welcher Unbekümmertheit er hier Anthropologie und Ästhetik verquickt. Die Namensgebung ist der kultursemiotische Akt par excellence, weil er den Naturkörper begrifflich verfügbar macht. Das Gleiche geschieht, so Wagner, in der Kunst: Sie ist in erster Linie eine Hermeneutik, die die vorbegrifflich erschlossenen Bilder des Unbewussten in einen

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Bereits zuvor vergleicht Hans Sachs die Entstehung der Bar-Form mit einer Geburt: Die Stollen seien die »Eltern«, der Abgesang das »Kind« (124).

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verbalen Code transferiert.169 »Nicht ohne Recht«, schreibt Theodor W. Adorno, habe Wagner »lieber dem Traumdeuter als dem Träumenden sich verglichen.«170 Auffällig ist allerdings, dass Wagner glaubt, diese prekäre Versprachlichung der stummen Anschauung durch einen rituellen Akt beglaubigen zu müssen: Das Kind, die »Morgentraumdeut-Weise«, wird getauft. Darin besteht der wesentliche Unterschied zum ersten Akt der Walküre, in der diese Beglaubigung noch allein durch die Erzählung garantiert wurde. Zwar gelingt auch in den Meistersingern die Vereinigung der Liebenden, aber dazu scheint die religiöse Geste nötig zu sein: Walther und Eva knien am Schluss des dritten Aufzuges vor Evas Vater nieder, dieser »streckt segnend seine Hände über sie aus.« (164) Dies ist nicht nur eine Replik auf den Schluss von Tristan und Isolde, wo König Marke die Leichen der Liebenden »segnet« (TuI, 108), sondern in erster Linie eine Vorausdeutung auf den Parsifal. In diesem Musikdrama führt die Rückkehr zur Religion dazu, dass die optische Wahrnehmung wieder die Oberhand über die Sprache gewinnt. Es ist deshalb nicht der Liebes-Blick, der im Zentrum des Werkes steht, sondern das höhere Sehen des Heiligen. Der Titelheld wird, nachdem er sich von Kundrys Kuss losgerissen hat, »welt-hellsichtig« (P, 62). Kundry wird im dritten Akt in jenes stumme und dem Mann dienende Weib zurückverwandelt, das Wagner in den Figuren der Elsa, Sieglinde und Brünnhilde zu überwinden versuchte. »Sie starrt lange Gurnemanz an. Dann erhebt sie sich, ordnet sich Kleidung und Haar, und geht sofort wie eine Magd an die Bedienung.« (67) Am Ende sinkt sie »vor Parsifal entseelt zu Boden«, und zwar »mit dem Blicke zu ihm auf« (84). Es ist jedoch nicht ohne eine gewisse Komik, dass das so ausgeschlossene erotische Begehren im männlichen Blick auf den religiösen Fetisch zurückkehrt. Am Schluss hebt Parsifal »in brünstigem Gebete seinen Blick andachtvoll zu der Lanzenspitze auf« (P, 70) und auch die Gralsritter blicken wie »in höchster Entzückung auf den emporgehaltenen Speer.« (83) Wie hieß es doch am Schluss des ersten Walküre-Aktes? Siegmund »zieht mit einem gewaltigen Zuck das Schwert aus dem Stamme, und zeigt es der von Staunen und Entzücken erfaßten Sieglinde.« (W, 32) Mindestens genauso wichtig wie die Sublimierung des Eros in der religiösen Schau ist jedoch der Ausschluss der Sprache. Parsifals Blick muss, um seine metaphysische Erkenntniskraft zu wahren, stumm bleiben. Als am Schluss die Knaben den Schrein öffnen, entnimmt Parsifal den Gral und »versenkt sich, unter stummem Gebete, in seinen Anblick.« (83) Die einzige Verbalisierung, die dieses höhere Sehen duldet, sind die aus der Höhe kommenden himmlischen Stimmen, die

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Damit verlässt Wagner den Boden der romantischen Anthropologie, in der sich nur sehr wenige Anweisungen zur Deutung von Träumen finden. Eine Ausnahme bildet hier Schuberts Symbolik. Alles in allem hält Manfred Engel jedoch fest, dass dieser Aspekt sonst »stark unterrepräsentiert« sei. Vgl. Engel, Naturphilosophisches Wissen, S. 74. Bekannt ist, dass Cosimas Tagebücher permanent den Versuch unternehmen, Wagners Träume und Alpträume zu deuten. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 13, S. 144f.

»kaum hörbar leise« des »Höchsten Heiles Wunder« preisen und diese Vision mit einem mysteriösen Rätselspruch versehen: »Erlösung dem Erlöser!« (84) Vielleicht ist der eigentliche Sinn dieser Schlussworte, dass man sie nicht verstehen soll. Würde ihre philologische Entschlüsselung nicht das heilige Ritual des Bühnenfestspiels entweihen? Trotz der Modernität, die der Parsifal in seiner Kompositionstechnik und Figurenpsychologie in sich trägt, gibt er auf die entscheidenden dramatischen Konflikte eine vormoderne Antwort. Dies gilt, wie gezeigt wurde, auch für das Verhältnis von Anschauung und Diskursivität. Am Schluss des Parsifal soll einem nicht Hören und Sehen vergehen, sondern das Nachdenken. Jedoch sollte diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auseinandersetzung mit diesem Problem in Wagners Werk insgesamt sehr vielschichtig und komplex ist und verschiedene Phasen kennt. Zudem gilt es hervorzuheben, dass Wagners Beschäftigung mit dem Liebesblick als einem Wechselspiel von Blick und Wort nicht nur auf die Romantik zurückgeht, sondern auch auf die Literatur des 20. Jahrhunderts vorausweist. Zu den eindrucksvollsten Beispielen zählt hier Arthur Schnitzlers Traumnovelle aus dem Jahr 1925. Das Ehepaar Fridolin und Albertine reflektiert zu Beginn dieser Erzählung in einem Gespräch die Ereignisse eines Ballfestes, bei dem sie ihre alltäglichen Rollen ablegten und so ihre Liebe neu entdecken konnten. Zuhause angekommen, sinken sie sich »zu einem schon lange Zeit nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück in die Arme.«171 Doch dadurch wird ihr Eheglück nicht gefestigt, im Gegenteil: »Aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen«.172 So kommen sie schließlich auf einen Urlaub in Dänemark, bei dem beide beinahe den Reizen eines anderen erlegen wären. Im Falle Albertines ist dies ein junger Mann, von dem sie nun ihrem Gatten erzählt: Er hatte mich flüchtig gemustert, aber erst ein paar Stufen höher blieb er stehen, wandte sich nach mir um, und unsere Blicke mußten sich begegnen. Er lächelte nicht, ja, eher schien mir, daß sein Antlitz sich verdüsterte, und mir erging es wohl ähnlich, denn ich war bewegt wie noch nie.173

Als Albertine ihn zum letzten Mal sieht, sitzt der Fremde mit seinen Freunden in ihrer Nähe. Man bringt ihm ein Telegramm, er liest es, erblasst und flüstert einem seiner Freunde einige Worte zu. Dann verlässt er den Saal, nicht ohne Albertine »mit einem rätselhaften Blick« zu streifen. Diese erwacht am nächsten Morgen »mit einer gewissen Bangigkeit«, die sie selbst jedoch nicht versteht: »Wovor mir mehr

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Arthur Schnitzler, Traumnovelle, Frankfurt am Main 1992, S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9f.

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bangte – ob davor, daß er abgereist, oder davor, daß er noch da sein könnte –, das weiß ich nicht, das habe ich auch damals nicht gewußt.«174 Wie bei Richard Wagner geht es auch in Schnitzlers Traumnovelle um die Beschreibung der Liebe als eines Verstehensprozesses, um die schwierige Deutung des Sehens und Gesehen-Werdens im Akt des Begehrens. Das seltsame Telegramm, die geflüsterten Worte, der rätselhafte Blick, die unbegreiflichen Gefühle am nächsten Tag: Albertines Begegnung mit dem fremden jungen Mann stößt an die Grenze zwischen Bild und Begriff, zwischen Traum und Sprache, ohne diese zu überschreiten. Ebenso ergeht es Fridolin, der auf einem morgendlichen Strandspaziergang plötzlich »einer weiblichen Gestalt« gewahr wird. Es war ein ganz junges, vielleicht fünfzehnjähriges Mädchen mit aufgelöstem blonden Haar, das über die Schultern und auf der einen Seite über die zarte Brust herabfloß. Das Mädchen sah vor sich hin, ins Wasser hinab, langsam glitt es längs der Wand weiter, mit gesenktem Auge nach der andern Ecke hin, und plötzlich stand es mir gerade gegenüber; mit den Armen griff sie weit hinter sich, als wollte sie sich fester anklammern, sah auf und erblickte mich plötzlich. […] Mit einemmal aber lächelte sie, lächelte wunderbar; es war ein Grüßen, ja ein Winken in ihren Augen – und zugleich ein leiser Spott, mit dem sie ganz flüchtig zu ihren Füßen das Wasser streifte, das mich von ihr trennte. […] So standen wir uns gegenüber, vielleicht zehn Sekunden lang, mit halboffenen Lippen und flimmernden Augen. Unwillkürlich breitete ich meine Arme nach ihr aus, Hingebung und Freude war in ihrem Blick. Mit einemmal aber schüttelte sie heftig den Kopf, löste einen Arm von der Wand, deutete gebieterisch, ich solle mich entfernen; und als ich es nicht gleich über mich brachte zu gehorchen, kam ein solches Bitten, ein solches Flehen in ihre Kinderaugen, daß mir nichts anderes übrigblieb, als mich abzuwenden.175

Auch der Kontakt mit der Undine, der Fridolin bei seinem Ausflug zum Strand begegnet, verbleibt im gestischen Spiel der stummen Blicke. Das so geweckte Begehren stellt für das junge Ehepaar eine große Gefahr dar, der Albertine mit der Macht der Verbalisierung zu begegnen versucht: »Wir wollen einander solche Dinge künftighin immer gleich erzählen«, schlägt sie ihrem Mann vor. Doch diese Einsicht kommt für Fridolin zu diesem Zeitpunkt zu früh. Seine Antwort spricht für sich: »Er nickte stumm.«176

4.4.

Geheimnisse des Wieder-Sehens: Zum Motiv des Déjà-vu

4.4.1. Urbild und Abbild: Die romantische Konzeption der Anamnesis Der Liebesblick wurde als ein Erkenntnisakt definiert, in dem visuelle und verbale Codes in einem dynamischen Prozess der Bewusstwerdung ineinandergreifen und auseinander hervorgehen: Das sichtbare Bild trägt eine unsichtbare Geschichte in

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Ebd., S. 10. Ebd., S. 11f. Ebd., S. 12.

sich. In diesem Zusammenhang stellt sich nun die Frage nach der Gedächtnisleistung der an diesem Prozess beteiligten Medien. Denn die Bewusstwerdung des Unbewussten, der sich diese Untersuchung widmet, beruht nicht zuletzt auf Erinnerung. Wenn behauptet wird, dass die Figuren in Wagners Musikdramen einen Zugang zum Unbewussten suchen, so heißt das auch, dass vergessene Ereignisse wieder ans Tageslicht befördert werden sollen. Um es gleich vorweg zu sagen: So wie der Blick bei Wagner einen direkten Kontakt zum Unbewussten herstellt, fungiert das Bild als wichtiges Speichermedium. Das geschieht aus dem einfachen Grund, dass das Bild in der romantischen Theorie anders als das Wort unmittelbar aus dem Unbewussten hervorgeht. Es ist hilfreich, diesen romantischen Medien- und Gedächtnisdiskurs kulturgeschichtlich zu situieren. Aleida Assmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass bestimmte Theoretiker der Neuzeit, etwa Francis Bacon, die Bilder noch gegenüber der Schrift abwerteten. Bacon definierte Bildwerke als materiell, Schrift dagegen als immateriell. Letztere sei zeitlos und deshalb ein besseres Gedächtnismedium. Dieser Auffassung widersprachen nicht nur die Romantiker, sondern nach ihnen auch Kulturtheoretiker wie Jakob Burckhardt oder Aby Warburg, die das Bild als unmittelbaren Niederschlag des Affekts und des Unbewussten begreifen. »Während die über Texte geleitete Tradition taghell war, ist die über Bilder und Spuren geleitete dunkel und enigmatisch«, so Assmann.177 Zu Beginn von E.T.A. Hoffmanns Die Serapions-Brüder wird dieser von Bildern gesteuerte Erinnerungsakt reflektiert. Dass Cyprian seinen Freunden genau an dem Tag von seinem Erlebnis mit dem Einsiedler Serapion erzählt, an dem er diesen vor Jahren tot in seiner Hütte gefunden hat, deutet Lothar wie folgt: Der Eindruck blieb unauslöschlich und wohl mag es sein daß der innere Geist mittelst einer geheimnisvollen dir selbst unbewußten Operation das Bild des verlorenen Freundes an seinem Todestage frischer gefärbt vorschiebt als sonst.178 (SäW 4, 66)

Die Bewusstwerdung des im Gedächtnis geborgenen Bildes verdichtet sich in der Romantik zu einem Erinnerungsmuster, das als ›Déjà-vu‹ beschrieben werden kann. Im heutigen Sprachgebrauch versteht man darunter in erster Linie ein psychopathologisches Symptom, das als Erinnerungsverfälschung dem Bewusstsein vorgaukelt, eine neue Wahrnehmung bereits erlebt, gesehen oder geträumt zu haben. In diesem Sinne wurde es auch von der positivistischen französischen Psychologie des späten 19. Jahrhunderts definiert und fand von dort aus Eingang in die Kulturtheorie.179 Einen Wendepunkt markierte Henri Bergsons Aufsatz über die fausse reconnaissance aus dem Jahr 1908, in dem das Déjà-vu auf die »Erinnerung

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Assmann, Erinnerungsräume, S. 220. Zur Bedeutung dieses Zitates für den Gedächtnis-Diskurs der Serapions-Brüder vgl. 6.4.2. Einen Überblick über die Diskussion um das Déjà-vu, die von der französischen Psychiatrie über Henri Bergson bis zu Walter Benjamin und Ernst Bloch verläuft, gibt die

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der Gegenwart«, »le souvenir du présent«, bezogen und in eine allgemeine Analyse des Wahrnehmungsaktes eingegliedert wird. Es erscheint nun nicht mehr nur als pathologisches Phänomen, sondern als ein grundlegendes Element der menschlichen Zeiterfahrung.180 In der Romantik ist das Déjà-vu avant la lettre präsent.181 Dort ist es ein Erkenntnisakt, der die Bewusstwerdung des Unbewussten garantiert und zugleich Kunstproduktion und Liebesblick miteinander verschränkt. Dies lässt sich an zwei Szenen aus Wackenroder und Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders zeigen, die sich mit der Entstehung und Wirkung von Raffaels Madonnen-Bildern beschäftigen: Einst, in der Nacht, da er, wie es ihm schon oft geschehen sei, im Traume zur Jungfrau gebetet habe, sei er, heftig bedrängt, auf einmal aus dem Schlafe aufgefahren. In der finsteren Nacht sei sein Auge von einem hellen Schein an der Wand, seinem Lager gegenüber, angezogen worden, und da er recht zugesehen, so sei er gewahr worden, daß sein Bild der Madonna, das, noch unvollendet, an der Wand gehangen, von dem mildesten Licht strahle, und ein ganz vollkommenes und wirklich lebendiges Bild geworden sei. [...] Es habe ihn mit den Augen auf eine unbeschreiblich rührende Weise angesehen [...], so sei es ihm vorgekommen, als wäre dies Bild nun gerade das, was er immer gesucht, obwohl er immer nur eine dunkle und verwirrte Ahnung davon gehabt. Wie er wieder eingeschlafen sei, wisse er sich durchaus nicht zu erinnern. Am andern Morgen sei er wie neugeboren aufgestanden; die Erscheinung sei seinem Gemüt und seinen Sinnen auf ewig fest eingeprägt geblieben […].182

Das neue und nie gesehene Bild, das Raffael plötzlich aus dem Schlaf erwachen lässt, trug er in Wahrheit schon in sich – er hatte es nur nie deutlich vor Augen. Deshalb weiß er sofort, dass dieses Bild das ist, »was er immer gesucht«. Einige Seiten weiter, in dem Brief des jungen Malers Antonio an seinen Freund, wird erneut ein Déjà-vu beschrieben, das nun allerdings die himmlischen Urbilder Raffaels als Abbilder der Realität deutet: O wenn doch jetzt Raffael noch lebte, daß ich ihn sehn, ihn sprechen, ihm meine Gefühle sagen könnte! Er muß sie gekannt haben, denn ich finde sie, ich finde mein gan-

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Einleitung des folgenden Bandes: Günther Oesterle (Hg.), Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 7–23. Vgl. Henri Bergson, Oeuvres, Paris 1959, S. 879–930. Harald Neumeyer verweist darauf, dass Johann Gottfried Herder in den Kritischen Wäldern das Gefühl, etwas schon einmal erlebt zu haben, als ›Anerinnerung‹ bezeichnet. Neumeyer deutet dies nicht nur als eine Wiederaufnahme von Platons ›Anamnesis‹, sondern auch als eine produktive Aneignung der »aufgeklärten Wissenschaften unterschiedlichster Provenienz – der Erfahrungsseelenkunde, der Psychologie, der Anthropologie und der Medizin«. Harald Neumeyer, »Zwischen Erinnerung und Ahnung«. Zur Erfindung der Figur des Déjà-vu in aufgeklärter Wissenschaft und romantischer Literatur. In: Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, hg. von Günther Oesterle, München 2003, S. 129–150, hier S. 130. Wackenroder, Werke und Briefe, S. 145f.

zes Herz in seinen Werken wieder: alle seine Madonnen sehn meiner geliebten Amalia ähnlich.183

Die romantische Auseinandersetzung mit dem Déjà-vu ist eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen inneren und äußeren Bildern. Während Raffael in sich das ewige Urbild der Madonna aus dem Schatz eines gleichsam metaphysischen Gedächtnisses zu bergen glaubt, suggerieren Antonios Ausführungen das Gegenteil: Was, wenn diese im Innern erschaute, himmlische Vision nur ein verdichtetes Abbild der äußeren Realität ist? Zielt nicht schon die »geheimnisvolle und unbewusste Operation«, als die Lothar in Die Serapions-Brüder die Erinnerung an das Bild des toten Einsiedlers bezeichnet, auf die Wiederkehr eines realen Ereignisses? Für letztere These spricht auch, was der Magnetiseur Kluge über das höhere Sehen der Somnambulen sagte: Es sei in Wahrheit ein Wieder-Sehen. Die Frage, warum ein Somnambuler sehen könne, obwohl doch keines seiner Sinnesorgane aktiv ist, ließe sich dadurch erklären, so Kluge, »daß hier kein wirkliches Sehen der Farben, kein Hören der Töne u.s.w. statt findet (denn hierzu werden durchaus besondere Organe erfordert), sondern daß es ein bloßes Notizbekommen von solchen Dingen ist, welche der Seele schon früher durch die Sinnorgane als Anschauungen überbracht worden sind, und von welchen sie also bereits Vorstellungen besitzt, die nur von neuem erweckt werden dürfen.«184 Analysiert man die Texte der Romantik genauer, dann wird klar, dass die inneren Bilder nicht einfach unvermittelt aus der Phantasie entstehen, sondern erst in diese hineingelegt werden müssen. Der imaginative Prozess des Vergessens und Wiedererinnerns ereignet sich als Wechselspiel von subjektiver Aneignung und Außenvermittlung, von ewigem Urbild und empirischem Abbild.185 Dabei greifen die Romantiker auf Platons Konzept der ›Anamnesis‹ zurück,186 das sich in den Dialogen Menon und Phaidros findet. Von einer ausgearbeiteten ›Anamnesis-Lehre‹ kann man dabei nicht sprechen, da in beiden Dialogen die Theorie der Wiedererinnerung nicht im Zentrum steht, sondern lediglich einen Baustein von Sokrates’ Argumentation bildet. In Menon geht es um die Frage, ob ›Areté‹187 gelehrt werden kann oder eingeübt werden muss. Als das Gespräch an

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Ebd., S. 160. Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, S. 341. Dies übersieht auch Aleida Assmann in ihrer Analyse des romantischen Symbol-Begriffs. Vgl. Assmann, Erinnerungsräume, S. 228. In ihrer Darstellung der Konzeption der Anamnesis bei William Wordsworth deutet Aleida Assmann den Begriff als die »Ausschaltung von Erinnerung und die Herstellung von Kontinuität und Gleichzeitigkeit« (ebd., S. 110). Er bezeichne mystische Ekstase und Zeitenthobenheit, »Einversenkung des Göttlichen in die Seele« (ebd., S. 108). Diese Definition scheint mir aber zumindest in Bezug auf die deutsche Romantik nicht genau genug. Die Abgrenzung zur Kontemplation und zur Idee des höheren Blicks geht dadurch verloren, genauso wie das zentrale Konzept der Wiederholung, des Wiederfindens. Die Übersetzung des griechischen Begriffs ›Areté‹ ist problematisch. Er lässt sich nicht

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den Punkt kommt, wo Menon einsieht, dass seine bisherigen Vorstellungen der Areté falsch waren, aber auch Sokrates gesteht, dass er nicht weiß, was sich hinter dem Begriff verbirgt, fragt Menon erstaunt: »Und auf welche Weise willst du denn dasjenige suchen, Sokrates, wovon du überhaupt gar nicht weißt, was es ist?«188 Dies führt Sokrates zu der Annahme, dass wir zwar von der Areté wissen, dieses Wissen aber vergessen haben. Weil die Seele unsterblich sei »und, was hier ist und in der Unterwelt, alles erblickt hat: so ist auch nichts, was sie nicht in Erfahrung gebracht hätte, so daß nicht zu verwundern ist, wenn sie auch von der Tugend und allem andern vermag, sich dessen zu erinnern, was sie ja auch früher gewußt hat.« Und daraus schließt Sokrates: »Denn das Suchen und Lernen ist demnach ganz und gar Erinnerung.«189 Diese Theorie demonstriert er sodann an einem Sklaven Menons, dem er das geometrische Wissen um die Beschaffenheit eines Quadrates entlockt, ohne es ihm einzugeben. In einem ganz anderen Kontext stehen die Ausführungen des Sokrates in Phaidros. Dort versucht er den gleichnamigen Jüngling in einer enthusiastischen Rede davon zu überzeugen, dass die Liebe nicht verwerflich sei, sondern ein göttlicher Wahnsinn, der den Menschen an die Unsterblichkeit seiner Seele erinnere.190 Diese habe an einem »überhimmlischen Ort«191 das »Seiende«192 geschaut, bevor sie sich im menschlichen Leibe »eingekerkert«193 finde. Einigen auserwählten Seelen sei es nun möglich, sich »bei dem Hiesigen an jenes zu erinnern«: Diese nun, wenn sie ein Ebenbild des Dortigen sehen, werden entzückt und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen.194

Wird im Menon die Theorie der Anamnesis noch anhand eines Beispiels aus der Mathematik erläutert und mit ihrer Hilfe der Sinn des verstandesgemäßen Suchens und Fragens gerechtfertigt, so zielt Sokrates’ Rede im Phaidros auf die Rolle des Blicks im Prozess des Erinnerns. »Das farblose, gestaltlose, wahrhaft seiende We-

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auf die moralische Bedeutung einengen, die der deutsche Begriff ›Tugend‹ impliziert. Wörtlich bedeutet er soviel wie ›Gutsein‹ und umfasst nicht nur die Tauglichkeit von Dingen, sondern auch den Wert der ›Tüchtigkeit‹. Vgl. hierzu das Nachwort von Margarita Kranz in ihrer Übersetzung des Menon: Platon, Menon. Griechisch / Deutsch, übersetzt von Margarita Kranz, Stuttgart 1999, S. 95 u. 101–107. Platon, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 471. Ebd., S. 472f. Im zweiten Teil des Phaidros zeigt sich dann aber, dass Sokrates’ Argumentation eigentlich gar nicht auf die Liebe, sondern auf die Rhetorik zielt: Die Rede von der Göttlichkeit des Eros wird von Sokrates nur dazu benutzt, dem Jüngling Phaidros die Macht der Rhetorik zu veranschaulichen. Platon, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 568. Ebd., S. 571. Ebd., S. 572. Ebd., S. 571.

sen« sei allein »für der Seele Führer, die Vernunft« beschaubar.195 Auch Gerechtigkeit und Besonnenheit obliegen dieser unsinnlichen Schau, ihre irdischen Abbilder »haben keinen Glanz, sondern mit trüben Werkzeugen können unter Mühen von ihnen nur wenige jenen Bildern sich nahend des Abgebildeten Geschlecht erkennen.« Einzig die Idee der Schönheit »war damals glänzend zu schauen, als mit dem seligen Chore wir dem Jupiter, andere einem andern Gotte folgend, des herrlichsten Anblicks und Schauspiels genossen und in ein Geheimnis eingeweiht waren, welches man wohl das allerseligste nennen kann«.196 Die Erinnerung des Schönen ist also allein durch optische Wahrnehmung möglich: Was nun die Schönheit betrifft, so glänzte sie, wie gesagt, schon hervor, als sie unter jenen war, und auch nun wir hierher gekommen sind, haben wir sie aufgefaßt durch den deutlichsten unserer Sinne aufs deutlichste uns entgegenschimmernd. Denn das Gesicht ist der schärfste aller körperlichen Sinne […].197

Platons Begriff der Anamnesis definiert die Wahrnehmung des Schönen als durch den Blick gesteuerte Wiedererkennung und setzt sie zugleich in das Spannungsfeld von Diesseits und Jenseits, Sichtbarem und Unsichtbarem, Physischem und MetaPhysischem. So deutet ihn jedenfalls Schelling im achten der Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus von 1795, der die Anamnesis mit Aisthesis, der Wahrnehmung, in Verbindung bringt: »Auch wird eine vollendete Aesthetik (das Wort im alten Sinne genommen) empirische Handlungen aufstellen, die nur als Nachahmungen jener intellektualen Handlung erklärbar sind, und schlechterdings nicht begreiflich wären, hätten wir nicht – um in Platons Sprache mich auszudrücken – irgend einmal in der intellektualen Welt ihr Vorbild angeschaut.« (S I/1, 318) Dieses Modell des anamnetischen Déjà-vu wird von den Romantikern nun nicht nur auf den künstlerischen Produktionsprozess, sondern auch auf den Liebesblick bezogen. Es geht ihnen, wie man mit Novalis sagen könnte, um die »Geheimnisse des liebenden Wiedersehns«,198 durch die die unvorhergesehene Begegnung mit dem anderen in die Empfindung des Bekannten getaucht wird. Der Moment des intersubjektiven Erkennens wird so in den Zusammenhang von Erinnerung und Wahrnehmung, von geträumter Vision und realem Erlebnis, kurz: von Unbewusstem und Bewusstem gestellt.199 In Friedrich Schlegels Lucinde wird Julius von der Krankheit des ›ennui‹ durch den Anblick einer Frau geheilt, »die einzig war, und die seinen Geist zum erstenmal ganz und in der Mitte traf. […] Der erste Blick schon entschied, beim zweiten wußte er’s, und sagt sich’s, daß es nun gekommen,

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Ebd., S. 568. Ebd., S. 571. Ebd., S. 572. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 95. Vgl. hierzu Gerhard Neumann, Imprévu und Déjà-vu. Liebe auf den ersten Blick und Wahrnehmung der Welt: Das Drama des Erkennens. In: Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, hg. von Günther Oesterle, München 2003, S. 79–100, hier S. 80.

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und wirklich da sei, was er so lange dunkel erwartet hatte.«200 Die romantische Literatur ist voller Paare, die sich ›schon immer‹ zu kennen glauben. Dies gilt auch für Novalis’ Heinrich von Ofterdingen: »Es ist mir wie ein Traum, daß du mein bist, aber noch wunderbarer ist mir es, daß du es nicht immer gewesen bist«, sagt Heinrich zu Mathilde, welche antwortet: »Mich dünkt, […] ich kennte dich seit undenklichen Zeiten.« Er bezeichnet sie als »ein ewiges Urbild«, das Teil der »unbekannten heiligen Welt« sei. Ihre »irdische Gestalt« sei nur ein »Schatten« dieses Bildes. »Was mich so unzertrennlich zu dir zieht, was ein ewiges Verlangen in mir geweckt hat, das ist nicht aus dieser Zeit.«201 Man kann natürlich auch an Kleists Käthchen von Heilbronn denken, das beim ersten Anblick des Grafen vom Strahl vor diesem niederstürzt, »das Antlitz flammend auf ihn gerichtet, als ob sie eine Erscheinung hätte.«202 Es ist das zuvor im Unbewussten geschaute Bild, das Käthchen plötzlich entgegentritt. Aber auch der Graf kennt das Käthchen bereits, da er ihr Treffen in Fieberträumen vorhergesehen hat.203 Besonders virtuos spielt Kleist mit diesem Motiv in Der Findling (1811). Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, Elvire, und ihres Adoptivsohnes Nicolo. Elvire leidet unter einem Trauma: Als sie ein Mädchen war, brannte das Haus ihres Vaters. Kurz bevor sie sich in den Tod stürzen wollte, rettete sie ein junger Genueser, Colino, der drei Jahre später seinen Verletzungen erlag. Nicolo, der nichts von dieser Geschichte weiß, kehrt eines Abends im Karnevalskostüm eines jungen Genuesers nach Hause. Als Elvire ihn sieht, verliert sie »wie durch einen unsichtbaren Blitz getroffen« das Bewusstsein: Sie hat ein Déjà-vu.204 Ein anderes Mal beobachtet Nicolo, wie Elvire in ihrem Zimmer »in der Stellung der Verzückung, zu Jemandes Füßen« zu liegen scheint. Er entdeckt jedoch, dass es sich um ein »Bild eines jungen Ritters in Lebensgröße« handelt, ein »Stück selbstgewebter Leinwand«, das in einer Nische hinter einem Vorhang aufgestellt ist.205 Es zeigt den Genueser Colino, der einst das Mädchen Elvire rettete. Durch diesen Vorfall wird Nicolos Leidenschaft für Elvire geweckt, zumal ihm das Bild des Ritters ähnelt und sein Name das Anagramm zu Colino bildet. Er verkleidet sich als junger Genueser, geht in Elvires Zimmer, verhängt das Bild und nimmt, »ganz in der Stellung des gemalten jungen Patriziers«, dessen Platz ein. Als Elvire ihn erblickt, ruft sie »Colino! Mein Geliebter!« und sinkt ohnmächtig zu Boden. Nicolo legt sie auf das Bett und bedeckt sie »mit heißen Küssen«, in der Hoffnung, dass sie sich ihm, selbst wenn sie

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F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 5, S. 47f. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 287–289. Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 328. Ebd., S. 410. Nicht nur in seinem Ritterschauspiel macht Kleist das Déjà-vu zum Grundmuster des Augenblicks der Liebe. So sagt Penthesilea zu Achilles: »Mein ewiger Gedanke, wenn ich wachte, / Mein ew’ger Traum warst du!« (ebd., S. 222). Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, S. 270. Ebd., S. 274.

erwachte, aufgrund seiner Verkleidung ergäbe.206 Obwohl Piachi, Elvires Ehemann und Nicolos Adoptivvater, überraschend ins Zimmer tritt und das Schlimmste verhindert, erholt sich Elvire nicht mehr von diesem Ereignis und stirbt bald darauf. Der Findling ist für die romantische Konzeption des Déjà-vu deshalb von Bedeutung, weil das Wieder-Sehen des Geliebten nun nicht mehr, wie bei Platon, auf einem metaphysischen Urbild beruht, sondern auf einer realen Begebenheit. Das Bild in Elvires Zimmer ist das Substrat eines traumatischen Ereignisses, das sich in ihrer Phantasie imaginativ verdichtet. Dass es sich um ein »Stück selbstgewebter Leinwand« handelt, fasst diesen engen Zusammenhang von Narration und Bildlichkeit in eine treffende Metapher. Zum anderen ist das Déjà-vu in eine ödipale Dreiecks-Konstellation eingebunden, in der der Sohn seine Mutter inzestuös begehrt. Das Wieder-Sehen des Geliebten wird nicht als ein süßer Minne-Traum, sondern als eine alptraumhafte Realisierung verbotener Wünsche gedeutet. Kleist zeigt deutlich, dass das Wiederfinden des unbewussten Traumbildes das Subjekt gefährden kann. Damit wies er E.T.A. Hoffmann den Weg, der vier Jahre später in seinen Elixieren des Teufels das Déjà-vu der Liebenden ebenfalls auf ein traumatisches Ereignis in der Geschichte des Individuums bezieht. In ihrem Brief an die Äbtissin berichtet Aurelie von einem schrecklichen Kindheitserlebnis: »Ich muß zurückgehen in meine frühe Kinderzeit, um Alles, Alles zu sagen, denn schon damals wurde der Keim in mein Innres gelegt, der so lange Zeit hindurch verderblich fortwucherte.« (SäW 2/2, 237) Dieser Keim ist das Bild des Malers Francesko, das ihre Mutter jeden Tag in ihrem Zimmer anbetet: Die Türe ging auf, die Mutter trat leichenblaß herein und vor eine leere Wand hin. Sie rief mit dumpfer tief klagender Stimme: Francesko, Francesko! Da rauschte und regte es sich hinter der Wand, sie schob sich aus einander und das lebensgroße Bild eines schönen, in einem violetten Mantel wunderbar gekleideten Mannes wurde sichtbar. Die Gestalt, das Gesicht dieses Mannes machte einen unbeschreiblichen Eindruck auf mich, ich jauchzte auf vor Freude […]. (238)

Dieses Bild, das ihr Bruder Hermogen als »Teufel« bezeichnet, vergisst Aurelie in den folgenden Jahren. Doch dann tritt es ihr in Gestalt des Medardus, des Nachfahren Franceskos, wieder entgegen. Sie erblickt Medardus zuerst in einem Traum, in dem sein Bild mit dem Franceskos verschmilzt. »Das Geheimnis der Liebe«, das Aurelie in diesem Vorgang zu erkennen glaubt, ist das, was Sigmund Freud später ›Übertragungsliebe‹ nennen wird: Das sexuelle Begehren, das durch den Anblick des Malers im violetten Mantel geweckt wurde (»Ich jauchzte auf vor Freude«), überträgt sich durch die Verdichtung der Phantasie auf Medardus: »Ja! – ich liebte den Unbekannten mit aller Stärke des erwachten Gefühls, mit aller Leidenschaft und Inbrunst deren das jugendliche Herz fähig.« (241) Doch als sie Medardus das

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erste Mal in realiter sieht, verliert sie das Bewusstsein. Aurelie muss erkennen, dass es das Schreckbild ihrer Kindheit ist, das sie in Medardus wiederfindet: »Jenes Bild meiner Mutter war Francesco … das trügerische Mönchsgebilde, das mich quälte, hatte ganz seine Züge!« (245) Diese Unerträglichkeit des durch das Déjà-vu erinnerten Traumas liegt auch in der »Unbeschreiblichkeit des Eindrucks«, den der Anblick des Bildes von Francesko in Aurelie auslöste. Dennoch versucht sie, es narrativ zu verarbeiten: Dies ist der Zweck ihres Briefes, dessen Lektüre auch auf die Seelenqualen des Medardus lindernde Wirkung ausübt. In Der Sandmann rückte E.T.A. Hoffmann ebenfalls die traumatisierende Wirkung des Wieder-Sehens und Wieder-Erinnerns ins Zentrum. In dieser Erzählung, die wie kein zweiter romantischer Text mit den Möglichkeiten und Gefahren optischer Wahrnehmung experimentiert, ist es der grausame Blick des Augen-Herrschers Coppelius, der in die Liebe zwischen Nathanael und Clara eindringt und diese zerstört. In dem Wetterglashändler Coppola erkennt Nathanael Coppelius wieder: »Coppelius Figur und Gesichtszüge sind zu tief in mein Innerstes eingeprägt, als daß hier ein Irrtum möglich sein sollte.« (SäW 3, 20) Somit verdeutlicht Der Sandmann genauso wie Die Elixiere des Teufels und Der Findling, dass die Bildung des Subjekts durch die Liebe wesentlich an den Blick gebunden ist. Und nicht nur das: Diese Texte zeugen auch von dem Abgrund, der sich zwischen augenblicklich Erlebtem und vergangenem Geschehen auftut und in den das Trauma dringen kann. Das Individuum droht durch die Anamnesis des Déjà-vu destabilisiert zu werden und muss deshalb das durch den Blick Erinnerte diskursiv verarbeiten. Die Bewusstwerdung des Unbewussten konstituiert die Subjektivität und gefährdet sie zugleich.207 4.4.2. Traumbild und Trauma: Das Déjà-vu bei Richard Wagner Vor diesem Hintergrund ist Richard Wagners Aneignung des romantischen Déjàvu zu lesen. Auch in seinen Werken ist im gebannten Anstarren des anderen das gegenwärtige, unverhoffte Sehen mit der Erinnerung an bereits Dagewesenes verknüpft.208 So hat er in einem Brief an August Röckel aus dem Jahr 1854 versucht,

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Sehr genau hat Gerhard Neumann die traumatisierende Wirkung des Déjà-vu in Der Sandmann herausgearbeitet. Anders als Adalbert Stifters Roman Nachsommer, in dem der Blick nach außen gerichtet werde, wende Hoffmann das Déjà-vu nach innen. In seiner Poetik gehe es darum, »das endliche Bewusstsein des Subjekts in ein Verhältnis zur inneren Unendlichkeit des Unbewussten eben dieses Subjekts zu setzen.« (G. Neumann, Imprévu und Déjà-vu, S. 100) An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass das Déjà-vu in zahlreichen anderen Texten Hoffmanns eine zentrale Rolle spielt, etwa in Die Automate, dem Leben dreier Freunde oder dem Artushof. Als erster hat Carl Dahlhaus auf die Rolle des Déjà-vu in Wagners Werk hingewiesen, allerdings ohne dieses Phänomen so zu nennen: Es scheine immer, »als habe jeder der Liebenden das Bild des anderen unbewußt seit jeher in sich getragen«. Dahlhaus bezeichnet dies sogar als ein »dramaturgisches Formgesetz« (Dahlhaus, Richard Wagners

das Phänomen der Liebe mit dem Prinzip der Wiederholung in Verbindung zu bringen: So überbietet er [der Mensch, M.S.] auch nie wieder jenen Akt seiner eigentlichen Menschwerdung durch die Liebe; er kann ihn nur wiederholen – wie überhaupt unser ganzes Leben ein beständiges Wiederholen der Vielheit der Einzelheiten der Lebensmomente ist – und diese Wiederholung ermöglicht eben einzig die Eigenschaft dieser Liebe, nach welcher sie der Ebbe und Flut gleicht, wechselt, endet und wieder lebt. (SB VI, 63)

»Enden« und »wieder leben« könnte man hier mit »Vergessen« und »Erinnern« gleichsetzen; die Liebe wird als ein ständiges Zurücksinken ins Unbewusste und Wiederaufstieg ins Bewusstsein definiert.209 Diese Vorstellung ist in Wagners Theorie der fünfziger Jahre virulent, bevor sie durch Schopenhauers Einfluss aus seiner Ästhetik verdrängt und durch das höhere Sehen ersetzt wurde. »Die richtige Erkenntnis ist Wiedererkennung, wie das richtige Bewußtsein Wissen von unserem Unbewußtsein«, heißt es in Oper und Drama (OuD, 213). Dies gilt bei Wagner auch für den Liebesblick, und in dieser Hinsicht ist es sicher nicht übertrieben, von einer Vorwegnahme psychoanalytischer Ideen zu sprechen. Wenn Sigmund Freud in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie schreibt, »die Objektfindung ist eigentlich eine Wiederfindung«,210 so greift er damit wie Wagner die romantische Vorstellung des Déjà-vu wieder auf. Bei Freud ist dessen metaphysischer Gehalt allerdings vollends verschwunden. Er spricht in Bezug auf das Erwachen der Sexualität ausdrücklich von der Beziehung des Kindes zu seiner Mutter, die die spätere Objektfindung leite.211 Man könnte sagen, dass Wagners Musikdramen der vierziger und fünfziger Jahre von jenem Übergang in der Konzeption des Déjà-vu zeugen, der sich bereits in den Texten Kleists und Hoffmanns abzuzeichnen begann und der sich als eine mähliche Säkularisierung der platonischen Anamnesis-Konzeption begreifen

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Musikdramen, S. 42). Dieter Borchmeyer verweist in Bezug auf die Meistersinger von Nürnberg auf »das alte Motiv der Porträtmagie, des erotischen Déjà-vu«, allerdings ohne es näher zu analysieren (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 233f.). Bereits in seiner früheren Abhandlung, Das Theater Richard Wagners, erwähnt Borchmeyer, dass das WiederErkennen des Geliebten durch den Blick ein wiederkehrendes Motiv bei Wagner sei. Vgl. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 249. Dieter Borchmeyer hat betont, dass sich der Zusammenhang von Liebe und Erinnerung bei Wagner auch etymologisch nachweisen lässt. Er schreibt über die Abschiedsszene zwischen Siegfried und Brünnhilde zu Beginn der Götterdämmerung: »Wenn sie sich beim Abschied ›Minne‹ schenken, so meint das nicht nur die Liebe, sondern es ist das Versprechen, einander ewig zu ›gedenken‹. Dieses in Brünnhildes Abschiedsworten ständig wiederholte ›Gedenken‹ ist ein Synonym für ›Minne‹. Wagner wußte genau – zumal durch Jakob Grimms Deutsche Mythologie –, daß ›Minne‹ mit dem lateinischen ›memini‹ und ›memoria‹ oder dem englischen ›mind‹ verwandt ist.« Borchmeyer, Richard Wagner, S. 293f. Freud, Studienausgabe, Bd. 5, S. 126. Ebd., S. 126f.

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ließe. Findet bei Platon die erste und eindrückliche Schau des Schönen an einem »überhimmlischen Ort« statt, taucht dieser bei Freud als das verlorene Paradies der Kindheit wieder auf. In Wagners Werk überschneiden sich beide Ideen: Während Senta und Elsa in der Gestalt des Holländers bzw. Lohengrins noch ein Traumbild schauen, dessen Ursprünge im Geisterhaft-Übersinnlichen zu liegen scheinen, haben sich Siegmund und Sieglinde in der Walküre das erste Mal in ihrer Kindheit gesehen. Der Weg, den diese Wandlung des Déjà-vu nimmt, soll nun noch genauer nachgezeichnet werden. Die Idee des Déjà-vu ist bei Wagner bereits in den frühen Opern und unvertonten Entwürfen präsent. Man sollte dabei den Gehalt gerade der frühesten Werke, in denen Dieter Borchmeyer die »Urszenen« des reifen Wagners ausgemacht hat,212 nicht unterschätzen. Schon Die Hochzeit aus dem Jahr 1832 spielt mit dem Motiv des Liebesblicks, wie aus Wagners späterer Beschreibung in Mein Leben hervorgeht: Bei ihrer Hochzeit trifft eine junge Frau auf den ehemaligen Feind ihres Mannes, sein düstrer Blick schneidet auch ihr in das Herz, und als sie, im festlichen Zuge nach der Brautkammer geleitet, der Ankunft des Geliebten harrend, plötzlich am Fenster ihres hohen Turmgemaches diesen selben Blick mit furchtbarer Leidenschaft auf sich blitzen sieht, erkennt sie sofort, daß es sich um Leben oder Tod handelt. Den Eingedrungenen, der sie mit wahnsinniger Glut umfaßt, drängt sie zum Balkon zurück und stürzt ihn über die Brüstung in die Tiefe hinab, wo der Zerschmetterte von seinen Genossen aufgefunden wird. (ML, 75f.)

Die Braut schließt sich daraufhin in ihrer Kammer ein und taucht erst wieder bei der Leichenfeier auf, wo sie entseelt am Sarg des Erschlagenen zusammenbricht. Wagner selbst betont in Mein Leben, dass er diesen Stoff nach dem Vorbild E.T.A. Hoffmanns213 zunächst zu einer Novelle ausarbeiten wollte, »in welche zugleich der mir damals so teure musikalische Mystizismus hineinspielte.« (75) Tatsächlich erkennt man unschwer das Vorbild des Sandmann, wo Nathanael am Schluss auf einem Turm mit Clara ringt, sich schließlich beim Anblick des unten stehenden Coppelius in den Tod stürzt und »mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster lag« (SäW 3, 49). Auch das gefährliche Spiel der Blicke, das Sehen und Wieder-Sehen des Geliebten und die wahnsinnige »Glut«, die dadurch geweckt wird, deuten auf den Einfluss Hoffmanns.214 Man darf Die Hochzeit mit Fug und Recht als die Keimzelle des Wagnerschen Werkes bezeichnen: Dafür spricht ihre Mittelstellung

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Vgl. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 21ff. Den Einfluss Hoffmanns auf den Opernentwurf führt Bernd Zegowitz auf Wagners frühe Beschäftigung mit Hoffmann sowie die vergleichbaren Begabungen beider Künstler zurück. Inhaltliche oder motivische Parallelen zieht er jedoch nicht. Vgl. Zegowitz, Richard Wagners unvertonte Opern, S. 27–29. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass es sich bei dem Stoff um die Verarbeitung einer mittelalterlichen Vorlage handelt, auf die Wagner in Ritterzeit und Ritterwesen von Johann Gustav Gottlieb Büsching gestoßen war. Siehe hierzu Borchmeyer, Richard Wagner, S. 21–26.

zwischen Erzählung und Musikdrama, das Eindringen verbotener Leidenschaften in den kulturell reglementierten Raum der Ehe sowie die Rolle, die der Blick in dieser passionierten und gefährlichen Liebe spielt. Und es ist auch das erste Mal, dass Wagner an den Konventionen der Oper scheiterte: Sein »Nachtstück«, wie er seine Oper in abermaliger Anspielung auf Hoffmanns Sandmann nannte, fand bei der älteren Schwester und Schauspielerin Rosalie kein Gefallen. Diese wünschte sich die »Ausschmückung und Ausbildung der einfachen Verhältnisse zu mannigfaltigeren und möglichst freundlicheren Situationen« (ML, 76). Erst ein Jahrzehnt später gelang es Richard Wagner, das Déjà-vu zu einem musiktheatralischen Ereignis zu machen. Zweifellos ist eine der zentralen Szenen in Der fliegende Holländer der Augen-Blick, in dem sich Senta und der Holländer (wieder)sehen. Als der Holländer das Haus betritt, wendet sich Senta, die zuvor in die Anschauung seines Porträts versunken war, um. Ihr Blick »streift von dem Bild auf den Holländer, sie stößt einen gewaltigen Schrei der Überraschung aus und bleibt wie festgebannt stehen, ohne ihr Auge vom Holländer abzuwenden.« (H, 35) Es ist genau derselbe Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein, von der Fiktion in die Realität, der bei Kleist und Hoffmann den Liebesblick bestimmte: Elvires Anbetung des Ritterbildes endet mit dessen Lebendigwerdung, so wie Aurelies Mutter das Porträt Franceskos durch ihre sehnsüchtigen Rufe erst aus der Wand kommen lässt. In beiden Fällen ist dieses Wachwerden des Traumes faszinierend und bedrohlich zugleich: Das Eindringen der Phantasie in die Realität ist ein magischer, aber auch verstörender Moment. Nicht umsonst stößt Senta einen »gewaltigen« Schrei aus: Er ist höchstes Entsetzen und höchste Lust zugleich. Das Déjà-vu markiert im Holländer nicht die Vollendung der Liebe, sondern ihren überraschenden Anfang. Es ist ein stummer Blick, der erst gedeutet werden muss. »Wie ich’s geträumt seit bangen Ewigkeiten, / vor meinen Augen seh’ ich’s hier«, singt der Holländer im folgenden Duett, und auch Senta weiß: »Wie ich ihn oft gesehn, so steht er hier.« Jedoch zeigen Sentas Worte, dass der Augenblick des Wiederfindens in der Liebe mehr Fragen stellt als Antworten bereit hält: »Versank ich jetzt in wunderbares Träumen, / was ich erblicke, ist es Wahn? / Weilt ich bisher in trügerischen Räumen, / brach des Erwachens Tag heut an?« (H, 37f.) Die Bewusstwerdung des Unbewussten bewirkt, dass Traum und Realität verschwimmen. Ein gefährliches Ereignis, das die Figuren diskursiv nicht bewältigen können und deshalb an ihrer Liebe scheitern lässt.215

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Aus diesem Grund scheint mir die Interpretation von Ulrike Kienzle fehlzugehen, die den »Augenblick der Seelenberührung zwischen Senta und Holländer« als ein »Vorgefühl jenes nunc stans« interpretiert, »das die Liebenden erwartet«. Die »Entrückung und Entgrenzung des Wachbewusstseins« und »die Öffnung auf eine zweite, metaphysische Realität«, die in dieser Szene zweifellos angesprochen sind, gereichen den Figuren nicht zum Heil. Es ist keine Erlösung, die Wagner hier darstellt, sondern die Destabilisierung des Subjekts durch den Einbruch des Unbewussten. Es ist bezeichnend, dass Kienzle Sentas zweite Frage (»brach des Erwachens Tag heut an?«) als »die eigentliche Realität«

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Im Lohengrin wird diese Realisierung des Traumbildes anders gestaltet. »Laß mich ihn sehn wie ich ihn sah« – mit diesen Worten ruft Elsa den Gralsritter herbei (L, 17). Doch Lohengrins Auftritt unterscheidet sich von dem des Holländers, weil er von den Männern und Frauen angekündigt wird und er nicht plötzlich, mit einem Schlag in Elsas Leben tritt: »Seht! näher kommt er an! / An einer goldnen Kette zieht der Schwan!« Als sich Elsa umwendet, um Lohengrin in realiter zu sehen, stößt sie bei seinem Anblick »einen hellen Schrei des Entzückens« aus. Ortrud dagegen gerät in »tödlichen Schreck« und heftet »starr den Blick auf den Ankömmling« (19). Das Déjà-vu scheint in dieser Szene weniger gewalttätig als in Der fliegende Holländer: Es wird zum einen durch die Teichoskopie der Männer vorbereitet, zum anderen wird der Schrecken auf eine andere Figur verlagert. Dennoch ist fraglich, ob das Entzücken beim Anblick Lohengrins wirklich ein ungetrübtes ist. Ist es nicht ein »selig süßes Grauen« (19), das die Männer und Frauen erfasst? Der verstörende Aspekt des Déjà-vu kommt erst später, in der Brautnacht-Szene zum Vorschein. »Die nie sich sahn, wir hatten uns geahnt«, sagt Lohengrin und Elsa erwidert: »Doch ich zuvor schon hatte dich gesehn, / in sel’gem Traume warst du mir genaht« (59) Nun will Elsa, wie der vorige Abschnitt gezeigt hat, im Gegensatz zu Lohengrin dieses Déjà-vu deuten. Zwar schwört sie ihm im ersten Akt, nie an ihm zu zweifeln – »Wie gäb’ es Zweifels Schuld, die größer, / als die an dich den Glauben raubt?« (21) Daran kann sie sich im Brautgemach nicht mehr halten und löst so den Konflikt aus, der zum tragischen Ende des Musikdramas führt. Das Modell der Wiedererinnerung durch den Liebesblick scheitert also sowohl im Holländer als auch im Lohengrin an dessen Unausdeutbarkeit. Es ist bezeichnend, dass sich dies gerade in der Walküre ändert, einem Werk, in dem das Traumbild auf einem realen Ereignis beruht. Bevor das Motiv des Déjà-vu in diesem Musikdrama in den Fokus der Untersuchung rückt, soll auf eine unvertonte Oper Wagners eingegangen werden, in der das imaginierte Bild ebenfalls in der Wirklichkeit gründet. Die Rede ist von der Sarazenin, deren Entwurf und Libretto in die Zeit des Holländers fallen216 und die in ihrer Ausgestaltung des Liebesblicks eine

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deutet (Kienzle, Liebe, Schlaf und Tod, S. 342). Gerade das lässt das Duett aber offen, Wagner hält es bewusst in einem prekären Schwebezustand. Die Zeitenthobenheit, die dieser auch in der Komposition mit sich führt, deutet eher auf eine Verwirrung, Verzerrung und Verschmelzung der Wahrnehmung als auf eine ›Erlösung‹ des Subjekts. Auch an anderen Stellen ihrer Interpretation verliert Ulrike Kienzle die wissenschaftliche Distanz zu ihrem Forschungsgegenstand und beschönigt so die unauflösliche Zerrissenheit der Figuren: »Dass Senta sich nicht beirren lässt und an der Realität ihrer Vision festhält, ist ihre innere Stärke. Doch sie kann diese innere Stärke nur in der Ausschaltung des Wachbewusstseins behaupten.« (ebd., S. 340) Liebe ist für Kienzle die »Bereitschaft zur Entgrenzung, zur Aufgabe des Egoismus, zur Selbstpreisgabe« (ebd., S. 343). Mir scheint im Fall des Holländers das Gegenteil richtig zu sein: Ihre entgrenzende Kraft macht die Liebe in diesem Musikdrama unmöglich. Das Wagner-Werk-Verzeichnis hält Wagners eigene Angabe zur Entstehung der Prosaskizzen, den Winter 1841, für wahrscheinlich. Der Prosaentwurf entstand dann vermut-

Mittelstellung zwischen dem Holländer und Lohengrin auf der einen und der Walküre auf der anderen Seite einnimmt. Den Stoff zu diesem Libretto entnahm Wagner der Historie: Es geht um Manfred, den Sohn Friedrichs II.217 Zu Beginn sehen wir ihn in seinem Schloß zu Capua, wo er mit seinen Gefolgsleuten ein Fest feiert. Die geheimnisvolle Sarazenin Fatima tritt auf, die sich als »Sängerin« bezeichnet und behauptet, von Manfreds Vater, dem »Kaiser Friedrich« gesendet worden zu sein (SSD XI, 231). Sodann singt sie eine Ballade, die von der Liebesgeschichte Friedrichs und Zelimas erzählt und mit der utopischen Vereinigung von Christentum und Islam endet: »Denn er, der große Kaiser, war nicht Christ, nicht Muselmann, er war ein Gott, und als ein Gott verehrt lebt er noch heut im Morgenland.« So endet ihr Lied, dem Manfred »wie verzaubert« zuhört (232). Im zweiten Akt begegnen sich Manfred und Fatima abermals. Sie weckt ihn aus seinem Schlaf, weshalb dieser in ihr ein Traumbild zu sehen vermeint: »So ahnte ich wahr, du bist nicht von dieser Welt!« Obwohl Fatima ihm das Gegenteil beteuert, kann ihr Manfred kaum glauben. »So war auch dies ein Traum«, sagt er, als Fatima wieder verschwunden ist (239–241). Erst ganz am Ende versteht Manfred, dass es sich bei der Sarazenin nicht um eine Phantasiegestalt handelt. Fatima gibt sich, nachdem sie von ihrem eifersüchtigen Geliebten Nurredin tödlich verwundet wurde, als Manfreds Schwester zu erkennen: »Friedrich – Zelima – Manfred – mein Bruder – des Kaisers Tochter« (262). Es ist interessant, wie Wagner seine Entscheidung begründete, Die Sarazenin nicht zu vertonen. In Eine Mittheilung an meine Freunde schreibt er: In diesen rein geschichtlichen Vorgang wob ich eine erdichtete weibliche Gestalt: ich entsinne mich jetzt, daß sie mir aus dem Anschauen einer bereits längst mir zu Gesicht gekommenen Zeichnung, als Erinnerung entsprang: es war dieß eine Darstellung Friedrich’s II., umgeben von seinem fast ganz arabischen Hofe, aus welchem namentlich singende und tanzende orientalische Frauengestalten lebhaft meine Phantasie fesselten. (IV, 271)

Doch habe ihm sich dieses Bild wieder verwischt, »als meinem inneren Auge die Gestalt des Tannhäusers sich darstellte. Jenes Bild war mir von Außen vorgezaubert; diese Gestalt entsprang aus meinem Inneren.« (271f.) Diese Passage enthält eine aufschlussreiche Selbstdeutung, allerdings nur, wenn man sie gegen Wagners

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lich im Frühjahr 1843 in Dresden, im Anschluss an die erste Aufführung des Holländers. Vgl. Deathridge / Geck / Voss, Wagner-Werk-Verzeichnis, S. 244–246. Erstaunlich ist, dass Wagner den an die Gepflogenheiten der Grand Opéra angepassten Stoff auch nach dem Erfolg des Holländers wieder aufnahm. Am ehesten begründen lässt sich dies mit Wagners eigener Aussage, dass er der Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient eine passende Rolle schreiben wollte. Vgl. hierzu SSD IV, 277. Eine kurze Entstehungsgeschichte der Oper findet sich bei Zegowitz, Richard Wagners unvertonte Opern, S. 103–113. Zu Wagners Deutung des Stoffes vgl. die entsprechende Passage in Eine Mittheilung an meine Freunde (SSD IV, 270–272). Zum Einfluss der Traditionen der Grand Opéra auf die Sarazenin vgl. Zegowitz, Richard Wagners unvertonte Opern, S. 114–125.

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ursprüngliche Intention liest. Seine Aufwertung des inneren Bildes gegenüber dem äußeren vergleicht er mit seiner Abwendung von der Historie und seiner Hinwendung zum Mythos, zum Volksgedicht des Tannhäuser, das »das Volksauge« zur »plastischen Gestalt« geformt habe (272). Doch dieser Vergleich ist irreführend. Denn in Die Walküre, deren Stoff Wagner ebenfalls aus mythologischen Quellen schöpfte, ist es gerade die Überwindung des inneren Bildes, die im Zentrum steht. Siegmund und Sieglinde haben sich bereits in realiter erblickt, bevor sie sich wiedersehen. Denn sie sind Zwillinge, die in ihrer Kindheit getrennt wurden. Genau dieser Gedanke ist es, den Wagner in der Sarazenin bereits formulierte: Fatima ist in Wahrheit nicht das Traumbild Manfreds, sondern seine Schwester. Dies ist auch der Grund, warum ihr Déjà-vu von einer narrativen Anamnese gestützt werden kann, nämlich Fatimas Ballade, die die gemeinsame Familiengeschichte der Geschwister enthält. Auch in diesem Punkt weist Die Sarazenin auf Die Walküre voraus, da es hier ebenfalls der Bezug auf den Vater ist, der Siegmund und Sieglinde den Ursprung ihres traumartigen Wieder-Sehens zu ergründen hilft: SIEGLINDE Ein Wunder will mich gemahnen: – / den heut zuerst ich erschaut, / mein Auge sah dich schon! / SIEGMUND Ein Minnetraum / gemahnt auch mich: / in heißem Sehen / sah ich dich schon! […] SIEGLINDE Deines Auges Glut / erglänzte mir schon / so blickte der Greis / grüßend auf mich, / als der Traurigen Trost er gab […]. (W, 29f.)

Es ist die Erinnerung an den Blick ihres Vaters Wotan, die das »Wunder« des Déjàvu erklären kann und Siegmund und Sieglinde den destabilisierenden und gefährlichen Augen-Blick des rätselhaften Wiedererkennens zu überwinden hilft. Erinnert sei noch einmal an Platons Beschreibung der Anamnesis: Diejenigen, denen in der Welt ein »Ebenbild« des überhimmlischen Ortes begegnet, »werden entzückt und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen.« Eine treffende Beschreibung Sentas und Elsas, die an dieser Spielart des »Wahnsinns«, wie Platon die Anamnesis ausdrücklich nennt,218 zugrunde gehen. Den Zwillingen der Walküre gelingt es dagegen, das Déjà-vu zu durchschauen und den »Harm« (24) und das »Grau’n« (27), das es mit sich bringt, zu überwinden. Dies kann aber nur gelingen, weil die metaphysischen Voraussetzungen der Anamnesis aufgegeben werden. Getragen wird der Erinnerungsprozess in der Musik der Walküre von den Leitmotiven, die in das symphonische Gewebe des Orchestersatzes eingeflochten sind. Dass das Déjàvu musikalisch durch das Wiedererklingen eines Motivs gestaltet werden müsse, wusste Wagner bereits in der Sarazenin. Zu der Erkennungsszene zwischen Manfred und Fatima am Schluss notierte er, das Orchester solle »in weichen Anklängen den Refrain der Ballade des ersten Aktes« spielen (SSD XI, 262).

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Platon, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 571.

Dass der Musik bei der Erinnerung eines Bildes eine zentrale Aufgabe zukommt, hat Wagner auch theoretisch reflektiert. In seinem ästhetischen Hauptwerk Oper und Drama, das er nach der Sarazenin und vor der Walküre schrieb, heißt es: »Gedenken und Erinnerung ist […] dasselbe, und in Wahrheit ist der Gedanke das in der Erinnerung wiederkehrende Bild« (OuD, 340). In dieser Definition des Denkens als bildhafter Erinnerung liegt zunächst noch eine negative Konnotation: Erinnerung ist nur »ungegenwärtig«, wie Wagner schreibt. Deshalb dränge es den Gedanken, der in der Erinnerung aufbewahrt ist, wieder zurück in die Sinnlichkeit, aus der er stammt. Es geht also um die »Verwirklichung des Gedankens in die Sinnlichkeit« (ebd.). Anders formuliert: Um den Rückbezug des Bildes auf das ihm zugrunde liegende Erlebnis. An dieser Stelle kommt nun die Musik ins Spiel. Dadurch, dass sich die ungegenwärtige Erinnerung in der »Versmelodie« in die Unmittelbarkeit der Musik ergieße, werde sie eine Erscheinung, die uns, denen sie mitgeteilt wurde, so gut angehört als dem, der sie uns mitteilte; und wir können sie, wie sie dem Mitteilenden als Gedanke – d. h. Erinnerung – wiederkehrt, ganz eben so als Gedanken bewahren. […] Wir, die wir die neue Mitteilung empfangen, vermögen aber jene, jetzt nur noch gedachte Empfindung, in ihrer rein melodischen Kundgebung selbst, durch das Gehör festzuhalten: sie ist Eigentum der reinen Musik geworden […]. (341)

Dieses Zitat ist deshalb so wichtig, weil in ihm die Gedächtnisfunktion der Leitmotive begründet wird. Wagner glaubt, dass der allein durch das Bild vermittelte Erinnerungsakt eine Stärkung durch die Musik brauche: Sie allein kann ihn emotional fundieren und dem Zuschauer so verständlich machen. Allerdings stellt sich die Frage, ob Wagner damit nicht gerade jene Unmittelbarkeit der Musik opfert, auf die er seine Theorie stützt: Denn wenn die Musik nun dazu dient, durch Leitmotive einen Gedanken zu erinnern, dann wirkt sie nicht mehr nur gegenwärtig, sondern immer auch ungegenwärtig. Fest steht jedoch, dass für Wagner das Wiedererkennen durch den Blick nur gelingen kann, wenn das Wort oder die Musik hinzukommt. Die Figuren versuchen ihr Déjà-vu durch Sprache zu deuten, das Orchester durch die Musik. Diese Idee ist für die intermediale Konfiguration von Wagners Musikdramen zentral. Ex negativo lässt sie sich in Der fliegende Holländer nachweisen, wo die Vermittlung des Blicks sowohl in der Sprache als auch in der Musik scheitert. Das Déjà-vu Sentas und des Holländers bleibt stumm und kann auch in der Folge nicht gedeutet werden. Dies ist umso erstaunlicher, als Senta ja die Geschichte des Holländer-Porträts kennt, schließlich hat sie diese in ihrer Ballade gesungen. Doch kurz bevor der Holländer eintritt, ist Senta »in stummes Sinnen versunken, verbleibt in ihrer Stellung, den Blick auf das Bild geheftet; nach einer Pause singt sie leise, aber tief ergriffen, den Schluß der Ballade.« (H, 34) Wagner wiederholt also kurz vor dem Déjà-vu den Versuch, das Bild zu versprachlichen, dazu erklingt das Leitmotiv des Holländers im Orchester (SW 4/II, Nr. 5, T. 323ff.). Aber die Kadenz, die der Schlussrefrain andeutet, wird nicht aufgelöst, sondern endet, als Senta plötzlich den echten Holländer sieht, in einem lauten und dissonanten Akkord, der wie ein 241

Blitzschlag den Tonsatz durchfährt und begleitet wird von einem abrupten, dissonanten Schrei Sentas. Was folgt, ist Schweigen: Senta starrt wortlos den Holländer an, die Musik verstummt. Die Ästhetik des Holländers ist ganz wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass zwischen den Medien keine Vermittlung möglich ist und die Bewusstwerdung des Unbewussten deshalb scheitert. Wagner formuliert hier eine radikale Kritik an der traditionellen Form der Oper, weil er in deren unvermittelten Umschwüngen ein Unvermögen des Gedächtnisses zu erkennen vermeint – ein Problem, mit dem sich das sechste Kapitel beschäftigen wird. Obwohl im Lohengrin die diskursive Deutung des Blicks ebenfalls scheitert, zeugt das Déjà-vu im ersten Akt doch von einem anderen kompositorischen Verständnis. Hier findet sich Wagners Forderung nach einer Vermittlung der optischen Wahrnehmung durch die Musik verwirklicht. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil die Leitmotivtechnik des Lohengrin entwickelter ist als die des Holländers. Zu Elsas »Laß mich ihn sehn wie ich ihn sah« erklingt ein Motiv, das zu Beginn ihres Auftritts vernommen wurde (SW 7/I, T. 271ff.). Dort charakterisierte es das Schweigen Elsas, es war die Ahnung ihres unbestimmten Gefühls. Dieses wird nun durch Elsas Worte benannt, wobei Wagner die damit verbundene Bewusstwerdung mit einer Modulation von As-Dur nach A-Dur musikalisch veranschaulicht. Dazu deutet er den Ges-Dur-Akkord in Takt 602 einfach in ein Fis-Dur um, das dann in den Quartsextakkord von A-Dur geführt wird.

Abb. 8: Elsas Bewusstwerdung als Déjà-vu (SW 7/I, T. 600-605, Ausschnitt).

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Nicht zufällig geschieht dieser harmonische Wechsel in dem Moment, der in Elsas Gesang den Übergang vom Traumbild zum realen Bild markiert: »wie ich ihn sah, sei er mir nah!« (L, 17) Nun setzt der Chor des Volkes ein, der das Herannahen Lohengrins schildert. Wagner komponiert einen Tonsatz, der sich permanent steigert, vom pianissimo zum fortissimo, von vereinzelten Stimmen zum vollen Chor, vom Einsatz weniger Instrumente zum Tutti. Elsa lauscht dieser Schilderung »mit immer freudiger gespannter Miene« (18) und dreht sich erst um, als die Musik in Takt 660 ihren Höhepunkt erreicht hat: Das Déjà-vu wird durch die Musik vorbereitet und wirkt weniger abrupt als dasjenige Sentas. Elsas Schrei erfolgt auf dem zweigestrichenen A und fügt sich so harmonisch in das A-Dur des Orchesters und des Chores ein. Er wird akustisch regelrecht aufgesogen, da das Orchester in voller Besetzung, unter Einsatz von Becken und Pauken spielt. Diese kompositorische Vermittlung des Déjà-vu kommt im Ring des Nibelungen nicht nur in der Beziehung von Siegmund und Sieglinde, sondern auch in der von Siegfried und Brünnhilde zum Tragen. Als diese sich begegnen, hat der Anblick Brünnhildes für Siegfried zunächst nichts von einem Déjà-vu. Als er der Schlafenden den Helm löst, »erschrickt« er: »Ach! – wie schön!« (Sf, 109) Noch heftiger ist seine Reaktion, nachdem er ihr die Rüstung geöffnet hat: »Das ist kein Mann!« ruft er »überrascht und staunend« aus (110). Die Musik gibt dieses Erschrecken durch einen plötzlichen Orchestereinsatz im fortissimo wieder,219 der zu dem piano der vorhergehenden, in Terzparallelen geführten Klarinettenmelodie in scharfem Kontrast steht. Wie wichtig der Blick im weiteren Verlauf ihrer Beziehung ist, zeigt die kompositorische Ausgestaltung von Brünnhildes Erwachen. »Heil dir, Sonne! / Heil dir, Licht! / Heil dir, leuchtender Tag!«220 sind ihre ersten Worte (113). Doch die Musik verrät, dass Brünnhilde zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich erwacht ist. Dies vollzieht sich nur langsam und schrittweise. Als sie die Augen aufschlägt, notiert Wagner e-Moll, das im selben Moment durch einen Dominantseptakkord auf H vorbereitet wird. Die folgende Brechung des vorbereitenden aufsteigenden Lineaments kann als »Zerreißen« des Schlafs interpretiert werden, gleichzeitig wird der Klangraum stufenweise nach oben und unten erweitert.221 Als e-Moll dann erklingt, wirkt dies durch die völlig geänderte Instrumentation, den metrischen Wechsel und die hohe Lage nicht wie ein Zielpunkt, sondern wie der Beginn eines neuen Abschnitts. Konsequenterweise notiert Wagner nun C-Dur, das im folgen-

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Richard Wagner, Siegfried. Taschenpartitur von B. Schott’s und Söhne (WWV 86C / XIIIa), S. 982. Da der dritte Akt des Siegfried zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Studie noch nicht in den Sämtlichen Werken vorliegt, wird auf diese Ausgabe zurückgegriffen. Wagner hat die Vorlage der Älteren Edda geändert. Dort sagt die Walküre: »Heil Tag! Heil Tagsöhne! / Heil Nacht und Nachtkind!« Heldenlieder der Älteren Edda, S. 50. Wagner, Siegfried (Schott), S. 1001–1003. Vgl. hierzu Ulrike Kienzle, Brünnhilde. Das Wotanskind. In: »Alles ist nach seiner Art«. Figuren in Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«, hg. von Udo Bermbach, Stuttgart, Weimar 2001, S. 81–103, hier S. 92.

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den Takt als Medianttonart erreicht wird und so einen völlig neuen Klangraum öffnet.222 Und spätestens als der lang gehaltene Dominantseptakkord auf G ertönt,223 wird klar, dass C-Dur auch die Zieltonart ist. Die Auflösung dorthin wird an dieser Stelle aber verweigert. Zunächst wiederholt sich die Phrase zu Brünnhildes Worten »Heil dir, Sonne!« Abermals wird C-Dur angestrebt, diesmal jedoch durch einen E-Dur-Abschnitt unterbrochen, in dem Siegfried ihr seinen Namen nennt.224 Erst ab »O Heil der Mutter, die mich gebar« wird eine Passage eingeleitet, die sich nach C-Dur auflöst.225 Schon vorher wird C-Dur erreicht (Brünnhilde: »nährt«), ist hier aber nur Durchgangsakkord eines Terzfalls von G über E7 nach A7. Ab Siegfrieds »Seligem« markiert der Quartsextakkord auf C den Beginn der Kadenz nach CDur, das in Takt 1144 schließlich erreicht wird. Jetzt scheint Brünnhilde endgültig erwacht zu sein und es ist sicher kein Zufall, dass Wagner dies mit dem gegenseitigen Anschauen der Liebenden gleichsetzt. Bei den Worten »daß ich das Aug’ erschaut, / das jetzt mir Seligem lacht!« (Siegfried) und »nur dein Blick durfte mich schaun, / erwachen durft’ ich nur dir!« (Brünnhilde) kommen beide Singstimmen zusammen. Brünnhilde wird durch Siegfrieds Blick erweckt. C-Dur ist hier nicht nur die Tonart des Tages und des Lichts, sondern steht auch für das »Erwachen«, das Ankommen im Bewusstsein.226 Im folgenden Verlauf der Szene steht abermals die Deutung des Liebesblicks im Mittelpunkt. Während Siegfried in ihm Neues zu entdecken glaubt, findet Brünnhilde Altbekanntes wieder. »O wüsstest du, Lust der Welt, / wie ich dich je geliebt! / […] Dich zarten nährt’ ich / noch eh’ du gezeugt; / noch eh’ du geboren / barg dich mein Schild: / so lang lieb’ ich dich, Siegfried!« Ihr Déjà-vu ist das der Mutter, die ihren Sohn zum ersten Mal erblickt. So deutet jedenfalls Siegfried die Worte Brünnhildes: »So starb nicht meine Mutter? / Schlief die minnige nur?« (113) Die ödipale Konnotation des Wieder-Sehens zwischen Siegfried und Brünnhilde setzt in Szene, was Sigmund Freud über ein halbes Jahrhundert später als eine Spielart der Objektfindung definieren wird, nämlich das Wiederfinden der Mutter in der Geliebten: Es ist ein deutlicher Nachklang dieser Entwicklungsphase, wenn die erste ernsthafte Verliebtheit des jungen Mannes, wie so häufig, einem reifen Weibe, die des Mädchens

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Wagner, Siegfried (Schott), S. 1004f. Ebd., S. 1008f. Auch das Siegfried-Motiv hellt sich an dieser Stelle auf. Bei »Helm« beginnt es mit einem Sprung in die Dur-Terz (ebd., S. 1019). Vgl. hierzu auch Voss, »Wagner und kein Ende«, S. 195. Wagner, Siegfried (Schott), S. 1029ff. Ebd., S. 1032. Die hier beschriebene harmonische Struktur wurde bereits herausgearbeitet von: William Kindermann, Dramatic Recapitulation in Wagner’s »Götterdämmerung«. In: 19th century music 4, H. 2, 1980, S. 101–112, hier S. 104. Auf den engen Zusammenhang der tonalen Festigung von C-Dur mit der Blickmotivik verweist Kindermann allerdings nicht.

einem älteren, mit Autorität ausgestatteten Manne gilt, die ihnen das Bild der Mutter und des Vaters beleben können. In freierer Anlehnung an diese Vorbilder geht wohl die Objektwahl überhaupt vor sich.227

Die Feststellung, dass die Szene zwischen Brünnhilde und Siegfried – ebenso wie andere Liebesszenen des Rings – auf einem ödipalen Muster beruht, ist nicht neu.228 Deshalb soll der Hinweis genügen, dass Freud den Prozess der Objektfindung als die Lebendigwerdung eines Bildes beschreibt und damit auf jenes romantische Modell des Déjà-vu zurückgreift, das sich bereits in Der fliegende Holländer und Lohengrin beobachten lässt. Auch für Siegfried und Brünnhilde ist der Anblick des Geliebten die Bewusstwerdung eines unbewussten Bildes, aber dieses lässt sich nun anders als in den frühen Musikdramen eindeutig auf die Familiengeschichte zurückführen. Indem Richard Wagner den Augen-Blick der Liebe als einen Akt der Erinnerung deutet, gibt er ihn dem Vergessen anheim. Auch die Liebe zwischen Siegfried und Brünnhilde ist den Gesetzen von »Ebbe und Flut« unterworfen, wie es Wagner im Brief an August Röckel formuliert hat. Auf den rauschhaften, viel beschworenen Liebestaumel des letzten Siegfried-Aktes folgt die Katastrophe der Götterdämmerung, in der Siegfried seine Gefühle für Brünnhilde vergisst. Die Ereignisse seines Lebens kommen ihm erst wieder zu Bewusstsein, als er den Männern und Hagen von ihnen erzählt. Diese Szene mündet schließlich in die Erinnerung an die erste Begegnung mit Brünnhilde.229 Siegfrieds letzte Worte sind Anklänge an seine freu-

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Freud, Studienausgabe, Bd. 5, S. 131. Es verwundert deshalb nicht, dass auch die zweite Form der Objektfindung, von der Freud spricht, sich bei Wagner vorgebildet findet: die »narzißtische, die das eigene Ich sucht und im anderen wiederfindet.« (ebd., S. 126) Dies ist der Fall bei Siegmund und Sieglinde, die im anderen ihr »eigen Bild« wiederfinden (W, 29). Zum Motiv des Inzests im Ring vgl. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 230–253; Emig, Arbeit am Inzest; N. Wagner, Wagner-Theater, S. 89–107. Siehe hierzu auch 3.4. In dem Entwurf Wieland der Schmied, der in die Zeit der Ausarbeitung des letzten Ring-Teiles fällt, erinnert die Liebesgeschichte von Wieland und Schwanhilde sehr stark an diejenige von Siegfried und Brünnhilde. Nachdem Wieland die ohnmächtige Schwanhilde an den Strand geholt hat, kommt sie zu sich, »schlägt die Augen auf und erblickt Wieland.« (SSD III, 181) Im Laufe des Dramas geht es nun darum, dass Wieland Schwanhilde wiederfindet, denn bei der Ankunft in Neidings Hof scheint er sie vergessen zu haben – ein Vergessen, das an mehreren Stellen des Entwurfs als Blindheit beschrieben wird (u.a. 200). Stattdessen verliebt sich Wieland in Bathilde. »Immer muß er an sie [Bathilde, M.S.] denken, – und denkt er an sie, so schwindet ihm alle Erinnerung: seine Jugend, seine einstige Freiheit, seine wonnig-heitere Kunst, und was je ihn entzückt« (197). Seiner Liebe zu Schwanhilde entsinnt er sich erst, als er den Ring wiedersieht, den Bathilde gestohlen hat (199): Die Anamnese wird hier durch ein Requisit ausgelöst. Aus diesem Grund geht die Interpretation von Bernd Zegowitz, der den Ring in Wieland der Schmied einzig als Ausdruck des Konflikts von Liebe und Macht deutet, nicht weit genug. Vgl. Zegowitz, Richard Wagners unvertonte Opern, S. 243f.

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digen Rufe, als er Brünnhilde zum ersten Mal erblickte: »Ach, dieses Atems / wonnig warmes Gedüft’!« sang er dort und bezeichnete Brünnhilde als »heiliges Weib« (Sf, 111). In der Götterdämmerung heißt es nun »Ach, dieses Atems / wonniges Wehen!« (G, 100) und aus dem »heiligen Weib« wird die »heilige Braut« (99). Es sind Erinnerungsfetzen, die Siegfried bei seinem Tod bruchstückhaft wiederkehren. Für die musikalische Gestaltung dieses Déjà-vu ist entscheidend, dass Wagner auch die Musik der Erweckungsszene Brünnhildes entnahm, also wiederum leitmotivisch arbeitete. Die ersten zwanzig Takte (SW 13/III, T. 867–886) entsprechen ganz der Musik, die ihr Erwachen begleitete.230 Sowohl die E-Dur-Passage zu »Der Wecker kam« (T. 891ff.) als auch das Motiv, das im Siegfried durch die »Heil Dir«-Rufe exponiert wurde und nun von Harfenklängen begleitet im Orchester erklingt (T. 900), sind Zitate. Wagner inszeniert das Déjà-vu, das Siegfrieds Tod begleitet, als ein ›zweites Erwachen‹: Dadurch, dass ihm Brünnhildes erster Augenaufschlag zu Bewusstsein kommt, wird auch Siegfried erweckt. Er erinnert das vergessene und ins Unbewusste gesunkene Wissen. Dabei schlägt er noch einmal »glanzvoll« die Augen auf: Der entscheidende Gedächtnisakt der Siegfried-Figur, der einzige Moment, in dem er zu einer tiefen Erkenntnis zu gelangen scheint,231 bleibt an den Blick gebunden; die Anagnorisis ist eine Anamnesis. »Ach, dieses Auge, / ewig nun offen!« singt Siegfried, und diese Worte sind wohl nicht nur auf Brünnhilde, sondern auch auf ihn selbst zu beziehen. Das innere, höhere Sehen, das durch seinen »glanzvollen« Augenaufschlag gekennzeichnet wird, ist in Wahrheit ein WiederSehen; dies signalisiert nicht zuletzt das Wort »wieder« in der auf Brünnhilde bezogenen Formulierung »Wer verschloß dich / wieder in Schlaf?« (G, 99) Siegfried wird hellsichtig, weil er der Erinnerung fähig wird: Bevor er sein Auge für immer schließt, hat er es so weit wie nie geöffnet. Siegfrieds Tod zeigt eine Veränderung in Wagners Konzeption des Déjà-vu an, die vor allem in Tristan und Parsifal von Bedeutung sein wird: die Deutung der Anamnesis als potenzierter, ja hellsichtiger Blick. Anzunehmen ist, dass ihn die Beschäftigung mit Schopenhauer dazu angeregt hat, das Déjà-vu wieder verstärkt platonisch zu verstehen und auf das höhere Sehen zu beziehen. Dennoch griffe es zu kurz, die Ausgestaltung dieses Motivs in den späten Musikdramen allein von Schopenhauer herzuleiten. Denn für diesen spielen Erinnerung und Gedächtnis

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Wagner plante bereits nach der Komposition des Siegfried, die Erwachensmusik Brünnhildes auch für Siegfrieds Tod zu verwenden: »Nach Tisch spielt er Siegfried’s 3ten Akt durch, über alle Worte herrlich; bei der Begrüßung Siegfried’s durch Brünnhilde zeigt er mir Harfenklänge, die er hinzugefügt, gleichsam wie die Harfen der Skalden, wenn sie in Walhall einen Helden empfangen. Diese Klänge werden beim Tode Siegfried’s wieder erschallen.« (CT I, 415). Deshalb trifft es nicht ganz zu, wenn Egon Voss schreibt: »Der Verzicht auf Neukomposition besagt, dass Siegfried im Tode keine neue Stufe erreicht, sondern allenfalls zu jener zurückfindet, die er mit dem Verlassen des Walkürenfelsens aufgab.« Voss, »Wagner und kein Ende«, S. 204.

nur eine untergeordnete Rolle, da sie wie die Geschichte an Kausalität geknüpft sind und deshalb immer nur mit der Oberfläche der Erscheinungen verbunden bleiben; sie reichen nicht bis in die letzte Tiefe des Seins, den Willen. Obwohl er stark von Platons Ideenlehre beeinflusst wurde, hat Schopenhauer dessen Theorie der Anamnesis nicht interessiert. Anders Wagner, der die Liebe auch in seinen späten Werken konsequent als ein Wiedererkennen auffasste. Tristan und Isolde versuchen genauso wie Senta und der Holländer, Elsa und Lohengrin, Siegmund und Sieglinde den Blick des anderen als ein Déjà-vu zu deuten und zu verstehen. Nicht zufällig steht in ihrem Dialog im zweiten Akt das Wechselspiel von Sehen und Wieder-Sehen im Zentrum. Dieses begann, wie Isolde im ersten Akt erzählt, in Irland. Isolde brachte es nicht über sich, den kranken und wehrlosen Tristan zu töten: »Nicht auf das Schwert, / nicht auf die Hand, – / er sah mir in die Augen.« (TuI, 19) Dieser Moment wird nun mit der Bewusstwerdung eines unbewussten Bildes verglichen. Isolde wirft Tristan vor, »sein messender Blick« habe ihr »Bild« gestohlen (34), was dieser im Duett der Liebesnacht bestätigt: der Welten-Ehren/ Tages-Sonne,/ mit ihrer Strahlen/ eitler Wonne,/ durch Haupt und Scheitel/ drang mir ein,/ bis in des Herzens/ tiefsten Schrein./ Was dort in keuscher Nacht/ dunkel verschlossen wacht’,/ was ohne Wiss’ und Wahn/ ich dämmernd dort empfahn,/ ein Bild, das meine Augen/ zu schaun sich nicht getrauten, –/ von des Tages Schein betroffen/ lag mir’s da schimmernd offen. (55)

Doch da es sich Wagner im Tristan zur Aufgabe gemacht hat, die herkömmliche Zuordnung von Tag=bewusst und Nacht=unbewusst in ihr Gegenteil zu verkehren, markiert das Aufleuchten des Bildes keine Erinnerung, sondern ein Vergessen. Erst durch den Trank kann Tristan es wiederfi nden, in einer Art umgekehrtem Déjà-vu: O Heil dem Tranke! […] darin sonst ich nur träumend gewacht,/ das Wonnereich der Nacht./ Von dem Bild in des Herzens/ bergendem Schrein/ scheucht’ er des Tages/ täuschenden Schein,/ daß nacht-sichtig mein Auge/ wahr es zu sehen tauge. (58)

Ziel ist damit nicht mehr wie in den vorhergehenden Musikdramen die Externalisierung des im Inneren geschauten Bildes. Vielmehr wird der Liebesblick zum höheren Blick ins Unbewusste der Welten-Nacht: »Wer des Todes Nacht / liebend erschaut, / wem sie ihr tief / Geheimnis vertraut, / des Tages Lügen, / […] wie eitler Staub der Sonnen / sind sie vor dem zersponnen.« (59) Noch im Parsifal wird das gesteigerte Sehen als ein Wieder-Sehen verstanden. Obwohl der Liebesblick in einen mitleidigen Blick umgedeutet wird, beruht er immer noch auf dem Modell des Déjà-vu. Dieser These scheinen zwar Parsifals Worte beim Anblick Kundrys im zweiten Akt zuwider zu laufen: »Nie sah ich, nie träumte mir, was jetzt / ich schau’, und was mit Bangen mich erfüllt.« (P, 54) Doch obwohl Parsifal es nicht merkt, ist die Begegnung mit Kundry ein Wiederfinden der Mutter – Wagner kommt hier der Freudschen Definition der Objektfindung abermals sehr nahe. Das Déjà-vu wird für Parsifal erst erfahrbar, als er sich aus 247

Kundrys Armen losreißt und die Verführung, der er verfällt, als Wiederholung der Verführung des Amfortas erkennt: »Ja! Diese Stimme! So rief sie ihm; – / und diesen Blick, deutlich erkenn’ ich ihn, / – auch diesen, der ihm so friedlos lachte.« (59) Dieser Erinnerungsakt ist nun die Voraussetzung für die Überwindung jener traumatischen Elemente des Déjà-vu, die vor allem in der Charakterisierung von Kundrys Blick aufscheinen: Ich sah – Ihn – Ihn – / und – lachte…/ da traf mich sein Blick. – / Nun such’ ich ihn von Welt zu Welt,/ ihm wieder zu begegnen:/ in höchster Not –/ wähn’ ich sein Auge schon nah,/ den Blick schon auf mir ruhn: –/ da kehrt mir das verfluchte Lachen wieder, –/ ein Sünder sinkt mir in die Arme! (61)

Letztlich geht es also auch im Parsifal noch um dasselbe Thema wie im Holländer: Die Frage, wie sich der im Akt des Wiedererkennens mitschwingende Wahnsinn überwinden und der erotische und rätselhafte Augen-Blick der Liebe, den er vermittelt, deuten lasse. Während im ersten Akt der Walküre der Blick in eine Geschichte eingebunden wird, könnte man in Bezug auf Tristan und Parsifal von einer Heilung des Blicks durch den Blick sprechen. Parsifal wird »Welt-hellsichtig« (62), weil er die destabilisierende Struktur des Déjà-vu und den ihr zugrundeliegenden sexuellen Wiederholungszwang durchschaut. Den Höhepunkt der künstlerischen Ausformulierung des Déjà-vu bilden zweifelsohne Die Meistersinger von Nürnberg. In diesem Musikdrama verknüpft Richard Wagner die beiden Diskurse, die die romantische Auseinandersetzung mit dem Déjà-vu bestimmten: Den Liebesblick auf der einen und den künstlerischen Produktionsprozess auf der anderen Seite. Dabei versucht er, das im Wieder-Sehen der Liebenden geweckte erotische Begehren zu sublimieren, indem er es in eine poetische Deutung einbindet. Bereits zu Beginn der Meistersinger zitiert Wagner jene Spielart des Déjà-vu, die in seinen frühen Werken als konflikthaft erschien: Die Verlebendigung des Traumbildes. Als Eva ihrer Amme Magdalene ihre Gefühle für Walther mitteilt, ist diese überrascht: MAGDALENE. Sahst ihn doch gestern zum ersten Mal? EVA. Das eben schuf mir so schnelle Qual, / daß ich schon längst ihn im Bilde sah: – / sag, trat er nicht ganz wie David nah? MAGDALENE. Bist du toll? Wie David? EVA. Wie David im Bild. MAGDALENE. Ach! meinst du den König mit der Harfen / und langem Bart in der Meister Schild? EVA. Nein! der, dess’ Kiesel den Goliath warfen, / das Schwert im Gurt, die Schleuder zur Hand / […] MAGDALENE laut seufzend Ach, David! David!

In diesem Augenblick tritt tatsächlich der Lehrbube David hervor, in den Magdalene verliebt ist, »ein Lineal im Gürtel und ein großes Stück weißer Kreide an einer Schnur in der Hand schwenkend.« (M, 13) Diese Szene ist mehr als eine scherzhafte Anspielung auf biblische Motive. Indem Wagner die Sichtbarwerdung des Unsichtbaren ins Komische wendet, versucht er dessen Gefahren zu mildern und gleichzeitig die Möglichkeit einer Neuformulierung zu schaffen. Diese findet im dritten Aufzug statt, als sich Walther und Eva in der Schusterstube des Hans Sachs wiederbegegnen. Die Szene, in die dieses Déjà-vu eingebettet 248

ist, ist der dramaturgische Knotenpunkt des Werkes. In ihm laufen verschiedene Narrative zusammen, die zuvor entwickelt wurden und zueinander in Konflikt stehen: Zum einen die Liebe zwischen Eva und Walther, die aufgrund der Regeln der Gesellschaft zu scheitern droht. Zum anderen die Geschichte des ›Naturgenies‹ Walther, dessen improvisatorische Gabe von den Meistersingern nicht als echte Kunst anerkannt wird. Und schließlich das unterschwellig inzestuöse Verhältnis zwischen Eva und Sachs, das sich in ihrem Gespräch im zweiten Akt andeutete. »Drum dacht’ ich aus, / Ihr nähmt mich für Weib und Kind ins Haus.« »Da hätt’ ich ein Kind und auch ein Weib: / ’s wär’ gar ein lieber Zeitvertreib!« (M, 71f.) Diese verbotene Leidenschaft, um die es nun in der Schusterstube des Hans Sachs gehen wird, manifestiert sich in einem geläufigen literarischen Motiv: der Schuhprobe. Hans Sachs hat für Eva ein Paar Schuhe gefertigt, das sie am Tag ihrer Brautwahl anziehen soll. Deshalb kommt sie in seine Schusterstube – Walther hat zu diesem Zeitpunkt die Szene noch nicht betreten. Zwischen Eva und Sachs entspinnt sich ein Dialog, dessen erotische Töne kaum zu überhören sind. Bereits bei Evas Eintritt in die Schusterstube bemerkt Sachs: »Du machst wohl Jung und Alt begehrlich, / wenn du so schön erscheinst.« Eva hat ihr Brautkleid und ihre neuen Schuhe an, doch weil diese ihr angeblich nicht passen, muss Sachs noch einmal Hand anlegen. Dazu streckt Eva »den Fuß auf dem Schemel beim Werktisch« aus (137) und Sachs tastet ihn ab. Dass die Symbole der Füße und der Schuhe unter anderem als Ausdruck von Erotik und Sexualität fungieren, ist bekannt.232 Deutlich wird dies an einer früheren Stelle des Musikdramas: im zweiten Akt im ›Schusterlied‹. Sachs singt es, als Eva mit Walther aus der Stadt fliehen will: Als Eva aus dem Paradies / von Gott dem Herrn verstoßen, / gar schuf ihr Schmerz der harte Kies / an ihrem Fuß dem bloßen. Das jammerte den Herrn, / ihr Füßchen hat er gern; / und seinem Engel rief er zu: / ›da mach der armen Sündrin Schuh! / Und da der Adam, wie ich seh’, / an Steinen dort sich stößt die Zeh’, / das recht fortan / er wandeln kann, / so miß dem auch Stiefeln an! (85)

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Die Konnotation des Fußes mit der Fruchtbarkeit wird u.a. im Dionysos-Mythos deutlich: Der ›zweimal Geborene‹, wie der Gott in der Mythologie genannt wird, wird nach dem Tod seiner Mutter Semele in den Schenkel seines Vaters Zeus eingenäht. Sigmund Freud nimmt in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie ausdrücklich auf die Mythologie Bezug, wenn er bei seiner Erörterung der Fetischobjekte darauf hinweist, dass der Fuß »schon im Mythus« ein »uraltes sexuelles Symbol« gewesen sei. Den »Schuh oder Pantoffel« deutet er als »Symbol des weiblichen Genitales« (Freud, Studienausgabe, Bd. 5, S. 65). Sylvia Heudecker, Schuh. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. von Günter Butzer / Joachim Jacob, Stuttgart, Weimar 2008, S. 334–335; zur erotischen Konnotation des Schuh-Symbols in der Literaturgeschichte: Claus Korte, Literarische Schuh-Symbole. In: Z.B. Schuhe, hg. von Michael Andritzky / Günter Kämpf / Vilma Link, Gießen 1995, S. 30–41, hier S. 37–41.

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Das Erwachen der Sexualität, wie es sich im Mythos des Sündenfalls manifestiert, wird im Schusterlied mit dem Motiv der Schuhe parallelisiert. Damit erscheint die im dritten Akt erfolgende Schuhprobe – ähnlich wie im Aschenputtel der Brüder Grimm – als Akt der weiblichen Initiation.233 Dass Eva sich Schuhe anziehen muss, symbolisiert die sexuelle Vereinigung mit ihrem künftigen Mann. Das heißt aber zugleich, dass sich in der scheinbar harmlosen Szene zwischen ihr und Sachs ein zentraler Konflikt des Dramas ausspricht: Indem Eva Sachs ihren Fuß entgegenstreckt, wiederholt sie den Wunsch nach der inzestuösen Vereinigung mit dem Vater.234 Just in diesem entscheidenden Moment betritt Walther die Schusterstube »und bleibt beim Anblick Evas wie festgebannt stehen. Eva stößt einen leisen Schrei aus und bleibt ebenfalls unverwandt in ihrer Stellung« (138). Dieser Auftritt Walthers findet sein Vorbild in E.T.A. Hoffmanns Meister Martin, wo Rosa, als Friedrich nach langer Abwesenheit am Schluss der Erzählung Meister Martins Haus betritt, laut aufschreit.235 Aus dieser Verbindung von Déjà-vu und Imprévu bei Hoffmann entwickelt Wagner, im Vorgriff auf Freud, die Übertragung der weiblichen Libido vom Vater auf den Geliebten. Wie in Der fliegende Holländer und Lohengrin 236 er-

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Dies ist freilich keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Bereits das Mittelalter erzählte Geschichten von Männern, die ihre auserwählte Frau finden, indem sie sie in einen Schuh schlüpfen lassen, der nur für sie gemacht ist. Im Spielmannsepos König Rother schenkt Rother seiner zukünftigen Braut silberne und goldene Schuhe und vollzieht so symbolisch die Befreiung der jungen Frau von der Vormundschaft ihres Vaters. Vgl. König Rother, übersetzt von Peter K. Stein, Stuttgart 2000, S. 167–175. Sigmund Freuds Vermutung, dass der Schuh ein Ersatzobjekt für das weibliche Sexualorgan sei, in das der Fuß (=Penis) des Mannes gleiten kann, ist kulturgeschichtlich also durchaus begründet. Claus Korte hat die Verbindung hervorgehoben, die zwischen dem erotisierten Schusterbild des 19. Jahrhunderts und Hans Sachs besteht. »Den Schuster, als kennerschaftlichen Spezialisten des Schuhmaßes und der Schuhanprobe, betrachtete die volksnahe Phantasie als einen in besonders naheliegender Weise der erotischen Magie des Frauenfußes ausgesetzten Mann. Also wurde ›Der verliebte Schuster‹ in der Literatur, dem Musiktheater und der Graphik des 18. und 19. Jahrhunderts ein beliebtes und variantenreiches Motiv.« Eben auf dieses Bild spiele Wagner mit seiner Figur des Hans Sachs an. Korte, Literarische Schuh-Symbole, S. 36. Vgl. hierzu SäW 4, 563. Hoffmann verschränkt den Eintritt Friedrichs mit der Erfüllung der Prophezeiung der Großmutter, nach der Rosas zukünftiger Mann ein »Häuslein mit güldnem Prangen« anfertigen wird (518). In dem Moment, als Friedrich sein Haus betritt, trinkt Meister Martin gerade aus dem Pokal, den jener hergestellt hat, und entdeckt auf dessen Boden das »glänzende Häuslein«, von dem die Großmutter gesprochen hatte (564). Nicht zufällig werden beide Werke in dieser Szene zitiert. Walther kommt wie Lohengrin »in glänzender Rittertracht« (M, 138) in die Schusterstube, Eva betritt wie Elsa in »glänzender weißer Kleidung« (136) die Bühne. Und Hans Sachs redet, während die Liebenden in den Anblick des jeweils anderen versunken sind, auf Eva ein, so wie Daland dies mit Senta tut.

scheint das Déjà-vu als ein Gleiten des Blickes, jedoch nicht mehr vom Traumbild auf die reale Erscheinung, sondern von der elterlichen Imago, die den Fokus des kindlichen Begehrens bildete, auf das Liebes-Objekt des Erwachsenen. Es geht um jenen prekären Moment in der Entwicklung des Individuums, in dem sich die inzestuöse Sexualität transformiert und sublimiert. Auch in anderen Liebes-Szenen seiner Musikdramen hat Wagner dieses Motiv durchgespielt, etwa in den Begegnungen Siegfrieds mit Brünnhilde oder Parsifals mit Kundry. Entscheidend für die Ästhetik der Meistersinger ist jedoch, dass die Sublimierung durch die Produktion eines Kunstwerkes zu garantieren versucht wird, in dem das Rätsel des Déjà-vu gedeutet wird. Der Anblick Evas inspiriert Walther zu der dritten Strophe seines Preisliedes: »Wunder ob Wunder nun bieten sich dar: / zwiefachen Tag / ich grüßen mag; / denn gleich zwei’n Sonnen / reinster Wonnen, / der hehrsten Augen Paar / nahm ich nun wahr.« (140) Der Wechsel ins Präteritum ist hier entscheidend: Die Gegenwart des Liebesblicks wird umgehend in ein Narrativ verwoben und in die Kunstproduktion kanalisiert. Die Erzählung, die Walthers Lied enthält, nimmt den im Schusterlied evozierten Begriff des Paradieses auf: Die Vereinigung der Liebenden erscheint als »paradiesische Lust«, die »im Liebestraum« in des »Dichters Brust« gegossen werde (ebd.). Das individuelle Déjà-vu wird um ein kulturelles erweitert: Es geht um nichts anderes als das Wiederfinden des Paradieses im Akt der Ehe, der das sexuelle Begehren bannt, indem er es in sich aufhebt. Bei den Schlussversen Walthers streift Sachs Eva den Schuh, den er während des Liedes repariert hat, wieder über den Fuß. Aber Wagner wäre nicht Wagner, wenn das verbotene Verlangen nicht unterschwellig weiter wirkte. Noch bevor Walther zur dritten Strophe seines Preisliedes anhebt, beklagt Hans Sachs sein Schicksal: »Kind, hör zu! Ich hab’s überdacht, / was meinem Schustern ein Ende macht: / am besten, ich werbe doch noch um dich« (139). Auch nach dem Verklingen des Liedes kann er nicht von Eva lassen. Diese sinkt ihm »an die Brust und drückt ihn schluchzend an sich«, während Walther zu ihnen tritt und Sachs »begeistert« die Hand gibt. Dieser tut sich »endlich Gewalt an, reißt sich wie unmutig los, und läßt dadurch Eva unwillkürlich an Walthers Schulter sich anlehnen.« Letztlich gelingt die Heilung des sexuellen Begehrens also nur durch einen Gewaltakt. Sachs’ Geste weist auf Parsifal voraus, der sich von Kundrys Kuss losreißen muss, um dem inzestuösen Verlangen zu entkommen – dass diese ihm dann im dritten Akt die Füße wäscht (P, 74), ist ein weiterer Nachhall der sexuellen Metaphorik der Meistersinger. Auch in der Musik wird diese Sublimierung der Sexualität beschrieben. Dazu muss man wissen, dass Wagner in den Meistersingern versucht, zwei musikalische Welten aufeinander zuzuführen: Die nächtliche Erotik des Tristan, die sich in der Sequenztechnik, den abrupten dynamischen Wechseln und Trugschlüssen sowie der avancierten und ins Atonale strebenden Chromatik spiegelt. Sie wird mit Hil-

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fe des Kontrapunktes und einer archaisierenden Dissonanztechnik 237 in die Welt des Tages und der Ehe zu überführen versucht. Beide Welten stehen zunächst in extremem harmonischen Kontrast, zwischen Fis-Dur auf der einen und C-Dur auf der anderen Seite: eine scharfe tritonale Spannung, aus der die Meistersinger ihre kompositorischen Ideen ziehen.238 Im Verlauf des Musikdramas versucht Wagner mehrmals, den Tonsatz von der Fis-Dur- in die C-Dur-Sphäre übergehen zu lassen – eben das ist die musikalische Gestaltung der Sublimierung. So etwa im Wahnmonolog des Hans Sachs, aber auch im Déjà-vu von Walther und Eva. Dort wechselt der Tonsatz genau in dem Moment ins Fis-Dur, in dem Eva Walther erblickt und ihren Schrei ausstößt (SW 9/III, T. 1404). Die dritte Strophe des Preisliedes steht dann in C-Dur, das jedoch immer wieder chromatisch gefärbt wird und am Ende der Schlusskadenz vom Fis der Kontrabässe und Celli wieder in Frage gestellt wird (T. 1481). Der darauffolgende Abschnitt, in dem sich Sachs endgültig von Eva abwendet, wird im Nebentext der Partitur als »längeres Schweigen leidenschaftlicher Ergriffenheit« (T. 1488ff.) bezeichnet. Die Musik, die dieses Schweigen zum Sprechen bringt, zeugt von dem heftigen Kampf des Begehrens, der nicht zur Ruhe zu bringen ist. Auch hier wird die C-Dur-Kadenz, die sich am Ende andeutet, nicht zu Ende geführt (T. 1495). Das Rätsel, das der Blick des Déjà-vu birgt, wird in dieser Szene nicht vollständig gelöst. Richard Wagner war nicht der erste Musikdramatiker, der die Liebe als ein Wiedererkennen begriff, das durch visuelle Wahrnehmung vermittelt wird. Im Gegenteil: Das Déjà-vu war in der romantischen Oper ein wichtiges Motiv. In Louis Spohrs Jessonda (1828) wird die Begegnung zwischen Tristan und Jessonda als das Wiederfinden einer Kindheitsliebe inszeniert. Zu Beginn erzählt Jessonda ihrer Schwester Amazili von den »goldnen Bildern« ihrer Jugend und einem fremden Krieger, ihrer »ersten Liebe«, der sie treu geblieben sei. Auch Amazili erinnert sich: »Wie seines Auges Strahl dich grüßte, / Sah’ ich Dich still erröthen«.239 Dieser fremde Krieger war Tristan, der sich zu Beginn des zweiten Aufzuges ebenfalls des Blickes Jessondas entsinnt: »Sieh, da sank wie Mondesstrahlen / Sanft in meine Brust ihr Blick, / Führte mich zu Friedensthalen, / Zu dem stillen wahren Glück.«240 Das Déjà-vu erfolgt dann am Schluss desselben Aktes, als Tristan die badende Jessonda erblickt. Diese Szene zeigt, dass Spohr auch dem eigentlichen Augen-Blick des Wiedersehens Aufmerksamkeit schenkte: Jessonda stößt beim Anblick Tristans ein überraschtes »Ha!« aus, wobei der Klang ihrer Stimme in Tristan die Erinnerung an seine Jugendliebe auslöst: Sofort fragt er nach dem Namen der Unbekannten.

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Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 105–107. Vgl. hierzu den Aufsatz von John Warrack, Wahn, words and music. In: Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, hg. von John Warrack, Cambridge 1994, S. 111– 134 sowie die musikalischen Analysen in Abschnitt 6.4.2. der vorliegenden Studie. Louis Spohr, Jessonda. Oper in drei Aufzügen von E. Gehe, Dresden [o.J.], S. 10f. Ebd., S. 20.

Im folgenden Duett versuchen dann die Liebenden wie bei Wagner ihr Déjà-vu in Worte zu fassen: TRISTAN. Reißet, Schleier, fallet nieder! / Heil’ger Gott! Dich seh’ ich wieder, / Dich, Jessonda, Dich! – / […] JESSONDA. Es ist kein Traum, / Ich hab’ ihn wieder, / Und fass’ es kaum – […].241

Die Unsicherheit und Verwirrung der Figuren wird von Spohr aber weit weniger radikal begriffen als von Wagner. Während dieser durch den Fortissimo-Schlag bei Sentas Schrei den Tonsatz fast auseinanderbrechen lässt, werden bei Spohr die Formvorgaben der Nummernoper vom Ereignis des Déjà-vu nicht berührt. Auch von Heinrich Marschners Oper Der Vampyr, in der das Déjà-vu ebenfalls virulent ist, unterscheidet sich der Holländer durch seine Musik. An zwei Stellen erschrecken die weiblichen Opfer des Vampyrs Ruthwen, als sie ihn sehen. Am Schluss des zweiten Aktes sinkt Malwina, nachdem ihr Vater ihr ihren zukünftigen Bräutigam Ruthwen vorgestellt hat, mit den Worten »Ha! wehe mir!« wie »tödtlich getroffen« zu Boden. Im folgenden Ensemble hallt dieser Schrecken in Malwinas Worten noch nach: »Schneidend, wie ein gift’ger Pfeil / Zuckt sein Blick mir durch die Seele; / Daß mein Innres vor ihm bebet, / Das bedeutet nimmer Heil.«242 Malwinas Zusammenbruch wird von Marschner nur durch vereinzelte donnernde Orchesterschläge angedeutet, seine Komposition zielt auf das Ensemble, in dem das Unheimliche von Ruthwens Blick durch die düsteren Posaunen und die MollHarmonik ausgemalt wird.243 Und als Emmy nach ihrer Ballade beim Anblick Ruthwens einen »Schrei des Entsetzens« ausstößt,244 ist das Orchester bereits verstummt, weil es vom gesprochenen Dialog abgelöst wurde. Anders als Wagner führt Marschner die Ballade zu Ende, er wagt es nicht, Emmys Gesang zu unterbrechen und ihren Schrei so zu einem musikdramatischen Ereignis werden zu lassen. In den Libretti der romantischen Oper deuten sich also das Déjà-vu und der mit ihm verbundene Bewusstwerdungsprozess bereits an. Aber weder Louis Spohr noch Heinrich Marschner nahmen den Augen-Blick der Anamnesis zum Ausgangspunkt, das Wechselspiel von Unbewusstem und Bewusstem kompositorisch fassbar zu machen.245 Genau darin liegt die Innovation Wagners, der in seinen verschiedenen Variationen des Déjà-vu-Motivs immer wieder aufs Neue versucht hat, den prekären Moment der Erinnerung, in dem das vergessene Wissen ins Be-

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Ebd., S. 29f. Marschner, Der Vampyr (1828), S. 33f. Marschner, Der Vampyr. Große romantische Oper in zwei Akten, hg. von Egon Voss, Mainz 2009, Nr. 9, T. 156ff. u. 176ff. Marschner, Der Vampyr (1828), S. 55. Sven Friedrich, der ebenfalls auf Parallelen zwischen den Opern Spohrs und Marschners auf Wagner hinweist, betont zugleich: »Oper und Drama fallen in der deutschen romantischen Oper noch auseinander. Die Bühnenhandlung ist zumeist nur Vorwand für die Komposition, selten ihr Quell.« Friedrich, Das auratische Kunstwerk, S. 107.

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wusstsein dringt, als musiktheatralisches Ereignis zu gestalten. Darum wussten sicherlich auch Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, als sie die Erkennungsszene zwischen Sophie und Oktavian zu Beginn des zweiten Aktes ihres Rosenkavaliers gestalteten. Dort betritt Oktavian in der Manier Lohengrins als himmlisches Traumbild die Bühne: »Ganz in Silberstück’ ist er ang’legt, von Kopf zu Fuß. Wie ein heiliger Erzengel schaut er aus.«246 Sophie wird bei seinem Anblick »leichenblaß«,247 beide stehen sich zunächst schweigend gegenüber. Der folgende Dialog wäre wohl ohne die Rezeption Wagners nicht denkbar, geht es in ihm doch nicht nur um die traumselige Entrücktheit, die das Déjà-vu bei den Liebenden auslöst, sondern auch um die Gefährdung der eigenen Identität, die dieser schaurigschöne Moment in sich birgt: OCTAVIAN zugleich mit ihr wie unbewußt und leiser als sie. Wo war ich schon einmal / und war so selig? / SOPHIE. Dahin muß ich zurück! und wärs mein Tod. / Wo soll ich hin, / daß ich so selig werd? / Dort muß ich hin und müßt ich sterben auf dem Weg. / OCTAVIAN die ersten Worte zugleich mit ihren letzten, dann allein. / Ich war ein Bub, / wars gestern oder wars vor einer Ewigkeit. / Da hab ich die noch nicht gekannt. / Die hab ich nicht gekannt? / Wer ist denn die? / Wie kommt sie denn zu mir? / Wer bin denn ich? Wie komm ich denn zu ihr? / Wär ich kein Mann, die Sinne möchten mir vergehn. / Aber ich halt sie fest, ich halt sie fest. / Das ist ein seliger, seliger Augenblick, / den will ich nie vergessen bis an meinen Tod.248

Und Wagnerisch ist auch der Versuch, dieses Ereignis des Déjà-vu auf das Narrativ der Familiengeschichte zurückzuführen: SOPHIE. Ich kenn Ihn schon recht wohl. OCTAVIAN. Sie kennt mich, ma cousine? SOPHIE. Ja, aus dem Buch, wo die Stammbäumer drin sind, mon cousin. / Dem Ehrenspiegel Österreichs. / Das nehm ich immer abends mit ins Bett / und such mir meine künftige Verwandtschaft drin zusammen.249

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Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, hg. von Bernd Schoeller. Frankfurt am Main 1979, Bd. 5, S. 46. Ebd., S. 47. Ebd., S. 48f. Ebd., S. 49.

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Geschichte des Ich: Zum Zusammenhang von Identität und Erzählung

Wagner und das Wort: Eine ambivalente Beziehung. Zwar hat in der Geschichte der Oper ein Komponist selten selbst zur Feder gegriffen, um seine Libretti zu Papier zu bringen, und kein zweiter hat so viele theoretische Abhandlungen, Briefe und andere Selbstzeugnisse hinterlassen wie Richard Wagner. Dennoch gilt er in erster Linie als musikalisches, keinesfalls als dichterisches Genie. Das Interesse der Germanisten an Wagner ist lau, die meisten betrachten ihn als einen Fall für Musikwissenschaftler. Es spricht für sich, dass kurz vor Wagners 200. Geburtstag seine Schriften nach wie vor in keiner wissenschaftlichen Edition vorliegen. Dass man dazu tendiert, die Rolle der Wortsprache in Wagners Werk falsch einzuschätzen, liegt auch daran, dass er selbst die Abneigung gegen sie geschürt hat. Die Mitteilung im Wort erzeuge ihm »Pein«, weil er sich in ihr »auf das Umständlichste« quälen müsse (SSD IV, 330).1 Die Wortsprache sei das »Organ des kombinierenden, zersetzenden, teilenden und trennenden Verstandes«, schreibt er in Oper und Drama (OuD, 207). »In der modernen Prosa sprechen wir eine Sprache, die wir mit dem Gefühle nicht verstehen« (238). Diese Äußerungen sollten jedoch nicht dazu verleiten, die Bedeutung des Wortes für Wagner zu unterschlagen. Schließlich sind die Figuren in seinen Musikdramen so ausdauernd wie ausführlich damit beschäftigt, von sich zu erzählen. Man denke an Tristan, der im Fiebermonolog noch einmal sein Leben Revue passieren lässt. Oder an Wotan, der im zweiten Akt der Walküre seiner Tochter Brünnhilde sein Leben in einer epischen Breite schildert, die selbst hartgesottene Wagnerianer am Genius des Meisters zweifeln lässt.2 Denn nicht immer sind diese Erzählungen dramaturgisch sinnvoll. Zwar kann man Tannhäusers Rom-Erzählung, der Erzählung Loges vom Raub der Rheingolds oder sogar Waltrautes langem Bericht in der Götterdämmerung noch dramatischen

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Wagner hat wiederholt seine Abneigung gegen die theoretische Schriftstellerei bekundet. So etwa in Eine Mittheilung an meine Freunde: »Welche Pein diese Art der Mittheilung für mich ausmacht, brauche ich Denen, die mich als Künstler kennen, wohl nicht erst zu versichern« (SSD IV, 330). Carolyn Abbate spricht sogar von einem Schmerz, den Wagners Erzählszenen beim Opernbesucher hervorrufen können: »The pain is both epistemological (we have already witnessed the events being described and we will be bored) and musical (the passage will be a kind of half-music, a loose, declamatory assemblage of leitmotifs judiciously mixed).« Carolyn Abbate, Unsung Voices. Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century, Princeton 1991, S. 62.

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Sinn zugestehen, da sie dem Zuschauer neue und für den Fortgang der Handlung bedeutende Informationen vermitteln. Doch bei Wotans Erzählung und Tristans Fiebermonolog wird es mit der dramaturgischen Rechtfertigung schon schwieriger. Hier werden nicht nur neue Informationen mitgeteilt, sondern zu weiten Teilen Ereignisse nacherzählt und reflektiert, die auf der Bühne bereits stattgefunden haben.3 Ein Verstoß gegen Wagners eigenes Postulat, dass die höchste Aufgabe des Dramas das »Vergegenwärtigen« und »Versinnlichen« sei. Es verwundert nicht, dass sich Wagner bereits zu Lebzeiten dem Vorwurf ausgesetzt sah, seine Werke seien zu »episch«. Mit diesem Urteil begründete, nach Wagners eigener Darstellung in Eine Mittheilung an meine Freunde, der Intendant der königlich-preußischen Schauspiele seine Ablehnung des Lohengrin (SSD IV, 293). Doch auch die, die Wagner wohlgesinnt waren, störten sich an seiner eigentümlichen Art des Librettierens. Als er im November 1845 die Dichtung des Lohengrin vor versammeltem Freundeskreis vorlas, wurden Zweifel laut, wie Wagner den Text komponieren wolle. 4 Mit Siegfrieds Tod ging es ihm ähnlich. Im Herbst 1848 las Wagner dem erfahrenen Theatermann Eduard Devrient eine Kompilation der verschiedenen Sagenbereiche vor, aus denen er sein Drama schaffen wollte. Doch dieser monierte die epische Weitschweifigkeit des Entwurfs.5 Wagner musste also, wollte er sein Ziel der dramatischen Vergegenwärtigung erfüllen, aus einem einzelnen ein vierteiliges Drama, den Ring des Nibelungen schaffen. Dies tat er, behielt aber epische Stellen wie die lange Erzählung in der zweiten Szene des dritten Aktes von Siegfrieds Tod in der Götterdämmerung bei. Und das, obwohl die Ereignisse, von denen Siegfried Hagen und den Männern berichtet, im vorhergehenden Musikdrama dem Zuschauer bereits vor Augen geführt wurden.6 Bisher konnte die Forschung nicht schlüssig erklären, warum sich in Wagners Musikdramen die Erzählszenen so häufen. Meistens wurde dieses Problem gat-

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Die Erzählszenen bei Wagner können natürlich auch erklärende Funktion haben, etwa wenn Wotan in seinem großen Monolog im zweiten Akt der Walküre Brünnhilde seine Pläne mit Siegmund erklärt. Vgl. hierzu Anette Ingenhoff, Drama oder Epos? Richard Wagners Gattungstheorie des musikalischen Dramas, Tübingen 1987, S. 122. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 230. Reinhold Brinkmann, Szenische Epik. Marginalien zu Wagners Dramenkonzeption im »Ring des Nibelungen«. In: Richard Wagner – Werk und Wirkung, hg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1971, S. 85–96, hier S. 87f. Der Vorwurf, der Stoff des Epos sei im Vergleich zur Tragödie zu mannigfaltig, geht auf Aristoteles zurück. Er sagt in seiner Poetik, die Nachahmung bilde im Epos »weniger eine Einheit« als in der Tragödie – weshalb diese jenem vorzuziehen sei. Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 97. Was die Behandlung der Erzählszenen des Rings anging, hörte Wagner auch nicht auf seine Frau Cosima. Diese gestand ihm, dass sie die Szene zwischen Waltraute und Brünnhilde, in der Waltraute ausführlich von Wotans Schicksal berichtet, »ermüdend« finde, worauf er versprach, sie zu streichen (CT I, 1001f.). Das Ergebnis ist bekannt: Die Szene blieb erhalten.

tungstheoretisch zu lösen versucht.7 Man wies darauf hin, dass der epische Zug in Wagners Musikdramen opernfremd sei,8 oder versuchte ihn auf die Musik zu beschränken. So etwa Dieter Borchmeyer, der das Orchester als »das Pendant des ›allwissenden‹ Erzählers im Roman« bezeichnet hat.9 Borchmeyers These kann als Kronzeugen Thomas Mann aufrufen, der auf das epische Moment der Musik und insbesondere der Leitmotivtechnik bei Wagner verwiesen hat.10 Wagners Musikdramen, so Borchmeyer, seien »heimlich Romane«.11 Auch Carl Dahlhaus betont die Rolle der Musik für die Bühnenepen Wagners: »Das Auseinanderbrechen des Dramas, das man übertreibend als szenisches Epos bezeichnen könnte, wird allein durch die Musik, durch die Motivzusammenhänge, die wie ein Netz das ganze Werk überziehen, verhindert.«12 Diese gattungstheoretischen Analysen der Wagnerschen Musikdramen haben zweifellos ihren heuristischen Wert. Aber sie nehmen ausschließlich das Verhältnis von innerer und äußerer Kommunikationsstruktur, von Bühnengeschehen und Zuschauerraum in den Blick.13 Die Frage, warum in der inneren Kommunika-

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Vgl. neben den im Folgenden zitierten Autoren auch die bereits erwähnten Texte von Brinkmann, Szenische Epik sowie Ingenhoff, Drama oder Epos? So hat etwa Carl Dahlhaus zu zeigen versucht, dass die Kategorie der »Vergegenwärtigung« nicht unbedingt eine des Dramas, sondern eher eine der Oper sei, die mehr als jenes zur Unmittelbarkeit der Darstellung neige. Vgl. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 17–25. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 135. So etwa in »Richard Wagner und ›Der Ring des Nibelungen‹« (1937). Vgl. Vaget, Im Schatten Wagners, S. 169–171. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 151. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 39. Der Ausdruck »szenisches Epos« geht auf Thomas Mann zurück. Vgl. Vaget, Im Schatten Wagners, S. 98. Zu einer differenzierten Analyse der Erzählstruktur des Rings gelangt die interdisziplinäre Studie von Dorothea Kirschbaum, Erzählen nach Wagner. Erzählstrategien in Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«, Hildesheim, Zürich, New York 2010. Darin untersucht Kirschbaum, wie narratologische Analysekriterien wie Erzählstimme und Erzählperspektive auf das plurimediale Musikdrama Richard Wagners angewendet werden können. Es ist aufschlussreich, Borchmeyers Interpretation vor dem Hintergrund der semiotischen Definition des Dramas zu lesen, die Manfred Pfister vorgeschlagen hat. Pfister verweist auf die »Absolutheit dramatischer Texte«, d.h. das »Fehlen des vermittelnden Kommunikationssystems, die unvermittelte Überlagerung von innerem und äußerem Kommunikationssystem«, also von Bühnengeschehen und Zuschauerraum (Pfister, Das Drama, S. 22). Anders gesagt: Die Stimme des Erzählers ist im Drama nicht vernehmbar. Jedoch werde diese idealtypische Norm, so Pfister, immer wieder durchbrochen, am prominentesten in Bertolt Brechts anti-aristotelischem ›epischen Theater‹. Unter diesen Episierungstechniken versteht Pfister Vermittlungstechniken zwischen dem inneren Kommunikationssystem, der Welt auf der Bühne, und dem äußeren Kommunikationssystem, dem Zuschauerraum. Also etwa Projektionen, Spruchbänder, Prolog, Epilog und Chor (ebd., S. 103f.). Man kann nun, wie Borchmeyer dies im Fall von Wagners Musikdramen getan hat, die Musik respektive die Leitmotivtechnik zu diesen Episie-

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tionsstruktur der Dramen narrative Elemente eine derart wichtige Rolle einnehmen, können sie nicht beantworten. Hier erscheint ein anderer Ansatz sinnvoller, der auf einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Erzählforschung beruht. Bekanntlich hat die strukturalistische Narratologie, angeführt von Gérard Genette, in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erfolgreich die Frage beantwortet, wie wir erzählen.14 Dennoch, oder gerade deswegen, rückt seit den 90er Jahren verstärkt das Problem in den Fokus, warum wir erzählen.15 Man erkannte die »große anthropologische Bedeutung, die das Erzählen von Geschichten für den Menschen hat« sowie seine »existenzielle lebensweltliche Relevanz«.16 Der Mensch rückte als ›homo narrans‹ und ›story-telling animal‹ in den Fokus des Interesses nicht nur der Literaturwissenschaft. An diesem ›narrative turn‹ waren und sind verschiedene Disziplinen beteiligt, etwa die Anthropologie (Clifford Geertz), die Geschichtswissenschaft (Arthur Danto, Hayden White) und die Psychologie (Jerome Bruner, Jürgen Straub).17 Für die Untersuchung der Erzählszenen in Wagners Musikdramen ist dabei vor allem ein Ansatz vielversprechend, der in der kulturwissenschaftlichen Narratologie häufig im Vordergrund steht: Der Zusammenhang von Erzählung und Identität.18 Der Begriff der Identität ist dabei zunächst weit gefasst. Er kann ge-

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rungstechniken hinzufügen und würde so zu einer schlüssigen Erweiterung des Pfisterschen Ansatzes gelangen. Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, München 1994. Genettes Kategorien bilden immer noch den Grundstein der zeitgenössischen Narratologie. Siehe hierzu Matias Martinez / Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 7. Aufl., München 2007 [1999]. Einen Überblick über diese Wende in der Narratologie gibt der Band von Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hgg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002 sowie das von denselben Autoren herausgegebene companion volume: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002. Vgl. hierzu auch Michael Scheffel, Erzählen als anthropologische Universalie. Funktionen des Erzählens im Alltag und in der Literatur. In: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetischsoziale Handlungsfelder, hg. von Rüdiger Zymner / Manfred Engel, Paderborn 2004, S. 121–138. Nünning / Nünning (Hgg.), Erzähltheorie transgenerisch, S. 1. Vgl. hierzu die Arbeit von Hayden White, The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore, London 1987, die Beiträge von Donald E. Polkinghorne, Jerome S. Bruner und Jürgen Straub in Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt am Main 1998, S. 12–45 u. 46–169, sowie den Aufsatz von Gerald Echterhoff, Geschichten in der Psychologie: Die Erforschung narrativ geleiteter Informationsverarbeitung. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hg. von Ansgar Nünning / Vera Nünning, Trier 2002, S. 265–290. Da der Zusammenhang von Erinnerung und Identität neben der Literaturwissenschaft auch die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und die Psychologie betrifft, ist die Forschungsliteratur kaum mehr überschaubar. Einen Überblick zu der Forschungslage in den Literatur- und Kulturwissenschaften gibt der Aufsatz von Ansgar Nünning, Erinnerung – Erzählen – Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Erzähl-

sellschaftliche Gruppen oder nationale Gemeinschaften genauso betreffen wie die Konstruktion von Geschlechtsidentität. Dieses Kapitel wird ausschließlich die narrative Herausbildung personaler Identität in den Fokus stellen, die allerdings auf das Kollektiv und das Geschlecht bezogen bleibt. Dabei teilt es die theoretische Annahme, dass die Umwandlung der Lebenswirklichkeit in sinngebende Identität durch narrative Muster nicht nur ermöglicht, sondern auch geprägt wird. Diese Strukturierung von Kontingenz kann das Erzählen allerdings nur leisten, weil es mehr ist als bloße Chronologie.19 Es stellt nicht nur irgendeine Abfolge von beliebigen Ereignissen vor, sondern macht »zeitliche Progression sinnvoll erklärbar.«20 Erzählungen können deshalb sowohl vorwärts- als auch rückwärtsgerichtet sein, sie streben auf ein Ziel zu oder führen auf einen Grund zurück.21 Diese doppelte, weil regressive und teleologische Struktur ist auch den ›Geschichten vom Ich‹ eingeschrieben, denen man in der romantischen Literatur und bei Wagner begegnet. Der Lebensweg der Figuren wird in einer in die Vergangenheit gerichteten Bewegung wiedererinnert, mit dem Ziel, das Unbewusste bewusst werden zu lassen und Identität herzustellen. »Erzählungen und Erzählformen«, fasst Ansgar Nünning zusammen, seien nicht nur »kulturbedingt, sondern auch eigenständige Bedeutungsträger, kognitive Werkzeuge der Sinn- und Identitätsstiftung sowie Modi der Weltkonstruktion«.22 Sie ermöglichten, dass »kontingente Wirklichkeitserfahrungen in sinnhafte Erinnerungen und stabile Identitätsvorstellungen transformiert werden können.«23 Eine der Fragen, die sich dabei in Bezug auf literarische

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forschung. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, hg. von Hans Vilmar Geppert / Hubert Zapf, 3 Bde., Tübingen 2007, S. 33–59. Eine systematische Grundlegung des Themas findet sich bei Paul Ricoeur, der davon ausgeht, dass ›narrative Identität‹ eine Kategorie sei, die kollektive und individuelle, historische und fi ktionale Erzählungen in sich fasse. Er stellt die These auf, dass die Aporien, die bei der Definition von Identität auftauchen (wie kann es sein, dass ich derselbe bin, obwohl die Zeit vergeht?), durch das Konzept einer narrativen Identität gelöst werden könnten. Vgl. Paul Ricoeur, Narrative Identity. In: Philosophy Today 35, H. 1, 1991, S. 73–81. Wagners Kritik der Geschichtsschreibung setzt genau hier an. Für ihn ist sie bloße Chronologie, rohe, ungeformte Masse und eben deshalb für das Drama ungeeignet. Vgl. hierzu Wilberg, Richard Wagners mythische Welt, S. 97–118. Werner Wolf, Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hg. von Ansgar Nünning / Vera Nünning, Trier 2002, S. 23–104, hier S. 48. Ebd., S. 48–50. Vgl. hierzu auch Jürgen Straub, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, hg. von Jürgen Straub, Frankfurt am Main 1998, S. 81–169, hier S. 112–114. Nünning, Erinnerung – Erzählen – Identität, S. 34. Mit den kognitionspsychologischen Modellen, die u.a. die Kohäsionsherstellung durch Erzählungen in den Blick nehmen, setzt sich auch Jürgen Straub auseinander, vgl. Straub, Geschichten erzählen, S. 104– 116. Nünning, Erinnerung – Erzählen – Identität, S. 54. Die Rolle von (historischen) Er-

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Texte stellt, ist, welche Rückschlüsse »auf die Gedächtnis- und Identitätsdiskurse ihrer Entstehungszeit« gezogen werden können.24 Es geht also darum, anhand der in einem ästhetischen Verfahren abgebildeten Konstruktion von Identität auf das dahinterliegende kulturelle Muster zu schließen. Das soll am Beispiel der Musikdramen Richard Wagners versucht werden.

5.1.

Der fliegende Holländer: Musikdrama als Identitätsdrama

»Den modernen Zuschnitt in Arien, Duetten, Finale’s etc., mußte ich sogleich aufgeben, und dafür in einem Zuge fort die Sage erzählen, wie es eben ein gutes Gedicht thun muß.« (SB II, 314f.) In dem Brief, in dem Wagner im August 1843 seinem Freund Ferdinand Heine von seiner Arbeit an Der fliegende Holländer berichtete, zeichnete sich bereits ab, was später immer konsequenter zu musikdramatischer Darstellung gelangte: die Auflösung der traditionellen Opernform durch den Geist der Erzählung. Nicht zufällig betont Wagner, dass ein gutes Gedicht »in einem Zuge fort« erzählt werden müsse. Die Linearität, die narrativen Strukturen eingeschrieben ist, duldet keine Unterteilung in Rezitativ und Arie. Freilich ging Wagner im Holländer nicht so konsequent vor, wie es der Brief an Heine suggeriert: Die Nummernoper wird in diesem frühen Werk nicht abgeschafft, sondern scheint immer noch durch die avancierte Gestaltung hindurch.25 Dennoch spielt das epische Element in diesem Musikdrama eine zentrale Rolle. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Auftrittsarie des Holländers im ersten Akt. Carl Dahlhaus hat sie als »Erzählung« bezeichnet, was schon allein durch ihre bloße Länge gerechtfertigt sei. Doch im Gegensatz zum Monolog des klassischen Dramas sei sie undialektisch, erscheine »nicht als innere Zwiesprache, aus der ein Entschluß hervorgeht«.26 Tatsächlich geht es im Monolog des Holländers ausschließlich um ihn selbst, um seine Vergangenheit und sein zukünftiges Schicksal. Dieses ›Erzählen von sich‹ intensiviert sich an einer anderen Stelle des Werkes, dort, wo man es auf den ersten Blick nicht vermutet. Die Rede ist von Sentas Ballade im zweiten Akt. Dass Carl Dahlhaus diese als eine »gesungene Erzählung«27 bezeichnen kann, hat mit der Goetheschen Definition der Ballade zu tun. Diese vereine das epische, lyrische und dramatische »wie in einem lebendigen Ur-Ey«, schreibt Goethe in Über Kunst und Altertum.28 Sie ist also ein Genre, das sich unter narratologischen Gesichtspunkten analysieren lässt. Die Musikwissenschaftlerin Carolyn Abbate

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zählungen bei der Bildung, Reproduktion und Präsentation von Identität betont auch Straub, Geschichten erzählen, S. 128–130. Nünning, Erinnerung – Erzählen – Identität, S. 55. Das zeigt u.a. Egon Voss im Nachwort seiner Holländer-Ausgabe (H, 60–64). Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 29. Ebd. Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 21, S. 39.

hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Beobachtung gemacht. In ihrer Untersuchung der Erzählszenen in Wagners Musikdramen unterzieht sie Sentas Ballade einer vergleichenden Analyse mit anderen Szenen der Operngeschichte, in denen sie narrative Elemente vermutet: Der Entdeckung Cherubinos im ersten Akt von Mozarts Le nozze di Figaro (1786), der Eingangsballade von Meyerbeers Robert le Diable (1831) und Emmys »Romanze« in Marschners Der Vampyr (1828). Alle diese Szenen, so Abbate, hätten eines gemeinsam: Nämlich eine »coincidence of narrating and enactment«.29 Das Erzählte werde Wirklichkeit, allerdings ohne dass der Singende das merken würde. Dieses Modell sei, so Abbate, beispielhaft im Figaro zur Darstellung gelangt. Dort erzählt der Graf Almaviva, wie er Cherubino bei Basilios Muhme unter dem Tisch gefunden habe. Um sein Vorgehen gestisch zu untermalen, zieht er das Kleid vom Sessel – und entdeckt Cherubino.30 In Giacomo Meyerbeers Robert le Diable ist es der normannische Landmann Raimbaut, dessen Ballade unfreiwillig zu einem performativen Akt gerät. Zu Beginn der Oper tritt er vor eine Gruppe von Edelmännern, um ihnen eine Ballade von Robert dem Teufel vorzusingen. Was er nicht weiß: Robert selbst befindet sich unter den Zuhörern. Nachdem Raimbaut das dunkle Schicksal von Robert, dem »démon« und »fils du diable« geschildert hat, steht dieser am Ende der zweiten Strophe auf und ruft zornig: »Je suis Robert!«31 Ähnliches geschieht im dritten Akt von Heinrich Marschners Der Vampyr, in Emmys »Romanze«. Genau wie Almaviva und Raimbaut merkt auch Emmy nicht, dass sie in ihrem Lied von ihrem eigenen Schicksal singt. Über den Vampir heißt es: »Schon manches Mägdlein, jung und schön, / Thät ihm zu tief in’s Auge sehn, / Mußt’ es mit bittern Qualen / und seinem Blut bezahlen«.32 Am Ende der Romanze ist Lord Ruthwen, der Vampir, »während der letzten Tacte unbemerkt gekommen, er ist in einen großen Mantel gehüllt, und steht jetzt mitten im Kreise«. Emmy erschrickt derart, dass sie »einen Schrei des Entsetzens« ausstößt.33 Dennoch begreift sie nicht bewusst, dass Ruthwen der Vampir ist, von dem sie soeben gesungen hat, und sie selbst das Mädchen, das sich in Gefahr befindet. So lässt sie sich von Ruthwen verführen und wird wenig später von ihm getötet. Es ist bekannt, dass Wagner mit Meyerbeers und Marschners Werken bekannt war,34 und die Forschung hat wiederholt auf die Parallelen zwischen Em-

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Abbate, Unsung Voices, S. 64. Zur Bedeutung von Abbates Studie bei der Frage nach narrativen Strukturen in der Musik vgl. den Aufsatz von Janina Klassen, Was die Musik erzählt. In: Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste, hg. von Eberhard Lämmert, Berlin 1999, S. 89–106, hier S. 95f. Wolfgang Amadeus Mozart, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Kassel, Basel, London u.a. 1955ff., Bd. 16/1 (Serie II, Werkgruppe 5), S. 118–120. Eugène Scribe, Oeuvres Complètes, Paris 1875, Bd. III/2, S. 6f. Marschner, Der Vampyr (1828), S. 51. Ebd., S. 55. Wagner dirigierte 1833 den Vampyr in Würzburg und bearbeitete bei dieser Gelegenheit

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mys Romanze und Sentas Ballade hingewiesen. Die ahnungsvolle Beschwörung des »bleichen« Mannes »mit seelenlosem Blick« und die düstere Stimmung von Marschners romantischer Oper haben in Wagners Holländer zweifellos Spuren hinterlassen.35 Viel wichtiger ist aber, dass Wagner die grundlegende Idee Meyerbeers und Marschners übernimmt: Auch Senta ist sich zunächst nicht bewusst, dass sie von sich selbst singt und der Refrain »Wo triffst du sie, die bis in den Tod dein bliebe treueigen?« (H, 26) von ihrem Schicksal spricht. Carolyn Abbate deutet dies nun als einen Beleg für die »Reflexivität« von Opernerzählungen. Sie tut das in Rückgriff auf eine Studie Lucien Dällenbachs, der bestimmte Erzählszenen in literarischen Texten mit einem Spiegel vergleicht, der die gesamte Erzählung reflektiere.36 Diese Rolle nehme in der Oper, so Abbate, die Musik ein. Anhand des Figaro zeigt sie, dass die Holzbläser exakt in jenem Moment in den Streichersatz einsetzen, in dem Almaviva die Entdeckung Cherubinos gestisch beschreibt.37 »In some sense, music itself thus returns precisely at the reflexive moment in the narration, as if to underscore a conjunction both rich and unstable.«38 Abbate versteht den theatralischen Effekt, der durch solche Szenen in plurimedialen Kunstwerken wie der Oper hervorgerufen werde, als »oscillation«39 und will ihn von literarischen Phänomenen wie der ›mise en abyme‹ unterschieden wissen. Auch in Emmys Romanze und Raimbauds Ballade sieht sie narrative Reflexivität am Werk, was weniger augenscheinlich ist, da die zyklische Form des Liedsatzes dem linearen Vorwärtsdrang der in ihm enthaltenen Erzählung entgegensteht. 40 Doch die Reflexivität bestehe hier darin, dass man es mit einer musikalischen Aufführung innerhalb der Aufführung zu tun hat. Die Zuhörer auf der Bühne spiegelten den Zuhörer im Theater. 41 Sentas Ballade folgt ebenfalls einer zyklischen Anlage. Sie teilt sich in Strophe, Mittelteil und Refrain, die insgesamt dreimal wiederholt werden. 42 Dabei über-

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das Schlussallegro einer Arie Aubrys (WWV 33). Vgl. hierzu Abbate, Unsung Voices, S. 85. Auch die Figurenkonstellation beider Werke ist ähnlich: Der unheimliche Mann (Ruthwen / Holländer) wirbt um ein junges Bürgermädchen (Emmy / Senta). Diese ist jedoch schon einem jungen Mann versprochen: der geschädigte Dritte (George / Erik). Dass Erik in der Urfassung des Holländers Georg hieß, stärkt die These einer Beeinflussung Wagners durch Marschner. Abbate, Unsung Voices, S. 62f. Die Theorie, auf die Abbate referiert, findet sich bei Lucien Dällenbach, The mirror in the text, Chicago 1989, S. 43f. Mozart, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 16/1, T. 138. Abbate, Unsung Voices, S. 64. Ebd., S. 68. Abbate beschreibt diesen Gegensatz sehr deutlich: »The repetitive structure of strophic song is (apparently) at war with the events that its words describe.« Und sie fährt fort: »This forward-moving pageant is realized within an eternally repeating sonorous structure, and is trapped in the unvarying strophic beat.« (ebd., S. 70f.). Ebd., S. 85. Die Ballade bricht jedoch mitten im letzten Refrain ab (s. 6.3.).

nimmt sie vom Eingangs-Monolog des Holländers die Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Strophe berichtet im Präteritum vom Holländer (»Traft ihr das Schiff im Meere an«), geht dann in das Präsens über, das im Mittelteil vollends zur dramatisch-szenischen Gegenwart wird: »Hui! – Wie saust der Wind! – Johohe!«. Und der Refrain widmet sich mit der Formel »Ach! Wann wirst du, bleicher Seemann, sie finden?« (H, 25) schließlich der Zukunft. Allen Teilen ist eine eigene Musik zugewiesen, die jeweils fast identisch wiederholt wird. Doch Sentas Ballade, so Abbate, unterscheide sich von allen Vorgängerwerken durch die Tatsache, dass Senta »von plötzlicher Begeisterung hingerissen« aufspringt und ruft: »Ich sei’s, die dich durch ihre Treu’ erlöse!« (27) »Thus she brushes aside all pretenses that such songs are antique and irrelevant by confirming in explicit terms the song’s reflexivity.« Eine Reflexivität, die sich dadurch verstärke, dass das Motivmaterial von Sentas Ballade, genau wie bei Meyerbeer, an anderen Stellen des Musikdramas zitiert werde. 43 Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Bedeutung von Sentas Ballade mit dem Begriff der »Reflexivität« hinreichend beschrieben ist. Letztlich nimmt Abbate damit allein das intermediale Wechselspiel zwischen Musik und Text in den Blick und übersieht die anthropologische Dimension von Sentas enthusiastischem Schlussvers. Diese liegt in der Bildung des Subjekts durch die Stimme, die die orale Tradition des Sich-selbst-Erzählens in der abendländischen Kulturgeschichte kennzeichnet. Der Literaturwissenschaftler Gerhard Neumann verortet sie sowohl in der griechischen Antike als auch in der Romantik und der Psychoanalyse Freuds. »Sprich, damit ich dich sehe«: Sokrates’ Wort in Platons Charmides kehre in der romantischen Literatur als »die Erfahrung des Authentischen der menschlichen Stimme, des Atems, des Klangs, der beglaubigenden Kraft des ausgesprochenen Wortes« wieder und tauche dann abermals in Freuds Behandlungstechnik auf. »Was Freud hier – gleichsam in einem Wiederholungsspiel über die Jahrtausende – noch einmal in Szene setzt, ist ein uraltes Modell der Selbstkonstitution des Subjekts; ein Modell, das gewissermaßen das therapeutische Fazit jener Erzählstruktur zieht, die ›Subjektivität‹ bildet, als eine Stimme, die das ›Ich‹ zu erzählen vermag«.44 Auch Wagner greift in Der fliegende Holländer auf dieses Modell zurück und inszeniert Sentas Gesang als eine Bewusstwerdung des Unbewussten, an deren Ende mit der Rede vom Ich die Subjektbildung steht. 45 Das wird in dem Bemühen

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Abbate, Unsung Voices, S. 85f. G. Neumann, Romantisches Erzählen (Einleitung), S. 10f. Zum Zusammenhang von Text und Stimme in der Romantik vgl. ausführlich Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000. Menke widmet sich in dieser Studie allerdings nicht dem Thema der Identitätsbildung durch Erzählung, sondern der »Verlebendigung der schriftlichen toten Texte in der Stimme« (ebd., S. 17). Carolyn Abbate verweist an anderen Stellen ihrer Arbeit Unsung Voices nur beiläufig auf diese kulturelle Funktion der Stimme. Etwa bei ihrer Analyse von Brünnhildes Schluss-

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deutlich, die zyklische Anlage der Ballade zu unterlaufen und dem Tonsatz eine Logik der Steigerung zu unterlegen – eine Technik, die bereits im Vorspiel zum Rheingold der Darstellung des erwachenden Bewusstseins diente (vgl. 2.1.1.). Da Wagner das motivische Material sowie die Instrumentation unverändert lässt, kann er allerdings nur über das Tempo und die Dynamik in die Komposition eingreifen. Und genau das tut er in der dritten Strophe. Während er zu Beginn der Ballade auf Tempobezeichnungen verzichtet, setzt er sie nun im Übermaß ein, um Sentas abwechselnde Ergriffenheit und Erschöpfung zu illustrieren. Der Tonsatz gleitet zunächst von poco ritenuto über più ritardando ins lento, um dann mit dem einsetzenden Mittelteil abrupt ins allegro zu wechseln (SW 4/I, Nr. 4, T. 422), das in Takt 430 nochmals durch ein accelerando gesteigert wird. Da Senta daraufhin erschöpft zurücksinkt, übernimmt der Chor der Mädchen den Refrain in molto più lento (T. 437). Doch auch diese Verlangsamung dient dazu, der letzten Beschleunigung größeren Effekt zu verleihen. Sentas Ausbruch, der nur acht Takte später folgt, steht im Allegro con fuoco. Dieser deutete sich bereits zuvor durch eine unscheinbare Veränderung in der Dynamik an: Den akzentuiert auftaktigen Hochton der Ballade, der zu Beginn noch im mezzoforte stand, setzt Wagner nun ins forte (T. 413). Damit hebt er ein Element heraus, das auch ohne die dynamische Verstärkung eine verstörende Wirkung erzielt, einerseits durch die Betonung eines eigentlich unbetonten Auftaktes, zum anderen durch die sehr hohe Stimmlage (zweigestrichenes A). Die Ekstase ist also bereits innerhalb des Tonsatzes der Ballade angelegt, Wagners Nebentexte (»mit zunehmender Exaltation«, T. 422) haben eine kompositorische Entsprechung. Es verwundert deshalb nicht, dass Sentas Ausbruch mit einem Hochton, dem zweigestrichenen G, beginnt. Nun löst sich die Singstimme vom Orchester, nachdem beide in Strophe und Refrain noch eine Einheit bildeten. Mit seinen punktierten Notenwerten durchbricht Sentas Gesang auch den straffen Rhythmus der Instrumente, die den Schlägen des Allabreve folgen. Kurz darauf setzt sie einen Takt zu früh ein (T. 452) und zerstört somit das Achttaktschema des Tonsatzes »mit Kraft«, wie Wagner notiert. Die Instrumente verstummen an dieser Stelle, während Senta erneut anhebt und das Orchester ab Takt 453 mit sich zieht: Im Tutti erklingen die Anfangstöne der Ekstase, die folgenden acht Takte wird der Orchestersatz im fortissimo vom chromatischen Gesang Sentas mit nach unten gerissen. Diese lärmende Selbstfeier des Subjekts markiert ein Novum in Wagners Werk: Zum ersten Mal ist hier die Entstehung von Identität zur Darstellung gelangt. Das zuvor unbewusst Gesungene wird als Eigenes angenommen. Eine Darstellung, die in ihrer dramaturgischen und kompositorischen Ausführung Meyerbeers Robert und Marschners Vampyr eindeutig übertrifft – Wagners Frühwerk gilt es auf keinen Fall zu unterschätzen. Und doch sind diese Takte nur die Vorbereitung auf das, was man mit Fug und Recht als die Keimzelle des Wagnerschen Musikdramas bezeich-

monolog, in der sie schreibt: »As a presence she constitutes herself […] through both language and musical sound.« Abbate, Unsung Voices, S. 244.

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Abb. 9: Sentas Ekstase (SW 4/I, Nr. 4, T. 445-448)

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nen darf: Georgs bzw. Eriks Traumerzählung.46 Da diese nämlich zwischen Sentas Ballade und dem Duett steht, bildet sie für Reinhold Brinkmann das »Zentrum des Werks, und zwar nach formaler Disposition wie dramatischer Konzentration«. 47 In ihr berichtet Erik Senta von einem Traum, in dem er ihr Schicksal zu erkennen glaubt. Dies unterscheidet seine Erzählung von Sentas Ballade, wo es der kollektiv geteilte Mythos des Holländers war, der als das Unbewusste des Subjekts fungierte. Erik dagegen erzählt von Personen, die allesamt in der Handlung des Dramas vorkommen, sein Traum ist eine individuelle Verarbeitung realer Geschehnisse: der Ankunft des Holländers und dessen Verbrüderung mit Daland. 48 In einer Stelle des Textbuches, die Wagner in der Partitur gestrichen hat, setzt sich Senta »erschöpft in den Lehnstuhl nieder« und versinkt mit Beginn der Erzählung »wie in magnetischen Schlaf, so daß es scheint, als träume sie den von ihm erzählten Traum ebenfalls.« (H, 32) Verstärkt wird dieser Bezug auf den Mesmerismus auch durch die Tatsache, dass Senta und Erik während der Erzählung in einem intensiven ›Rapport‹49 stehen: Wie ihre regelmäßigen Einwürfe signalisieren, vollzieht Senta das von Erik beschriebene Geschehen mit. Die Bedeutung dieser Szene liegt nun aber nicht in der Rezeption des Mesmerismus im Musiktheater.50 Bereits im ersten Akt von Mozarts Così fan tutte bestreicht Despina, als Wunderheiler verkleidet, Ferrando und Guglielmo mit Magneten. Das Innovative ist vielmehr, dass Senta durch die Erzählung Eriks in Trance versetzt wird. Dies war nicht die übliche Methode der Magnetiseure. Denn nachdem das auf Mesmer zurückgehende händische Bestreichen der Patienten aus der Mode gekommen war, gingen seine Nachfolger zur Hypnose über. Der Blick war das Medium, das den Zugang zum Unbewussten garantierte, nicht das Wort. In Eriks Traumerzählung deutet sich damit bereits die Behandlungstechnik Sigmund Freuds an. Erik steht »an den Stuhl gelehnt zur Seite« (32), einem Psychoanalytiker gleich, der, am Kopfende der Couch sitzend, den Erzählungen seiner Patienten lauscht. Wenn man davon absieht, dass es hier Erik ist, der erzählt, und nicht die »Patientin« Senta, kann man in dieser

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Im Folgenden wird, um Missverständnissen vorzubeugen, von »Erik« gesprochen, da dies der in den gängigen Libretti verwendete Name ist. In der Urfassung, auf die die musikalische Analyse Bezug nimmt, hieß diese Figur noch »Georg«. Reinhold Brinkmann, Sentas Traumerzählung. In: Programmhefte der Bayreuther Festspiele, 1984, S. 1–17, hier S. 4. Auf diesen Zusammenhang verweist auch Abbate, Unsung Voices, S. 94. Zum Phänomen des Rapports in der therapeutischen Praxis des Mesmerismus vgl. die Ausführungen zu der Szene zwischen Alberich und Hagen in 4.1.3. Reinhold Brinkmann hat als erster auf den Einfluss des Magnetismus in dieser Szene hingewiesen und zitiert in diesem Zusammenhang unter anderen C.A.F. Kluge und E.T.A. Hoffmann. Allerdings übersieht er dabei den Medienwechsel innerhalb des magnetischen Diskurses, der Eriks Traumerzählung seine Besonderheit verleiht. Auch auf das Motiv der Identitätsbildung geht er nicht ein. Vgl. Brinkmann, Sentas Traumerzählung, S. 11–17.

Szene das auf verbaler Vermittlung basierende Setting erkennen, das dank Freud zu einer der einflussreichsten Zugangstechniken zum Unbewussten avancieren sollte. Das Ziel, das unbewusste Wissen mit Hilfe der Erzählung zu bergen, verschafft Wagner auch einen musikdramatischen Gestaltungsspielraum, der ihm in der zyklischen Form von Sentas Ballade noch verwehrt blieb.51 »Where Senta’s Ballad is representative of a genre, Eric’s Dream is sui generis«, schreibt Carolyn Abbate, wobei sie betont, die Traumerzählung sei durch ihre lineare Anlage »a continuous musical web that links musical transformations with events narrated, in a way impossible in strophic narrative song.«52 Das entscheidende Prinzip in der Komposition der Erzählung ist die Steigerung, die Wagner auf allen musikalischen Ebenen durchführt (SW 4/II, Nr. 5, T. 249ff.).53 Auch hier greift er wie in Sentas Ballade auf Tempo und Dynamik zurück, indem er wiederholt accelerandi fordert und den Tonsatz vom pianissimo ins forte führt. Hinzu kommt nun aber die Ausdehnung des Klangraumes durch die schrittweise Hinzunahme von Instrumenten: Die Fagotte setzen in Takt 253, die Klarinetten zehn Takte später ein. Die Posaunen erklingen erstmals in Takt 273, ebenso die Oboen und kurz darauf die Flöten. Gleichzeitig führt Wagner die Stimmen Sentas und Eriks nach oben, wobei Sentas Terz- und Quartsprünge regelmäßig höher ansetzen, bis beider Gesang in Takt 290 auf dem zweigestrichenen G den höchsten Punkt des Abschnittes erreicht. Der auffälligste Unterschied ist jedoch die Verwendung des Holländer-Motivs. Anders als in Sentas Ballade hat es nun musikalischen Anteil an der Bewusstseinsentstehung der Figuren. Es erklingt zum ersten Mal in Takt 265 in ges-Moll und drängt dann den Tonsatz in teilweise chromatischen Schritten über As-Dur, a-Moll, C-Dur usw. harmonisch nach oben, bis es in Takt 286 Ges-Dur erreicht. Durch diese kompositorischen Mittel erzielt Wagner den Eindruck des ungeduldigen Drängens, das schließlich in eine erneute Ekstase Sentas mündet: »Er sucht mich auf! Ich muß ihn sehn! / Mit ihm muß ich zu Grunde gehn!« (H, 34) Diese individuelle Aneignung des erzählten Wissens deutet die Entstehung von Subjektivität abermals als einen Aufstieg aus dem Unbewussten ins Bewusstsein.

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Carl Dahlhaus deutet diesen engen Zusammenhang von Erzählung und Bewusstwerdung kurz an. Ihm zufolge sind es »im musikalischen Drama gerade die Erzählungen und Reflexionen, in denen das Bewußtwerden der Gegenwart, die Erinnerung an Vergangenes und die Ahnung von Künftigem ineinanderfließen und sich durchdringen«. Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 176. Abbate, Unsung Voices, S. 94f. Dass die Erzählung als kompositorische Einheit zu lesen ist, zeigt die Tatsache, dass sie von einem Terzfall in den Fagotten eingeleitet und beschlossen wird (SW 4/II, Nr. 5, T. 242–244, 291f.). Auch Reinhold Brinkmann beschreibt diese Steigerung. Vgl. Brinkmann, Sentas Traumerzählung, S. 6. Seine Interpretation erscheint mir schlüssiger als diejenige Abbates, die in Eriks Traum eher die Formlosigkeit zum Prinzip auskomponiert sieht: »The dream has no formal shape, no structural repetition of thematic periods, no harmonic closure.« Abbate, Unsung Voices, S. 96.

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Es ist eigentlich nicht Eriks, sondern Sentas Traumerzählung.54 »Und ich?«: Sentas Frage, die sie während ihrer magnetischen Trance stellt, führt ins Zentrum der Ästhetik des Holländers. In der Traumerzählung legt Wagner die konventionellen Formen der Oper ab, um die Entstehung von Subjektivität musikdramatisch darstellen zu können. Das Leitmotiv bildet zwar noch nicht das Gerüst oder Rückgrat des Tonsatzes, aber es erfüllt hier zum ersten Mal eine seiner wichtigsten Funktionen: die Bewusstwerdung des Unbewussten musikalisch darzustellen.55 Zudem nähert sich der Gesang dem Wortdrama an und wird deklamatorisch. Er löst sich vom Orchestersatz, der dadurch an Eigenständigkeit gewinnt. Diese Szene ist nicht nur ein Vorbote für Wagners späteren Kompositionsstil, sondern enthält auch dessen anthropologische Begründung: In der Ballade und der Traumerzählung lauschen wir der Ich-Werdung Sentas. Spätestens seit dem Holländer sind die Musikdramen Wagners immer auch Identitätsdramen.56 Das zeigt sich ebenfalls am Schluss des Werkes: Nachdem der Holländer dem Gespräch Sentas und Eriks heimlich zugehört und von ihrem Treueversprechen an Erik erfahren hat, will er die Flucht ergreifen. Doch deutet er Senta seine Geschichte an, damit sie wisse, wen sie vor sich hat: »Erfahre das Geschick, vor dem ich dich bewahre!«57 Worauf Senta ihm entgegnet: »Ich kannte dich, als ich zuerst dich sah!« (H, 54) Doch die Anerkennung durch den Blick reicht dem Holländer nicht. Für ihn liegt das Siegel seiner Identität im Wort, nicht im Bild.58 Deshalb nennt er ihr ganz am Schluss des Musikdramas seinen Namen: »Den fliegenden Holländer nennt man mich!« (55) Die Frage nach der Identität wird damit als eigentliches Zentrum der Handlung sichtbar.59 Hinter der Geschichte des

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Reinhold Brinkmann hat seinem bereits erwähnten Aufsatz folgerichtig diesen Titel gegeben. Diesen anthropologischen Ursprung des Zusammenhangs von epischen Elementen und Leitmotivtechnik in Wagners Dramen hat die Forschung bisher übersehen. Es wurde zwar oft darauf hingewiesen, dass die Leitmotive bei Wagner epische Funktion haben, allerdings nie, ohne den gattungstheoretischen Diskurs zu verlassen. Auf die Bedeutung des Motivs der Identitätsbildung in Wagners Werk hat auch Sven Friedrich hingewiesen, der für seine Analyse allerdings die Psychoanalyse Carl Gustav Jungs heranzieht. Mit dieser Vorgehensweise gerät aber der dynamische Aspekt der Subjektkonstitution bei Wagner aus dem Blick. Vgl. Friedrich, Richard Wagner, S. 47–73. Egon Voss hat darauf hingewiesen, dass die Vorgeschichte des Holländers unklar bleibe, ja sogar unterdrückt werde. Nur in der Ballade werde sie angedeutet. Dies führt er darauf zurück, dass in der Oper Erzählszenen zwar oft notwendig seien, wo möglich aber ausgespart würden. Vgl. Voss, »Wagner und kein Ende«, S. 72–76. Es könnte aber auch sein, dass das Unterdrücken der Vorgeschichte im Holländer denselben Zweck hat wie im Lohengrin: Ihre Rolle bei der Bildung von Identität tritt deutlicher hervor, wenn sie mit der Namensnennung am Schluss des Dramas verbunden wird. Zum Problem der Medienkonkurrenz bei Wagner vgl. das vierte Kapitel dieser Arbeit. In einem Beitrag für das Programmheft der Münchener Oper geht Jürgen Schläder auf den in diesem Abschnitt entwickelten Zusammenhang von Erzählung und Identität im Holländer ein. Dieser Text ist zugleich die bisher einzige Beschäftigung mit diesem

Geisterwesens, das in der menschlichen Gesellschaft nach »Erlösung« sucht, verbirgt sich ein kultureller Konflikt, der spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Europa virulent wird: In einer Welt, die als geschichtlicher Prozess erscheint und in der die traditionale gesellschaftliche Ordnung sich aufzulösen beginnt, sind Individualität und Identität nicht gegeben, sondern müssen erst errungen werden. In den Texten der Romantik erscheint dieses Unternehmen besonders prekär, da das Subjekt nicht Herr im eigenen Hause ist, sondern im Unbewussten einen opaken Grund erhält, der es zugleich konstituiert und gefährdet. Es ist entscheidend, sich diesen anthropologischen Hintergrund von Wagners Opernreform vor Augen zu halten: Der Holländer markiert einen neuen Abschnitt in der Operngeschichte, weil er erstmals mit den Mitteln des Musiktheaters die temporal bedingte Konstitution des Subjekts als eine Bewusstwerdung des Unbewussten darzustellen versucht. Weder die Komponisten der romantischen Oper in Deutschland und Italien noch Hector Berlioz oder Giuseppe Verdi haben die kulturellen Umwälzungen ihrer Epoche und deren Konsequenzen für das Bild vom Menschen so radikal in die Form ihrer Werke einfließen lassen wie Richard Wagner.

5.2.

Dynamische Subjektivität: Schelling, Schubert, Carus

Die Idee, dass auch das Ich seine Geschichte hat, taucht in verschiedenen Wissenssystemen der beginnenden Moderne auf; in Philosophie und Literatur ebenso wie in der Psychiatrie. Dass diese Verzeitlichung der Subjektivität in Zusammenhang mit sozialen Veränderungen zu sehen ist, die mit der Neuzeit einsetzen, ist in den Gesellschaftswissenschaften Konsens. So weist der Soziologe Hartmut Rosa auf die Veränderung von gesellschaftlichen Temporalstrukturen und deren Auswirkung auf die Herausbildung moderner Identität hin. In sogenannten vormodernen Gesellschaften sei die »substanzielle soziale Identität« vornehmlich »von außen festgelegt und vordefiniert« worden, also vor allem durch Tradition und Religion.60 Die

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Thema in der Wagner-Literatur. Schläder kommt darin zu dem Schluss, dass die Erzählungen Sentas in erster Linie dazu dienten, dem Holländer seine Identität zu geben. Sie zielten auf das Individuum und stünden damit im Gegensatz zur Narration des Volkes, das »keine Individualität« kenne. Jürgen Schläder, Das »Weib der Zukunft« schafft dem Phantom Identität. Über die Erzählstrukturen im »Fliegenden Holländer«. In: Der fliegende Holländer. Programmheft der Bayerischen Staatsoper, München 2006, S. 64–69, hier S. 64. Senta durchbreche das konventionelle Schema der anderen Erzählungen und entwerfe »endlich aus dem nur schwach konturierten Sagenstoff jene Geschichte, die dem Holländer Individualität verleiht: mehr noch: die ihm seine Identität gibt.« (ebd., S. 66) Diese Deutung, in der Senta für das Erlösung bringende »Weib der Zukunft« steht, übernimmt jedoch just die männliche Perspektive, die in dem Musikdrama auf subtile Art kritisiert wird. Geht es nicht vielmehr um die Formung weiblicher Identität durch die Erzählungen des Kollektivs? Rosa räumt ein, dass es »die Vormoderne als einheitliche Gesellschaftsformation gewiss

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Anerkennungsverhältnisse seien a priori gesichert gewesen. Erst mit der Reformation setze eine »Innen-Wendung« ein, die »zur dominanten Praxis der Selbstbestimmung in der Neuzeit« geworden sei.61 Damit einher gehe die Individualisierung als ein »Prozess der Eröffnung von substanziellen Handlungs- und Lebensalternativen« sowie ein »sozialer Wandel in Gestalt einer Verflüssigung traditioneller Vorgaben und Rollenmuster.« Das Selbst, so Rosa, werde nun »weit stärker zu einem ›reflexiven Projekt‹ als zuvor«. Entscheidend dabei sei aber, dass das damit verbundene Ziel einer Verwirklichung der Identität zugleich deren Verzeitlichung begreife.62 Wer jemand ist und welche Rolle er in der Gemeinschaft spielt, wird nun anhand des Lebenslaufes, also biographisch erschlossen.63 Auch Niklas Luhmann hat diesen Aspekt bei seiner Untersuchung moderner Individualität herausgestellt. »Das Lebensschicksal«, schreibt er, »muß auf eine Sukzession von selektiven Ereignissen umgedacht werden«. Modell hierfür sei die »Karriere« im weiten Sinn, die als ein »nahezu voraussetzungslos beginnender, sich selbst ermöglichender Verlauf« erfahren werde64 und so dem Individuum die Möglichkeit biete, »die eigene Identität in der Zeitdimension zu definieren.«65 Das heißt zugleich, dass personale Identität zu einem prekären Projekt wird. Der Versuch, sich selbst als Einheit einer Differenz zu begreifen, ist unabschließbar. Das Subjekt, so könnte man sagen, befi ndet sich immer im Übergang. 66

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nicht gibt«. Dennoch lasse sich die These rechtfertigen, dass in »traditionalen Gesellschaften bis weit in die Frühmoderne hinein« ein anderes Identitätsmodell als in der Moderne gegeben sei. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005, S. 356. Fragwürdig ist Rosas Behauptung, dass bereits in dieser »Innen-Wendung« die Identität »ein Thema reflexiver Auseinandersetzung« werde (ebd.). Niklas Luhmann hat betont, dass die kulturelle Praxis des Selbstgespräches »nicht das Herausbringen von Individualität« zum Ziel habe, sondern eine »moralische Ökonomie des Selbst« artikuliere. »Das Neue liegt noch nicht in der Individualisierung des Identitätsproblems, sondern in der Distanz zu religiös-dogmatischen Vorgaben.« Niklas Luhmann, Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität. In: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, hg. von Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Frankfurt am Main 1994, S. 191–200, hier S. 193. Darüber hinaus ist der subjektinternen Frage nach der Identität in der Neuzeit auch eine gesellschaftlich-externe Entwicklung an die Seite zu stellen: Mit der Entstehung des Polizeiwesens wurden, wie Aleida Assmann schreibt, die »von außen kommenden kulturellen Praktiken der Feststellung von Differenz« präzisiert. Auch der Staat hatte ein wachsendes Interesse an der Feststellung von Identität. Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006, S. 205. Rosa, Beschleunigung, S. 357. Vgl. hierzu Charles Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989, S. 289. Luhmann, Copierte Existenz und Karriere, S. 196. Ebd., S. 198. Die gegenwärtige soziologische Diskussion hat ›personale Identität‹ deshalb als ›transitorische Identität‹ definiert. Identität gilt nicht als eine gegebene, unveränderliche Größe.

Diese Dynamisierung der Ich-Konstitution bildete sich schon in den philosophischen Theorien der Neuzeit ab. John Locke kann als der erste gelten, der eine Theorie entwarf, die den Zusammenhang von personaler Identität und Erinnerung berücksichtigte. In seinem Essay Concerning Human Understanding entwickelt er den Gedanken, dass Individuen sich zwar zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens unterscheiden, aber trotzdem als ein- und dieselbe Person erkannt werden können. Identität findet für ihn als Selbstbezug statt, der den Blick in die Vergangenheit mit einschließt: And as far as this consciousness can be extended backwards to any past Action or Thought, so far reaches the Identity of that Person; it is the same self now it was then; and ’tis by the same self with this present one that now reflects on it, that that Action was done. 67

Auch für Schelling war das Ich keine gegebene, unveränderliche Substanz. Dies wird im System des transzendentalen Idealismus deutlich, wo es heißt: »Der Begriff des Ich ist nur der Begriff des Selbstobjektwerdens« (S I/3, 366). »Denn da das Ich (als Objekt) nichts anderes ist als eben das Wissen von sich selbst, so entsteht das Ich eben nur dadurch, daß es von sich weiß; das Ich selbst also ist ein Wissen, das zugleich sich selbst (als Objekt) producirt.« (369) Hier zeigt sich wieder das Motiv des Blicks in den Spiegel, das bereits zu Beginn des ersten Kapitels eine wichtige Rolle spielte: Nur wenn ich mich von außen betrachte, kann ich mich als mit mir iden-

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Jürgen Straub fasst diese Einsicht wie folgt zusammen: »›Identität‹ im hier gemeinten Sinn bezeichnet das Selbstverhältnis einer Person, das treffend als ›Einheit ihrer Differenzen‹ bezeichnet werden kann, in temporaler und dynamischer Perspektive: als aktive, stets nur vorläufige Synthese des Heterogenen (Paul Ricoeur), wobei unbestritten ist, dass diese Einheitsbildung, Integrations- oder Syntheseleistung nicht zur ›Aufhebung‹ oder ›Eliminierung‹ von Differenz und Heterogenität und auch nicht von Kontingenz, Ambiguität, Ambivalenz oder Polyvalenz führt oder führen kann.« Jürgen Straub, Personale Identität: anachronistisches Selbstverhältnis im Zeichen von Zwang und Gewalt. In: Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, hg. von Jürgen Straub, Frankfurt / Main 2002, S. 85–113, hier S. 94. Hartmut Rosa weist darauf hin, dass der Begriff der personalen Identität, den auch der Skeptiker David Hume verwendete, in der zeitgenössischen Sozialwissenschaft den der Persönlichkeit abgelöst habe. Wie er vermutet, signalisiere diese Begriffsverschiebung »die Abkehr von substanzialistischen oder gar essenzialistischen Vorstellungen des Selbst zugunsten dynamisch flexibler, stark reflexiver […] Formen der Selbstrepräsentation.« Rosa, Beschleunigung, S. 355. John Locke, An Essay concerning Human Understanding, Oxford 1975, S. 335. Vgl. zu Lockes Ausführungen über Erinnerung und Identität: Assmann, Erinnerungsräume, S. 95–98. Assmann zeigt, dass die Diskussion der persönlichen Erinnerung mit dem Verblassen der antiken Gedächtniskunst in der Neuzeit zu tun hat. »Kontinuität wurde damit von einer Vorgabe zu einer Aufgabe, die es im Rahmen der individuellen Lebensgeschichte herzustellen galt.« Locke sei der erste gewesen, der Identität nicht mehr durch Genealogie konstruiert habe (ebd., S. 95). Vgl. zu Lockes Begriff der personalen Identität auch Dieter Teichert, Personen und Identitäten, Berlin 2000, S. 130–152.

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tisch erfahren. Das Ich ist also sowohl Subjekt als auch Objekt. In ihm verschränkt sich, wie in der Natur, das Produkt mit dem Produzieren, die begrenzende mit einer begrenzten Tätigkeit; es ist die Synthese eines eigenartigen Wechselspiels, für das Schelling den Begriff des »Schwebens« einführt: Weder durch die begrenzende noch durch die begrenzte Tätigkeit für sich kommt es also zum Selbstbewußtseyn. Es ist sonach eine dritte aus beiden zusammengesetzte Thätigkeit, durch welche das Ich des Selbstbewußtseyns entsteht. Diese dritte zwischen der begrenzten und der begrenzenden schwebende Thätigkeit, durch welche das Ich erst entsteht, ist […] nicht [sic] anderes als das Ich des Selbstbewußtseyns selbst. […] Es kann schon aus dem Bisherigen geschlossen werden, daß die im Selbstbewußtseyn ausgedrückte Identität keine ursprüngliche, sondern eine hervorgebrachte und vermittelte ist. (391f.)68

Schelling definiert die Identität als »eine wechselseitige Beziehung der beiden entgegengesetzten Glieder« (392), was eindeutig von dem Einfluss der Identitäts-Definition John Lockes zeugt. Aber Schelling geht über dessen Theorie hinaus, indem er ein drittes Element einfügt: das Selbstbewusstsein. Dieses ist die Synthese aus subjektivem und objektivem Wissen, das sich selbst begreifende Ich. Die Identität, die es ausdrückt, ist keine ontologische Einheit, die immer schon gewesen ist, sondern muss erst, wie er sagt, »hervorgebracht« und »vermittelt« werden. Das »Schweben« signalisiert dabei, dass dies nur ein vorübergehender und prekärer Zustand sein kann. Damit ist auch bei Schelling die Identität in einen dynamischen Prozess eingebunden. Während Lockes Philosophie noch den Begriff der »Action« in den Mittelpunkt stellte, auf den Menschen als handelndes Wesen zielte und ihn so in die Pflicht zu nehmen versuchte, hat die Entstehung von Identität in Schellings Philosophie eine andere Stoßrichtung. Bei ihm entsteht das Ich aus dem Unbewussten der Natur, es hat also eine Geschichte.69 Doch diese hat der Mensch vergessen. 68

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Auf diese Stelle folgt der berühmte Satz, in dem Schelling die Dialektik – noch vor Hegel – als grundlegendes Prinzip des Geistes definiert: »Dieser Fortgang von Thesis zur Antithesis und von da zur Synthesis ist also in dem Mechanismus des Geistes ursprünglich gegründet« (S I/3, 394). Manfred Frank hat darauf hingewiesen, dass die Identitätskonzeption Schellings und die in ihr enthaltene, auf Hegel vorausweisende Gleichursprünglichkeit von Identität und Differenz auf der Liebeskonzeption Hölderlins basiere. Vgl. Frank, Philosophische Grundlagen der Frühromantik, S. 59f. Man darf beim Übergang von Locke zu Schelling natürlich die Herdersche Geschichtsphilosophie nicht unerwähnt lassen. Der Bezug ist schon durch die Tatsache hergestellt, dass Schellings erste naturphilosophische Schrift, die Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), eine Anspielung auf Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) enthält. Vgl. hierzu Hans Michael Baumgartner / Harald Korten (Hgg.), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, München 1996, S. 56f. In Herders Schrift finden sich bereits viele Gedanken der Schellingschen Naturphilosophie vorgebildet, so etwa der Aufstieg aus dem Anorganischen zum Organischen. Gleiches gilt auch für die Geschichtlichkeit dieses Prozesses. Dies übersehen Interpretationen, die die Historisierung des Denkens mit Schelling einsetzen lassen. So etwa Steffen Dietzsch, der schreibt,

Zwar haben wir Bewusstsein, aber wir können uns nicht mehr erinnern, welchen Weg wir zurücklegen mussten, um zu diesem Bewusstsein zu gelangen. Bereits in den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796/97) wird dies deutlich: Jede Handlung der Seele ist auch ein bestimmter Zustand der Seele. Die Geschichte des menschlichen Geistes also wird nichts anderes seyn als die Geschichte der verschiedenen Zustände, durch welche hindurch er allmählich zur Anschauung seiner selbst, zum reinen Selbstbewußtseyn, gelangt. […] Was aber die Seele anschaut, ist immer ihre eigne, sich entwickelnde Natur. Ihre Natur aber ist nichts anderes als jener oft angezeigte Widerstreit, den sie in bestimmten Objekten darstellt. So bezeichnet sie durch ihre eignen Produkte, für gemeine Augen unmerklich, für den Philosophen deutlich und bestimmt, den Weg, auf welchem sie allmählich zum Selbstbewußtseyn gelangt. Die äußere Welt liegt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die Geschichte unseres Geistes wieder zu finden. (S I/1, 382f.)

»Für gemeine Augen unmerklich«: Das ist die entscheidende Nuance. Wir erinnern uns nicht mehr der bewusstlosen Tätigkeit, die unserem Bewusstsein vorausgeht und werden der ursprünglichen Identität zwischen uns und der Natur nicht inne. In seinem Epikurisch Glaubensbekenntniß Heinz Widerporstens, das an dieser Stelle noch einmal kurz zitiert sei, stellt Schelling diesen abstrakten Gedanken poetisch dar. Die Natur, ein »Riesengeist«, erwacht im Menschen, der Ueber sich selbst gar sehr verwundert ist / […] Möchte’ alsbald wieder mit allen Sinnen / In die große Natur zerrinnen, / Ist aber einmal losgerissen, / Kann nicht wieder zurückfließen, / Und steht Zeitlebens eng und klein / In der eignen großen Welt allein. / Fürchtet wohl in bangen Träumen, / Der Riese möcht’ sich ermannen und bäumen, / […] Weiß nicht, daß er es selber ist, / Seiner Abkunft ganz vergißt […].70

Was folgt nun aus der Tatsache, dass wir unsere Herkunft aus dem Unbewussten vergessen haben, also die Geschichte unseres Ich nicht kennen? Das System des transzendentalen Idealismus formuliert die Antwort wie folgt: »Dieses Objektive, was durch mich handelt, soll nun aber doch wieder ich sein. Nun bin aber ich nur

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mit Schelling etabliere sich eine »erstmals umfassende geschichtsphilosophische Systematik.« Steffen Dietzsch, Geschichtsphilosophische Dimensionen der Naturphilosophie Schellings. In: Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Naturphilosophie Schellings, hg. von Hans Joachim Sandkühler, Frankfurt am Main 1984, S. 241–258, hier S. 241. Zuzustimmen ist jedoch Dietzsches These, dass sich der »Stellenwert des Historischen« grundsätzlich ändere: »Es ist nicht mehr wesentlich als die Fähigkeit zur Einsicht in den Prozeß des Erkennens zu begreifen oder als die Prozessualität seiner Tathandlungen, sondern die Substanz der Totalität selber wird als Geschichte begriffen, während Mensch und Natur nur deren Modi darstellen.« Dietzsch hebt hervor, dass es sich bei Schellings Naturphilosophie nicht um eine »Fluchtbewegung aus der Geschichte, gar ein idyllisches retour à la nature« handele, sondern der Mensch durch den Blick in die Entwicklungsgeschichte der Natur »im eigenen Tätigkeitsraum, im Chaos der eigenen Geschichte« Orientierung und Ziel erreichen solle (ebd., S. 241f.). Schelling, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 8, S. 429f.

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das Bewußte, jenes Andere dagegen das Unbewußte. Also das Unbewußte in meinem Handeln soll identisch sein mit dem Bewußten.« (S I/3, 605) So groß die Unterschiede zwischen Schelling und Wagner auch sein mögen: Es ist doch aufschlussreich, dieses Modell mit den Bewusstwerdungen zu vergleichen, die Wagners Musikdramen unablässig inszenieren. Ein Beispiel ist Sentas IchWerdung, die zu Beginn dieses Kapitels dargestellt wurde. Indem Senta begreift, dass die Geschichte des Holländers auch die ihrige ist, gelangt das Unbewusste zu Bewusstsein. Nicht umsonst beschreibt Wagner den ekstatischen Ausbruch seiner Heldin mit den Worten »schnell erwachend« (H, 34). Man hat es hier mit einer Erwachensszene zu tun, die ein zweites Erwachen beschreibt. Es geht nicht um die Geburt des Bewusstseins aus dem Unbewussten, wie sie etwa das Vorspiel des Rheingolds schildert, sondern um die Wiedererinnerung des vergessenen Unbewussten. Doch zurück zu Schelling, um genauer zu verstehen, wie er sich diese Bewusstwerdung des Unbewussten vorstellte. Für ihn war es zunächst allein die Aufgabe des Philosophen, über die Identität des Bewusstseins mit dem Unbewusstsein aufzuklären, da sich nur dem denkenden Menschen der Weg, den das menschliche Bewusstsein zurücklegen musste, »deutlich und bestimmt« (S I/1, 383)71 darstelle. Wenn Schelling in den Abhandlungen sagt, »die äußere Welt liegt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die Geschichte unseres Geistes wieder zu finden«, so ist die Bedeutung des Wortes »wieder« nicht zu unterschätzen. Die Philosophie soll die Geschichte des Ich rekonstruieren und sie so dem Menschen ins Gedächtnis rufen: Allerdings nun indem das Ich zum individuellen wird – was eben durch das Ich bin sich ankündigt – angekommen also bei dem Ich bin, womit sein individuelles Leben beginnt, erinnert es sich nicht mehr des Wegs, den es bis dahin zurückgelegt hat, denn da das Ende dieses Wegs eben erst das Bewußtseyn ist, so hat es (das jetzt individuelle) den Weg zum Bewußtseyn selbst bewußtlos und ohne es zu wissen zurückgelegt. […] Das individuelle Ich findet in seinem Bewußtseyn nur noch gleichsam die Monumente, die Denkmäler jenes Weges, nicht den Weg selbst. Aber eben darum ist es nun Sache der Wissenschaft und zwar der Urwissenschaft, der Philosophie, jenes Ich des Bewußtseyns mit Bewußtseyn zu sich selbst, d. h. ins Bewußtseyn, kommen zu lassen. Oder: die Aufgabe der Wissenschaft ist, daß jenes Ich des Bewußtseyns den ganzen Weg von dem Anfang seines Außersichseyns bis zu dem höchsten Bewußtseyn – selbst mit Bewußtseyn zurücklege. (S I/10, 94f.)

Mit diesen Worten fasst Schelling in seinen Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie sein System des transzendentalen Idealismus zusammen. Das Zitat macht deutlich, wie aus Schellings Naturphilosophie die Idee einer zweiten Bewusstwerdung entsteht, in der der Mensch erst im eigentlichen Sinne zu sich findet. Dem Ich

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Novalis nennt dies in Die Lehrlinge zu Sais die »Gabe des Naturhistorikers, des Zeitensehers«, der die Bedeutungen der Naturgeschichte erkenne, um sie dann »weißagend« zu verkündigen. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 99.

wird dabei eine »transcendentale Vergangenheit« (93) zugesprochen, die mit Hilfe der Philosophie nacherzählt werden soll.72 Hegel wird diesen Gedanken in seiner Phänomenologie des Geistes aufnehmen und weiterführen. Doch anders als sein früherer Freund und späterer Konkurrent zeigte Schelling diesem idealistischen Experiment bereits in seinen naturphilosophischen Frühschriften die Grenzen auf: Obwohl die Natur wie ein Buch »vor uns aufgeschlagen liegt«, können wir unsere eigene Geschichte nicht ohne weiteres entziffern. So schreibt Schelling in den Abhandlungen, jede Pflanze sei »der verschlungene Zug der Seele« (S I/1, 386). Mit anderen Worten: Die Zeichen der Natur sind dem Menschen unverständlich geworden, er hat die Sprache des Unbewussten verlernt. »Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt«, nimmt Schelling diesen Gedanken im System des transzendentalen Idealismus wieder auf. »Doch könnte das Räthsel sich enthüllen, würden wir die Odyssee des Geistes darin erkennen, der wunderbar getäuscht, sich selber suchend, sich selber flieht« (S I/3, 628). Damit wird der Versuch, die »Geschichte unseres Geistes« allein mit den Mitteln der Begriffs- und Verstandessprache zu entschlüsseln, letztlich für unmöglich erklärt. Die Ansicht des Philosophen von der Natur ist, wie Schelling betont, nur »künstlich« (ebd.). Deshalb wird er ihre rätselhafte Geschichte, die in Wahrheit unsere eigene ist, nie vollständig ans Licht bringen können.73 Die idealistische Ansicht, dass das Ich »den ganzen Weg von dem Anfang seines Außersichseyns bis zu dem höchsten Bewußtseyn – selbst mit Bewußtseyn« zurücklegen könne, ist damit verworfen.74 Sie weicht der frühroman72

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Schelling bezieht sich in dieser Stelle direkt auf das System, wo er die Aufgabe der Philosophie ähnlich formulierte: »Das Mittel übrigens, wodurch der Verfasser seinen Zweck, den Idealismus in der ganzen Ausdehnung darzustellen, zu erreichen versucht hat, ist, daß er alle Teile der Philosophie in Einer Continuität und die gesamte Philosophie als das, was sie ist, nämlich als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseyns, für welche das in der Erfahrung Niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Document dient, vorgetragen hat.« (S I/3, 331). Gleiches gilt nach Schelling für die Geschichte der Menschheit, in der sich das »ewig Unbewußte« allenfalls erahnen lasse. Wir könnten zwar »die Spur dieser ewigen und unveränderlichen Identität am ehesten in der Gesetzmäßigkeit finden, welche als das Gewebe einer unbekannten Hand durch das freie Spiel der Willkür in der Geschichte sich hindurchzieht.« (S I/3, 601) Doch auch hier deutet sich dem Philosophen das Urprinzip allen Daseins nur an, da es immer wie hinter einem Schleier verborgen bleibt. Schelling will die Geschichte als »fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten« verstanden wissen. »Man kann in der Geschichte nie die einzelne Stelle bezeichnen, wo die Spur der Vorsehung oder Gott gleichsam sichtbar ist. Denn Gott ist nie, wenn das Seyn das ist, was in der objektiven Welt sich darstellt; wäre er, so wären wir nicht: aber er offenbart sich fortwährend.« (603). Schelling selbst schreibt in seiner Geschichte der neueren Philosophie, dass er im System des transzendentalen Idealismus noch ganz in Fichtes Philosophie befangen gewesen sei: »Es war der Versuch, den Fichteschen Idealismus mit der Wirklichkeit auszusöhnen, oder zu zeigen, wie gleichwohl, auch unter Voraussetzung des Fichteschen Satzes, daß alles nur durch das Ich und für das Ich ist, die objektive Welt begreiflich sey.« (S I/10, 95).

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tischen Auffassung, nach der der Philosophie nur eine unendliche Annäherung an das Absolute möglich und einzig der Kunst die Darstellung des Undarstellbaren vorbehalten ist. Schellings Philosophie setzte die Idee in die Welt, dass eine Lektüre des Ich möglich sei, betonte aber auch, dass diese ein prekäres Unterfangen bleiben müsse. Denn das Unbewusste spreche eine eigene, uns fremd gewordene Sprache. Die Übersetzung unbewusster Prozesse ins Bewusstsein wird in der Romantik damit zu einem semiotischen und medialen Problem. Das ist einer der Gründe, warum sie kein kohärentes Konzept von Sprache und Schrift hervorgebracht hat. Die Schellingsche Naturphilosophie wird nicht nur von der platonischen Vorstellung der Schrift als Pneuma, sondern auch von theosophischen und kabbalistischen Konzepten überlagert. Die Romantiker rezipierten Jakob Böhme ebenso wie Emanuel Swedenborg.75 Die Natur wurde ihnen, um einen beliebten Ausdruck von Novalis und Hoffmann aufzugreifen, zur ›Hieroglyphensprache‹. Dies gilt es zu beachten, wenn man den Beitrag Gotthilf Heinrich von Schuberts zur romantischen Konzeption einer Geschichte des Ich verstehen will. Denn Schubert entdeckte die Sprache des Unbewussten nicht nur in der Natur, sondern auch im Traum und im magnetischen Schlaf. Auch wenn er dies als ein metaphysisches Phänomen verstand, bereitete er doch einer individualpsychologischen Lesbarkeit des Unbewussten den Weg. Wie Schelling geht Schubert davon aus, dass sich die Natur »im Menschen ihrer selber erst bewußt«76 werde und der Mensch in der Natur deshalb »sein innres, geistiges Leben abgespiegelt« finde.77 Daraus folgt, dass die Geschichte des Menschen mit der Geschichte des großen Ganzen zusammenhängen muss: Da bey der Erzeugung des Einzelnen dieselben Prinzipien, dieselben strebenden Kräfte thätig gewesen, aus denen das höhere Ganze hervorgeht, so muß die Geschichte des letzteren schon in jener des Einzelnen zu erkennen seyn, eben so wie sich in der Geschichte des einzelnen Menschen die Entwickelungsperioden des ganzen Geschlechts nachweisen lassen […].78

Der Schluss des Zitates knüpft an einen Satz Schellings aus dessen System des transzendentalen Idealismus an, in dem behauptet wird, daß, was nur je in der Geschichte gewesen ist, auch wirklich mit dem individuellen Bewußtsein eines jeden, nur nicht eben unmittelbar, wohl aber durch unendlich viele Zwischenglieder hindurch, dergestalt zusammenhänge, oder zusammenhängen werde, daß,

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Detlef Kremer betont den Einfluss dieser verschiedenen Strömungen im Zusammenhang mit seiner Erörterung der »Lektüre des eigenen Selbst« in der Romantik. Vgl. Detlef Kremer, Prosa der Romantik, Stuttgart, Weimar 1997, S. 82f. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 58. Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 36. Ebd., S. 37.

wenn man jene Zwischenglieder aufzeigen könnte, auch offenbar würde, daß, um dieses Bewußtsein zusammenzusetzen, die ganze Vergangenheit notwendig war. (S I/3, 591)

Doch Schubert geht einen bedeutenden Schritt über Schelling hinaus. Er spricht nicht mehr im transzendentalphilosophischen Sinne von einer Geschichte des Ich, sondern von einer »Geschichte des einzelnen Menschen«. Schubert beschreibt, genau wie andere romantische Anthropologen, nicht nur die Entwicklungsstadien der Natur, sondern auch die des Menschen.79 Das heißt nun aber nichts anderes, als dass sich die Entstehung des Bewusstseins aus dem Unbewusstsein als eine Folge von Ereignissen lesen lässt, die der Seele des Menschen eingeschrieben sind. Das in der Außenwelt der Natur liegende Unbewusste, das die gemeinsame Entstehungsgeschichte aller Menschen birgt, wendet sich gleichsam nach innen: Jeder Mensch verfügt über eine individuell zu erzählende Geschichte, die dieselben Entwicklungsphasen vom Unbewussten zum Bewusstsein durchläuft wie die Natur. Die Naturphilosophie Schellings nimmt so bei Schubert eine psychologische Wendung. Jener wollte die Geschichte des Ich noch als eine transzendentale, für jedes Individuum allgemeine Gültigkeit beanspruchende verstanden wissen, ohne dabei in erster Linie an eine Wiedererinnerung der persönlichen Biographie mit all ihren verdrängten Ereignissen und Kindheitserinnerungen zu denken. Deshalb führt der Weg von Schelling zu Freud80 über Schubert. Erst in seiner Anthropologie beginnt sich jenes Konzept einer Seelengeschichte abzuzeichnen, das bei Sigmund Freud zur therapeutischen Methode werden sollte. Dieser wollte die ins Unbewusste gesunkenen Erlebnisse seiner Patienten wieder ans Tageslicht bringen, indem er sie auf dem Divan von ihrer Lebensgeschichte erzählen ließ. »Wir können«, so Freud, »das Ziel unserer Bemühung in verschiedenen Formeln ausdrücken: Be-

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Dass diese Doppelung für die romantischen Anthropologien als Ganzes bezeichnend ist, hat Manfred Engel nachdrücklich betont: »Zu den traditionellen Bausteinen Physiologie und Psychologie treten im Regelfall nun auch zwei historische Teile: ein individualgeschichtlicher Abriß der Lebensstadien des Menschen von der Zeugung bis zu Greisenalter und Tod und ein Abriß der Menschheitsgeschichte im Rahmen der Naturgeschichte, der sich bis hin zu einer Kosmogonie ausweiten kann.« Engel, Naturphilosophisches Wissen, S. 69. Nicht zufällig wurden Schellings Theorien oft mit der Psychoanalyse in Verbindung gebracht. So schreibt Ludger Lütkehaus in Tiefenphilosophie: »Die philosophische ›Urwissenschaft‹, die wesentlich ›Anamnese, Erinnerung‹ ist, verfolgt den Weg der bewußtlosen Wirklichkeitskonstitution nur mit Bewußtsein zurück. […] Die Transzendentalphilosophie Schellings kann als psychologischer Transzendentalismus aktualisiert werden« (Lütkehaus, Tiefenphilosophie, S. 27). Lütkehaus greift hier auf Odo Marquard zurück, der in seiner Habilitationsschrift versucht hat, Schelling und seine Nachfolger auf Freud zu beziehen. Marquard vergleicht darin auch Schellings und Freuds Konzept der ›Anamnese‹. Vgl. Odo Marquard, Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987, S. 94–99 u. 230–235.

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wußtmachen des Unbewußten, Aufhebung der Verdrängungen, Ausfüllung der amnestischen Lücken, das kommt alles auf das gleiche hinaus«.81 Die psychologische Grundierung der Naturphilosophie zeigt sich besonders in Schuberts Interesse für den Magnetismus und seiner Beschäftigung mit dem Traum. Er schreibt, die Natur erscheine uns als eine verkörperte Traumwelt, eine prophetische Sprache in lebendigen Hieroglyphengestalten. Der unbekannte Philosoph scheint deshalb nicht ohne Grund die Natur mit einer Somnambule, einer Traumrednerin zu vergleichen, welche überall nach derselben innern Nothwendigkeit, nach demselben bewußtlosen und blinden Triebe wirke, aus welchem die Handlungen eines Nachtwandlers hervorgehen […].82

Traum und Natur verdanken ihre Existenz in Schuberts Theorie demselben Ursprung. »Dasselbe Prinzip, aus welchem die ganze uns umgebende Natur hervorgegangen, zeigt sich unter andern auch in uns, bey der Hervorbringung jener Traumund Naturbilderwelt thätig«.83 Die Traumsprache ist deshalb die »ursprüngliche und natürliche« Sprache unserer Seele, die wie die Sprache der Natur nur rätselhaft codiert, »hieroglyphisch« 84 ins Bewusstsein tritt. Denn der Mensch hat sich dieser Sprache »entwöhnt«, ihm ist nur »ein Strahl des anfänglichen Verständnisses übrig geblieben«.85 In diesem Sinne schreibt Schubert am Schluss des dritten Kapitels der Symbolik des Traumes zusammenfassend: Und in der That, das Wort der Natur, oder vielmehr der zur Natur gewordene Gott, ist dem Alterthume zugleich Traum und Traumdeuter gewesen. Der Mensch, ein Theil und Gleichniß jenes Gottes, dessen Sprache, dessen sinnlich offenbares Wort die Natur ist, hatte ursprünglich auch das Organ für diese Sprache in sich, […] und noch jetzt läßt uns die eingesperrte Psyche, wenigstens im Traume, den angebornen Ton vernehmen.86

Die Dechiffrierung und damit auch Wiedererinnerung dieser Sprache als eine mögliche Technik der Bewusstwerdung des Unbewussten, die Schelling in erster 81

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Freud, Studienausgabe, Bd. 1, S. 419. Freud nimmt in seiner Traumdeutung zweimal auf Schubert Bezug. Vgl. hierzu Freud, Studienausgabe, Bd. 2, S. 85 u. 347. Schuberts Symbolik des Traumes wird auch im Literaturverzeichnis der Traumdeutung erwähnt (ebd., S. 611). Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 24. Ebd., S. 29. Ebd., S. 3. Die Rede von den »Hieroglyphen« war in der Romantik ein beliebtes Bild zur Kennzeichnung der Rätsel-Sprache des Unbewussten. So heißt es in einem Fragment des Novalis: »Das wird die goldne Zeit sein, wenn alle Worte – Figurenworte – Mythen – und alle Figuren – Sprachfiguren – Hieroglyfen seyn werden – wenn man Figuren sprechen und schreiben – und Worte vollkommen plastisieren, und Musizieren lernt.« Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 123f. Und noch Mitte des 19. Jahrhunderts spricht Carl Gustav Carus von den »Hieroglyphen«, die in der rein unbewussten Sprache der Seele sich ausdrückten. Eine »eigenthümlich göttliche Idee« habe »ihr unsichtbares Wesen, wie in sichtbaren Lettern« niedergeschrieben. Carus, Psyche, S. 154. Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 46. Ebd., S. 55.

Linie auf die Naturgeschichte bezog, wird nun bei Schubert auch durch die Deutung der Träume möglich. Nicht umsonst bietet er in seiner Symbolik des Traumes eine Art Übersetzungshilfe, ein Wörterbuch der Traumsprache an: So bedeuten etwa Blumen Heiterkeit, ein vertrockneter Bach Mangel.87 Entscheidend ist hierbei, dass diese Traumdeutung die individuelle Geschichte miteinbezieht. »Der Weg hinter uns ist dunkel«, heißt es in den Ansichten, »und nur zuweilen wird er durch Träume von einer sonderbaren Innigkeit und Klarheit […] aufgehellt.«88 Und in der Symbolik des Traumes schreibt Schubert: Selbstbekenntnisse und tiefer gehende Selbstbeobachtungen, lehren uns in jener Hinsicht die Region der Sinnlichkeit und des Gefühles in einer höheren Beziehung auf die Entwickelungsgeschichte unserer geistigen Natur kennen.89

Selbstbekenntnisse, Selbstbeobachtungen: Hier treten Begriffe auf, die nicht nur den protestantischen Innerlichkeitsdiskurs, sondern auch den Jargon der Psychoanalyse prägen. Die Geschichte des Ich zu verstehen, ermöglicht nun nicht mehr allein der Blick in die Natur, sondern auch der ins eigene Innere. Träume und Gefühle sprechen eine Sprache, deren Decodierung Aufschluss über das eigene Ich und dessen Verbindung zum Unbewussten verspricht – genau so, wie es Wagner dann in Eriks Traumerzählung in Szene setzen wird. Allerdings lässt Schubert keinen Zweifel daran, dass die Bewusstmachung der vergessenen individuellen Geschichte nicht den Zielpunkt seiner Theorie bildet. Denn das »hohe Ideal der menschlichen Natur«, wie es am Schluss der Ansichten heißt, sei »in keinem Einzelnen vollkommen ausgesprochen«, sondern werde erst »durch alle Individuen, ja durch die einzelnen Weltalter, in dem großen Werk der Geschichte vollendet«.90 Dennoch eröffnet seine Theorie die Möglichkeit einer Psychologisierung der bei Schelling noch transzendental verstandenen Idee des Unbewussten. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele: Bereits der Untertitel deutet an, dass Carl Gustav Carus in seiner Studie Psyche Schuberts Idee der Geschichtlichkeit des individuellen Unbewussten weiterführt. Carus teilt die naturphilosophische Maxime Schellings und Schuberts, nach der das Bewusstsein dem Unbewussten entspringt… Die gegenwärtigen Untersuchungen sollen durchaus auf dem eben angedeuteten Standpunkte sich behaupten: das Göttliche in unserm Innern, in seiner Entfaltung aus dem Unbewußten zum Bewußten zu verfolgen.91

…und wieder dorthin zurückzukehren sucht:

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Ebd., S. 7. Weitere solcher Deutungen finden sich auf den ersten Seiten des ersten Kapitels des Buches. Vgl. ebd., S. 5–11. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 268. Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 188. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 380. Carus, Psyche, S. 11.

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so entsteht uns ein eigener Kreislauf der Ideenwelt, welche aus dem Unbewußtsein bis zum Bewußtsein sich entwickelt, und als solches doch wieder zuhöchst das Unbewußte sucht und in dem möglichsten Verständnis desselben sich erst befriedigt findet.92

Wie diese beiden Zitate zeigen, sind auch für Carus »das Göttliche« und »die Ideenwelt« zugleich Voraussetzung und Ziel seiner Ausführungen. Er sieht im Seelenleben ewige Prinzipien am Werk, deren vollständige rationale Durchdringung letztlich nicht möglich sei. Doch anders als Schelling bleibt Carus nicht bei abstrakten philosophischen Theoremen stehen, sondern erläutert seine Ideen anhand konkreter medizinischer Beobachtungen. Und anders als Schubert trägt er seine Überlegungen nicht mit religiöser Emphase, sondern mit skeptischer Sachlichkeit vor. Psyche, 1846 erschienen, verfolgt keine geschichtsteleologischen Absichten, das Buch schwärmt nicht von einer sakralen Synthese von Natur und Geist in einem fernen Goldenen Zeitalter. Carus’ Variante des naturphilosophischen Dreischritts verfolgt vielmehr eine größtmögliche Aufklärung unbewusster Vorgänge in der menschlichen Psyche. Seine Analyse der unbewussten Voraussetzungen unseres Seelenlebens betreibt er mit dem nüchternen Gestus des Wissenschaftlers und Arztes, der durch die Erforschung der Seele die Wirkungsweise des Unbewussten zu erklären versucht. »So ist es die erste Aufgabe der Wissenschaft von der Seele, darzulegen, auf welche Weise der Geist des Menschen in diese Tiefen hinabzusteigen vermöge«93, so Carus. »Und die Beziehung und das Verhältniß der Seele zur Natur kann jedenfalls – auf diese Weise durch die Wissenschaft vermittelt – ein höheres und innigers werden, als es da war, wo bloß ein dunkler unbewußter, obwohl tief begründeter Zug den Geist mit der Natur verband.«94 Carus bleibt den Grundannahmen der spekulativen Naturphilosophie verpflichtet, aber er leitet seine Theorie des Unbewussten wesentlich aus der biologischen und psychischen Entwicklung des Menschen ab. Bei ihm rückt das Individuum mit seiner Seelengeschichte endgültig ins Zentrum des Interesses. Er beschreibt die Entwicklung des Menschen als eine Bewusstwerdung aus dem Unbewussten und untersucht »die Geschichte seines allmähligen Erwachens«. Besonders interessiert ihn dabei die »Heranbildung der Seele und des Geistes im Kinde und im Erwachsenen.«95 Es entwickele sich, so Carus, »bei herannahender Lebensreife die eigenthümliche Welt der selbstbewußten, fühlenden, wollenden und erkennenden Seele aus jenem frühern bewußtlosen Zustande.«96 Carus nimmt dabei Bezug auf

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Ebd., S. 13. Ebd., S. 1. Ebd., S. 399. Ebd., S. 111. Ebd., S. 3. Dieser Gedanke klingt übrigens – allerdings nur am Rande – auch bei Schopenhauer an. Im ersten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung schreibt er: »Im Verlaufe des Lebens treten […] Kopf und Herz immer mehr auseinander: immer mehr sondert man seine subjektive Empfindung von seiner objektiven Erkenntnis. Im Kinde sind beide noch ganz verschmolzen.« Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 350.

die »älteren Forscher« wie Aristoteles: »Die Seele erscheint ihnen immer zuerst als eine bildende, gestaltende, ernährende Wesenheit des Lebendigen, in welcher das Erkennen allemal erst späterhin sich entwickelt.«97 Für ihn steht fest, »daß alles bewußte Seelenleben sich nur aus dem schlechthin Unbewußten der Idee allmählig hervorbildet, daß nur aus der dunkeln Erfühlung das Selbstgefühl und zuhöchst das Selbstbewußtsein hervorgeht, wie aus der Innerung die Erinnerung, und aus der nothwendigen Thätigkeit die freie That«.98 Bei seiner Beschreibung der Seelengeschichte des Menschen, die diesen aus der Dunkelheit des Unbewussten zum Licht des Bewusstseins führe, zieht Carus Parallelen zu den Entwicklungsstufen der Naturgeschichte. Auch hier führt er entsprechende Gedanken Schellings und Schuberts weiter: Wir entdecken nämlich zuvörderst in der Geschichte des sich entwickelnden Geistes eine gewisse Wiederholung der Geschichte des ganzen Organismus, ein allmähliges Wachsen und Zunehmen, und zwar insbesondre eine allmählige Hinanbildung von einem Kindesalter zu einer Pubertät und zuhöchst zum Produciren neuer Ideen.99

Einzelne Stadien der Naturgeschichte gleichen dabei der Entwicklung der menschlichen Seele: »Das Thier, auch das vollkommenste«, bleibe »im Geistigen ein Kind«.100 Die Entfaltung des Geistes folgt also in der Außen- und Innenwelt dem gleichen Muster. Die Seele des Menschen lässt sich nur verstehen, wenn man sie als ein Gewordenes und Noch-zu-Werdendes betrachtet. »Aus der Geschichte des Lebens«, so Carus, könnten wir »die Ueberzeugung entnehmen, es habe Alles, was uns entstand im Dasein, Fühlen, Denken und Wollen – nur erst dadurch entstehen können, daß ein anderes Dasein, Fühlen, Denken, Wollen, vorher da war, und daß dieses Vorhergegangene auch als Zeitliches unterging.«101 Was wir sind, wird von dem bestimmt, was vor uns war. Die Wissenschaft der Psychologie hat deshalb nur Sinn, wenn sie als Seelengeschichte betrieben wird.102

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Carus, Psyche, S. 4. Ebd., S. 75. Ebd., S. 154. Ebd., S. 131. Ebd., S. 477. Zu Carus’ Begriff der Seelengeschichte und seiner Beziehung zu Schellings Philosophie und der romantischen Anthropologie vgl. Marquard, Transzendentaler Idealismus, S. 174–176 sowie Sachs-Hombach, Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, S. 90–109.

281

5.3.

Fallgeschichte und Anamnese: Lektüren des Ich in der romantischen Literatur

Das theoretische Konzept der Naturphilosophie, dem Ich eine Geschichte zu geben, ist in engem Zusammenhang mit der im Magnetismus103 gängigen Praxis zu sehen, Fallgeschichten niederzuschreiben.104 Die monate-, manchmal sogar jahrelangen Magnetkuren, so Jürgen Barkhoff, wurden von den romantischen Psychologen in »umfangreichen, oft Hunderte von Seiten füllenden Fallgeschichten« aufgezeichnet, wobei ihnen Zeitschriften wie das Archiv für den Thierischen Magnetismus als Forum dienten. Insgesamt weiche dadurch »die öffentliche Inszenierung der Krankheit auf der Bühne des adligen Salons der Erzählung der Krankengeschichte in einer intimeren, introspektiveren Textsorte, die die Einzelszenen in ein sinnstiftendes Erzählkontinuum einbettet.«105 Barkhoff setzt diesen medizingeschichtlichen Medienwechsel in Bezug zu der literarischen Gattung des Bildungsromans.106 Dieser Vergleich ist aufschlussreich: So sind etwa die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, die das sechste Buch von Wilhelm Meisters Lehrjahre füllen, mehr als eine pietistische Seelenschilderung. In ihnen gibt Goethe das Beispiel einer Krankengeschichte, die von dem Arzt bewusst

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Auffällig ist, dass Carus den Magnetismus nur beiläufig erwähnt. Letzterem scheint er eher skeptisch gegenüber zu stehen. Zwar hält er die »sonderbaren Erscheinungen des magnetischen Rapports zwischen Entfernten, und so Vieles, was der gewöhnlichen Psychologie ein Rätsel geblieben ist«, mit Hilfe einer Theorie des Unbewussten für erklärbar (Carus, Psyche, S. 83). Doch betont er, dass aus den im magnetischen Schlaf zu beobachtenden ekstatischen Zuständen »nie irgend ein Großes für Wissenschaft, Kunst und thätiges Leben der Menschheit hervorgegangen ist.« Und weiter: »Wenn in der lebensthätigen Weisheit der Höhenpunkt des gesunden Lebens erscheine, so stelle sich dagegen im hellsehenden Schlafwachen in Wahrheit der Höhenpunkt des kranken Lebens dar« (ebd., S. 224). Diese Äußerungen verwundern nicht, wenn man bedenkt, dass Psyche zu einem Zeitpunkt erschien, als der Einfluss des Magnetismus in Deutschland bereits spürbar nachgelassen hatte. Rita Wöbkemeier hat darauf hingewiesen, dass die umfassenden Fallgeschichten integraler Bestandteil der romantischen Medizin waren. Die »Ausrichtung der Heilpläne« basierte auf einer »möglichst umfassenden diagnostischen Berücksichtigung des ›Gesamtpatienten‹ in seinem lebensgeschichtlichen und sozialen Kontext«. Deshalb sei »die angemessene Darbietungsform« dieser Zugänge zur Krankheit »eine erzählende« gewesen. Rita Wöbkemeier, Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800, Stuttgart 1990, S. 117. Barkhoff, Inszenierung, S. 105. Vgl. hierzu auch Heike Scheuerbrandt, »… ich rede mit Dir in Geheimnissen, schrecklichen Sachen«. Vergessen und Erinnern im Kontext des Mesmerismus. In: Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, hg. von Claudia Öhlschläger / Birgit Wiens, Berlin 1997, S. 93–121. Barkhoff, Inszenierung, S. 105. Bereits Henri Ellenberger vermutete, dass die beliebte Gattung des Bildungsromans die Psychiater anregte, »Fallgeschichten im Zusammenhang mit der ganzen Lebensgeschichte ihrer Patienten niederzuschreiben.« Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 283.

zu therapeutischen Zwecken eingesetzt wird. Dieser verspricht der kränklichen Aurelie »eine sehr interessante Lektüre an einem Manuskript zu verschaffen, das er aus den Händen einer nunmehr abgeschiedenen vortrefflichen Freundin erhalten habe« und das ihm »unendlich wert« sei.107 Als die auf dem Sterbebett liegende Aurelie dieses Manuskript erhält und Wilhelm es ihr vorliest, heißt es: »Das heftige und trotzige Wesen unsrer armen Freundin ward auf einmal gelinder.«108 Gegen Ende des Romans spielt die Fallgeschichte ebenfalls eine wichtige Rolle, wie die Krankheit des Harfners Augustin zeigt. Dessen Melancholie wird in der Erzählung des Marchese, die der Abbé der Gesellschaft vorliest, auf ein Kindheitstrauma zurückgeführt.109 Allerdings wird dem Kranken selbst dieses Wissen vorenthalten. Der Arzt und der Abbé beschließen, ihm gegenüber Stillschweigen zu bewahren, um so seine Heilung besser lenken zu können. Auch in den Texten E.T.A. Hoffmanns ist das Phänomen der Krankengeschichte ein wichtiges Motiv.110 Dies zeigen die Erzählungen Das Majorat, Der Magnetiseur und Das Sanctus.111 Letztere, im Jahr 1816 entstanden, hat die Heilung des Bürgermädchens Bettina durch eine Männergesellschaft zum Thema. Beim Verlassen der Kirche vergisst Bettina ihren Shawl umzuwerfen und zieht sich dadurch eine Erkältung zu, die ihr die Stimme raubt. Der Doktor, der mit herkömmlichen Methoden an ihrer Heilung scheitert, glaubt, dass ihre Krankheit »mehr psychisch als physisch ist« (SäW 3, 143). Der reisende Enthusiast erzählt daraufhin eine Geschichte, die ihn an Bettinas Fall erinnert und die er »vor mehreren Jahren in einem alten Buche las« (148). In dieser Geschichte bekehrt die Christin Julia eine Schar von Mohren zum Glauben, indem sie das Sanctus singt. Bettina, die der Erzählung des Enthusiasten heimlich lauscht, ist einige Monate darauf vollständig geheilt und

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Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 719. Ebd., S. 725. Ebd., S. 961–975. Zu E.T.A. Hoffmanns Rezeption der romantischen Psychologie und des Magnetismus vgl. den Überblick von Hania Siebenpfeiffer, Romantische Psychologie. In: E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Detlef Kremer, Berlin 2009, S. 58–64, hier S. 61f. sowie Hartmut Steinecke, E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk, Frankfurt am Main 2004, S. 126–129 und Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 195–237. Grundlegend zu E.T.A. Hoffmanns Rezeption der zeitgenössichen Medizin sind die Arbeiten von Friedhelm Auhuber, In einem fernen dunklen Spiegel. E.T.A. Hoffmanns Poetisierung der Medizin, Opladen 1986 und Patricia Tap, E.T.A. Hoffmann und die Faszination romantischer Medizin, Düsseldorf 1996. Aufgrund der gebotenen Kürze der Darstellung beschränke ich mich hier auf die Sanctus-Novelle. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass Der Magnetiseur ebenfalls ein Musterbeispiel dafür ist, wie die Psyche einer jungen Frau durch die Erzählungen einer Männergesellschaft manipuliert wird. Ähnlich verhält es sich in Das Majorat. Hier regt der Erzähler das Unbewusste Seraphinens an, als er ihr seine Begegnung mit dem Gespenst erzählt (SäW 3, 231). Als der Baron erkennt, dass die Spukgeschichte die Ohnmacht Seraphinens verursacht hat, empfiehlt er, ihr diese jeden Abend zu erzählen: Die Geschichte würde so ihre Wirkung verlieren (240f.).

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kann wieder singen. Auf die Einwände des aufklärerischen Doktors gegen solche »verdammten lügenhaften Geschichten« entgegnet der Enthusiast, dass »Bettina’s psychische Krankheit psychische Mittel erfordert« (160). Der Enthusiast heilt, wie Jürgen Barkhoff zu Recht betont, »nicht als Magnetiseur, wohl aber als Geschichtenerzähler«.112 Allerdings zeuge dies vor allem von der Machtausübung der Männerrunde gegenüber der kranken Bettina. Die Psyche des Mädchens werde durch die Phantasien des Enthusiasten auch manipuliert – ein Modell, das für die Fallgeschichten des Magnetismus durchaus typisch sei. In ihnen sieht Barkhoff eine Enteignung des weiblichen Krankheitsdiskurses durch die auktoriale Erzählmacht des Fach-Mannes und damit einen Vorgriff auf die talking cure der Psychoanalyse.113 Im Sanctus bleibe Bettina während der Erzählung des Enthusiasten stumm, obwohl es um ihr Schicksal gehe. Ihre Stimmlosigkeit stehe dabei für »ihre vom reinen Männerdiskurs hergestellte Identität«, die sich als »defiziente, beschädigte« erweise.114 Darüber hinaus weist Barkhoff darauf hin, dass es der Enthusiast selbst ist, der Bettina krank gemacht hat. Als diese die Kirche verlässt, um ihren Verpflichtungen als Sängerin nachzukommen, wirft ihr der Enthusiast vor, dass es »sündlich« sei, »wenn man während des Sanctus die Kirche verläßt«. Daraufhin erblasst Bettina und geht davon, »seit diesem Moment verlor sie die Stimme« (147). Der Enthusiast weiß, dass er selbst der »Hexenmeister« sei, der Bettina »verwünscht« habe (146), und versucht nun durch seine Erzählung die Folgen seiner Tat zu bannen. Barkhoff erkennt darin den Mediendiskurs innerhalb des Mesmerismus wieder, fungiere doch die Kirche als »wohlkalkulierte theatrale Anordnung, bei der Musik und andere sinnliche Eindrücke […] den performativen Geltungsanspruch der Zeremonien und Rituale« verstärkten.115 Bettina wird also auf der Bühne der Kirche in die Rolle der hysterischen Patientin gedrängt, von der sie dann mit den Mitteln der talking cure wieder befreit werden soll. Die romantische Kunst, resümiert Jürgen Barkhoff, mache im Sanctus »zugleich krank und gesund«. Ihre gefährliche Überhöhung zur Kunstreligion, wie sie in den Kirchenszenen aufscheint, werde in der selbstreflexiven Erzählung aufgehoben und abzuschwächen versucht.116 Zwar ist dieser Interpretation von Jürgen Barkhoff zuzustimmen, aber es fehlt in ihr doch ein entscheidendes Element. Denn in engem Zusammenhang mit Hoffmanns Verknüpfung von romantischer Medizin und Poetik, von Theatralität und Narration ist die Tatsache zu sehen, dass der Kapellmeister hofft, in der Erzählung des Enthusiasten den Stoff »zu einer tüchtigen Oper« zu finden. Tatsächlich ermuntert der Enthusiast den Kapellmeister, er möge während der Erzählung »ein Paar

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Barkhoff, Inszenierung, S. 113. Ebd. Vgl. hierzu auch den bereits erwähnten Aufsatz von Scheuerbrandt, »… ich rede mit Dir in Geheimnissen«. Barkhoff, Inszenierung, S. 114. Ebd., S. 115. Ebd., S. 120.

Akkorde dazwischen werfen.« (149) Dies erfolgt dann in szenischen Einschüben, in denen die beiden – Dichter und Komponist – die Ausarbeitung zur Oper diskutieren. »Flauti piccoli – Oktavflötchen. Aber mein Bester, noch bis jetzt nichts, gar nichts für die Oper – keine Exposition und das ist immer die Hauptsache, doch mit der tiefen und hohen Stimmung der Zither, das hat mich angeregt.« Dem Enthusiasten gefallen diese Assoziationen nicht unbedingt, unterbrechen sie doch den Fluss der Erzählung. Sie werde ihm »blutsauer«, entgegnet er dem Kapellmeister, »weil ich jeden Augenblick Gefahr laufe, über irgend einen wohl zu beachtenden Moment wegzuspringen.« (153) Das Ziel des Kapellmeisters, die Erzählung in einen theatralen Akt zu verwandeln, scheint hier mit den poetologischen Anforderungen der Narration nicht vereinbar zu sein. Zu stark stören seine Bemühungen die lineare Stuktur der Erzählung. Warum Hoffmann die musiktheatralische Intention des Textes dennoch aufrechterhält, verrät die sarkastische Bemerkung des Doktors: »Könnt’ Ihr, Kapellmeister, Träume – Ahnungen – magnetische Zustände in Musik setzen, so wird euch geholfen, auf so was wird die Geschichte doch wieder herauslaufen.« (148) Trotz der zunehmenden Bedeutung der Narration in der therapeutischen Technik bleibt eine Skepsis erhalten, sich allein den diskursiven Mitteln der Sprache anzuvertrauen. Indem Hoffmann in Das Sanctus deutlich macht, wie sehr die Medienkonkurrenz innerhalb der romantischen Psychiatrie die Konstitution des Subjekts prägt, stellt er zugleich die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für das Musiktheater ergeben. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die tiefere Bedeutung der Erzählszenen im Holländer erkennen. Auch wenn es darin nicht um eine Krankengeschichte geht, ist das Muster doch dem Mesmerismus entlehnt. Senta wird zunächst als Sängerin eingeführt, die ihre Ballade vor den gebannt zuhörenden Mädchen zum Besten gibt. Ihre Identitätsbildung wird damit in einen performativen Rahmen gesetzt. Die narrativen Elemente bleiben in die Strophenform eingebunden und deuten ihre Rolle bei der Bewusstwerdung des Unbewussten nur an. Anders in Eriks Traumerzählung: Hier erscheint zwar die magnetische Kur, indem sie auf die Opernbühne versetzt wird, als theatraler Akt, gleichzeitig jedoch rückt Wagner die Erzählung und damit das Medium des Wortes in den Vordergrund. Indem die Musik durch die Leitmotive an der Bewusstwerdung des Unbewussten teil hat, wird auch sie ein narratives Element. In beiden Fällen jedoch ist die Konstruktion von Sentas Subjektivität eine von außen gesteuerte. Die Ballade hörte sie zum ersten Mal von ihrer Amme Mary, und es ist der Traum Eriks, der zu ihrer zweiten Ekstase führt. Senta ist die Nachfolgerin Bettinas: Ihre Bewusstwerdung ist nur durch das gesellschaftlich gesteuerte Unbewusste zu verstehen, ihre Individualität keine natürlich sich herausschälende, sondern von den objektiven Zwängen des Geschlechterdiskurses bestimmte.117 Das Unbewusste der Natur, das Schelling und

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Die Figur der Senta zeigt auffällige Parallelen zu den psychiatrischen Beschreibungen hysterischer Patientinnen am Ende des 19. Jahrhunderts. Dies hat Elisabeth Bronfen

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Schubert vor Augen hatten, entpuppt sich als sozial determiniert. Dass Senta ihre Identität in der Rolle der Retterin des Holländers erkennt und seine Geschichte damit zu der ihrigen macht, ist kein Beweis weiblicher Selbstbestimmung. Die Lektüre des Ich, wie sie die psychiatrische Literatur des Mesmerismus geprägt hat, war jedoch nicht die einzige romantische Kulturtechnik zur Herstellung von Identität. Neben der Fallgeschichte gab es andere, ebenfalls an das Medium der Schrift gebundene118 narrative Formen, die der Erforschung des eigenen Unbewussten dienten. Dazu zählten unter anderem das automatische Schreiben des Spiritismus oder die Autobiographie. Letztere ist besonders deshalb interessant, weil sie auf der Idee beruht, bereits Erlebtes wiederzuerinnern und sich deshalb nicht auf einen metaphysischen, sondern empirischen Zugang zum Unbewussten stützt. Zudem zielte die Autobiographie nicht nur, wie die Fallgeschichten der Magnetiseure, vornehmlich auf Frauen. Man könnte sie als anamnetische Methode bezeichnen, da sie die verstreuten »Monumente« und »Denkmäler« der eigenen Erfahrung, die nach Schellings Worten den Lebensweg des Ich säumen, in einen narrativ-diskursiven Sinnzusammenhang stellt und damit wieder-erinnert. Nicht zufällig bezeichnete Schelling seine Philosophie der Bewusstwerdung im Rückgriff auf Platon als »Anamnese« (S I/10, 95), also Wiedererinnerung. Anamnetische Techniken finden sich in der Literatur der Romantik nun nicht nur im Genre der Autobiographie, sondern auch im Roman. »Auch er erinnerte

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gezeigt. Die Fallbeispiele Breuers und Freuds, so Bronfen, erzählten von »phantasiereichen Kindern gutbürgerlicher Familien, die mit ihren Symptomen ihr Unbehagen an einem Gesetz des Vaters zum Ausdruck bringen, dem sie sich weder unterwerfen wollen noch widersetzen können.« Zu diesen Symptomen zählt nicht nur eine gesteigerte Einbildungskraft (Senta starrt das Porträt des Holländers an), sondern auch die Tatsache, dass sich Senta am Schluss ihrer Ballade mit deren Inhalt identifiziert. Damit folge sie, schreibt Bronfen, der »Logik einer Sprache der Hysterie«. Elisabeth Bronfen, Von der Verschiedenartigkeit zu träumen. In: Der fliegende Holländer. Programmheft der Bayerischen Staatsoper, München 2006, S. 100–106, hier S. 102. Natürlich basieren die Geschichten des Ich in den Musikdramen Wagners auf einer mündlichen Wiedergabe. Bei E.T.A. Hoffmann wird in Das Sanctus Mündlichkeit inszeniert, was zweifellos damit zu tun hat, dass es sich bei der weiblichen Hauptfi gur um eine Sängerin handelt und der Text sich mit der Ästhetik des Musiktheaters befasst. Meistens bleibt das Erzählen der Geschichte des Ich bei Hoffmann jedoch an das Medium der Schrift gebunden. So werden etwa im Goldenen Topf die Lebensgeschichten Lindhorsts und Anselmus’ schriftlich fi xiert. Auch in Die Abenteuer der Sylvester-Nacht bringt Erasmus Spikher seine Geschichte zu Papier. Man könnte sogar soweit gehen, Johann Kreislers Lehrbrief vor dem Hintergrund des Wilhelm Meister als Selbstgespräch und Selbstfi ndung zu deuten. Dies tut der Kommentar der hier verwendeten Hoffmann-Ausgabe. Während bei Goethe der Lebensweg »von außerhalb« gesteuert werde, erhalte Hoffmanns Kreisler seinen Lehrbrief von sich selbst – Kreisler unterschreibt mit »Ich wie Du« (SäW 2/1, 455). »An die Stelle von außenvermittelter Bildung ist die Selbstfi ndung, an die Stelle der objektiven Lehrinhalte die Identitätsfi ndung getreten.« (856).

sich an die Vergangenheit und sein Leben ward ihm, indem er es ihr erzählte, zum erstenmal zu einer gebildeten Geschichte«, heißt es in Schlegels Lucinde.119 Das Vorbild hierfür ist wiederum Goethes Wilhelm Meister. Im Wissensarchiv der Turmgesellschaft erhält Wilhelm Zugang zu seiner eigenen Biographie, die ihm Jarno in Form einer Papierrolle überreicht: Er fand die umständliche Geschichte seines Lebens in großen scharfen Zügen geschildert, weder einzelne Begebenheiten, noch beschränkte Empfindungen verwirrten seinen Blick, allgemeine liebevolle Betrachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschämen, und er sah zum erstenmal sein Bild außer sich, zwar nicht, wie im Spiegel, ein zweites Selbst, sondern wie im Portrait, ein anderes Selbst […].120

Diese Idee greift Novalis in Heinrich von Ofterdingen auf. Auf seiner Erkundungsreise durch das Stollensystem der Berge stößt Heinrich auf den Einsiedler, der eine Unmenge von Büchern über »alte Historien und Gedichte« hortet. Als Heinrich in ihnen blättert, fällt ihm ein Buch in die Hände, »das in einer fremden Sprache geschrieben war«. Obwohl er diese Sprache nicht versteht, findet er Gefallen an dem Buch: Es hatte keinen Titel, doch fand er noch beym Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren. […] Allmählich fand er auf den andern Bildern die Morgenländerinn [sic], seine Eltern, den Landgrafen und die Landgräfinn von Thüringen, seinen Freund den Hofkaplan, und manche Andere seiner Bekannten […].121

Beide Szenen sind deutlich unterschieden. Während die Lebensschrift bei Goethe als eindeutig dechiffrierbares Porträt erscheint, das in »scharfen Zügen« geschildert ist,122 hat bei Novalis die romantische Konzeption des Unbewussten deutliche Spuren hinterlassen. Das Buch ist in einer unbekannten Sprache geschrieben, nur die Bilder sind Heinrich zugänglich. Auf diesen findet er sich zwar kenntlich abgebildet, doch in dem Buch scheinen die Kleidungen der Menschen verändert und »aus einer andern Zeit« zu sein. Heinrich erschreckt beim Lesen und glaubt »zu träumen«.123 So hat die Lektüre des eigenen Lebenslaufes in beiden Texten eine völlig verschiedene Wirkung. Bei Goethe markiert sie das Ende der Lehrjahre des jugendlichen Helden, dessen Integration in die Gesellschaft sie gleichzeitig garantieren soll: Wilhelm liest die Papierrolle, weil er Therese, die er zu heiraten wünscht, sein Leben erzählen will. Heinrich dagegen wird mit der Reise ins eigene Unbewusste

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F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. 5, S. 53. Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 884. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 264. Alexander Košenina erkennt in Wilhelm Meisters Lehrbrief auch Elemente der zeitgenössischen Anthropologie (z.B. Herder, W. v. Humboldt), die das Leitbild des ganzheitlichen und kultivierten Menschen vertrat. Vgl. Košenina, Literarische Anthropologie, S. 93–97. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 264f.

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konfrontiert. Diese hält zwar die Vision einer erfolgreichen Dichter-Karriere bereit: »Gegen das Ende kam er sich größer und edler vor. Die Guitarre ruhte in seinen Armen, und die Landgräfinn reichte ihm einen Kranz.«124 Doch durch den traumartigen Charakter der Lektüre sowie die Unmöglichkeit, die Sprache des Buches zu entziffern, deutet sich die Irritation an, die die Erforschung der eigenen Geschichte im Stollensystem des Unbewussten für das Ich des Helden bedeutet. Die Bewusstwerdung des Unbewussten ist in der Romantik ein prekäres Projekt. Die »Entdeckung« der opaken Teile des eigenen Ich ist für das Subjekt Chance und Gefahr zugleich; anamnetisches Erzählen kann sowohl die Festigung als auch die Verstörung der Identität zur Folge haben. Mit diesem Motiv der Gefährdung der Identität werden sich die folgenden Ausführungen nun noch eingehender auseinandersetzen und dann zeigen, welche Rolle das ›Erzählen von sich‹ in diesem Zusammenhang spielt. Niklas Luhmann spricht von »Vorstellungen über die innere Pluralität der Selbstidentifikation«, die mit der Romantik einsetzten. »Die Einheit der Mehrheit von möglicher Selbstidentifikation« werde im 19. Jahrhundert »zum höchsten individuellen Problem, das jeder für sich zu lösen hat und das nicht mehr einfach durch Konformität mit Moral und Gewissen, durch Repression des schlechteren Ich zu lösen ist.« Luhmann glaubt, dass »das Problem der Reflexion dieser Einheit« vor allem »als Problem der Konsistenz oder der Integration dieser Selbste«, ergo als »Problem des Wiedergewinnens der Identität« formuliert werde. Es ist interessant, dass der Soziologe Luhmann dabei den Begriff des Unbewussten ins Spiel bringt. Den »Wechsel der Leitdifferenz« in der Moderne beschreibt er wie folgt: »Nicht mehr Heil / Verdammnis und wahre / falsche Devotion, sondern bewußt / unbewußte und personale / soziale Identität« zeichneten nun die Individualitätsvorstellungen aus. Letztlich entspreche »diese Auflösung und Rekombination des Individuums der Erfahrung einer hochkomplexen Gesellschaft, die jedem Individuum eine andere Biographie, ein anderes Rollen-Set, eine andere Verteilung von Zufällen, Chancen und Verdiensten zuteilt.« Nicht mehr »Beichtväter oder theologische Lebensberater« stünden nun dem Subjekt zur Seite, sondern »Psychiater und Therapeuten.«125 Wenige Dichter des beginnenden 19. Jahrhunderts haben diese Irritation, die die Idee des Unbewussten für das Individuum bedeutet, so klar gesehen wie Heinrich von Kleist. Beispielhaft lässt sich das an seiner Bearbeitung des Molièreschen Amphitryon zeigen, die er 1807 publizierte. In ihr verstärkt er gegenüber der barocken Vorlage das Moment der Destabilisierung des Subjekts. Alkmenes vermeintlicher Ehebruch erscheint als Ausbruch unbewusster Wünsche, der das Subjekt aus der Fassung bringt. Dass die Figur der Alkmene die wichtigsten Änderungen gegenüber der Molièrschen Version erfuhr, hat die Forschung immer wieder betont. Jochen Schmidt hat dabei gezeigt, dass Jupiter in der Version Kleists als eine

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Ebd., S. 265. Luhmann, Copierte Existenz und Karriere, S. 194f.

Projektion Alkmenes erscheint, deren »innere Realität äußerlich in Erscheinung« trete.126 Der wichtigste Textbeleg für diese These findet sich in der vierten Szene des zweiten Aktes, die bei Molière nicht vorkommt. In ihr versucht Alkmene sich gegenüber Charis zu rechtfertigen: Du müßtest denn die Regung mir mißdeuten, / Daß ich ihn schöner niemals fand, als heut. / Ich hätte für sein Bild ihn halten können, / Für sein Gemälde, sieh, von Künstlerhand, / Dem Leben treu, in’s Göttliche verzeichnet. / Er stand, ich weiß nicht, vor mir, wie im Traum […].127

So stark ist diese Projektion, dass sie sogar das in der Kulturgeschichte vorherrschende Signum der Identität, den Namen, in Frage stellt.128 Um dies zu verdeutlichen, fügt Kleist in die Molièresche Vorlage ein Diadem ein, das Amphitryon als Kriegsbeute eroberte und in dessen »goldne Stirne« man seinen »Namenszug« eingrub. Es ist Alkmene bestimmt und wurde, um es ihr als Geschenk zu überreichen, in ein goldenes Kästchen gelegt, »auf das Amphitryon sein Wappen drückte.«129 In der Szene mit Charis entdeckt Alkmene plötzlich, dass auf diesem Diadem ein J statt des A steht.130 Ihre verdrängten Wünsche führen bei Alkmene zu einer »Dissoziation« ihrer Wahrnehmung.131 Dass sie damit die Identität ihres Gatten Amphitryon gefährdet, zeigt die elfte Szene des dritten Aktes, in die Kleist wiederum stark eingegriffen hat. In ihr kämpft Amphitryon um die Anerkennung seiner Identität, und zwar nicht nur gegenüber Jupiter und Alkmene, sondern auch vor dem »Volk«, das Kleist, anders als Molière, in der Szene zuvor auftreten lässt.132 Wie verstörend diese private und gesellschaftliche Auseinandersetzung für das Subjekt ist, verdeutlich Kleist durch eines seiner bevorzugten Motive, das bei ihm die Zerbrechlichkeit des modernen Bewusstseins bezeugt: Amphitryon fällt in Ohnmacht. Als er wieder erwacht, ist seine erste Frage: »Wen kennt die eigne Frau hier?« Doch Alkmene verweigert ihm die Anerkennung, worauf er an seiner Identität zweifelt. »So frag’

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Schmidt, Heinrich von Kleist, S. 95. Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 422. Zur Bedeutung des Namens für die Herstellung von Identität siehe: Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 283. Jochen Schmidt betont, dass im Amphitryon die »Unverwechselbarkeit des Individuums, das seine existentielle Selbstgewißheit nur gewinnt, indem es sich als singuläre und konsistente Person erfährt«, in Zweifel gerate. »Alles, woraus Amphitryon bisher sein Selbstbewußtsein ableitete und worauf er seine Identität gegründet glaubte, verflüchtigt sich.« (Schmidt, Heinrich von Kleist, S. 260f.) Gabriele Brandstetter schreibt, das Theater des Amphitryon erscheine »als Spiel mit der Möglichkeit von Identität und zugleich als Spiel über die Möglichkeit der Darstellung von Identität«. Gabriele Brandstetter, Duell im Spiegel. Zum Rahmenspiel in Kleists »Amphitryon«. In: Kleist-Jahrbuch 20, 1999, S. 109–127, hier S. 120. Kleist, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 394. Ebd., S. 420. Schmidt, Heinrich von Kleist, S. 97. Kleist, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 452.

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ich nichts danach mehr, wer ich bin: / So will ich ihn Amphitryon begrüßen«, sagt er über Jupiter.133 Wenig später wird auch Alkmene das Bewusstsein verlieren, als sie Jupiter in seiner wahren Gestalt erblickt und ihr Wunschbild damit entzaubert sieht. Als sie erwacht, ruft auch sie als erstes den Namen ihres Gatten: »Amphitryon!«, dessen letzte Worte wiederum »Alkmene!« lauten.134 Doch damit verbindet sich weder die letztgültige Anerkennung des anderen noch eine gesteigerte Selbsterkenntnis.135 Das rätselhafte »Ach!«,136 das Alkmene entgleitet, hält die Bestimmung der modernen Identität in einem schwebenden und prekären Zustand. Genau dies wird Wagner in seinem Lohengrin nachinszenieren.137 Dort ist es Elsa, die sich in dem Gralsritter Lohengrin ihr Traumbild herbeifantasiert, das jedoch, wie Jupiter in Kleists Amphitryon, am Ende entschwindet. Elsas letztes Wort, bevor sie »entseelt in Gottfrieds Armen zu Boden« sinkt, lautet in der Partitur sicher nicht zufällig: »Ach!« (L, 89) Die Avanciertheit von Kleists Drama wird durch die Tatsache verstärkt, dass die Nachtseite des Unbewussten erst sieben Jahre später in einem populären Werk reflektiert wurde. »Was Sprache des Wachens sein sollte, ist uns jetzt dunkle Sprache des Traumes«, schreibt Gotthilf Heinrich von Schubert 1814 in seiner Symbolik des Traumes über die »Region des Gefühles«. Diese gleiche einem »mit doppelten, so entsetzlich verschiedenartigen Saiten bespannten Instrumente«, sie sei der Seele eine »gefahrvolle , unsichere Region geworden.«138 Sehr genau und jenseits aller Verklärung erkannte Schubert in seiner Symbolik die Janusköpfigkeit des Unbewussten. Es sei ein »guter«, aber auch ein »böser« Dämon,139 schreibt er und vergleicht diese zwei Seiten, im Vorgriff auf Nietzsche, mit Dionysos und Apoll.140 Das »Gefühl scheinbar doppelter Persönlichkeit« beschreibt er als äußerst gefährlich: »Wir sind im Traume selbst dem Charakter nach öfters eine ganz andere Person, als im Wachen«.141 Dieser Teil der Persönlichkeit sei die »partie honteuse« der Seele. »Ich erschrecke, wenn ich diese Schattenseite meines Selbst einmal im Traume in ihrer eigentlichen Gestalt erblicke!«142 Damit nimmt Schubert, wenn auch mit deutlich moralischer Wertung, Freuds Deutung des Doppelgänger-Motivs vorweg.

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Ebd., S. 456. Ebd., S. 461. Diese Deutung vertritt Jochen Schmidt, was aber angesichts der eindeutigen Zweideutigkeit des »Ach!« zu idealistisch scheint. Vgl. Schmidt, Heinrich von Kleist, S. 99. Kleist, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 461. Dieter Borchmeyer weist darauf hin, dass die Nähe des Lohengrin zu Kleists Amphitryon »bestürzend« sei. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Themen der »göttlichen Einsamkeit und Sehnsucht nach menschlicher Liebe« sowie auf die »Künstlerthematik«, die beiden Werken gemeinsam sei (Borchmeyer, Lohengrin, S. 66). Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 89. Ebd., S. 60. Ebd., S. 71. Ebd., S. 110. Ebd., S. 118.

Dieser erblickte in der Unheimlichkeit dieses Phänomens das »Heimliche-Heimische«, ein verdrängtes und wiedergekehrtes Erlebnis.143 Am prominentesten hat zweifellos E.T.A Hoffmann die Zerrissenheit und die fragile Identität des modernen Individuums literarisch verarbeitet. Und er war es auch, der dieses Problem mit dem Motiv der ›Geschichte des Ich‹ verknüpft hat. Seine Erzählungen und Romane sind voll von Figuren, die von ihren Doppelgängern verfolgt werden, ihr Spiegelbild verlieren oder schlicht vergessen haben, wer sie sind. Die Forschung hat dies in zahlreichen Studien gezeigt,144 so dass nur auf die Beispiele hingewiesen sei, die im Hinblick auf Richard Wagners Musikdramen von Interesse sind. Bereits eine der ersten Erzählungen Hoffmanns, Ritter Gluck, behandelt das Thema der Identität. Der Ritter verschweigt dem Erzähler zunächst, wer er ist: »Wir wollen uns unsere Namen nicht abfragen: Namen sind zuweilen lästig.« (SäW 2/1, 23) Es ist auffällig, dass Hoffmann die Nennung des Namens für das Ende der Novelle aufspart. Auf die ungeduldige Frage des Erzählers, wer er sei, verlässt der Ritter den Raum und lässt sein Gegenüber im Finstern zurück. Sodann kehrt er »mit dem Lichte in der Hand« zurück und enthüllt seine Identität: »Ich bin der Ritter Gluck!« lautet der letzte Satz der Erzählung (31).145 Damit stellt Hoffmann die Nennung des Namens an das Ende einer Narration – ein Kunstgriff, den Wagner später aufgreifen wird. Während Heinrich von Kleist die Frage nach den unbewussten Voraussetzungen der Subjektivität dramatisch verarbeitet, geschieht dies bei E.T.A. Hoffmann durch das Mittel der Erzählung. Die Identität seiner Helden 143

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Freud, Studienausgabe, Bd. 4, S. 268. Dass das Doppelgänger-Motiv nicht nur bei Schubert, sondern auch in der romantischen Anthropologie und Literatur eine eminente Rolle spielte, ist bekannt und wurde ausführlich dargelegt von Birgit Fröhler, Seelenspiegel und Schatten-Ich. Doppelgängermotiv und Anthropologie in der Literatur der deutschen Romantik, Marburg 2004. Zu den historischen Wandlungen des Doppelgänger-Motivs vgl. die Studie von Sandro M. Moraldo, Wandlungen des Doppelgängers. Shakespeare – E.T.A. Hoffmann – Pirandello. Von der Zwillingskomödie (The Comedy of Errors) zur Identitätsgefährdung (Prinzessin Brambilla; Il fu Mattia Pascal), Frankfurt am Main u.a. 1996. Eine Zusammenfassung bieten die Kapitel »Doppelgänger«, »Identität/Ich-Auflösung«, »Identität, verschobene und nicht-identische« sowie »Identität, verweigerte«. In: E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Detlef Kremer, Berlin 2009. Durch die in den Untertitel gesetzte Jahresangabe »1809« wird diese eindeutige Zuschreibung der Identität aber unterlaufen: Gluck war zu diesem Zeitpunkt schon tot. Thomas Weitin behandelt die Novelle deshalb unter dem Aspekt der offensiven Identitätsverweigerung. Figuren wie Ritter Gluck, Kreisler, Medardus oder Floh eigne »ein durchgehendes Interesse an Veränderung und Mobilität«. Hoffmann gehe es darum, »imaginäre Zeit-Räume« zu schaffen, »die Möglichkeiten der Flucht vor den Zumutungen der bürgerlichen Alltagswelt eröffnen, ohne die Sicherheit eines in sich geschlossenen Refugiums romantischer Identität dagegenzusetzen.« Thomas Weitin, Identität, verweigerte. In: E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Detlef Kremer, Berlin 2009, S. 503–506, hier S. 505. Man muss die Identitäts-Problematik bei Hoffmann also nicht unbedingt negativ lesen.

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erscheint nicht zuletzt deshalb instabil, weil sie ihre Geschichte nicht kennen. »Wo ist er her? – Niemand weiß es! Wer waren seine Eltern? – es ist unbekannt!« lautet der erste Satz der Kreisleriana (SäW 2/1, 32). Ebenso sind sich der Jüngling Antonio in Doge und Dogaresse und der Mönch Medardus in Die Elixiere des Teufels über ihre Lebensgeschichte im Unklaren. Die Dramaturgie dieser beiden Texte beruht ganz wesentlich darauf, dass der Held im Laufe der Handlung seine Biographie nach und nach entdeckt. In Doge und Dogaresse ist Antonio ein »Fremdling« (4, 435), ein Entwurzelter und Heimatloser, der von der Gesellschaft ausgeschlossen wurde und sich seine Position sowie seine Identität erst erkämpfen muss. Die Erlebnisse seiner Jugend hat er zu Beginn der Novelle vergessen, ihm sind »nur einzelne Bilder ohne Zusammenhang« geblieben (449). Sein Gedächtnis wieder zu füllen und den Bildern ihren Zusammenhang wiederzugeben, hilft ihm seine alte Amme Margaretha; in ihr findet er eine Therapeutin, die seine Amnesie durch Anamnese zu heilen versteht.146 Bewusst fordert sie den Verzweifelten auf, er solle sich »der früheren Zeit erinnern, wie es ging, wie es war mit dir, ehe du hier, ein armer elender Mensch, kaum dein Leben fristen konntest« (446). Dabei muss Antonio immer wieder ansetzen, durch die an verschiedenen Stellen der Novelle einsetzenden und wieder abbrechenden Erzählungen kommt seine Erinnerung nur schubweise zurück; die Identität wird wie ein Mosaik zusammengesetzt. Damit einher geht die Wiederkehr der Namen. Zunächst erkennt Antonio Margaretha wieder, die er zunächst für ein Hexenweib hielt (453), dann erinnert er sich an seine Kindheitsliebe Annunziata (463). Seinen vollständigen Namen, Anton Dalbirger, erfährt er allerdings erst, als ihm das wichtigste Element seiner verdrängten Lebensgeschichte in einer letzten Analepse erzählt wird: Er glaubt nun, dass es sein Schicksal ist, seinen Vater zu rächen und Annunziata zum Weib zu nehmen (478). Wie Doge und Dogaresse sind Hoffmanns Erzählungen und Romane häufig analytisch strukturiert, ihr zentrales »Geheimnis« wird erst am Schluss aufgedeckt.147 Auffällig ist dabei, dass er diesem Prinzip der auflösenden Analepse nicht nur in Kriminalgeschichten wie dem Fräulein von Scuderi oder Ignaz Denner folgt, sondern auch in Lebensrückblicken wie den Elixieren des Teufels. Dies ist für diese Gattung eher ungewöhnlich,148 erklärt sich aber aus der Verknüpfung von Identität und Erzählung. Die Elixiere stellen wohl den komplexesten Fall von Subjektwerdung im Werk Hoffmanns dar. Anhand des Lebensweges des Mönches Medar-

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Vgl. hierzu Alexandra Heimes, Doge und Dogaresse. In: E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Detlef Kremer, Berlin 2009, S. 298–303, hier S. 302f. sowie Auhuber, In einem fernen dunklen Spiegel, S. 172f. Beispielhaft ließe sich dies neben dem Fräulein von Scuderi und Ignaz Denner auch an Das öde Haus und Rat Krespel zeigen. Auch die Lebens-Ansichten des Katers Murr folgen diesem Prinzip, wobei die komplexe Struktur des Romans aber dazu führt, dass mit jeder Geschichte, die eine Auflösung bereit hält, zugleich neue Geheimnisse auftauchen. Die Analepsen sind bei Hoffmann nur sehr selten vollständig. Vgl. den Kommentar der hier verwendeten Ausgabe der Elixiere: SäW 2/2, 576.

dus zeigt dieser Roman detailliert, nach welchen Modellen die Herausbildung von Identität vor sich gehen kann, aber auch, wie unsicher und zerbrechlich die so gewonnene Identität ist. Denn Medardus wird nicht nur wiederholt von seinem Doppelgänger bedroht und glaubt dem Wahnsinn zu verfallen, er schlüpft auch während des Romans in andere Identitäten und Rollenmuster, die er von Grund auf erlernen muss. Nach seinem Mord an Hermogen und der Flucht aus dem Schloss hat er Angst entdeckt zu werden und beschließt deshalb, sein Äußeres zu ändern. Er legt die Mönchskutte ab, schneidet sich Haar und Bart, so dass er sein Spiegelbild im Bach kaum wiedererkennt (SäW 2/2, 97). Nach seiner Ankunft in der Stadt soll ihm der wunderliche Friseur Belcampo ein neues Aussehen verschaffen. Dieser verlangt von ihm, um die »Charakteristik« seines Kunden vollenden zu können, »die Stube einigemal auf und abzuschreiten« (105). Das tut Medardus und bemüht sich dabei, »den gewissen mönchischen Anstand« zu verbergen. Das in dieser Szene deutlich werdende Muster der Identitätskonstruktion durch Erscheinungsbild und Gang ist allerdings nicht das vorherrschende des Romans. Viel häufiger wird die Subjektivität Medardus’ narrativ hergestellt. Nachdem er Viktorin unabsichtlich tötet, nimmt Medardus dessen Rolle im Schloss ein. Dazu regt ihn vor allem der Bericht Reinholds von der Familiengeschichte an, in die auch Viktorin verstrickt war: Mit diesen Worten schloß Reinhold seine Erzählung, die mich auf mannigfache Weise gefoltert hatte, indem die seltsamsten Widersprüche in meinem Innern sich durchkreuzten. Mein eignes Ich zum grausamen Spiel eines launenhaften Zufall geworden, und in fremdartige Gestalten zerfließend, schwamm ohne Halt wie in einem Meer all’ der Ereignisse, die wie tobende Wellen auf mich hineinbrausten. – Ich konnte mich selbst nicht wieder finden! […] Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärlich Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich! (73)

Es ist die Geschichte Reinholds, die Medardus’ Identität auflöst und zugleich neu zusammensetzt: »Auf wunderbare Weise glaubte ich nun wirklich Viktorin zu sein« (74). Durch sie erhält er seine Rolle in der Gesellschaft, in die er, wie Antonio, als Fremder eindringt. Doch die Identitätsstiftung durch Erzählung wird in den Elixieren nicht nur passiv, sondern auch aktiv durchgespielt. So versucht Medardus, sich mit fingierten Erzählungen eine neue Identität zu konstruieren. Dies deutet sich bereits in den flammenden Reden an, die er als Prediger hält und in die er sich so hineinsteigert, dass er sich schließlich für einen Heiligen hält: »Ich bin der heilige Antonius!« ruft er am Ende seiner letzten Predigt, bevor er in Ohnmacht sinkt (42). Ähnliches geschieht in der Gerichtsepisode, die sich im ersten Abschnitt des zweiten Teils des Romans findet. Des Mordes angeklagt, versucht Medardus sich zu retten, indem er sich für den jungen Polen Leonard Krczynski ausgibt, mit dem er im Seminar studierte. »Auch war es wohl nötig, alles Auffallende vermeidend, meinen Lebenslauf ins Alltägliche, aber weit Entfernte, Ungewisse zu spielen« (196). Dabei geht er sogar soweit, eine Art Lebensroman aufzuschreiben, um den Richter zu überzeugen. »Ich arbeitete mit Anstrengung bis in die Nacht hinein; im Schreiben erhitzte 293

sich meine Fantasie, alles formte sich wie eine gerundete Dichtung, und fester und fester spann sich das Gewebe endloser Lügen, womit ich dem Richter die Wahrheit zu verschleiern hoffte.« (208f.) Doch diesem Versuch, sich durch das Aneignen oder Erfinden einer fremden Geschichte eine falsche Identität zu verleihen, steht eine zweite Funktion narrativer Subjektbildung entgegen: die therapeutische Wirkung der Anamnese. In den Elixieren des Teufels wird sowohl die erregende, aufwühlende (»erhitzte meine Fantasie«) als auch die beruhigende Seite des ›Erzählens von sich‹ zum Thema. Der Sprache kommt eine Doppelfunktion zu: Sie produziert Empfindungen149 und verarbeitet diese sogleich. Auch in diesem Sinne könnte man sie als »poetische Psychoanalyse« begreifen.150 Als Medardus aus seinem Wahnsinnsanfall erwacht, versuchen ihn der Arzt und die Geistlichen der Heilanstalt zu pflegen, indem sie ihm durch ausführliche Gespräche Gelegenheit geben, »lange hintereinander zu erzählen«. Der Arzt notiert die Ausführungen des Medardus und liest sie ihm dann vor (256f.). So

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Das Erregungspotential der Sprache wird bereits in der ersten Hälfte des Romans deutlich, als Medardus Aurelie seine Gedichte auswendig lernen lässt: »Selbst darin, daß sie von mir verfaßte Gebete nachsprechen sollte, glaubte ich Vorteile für meine verräterische Absicht zu finden. – Es war dem so! – Denn neben mir knieend, mit zum Himmel gewandtem Blick meine Gebete nachsprechend, färbten höher sich ihre Wangen, und ihr Busen wallte auf und nieder.« (87). So der Titel eines Aufsatzes von Walter Hinderer über die Elixiere des Teufels. Er verwendet den Begriff der »poetischen Psychoanalyse« in Abgrenzung zum Bildungsroman und betont Hoffmanns »bewundernswerte tiefenpsychologische Ingenuität«. Walter Hinderer, Die poetische Psychoanalyse in E.T.A. Hoffmanns Roman »Die Elixiere des Teufels«. In: Hoffmanneske Geschichte. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, hg. von Gerhard Neumann, Würzburg 2005, S. 43–76, hier S. 55. Gerhard Lauer dagegen bezweifelt, dass E.T.A. Hoffmanns Roman als Vorläufer der Psychoanalyse gelten könne, weil die Inszenierung des Unbewussten in der Literatur keinen Wahrheitsgehalt besitze, der für die Realität Geltung haben könne. Gerhard Lauer, Hoffmanns Träume. Über den Wahrheitsanspruch erzählter Träume. In: Traum-Diskurse der Romantik, hg. von Peter André Alt / Christiane Leiteritz, Berlin, New York 2005, S. 129–147. Lauer begründet seinen Angriff auf den »hohen Wahrheitsort Traum« (ebd., S. 131) damit, dass die Elixiere ein Schauerroman seien. Hoffmanns Text verweise auf dieses Genre, nicht auf eine »tiefere Wahrheit« außer ihm. »Das alles ist Genre und Fiktion, der keine philosophische oder ästhetische Wahrheit entsprechen kann« (ebd., S. 144). Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob Lauer nicht gegen den falschen Feind kämpft. Denn wer das Motiv des Traums bei Hoffmann in Verbindung zu psychoanalytischen Theorien bringt, betont damit nicht dessen Wahrheitsgehalt (das wäre eher die romantische Interpretation, z.B. bei Schubert), sondern vergleicht lediglich verschiedene kulturelle Muster, die sich in Texten niederschlagen. Lauers Versuch, die Literatur Hoffmanns aufgrund ihres Bezugs zu einem Genre von der ›Wirklichkeit‹ vollständig abzuschotten, ist deshalb verkürzend und fragwürdig. Literarische Texte reflektieren immer auch die umgebende Kultur, an deren Lesbarkeit sie teilhaben. Gleichwohl ist Lauer darin recht zu geben, Hoffmanns Text als Inszenierung und nicht als Ausdruck einer ›Wahrheit‹ zu begreifen. Damit ist aber nicht gesagt, dass diese Inszenierung nicht andere kulturelle Muster (z.B. die Psychoanalyse) vorwegnehmen könne.

versucht er, in den zerrissenen Geist seines Patienten wieder Struktur und Ordnung zu bringen. Beispielhaft wird diese therapeutische Funktion des Erzählens auch anhand des Briefes Aurelies an die Äbtissin entfaltet, in dem jene – in einer an den Beginn des Sandmanns gemahnenden Diktion151 – ihr Kindheitstrauma erzählt: »Ich muß zurückgehen in meine frühe Kinderzeit, um Alles, Alles zu sagen, denn schon damals wurde der Keim in mein Innres gelegt, der so lange Zeit hindurch verderblich fortwucherte.« (237) Während das Aufschreiben ihrer frühesten Erlebnisse für Aurelie selbst keine heilende Wirkung zeigt,152 wird Medardus durch die Lektüre des Briefes geläutert. »Immer und immer wieder« liest er die Blätter durch, ihm ist, »als wenn der Geist des Himmels, der daraus hervorleuchtete, in mein Inneres dringe und vor seinem reinen Strahl alle sündliche freveliche Glut verlösche.« (247) Die Seelenrettung durch Anamnese, die hier in einer kurzen Szene angedeutet wird, entfaltet der Roman auch in seiner Gesamtanlage. Im Verlauf der Handlung erfährt Medardus immer mehr über seine eigene, verdrängte Geschichte sowie die seines Vorfahren Francesko. Auch dies geschieht, wie in Doge und Dogaresse, schubweise, wobei die Geschichten, die Medardus erzählt werden, mit fortschreitender Erzählzeit immer weiter in die erzählte Zeit zurückreichen. Zugleich erfolgt diese Rekonstruktion polyfokal, da aus verschiedenen Blickwinkeln berichtet wird.153 Im zweiten Abschnitt des zweiten Teiles findet diese Technik ihren Höhepunkt, als der Prior dem Medardus ein Manuskript übergibt, in dem dessen Vorfahre Francesko seine Geschichte aufgeschrieben hat. Diese finale Analepse enthält, wie

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Sowohl der Brief Aurelies an die Äbtissin als auch der Brief Nathanaels an Lothar kreisen um ein traumatisches Kindheitserlebnis, das anamnetisch verarbeitet werden soll. Während Aurelie zu Beginn »die grause Gestalt« erwähnt, die »in mein Leben trat« (SäW 2/2, 237), schreibt Nathanael: »Etwas entsetzliches ist in mein Leben getreten« (SäW 3, 11), weshalb er »mit aller Kraft« sich zusammenfasse, »um ruhig und geduldig Dir aus meiner frühern Jugendzeit so viel zu erzählen, daß Deinem regen Sinn alles klar und deutlich in leuchtenden Bildern aufgehen wird.« (12) Friedhelm Auhuber hat am Beispiel des Sandmanns gezeigt, dass die therapeutische Wirkung der Briefe sich auch auf Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde zurückführen lasse, wo man sich im schriftlichen Dialog über alle möglichen Seelenkrankheiten austauschte und diesen Dialog anschließend veröffentlichte. Vgl. Auhuber, In einem fernen dunklen Spiegel, S. 64. Im Gegensatz zu Marie in Der Magnetiseur, die am Ende ihres Briefes schreibt: »Nun, Adelgundchen! hast Du mein inneres Leben ganz, ich habe Dir Alles erzählt, und das tut meinem Herzen wohl.« (SäW 2/1, 211). Neben der bereits erwähnten Erzählung Reinholds erhält Medardus die Mosaiksteine seiner Geschichte von Euphemie (SäW 2/2, 80–84), dem fremden Maler (117f.), dem Förster (132–140), dem Arzt (174–182 u. 218–222) und, wie gezeigt, dem Brief Aurelies. Allerdings werden diese Erzählungen in den meisten Fällen aus der Erinnerung des Medardus, also letztlich aus seiner Perspektive wiedergegeben. Zu diesem Zusammenhang von Erzählstruktur und Identität vgl. Detlef Kremer, Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus, eines Kapuziners (1815/16). In: E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Detlef Kremer, Berlin 2009, S. 144–160, hier S. 151–153.

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der Herausgeber in einer eingeschalteten Anmerkung schreibt, das Band, welches »die verworren aus einander laufenden Fäden der Geschichte des Medardus, wie in einen Knoten einigt.« Dass damit zugleich die verschiedenen Perspektiven gebündelt werden, verrät seine folgende Richtigstellung: Es sei eigentlich »ein besseres Gleichnis«, dass dem Leser ohne das Manuskript der »Fokus fehlt, aus dem die verschiedenen bunten Strahlen brachen.« (276) Von zentraler Bedeutung ist hierbei, dass das Manuskript »im alten Italiänisch« geschrieben ist, »der seltsame Ton klingt im deutschen nur rauh und dumpf« (ebd.). Diese Verfremdung ist ein Hinweis darauf, dass es sich um die Sprache des Unbewussten handelt. Tatsächlich enthält die Geschichte Franceskos das Skript, das das Schicksal seines Nachfahren Medardus lenkt. Dieser betont, dass die Aufzeichnungen Franceskos »kein Rätsel« für ihn aufbewahrten, »längst wußte ich ja Alles«. Aber er konnte es – und das ist die entscheidende Nuance – nicht aussprechen: »Das, was der Maler auf den letzten Seiten seines Buchs in kleiner, kaum lesbarer bunt gefärbter Schrift zusammen getragen hatte, waren meine Träume, meine Ahnungen, nur deutlich, bestimmt in scharfen Zügen dargestellt, wie ich es niemals zu tun vermochte.« (275) In den Elixieren ist das Unbewusste, das hier zum sprachlichen Bewusstsein gelangt, ein gesellschaftlich und kulturell determiniertes. Zum einen ist es die Familiengeschichte, die die Handlungen des Medardus steuert, ohne dass er sich dessen bewusst ist. Zum anderen ist der Fluch, der als zentrales Familientrauma fungiert, nur aus der Symbolsprache der deutschen Romantik heraus zu verstehen. Der Maler Francesko will die heilige Rosalia »nackt, und in Form und Bildung des Gesichts jenem Venusbilde gleich« darstellen (280): ein Ausdruck der Versündigung am Christentum durch die Hinwendung zur heidnischen Sexualität. Genau dies muss Medardus in der Form der Lebensbeichte tilgen. Als Büßer in Rom angelangt, erzählt er dem Papst seinen »ganzen Lebenslauf« (299). Doch erst als er zurück ins Kloster kommt und dort dem Prior erneut sein ganzes Leben enthüllt, rät dieser im schließlich, die Geschichte seines Lebens aufzuschreiben: Keinen der merkwürdigen Vorfälle, auch selbst der unbedeutenderen, vorzüglich nichts was dir im bunten Weltleben widerfuhr, darfst du auslassen. Die Fantasie wird dich wirklich in die Welt zurückführen, du wirst alles grauenvolle, possenhafte, schauerliche und lustige noch einmal fühlen, ja es ist möglich, daß du im Moment Aurelien anders, nicht als die Nonne Rosalia, die das Märtirium bestand, erblickst; aber hat der Geist des Bösen dich ganz verlassen, hast du dich ganz vom Irdischen abgewendet, so wirst du, wie ein höheres Prinzip über alles schweben, und so wird jener Eindruck keine Spur hinterlassen. (349)

Diese sprachlich-diskursive Katharsis, eine Art von »psychoanalytischer Therapie durch Schreiben«, die auf »schriftliche Durcharbeitung der eigenen Vergangenheit« zielt,154 scheint zu wirken. Am Ende des Romans tritt der Stammvater Francesko

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Hinderer, Die poetische Psychoanalyse, S. 74. Dass das Erzählen bei Hoffmann auch in einem anderen Zusammenhang kathartische Wirkung erzielen soll, hat Friedhelm

mit den Worten »Die Stunde der Erfüllung ist nicht mehr fern« aus der Zelle des sterbenden Medardus (350f.). Mit dem Familientrauma wird zugleich die Zerrissenheit des Individuums überwunden: Die »abscheulige Stimme« des wahnsinnigen Doppelgängers verklingt (ebd.). Doch bei genauerem Hinsehen ist fragwürdig, ob sich die Elixiere des Teufels wirklich als Bildungsroman lesen lassen, an dessen Ende die erfolgreiche Versöhnung des Individuums mit sich und der Gesellschaft steht. Detlef Kremer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass »vor dem Hintergrund eines im Unbewußten konfigurierten Lebens« alle literaturwissenschaftlichen Versuche, die Elixiere auf Entwicklung und Identität hin zu lesen, »äußerst problematisch« seien.155 »Der Entwicklungsgang des Medardus«, so Kremer, »gehorcht weniger einem Entwurf humanistischer Identität als der skeptischen Modulation von rollenspielartiger Identität«. Hoffmanns Texte verfolgten »nicht den Weg der Identitätssicherung: ihr Anliegen ist die Verweigerung von Identität.«156 Die eminente Bedeutung der Anamnese in den Elixieren sollte also nicht zu einer idealistischen Lektüre der Geschichte des Ich verleiten. Die Prozesshaftigkeit von Subjektivität ist bei Hoffmann ein Vorgang, »bei dem Bildung und Auflösung von Identität als unabschließbares Geschehen aufeinander bezogen sind.«157 Damit durchbricht er das von Friedrich Schiller in Über die ästhetische Erziehung des Menschen entworfene Modell einer bei aller Veränderung in sich ruhenden Persönlichkeit.158

5.4.

»Siegmund heiß’ ich«: Namensgebung und Anamnese bei Wagner

5.4.1. Selbstvergewisserung: Warum bei Wagner so viel erzählt wird Hoffmanns Medardus und Antonio könnten für die meisten männlichen Figuren Wagners Pate stehen: Denn auch diese kommen als Fremdlinge von außen in eine Gesellschaft, in der sie ihre Identität erst erringen müssen.159 Damit zeugen Wag-

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Auhuber gezeigt: Das »gesellige Erzählen« in den Serapionsbrüdern diene dazu, »aufkommende Melancholie produktiv umzuformen«. Auhuber, In einem fernen dunklen Spiegel, S. 118. Detlef Kremer, E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane, Berlin 1999, S. 51. Ein Überblick über die Forschungsliteratur zu den Elixieren, aus dem die Diskussion zwischen ›idealistischer‹ und ›dekonstruktivistischer‹ Interpretation deutlich wird, findet sich in: Kremer, Die Elixiere des Teufels, S. 150. Kremer, E.T.A. Hoffmann. Erzählungen, S. 51. Dirk Uhlmann, Identität/ Ich-Auflösung. In: E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Detlef Kremer, Berlin 2009, S. 499–501, hier S. 499. Dies betonen sowohl Kremer, E.T.A. Hoffmann, Erzählungen, S. 51 als auch Uhlmann, Identität / Ich-Auflösung, S. 499. Peter Wapnewski erblickt in diesem Motiv die »Antinomie« von Genie und Gesellschaft, den Gegensatz zwischen einem »Außenseiter, der ein Schicksal hat«, und der schicksallosen »Menge«. Wapnewski, Tristan, der Held Richard Wagners, S. 190. Diese

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ners Dramen von jener wachsenden Aufmerksamkeit für »das Subjekt und seine soziale Modellierung«, die sich in der erzählenden Literatur der Romantik beobachten lässt.160 Der Holländer ist ein Außenseiter, der in eine soziale Gruppe eindringt, die seine wahre Identität nicht kennen darf. Die Nennung seines Namens am Schluss zieht deshalb unweigerlich seine Flucht nach sich. Das gleiche Modell beherrscht den Lohengrin, wo der Titelheld ebenfalls von außen in die Gesellschaft kommt und seine Identität – wenn auch aus anderen Gründen – verschleiert. Siegmund kennt seinen wahren Namen nicht, als er zu Beginn der Walküre auf der Flucht vor dem Sturm in Hundings Haus landet und damit in einer Gesellschaft, der er als Entwurzelter und Heimatloser verhasst ist. Eine weitere Variante dieses Modells spielt Wagner mit Siegfried und Parsifal durch. Sie sind naive Naturmenschen, die in die Kultur eintreten, ›reine Toren‹. Damit sind allerdings keine höheren spirituellen Weihen bezeichnet, sondern die Tatsache, dass ihr Bewusstsein einer tabula rasa gleicht, die im Lauf der Handlung von der Gesellschaft beschrieben wird. Parsifal erhält seinen Namen und Siegfried seine Geschichte. Die Herausbildung von Identität beruht bei Wagner auf zwei Faktoren: der Namensgebung und der Erzählung der Lebensgeschichte. Die Bedeutung des Namens belegt schon allein die Tatsache, dass die Figuren in Wagners Werk häufig versuchen, vom Namen direkt auf das Wesen der Person zu schließen. Als Siegfried den Namen Gutrunes erfährt, fragt er »Sind’s gute Runen, / die ihrem Aug’ ich entrate?« (G, 29) Kundrys Ankunft zu Beginn des Parsifal lässt den zweiten Ritter vermuten, sie bringe wohl »wicht’ge Kunde« (P, 9). In diesem Sinne ist auch die verzweifelte Namenssuche Siegmunds zu verstehen, der seine Lebensgeschichte mit den Worten einleitet: »Friedmund darf ich nicht heißen; / Frohwalt möchte ich wohl sein: / doch Wehwalt muß ich mich nennen«. (W, 14f.) Und in den Meistersingern ist es Sixtus Beckmesser, der auf den Namen Hans Sachs den passenden Reim findet: »blüh’ und wachs’« (M, 32). Doch tiefer als diese Wortspiele führt eine Szene, die sich in Wagners erstem Trauerspiel Leubald und Adelaïde findet, das der Fünfzehnjährige 1828 niederschrieb. Im vierten Akt erwacht Leubald aus der Ohnmacht und erblickt Adelaïde zum ersten Mal. »Liebst du mich, tauf’ mich ander’s!« sagt Leubald. »Will nicht mehr Leubald – will dein Liebster sein. – / Ich sah wohl einst ’nen Leubald; der war blutig, / Und unbewusst des Argen, so er that« (SW 31, S. 124ff.). Die holprigen Verse von Wagners Pubertätswerk sollten nicht darüber hinwegtäuschen, das in ihm bereits die wesentliche Funktion des Namensmotivs in den späteren Musikdramen benannt ist: Die Entstehung der Identität im Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein, die hier in die Anerkennung durch das weibliche Gegenüber, den Liebesblick, eingebunden bleibt. Leubalds Erwachen aus der Ohnmacht ist ein zweites Erwachen, um das es auch in Die Walküre, Siegfried und

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Interpretation vor dem Hintergrund der romantischen Künstlerproblematik ist aber sozialhistorisch zu eng gefasst. G. Neumann, Romantisches Erzählen (Einleitung), S. 9.

Parsifal gehen wird. Durch den Blick Adelaïdes glaubt Leubald, erst wirklich zu Bewusstsein gekommen zu sein, und will dies durch einen neuen Namen besiegeln.161 Der Forschung ist die eminente Bedeutung des Namens im Leben162 und im Werk Richard Wagners nicht entgangen. Allerdings greift eine Interpretation dieses Motivs als eines mythischen Modells, wie sie Dieter Borchmeyer vornimmt, zu kurz.163 Wenn Siegmund und Parsifal ihre Namen finden, dann geht es dabei nicht um eine »Offenbarung der Wirklichkeit«, sondern um das moderne Problem der Hervorbringung von Identität. Und das heißt bei Wagner: narrative Hervorbringung. Wenn seine Figuren erzählen, so ist das in den seltensten Fällen eine bloße Berichterstattung zur Information der Zuschauer. Es geht um mehr als die Rekonstruktion der Vorgeschichte, die eine lange Tradition im Drama hat.164 Vielmehr fokussiert die narrative Wiedererinnerung einer Ereignisfolge – etwa in den Erzählungen Wotans, Siegmunds oder Kundrys – auf den Lebensweg des Subjekts. Was wir hören, sind Geschichten vom Ich, die dem Prinzip der Bewusstwerdung des Unbewussten folgen.165 Die zusammenhanglose Masse der Erinnerungen wird in eine sinnhaft-diskursive Form gebracht, was dem Subjekt erst ermöglicht, sich in ihnen wiederzufinden. Das Erzählen seiner Geschichte wird so zu einem Programm der Selbstrechtfertigung, die die Identität des Individuums zu stabilisieren versucht.

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Das Motiv der Taufe weist auf die Meistersinger voraus, in denen die Namensgebung der »Morgentraumdeutweise« durch Taufe vollzogen wird. Im Leubald spielen das Namensmotiv und die Wiedertaufe übrigens bereits bei der Ermordung Roderichs durch Leubald eine Rolle (SW 31, 115). Richard Wagner nahm 1828 wieder den Namen seines leiblichen Vaters Friedrich Wagner an und legte den Nachnamen seines Stiefvaters Ludwig Geyer ab. Im Mythos gelte die Namensgebung als »Offenbarung der Wirklichkeit«, so Borchmeyer. Die Namensgebung werde im Mythos begleitet von der Überzeugung, »daß die Substanz dieses mythischen Ahnherrn in den Nachkommen identisch weiterlebt. Die namensetymologischen Spekulationen des Theoretikers Wagner sowie die eminente Bedeutung des Namens – seine Stiftung (Walhall) oder Findung (Siegmund), seiner Verborgenheit (Lohengrin) oder seines Verlusts (Parsifal) – in den Wagnerschen Musikdramen zeugen von seiner profunden Vertrautheit mit den Bedingungen mythischen Denkens.« Borchmeyer, Richard Wagner, S. 282. Dies betont Carl Dahlhaus. In der traditionellen Form des »geschlossenen« Dramas erscheine der »größere Teil der Fabel« als »Vorgeschichte, die nicht szenisch exponiert, sondern indirekt, durch Worte mitgeteilt wird«, etwa »in Fom einer zusammenhängenden Erzählung, die Vergangenes rekapituliert«. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 23. Ein Modell, das übrigens auch den Prosaentwurf zu Die Sieger aus dem Jahr 1856 bestimmt. Dort »erzählt« der Buddha »von Prakriti’s Dasein in einer früheren Geburt« und löst so den dramatischen Konflikt (SSD XI, 325). Der Entwurf beinhaltet also nicht nur religiöse Elemente, wie die Forschung bisher immer angenommen hat. Ein Beispiel hierfür ist Bernd Zegowitz, der den kurzen Text nach den folgenden Aspekten untersucht: Gemeinschaft, Reinkarnation, Keuschheit/Entsagung, Mitleid, Erlösung. Vgl. Zegowitz, Richard Wagners unvertonte Opern, S. 259–269.

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Wagner selbst hat dies in seiner autobiographisch-ästhetischen Schrift Eine Mittheilung an meine Freunde durchgespielt. Dort schreibt er: Die Widersprüche, deren ich hier gedenke, sind allerdings für Denjenigen gar nicht vorhanden, der sich gewöhnt hat, eine Erscheinung nicht anders, als auch nach ihrer Entwickelung in der Zeit zu beobachten. Wer bei der Beurtheilung einer Erscheinung auch diese Entwickelung in Betracht zieht, dem können Widersprüche nur dann aufstoßen, wenn sie eine von Raum und Zeit losgelöste, unnatürliche, unvernünftige ist: das Moment der Entwickelung aber ganz außer Acht lassen, die in der Zeit getrennten und wohl unterschiedenen Phasen derselben in eine unterschiedslose Masse zusammenfassen, heißt jedoch selbst eine unnatürliche, unvernünftige Anschauungsweise, und sie kann nur unserer monumental-historischen Kritik zu eigen sein, nicht der gesunden Kritik des theilnehmenden, empfindenden Herzens. (SSD IV, 244)

Hier scheint die zentrale Theorie des deutschen Idealismus und insbesondere Hegels durch, dass die in der Zeit beobachtbare Entwicklung den Gesetzen der Vernunft folge und somit ein Telos besitze. Ihr entgegen steht nach Wagners Auffassung die historisch-chronistische Geschichtsschreibung, die die bloße, »unterschiedslose Masse« von Ereignissen nicht zu strukturieren vermag. Wagner betont deshalb, dass er seine Kunstansichten »von einem Standpunkte aus kundgebe, den ich durch allmähliche, stufenweise Entwickelung mir erst gewonnen« habe (ebd.). Das Niederschreiben des Lebensweges in der Mittheilung dient Wagner dazu, seine Künstler-Karriere als notwendige Abfolge von Ereignissen darzustellen, an deren Ende der neue, geläuterte und sich seiner wahren Aufgabe bewusste Dichter und Komponist Richard Wagner steht. Deshalb folgt die autobiographische Schrift dem Stufenmodell einer Bewusstwerdung des Unbewussten. So erzählt Wagner, wie er in der Komposition des Tannhäuser seine »wahre Natur« zum Ausdruck gebracht habe. »Dies fühlte ich; aber noch wußte ich es nicht mit voller Klarheit: – dieß Wissen sollte ich mir erst noch gewinnen.« (279f.) Nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem er beschloss, den historischen Stoff »Friedrich Rothbart« nicht auszuführen und stattdessen am Siegfried zu arbeiten. Wagner bezeichnet diese Entscheidung als Beginn einer neuen Periode, und zwar der »des bewußten künstlerischen Wollens auf einer vollkommen neuen, mit unbewußter Nothwendigkeit von mir eingeschlagenen Bahn, auf der ich nun als Künstler und Mensch einer neuen Welt entgegenschreite.« (320) Es ist aufschlussreich, dass Wagner in dieser Schrift den Wert der Historie als Opernstoff verwirft und gleichzeitig die idealistische Theorie der Selbstbewusstwerdung in der Geschichte aufrecht erhält. Die These, dass Wagners theoretische Schriften immer auch der Selbstvergewisserung dienten, wird durch eine weitere Beobachtung bestärkt. Jene seien, wie Friedrich Nietzsche formulierte, »im Sprechstyl, nicht im Schreibstyl« geschrieben und man werde sie deshalb »viel deutlicher finden, wenn man sie gut vorgetragen hört«. Nietzsche erkannte auch, dass Wagner konsequenterweise einen fiktiven Zuhörer imaginieren musste. »Mir kommt es so vor, als ob Wagner häufig wie vor Feinden spreche«, so Nietzsche.166 Man könnte auch sagen: wie vor Freunden. An

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Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 502.

diese richtet er seine Mittheilung, »weil ich nur von Denen verstanden zu werden hoffen kann, welche Neigung und Bedürfniß fühlen mich zu verstehen, und dieß können eben nur meine Freunde sein.« (230) Oper und Drama leitet er mit den Worten ein: »Ein Freund teilte mir mit, daß« (OuD, 7). Jahre später wird er über sein theoretisches Hauptwerk zu Cosima sagen, es sei »wie ein anhaltendes Zwiegespräch, z.B. mit Sulzer, dem ich alles klarmachen wollte, indem es mir im Gespräch selbst alles deutlich und klar wurde. Keine Möglichkeit, Paragraphen zu machen, aus diesem einen Grund« (CT II, 160). Auch dass er seine Werke gern vorlas167 und seine Autobiographie Mein Leben Cosima diktierte, passt in dieses Schema. Wagners Sprache bleibt, obwohl schriftlich fi xiert, immer an die Stimme des Erzählers gebunden. »Hören Sie so zu, wie Brünnhilde dem Wotan zuhörte«, schreibt Wagner in einem Brief an Mathilde Wesendonck, in dem er ihr seine Pläne zum Parsifal erläutert (SB XII, 238). Zu dieser Inszenierung einer mündlichen Erzählhaltung gesellt sich die Tatsache, dass Wagner eine ungeheure Masse an Selbstzeugnissen und Briefen hinterlassen hat, wie sie »von kaum einem Schriftsteller, geschweige denn von einem anderen Künstler«,168 überliefert worden ist. Mein Leben ist ein Werk von »epischem Riesenmaß«,169 das in den Tausende von Seiten langen Tagebüchern Cosimas seine Fortsetzung findet. Wagner war »ein autobiographischer Mensch«,170 der sich als arrivierter Senior seine verstreuten Lebensspuren von seinem späteren Hagiographen Carl Friedrich von Glasenapp minutiös zusammentragen ließ. Eine archivalische Manie, die Martin Gregor-Dellin mit der schlüssigen Formel der »Befestigung eines Lebens im Wort« bezeichnet hat.171 Dies alles zeugt von dem permanenten und endlosen Bemühen, sich seiner selbst auf dem Umweg des Wortes bewusst zu werden. Wagner betont in der Mittheilung, es gehe ihm darum, »meinen Freunden mich in meinem Werden vorzuführen.« (SSD IV, 267) Der positivistische Einwand, dass Wagners autobiographische Darstellungen die Fakten oft verklärten, verfängt deshalb nicht. Natürlich handelt es sich bei der Mittheilung an meine Freunde um eine Inszenierung, die die Tatsachen im Hinblick auf die Rechtfertigung des eigenen Lebensweges verbiegt.172 Aber gerade deshalb

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Wagner trug Oper und Drama im Februar und März 1851 in zwölf Lesungen vor. Klaus Kropfinger bemerkt dazu, dass es zahlreiche Stellen gebe, »die als Sprachgebilde des Augenblicks nur schwer vorstellbar sind und die, gehäuft auftretend, auch durch die Lesung in ihrer Aussage kaum wirklich durchsichtig geworden sein dürften.« (OuD, 498f.) Bekannt ist auch, dass Wagner seiner Frau Cosima sowie seinen Freunden und Bekannten gerne aus seinen eigenen Schriften vorgelesen hat. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 600. Ebd., S. 593. Ebd., S. 594. Ebd., S. 593. Carl Dahlhaus bezeichnet Wagner als einen »unersättlichen Räsoneur«, der »restlos verstanden werden« wollte. Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 125. Anstatt Wagners Verfälschungen in seinen Autobiographien (z.B. Mein Leben) positivistisch oder moralisch zu bewerten, ist es aufschlussreicher, sie als Teil eines kulturellen Phänomens zu begreifen. Dass sich Menschen falsch erinnern oder sich sogar Erinne-

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ist sie für das Verständnis des Wagnerschen Denkens so aufschlussreich. Denn das Muster einer Selbstvergewisserung durch Erzählung ist auch in seinen Musikdramen zu beobachten. 5.4.2. Die Entstehung männlicher Identität durch Narration in den Musikdramen Die Walküre, Parsifal und Tristan und Isolde Siegmunds Erzählung im ersten Akt der Walküre ist hierfür ein Beispiel. »Gast, wer du bist / wüßt’ ich gern.« (W, 14) Auf diese Frage Sieglindes antwortet Siegmund, indem er ihr und Hunding seine Geschichte erzählt.173 Doch diese rechtfertigt nur die falsche Identität Siegmunds, die ihm das Schicksal aufgezwungen hat, womit Wagner das Modell der Identitätsbildung durch Narration zunächst in sein Gegenteil verkehrt. »Wehwalt« müsse er sich nennen, sagt Siegmund zu Beginn, obwohl er lieber »Frohwalt« heißen würde (ebd.). Anschließend bezeichnet er sich, an Hunding gewandt, als »Wölfing« (16). Der zweite Abschnitt der Erzählung begründet dann den Namen Wehwalt, bevor sie nach dem dritten Abschnitt mit den an Sieglinde gerichteten Worten endet: »Nun weißt du, fragende Frau, / warum ich – Friedmund nicht heiße!« (19) Entwurzelung, Heimatlosigkeit und die Ächtung durch die Gesellschaft führen Siegmund in eine multiple Identität. Diese erscheint zugleich in einer Verzeitlichung begriffen, als eine gescheiterte Suche nach sich selbst – Wotans Sohn ist eine der modernsten Figuren Wagners. Ihm gegenüber erscheint Hunding als ein Repräsentant der traditionalen Gesellschaft. Seine Identität situiert sich nicht in der Zeit, sondern im Raum, sie definiert sich durch das Wertesystem des Familienverbundes: »Dess’ Dach dich deckt, / dess’ Haus dich hegt, / Hunding heißt der Wirt; / wendest von hier du nach West den Schritt, / in Höfen reich / hausen dort Sippen, / die Hundings Ehre behüten.« (14) Der Tonsatz, den Wagner der Vorstellung Hundings unterlegt, ist klar strukturiert (SW 11/I,

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rungen zurechtlegen, die in Wahrheit keinen Bezug zur Realität haben, ist ein bekanntes Phänomen der Gedächtnisforschung (false memory debate). Inzwischen geht man davon aus, dass jede Erinnerung nicht einfach eine Wiedergabe des Gewesenen, sondern ein konstruktiver Prozess ist, der sich nach dem gegenwärtigen Sinnbedürfnis des sich erinnernden Subjekts richtet. Vgl. hierzu Hans J. Markowitsch / Harald Welzer, Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung, Stuttgart 2006, S. 30–34. Auch in der modernen Kognitionspsychologie wurde darauf hingewiesen, dass sich Erinnerung nur unter der Vorgabe gegenwärtiger Bedingungen fassen lasse, Erinnerung also ein Konstrukt sei. Vgl. hierzu Birgit Neumann, Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, hg. von Astrid Erll / Ansgar Nünning, Berlin 2005, S. 149–178, hier S. 151ff. Bereits zuvor nennt Siegmund Sieglinde den Namen »Wehwalt« (W, 12). Es ist ein Indiz für die enge Verbindung von Erzählung und Identität, dass damit die Frage nach der Identität offenbar noch nicht hinreichend beantwortet ist. Dazu bedarf es der Geschichte »Wehwalts«.

T. 445–459). Er beginnt und endet in F-Dur, während der Mittelteil sechs Takte lang um die Tonart G-Dur kreist. Nach jeweils drei Takten wird der Streichersatz von den Tuben abgelöst, die, ebenfalls drei Takte lang, das Motiv Hundings schmettern. Dessen Gesang verleiht dem Satz zusätzliche Festigkeit, ja Starrheit, indem er die Alliterationen des Stabreims genau auf die Zählzeit legt: Zunächst alle zwei Schläge auf eins und drei (Dach, deckt, Haus, hegt, Hunding), dann alle vier Schläge auf die schwere Eins (wendest, West, Höfen, hausen, etc.). Die Phrase »Hunding heißt der Wirt« besteht aus einem absteigenden B-Dur-Akkord, der in ein ungetrübtes F-Dur gleitet (T. 448f.). Dagegen ist die Musik von Siegmunds Erzählung komplexer. Zwar scheint sie zu Beginn den Stil Hundings übernehmen zu wollen, indem die resoluten Einwürfe der Celli und Bratschen dem Gesang Siegmunds ein stabiles Fundament zu geben versuchen. Dieser Versuch ist jedoch vergeblich, da die Komposition zu keinem eindeutigen Stil findet. Mal singt Siegmund deklamatorisch (494–497), mal arios (658ff.). Das Orchester begleitet die Erzählung oft nur mit Illustrationen, etwa wenn die Jagd-Motive in den Hörnern die Hatz auf Wölfing und seinen Vater schildern (523–525) oder das Erwachen erotischen Verlangens durch weiche Klarinettenklänge dargestellt wird (561–565). Anders als in Eriks Traumerzählung wird der Text nicht durch die Musik strukturiert. Indem diese sich damit begnügt, das Gesagte zu bebildern, vermag sie nicht, das unbewusste Wissen ins Bewusstsein zu führen. Während in der Traumerzählung das Holländer-Motiv durch den Orchestersatz nach oben gedrängt wurde, sind die Leitmotive nun über den Tonsatz versprengt. Siegmund gelingt es nicht, seine Erinnerungsfetzen in eine zusammenhängende Logik zu bringen. Zwar deuten die Leitmotive ihre Funktion an, wenn bei der Erwähnung von Siegmunds Feinden das Hunding-Motiv erklingt (518f.), die gescheiterte Suche nach dem Vater mit den Klängen Walhalls versehen wird (556–558) oder das vergebliche Werben um eine Frau jene Melodie begleitet, die den Liebesblick Siegmund und Sieglindes musikalisch darstellte (561ff.). Doch diese Einwürfe bleiben ohne Folgen, die Motive werden nicht entwickelt, das Wissen um seine eigentliche Identität bleibt Siegmund unbewusst.174 Zwei Beobachtungen festigen diese These. Erstens gibt Wagner dem Tonsatz eine zyklische Struktur. Nicht nur, indem er ihn in drei Abschnitte einteilt, die jeweils mit der Nennung eines Namens enden und von Hunding unterbrochen werden, sondern auch, indem bestimmte Kompositionstechniken und musikali-

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Dorothea Kirschbaum weist am Beispiel von Siegmunds Erzählung darauf hin, dass der »Kommentar der Orchestermelodie« hier auf »das Unwissen der Figuren« ziele und einen »Zusammenhang zum Göttermythos« stifte, »der außerhalb des Wissenshorizontes der Figuren« liegt (Kirschbaum, Erzählen nach Wagner, S. 76f.). Allerdings greift ihre Behauptung zu kurz, Siegmund bleibe der Zusammenhang seiner Geschichte zum Göttermythos (also zur Geschichte seines Vaters Wotan) »völlig unbewusst« (ebd., S. 80). Denn am Schluss des Aktes erhält Siegmund dank Sieglinde eine Ahnung seiner wahren Identität.

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sche Versatzstücke in jedem Abschnitt wiederkehren. So etwa bei der Schilderung des Verlustes der Mutter im ersten, des Vaters im zweiten und der Maid im dritten Teil, bei denen die Instrumentation jeweils extrem zurückgenommen und der Tonsatz auf Siegmunds Gesang reduziert wird. Oder bei der Namensnennung, die stets einer ähnlichen melodischen Wendung folgt.175 Zweitens deutet die Harmonik an, dass Siegmund seine eigentliche Identität verweigert wird.176 Der erste Akkord der Erzählung (T. 482) ist ein Dominantseptakkord auf G. Damit wird bereits die Zieltonart angedeutet, in die Siegmunds Identität am Schluss des Aktes münden wird: C-Dur. Doch diese wird in der Erzählung noch nicht erreicht. Die erste Phrase, »Wehwalt muß ich mich nennen«, wird auf G-Dur abgeschlossen und nicht auf C-Dur, am Ende des ersten Abschnittes erklingt ein G im Unisono (530). Die Erzählung endet schließlich in c-Moll (666). Als Hunding nach seiner Ankündigung, Siegmunds Taten rächen zu wollen, zu Bett geht, bleibt dieser allein zurück. Sein folgender Monolog ist ein weiterer verzweifelter Versuch, sich selbst zu verstehen und seine Identität zu finden. In ihm erinnert er sich zwar an seinen Vater »Wälse« und an das Schwert, das dieser ihm verhieß (W, 20f.), doch auch hier scheitert die Bewusstwerdung des Unbewussten. Der Tonsatz verhallt in dem hohlen C der Pauken, mit dem er begann (SW 11/I, T. 793ff. u. 922ff.). Erst als Sieglinde zurückkehrt, wendet sich das Blatt. Sie ist es, die Siegmunds Anamnese glücken lässt, und auch dabei steht eine Erzählung im Zentrum. Sieglinde berichtet von ihrer Hochzeitsfeier, in die »ein Greis in grauem Gewand« (W, 23) eindringt und ein Schwert in die Esche rammt. Es handelt sich, was Sieglinde nicht explizit sagt, um den Wanderer Wotan. Dieser verkündet, dass nur der das Schwert besitzen dürfe, der es aus dem Stamm zöge. »Da wußt’ ich, wer der war, / der mich gramvolle gegrüßt: / ich weiß auch, / wem allein / im Stamm das Schwert er bestimmt.« (24) Sieglinde gelingt, was Siegmund zuvor versagt blieb: Die Ereignisse der Vergangenheit auf die Gegenwart zu beziehen und so mit der eigenen Identität zu verknüpfen. »Da wußt’ ich … Ich weiß auch«: Der Übergang vom Präteritum ins Präsens ist nahtlos. Diese Bewusstwerdung des Unbewussten, die sich im Textbuch andeutet,177 wird in der Partitur offensichtlich. Die Leitmoti-

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Zur Schilderung des Verlustes der Eltern und der Maid vgl. SW 11/I, T. 507ff., 548ff., 641ff. Zu der Schlusswendung der jeweiligen Abschnitte: T. 526ff., 582ff., 657ff. Bei seinem Versuch, das System der Leitmotive in Wagners Werk zu kategorisieren, erwähnt Eckehard Kiem ausdrücklich die Bedeutung der Tonstufen. »Dabei kann eine solche auffallende Tonstufendisposition geradezu den Rang eines selbständigen Bedeutungsträgers einnehmen, dessen Merkmale sich ergänzend, beleuchtend, erklärend oder widersprechend auf inhaltlich und strukturell selbständige Motive übertragen«. Eckehard Kiem, Vom Sinn der Motivbeziehungen: Der Ring des Nibelungen. In: Richard Wagner und seine Zeit, hg. von Eckehard Kiem / Ludwig Holtmeier, Laaber 2003, S. 123–144, hier S. 132. Bei den Bayreuther Proben zum Ring des Nibelungen im Jahr 1876 notierten Wagners Assistenten, dass er das »Da wußt’ ich« Sieglindes »mit bewußtem Ausdruck« gesungen wissen wollte. Vgl. SW 11/I, T. 1013.

ve, die in Siegmunds Erzählung noch isoliert waren, rücken jetzt ins Zentrum des Orchestersatzes. Als Sieglinde den Eintritt Wotans schildert, setzt das Walhall-Motiv ein, zugleich hellt sich der Tonsatz vom e-Moll ins E-Dur auf (SW 11/I, T. 963). Wagner moduliert dieses Motiv nun über A-Dur und Cis-Dur nach fis-Moll. Nach einem vierstimmigen chromatischen Satz, der die Wirkung von Wotans Blick auf Sieglinde beschreibt, schließt der Abschnitt auf E-Dur, dem harmonischen Ausgangspunkt (T. 986). Damit einher geht in Takt 977 eine kurze dynamische Steigerung vom pianissimo ins mezzoforte – nicht zufällig bei dem Wort »mir«, also in dem Moment, in dem Sieglinde das Geschehen auf sich bezieht und der Blick Wotans die Ahnung ihrer Identität weckt. Die Aufhellung des Klangs sowie die Intensivierung der Lautstärke deuten hier ein Erwachen an, genau wie zu Beginn der zweiten Szene des Rheingolds. Doch die Anamnese gelingt bei Wagner nie auf Anhieb, sondern kommt, genau wie bei E.T.A. Hoffmann, schubweise. Deshalb erhält die Erzählung Sieglindes einen zweiten Teil, in dem ein erneuter Aufstieg des unbewussten Wissens inszeniert wird. Dieser ist nun nicht mehr an das Walhall-, sondern an das Schwertmotiv geknüpft.178 Es erklingt zunächst in E-Dur in den Hörnern (T. 986ff.), wird dann zwei- und schließlich dreistimmig, wobei es über A-Dur nach a-Moll moduliert. Schließlich wird es von der ersten Trompete übernommen und ins C-Dur geführt, das allerdings nur auf einem instabilen Quartsextakkord ruht (994). Dessen Auflösung in die Grundstellung erfolgt durch die anschließende, bis ins forte gehende Kadenz (998). Hier wird die Bewusstwerdung mit derselben Technik in Musik gesetzt, der bereits beim »Erwachen« des Rheingolds und Siegmunds Monolog eine Rolle spielte: Das Leitmotiv wird aus einem Moll-Raum durch den zunehmenden Einsatz von Dur-Akkorden ins Helle geführt. Diese Technik wendet Wagner in Sieglindes Erzählung noch ein drittes Mal an. Wiederum setzt in Takt 1012 das Walhall-Motiv in E-Dur ein, zu Sieglindes »Da wußt’ ich« wird es mit wachsendem crescendo über A-Dur nach a-Moll geführt und zugleich mit dem Schwertmotiv verknüpft (1020). Dessen Auflösung ins C-Dur bleibt an dieser Stelle des Musikdramas zwar noch aus, dafür wird der Zuhörer Zeuge der Bewusstwerdung Sieglindes. Deren Gesangsstil ändert sich ab »O fänd’ ich ihn hier« vollständig. War dieser zuvor entweder deklamatorisch gehalten oder an das Orchester gebunden, befreit sich nun Sieglindes Stimme und schlägt einen furiosen, ekstatischen Ton an. Dieser gleicht Sentas Ausbrüchen am

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Dass der Aspekt der Identität eng mit dem Schwert-Motiv verknüpft ist, wurde in der Wagner-Forschung bisher übersehen. Dies gilt etwa für Christopher Wintle, der, ausgehend von einer Analyse des Schwert-Motivs im Trauermarsch der Götterdämmerung, zu folgendem Schluss kommt: »Love, self-confidence, trust in the father, the capacity to effect reparation: these are the attributes that accrete to the sword and its motif in the first act of Die Walküre.« Christopher Wintle, The Numinous in Götterdämmerung. In: Reading Opera, hg. von Arthur Gross / Roger Parker, Princeton 1988, S. 200–234, hier S. 205.

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Ende ihrer Ballade und am Ende von Eriks Traumerzählung. Sieglindes Gesang erhält erst jetzt im engeren Sinne eine Melodie. Diese folgt nicht mehr nur den Akkordbrechungen des Orchesters, sondern kann sich frei entfalten. Sieglinde findet zu ihrer Stimme, die wie bei Senta als Medium der Subjektbildung fungiert. »Die menschliche Stimme«, schreibt Wagner in Oper und Drama, »ist ein Individuum« (OuD, 131). Das Wiederfinden des eigenen Bruders markiert also zugleich Sieglindes Selbstfindung. Sie hat Siegmund erkannt und will ihm – und auch sich selbst – die wahre Identität zurückgeben. Doch ihrem Wissen fehlen noch die Begriffe. Deshalb muss sie für ihren Bruder einen Namen finden: War Wälse dein Vater, / und bist du ein Wälsung, / stieß er für dich / sein Schwert in den Stamm – / so laß mich dich heißen / wie ich dich liebe: / Siegmund – so nenn’ ich dich! (W, 31)

»Siegmund heiß’ ich, / und Siegmund bin ich« ruft ihr Bruder daraufhin, und bei den letzten beiden Worten erklingt das Schwertmotiv endlich ungetrübt in C-Dur (SW 11/I, T. 1382f.).179 Zwei Dinge gilt es bei dieser Ich-Werdung Siegmunds zu beachten. Erstens ist es bemerkenswert, dass eine Frau ihm seine Identität verleiht. Sie ist es, die ihn zum »hehrsten Helden« macht (W, 23). Anders als in Der fliegende Holländer ist es nun das männliche Individuum, das durch das andere Geschlecht definiert wird. Zweitens bleibt die Identität Sieglindes und Siegmunds letztlich durch ihre Familiengeschichte bestimmt und vom Schicksal ihres Stammvaters abhängig – man denke an die Elixiere des Teufels. Nicht umsonst bezeichnet sich Siegmund als »Siegmund den Wälsung« (32). Der gesamte erste Akt ist nichts anderes als eine Inszenierung Wotans, der das Unbewusste seiner Nachkommen steuert, indem er ihnen seinen »großen Gedanken«, als der das Schwertmotiv im Rheingold zum ersten Mal erklang, ins Gedächtnis pflanzt. Siegmund und Sieglindes Identität bleibt deshalb, allem C-Dur-Pathos zum Trotz, eine manipulierte. 25 Jahre nachdem Wagner das Textbuch der Walküre abgeschlossen hatte, schrieb er das Libretto des Parsifal. Darin findet sich zu Beginn folgender Dialog des Titelhelden mit Gurnemanz:

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Das Schwert erhält dann noch seinen Namen, »Nothung« (W, 32), und als Siegmund es »mit einem gewaltigen Zuck« aus dem Stamme zieht (ebd.), wird C-Dur im fortissimo als Zieltonart gefeiert (SW 11/I, T. 1437ff.). Angesichts der zentralen Bedeutung des SchwertMotivs überrascht es, dass diese in der Wagner-Forschung übersehen wurde. So kommt Carl Dahlhaus zu dem Schluss, dass aufgrund der Getrenntheit von »Göttermythos und Heroendrama« Siegmunds Schwertgewinnung »für das Wälsungen-Drama ebenso peripher« sei, wie sie für »die Wotan-Handlung [...] zentral und entscheidend« sei (Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 171). Und Egon Voss schreibt hinsichtlich der im ersten Walküre-Akt verwendeten Leitmotive, dass von keinem der bereits im Rheingold auftretenden Motive »auch nur annähernd reiche[r] Gebrauch« gemacht wird. Das Schwert werde von Siegmund und Sieglinde nur als Waffe aufgefasst und trage keine weiteren Bedeutungsschichten in sich. Vgl. Voss, »Wagner und kein Ende«, S. 188f.

»Wo bist du her?« »Das weiß ich nicht.« »Wer ist dein Vater?« »Das weiß ich nicht.« »Wer sandte dich dieses Wegs?« »Ich weiß nicht.« »Dein Name dann?« »Ich hatte viele, doch weiß ich ihrer keinen mehr.« (P, 23)

Noch Wagners letzter Held ist auf der Suche nach seiner Identität. Parsifal hat seine Herkunft und seinen Lebensweg vergessen und damit auch seinen Namen, weshalb die Rückgewinnung dieses vergessenen Wissens zu einem der zentralen Themen dieses Musikdramas wird. Und auch dabei spielt das Erzählen eine wichtige Rolle. Carl Dahlhaus hat darauf hingewiesen, dass im Parsifal die »Vorgeschichte des Dramas« »episch ausgebreitet« statt als »motivierendes Moment« in die Handlung integriert würde. Eine Schlüsselrolle falle dabei dem »Erzähler Gurnemanz« zu, der allerdings eine »bloße Hilfsfigur« sei.180 Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Theorie als falsch. Denn die große Erzählung Gurnemanz’ im ersten Akt hat sehr wohl eine bedeutende dramaturgische Funktion. Wie Sentas Ballade ist auch sie ein performativer Sprachakt, der den Auftritt Parsifals vorbereitet. Gurnemanz weiß nicht, dass er von Parsifal spricht, als er am Schluss seiner Erzählung die Verheißung des Grals verkündet: »Durch Mitleid wissend / der reine Tor, / harre sein’, / den ich erkor.« (P, 19f.) Kurz darauf betritt Parsifal die Bühne. Die gesamte Vorgeschichte, die in Gurnemanz’ Erzählung aufgehoben ist, wird somit auf das Erscheinen Parsifals hin zugespitzt. Zwar wird den Figuren, anders als in Sentas Ballade oder Eriks Traumerzählung, die Konsequenz des Sprachaktes nicht bewusst. Dennoch konstituiert sich Parsifals Identität in dieser Szene narrativ: Die Vorgeschichte des Musikdramas wird als seine Geschichte gedeutet. Dieses Muster wird im dritten Akt wiederholt, als Gurnemanz dem zurückkehrenden Parsifal erzählt, was während der Zeit seiner Abwesenheit geschah. Er berichtet von der zunehmenden Degeneration Amfortas’ und der Gralsritter, wobei er seine Erzählung mit den Worten einleitet, die Ritterschaft bedürfe »des Heiles, das du bringst!« (72). So wird abermals ein Nexus hergestellt zwischen dem Schicksal des Kollektivs und dem des Individuums. Folgerichtig bezieht Parsifal die Schilderungen Gurnemanz’ auf sich: »Und ich – ich bin’s, / der all dies Elend schuf!« (73) Musikalisch stellt Wagner dies durch jenes Motiv dar, das im ersten Akt Gurnemanz’ letzten Worten unterlegt ist. Werner Breig hat gezeigt, dass dieses ›Torenmotiv‹ (SW 14/I, T. 728–735) bereits vor seiner Exponierung durch Gurnemanz »aus seinen Phrasen allmählich zur Gesamtgestalt aufgebaut« wird.181 Sein erstes vollständiges Erklingen am Schluss von Gurnemanz’ erster Erzählung wirkt somit als zwingender Abschluss eines Prozesses: Die Logik der Finalität, die Gurnemanz’ 180 181

Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 211. Breig, Wagners kompositorisches Werk, S. 464. Breig weist auch darauf hin, dass die Wiederholung des Motivs durch die Knappen vom Eintritt Parsifals gestört wird. Wagner fiel dies erst während der Komposition ein: »Er arbeitet und sagt mir zu Mittag, er habe einen Einfall gehabt, der würde mich freuen, im Augenblick, wo die Knappen den Spruch wiederholen, ›der reine Tor‹, bei dem Worte Tor kommt der Pfeil und Parsifal, so daß der Spruch nicht vollendet wird.« (CT I, 1088).

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Geschichte eignet und in Parsifals Auftritt mündet, wird durch die Motivgenese bestätigt. Es ist deshalb kein Zufall, dass Wagner dieses Motiv in variierter Form wieder aufnimmt, als Kundry im zweiten Akt, in der Mitte des Werkes, Parsifals Identität enthüllt. Nachdem dieser vor der Verführung durch die Blumenmädchen flieht, ruft sie: »Parsifal! – Weile!« (14/II, T. 739–744) Quintfall und Terzsprung182 der Gesangslinie spielen eindeutig auf das Torenmotiv an, wodurch eine klare Linie zwischen Gurnemanz’ Erzählung, Parsifals erstem Auftritt und seiner Namensfindung gezogen wird. Der Ruf Kundrys ist die erste Nennung von Parsifals Namen in diesem Musikdrama. Dies gibt einen Hinweis darauf, wie wichtig diese Szene für die Konstitution von Parsifals Identität ist. Um zu verstehen, wie Wagner dabei vorgeht, lohnt ein Blick in E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun.183 Denn diese Novelle nimmt die Konstellation vorweg, die Wagner in der Szene zwischen Kundry und Parsifal wiederholt. Es ist sicher kein Zufall, dass Wagner während der Arbeit am zweiten Akt des Parsifal seiner Frau Cosima aus den Bergwerken vorliest und dabei betont, dass er deren »dichterische Konzeption […] vortrefflich findet« (CT II, 168). Zur Erinnerung: Als Elis Fröbom in seinem Traum das verführerische Reich der Berg-Königin erblickt, vernimmt er plötzlich die Stimme seiner Mutter, die »wie in trostlosem Weh« seinen Namen ruft. »Er glaubte ihre Gestalt zu schauen oben an der Spalte. Aber es war ein holdes junges Weib« (SäW 2/2, 217). Die Parallelen zum Parsifal sind offensichtlich: So wie Elis Fröbom seine Reise in das Innere der Berge träumt, gelangt Parsifal in Klingsors Zaubergarten184 ins eigene Unbewusste. »Dies alles – hab’ ich nun geträumt?«, entfährt es ihm staunend nach dem Verschwinden der Blumenmädchen (53). Am Schluss des zweiten Aktes bringt er die Phantasiewelt dann mit den Worten »in Trauer und Trümmer / stürze die trügende Pracht!« zum Einsturz (65). Den Illusionscharakter von Klingsors Reich hebt Wagner dadurch hervor, dass er es mit atemberaubender Geschwindigkeit ins Nichts auflöst. »Wie durch ein Erdbeben versinkt das Schloß« (und nicht einfach »durch ein Erdbeben«), zugleich verdorrt der Garten »zur Einöde« (ebd.) und wird so in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt – schließlich schuf sich der Zauberer Klingsor seinen »Wonnegarten« aus der »Wüste« (18). Für die These, dass Parsifal im zweiten Akt mit seinem eigenen Unbewussten konfrontiert wird, spricht auch eine andere Beobachtung: Wie der Berg und das Meer bringt der Topos des Gartens in der Romantik die Tiefendimension des Sub-

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Im von Gurnemanz gesungenen Torenmotiv die kleine Terz G-B, in Kundrys Gesang die große Sekunde Ces-D. Auf die Bedeutung dieses Textes für Wagner, der aus ihm bekanntlich eine Oper machen wollte, wurde bereits in 3.4.2. hingewiesen. Vgl. dort die entsprechenden Ausführungen. Bereits in den Bergwerken zu Falun wird das Innere des Berges mit einem »Zaubergarten« verglichen (SäW 4, 215).

jekts sowie die Erkundung des eigenen Inneren zur literarischen Anschauung.185 In der Raumstruktur des Musikdramas nimmt Klingsors Welt die Rolle des Anderen ein, des Ausgeschlossenen, Bedrohlichen, aber auch Faszinierenden und Verführerischen. Aus dem Textbuch geht hervor, dass Wagner die Burg der Gralshüter »Monsalvat« in einer »Gegend im Charakter der nördlichen Gebirge des gotischen Spaniens« angesiedelt wissen wollte, Klingsors »Zauberschloß« dagegen »am Südabhange derselben Gebirge« (P, 5). Der Gegensatz von Höhe und Tiefe, Nord und Süd wird in der Erzählung Gurnemanz’ durch die Differenz Berg/Tal verstärkt. »Jenseits im Tale war er eingesiedelt«, heißt es dort über Klingsors Wohnort, »darüber hin liegt üpp’ges Heidenland« (18). Genau diese Beschreibung fließt in den »Zaubergarten« ein, der sich im zweiten Akt vor den Augen des Zuschauers auftut: »Tropische Vegetation, üppigste Blumenpracht« (45). Dieser geographischen Dichotomie fügt Wagner eine kulturelle hinzu, indem er den verwachsenen und undurchdringlichen Dschungel des »inneren Afrika«, als das Jean Paul das Reich des Unbewussten imaginierte, ins Arabische verlegt. So zeichnet er ein klares Gegenbild zu dem christlich-nördlichen Kulturraum, in dem er Montsalvat ansiedelt.186 Klingsors Zauberschloss ist »dem arabischen Spanien zugewandt« (5), es trägt Züge des »arabischen reichen Stiles« (45). Hier liegt der Konnex zwischen der Geschichte des Kollektivs und der des Individuums, zwischen Außen- und Innenraum. Denn Parsifals Ursprünge liegen in Arabien. Seinen Namen leitet Wagner in Anschluss an Joseph Görres aus dem Arabischen ab,187 das ist der Sinn von Kundrys »Dich nannt’ ich, tör’ger Reiner, / ›Fal Parsi‹, – / Dich, reinen Toren: ›Parsifal‹«. Sein Vater starb, wie Kundry berichtet, »in arab’schem Land« (54). Wie Elis Fröbom dringt Parsifal also in die Tiefen des eigenen Unbewussten ein. Die Bergwerke zu Falun nehmen dabei seine Begegnung mit Kundry bis ins Detail vorweg. Elis hört zunächst die Stimme seiner Mutter, die seinen Namen ruft, bevor er ein »holdes junges Weib« erblickt. Ebenso ergeht es Parsifal. Er ver-

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Hartmut Böhme hat anhand von Ludwig Tiecks Runenberg, Joseph von Eichendorffs Das Marmorbild und E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun die Topographie »romantischer Adoleszenzkrisen« herausgearbeitet. Er verweist dabei auf die grundlegende Dichotomie von Kultur- und Naturraum, wobei der letztere das Unbewusste, die »Trieb- und Wunschpotentiale« beherberge. »Das Drama der Sozialisation« werde »im Wechsel von Grenzüberschreitungen von einer Raumordnung in die andere, also im Muster der rites de passages und der Initiation« dargestellt. Böhme, Romantische Adoleszenzkrisen, S. 137f. Zum Berg als Topos des Unbewussten siehe auch 3.4.2. In einem Brief an Mathilde Wesendonck vom 30. Mai 1859 betont Wagner, dass die Gralssage ihren Ursprung im nicht-christlichen Kulturraum habe. Sie komme bereits »in den ersten Quellen, die man verfolgen kann, nämlich in den arabischen der spanischen Mauren, vor. Leider bemerkt man nämlich, dass alle unsre christlichen Sagen einen auswärtigen, heidnischen Ursprung haben.« (SB XI, 106, Hervorhebung im Original). Egon Voss weist im Nachwort seiner Ausgabe des Parsifal darauf hin, dass diese Etymologie falsch ist (P, 99f.).

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nimmt zunächst Kundrys »Parsifal! – Weile!«, bevor er sie wirklich sieht. Denn Kundry wird, wie in der Partitur vermerkt ist (T. 749–751), erst »allmählich sichtbar«. So wie sich die Stimme der Mutter für Elis in eine verführerische Frau transformiert, erscheint Kundry »in durchaus verwandelter Gestalt – auf einem Blumenlager, in leicht verhüllender, phantastischer Kleidung« natürlich »annähernd arabischen Stiles« (54). Wagner übernimmt von Hoffmann die Idee, dass sich die Entstehung von männlicher Identität als ein Medienwechsel beschreiben lässt, als ein fließender Übergang der mütterlichen Stimme, die dem zur Welt Gekommenen seinen Namen einhaucht, zur sexuellen Imagination des erwachsenen Mannes. So verschmelzen in Kundry Mutter und Geliebte zu einer Person.188 Dies ist möglich, weil sie eine proteische Gestalt ist, die als »Namenlose« (39) jede beliebige Identität annehmen kann: »Ur-Teufelin«, »Höllen-Rose«, »Herodias«, »Gundryggia« (ebd.).189 Und eben auch »Herzeleide«, Parsifals Mutter. Wie in der Walküre wird also auch in Wagners Spätwerk die Identität des Mannes durch die Stimme der Frau konstituiert. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass Kundry Parsifal nicht nur den Namen gibt, sondern ihm auch die Geschichte Herzeleides erzählt, die sie ihm im ersten Akt (24) nur andeutete:190 der Tod des Vaters Gamuret, die Geburt Parsifals, die Sorge Herzeleides um ihren Sohn, dessen Verschwinden und schließlich Herzeleides Tod. Wie im Holländer und der Walküre führt auch diese Erzählung zu einer Bewusstwerdung. Parsifal sinkt »furchtbar betroffen« und »schmerzlich überwältigt« zu Kundrys Füßen nieder und ruft: »Wehe! Wehe! Was tat ich? Wo war ich?« (56) Doch anders als in den vorhergehenden Werken kommt der Musik dabei keine anregende Funktion zu, sie schildert kein ZuTage-Treten unbewussten Wissens, sondern fließt »sehr mäßig und ruhig« dahin, nur hin und wieder »etwas belebend« (SW 14/II, T. 824ff.).

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Vgl. hierzu auch N. Wagner, Wagner-Theater, S. 58f. sowie Loos, Richard Wagner, S. 108–110. Die Forschung hat weitere Bezüge hergestellt. Dieter Borchmeyer vergleicht Kundry mit Lilith, der nach jüdischer Legende ersten Frau Adams, sowie mit Helena, die zum Gefolge des sagenhaften Häretikers Simon Magus gehörte. Die wichtigste Präfiguration erkennt er aber in Ahasver, dem ewigen Juden (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 313– 324). Carl Dahlhaus verweist zusätzlich auf »die Orgeluse des Wolframschen Epos« (Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 219), Egon Voss auf die »Verführerin in Barlaam und Josaphat von Rudolf von Ems« (P, 102). Dabei kommt es zu einer erstaunlichen Verschränkung: Kundry ist Parsifals Mutter und spricht zugleich über sie. Sie berichtet von dem »Küssen« und »Kosen« Herzeleides und davon, wie der Arm der Mutter Parsifal »umschlang« – um dann selbst »traulich ihren Arm um seinen Nacken« zu schlingen. Den Kuss, den sie ihm kurz darauf gibt, bezeichnet sie als »Muttersegens letzten Gruß« (P, 55ff.). Wagner beabsichtigte zunächst, im ersten und zweiten Akt zwei verschiedene Frauengestalten auftreten zu lassen. Am 10. August 1860 schreibt er an Mathilde Wesendonck: »Sagte ich Ihnen schon einmal, dass die fabelhaft wilde Gralsbotin ein und dasselbe Wesen mit dem verführerischen Weibe des zweiten Actes sein soll? Seitdem mir diess aufgegangen, ist mir fast alles an diesem Stoffe klar geworden.« (SB XII, 237).

Abb. 10: Beginn von Kundrys Erzählung (SW 14/II, T. 824-828).

Wagner schreibt keine in Harmonik, Dynamik und Tempo aufsteigende Komposition mit einem Ausgangs- und Zielpunkt, sondern bringt den Tonsatz in eine Logik regelmäßiger Wiederholung. Dies deutet sich bereits in der strophischen Gliederung an, der die Erzählung folgt; sie gleicht einem Lied, das in Paar- und Kreuzreime gefasst ist. Betrachtet man die Gesangslinie, vertont Wagner die ersten sechs Zeilen des Librettos in vierzehn Takten: zwei Dreitaktgruppen, gefolgt von zweimal zwei Takten und einer abschließenden Viertaktgruppe. Nach jeder Zeile setzt er eine Pause, was die Gliederung noch klarer erscheinen lässt. Eingerahmt wird dieser Beginn von einem G-Dur-Akkord in Grundstellung in den Takten 825 und 840, dessen Klangbereich durch ein Anspielen der Subdominante und Dominante in den ersten und letzten Takten nicht verlassen wird. Diesem Schema folgt Wagner dann, unter leichten Abweichungen, bei der Vertonung der nächsten sechs Zeilen. Natürlich sollte man die Herzeleide-Erzählung nicht auf eine Rückkehr zur Quadratur des Tonsatzes reduzieren, zumal die Komposition der folgenden Verse um einiges komplexer und variantenreicher ist. Aber es ist eindeutig, dass Wagner dem Tonsatz ein Fundament zu geben versucht, das diesen so sicher trägt wie der Streichersatz den Gesang Kundrys. Diese Struktur wird jedoch nur geschaffen, um ihre Auflösung inszenieren zu können. Dass Wagner die Kunst des Überganges im Parsifal zu ihrem Höhepunkt führt, ist oft hervorgehoben worden. So etwa von Werner Breig, der auf die Überwindung der Szeneneinteilung und ihrer Zäsuren sowie die Verschmel311

zung der verschiedenen Kompositionsstile und Reimformen der Vorgängerwerke hinweist.191 Dabei gelingt es Wagner, wie wiederum Carl Dahlhaus betont, »in einer unendlichen Melodie, die für flüchtige Hörer ins Amorphe zerfließt, Form – als Gliederung und Konnex – herzustellen.« Für Dahlhaus besteht diese darin, dass »sprachlich-syntaktische und »musikalisch-formale Zäsuren« durch ein »wiederkehrendes, übergreifendes Motiv« zusammengehalten werden.192 Man könnte, was die Erzählung Kundrys betrifft, diesen kompositorischen Zusammenhang von Herstellung und gleichzeitiger Auflösung von Struktur auch anders formulieren. In ihr zeichnen die Zäsuren eine Form, die von Ligaturen, Echoeffekten, Überschneidungen und Überlagerungen verzerrt wird. Die Streicher setzen einen Takt früher als Kundry ein (T. 825f.), fallen ihr aber, als diese ihren Vers beendet, mit einer neuen Phrase ins Wort (839). Immer wieder übertönt das Orchester Kundrys Pausen, Wagner setzt die Holzbläser nicht selten zu genau diesem Zwecke ein (858, 865). Die Melodiebögen gehen ineinander über, End- und Anfangsnoten fallen zusammen (828, 843). Wagner stellt Zeitgefühl her, um es aufzuheben. Und Zeitlosigkeit ist, wie die Romantiker und Schopenhauer einhellig betonen, das Signum des Unbewussten.193 Daraus folgt, dass Text und Musik auseinander fallen: Die schmerzhafte Bewusstwerdung, die Kundrys Worte auslösen, versucht die Musik zu heilen, indem sie Parsifal in den Strom des Unbewussten, dem er eben erst entstieg, zurückzulocken versucht. So verwundert es nicht, dass Parsifal, obwohl ihm seine Schuld durch Kundrys Schilderungen ins Bewusstsein steigt, sich »immer tiefer sinken« lässt (P, 57). Weitet man von hier aus den Blick auf die Gesamtanlage des Musikdramas, so drängt sich der Schluss auf, dass sich in Parsifals Identität zwei kulturell determinierte Erzählungen überschneiden: Auf der einen Seite wird sein Schicksal von der männlichen Gralsgemeinschaft als Erfüllung einer Verheißung gelesen, durch die sie ihr Trauma zu heilen verhofft. Dem entgegen steht die Erzählung des Scheiterns einer engen, fast symbiotischen Beziehung des Sohnes zur Mutter. Diese ist der Männerwelt explizit entgegenstellt, Herzeleide will Parsifal vor »der Männer Kampf und Wüten« (55) beschützen.194 Doch der Sohn wendet sich von der Mutter ab und den Rittern zu. Im ersten Akt schildert Parsifal den Grund für seinen Aufbruch in die Welt wie folgt: Er habe Krieger beobachtet, die »am Waldessaume« vorbeiritten, und »auf schönen Tieren« saßen: »Ihnen wollt’ ich gleichen« (25). Auch wenn es die Mutter ist, die Parsifal seinen Namen einhaucht, steht sein Vater Gamuret am Ursprung der Identitätsbildung, da er den ungeborenen Sohn »mit

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Breig, Wagners kompositorisches Werk, S. 457–459. Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 221. Zum Motiv der Zeitenthobenheit im Parsifal und dem Einfluss Schopenhauers und der indischen Philosophie vgl. den Aufsatz von Ulrike Kienzle, Tönendes Nirvana. Von der Aufhebung der Zeit in Wagners »Tristan« und »Parsifal«. In: wagnerspectrum 3, H. 2, 2007, S. 35–54. Eine Stelle, die im Übrigen durch ihre Versform und Vertonung hervorgehoben wird.

diesem Namen sterbend grüßte.« (54) Die Herausbildung männlicher Identität ist im Parsifal somit der Konkurrenz unterworfen zwischen der regressiven Hinwendung zur Mutter und dem Eintritt in die patriarchale Welt von Ruhm und Ehre. Ein komplexes Psychogramm, das den modernen Gehalt dieses Musikdramas eindrucksvoll bezeugt. Man könnte die beiden großen Erzählungen, die in Parsifals Identität zusammenlaufen, auch anhand der Differenz von Außen und Innen beschreiben. Während Gurnemanz als Repräsentant der Gralsritter das Schicksal des Kollektivs im Auge behält, handelt das Zwiegespräch von Kundry und Parsifal in Klingsors Zaubergarten von der intimen Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn. Gurnemanz ist die kulturelle, Kundry die psychologische Erzählinstanz. Eine ähnliche Dichotomie von exogener und endogener Narration lässt sich nicht nur im Lohengrin beobachten, wo im ersten Akt Telramunds Erzählung mit der Traumerzählung Elsas konkurriert, sondern auch in Tristan und Isolde. Hier sind es die vermeintlichen Nebenfiguren Brangäne, Kurwenal und Marke, deren Erzählungen durch einen nach außen gerichteten Blick bestimmt sind und das gesellschaftlich Gegebene affirmieren. Man kann dabei an Brangänes Erzählung zu Beginn des zweiten Aufzuges denken, in der sie nicht nur berichtet, was zwischen den Akten geschehen ist, sondern Isolde auch vor dem Verräter Melot warnt (TuI, 45f.). Oder an Kurwenal, der zu Beginn des dritten Aktes dem soeben erwachten Tristan erzählt, wie dieser nach Kareol, in sein »Heimat-Land« (82), die »Burg der Väter« (80), zurückgekommen sei. Und schließlich an Markes langen Monolog am Schluss des zweiten Aktes, in dem er sein Schicksal und den Verrat Tristans schildert (72–74). Alle diese Erzählungen werden von Tristan und Isolde verworfen. »O wie du dich trügst!«, sagt Isolde zu Brangäne, schließlich sei Melot »Tristans treuster Freund« (46). Und Tristan erwidert Kurwenal: »Dünkt dich das, – ich weiß es anders« (82). Woraufhin er eine Geschichte entwirft, die die Wahrnehmung seines Dieners konterkariert. Er sei nicht in seiner Heimat angekommen, sondern aus ihr vertrieben worden. Er komme aus dem »Reich der Welten Nacht« (83), in welches er mit Isolde zurückkehren wolle. Schließlich verweigert er sogar seinem Ersatzvater Marke die Antwort auf die Frage nach dem Grund seiner Untreue. »Was du frägst, / das kannst du nie erfahren.« (74) Indem das Subjekt das von außen einströmende Wissen ablehnt, legt es zugleich die damit verbundene Identität ab. Wie diese im Falle Tristans narrativ hergestellt wird, zeigt Kurwenals Version der Vorgeschichte, die er in der zweiten Szene des ersten Aufzugs als Spottlied zum Besten gibt: Herr Morold zog / zu Meere her, / in Kornwall Zins zu haben; / ein Eiland schwimmt / auf ödem Meer, / da liegt er nun begraben: / sein Haupt doch hängt / im Iren-Land, / als Zins gezahlt / von Engeland. / Hei! unser Held Tristan! / Wie der Zins zahlen kann! (16)

Die Bezeichnung Tristans als Held, auf die dieses Lied hinausläuft, wird gesellschaftlich affirmiert: Als Brangäne die Vorhänge von Isoldes Gemach verschließt, um ihre Herrin vor der Schmach zu schützen, wiederholt »die ganze Mannschaft« des Schiffes »von außen« den Schluss des Liedes (ebd.). 313

Im Gegensatz zu allen anderen »Helden« Wagners verfügt Tristan über eine Identität, die vom Kollektiv anerkannt wird. Diese erscheint jedoch in nichts erstrebenswert: Wagner hat Kurwenals Spottverse in Textbuch und Partitur mit den Merkmalen des Konventionellen versehen. Nicht nur Metrik und Reimform des Liedes, auch seine diatonische Gestaltung steht in krassem Kontrast zu der avancierten Harmonik, mit der Wagner die große Dialog-Szene des zweiten Aktes ausgestattet hat. In ihr entwerfen Tristan und Isolde eine große Gegenerzählung, die den Blick von außen durch die Innenperspektive erotischer Intimität ersetzt.195 Sie geben so der Handlung eine andere Deutung als die ihnen vorgegebene. Die äußere Handlung – Tristans Fahrt nach Irland, die Reichung des vermeintlichen Todestrankes – wird dabei konsequent psychologisiert. Das Geschehen spielt sich ganz im Inneren ab, doch die narrative Struktur wird beibehalten: Was mir so rühmlich / schien und hehr, / das rühmt’ ich hell / vor allem Heer: / vor allem Volke / pries ich laut / der Erde schönste Königs-Braut. / Dem Neid, den mir / der Tag erweckt, / dem Eifer, den / mein Glücke schreckt’, / der Mißgunst, die mir Ehren / und Ruhm begann zu schweren, / denen bot ich Trotz, / und treu beschloß, / um Ehr’ und Ruhm zu wahren, / nach Irland ich zu fahren. (56)

Die dialogisch strukturierte Erzählung Tristan und Isoldes bringt aber keine Individualität hervor, sondern hat deren Auflösung zum Ziel. Sie endet nicht mit der Bewusstwerdung des Unbewussten, der Erinnerung, sondern dem »Vergessen« (60). »Namenlos in Lieb’ umfangen« wollen sie »ganz uns selbst gegeben« nur der Liebe leben (65). Das Moment der »Verweigerung der Identität«, das aus dem Impuls einer Ablehnung gesellschaftlicher Normen entsteht und sich in Hoffmanns Prosa vorgebildet findet, eignet auch dem Tristan. Dennoch ist die Idee einer Bewusstwerdung aus Anamnese nicht vollständig verblasst.196 Der berühmte Fieber-Monolog Tristans gibt davon Zeugnis. Es ist aufschlussreich, ihn als Erzählung zu lesen, in der das Individuum sein Schicksal

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Die narrative Strukturierung des Dialoges setzt in Vers 1060 ein, als Isolde mit den Worten »War’s nicht der Tag, / der aus ihm log, / als er nach Irland / werbend zog« (TuI, 54) das Gespräch auf die zurückliegenden Ereignisse lenkt. Jörg Krämer weist darauf hin, dass Wagner im Tristan »die Erinnerung der Figuren zur zentralen Kategorie des Werks« entwickelt habe. Dies sei nur teilweise auf die Umarbeitung des Epos in ein Musikdrama und die daraus resultierende »Bedeutung von Rückblenden« zurückzuführen. Der Anteil der Erinnerungen sei »erheblich höher als der der ›eigentlichen‹ Handlung«, so Krämer. »Jeder Akt enthält enorm ausgeweitete Zeiträume der Memoria […]. Die zentralen Figuren ziehen sich permanent aus der präsentischen Außenwelt in eine von Erinnerung geprägte Innenwelt mit eigenen Erkenntniswegen und -formen zurück.« (Krämer, Wagners Rhetorik, S. 624) Dies gelte auch für den dritten Akt, in dem die »Erinnerungspartikel« anders als im ersten Akt nicht mehr von Isolde, sondern von Tristan vorgebracht würden. »Während sein Leben zu Ende geht, greift seine Erinnerung zurück bis zu seiner Geburt. Zugleich wird auch die gemeinsame Geschichte mit Isolde noch einmal in der Erinnerung hervorgerufen […]. Das Erinnern wird zum emotionalen Wiedererleben.« (ebd., S. 628).

narrativ zu deuten versucht. Ausgelöst durch das Erklingen der Hirtenweise, setzt der Monolog mit der Erinnerung an die Kindheit ein (vgl. 3.4.2.). Dann erzählt er von Tristans Überfahrt nach Irland und den vergeblichen Versuchen Isoldes, Tristan mit dem Schwert und dem Trank zu töten. Soweit die Handlung, wie sie sich als lineare Ereignisfolge in der Zeit darstellt. Entscheidend dabei ist nun aber, dass Tristan sie als Konsequenz seines Kindheitstraumas interpretiert und seiner Lebensgeschichte damit Sinn zu geben versucht.197 Seine Frage, »zu welchem Los erkoren / ich damals wohl geboren« (89), erhält am Ende des Monologes eine Antwort. Sein Ich wird, wenn auch als ein traumatisiertes, erfahrbar: Den furchtbaren Trank, / der der Qual mich vertraut, / ich selbst, ich selbst – / ich hab’ ihn gebraut! / Aus Vaters-Not / und Mutter-Weh, aus Liebestränen / eh und je […] / hab’ ich des Trankes / Gifte gefunden! (91)

Die Analyse anamnetischer Erzählszenen in Richard Wagners Musikdramen zeigt somit verschiedene Facetten männlicher Identitätsbildung. Zum einen die Formung durch den Vater (Siegmund) bzw. durch die von Männern dominierte Gesellschaft (Parsifal), deren Verweigerung der Tristan thematisiert. Zum anderen aber die Abhängigkeit von der Frau, die als Schwester, Mutter oder Geliebte mit dem Jüngling in einen intimen Dialog tritt und so eine mal stützende (Sieglinde, Brünnhilde), mal konkurrierende Erzählung (Kundry, Isolde) zu der vom patriarchalen Kollektiv vorgegebenen Narration schafft.

5.5.

Individualität und Dynamik in Oper und Drama

Es ist unbestreitbar, dass sich in Wagners Musikdramen im Vergleich zur Operntradition die Erzählszenen stark häufen. Damit einher geht eine Neubestimmung des Verhältnisses von Wort und Musik. Sie erwächst bei Wagner aus der Praxis und ist, wie gezeigt wurde, bereits im Holländer zu beobachten. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit Wagner die eigenen Innovationen in seinen theoretischen Schriften reflektiert bzw. vorbereitet hat. Besonders Oper und Drama ist dabei von Interesse, weil es die am weitesten ausgreifenden und komplexesten Überlegungen zur Intermedialität des Musikdramas bietet. Das dritte Kapitel hat gezeigt, dass Wagner in seiner ästhetischen Hauptschrift einem triadisch-dialektischen Modell folgt, dem zufolge die Sprache (bewusst) der Musik (unbewusst) entspringt und, zu ihr zurückkehrend, die Worttonsprache erzeugt. Dabei geht Wagner davon aus, dass sich die reine »Wortsprache«

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Unbedingt ist Jörg Krämer deshalb zuzustimmen, wenn er schreibt: »Die Aufwertung der erinnernden Rückblenden, die nicht auf Reflexion und Lösung, sondern auf emotionales Wieder-Erleben zielen, zum eigentlichen Raum des Werks resultiert aus einem veränderten Begriff menschlicher Subjektivität.« (ebd., S. 637).

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dem abstrakten Verstand zu- und vom unmittelbaren Gefühl abwendet. Sie sei eine »nur noch schildernde, vermittelnde« (OuD, 207). Vor diesem Hintergrund ist seine gattungstheoretische Abwertung des Epos198 gegenüber dem Drama zu sehen.199 Bereits in Das Kunstwerk der Zukunft schreibt er, reine Literatur, die nicht zur dramatischen Darstellung gelange, folge einzig »dem Drange nach ersetzender Schilderung, nach künstlich vergegenständlichender Beschreibung« (SSD III, 106). »Das wirkliche Kunstwerk« erzeuge sich dagegen »nur durch den Fortschritt

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Wagner nimmt in Oper und Drama keine Defi nition der Begriffe Epos oder Roman vor. Das Epos des Mittelalters nennt er »das erzählende Gedicht« (OuD, 133), spricht dann aber kurz darauf, ohne genauere historische Einordnung, vom »Roman« (135). Wie Dieter Borchmeyer gezeigt hat, ist Wagners Bild des Romans »weit stärker vom englisch-französischen Roman des 19. Jahrhunderts als von der spezifi sch deutschen Tradition des Bildungsromans geprägt«. Wagner hat Honoré de Balzac und Walter Scott, wie aus Cosimas Tagebüchern hervorgeht, mit großer Begeisterung gelesen. Vgl. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 141f. Bereits Thomas Mann verglich den Ring des Nibelungen mit Emile Zolas Rougon-Macquarts. Vgl. Vaget, Im Schatten Wagners, S. 88. Nicht nur in Oper und Drama hat Wagner betont, wie gering er die Epen des Mittelalters schätzte. Sie waren für ihn bloße Stoffvorlagen ohne großen künstlerischen Wert. Als er im Mai 1859 die Parzival-Übersetzung von San Marte liest, schreibt er an Mathilde Wesendonck: »Wirklich, man muss nur einen solchen Stoff aus den ächten Zügen der Sage sich selbst so innig belebt haben, wie ich diess jetzt mit dieser Gralssage that, und dann einmal schnell übersehen, wie so ein Dichter, wie Wolfram, sich dasselbe darstellte, […] um sogleich von der Unfähigkeit des Dichters schroff abgestossen zu werden.« Und er fügt an: »Schon mit dem Gottfried v. Strassburg ging mir’s in Bezug auf Tristan so« (SB XI, 106). An diesem Urteil hatte sich auch zwanzig Jahre später nichts geändert. Im Sommer 1879 notiert Cosima den Ausspruch Wagners, sein Parsifal habe mit Wolframs Werk »eigentlich gar nichts« zu tun, »wie er das Epos gelesen, habe er sich zuerst gesagt, damit ist nichts zu tun« (CT II, 369). In diesem Sinne heißt es in seiner ästhetischen Hauptschrift, die Dichter der früheren Zeit hätten »sich zu den ausschweifendsten Kombinationen von Vorfällen und Lokalitäten« hinreißen lassen. Der Mensch des Mittelalters »zerstreute sich gewissermaßen nach innen durch willigstes Erfassen alles von der Außenwelt ihm Vorgeführten« (OuD 134). Wie die Forschung gezeigt hat, wurde Wagners Urteil von der Poetik des Aristoteles und dem Briefwechsel Goethes und Schillers beeinflusst. Jener hob bereits die »Handlungsvielfalt« (›Polymython‹) des Epos hervor (Aristoteles, Poetik, S. 59). Weil dessen mimetische Technik »weniger eine Einheit« bilde, sei ihm die Tragödie überlegen (ebd., S. 97). Vgl. hierzu Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 131. Noch größeren Einfluss auf Wagner hatte die Gattungstheorie, die Goethe und Schiller in ihrem Briefwechsel diskutierten. In der Forschung wurde in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Wagner mit der darin enthaltenen Idee vertraut war, dass das Epische als kontemplative Schau, das Dramatische dagegen als unmittelbare, sinnliche Vergegenwärtigung zu verstehen sei. Dies zeigt Brinkmann, Szenische Epik, S. 90–96, aber auch Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 133. Letzterer weist dabei auf eine Parallele zwischen Schillers Ästhetischen Briefen und Wagners Gattungstheorie hin (ebd., S. 139f.). Vgl. zum Einfluss von Goethes und Schillers Briefwechsel auf Wagner auch Ingenhoff, Drama oder Epos?, S. 74–79.

aus der Einbildung in die Wirklichkeit, das ist: Sinnlichkeit« (OuD, 128). Lessings Laokoon verwirft er, da dieser unter Dichtkunst nicht »das unmittelbar zur Anschauung gebrachte, sinnlich dargestellte dramatische Kunstwerk« verstehe, sondern nur dessen »Todesschatten«: »das erzählende, schildernde, nicht an die Sinne, sondern an die Einbildungskraft sich kundgebende Literaturgedicht« (127). Das Ziel aller Dichtung ist für Wagner stattdessen die »Gefühlswerdung des Verstandes«. Nicht umsonst hält Wagner apodiktisch fest, dass im Kunstwerk »nichts mehr dem kombinierenden Verstande aufzusuchen übrigbleiben« dürfe (215). Um dies zu erreichen, müsse der Dichter die zunächst nur an den Verstand sich wendende, abstrakte und schildernde Sprache der modernen Prosa überwinden. Denn: »Unser Gefühl, das sich in der ursprünglichsten Sprache unbewußt ganz von selbst ausdrückte, können wir in dieser Sprache nur beschreiben.« (238) Diese muss deshalb wieder musikalisiert, zum Stabreim gemacht werden. Nur durch ihren »Erguß« in die »Tonsprache« (230) könne sie wieder rein unmittelbar auf die Sinne und das Gefühl wirken. Wagner betont ausdrücklich, dass die Wortsprache des Musikdramas »unwillkürlich verständlich« sein müsse (355). Es ist erstaunlich, wie entschieden Wagner die in seinen Augen bloß schildernde Sprache der narrativen Dichtung in Oper und Drama verwirft und dann in den Ring des Nibelungen derart ausführliche Erzählszenen einbaut. Sein Bemühen, den Stabreim als einzig gültige Sprache des Musikdramas zu rechtfertigen, verstellt ihm den Blick auf seine eigene dichterische Praxis. Dies scheint auch auf die WagnerRezeption Friedrich Nietzsches zuzutreffen, der in Richard Wagner in Bayreuth die Befürchtung äußerte, dass die moderne Wortsprache »in uns den theoretischen Menschen aufweckt und dadurch uns in eine unmythische Sphäre hinüberhebt«. Nietzsche verstieg sich sogar zu der Behauptung, Wagner habe die Sprache in einen »Urzustand« zurückgezwungen, »wo sie fast noch Nichts in Begriffen denkt«.200 Doch bei genauerem Hinsehen war die Sprachtheorie, die Nietzsche in seinem Frühwerk unter dem Einfluss Richard Wagners entwickelte, differenzierter. In Die Geburt der Tragödie unterscheidet er die dionysische »Lyrik des Chores« und die »apollinische Bestimmtheit und Helligkeit« des Bühnendialoges. Die Sprache kann also entweder musikalisch oder imaginativ wirken, wobei Nietzsche das Epos der apollinischen Tradition zurechnet. Dionysos spreche auf der Bühne »als epischer Held, fast mit der Sprache Homers«.201 Aber die Sprache dürfe auf keinen Fall zur reinen Verstandessprache werden: Die sokratische Reflexion und Grübelei, die mit Euripides in die griechische Dramatik gelange, markiert für Nietzsche das Ende der wahren, aeschyleischen Tragödie.202

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Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 486. Ebd., S. 64f. Ebd., S. 80f. Den Einfluss Wagners auf Nietzsches Begriffspaar dionysisch-apollinisch hat Dieter Borchmeyer nachgezeichnet. Vgl. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 159–163.

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Mit dieser klaren Trennung der episch-apollinischen von der theoretisch-sokratischen Sprache bringt Nietzsche auf den Begriff, was sich in Oper und Drama bereits andeutet. Denn auch Wagner ist sich bewusst, dass die Musik, auf sich allein gestellt, als Ausdrucksmittel ins Leere läuft.203 Sie bliebe vage und unbestimmt und damit für das Drama, das doch der Absicht des Dichters unterstellt sein soll, ohne Wert – Wagners Skepsis gegenüber der ›absoluten Musik‹ hat hier ihren Ursprung. Er wird deshalb nicht müde zu wiederholen, dass im Musikdrama die von der »Tonsprache« erzeugten Empfindungen von der »Wortsprache« bestimmt bzw. »gerechtfertigt« werden müssten. Durch den »rein musikalischen Ausdruck« könne »das Gefühl wohl vollständig angeregt, nicht aber bestimmt werden« (OuD, 358). Die »dramatische Person« müsse im Musikdrama so sprechen, »daß sie die in uns angeregte Empfindung zu bestimmen vermag«. Die Sprache ist »der Verständlicher«,204 aber zugleich auch der »Teilhaber der angeregten Empfindung«; sie muss mit der Musik »verschmolzen« werden, ohne aufhören, Sprache zu sein (354f.). Um zu verstehen, wie sich Wagner diese »Bestimmung« des Gefühls durch die Sprache vorstellt, ist folgendes Zitat aufschlussreich: Unsre allgemein angeregte Empfindung bestimmt sich nur dadurch, daß ihr ein fester Punkt gegeben wird, um welchen sie sich als menschliches Mitgefühl sammeln, und an welchem sie zur besonderen Teilnahme an diesem einen, in dieser bestimmten Lebenslage befindlichen, von dieser Umgebung beeinflußten, von diesem Willen beseelten und in diesem Vorhaben begriffenen Menschen sich verdichten kann. Diese, dem Gefühle notwendigen Bedingungen der Kundgebung einer Individualität können überzeugend nur in der Wortsprache dargelegt werden […]. (ebd.)

Damit setzt Wagner das intermediale Wechselspiel von Wort und Musik im Musiktheater mit der Herausbildung von Individualität in Verbindung. Der Übergang des Unbewussten zum Bewusstsein ist nicht nur ein Übergang vom Ton in

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Aus diesem Grund greift eine Interpretation, die das »mythisch-musikalische Denken Wagners und Nietzsches« als »Zeugnis einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Sprache als Vermittlerin von Wahrheit« bezeichnet, zu kurz (Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 236). Es gibt keine eindeutige Definition von »Sprache« bei Wagner und Nietzsche. Dese differenziert sich vielmehr in verschiedene Sprachen, bei denen jeweils die musikalischen, imaginativen oder reflexiven Eigenschaften hervorgehoben werden. Kienzle beruft sich hier auf Schopenhauer, für den die Sprache, »wie Vernunft und Verstand, ein Werkzeug des Individuums im Kampf der Objektivationen des Willens untereinander« sei (ebd.). Dies bezieht sich bei Schopenhauer aber auf die abstrakte Begriffssprache. Ihr gegenüber betont er den Wert der anschaulichen Sprache der Poesie und des Epos: In ihr führe der Begriff zur Anschauung, die nun »die Phantasie des Hörers übernehmen muß.« Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 336f. Das Grimmsche Wörterbuch definiert das Lexem »Verständiger« wie folgt: »ungebräuchliches subst. zu verständigen; einer, der mittheilungen macht, der alles hinterbringt: allenthalben aber fanden sie durch die allgemeinheit ihrer sprache helfer, späher, verständiger, einrichter«. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 33 Bde., München 1999, Bd. 25, Sp. 1583.

die Sprache, sondern auch vom amorphen Gefühl zum individuellen Bewusstsein. Entscheidend ist dabei, dass für Wagner diese Bestimmung der Individualität durch Sprache nicht auf deren begrifflichen Abstraktionsvermögen, sondern auf deren Bildlichkeit beruht. Er führt deshalb den Begriff der »Physiognomie« in seine Theorie ein. Da das Drama »ein immer neuer und neu sich gestaltender Leib« sei und die »nie gleiche Individualität der Menschen und Umstände« durch »gegenseitige Berührung eine immer neue Physiognomie« erhalte, habe sich das Drama, »jener Individualität entsprechend, immer anders und neu zu gestalten« (356). Dazu passen auch Wagners Ausführungen zur »Versmelodie«, die für ihn die höchste Synthese von Wort und Musik darstellt und als solche die »getragene und tragende Individualität« (360) repräsentiert. »In ihr wird der dichterische Gedanke zum unwillkürlich ergreifenden Gefühlsmomente, wie das musikalische Gefühlsvermögen in ihr die Fähigkeit gewinnt, sich bestimmt und überzeugend, als scharf begrenzte, zu plastischer Individualität gestaltete, menschliche Erscheinung kundzugeben.« (293) Genau in diesem Sinne deutet Friedrich Nietzsche in der Geburt der Tragödie den Übergang von der dionysischen Musik in die apollinisch-bildliche Darstellung als ein Entstehen der Individualität. Dionysus »erscheint«, angeregt vom Gesang des Chores, auf der Bühne »in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt«. So ähnelt er »einem irrenden strebenden leidenden Individuum«.205 Die Entstehung des Individuums im Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein findet also eine mediale Entsprechung, und zwar im Übergang von der Musik in eine Sprache, die allein auf ihrer Imaginationskraft beruht und von abstrakten Inhalten befreit sein soll. Nun ist aber in diesem Modell ein wichtiges Moment noch nicht erfasst, das für die narrative Herstellung von Individualität entscheidend ist: die Zeit. In Wagners Musikdramen setzen die Erzählungen einen Prozess der Bewusstwerdung in Gang, der vom Wort getragen und den Leitmotiven begleitet wird. Warum sie das tun, zeigt ein zentraler Satz aus Oper und Drama: »Die richtige Erkenntnis ist Wiedererkennung, wie das richtige Bewußtsein Wissen von unserem Unbewußtsein« (OuD, 213). Abermals begegnet man hier Platons Theorie der Anamnesis, der Wiedererinnerung. Ohne sie lässt sich Wagners Werk nicht verstehen. Sie basiert bei Platon, wie das vierte Kapitel gezeigt hat, auf Anschauung und Bildlichkeit. Aber sie lässt sich auch auf das Phänomen der Erzählung übertragen und als Rekonstruktion vergangener Ereignisse verstehen, die über den Umweg der Narration wiedererinnert werden. Damit ein Ereignis wiedererinnert werden kann, muss es zuvor vergessen worden sein. Deshalb kann das Drama nicht permanent in der Darstellung von gegenwärtiger Unmittelbarkeit verbleiben, sondern muss einen Umweg über die mittelbare Schilderung vergangener Ereignisse nehmen – also über Sprache und

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Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 72.

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Erzählung.206 Es gibt eine Stelle in Oper und Drama, die diesen Zusammenhang erahnen lässt. In Bezug auf die Konzeption des Dramas durch den Dichter heißt es: Die Momente, in denen sich der Mensch so wahrhaftig kundgibt, sind aber nur die der vollkommensten Ruhe oder der höchsten Erregtheit: was zwischen diesen beiden äußersten Punkten liegt, sind die Übergänge, die ganz in dem Grade nur von der aufrichtigen Leidenschaft bestimmt werden, als sie sich ihrer höchsten Erregtheit nähern oder von dieser Erregtheit sich wieder einer harmonisch versöhnten Ruhe zuwenden. Diese Übergänge bestehen aus einer Mischung willkürlicher, reflektierter Willenstätigkeit und unbewußter, notwendiger Empfindung: die Bestimmung solcher Übergänge nach der notwendigen Richtung der unwillkürlichen Empfindung hin, und zwar mit unerläßlichem Fortschritte zur Ausmündung in die wahre, vom reflektierenden Verstande nicht mehr bedingte und gehemmte Empfindung, ist der Inhalt der dichterischen Absicht im Drama. (337)

Genau diese mählich sich steigernde Bewusstwerdung des Unbewussten ist es, die die Erzählungen von Wagners Musikdramen in Szene setzen. Sie führen die Figuren von halb unbewussten, halb bewussten Zuständen in die höchste Erregtheit. Am Ende von Eriks Traum- oder Sieglindes Wotan-Erzählung steht die Ekstase, in der die Selbsterkenntnis des Subjekts an ihr Ziel kommt, das Bewusstsein aber zugleich in einem Gefühlsrausch unterzugehen droht. Auch in Wagners Kunstschriften wird also deutlich, warum er die Warnungen von erfahrenen Theaterpraktikern207 in den Wind geschlagen und die epischen Stellen im Ring nicht gestrichen208 hat: Nur so konnte er die Bewusstwerdung des Unbewussten als anamnetische Entstehung des Ich inszenieren. Damit definierte er zugleich das Formprinzip des Musiktheaters neu: Nicht mehr das Wechselspiel von Rezitativ und Arie bestimmt deren Struktur, sondern das von Erzählung und ekstatischem Gefühlsausbruch. Nun hatten bereits Wagners Vorgänger die Möglichkeit ausgelotet, im Musiktheater nicht nur statische Gefühle, sondern auch deren Entstehung darzustellen. Bestes Beispiel hierfür ist die Bildnis-Arie des Tamino in Mozarts Zauberflöte. Wie Jörg Krämer gezeigt hat,

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Es reicht in diesem Fall nicht aus, die Feuerbachsche Idee heranzuziehen, dass einzig die Liebe zwischen Gefühl und Verstand vermitteln könne. Dies tut Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 187. Denn wie die Vermittlung von Gefühl und Verstand, also Bild/Musik und Wort in der konkreten musikdramatischen Praxis aussehen soll, ist mit diesem abstrakten Konzept nicht zu beantworten. Bermbach übersieht, dass es im Musiktheater immer auch um die Konkurrenz verschiedener Medien geht und dass Wagner diese in seinen Kunstschriften sehr ausführlich reflektiert hat. Reinhold Brinkmann geht in diesem Zusammenhang auf die Rolle des Schauspielers, Sängers und Regisseurs Eduard Devrients ein, der Wagner als erster habe merken lassen, dass seine Ring-Dichtung für die Aufführung zu episch geraten sein könnte. Vgl. Brinkmann, Szenische Epik, S. 89f. Carolyn Abbate weist darauf hin, dass Wagner die epischen Stellen während der Entstehung des Librettos nicht nur beibehalten, sondern sogar erweitert hat. Vgl. Abbate, Unsung Voices, S. 161.

wird in dieser die Liebe als ein Prozess gedeutet.209 Die Gefühle für den anderen sind nicht schon gegeben, sondern werden erst erzeugt – womit Mozart einer neuen Idee von Emotionalität folgt. Tamino wird sich seiner Gefühle für Pamina erst im Verlauf der Arie bewusst. Voraussetzung für diese Dynamisierung ist, dass Tamino zu Beginn der Oper über keinen festen Platz in der Gesellschaft verfügt. Er hat seine »Herkunftsfamilie« verloren, »ist in der Fremde verirrt und fällt zu Beginn des Stücks in Ohnmacht«. Auch kehrt er »nicht mehr in seine Heimat zurück, sondern fängt – in fremdem Raum – neu an.«210 Doch nicht nur dieses Szenario deutet auf Wagner voraus, sondern auch die Tatsache, dass Mozart die traditionelle Arienform überwindet, um diesen sozialgeschichtlichen und anthropologischen Innovationen Ausdruck zu verleihen. Er verzichtet auf eine instrumentale Einleitung und Wiederholungen, auf Koloraturen und Virtuosität, damit die Verständlichkeit des entstehenden Gefühls gesichert wird.211 Auch Wagners kompositorische Innovationen haben einen anthropologischen Hintergrund, nämlich die in der Romantik virulent gewordene Dichotomie von Unbewusstem und Bewusstsein sowie die Konstruktion von Subjektivität durch Erzählung. Aus diesem Grund glaubte er das überlieferte Prinzip einer Aufteilung der Oper in Rezitativ und Arie überwinden zu müssen. Denn die narrative Bewusstwerdung des Unbewussten beruht, wie Wagner schreibt, auf »Übergängen«, die das dargestellte Gefühl verständlich werden lassen. Die Trennung in gesprochene Dialoge und Gesang erwies sich dabei als hinderlich. Wagner war überzeugt davon, dass die Unmittelbarkeit, die die Hinzunahme der Musik in der Arie suggerierte, unmotiviert erscheinen musste, wenn sie von den Worten des Rezitativs getrennt wurde. Die zeitgenössische Opernmusik, vor allem die Meyerbeers, war ihm »Wirkung ohne Ursache« (101). Dies sollen die Erzählszenen verhindern: Sie garantieren, wenn sie mit einer durchgehenden Auskomponierung des Librettos sowie dem Einsatz von Leitmotiven kombiniert werden, eben jene Erklärung und Vermittlung des Gefühls, die Wagner im Musiktheater seiner Vorgänger vermisste. Die Aufteilung der Oper in unterschiedliche, oft unvermittelt nebeneinander gesetzte ›Nummern‹ musste er deshalb überwinden. Wagners Definition der richtigen Erkenntnis als »Wiedererkennung« und des richtigen Wissens als »Wissen von unserem Unbewußtsein« beinhaltet einen weiteren wichtigen Aspekt. Denn Wissen ist für ihn immer an das Gefühl gebunden. »Im Drama müssen wir Wissende werden durch das Gefühl«, schreibt er in Oper und Drama (OuD, 216). Diese Definition verrät zweierlei. Erstens folgt sie nicht der scharfen Entgegensetzung von Wissen und Gefühl, die Schopenhauer vornimmt. Dieser bestimmt Wissen als »abstrakte Erkenntnis«, Gefühl dagegen als einen »ne-

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Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater, S. 550ff. Ebd., S. 553. Ebd., S. 561.

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gativen Inhalt«, der »nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntnis der Vernunft« sei.212 Zweitens setzt sich Wagner damit aber auch von einem idealistischen Bewusstwerdungsmodell Hegelscher Prägung ab, das an den Begriff gebunden ist. An dessen Stelle tritt bei Wagner, unter dem Einfluss des Jungen Deutschland und Feuerbachs,213 das »Gefühl«. Und das ist nichts anderes als das sinnlich erlebte Ereignis: »Die unmittelbarsten Empfängnisorgane des Gefühles« seien »die Sinne« (215). Das heißt nun aber nichts anderes, als dass das Unbewusste nicht mehr einen metaphysischen, sondern einen realen Ursprung hat. Platon hatte die Anamnesis noch als die Erinnerung an die unsterbliche Seele definiert, die an einem »überhimmlischen Ort« das »Seiende« geschaut habe, bevor sie in den Kerker des menschlichen Leibes geworfen wurde.214 Dass dieses Modell bereits vor Wagners Oper und Drama erweitert wurde, zeigt das Beispiel des romantischen Anthropologen Carl Gustav Carus. Er unterscheidet in seiner Schrift Psyche das »absolut Unbewußte« und das »relativ Unbewußte«. Während das erste die Seelenregion bezeichnet, in welche »kein Strahl des Bewußtseins dringt«, ist das zweite jener Bereich eines wirklich schon zum Bewußtsein gekommenen Seelenlebens, welcher jedoch für irgend eine Zeit jetzt wieder unbewußt geworden ist, immer jedoch auch wieder ins Bewußtsein zurückkehrt […].215

Zwischen den Veröffentlichungen von Psyche und Oper und Drama liegen gerade einmal fünf Jahre. Auch wenn Wagner Carus’ Buch wahrscheinlich nicht gelesen hat,216 so lässt sich doch ein Bezug zwischen beiden Werken herstellen. Sowohl

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Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 94f. Zum Einfluss des Jungen Deutschland (in Zusammenhang mit dem Tannhäuser) vgl. Borchmeyer, Richard Wagner, S. 169–179. Mit dem Einfluss Feuerbachs und des Frühsozialismus auf Wagners Zürcher Kunstschriften hat sich ausführlich und detailliert Udo Bermbach beschäftigt, so auch in Zusammenhang mit Wagners Begriff des Gefühls. Vgl. Bermbach, Der Wahn des Gesamtkunstwerks, S. 185–190. Siehe zum Begriff des Sinnlichen in den Kunstschriften und seiner Herleitung aus der Philosophie Feuerbachs auch Franke, Richard Wagners Zürcher Kunstschriften, S. 199–227. Platon, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 568–571. Vgl. hierzu ausführlich 4.4.1. Carus, Psyche, S. 66f. Die Unterscheidung von absolutem und relativem Unbewussten findet sich noch bei Eduard von Hartmann (siehe hierzu Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 297). Wagner hat sich übrigens – unter dem Eindruck der Philosophie Schopenhauers – abwertend über Hartmanns Buch geäußert. Ende Januar 1870 schreibt er an Friedrich Nietzsche, der ihn auf das Buch aufmerksam gemacht hatte: »Der Herr Hartmann scheint mir auch zu den Neuesten zu gehören; ich bin ganz unberechtigt ein Urtheil hier abzugeben, nur scheint es mir dass das was er von Schopenhauer stiehlt (er führt ihn meist nicht an) gut, und was er von sich hat schlecht ist. Auch scheint es mir ein wenig naiv zu behaupten, Sch[openhauer] wisse nichts von unbewussten Vorstellungen, während doch das ganze System auf solche (wie Zeit Raum u.s.w.) basirt.« Borchmeyer / Salaquarda (Hgg.), Nietzsche und Wagner, S. 54. Psyche wird weder in der Bibliographie der Dresdener noch der Wahnfried-Bibliothek angeführt und in Wagners Schriften mit keinem Wort erwähnt. Wagner hat den angesehenen Hofrat Carus jedoch aus seiner Dresdener Zeit gekannt, wie aus Bemerkungen

Carus als auch Wagner sprechen häufig vom ›Unbewusstsein‹ statt dem ›Unbewussten‹. Dieser Begriff verweist, so Ludger Lütkehaus, »sehr viel deutlicher als der hypostasierende, der Tendenz nach verdinglichende Begriff des ›Unbewußten‹ darauf, daß es hier nicht um eine isolierte, verselbständigte Sache, nicht um ein spezifisches Organ und auch nicht um ein geschlossenes System, sondern um eine prekäre seelische Verfassung, in Freuds Sinn um einen dynamischen seelischen Prozeß geht.«217 Dieser terminologische Umbruch ist vor dem Hintergrund der Medizingeschichte zu sehen. Henri F. Ellenberger unterscheidet für die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts das »geschlossene« vom »offenen« Seelenmodell. Nach dem ersten enthält das Unbewusste vor allem Dinge, »die zu irgendeiner Zeit einmal im Bewußtsein waren, vor allem vergessene Erinnerungen oder gelegentlich Erinnerungen und Eindrücke«. Das zweite sieht dagegen das Unbewusste »in Kommunikation mit einem außerindividuellen und geheimnisvollen Bereich.«218 Janet und Freud hätten mit einem geschlossenen, Jung dagegen mit einem offenen System gearbeitet, so Ellenberger. Auch Carus und Wagner gehen von der Ablagerung real erlebter Ereignisse in der Psyche aus und holen damit Platons Anamnesis vom Himmel auf die Erde – hier zeigt sich deutlich der Einfluss des dominanten Denksystems der Jahrhundertmitte, des Realismus. Der Dichter, schreibt Wagner, müsse eine »aus dem Leben selbst aufgenommene Erscheinung« zum Gegenstand wählen (OuD, 104). Seine Phantasie könne noch so weit ausschweifen, ihr Urbild könne sie »doch immer nur den Erscheinungen der wirklichen Welt entnehmen« (173). Das Vergangene ist für Wagner das sinnlich Erlebte, dieses lagert sich im Unbewusstsein ab und dringt von dort wieder ins Bewusstsein. Damit ist man bei jenem Modell angelangt, das den Ring des Nibelungen entscheidend geprägt hat.

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in seiner Autobiographie (ML, 484) und in Cosimas Tagebüchern hervorgeht (CT II, 458). Alles, was sich aus diesen Stellen schließen lässt, ist, dass Wagner Carus offenbar für eitel hielt. Ein Kuriosum der Wagner-Forschung ist allerdings, dass Wagners erster Biograph Carl Friedrich von Glasenapp von einer Tischgenossenschaft spricht, die sich im Januar 1873 zum Empfang Wagners in Dresden zusammenfand. Zu ihr gehörte angeblich auch der Hofrat Carus. Vgl. Friedrich Carl Glasenapp, Das Leben Richard Wagners in sechs Büchern dargestellt, Leipzig 1905, Bd. 5, S. 58. Und das, obwohl Carus 1869 das Zeitliche gesegnet hatte. Dieser Fehler findet sich noch bei Gregor-Dellin, der sich in seiner Darstellung offensichtlich auf Glasenapp stützt. Vgl. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 664. Lütkehaus, Tiefenphilosophie, S. 18. Lütkehaus erwähnt, dass der Lehrer Jean Pauls, Ernst Platner, als Ahnherr dieses Begriffs gelte, obwohl das historisch nicht ganz korrekt sei. Platner verwende den Begriff in seinen Philosophischen Aphorismen von 1776. Darüber hinaus zieht Lütkehaus eine Verbindung zu der angloamerikanischen Diskussion, die sich mit dem Begriff »Unconsciousness« von dem »Unbewußten« an sich abgrenzen wollte. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 214f.

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5.6.

Der Ring des Nibelungen als Familienroman

5.6.1.

Zum Gegensatz von Glauben und Wissen im Lohengrin

Eine Analyse des Rings muss mit Lohengrin beginnen. In diesem Musikdrama wird das System etabliert, das Wagner in seiner Tetralogie zu überwinden versucht. »Nie sollst du mich befragen, / noch Wissens Sorge tragen, / woher ich kam der Fahrt, / noch wie mein Nam’ und Art!« (L, 21) Das berühmte Frageverbot evoziert den engen Zusammenhang von Namen und Geschichte, um ihn zugleich auszuschließen. Es ist ein Erzählverbot. Die Anerkennung des Individuums soll ohne das Wissen vergangener Ereignisse, sondern allein aus dem Glauben konstruiert werden.219 Doch bereits die Musik des Frageverbotes unterläuft diese Absicht. Sie führt durch, was der Text verbietet: den Aufstieg unbewussten Wissens ins Bewusstsein. Die acht Takte sind in einen Vorder- und Nachsatz gegliedert, der nicht einer Wiederholungs-, sondern einer Entwicklungslogik folgt (SW 7/I, T. 777–784). Es ist eher ein Satz als eine Periode. Zwar wiederholen die ersten vier Takte auf einem von den Holzbläsern getragenen as-Moll-Akkord zweimal die aufsteigende Frageformel. Doch ab Takt 781 gerät der Tonsatz in Bewegung. Durch Modulation variiert Wagner die Harmonie und formt gleichzeitig aus dem amorphen Bläserklang eine melodische, differenzierte Stimmführung. Es entsteht das Bewusstsein von Zeitlichkeit. Am Ende des Satzes führt die Musik vom as-Moll ins As-Dur (T. 784), schafft also jene Aufhellung, die in Wagners Erzählszenen für die Bewusstwerdung des Unbewussten steht. Bei der folgenden Wiederholung des Frageverbots durch Lohengrin treibt Wagner die Widerlegung des Textes durch die Musik auf die Spitze: Der Tonsatz setzt nun einen Halbton höher, im a-Moll ein, um dann schließlich in Takt 796 auf A-Dur, der Lohengrin- und Grals-Tonart, zu schließen.220 Während Lohengrin seine Identität zu verheimlichen sucht, offenbart sie sich in der Musik. Die Krise Brabants, um die es im Lohengrin geht, lässt sich als Konfrontation zweier Modelle lesen: die allein durch Religion und Glauben sich definierende Gemeinschaft auf der einen und die moderne, auf Verzeitlichung und Wissen sich gründende Gesellschaft auf der anderen. Mit Lohengrin – ein »gottgesandter Held« (L, 18) – verbindet sich die Hoffnung auf eine numinose Legitimation von Herr-

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Ulrike Kienzle hat darauf hingewiesen, dass sich der Lohengrin auch als Gegensatz von Glauben und Zweifel lesen lässt. Der Glaube stehe für die Religion, der Zweifel für die philosophische Emanzipation und das Bedürfnis nach sinnlicher Wirklichkeit. Vgl. Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 103–119. Für die Frage nach der Konstitution von Identität ist aber der Gegensatz von Glauben und Wissen aufschlussreicher. Der ganze erste Akt ist als ein solcher tonartlicher Aufstieg vom As-Dur über A-Dur nach B-Dur konzipiert. Lohengrins Frageverbot ist eine der Stufen dieser Klangleiter.

schaft,221 die auf dem Misstrauen gegenüber einem Machtpolitiker wie Friedrich von Telramund beruht. Es spricht für Wagners dialektisches Bewusstsein, dass ausgerechnet Ortrud, die heidnische Zauberin und dunkle Magierin, zur unfreiwilligen Agentin jenes Wissens wird, das Lohengrin auszuschließen sich bemüht.222 Die »wilde Seherin« (32) ist diejenige, der sich das Unbewusste und Verborgene erschließt. Eine Fähigkeit, die Wagner mit der avanciertesten Musik des gesamten Musikdramas beschreibt: einer chromatischen Stimmführung, die auf das Schlafmotiv der Walküre vorausdeutet.223 Ortrud ist neben Lohengrin die einzige, die Zugang zu dem Wissen hat, das die Handlung steuert. Sie kennt das Geheimnis der Verzauberung Gottfrieds und ahnt, wie ihr Zwiegespräch mit Telramund vermuten lässt, die wahre Identität Lohengrins. Sie ist dessen dunkle Gegenspielerin,224 die anders als der Gralsritter das verbotene Wissen ans Tageslicht bringen will. Ortrud warnt Elsa, sie solle ihrem Glück nicht »blind« vertrauen: »Könntest du erfassen, / wie dessen Art so wundersam, / der nie dich möge so verlassen, / wie er durch Zauber zu dir kam!« Diesem Wunsch nach dem Erfassen und Begreifen setzt Elsa den Glauben entgegen: »Du hast wohl nie das Glück besessen, / das sich uns nur durch Glauben gibt!« (40) Doch Ortrud gibt nicht auf. In der großen StreitSzene des zweiten Aufzuges erinnert sie ihre Gegnerin Elsa daran, dass gesellschaftliche Anerkennung ohne den Namen nicht möglich ist: Wenn falsch Gericht mir den Gemahl verbannte, / war doch sein Nam’ im Lande hochgeehrt; / als aller Tugend Preis man ihn nur nannte, / gekannt, gefürchtet war sein tapfres Schwert. / Der deine, sag, wer sollte hier ihn kennen, / vermagst du selbst den Namen nicht zu nennen? (46)

Das zweite Argument Ortruds zielt auf die Zeitlichkeit der Identität. Elsa wisse von ihrem Helden nicht einmal, »woher die Fluten ihn zu dir getragen, / wann und wohin er wieder von dir fährt« (47). Obwohl das Kollektiv der Männer Lohengrin weiterhin Glauben schenkt: »wir glauben dir in Treuen, / daß hehr dein Nam’, auch wenn er nicht genannt« (53), regen sich in Elsa Zweifel. Diese gewinnen im dritten Akt die Oberhand. Elsa stellt Lohengrin die verbotenen Fragen und zwingt ihn so, in der ›Gralserzählung‹ seine Geschichte und an deren Schluss seinen Namen preiszugeben. »Vom Gral war ich zu euch daher gesandt: / mein Vater Parzival trägt

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Dass diese numinose Legitimierung von Herrschaft zugleich ein ästhetisches Element birgt, hat Udo Bermbach gezeigt. Vgl. Bermbach, »Blühendes Leid«, S. 129f. Ulrike Kienzle betont (und zeigt an der Komposition), dass Ortrud im Verlauf des Musikdramas zum »dramaturgischen Werkzeug des ›Zweifels‹« wird. Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 113. Die Rede ist von den Takten, die Friedrichs »Du wilde Seherin« begleiten (SW 7/II, T. 254ff.). Dazu Egon Voss: »Dem lichten A-Dur der Gralswelt ist das trübere fis-Moll der Sphäre Ortruds entgegengestellt, ein antipodischer Bezug, der darauf beruht, daß fis-Moll die Paralleltonart zu A-Dur ist. Ortruds Welt ist also nicht als das ganz Andere definiert, sondern bezogen auf Lohengrin und den Gral.« (L, 99).

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seine Krone, / sein Ritter ich – bin Lohengrin genannt.« (71) Das Modell der Identitätsbildung durch Narration wird, obwohl tragisch gewendet, letztlich affirmiert. Dadurch entfaltet das Musikdrama eine paradoxe Dramaturgie: Weil Lohengrins Identität im Verborgenen bleiben soll, wird sie zum heimlichen Zentrum und zum Zielpunkt der Handlung. Nicht umsonst versieht Wagner weite Teile der Gralserzählung mit der Musik des Vorspiels. Die Enthüllung der Identität erscheint so als Erfüllung einer nur geahnten Verheißung, der reine und fast schon numinose Klang, den der Zuhörer zu Beginn des Werkes vernimmt, wird am Schluss benannt. Das Ende erscheint deshalb ambivalent. Einerseits muss Lohengrin Brabant verlassen, weil Elsas Bedürfnis nach Wissen stärker ist als die Macht ihres Glaubens. Andererseits ist es ein magischer Akt, der die Rückkehr des legitimen Thronfolgers Gottfried ermöglicht. Lohengrin senkt sich »zu einem stummen Gebete feierlich auf die Kniee. Plötzlich erblickt er eine weiße Taube sich über dem Nachen senken: mit lebhafter Freude springt er auf, und löst dem Schwane die Kette, worauf dieser sogleich untertaucht: an seiner Stelle erscheint ein Jüngling – Gottfried.« Doch es ist nicht eindeutig, ob damit der Sieg der Religion über Wissen und Zweifel bezeichnet ist. Denn Gottfried ist ja anders als Lohengrin von dieser Welt, ein säkularer Herrscher, der über einen Namen verfügt: »Seht da den Herzog von Brabant! / Zum Führer sei er euch ernannt!« (75) Indem der Gralsritter die Bühne verlässt, nimmt er die alte Welt mit sich und macht Platz für eine neue, die der Knabe Gottfried repräsentiert. Doch genau in seiner Ambivalenz liegt die Qualität des Lohengrin, der wie kaum ein anderes Werk Wagners zwischen Glauben und Wissen, Romantik und Realismus, Oper und Musikdrama hin- und hergerissen ist. Die Faszination dieser schimmernden Zweideutigkeit verweist auf die Schlüsse der Kleistschen Dramen Prinz Friedrich von Homburg und Amphitryon. Wohl auch deshalb entfährt Elsa, bevor sie entseelt zu Boden sinkt, ein letztes »Ach!« (89) 5.6.2. Vom Unbewussten zum Unterbewussten: Zur Topologie des Rings Lohengrin überreicht Gottfried Horn, Schwert und Ring, jene Insignien, die auf den Ring des Nibelungen vorausweisen. Dort ist das Frage- und Erzählverbot endgültig außer Kraft gesetzt und es steht nun jenes Wissen im Zentrum, das Lohengrin erfolglos auszuschließen versuchte. Das Unbewusste ist nun nicht mehr ein entrücktes, numinoses Phänomen, sondern basiert auf realen Ereignissen, die durch Erzählungen rekonstruiert werden können. Von dieser Dynamisierung des Unbewussten und seines Wissens, die sich in Oper und Drama abzuzeichnen begann, zeugt schon die Semantisierung der Raumstruktur.225 Diese lässt sich in ein

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Man kann von der hier beschriebenen Semantisierung aber nicht darauf schließen, dass im Ring des Nibelungen eine Einheit des Raumes existierte. Vgl. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 36f.

Unten und Oben einteilen226 und macht so das verborgene und verdrängte Wissen topologisch sichtbar. Das Unbewusste wird im Ring zum Unterbewussten. Gleich zu Beginn des Rheingolds wird diese strukturelle Einteilung exponiert. Der beschriebene Bühnenraum ist »nach oben zu lichter, nach unten zu dunkler« gestaltet (R, 7). Mit ihrem »Traulich und treu / ist’s nur in der Tiefe: / falsch und feig / ist was dort oben sich freut!« (96) rufen die Rheintöchter diese Opposition abermals in Erinnerung. Ihr folgt auch die Segmentierung der Handlung: Die erste Szene des Rheingolds spielt in der Tiefe des Rheines, die zweite auf Bergeshöhen, in der dritten steigen Wotan und Alberich nach Nibelheim hinab, von wo aus sie in der vierten Szene wieder hinaufsteigen. Im Libretto des Rheingolds beschreibt Wagner ausführlich den räumlichen Übergang zwischen den Szenen, um die Unten-ObenOpposition sinnfällig zu machen.227 Das Rätselspiel zwischen Wotan und Mime im ersten Akt des Siegfried bestätigt diese topologische Einteilung. Diese wird aber auch innerhalb der Szenen sichtbar. So in dem Gespräch Alberichs mit den Rheintöchtern zu Beginn des Rheingolds: »Ihr da oben!«, »Was willst du da unten?« (R, 10) sowie zu Beginn der zweiten Szene, wo Walhall »auf einem Felsgipfel« (25) über den erwachenden Göttern thront. In den folgenden Teilen des Rings ist diese vertikale Aufteilung des Bühnenraums weniger offensichtlich. Es scheint, dass sich die Handlung nur noch auf die Mitte des Raumes konzentriert, weil sie die Höhen Walhalls und die Tiefen Nibelheims meidet.228 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass die Unten-ObenOpposition aufrecht erhalten bleibt. Im Nebentext zu Beginn des zweiten Aufzuges der Walküre zieht sich »von unten her eine Schlucht herauf«, die »im Hintergrund« liegt und vorne »auf ein erhöhtes Felsjoch mündet«. Von diesem »senkt sich der Boden dem Vordergrunde zu wieder abwärts.« (W, 34) Ganz ähnlich beschreibt Wagner den Raum des dritten Aufzuges: Über einer Höhle steigt der Fels »zu seiner

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Ähnliches lässt sich auch über die Topologie des Klangraums sagen, den Wagner im Ring aufbaut. Tobias Janz fasst die Diskussion der Musikwissenschaft der 70er Jahre zusammen und zeigt, dass diese eine duale Struktur ausgemacht habe, die sämtliche Bereiche der Komposition umfasse, also nicht nur »die bekannten Gegensatzpaare ›Chromatik‹ – ›Diatonik‹, ›Dur‹ – ›Moll‹«, sondern auch »Gegensätze wie ›reine‹ und ›gemischte‹ Farbe, ›normales‹ und ›charakteristisches‹ Register, ›komplexe‹ und ›einfache‹ Akkordfarbe«. Tobias Janz, Klangdramaturgie, S. 90. »In dichtester Finsternis verschwinden die Riffe; die ganze Bühne ist von der Höhe bis zur Tiefe von schwarzem Wassergewoge erfüllt, das eine Zeit lang immer noch abwärts zu sinken scheint. – Allmählich gehen die Wogen in Gewölke über, das sich nach und nach abklärt, und als es sich endlich, wie in feinem Nebel, gänzlich verliert, wird eine freie Gegend auf Bergeshöhen sichtbar.« (R, 25) »Der Schwefeldampf verdüstert sich bis zu ganz schwarzem Gewölk, welches von unten nach oben steigt; dann verwandelt sich dieses in festes, finsteres Steingeklüft, das sich immer aufwärts bewegt, so daß es den Anschein hat, als sänke die Szene immer tiefer in die Erde hinab.« (51). Dies vermutet Udo Bermbach. Der zwischen Göttern in der Höhe, Zwergen in der Tiefe und Riesen und Menschen in der Mitte aufgeteilte Handlungsraum verenge sich zunehmend auf die »Mitte« hin. Vgl. Bermbach, »Blühendes Leid«, S. 184.

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höchsten Spitze«, er liegt an einem Abhang, der »nach dem Hintergrunde zu steil hinabführt.« (74) Noch der zweite Aufzug des Siegfried ordnet die Höhle Fafners dem in der Tiefe liegenden Hintergrund zu. In der Mitte der Bühne bildet der Boden »eine kleine Hochebene«, heißt es im Libretto, »von da senkt er sich nach hinten, der Höhle zu, wieder abwärts« (Sf, 28). Dass die vertikale Aufteilung des Raumes auch dann noch virulent ist, als die Götter längst die Welt der Menschen verlassen haben, zeigt sehr schön der Nebentext, der sich am Beginn des zweiten Aufzuges der Götterdämmerung findet: Vor der Halle der Gibichungen: rechts der offene Eingang zur Halle; links das Rheinufer; von diesem aus erhebt sich eine, durch verschiedene Bergpfade gespaltene, felsige Anhöhe quer über die Bühne, nach rechts, dem Hintergrunde zu aufsteigend: dort sieht man einen der Fricka errichteten ›Weihstein‹, welchem höher hinauf ein größerer für Wotan, sowie seitwärts ein gleicher dem Donner geweiheter entspricht. (G, 49)

Der Rhein, die Anhöhe, die Götter: Die vertikale Raumaufteilung des Rheingolds wird hier zu einem einzigen Bühnenbild zusammengezogen. Dieses ist zugleich ein plausibles Sinnbild für die Entzauberung der Welt, in der die einstmals lebendigen Götter nur noch als Statuen präsent sind. Diese Topologie von Unten und Oben semantisiert Wagner nun konsequent mit dem Begriff des Wissens. Die Räume der Tiefe, wie sie im Grund des Rheines oder in den Höhlen imaginiert werden, speichern das Wissen, das den handelnden Figuren unbewusst geworden ist. Diesen Räumen ist ein Personal zugeordnet, das als Medium dieses Wissen zugänglich macht.229 Am deutlichsten wird dies in der Figur der Erda, die in der letzten Szene des Rheingolds »bis zu halber Leibeshöhe aus der Tiefe aufsteigt« (R, 86) und im dritten Akt des Siegfried von Wotan, der »vor einem gruftähnlichen Höhlentore« steht, »aus nächt’gem Grunde« heraufgerufen wird (Sf, 93). »Allwissende« nennt Wotan sie, deren Wissen explizit als ein unbewusstes vorgestellt wird: »Mein Schlaf ist Träumen, / mein Träumen Sinnen, / mein Sinnen Walten des Wissens.« (95) Die Parallelszene hierzu bildet die Erweckung Fafners durch Siegfried. In ihr wird der Drache ebenfalls aus einer Höhle gerufen und teilt Siegfried, nachdem dieser ihn tödlich verwundet hat, in seinen letzten, mahnenden Worten sein Wissen mit. »Weise ja scheinst du / Wilder im Sterben« (75), staunt Siegfried daraufhin. Im letzten Akt der Götterdämmerung sind es die Rheintöchter, die versuchen, Siegfried ihr Wissen mitzuteilen. Auch hier ist das Bühnenbild aufschlussreich. In einem »Wald- und Felsental« fließt der Rhein »im

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Auch der erste Teil des Dialogs zwischen Wotan und Mime nimmt eine Parallelisierung von Raum und Figurengruppen vor. Es geht zunächst um die »Nibelungen«, die »in der Erde Tiefe« leben, dann um die »Riesen«, die »auf der Erde Rücken« ihr Dasein fristen und schließlich um die »Lichtalben«, die »auf wolkigen Höhn« wohnen (Sf, 28–30). Die Zuordnung des Raumes zu Personengruppen lässt sich bereits bei Shakespeare beobachten. Die Unten-Oben-Opposition versinnbildlicht bei ihm die Hierarchie der feudalen Gesellschaft. Vgl. Pfister, Das Drama, S. 340f.

Hintergrunde an einem steilen Abhange vorbei.« Die Rheintöchter »tauchen aus der Flut auf« (G, 82) und treffen auf Siegfried, der »auf dem Abhange« erscheint. Er steht oben, die Rheintöchter sind unten. Nach einem neckischen Geplänkel warnen sie Siegfried vor dem »Unheil«, das der Ring berge: »Schlimmes wissen wir dir.« (86f.) Neben Erda, Fafner und den Rheintöchtern fungieren die Nornen als Bewahrer des Wissens; sie »spinnen fromm was ich weiß«, sagt Erda über ihre Töchter (Sf, 95). Im Vorspiel zur Götterdämmerung weben die drei Nornen ein Seil, wobei die erste Norn »im Vordergrunde rechts unter der breitästigen Tanne« lagert, die zweite »an einer Steinbank vor dem Felsengemache hingestreckt« ist und die dritte »in der Mitte des Hintergrundes auf einem Felssteine des Höhensaumes« sitzt. Die erste Norn ist, wie Wagner vermerkt, die »älteste« und die dritte die »jüngste« (G, 7).230 Entscheidend in dieser szenischen Anordnung ist, dass die älteste Norn die Erzählung beginnt und die dritte sie abschließt: Das Wissen wird von der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft geführt und steigt dabei, weil die jüngste Norn am höchsten platziert ist, sinnbildlich nach oben. 5.6.3. Die Rekonstruktion der Geschichte: Siegfried und Brünnhilde Mit dieser Speicherung des Wissens im Raum geht der Versuch der Figuren einher, sich die vergangenen Ereignisse durch narrative Rekonstruktion bewusst zu machen. Obwohl es sich bei Erda, Fafner, den Rheintöchtern und den Nornen um mythologische Gestalten handelt, ist ihr Wissen kein zeitenthoben-metaphysisches, sondern diesseitig. Sie erzählen, was bereits geschehen ist. Und nicht nur sie: Auch die große Erzählung Wotans im zweiten Akt der Walküre sowie seine »Wissens-Wette« (Sf, 27) mit Mime im ersten Akt des Siegfried basieren auf der Handlung der vorangegangenen Musikdramen. Ebenso schildern Hagens Gespräch mit Gunther und Gutrune (G, 21), Brünnhildes Dialog mit Waltraute (37f.) und Alberichs Dialog mit Hagen (50ff.) Vorgänge, die auf der Bühne zuvor zur Darstellung gelangt sind. Diese Rückwendungen zeichnen das Geschehen jeweils bis zu dem Zeitpunkt nach, an dem erinnert wird. Die Analepsen im Ring sind, um mit Genette zu sprechen, »komplett«.231 Meist treten sie an einem entscheidenden

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Dazu Dieter Borchmeyer: »Die drei Nornen repräsentieren drei Dimensionen der Zeit: die erste die uranfängliche, die dritte die letzten Dinge, die zweite die Dinge der Zwischenzeit.« Borchmeyer erwähnt in diesem Zusammenhang die Deutung der mythologischen Namen der drei Nornen (Urd, Verdandi und Skuld) als »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«. Diese Deutung finde sich bei Franz Joseph Mone, den Wagner rezipiert hat. Das Spinnen der Nornen gehe dagegen nicht auf die nordische Mythologie, sondern auf die drei Parzen der römischen Mythologie zurück (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 286 u. 569). Der Hinweis auf die Nornen als versinnbildlichte Zeitformen findet sich auch in den Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft von Gotthilf Heinrich von Schubert. Vgl. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 67. Zur Anwendung der Kategorien Genettes auf Erinnerungsprozesse vgl. Michael Basseler / Dorothee Birke, Mimesis des Erinnerns. In: Gedächtniskonzepte der Literatur-

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Wendepunkt der Handlung auf. Wotan erzählt Brünnhilde sein Leben, weil er sich zwischen der »Freiheit« seines Helden Siegmund und der moralischen Ordnung Frickas entscheiden muss. Später, in der Wissens-Wette, lässt er Mime die Handlung nacherzählen, damit dieser merkt, dass nur Siegfried Nothung neu schmieden kann. Und zu Beginn des dritten Aktes des Siegfried weckt er Erda, weil er ahnt, dass sein Ende, Brünnhildes »erlösende Weltentat«, kurz bevor steht (Sf, 99). Die permanente Erinnerung durch Erzählung zielt, wie bereits das dritte Kapitel gezeigt hat, auf die Zukunft. Die Figuren rufen sich die vergangenen Ereignisse wach, um sie in einen Bezug zu ihrer aktuellen Situation zu setzen und so die unsichere Zukunft mit Sinn zu belegen. Die repetitive Erzählstruktur des Rings, in der ein Ereignis mehrfach narrativ verarbeitet wird, ist also keine bloße »Zwangsidee«232 Wagners, sondern erfüllt eine wichtige anthropologische Funktion.233 Dass die so erzeugten Analepsen das Fortschreiten der Handlung verzögern, ja diese beinahe dominieren, nimmt Wagner in Kauf. Carolyn Abbates Einschätzung, dass die Häufung der Erzählszenen im Ring in der Operngeschichte einzigartig sei – »no other operatic work rivals it in this respect« 234 – ist sicher nicht übertrieben. Dieser Zugang zu dem narrativ archivierten Wissen hat im Ring eine soziale und eine individuelle Dimension. Während der »Weltenklatsch«235 der Nornen und die Wissens-Wette zwischen Mime und Wotan236 die Erzählung des Kollektivs rekonstruieren, wird besonders an der Figur des Siegfried die enge Verbindung des Subjekts zu seiner Lebensgeschichte deutlich. Anders als Parsifal kennt Sieg-

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wissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, hg. von Astrid Erll / Ansgar Nünning, Berlin 2005, S. 123–147, hier S. 126. Eckhard Henscheid, Warum Frau Grimhild Alberich außerehelich Gunst gewährte. Neue musikalische Schriften, Berlin 2001, S. 8. Die gattungstheoretische Erklärung von Carl Dahlhaus, es entspreche der »klassischen dramaturgischen Forderung«, dass »die Rekapitulation eines Stückes Vorgeschichte zugleich die aktuelle Handlung weitertreiben soll«, greift hier zu kurz. Carl Dahlhaus, Entfremdung und Erinnerung. Zu Wagners »Götterdämmerung«. In: Dahlhaus: Vom Musikdrama zur Literaturoper. Aufsätze zur neueren Operngeschichte, München, Salzburg 1983, S. 127. Es geht bei Wagner nicht um die Erfüllung tradierter Normen und nicht nur um das Weiterführen der Handlung, sondern um die Frage, wie das Subjekt narrativ Sinn zu produzieren versucht. Auch die Annahme, dass jene Erzählungen in der Götterdämmerung, die dramaturgisch »scheinbar überflüssig« seien, eine notwendige »Kontrastfolie« bildeten, »die Wagner brauchte, um Entfremdung, Verdrängung und Erinnerungsverlust […] musikalisch vergegenwärtigen zu können«, geht an der anthropologischen Funktion vorbei, die das ›Erzählen von sich‹ bei Wagner hat (ebd., S. 127f.). Abbate, Unsung Voices, S. 157. So Thomas Manns Bezeichnung für die Erzählung der Nornen (Vaget, Im Schatten Wagners, S. 95). Zwar enthält der erste Teil des Dialoges zwischen Mime und Wotan die Raumaufteilung der Tetralogie, er reflektiert aber auch eine Ereignisfolge, die dann im zweiten Teil fortgesetzt wird: Alberich stiehlt den Ring, den die Riesen rauben, bevor beide von Wotan bezwungen werden. Dann wird die Geschichte Siegmund und Sieglindes und ihres Sohnes Siegfried erzählt (Sf, 28–36).

fried von Beginn an seinen Namen,237 dennoch hat er, den Fafner einen »Blinden« nennt (Sf, 75), keine Geschichte. Von Beginn an drängt er darauf, diese zu erfahren. Als erstes von Mime, mit dessen Version – »Als zullendes Kind / zog ich dich auf« (13) – sich Siegfried aber nicht zufrieden gibt und seinem ungeliebten Ziehvater schließlich die Umstände seiner Geburt entlockt. So erfährt er, dass seine Mutter Sieglinde bei der Geburt starb, vom Vater weiß Mime allerdings nichts. Diese Konstellation wird an verschiedenen Stellen der späteren Handlung virulent: Die Suche Siegfrieds nach seiner Identität gestaltet sich wesentlich als Suche nach der Mutter: »Ach! möchte’ ich Sohn / meine Mutter sehn! – – / Meine – Mutter! – / Ein Menschenweib!« (69) Im zweiten Akt des Siegfried ist es dann Fafner, von dem er sich Aufschluss über seine Herkunft erhofft. Dabei wird abermals die enge Verbindung der Wagnerschen Musikdramen zur romantischen Naturphilosophie deutlich. Fafner und der Waldvogel versinnbildlichen die wissende Natur, auf die die Theoretiker der Romantik die menschliche Subjektivität bezogen. Ihre Sprache birgt das dem Individuum verlorene Unterbewusste. »Ei, bist du ein Tier, / das zum Sprechen taugt, / wohl ließ’ sich von dir ’was lernen?« (72), sagt Siegfried, der den Gesang des Waldvogels erst verstehen wird, nachdem er vom Drachenblut Fafners gekostet hat. Zuvor will er vom sterbenden Fafner jedoch das Wissen seiner Abstammung erfahren. »Viel weiß ich noch nicht, / noch nicht auch wer ich bin«, sagt er. »Woher ich stamme, / rate mir noch; / weise ja scheinst du / Wilder im Sterben; / rat es nach meinem Namen: / Siegfried bin ich genannt.« (74f.) Damit kehrt sich das Modell der Identitätsbildung durch Narration, das der erste Walküre-Akt entwirft, in sein Gegenteil. Führt dort die Rekonstruktion der Geschichte zur Nennung des Namens, soll nun umgekehrt der Name zur Geschichte führen. Aber dazu kommt es nicht mehr. Fafner kann gerade noch Siegfrieds Namen wiederholen, bevor er endgültig stirbt. Das Wissen um den eigenen Ursprung, das Siegmunds Vater noch gewährt wurde, bleibt seinem Sohn Siegfried verwehrt. Auch im dritten Akt wird diese vergebliche Bewusstwerdung der Herkunft Siegfrieds durchgespielt. Als er dem »Wanderer« Wotan begegnet (100–102), fragt ihn dieser: »Wohin, Knabe, / heißt dich dein Weg?« Doch mit der Antwort Siegfrieds, dass er ein schlafendes Weib suche, gibt sich der Wanderer nicht zufrieden. »Wer sagt’ es dir / den Fels zu suchen, / wer nach der Frau dich zu sehnen?«, hakt er nach. Da ihm auch die folgende Replik nicht genügt, schreitet das Gespräch immer weiter in Siegfrieds Geschichte zurück, bis dieser schließlich keine Antwort mehr hat: Er weiß nicht, dass es Wotan war, der das Schwert Nothung geschaffen hat. Obwohl er seinem Stammvater gegenüber steht, erkennt er ihn nicht. Diese Szene hat eine produktionsästhetische Pointe. Indem Wotan versucht, Siegfrieds Geschichte in einer regressiven Bewegung bis zum Ursprung zurückzuverfolgen, tut er es Wagner gleich, der zunächst das Drama Siegfried’s Tod entwarf, ihm aber

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Es ist Brünnhilde, die dem ungeborenen Kind am Ende der Walküre den Namen »Siegfried« gibt (W, 89).

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dann den (Jungen) Siegfried, die Walküre und schließlich das Rheingold folgen ließ. Doch anders als dem Zuschauer wird Siegfried die Kenntnis der Geschichte, in die sein Leben verstrickt ist, verweigert. Er schreitet voran, ohne zu wissen, woher er kommt. Die Erkenntnis ist ihm verwehrt, dass seine Existenz lediglich dazu dient, Wotans »großen Gedanken« (R, 94) zu erfüllen, also letztlich eine von außen gesteuerte ist. Dass Siegfried unwissend bleibt, liegt durchaus im Interesse Wotans, der sich ihm deshalb nicht zu erkennen gibt. Und auch Brünnhilde, die in Siegfried die Erfüllung von Wotans Visionen erkennt, enthält ihm seine Geschichte vor. Somit ist er die einzige Figur der ganzen Tetralogie, die von der permanenten narrativen Rekonstruktion des Geschehens ausgeschlossen bleibt. »Was du nicht weißt, / weiß ich für dich«, beruhigt ihn Brünnhilde, weshalb er den Sinn ihrer Rede nicht versteht: »Dunkel dünkt mich der Sinn.« (114f.) Siegfried kennt seine Geschichte nur als eine rein individuelle. Seine Erinnerung reicht, dank dem Bericht Mimes, bis zu seiner Geburt. Aber eben nicht weiter: Die große Erzählung des Kollektivs, in die sein Leben eingebunden ist, bleibt ihm verschlossen. Die Götterdämmerung nähert sich der Frage nach der Identität anders als Siegfried. Während dieser dem Modell einer männlichen Entwicklungsgeschichte folgt, handelt jene von der Gefährdung eines Liebespaares. Das eine Musikdrama gleicht einem Bildungs-, das andere einem tragischen Eheroman. Zu Beginn schwören sich Siegfried und Brünnhilde ewige Treue, er schenkt ihr als Zeichen seiner Liebe den Ring, der so zum Ehe-Ring wird. Auch dieser ist mit einem Fluch beladen: Siegfried betrügt Brünnhilde, die daraufhin tödliche Rache übt. Dieses Szenario wird nun mit der Frage nach der Identität verknüpft, als Siegfried der Intrige Hagens folgt und Brünnhilde ein zweites Mal zu freien beschließt. Dazu setzt er sich den Tarnhelm auf, um sich in die Gestalt Gunthers zu verwandeln. Er gelangt wie im dritten Akt des Siegfried zum Walkürenfelsen, wo Brünnhilde auf ihn wartet. Dieses Mal zwingt er sie jedoch brutal, sich ihm zu ergeben. Das gelingt, und so kommt es im zweiten Aufzug zu einer Doppelhochzeit: Siegfried heiratet Gutrune, Brünnhilde Gunther. Wagner greift hier auf das Motiv des Quartetts zurück, das er in Mozarts/da Pontes Così fan tutte, Goethes Die Wahlverwandtschaften und Hoffmanns Prinzessin Brambilla vorfand.238 Die Parallelen

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Als erster hat Eckhard Roch in Bezug auf die Götterdämmerung auf dieses Motiv hingewiesen: Eckhard Roch, Heiratsquaternio. Dramatischer Archetypus und musikalische Struktur in Mozarts »Così fan tutte« und Wagners »Götterdämmerung«. In: Die Musik als Medium von Beziehungsbefindlichkeiten. Mozarts und Wagners Musiktheater im aktuellen Deutungsgeschehen, hg. von Otto Kolleritsch, Graz 2002, S. 44–71. Auch Roch vergleicht in seinem Aufsatz Wagners Musikdrama mit Così fan tutte und den Wahlverwandtschaften und betont dabei, dass es nicht nur um »Schein und Sein, Täuschung und Wahrheit, Konvention und Natur«, sondern auch um »Bewußtes und Unbewußtes« gehe (ebd., S. 46). Die weiteren, in der vorliegenden Studie herausgestellten Parallelen übersieht er aber.

zwischen diesen Werken und der Götterdämmerung sind vielfältig: Es kommt zu einem Partnertausch, der von einer fünften Figur in Szene gesetzt wird, einer Art ›Trickster‹, der die kulturell definierten Grenzen durch List und Tücke überschreitet. Bei da Ponte übernimmt diese Rolle Don Alfonso, bei Goethe der Mittler, bei Hoffmann Celionati, bei Wagner ist es Hagen.239 Zudem wird deutlich, dass der Tarnhelm, der in der Götterdämmerung eine wichtige Rolle spielt, eine Spielart jener Masken ist, die sowohl in Così fan tutte als auch in Prinzessin Brambilla den Zugang zum Unbewussten ermöglichen und das Karussell der Projektionen in Gang setzen. Die Innovation Wagners ist nun, dass er seine Vorbilder auf den Kopf stellt: Bei da Ponte, Goethe und Hoffmann brechen die Paare aus der Institution der bürgerlichen Ehe aus und finden in ihrem jeweiligen Gegenbild die Verwirklichung ihrer unbewussten Phantasien und ihre ›eigentliche‹ Bestimmung. Zu der lebhaften Dorabella fühlt sich Guglielmo stärker hingezogen als zu seiner braven Braut Fiordiligi, die wiederum dem seriösen Ferrando gefällt. Ebenso findet Giglio in der Prinzessin Brambilla sein ersehntes Traumbild, während seine Geliebte Giacinta sich in den Prinzen Cornelio Chiapperi verliebt. In der Götterdämmerung verhält es sich umgekehrt. Wagner inszeniert den Eheschwur zwischen Siegfried und Brünnhilde als einen Akt der Liebe, die Doppelhochzeit am Ende des zweiten Aktes trägt dagegen die Züge jener Form der Ehe, in der die gesellschaftlichen Konventionen das Individuum unterdrücken und in eine lieblose Partnerschaft zwingen.240 Brünnhilde ergeht es mit Gunther wie Sieglinde mit Hunding oder Isolde mit Marke. Ihre grausame Überwältigung durch Gunther/Siegfried erinnert an die Zwangsgewalt, die in den Augen Wagners die bürgerliche Ehe charakterisiert. Indem Siegfried Brünnhilde in der Gestalt Gunthers bezwingt, tritt eine dunkle, gewalttätige Seite in seinem Handeln zu Tage; musikalisch wird diese Verwandlung des Helden in seiner zweiten Rheinfahrt geschildert, die Wagner als düsteres Gegenbild zur ersten gestaltet.241 Doch was hier zum Vorschein kommt, sind nicht die von der Gesellschaft verbotenen Wünsche, sondern die Brutalität der Gesellschaft selbst. Siegfrieds Unbewusstes wird nicht von natürlichen Trieben, sondern von sozialen

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In den Wahlverwandtschaften wird die Figur des Tricksters allerdings in ihr Gegenteil verkehrt: Mittler kommt nur eine kommentierende Funktion zu, auf die sich anbahnenden Liebeshändel hat er keinen Einfluss. Eckhard Roch schlägt für diese Konstellation den Begriff des »Heiratsquaternio« vor, mit dem C.G. Jung die Verhinderung einer starken, naturgegebenen Beziehung durch die Konvention bezeichne. Roch, Heiratsquaternio, S. 52. Während dieser zweiten Rheinfahrt erklingt im Orchester untergründig das Fluchmotiv. Dies wurde in der vierten Szene des Rheingolds durch Alberich exponiert (SW 10/ II), und zwar in den Takten 3126–3130. Die erste Hälfte des Fluchmotivs besteht aus den Tönen Fis-A-C-E, also einem halbverminderten Septakkord. Während der zweiten Rheinfahrt Siegfrieds (13/I) taucht das Fluchmotiv als Akkord in den Streichern auf: In Takt 936 auf den Tönen F-As-Ces-Es, in Takt 1010 in der Original-Lage auf Fis-A-C-E. Auch das in den Takten 1008f. erklingende Motiv basiert auf diesem Tonmaterial.

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Zwängen gesteuert, sein Liebes-Bund mit Brünnhilde erliegt jenen moralischen Konventionen, denen er zu entrinnen versucht. Genau aus diesem Grund ist die Götterdämmerung ein im Freudschen Sinne »unheimliches« Musikdrama: In ihm tritt das im Unbewussten gespeicherte »Heimliche-Heimische« der Kultur ins Bewusstsein.242 Entscheidend dabei ist, dass Wagner die Liebe zwischen Siegfried und Brünnhilde als einen Gedächtnisakt inszeniert. Im Vorspiel der Götterdämmerung schwören sie sich, einander zu »gedenken« (G, 15) und den anderen niemals zu vergessen. Dies wird durch den Austausch von Medien, die als Speicher dienen, szenisch veranschaulicht. Brünnhilde gibt Siegfried ihr Wissen durch »heiliger Runen / reichen Hort« (14), dieser reicht ihr, »zum Tausche deiner Runen«, den Ring, in dem sein Leben aufbewahrt sei: »Was der Taten je ich schuf, / dess’ Tugend schließt er ein« (16). Es ist daher nur konsequent, dass Siegfrieds Treuebruch als ein Vergessen erscheint.243 Der Trank, den Gutrune Siegfried reicht, führt dazu, dass er sich sofort in sie verliebt und ihm seine Erinnerungen an Brünnhilde langsam schwinden.244 Der Vergessenstrank hat hier, wie Carl Dahlhaus richtig erkannt hat, »verdeutlichende Funktion«.245 Es ist gar nicht so wichtig zu entscheiden, ob Siegfried der reine Tor ist, dem von den Mächten des Bösen der Vergessenstrank gebraut wird, oder ob der Trank nur eine verdrängte Triebneigung Siegfrieds zum Ausdruck bringt.246 Wagner will an dieser Stelle vor allem zeigen, dass sich Erkenntnis und Wissen immer im Übergang vom Unbewussten zum Bewussten manifestieren. Es ist weniger die Frage nach Gut oder Böse, die ihn interessiert, sondern der Bewusst242 243

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Freud, Studienausgabe, Bd. 4, S. 268. Mit der Bedeutung des Vergessens im Ring des Nibelungen und seiner kompositorischen Ausführung beschäftigt sich der Aufsatz von Ariane Jeßulat, Vergessen im »Ring des Nibelungen«. Zwischen Stilbruch und komponierter Geschichtsphilosophie. In: wagnerspectrum 6, H. 2, 2010, S. 185–214. Dieses Motiv ist, wie Eckhard Roch zeigt, bereits bei Mozart vorgebildet (Roch, Heiratsquaternio, S. 60). In der 16. Szene des zweiten Aktes singt das Quartett ein Loblied auf die Kupplerin Despina, worauf sie mit ihren Gläsern anstoßen und den folgenden Trinkspruch bringen: »E nel tuo, nel mio bicchiero / si sommerga ogni pensiero. / (Le donne bevono.) / E non resti più memoria / Del passato, ai nostri cor.« Wolfgang Amadeus Mozart, Così fan tutte. Textbuch Italienisch/ Deutsch, Stuttgart 2000, S. 140. Der Trank, so Dahlhaus, mache »theatralisch-symbolisch sichtbar [...], was unausgesprochen der Fall ist.« Und das sei die »Dialektik der Unwillkür.« Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 132f. Die erstgenannte Interpretation vertritt vor allem Dieter Borchmeyer. »Siegfried ist [...] ein Tor, aber diese Torheit, durch die er in die Fallstricke des Bösen gerät, resultiert aus seiner archaischen Naivität«, so Borchmeyer. Daraus schließt er: »Der Vergessenstrank ist keineswegs [...] das Symbol der längst erfolgten inneren Abwendung Siegfrieds von Brünnhilde, sondern nichts als das infame Intrument Hagens, mit dem er den Helden einer Art magischen Gehirnwäsche unterzieht.« (Borchmeyer, Richard Wagner, S. 291 u. 294) Das andere Extrem der Exegese vertritt Peter Wapnewski, Liebestod und Götternot, S. 43. Beide Interpretationen verfehlen jedoch die Bedeutung des Gedächtnisdiskurses bei Wagner.

werdungsprozess als solcher; es geht nicht um Moral, sondern um Gedächtnis. Deshalb folgt dem Vergessens- der Erinnerungstrank, den Hagen Siegfried im dritten Akt reicht.247 Es ist in dieser Szene keine dunkle Magie, die das Aufsteigen des unbewusst gewordenen Wissens bewirkt, sondern die Erzählung Siegfrieds. Dieser gibt Hagen, Gunther und den Mannen »Mären aus meinen jungen Tagen« zum Besten (G, 94): Er erzählt seine Lebensgeschichte. Am Ende dieser Anamnese steht die Erinnerung an Brünnhildes Namen, mit der Siegfrieds Gedächtnis wiederhergestellt ist. So stiftet Wagner abermals einen engen Bezug zwischen Erzählung, Erinnerung und Identität, zumal Siegfrieds Amnesie im ersten Akt genau »bei Nennung von Brünnhildes Namen« eintrat (31).248 Auffällig ist, dass das Orchester bei diesem Bewusstwerdungsprozess eine rein illustrierende Funktion erfüllt. Im Zentrum steht die Musik des Waldvogels, dessen Motiv die Erzählung eröffnet (SW 13/III, T. 644ff.). Zusammen mit der Musik des Waldwebens beansprucht sie weite Teile des Tonsatzes für sich. Dies ist Sinnbild für Siegfrieds Zugang zum Wissen der Natur. Auch sonst begnügt sich Wagner damit, das Gesagte durch die entsprechenden Leitmotive zu bestätigen. In der Mime-Episode erklingt das Schmiede-Motiv (654ff.), später das Motiv des Drachen Fafner (688ff.) und am Schluss, als Siegfried von der schlafenden Brünnhilde erzählt, der Feuerzauber (818ff.). Diese Beschränkung auf das dem Text korrespondierende Motiv-Material wird jedoch erst verständlich, wenn man den weiteren Verlauf der Komposition bedenkt. Wagner fügt, nachdem Siegfried von Hagen erschlagen wurde und seine letzten Worte ausgehaucht hat, ein Orchesterzwischenspiel ein, das unter dem Namen ›Siegfrieds Trauermarsch‹ populär wurde (T. 928ff.). Doch eigentlich handelt es sich hier um Siegfrieds Familiengeschichte, eben jenes Wissen, das dem Helden bei seiner Identitätsbildung verweigert wurde. Hier kommt, in chronologischer Reihenfolge, jenes Tonmaterial zum Tragen, das von Siegfrieds Herkunft erzählt und die Formung seiner Identität in einen sozialen Kontext stellt: Die Begegnung seiner Eltern Siegmund und Sieglinde, Siegmunds verfehlte (»warum ich Friedmund nicht heiße«, T. 938ff.) und im Schwert Nothung wiedergefundene Identität und schließlich das Motiv Siegfrieds. Dieses erscheint nun zum ersten Mal in seiner vollständigen Gestalt, wie sie in der Walküre durch Brünnhildes »Den hehrsten Helden der Welt hegst du, o Weib, im schirmenden Schoß« vorgeformt wurde (SW

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Deshalb täuscht sich Carl Dahlhaus, wenn er vom Vergessenstrank sagt, er sei »allegorischer Ausdruck einer Gedächtnislosigkeit«, die Siegfried charakterisiere (Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 19). Denn der Erinnerungstrank hebt die Gedächtnislosigkeit Siegfrieds auf. Schlüssiger ist deshalb die Interpretation Hans Mayers, der auf die Veränderung der Siegfried-Figur im Lauf der Götterdämmerung verweist. Durch die beiden Tränke werde Siegfrieds Selbstentfremdung und Rückkehr zu sich selbst geschildert. Vgl. Mayer, Richard Wagner, S. 180. Eine Umkehrung des Tannhäuser, wo die Erwähnung von Elisabeths Namen Tannhäuser sein altes Leben in Erinnerung ruft (T, 22).

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11/III, T. 497ff.) Es handelte sich dabei um eine dreizehn Takte lange Periode, die in Vorder- und Nachsatz gegliedert war. Durch die aufsteigende Melodielinie des Vorder- und die absteigende des Nachsatzes erhielt diese einen abgeschlossenen, Antwort gebenden Charakter. Man muss sich klar darüber sein, dass beim Erklingen des so genannten Siegfried-Motivs im Ring eigentlich immer nur eine Rumpfgestalt gespielt wird. Erst im Trauermarsch findet es seine musikalische Bestimmung wieder, diese führt die ursprüngliche Verheißung eigentlich erst an ihr Ende: Die Periode ist nun in zwei Viertaktgruppen geteilt und mündet, anders als in der Walküre, nicht in H-, sondern in die Zieltonart Es-Dur (13/III, T. 969). Wagner inszeniert abermals eine Anamnese, die nun ausschließlich durch die Musik vermittelt wird und den Zuhörern vorbehalten bleibt. Erst jetzt, nach seinem Tod, scheint die Geschichte von Siegfrieds Identität erfüllt. Auch Brünnhilde vollzieht im Lauf der Handlung eine Bewusstwerdung des Unbewussten. Wagner inszeniert diese als einen Dreischritt. Zu Beginn der Handlung wird Brünnhilde zu einer Wissenden, als Wotan ihr in seinem großen Monolog sein Schicksal anvertraut. »Keine wie sie / wußte den Quell meines Willens; / sie selbst war / meines Wunsches schaffender Schoß« (W, 92), sagt Wotan im dritten Aufzug der Walküre. Tatsächlich ist das Wissen, das Wotan seiner Tochter Brünnhilde vermittelt, auf seinen großen Gedanken bezogen: Die Geburt eines freien Helden. »Mir allein / erdünkte Wotans Gedanke«, sagt sie zu Siegfried, nachdem dieser sie erweckt hat. »Was du nicht weißt, / weiß ich für dich: / doch wissend bin ich / nur – weil ich dich liebe.« (Sf, 114) Genau dieses Wissen geht ihr allerdings durch die Vereinigung mit Siegfried verloren. Abermals erweist sich Wagner hier als feinsinniger Psychologe, ist es doch die Ablösung von der narzisstischen Bindung an den Vater249 und der Verlust der Jungfräulichkeit, der im dritten Akt des Siegfried als ein Vergessen gedeutet wird. Als Siegfried fordert: »Sei mir ein Weib!«, antwortet Brünnhilde: »Mir schwirren die Sinne; / mein Wissen schweigt: / soll mir die Weisheit schwinden?«250 (123) Auch der Treueschwur zu Beginn der Götterdämmerung geht mit einem Wissensverlust einher, Brünnhilde ist nun »des Wissens bar« (G, 14). Aber erst als Siegfried sie in der Gestalt Gunthers übermannt und sie ihn kurz darauf mit Gutrune erblickt, schwindet ihr Wissen vollständig. »Wo

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»Was keinem in Worten ich künde, / unausgesprochen / bleib’ es ewig: / mit mir nur rat’ ich, / red’ ich zu dir.« Mit diesen Worten leitet Wotan im zweiten Akt der Walküre seinen Monolog ein, bei dem er seiner Tochter »unverwandt in das Auge blickt.« (W, 47) Es ist fragwürdig, die Motive des »Spiegels« und des »Echos«, die in dieser Szene zwischen Brünnhilde und ihrem Vater auch musikalisch evoziert werden, als »Zeichen für die Zusammengehörigkeit der Liebenden« zu deuten (Kienzle, Brünnhilde, S. 86). Der Narziss-Mythos, auf den Wagner hier eindeutig anspielt, handelt von einer selbstbezogenen Liebe, die das Gegenüber zum willenlosen Objekt degradiert. Zu dieser Einsicht kommt auch Ulrike Kienzle in ihrer Darstellung der Brünnhilde-Figur: »Durch die Hingabe an Siegfried wird Brünnhilde ihr Wissen verlieren und damit auch die Einsicht in die universalen Zusammenhänge des Weltgeschehens.« (Kienzle, Brünnhilde, S. 94).

ist nun mein Wissen / gegen dies Wirrsal?«, klagt sie im zweiten Akt, »Weh! ach Weh! / All mein Wissen / wies ich ihm zu« (73). Zielpunkt dieser Entwicklung ist jedoch – genau wie bei Siegfried – die Rückkehr des verlorenen Wissens, die zugleich als das Erreichen einer neuen Stufe erscheint: »Alles weiß ich: / alles ward mir nun frei!«251 (108) In ihrem Monolog, der diese Bewusstwerdung feiert, nimmt Brünnhilde die verschiedenen Erzählstränge der Handlung auf und führt sie in einer abschließenden Deutung zusammen. Die Geschichte Siegfrieds wird als Erfüllung von Wotans Schicksal interpretiert, der Verrat »des hehrsten Helden« erscheint als notwendige Tat zur Erlösung des leidenden Gottes. Das Geschehen, das ihr vorher sinnlos erschien, erfüllt sich nun mit Sinn: »Mich – mußte / der Reinste verraten, / daß wissend würde ein Weib!« (ebd.) In der Erstfassung des Monologes aus Siegfried’s Tod wird dieser abschließende Interpretationsakt noch deutlicher. Dort erkennt Brünnhilde »des Ringes Runen. / Der Nornen Rath vernehm’ ich nun auch, / darf ihren Spruch jetzt deuten: / des kühnsten Mannes mächtigste That, / mein Wissen taugt sie zu weih’n.« (SSD II, 226) In der Götterdämmerung nimmt Brünnhilde deshalb die Frageformel der Nornen wieder auf: »Wißt ihr wie das ward?« Die Antwort scheint mit Brünnhildes Monolog gefunden zu sein, die Erzählung des Kollektivs, die der Ring des Nibelungen unternimmt, abgeschlossen. Entsprechend wird in diesem Schlussgesang das Motivmaterial des Rings noch einmal bis zu den Anfängen zurückverfolgt und so durch einen letzten narrativen Erinnerungsakt aufgehoben.252 Aber zugleich

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Dass man diesen Vorgang nicht nur hegelianisch interpretieren kann, hat Dieter Borchmeyer gezeigt, der auf die Verbindung mit Schillers Theorie verwiesen hat: »Dieses höchste Wissen ist gewissermaßen eine auf sentimentalischem Wege gewonnene neue Naivität, in welcher der Gegensatz von ›reiner Torheit‹ und Reflexionswissen aufgehoben ist.« (Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 240) In der Erstfassung dieses Monologs wird diese Rückkehr des Wissens noch deutlicher. Dort sagt Brünnhilde über Siegfried: »All’ meiner Weisheit mußt’ ich entrathen, / denn all’ mein Wissen verrieth ich dir: / was du mir nahmst, nützest du nicht […] / Nun du, gefriedet, frei es mir gabst, / kehrt mir mein Wissen wieder« (SSD II, 226). Entsprechend erhält sie auch von Siegfried den Ring zurück, Symbol ihres Wissens, das Siegfried nicht zu wahren wusste. Vgl. hierzu auch Kienzle, Brünnhilde, S. 100. Dies hat Ulrike Kienzle detailliert beschrieben: »Die Liebesmotive des Siegfried und das Thema der Wälsungenliebe aus der Walküre, das Walhall-Motiv und die Figurationen des ruhelosen Wanderers Wotan klingen an, schließlich die im Rheingold exponierten Themen: das mit dem Walhall-Motiv verwandte Thema des verfluchten Ringes und die Klangchiffre seines schuldlosen Urzustandes als leuchtendes Gold der Tiefe, symbolisiert durch das Rheingold-Motiv.« (Kienzle, Brünnhilde, S. 101) Allerdings übersieht auch Kienzle den engen Bezug zu den narrativen Strukturen des Rings. Carolyn Abbate weist darauf hin, dass Brünnhilde das Wissen von den Rheintöchtern erhält. Diese deuten Siegfried an, dass sie sich an Brünnhilde wenden wollen (G, 90); Gutrune glaubt, dass Brünnhilde zum Rhein gegangen ist (101). Brünnhilde selbst sagt in ihrem Monolog: »Der Wassertiefe/ weise Schwestern,/ des Rheines schwimmende Töchter,/ euch dank’ ich redlichen Rat!/ Was ihr begehrt,/ geb’ ich euch« (109). Abbate deutet den »Rat« der Rheintöchter als »unsung narrative that enables Brünnhilde to ›know ever-

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enthält Brünnhildes Monolog eine Ahnung der Zukunft, einen Hinweis auf das Kommende: Das Verkündigungsmotiv aus dem dritten Akt der Walküre wird dominant. Dies zeigt abermals, dass Wagner die Geschichte des Ich und des Kollektivs als einen unabschließbaren Prozess betrachtet, der letztlich nie an sein Ende kommen kann. Für diese These spricht auch, dass die Erzählung Brünnhildes wie diejenige Sentas in einem ekstatischen Rausch und ihrem Sprung ins Feuer endet: Nicht Selbstfindung ist das Ziel ihres Schlussgesangs, sondern Selbstvernichtung. 5.6.4. Das Subjekt und seine Familie: Wagners Ring und die erzählende Prosa der Moderne Wie bereits angedeutet, hat die Ausgestaltung der modernen Identitätsproblematik in Wagners Tetralogie ihre Vorbilder in Erzähltexten wie Prinzessin Brambilla und Die Wahlverwandtschaften. Aber Wagner hat auch auf die Autoren der nachfolgenden Generationen gewirkt. Dies wird in der Traumnovelle (1925) des kritischen Wagner-Kenners Arthur Schnitzler deutlich, die das Motiv des Ehebruchs variiert und dabei auch auf Elemente der Götterdämmerung zurückgreift. So wie Siegfried, als er in die Welt zieht, Brünnhilde allein auf dem Walkürenfelsen zurück lässt, streift Fridolin allein durch die Gassen Wiens, während seine Frau Albertine zuhause bleibt. Dieser wird dabei wie Brünnhilde das Merkmal des Schlafs zugesprochen, Fridolin stellt sich seine Frau »als tief Schlafende, die Arme unter dem Nacken verschränkt«, vor.253 Die unbewussten Phantasien, die in die Ehe eindringen, werden auch bei Schnitzler durch ein Maskenspiel in Gang gesetzt. Geführt von Nachtigall (dem dunklen Doppelgänger des Waldvogels) gelangt Fridolin in ein Haus, in dem eine verbotene Orgie stattfindet. Dabei setzt er bewusst sein Leben aufs Spiel, nur um mit einer der Frauen schlafen zu können. »Es kann nicht mehr auf dem Spiel stehen als mein Leben [...] und das bist du mir in diesem Augenblick wert«254 entgegnet er einer maskierten Frau, die ihn eindringlich zu warnen versucht. Die Parallelszene hierzu findet sich in der Götterdämmerung. Siegfried kommt zu Beginn des dritten Aktes auf einen Irrweg und gelangt zu den Rheintöchtern, die den Ring von ihm fordern. Siegfried zögert zunächst und begründet dies mit der Treue zu seiner Frau, ist dann aber doch bereit, den Ring, das Symbol seiner Ehe mit Gutrune und seiner Position in der Gesellschaft, zu verschenken: »Für der Minne Gunst / miss’ ich ihn gern; / ich geb’ ihn euch, gönnt ihr mir Lust«, sagt er und fügt hinzu: »Denn Leben und Leib / – sollt’ ohne Lieb’ / in der Furcht Bande / bang ich sie fesseln / Leben und Leib – / seht! – so / werf’ ich sie weit von mir!« (G, 88)

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ything‹, to know how the story must end in her own self-willed destruction and the destruction of the world.« (Abbate, Unsung Voices, S. 216) An späterer Stelle spricht Abbate von Brünnhildes »master-narration« (ebd., S. 248). Schnitzler, Traumnovelle, S. 24. Ebd., S. 44.

Auch bei Schnitzler führt das Maskenspiel zu einer Dopplung der Identität, die an die Rollenverteilung der Götterdämmerung erinnert. Fridolin überfallen unheimliche Wünsche: »Eine Art Doppelleben führen, zugleich der tüchtige, verläßliche, zukunftsreiche Arzt, der brave Gatte und Familienvater sein – und zugleich ein Wüstling, ein Verführer, ein Zyniker, der mit den Menschen, mit Männern und Frauen spielte, wie ihm just die Laune ankam.«255 Diese Zweigesichtigkeit vermutet er auch bei Albertine, die ihre erotischen und aggressiven Phantasien in ihren Träumen auslebt: »Da saß sie ihm gegenüber, die ihn heute nacht ruhig ans Kreuz hatte schlagen lassen, mit engelhaftem Blick, hausfrau-mütterlich.«256 Ihren metaphorischen Ausdruck findet diese Ehe-Krise sowohl bei Schnitzler als auch bei Wagner in einer Umkehrung des Schwert-Motivs aus Gottfrieds von Straßburg Tristan. Als Siegfried Brünnhilde den Ring entrissen hat, kündigt er an, sein Schwert zwischen sich und sie zu legen, um dem Treue-Eid zu Gunther genüge zu tun. »Nun, Nothung, zeuge du, / daß ich in Züchten warb: / meine Treue wahrend dem Bruder, / trenne mich von seinem Weib!« (G, 48) Zwar bestreitet Brünnhilde später diese Tatsache, aus Wagners Prosaentwurf geht jedoch eindeutig hervor, dass Siegfried zu Brünnhildes Verwunderung in dieser Nacht tatsächlich »sein Schwert zwischen sie Beide legt.« (SSD II, 161) Genauso ergeht es Fridolin und Albertine, nachdem er von seinen Abenteuern zurückgekehrt ist und sie ihren Traum erzählt hat. Als sie beide nebeneinander liegen, liegt Fridolin noch wach: »Ein Schwert zwischen uns, dachte er wieder. Und dann: wie Todfeinde liegen wir hier nebeneinander.«257 Fungiert das Schwert bei Gottfried noch als Täuschungsmanöver, mit dem Tristan und Isolde ihre verbotene Liebe vor ihren Verfolgern zu verheimlichen versuchen, verwandelt es sich bei Wagner und Schnitzler in den Ausdruck einer Ehe-Krise, die durch das Aufkommen verdrängter und unheimlicher Wünsche entsteht und die Partner einander entfremdet. Auch in der Traumnovelle wird dieser Konflikt zu lösen versucht, indem seine Geschichte narrativ bewusst gemacht wird. »Ich will dir alles erzählen«, sagt Fridolin am Schluss zu seiner Frau. Als er geendet hat, dämmert der Morgen »grau durch die Vorhänge« und Albertine sagt: »Nun sind wir wohl erwacht«.258 Die Formung der Identität durch die narrative Bewusstwerdung der Familiengeschichte, die Wagners Tetralogie praktiziert, muss also in einem kultur- und literaturhistorischen Kontext gesehen werden. Während die Götterdämmerung die Züge eines Eheromans trägt, kann Der Ring des Nibelungen als ein Familienro-

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Ebd., S. 71. Ebd., S. 69. Ebd., S. 62. Ebd., S. 87f. Zum Motiv des selbstreflexiven Erzählens in der Traumnovelle sowie dem in ihr enthaltenen Versuch, die Konflikte der Ehe durch Narration zu lösen, vgl. Michael Scheffel, Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997, S. 175–196.

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man gelesen werden. 259 So ließe sich eine Linie ziehen, die von E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels über den Ring bis zu Thomas Manns Buddenbrooks führt. Die Ahnentafel der Elixiere ist so komplex und ineinander verschlungen wie die des Rings: Auch bei Hoffmann wird das Subjekt als Spross eines weit verzweigten Stammbaumes definiert, welcher, von einem Fluch durchdrungen, im Inneren fault. Der einzige Ausweg ist die Erinnerung dieser belasteten Familiengeschichte durch Erzählung, die im doppelten Wortsinne zu einer Aufhebung führt: ein Erinnerungsakt, der das Erzählte zugleich auslöscht. Mit Medardus stirbt der letzte Nachkomme des Malers Francesko, Brünnhilde springt nach ihrem Schlussgesang ins Feuer. Thomas Mann hat dieses Motiv aufgenommen und so abermals seine »WagnerSchülerschaft« unter Beweis gestellt.260 Der enge ästhetische und inhaltliche Bezug der Buddenbrooks zum Ring ist bekannt. Mann selbst evoziert ihn, wenn er in dem »epischen, von Leitmotiven verknüpften und durchwobenen Generationenzuge« seines Frühwerkes einen Hauch »vom Geiste des ›Nibelungenringes‹« zu verspüren meinte.261 Wie die Arbeit Wagners an seiner Tetralogie ihren Ausgang bei Siegfried’s Tod nahm und von da aus zu der Familiengeschichte der Wälsungen führte, stand am Beginn der Konzeption der Buddenbrooks Hannos Tod. In einer berühmten Szene des Romans zieht Hanno, nachdem er das »genealogische Gewimmel« der in »altmodisch verschnörkelter Schrift« gehaltenen Familien-Chronik entdeckt hat, einen Doppelstrich unter seinen Geburtseintrag.262 Es waren die Elixiere des Teufels, die dieses eigentümliche Wechselspiel aus Aufbewahrung und Aufhebung der Familiengeschichte, aus narrativer Herstellung und Auflösung der Subjektivität zum ersten Mal in Szene gesetzt haben. Im Ring des Nibelungen, den Buddenbrooks und noch in Thomas Bernhards Auslöschung sollte es seine Wirkkraft entfalten.

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Als Roman hat nicht nur Thomas Mann, sondern auch Hans Mayer den Ring des Nibelungen gedeutet. Letzterer schreibt: »Insofern gehört der Ring des Nibelungen, was Thomas Mann offensichtlich vor allem gemeint haben dürfte, an die Seite der großen Romanschilderungen eines Balzac, Flaubert, des späten Fontane, worin immer wieder der Weg eines Menschen oder einer Gesellschaftsgruppe von der freudigen Aktivität zur resignierten Untergangsstimmung beschrieben wird. Nimmt man Wotan und die Seinen als bürgerliche Familie, was durchaus möglich ist, so könnte auch die Tetralogie den Untertitel der Buddenbrooks von Thomas Mann tragen: Verfall einer Familie.« (Mayer, Richard Wagner, S. 193) Eine Interpretation, die den Aspekt des Genealogischen einzig aus der Perspektive mythischen Denkens deutet, führt deshalb nicht weit genug. An einer solchen versucht sich Kilian Heck, Die Weltenrettung als Familiensache. Formen und Bilder der Verwandtschaft in Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«. In: Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, hg. von Sigrid Weigel / Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer, München 2005, S. 173–190. Von dieser spricht Hans Rudolf Vaget im Nachwort der von ihm herausgegebenen Textsammlung. Vaget, Im Schatten Wagners, S. 326. Ebd., S. 19. Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher, hg. von Heinrich Detering et al., Frankfurt am Main 2002, Bd. 1.1, S. 575.

In allen diesen Werken geht es um die Auseinandersetzung mit der Familie als einer Institution, die den Lebensweg des Individuums zugleich begründet und gefährdet. Deshalb sollte nicht der Schluss gezogen werden, dass es bei der ›Geschichte des Ich‹ in den Musikdramen Wagners um eine bloße Nachahmung der philosophischen Theorien Hegels oder Schellings geht. Zwar legen seine Werke Zeugnis von der Verzeitlichung personaler Identität ab, indem die Figuren unablässig mit der Rekonstruktion ihres eigenen Lebensweges beschäftigt sind. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass ihre Subjektivität labil ist und im Wort letztlich keinen festen Halt findet. Darin folgte Wagner romantischen Autoren wie Hoffmann und Kleist. Zwei Beobachtungen belegen dies: Erstens steht, wie das vorige Kapitel gezeigt hat, das Wort bei Wagner immer in Konkurrenz zum Blick. Subjektivität gestaltet sich in seinem Werk als ein komplexes intermediales Ereignis, das verschiedene Erkenntnisweisen ineinander verschränkt. Zweitens ist der Moment der Selbstfindung immer ein ekstatischer, rauschhafter und kurzer Augenblick: Dies gilt für Senta genauso wie für Siegmund und Sieglinde; für Siegfrieds finale Anamnese genauso wie für Brünnhildes Schlussgesang. Diesem Phänomen wird sich das folgende Kapitel widmen.

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6

Die Ekstase der Erinnerung: Plötzlichkeit, Wahnsinn, Gedächtnis

In den Musikdramen Richard Wagners gibt es zwei Wege, die in die Tiefenschichten des Unbewussten führen und die sich mal überschneiden, mal auseinanderlaufen. Der eine ist intuitiv und führt über die optische Wahrnehmung, der andere ist diskursiv und führt über die Sprache. Die damit verbundene Bewusstwerdung des Unbewussten wurde in dieser Studie in Anlehnung an Platon als Anamnese definiert. Sei es, dass die Figuren von sich erzählen, um sich ihre Vergangenheit wieder zu vergegenwärtigen, sei es, dass sie beim Anblick des Geliebten diesen wieder-erkennen: Jedes Mal ist das Ziel die Wiedererinnerung des im Unbewussten verborgenen Wissens. Nun stößt dieses Konzept, wie sich im letzten Kapitel bereits andeutete, in den Musikdramen immer wieder an seine Grenzen. Denn just in dem Moment, in dem der Prozess der Erinnerung an sein Ziel kommt, geraten die Figuren in eine rauschhafte Ekstase. Die Bewusstwerdung des Unbewussten führt bei Wagner in den seltensten Fällen zu einer ruhigen, aufgeklärten Besonnenheit. Viel häufiger bricht das Unbewusste unvermittelt ins Bewusstsein und wird dem Subjekt so zur Gefahr. Zum einen, weil das rauschhafte Erleben alle anderen Bewusstseinsinhalte verdrängt, das Subjekt sich im Strudel des Unbewussten zu verlieren droht. Zum anderen, weil auf den Rausch die Ernüchterung folgt und das soeben Erinnerte wieder vergessen wird. Als Senta nach Eriks Traumerzählung in der Erlösung des Holländers ihr eigenes Schicksal zu erkennen meint und ruft »Ich muß ihn sehn! / Mit ihm muß ich zu Grunde gehen!«, gerät sie »in Ekstase« und versinkt kurz darauf wieder in »stummes Sinnen« (H, 34). Diese unmittelbare Rücknahme der Bewusstwerdung ist ebenso bei der Anamnese Siegmund und Sieglindes im ersten Akt der Walküre am Werk: »Bist du Siegmund / den ich hier sehe – / Sieglinde bin ich, / die dich ersehnt«. Obwohl diese Worte die begrifflich-reflexive Festschreibung der Identität suggerieren, ruft Sieglinde sie »in höchster Trunkenheit«. Danach sinkt sie »mit einem Schrei« wie bewusstlos an Siegmunds Brust (W, 33). Und auch Brünnhildes finaler Erinnerungsakt am Schluss der Götterdämmerung, durch den sie »wissend« wird (G, 108), endet in verzückter Ekstase: »Helles Feuer / faßt mir das Herz: / ihn zu umschlingen, / umschlossen von ihm, / in mächtigster Minne / vermählt ihm zu sein!« ruft sie, schwingt sich »stürmisch« auf ihr Ross und »sprengt es mit einem Satze in den brennenden Scheiterhaufen.« (110f.) In dem Moment, in dem die Figuren zu sich finden, sind sie außer sich. Das Wiedererinnern trägt das Wiedervergessen bereits in sich; es gelingt den Figuren nicht, das wiedergefundene Wissen dauerhaft im Bewusstsein zu bewahren. 342

Das folgende Kapitel wird deshalb versuchen, die ekstatische Selbsterkenntnis in Wagners Musikdramen als ein Gedächtnisproblem zu begreifen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Theorie der Romantik, in der bereits Zweifel an einer dauerhaften Vermittlung des Unbewussten mit dem Bewusstsein laut wurden. Dies zeigt sich etwa in Schellings Ferneren Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802), wo betont wird, dass die Bewusstwerdung des Unbewussten nur in »Augenblicken« gelingen könne: Jeder ist von Natur getrieben, ein Absolutes zu suchen; aber indem er es für die Reflexion fi xieren will, verschwindet es ihm. Es umschwebt ihn ewig, aber er kann es nicht fassen. Es ist nur da, inwiefern ich es nicht habe, und inwiefern ich es habe, ist es nicht mehr. Nur in Augenblicken, wo in diesem Streit die subjektive Thätigkeit sich mit jenem Objektiven in unerwartete Harmonie setzt, tritt es vor die Seele.1 (S I/4, 357)

In dieselbe Richtung gehen Novalis’ Überlegungen zum Phänomen der Ekstase, die sich in einem Fragment der »Blütenstaub«-Sammlung finden. Dem Menschen könne es gelingen, »außer sich zu seyn«, ein Vermögen, durch das er eine Ansicht seines »wahrhaftesten, eigensten Lebens« gewinne. Doch »die Besonnenheit in diesem Zustande, die Sich Selbst Findung« sei sehr schwer, »da er so unaufhörlich, so nothwendig mit dem Wechsel unsrer übrigen Zustände« verbunden sei. Die Ekstase kann deshalb nicht von Dauer sein: »Gewisse Stimmungen sind vorzüglich solchen Offenbarungen günstig. Die Meisten sind augenblicklich – Wenige verziehend – die Wenigsten Bleibend.«2 Es war Jean Paul, der dieses von Schelling und Novalis formulierte Gedächtnisproblem in ein anschauliches Bild brachte: Von der weiten vollen Weltkugel des Gedächtnisses drehen sich dem Geiste in jeder Sekunde immer nur einige erleuchtete Bergspitzen vor und die ganze übrige Welt bleibt in ihrem Schatten liegen.

Dieser Satz findet sich in Pauls Romanfragment Selina. Er folgt auf das berühmte Diktum, dass »das ungeheure Reich des Unbewußten« das »wahre innere Afrika« sei.3 Es ist bedauerlich, dass er nicht ebenso häufig zitiert wird. Denn er formuliert ein Problem, das für die romantische Konzeption des Unbewussten von zentraler Bedeutung ist: das prekäre Verhältnis von Gedächtnis und Erinnerung. In der Romantik und im Werk Richard Wagners wurde akut, was in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung der letzten Jahre ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist: Die Erinnerung schließt das Vergessen immer schon mit 1

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Schellings Ausführungen erinnern an ähnliche Überlegungen Friedrich Schlegels. In dessen Theorie zeigt das Bild des Blitzes an, dass das Unendliche im Endlichen nur kurz aufflackern kann, und in dem Moment, in dem es erscheint, schon wieder schwindet. Vgl. hierzu Frank, Philosophische Grundlagen der Frühromantik, S. 120. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 420–422. In diesem Sinne schreibt Novalis über das Ich: »Es findet sich, außer sich.« (ebd., S. 150). Paul, Sämtliche Werke, Bd. I/6, S. 1182.

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ein. Sie ist nicht plan- oder vorhersehbar, sondern widerfährt dem Subjekt. Und ebenso schnell, wie sie gekommen ist, ist sie auch wieder verschwunden. Diesem unkontrollierbaren Prozess aus Erinnern und Vergessen steht zum einen das ›IchGedächtnis‹ gegenüber, in dem das Subjekt seine Vergangenheit bewusst zu rekonstruieren und mit seinem Selbstbild in Einklang zu bringen versucht. 4 Zum anderen aber die Gedächtniskunst, die das im Gedächtnis aufbewahrte Wissen – etwa durch Mnemotechniken wie das Auswendiglernen – dauerhaft im Bewusstsein behalten will.5 Die These dieses Kapitels ist, dass die destabilisierende Kraft der Erinnerung in Richard Wagners Musikdramen als Wahnsinn zu Tage tritt. Da das Wissen des Unbewussten so plötzlich und unvermittelt wieder aus dem Bewusstsein verschwindet, wie es dort eingebrochen ist, erscheinen die Figuren verwirrt und fassungslos. Sie drohen an den Kapriolen ihres Gedächtnisses irre zu werden. Wagner diagnostiziert dem modernen Menschen ein Bewusstsein, das zwischen Erinnern und Vergessen, Wachen und Träumen hin- und hergerissen ist. Doch er bietet auch Heilung an: Nicht zuletzt durch eine Ästhetik, die Erinnerung und Gedächtnis miteinander versöhnen und so der Bewusstwerdung des Unbewussten jene Dauerhaftigkeit verleihen soll, die ihr eigentlich versagt ist.

6.1.

Tristans Taumel: Wahnsinn als Gedächtnisstörung

Zu Beginn sei noch einmal jene Szene im Fliegenden Holländer in Erinnerung gerufen, in der Sentas Blick vom im Porträt dargestellten auf den realen Holländer übergeht: ein Déjà-vu, bei dem Senta einen »gewaltigen Schrei der Überraschung« ausstößt (H, 35). Der Tonsatz wird in diesem Augenblick brutal auseinandergerissen. Der zuvor erklungene Dominantseptakkord auf E wird nicht aufgelöst, stattdessen knallt das Orchester im tutti und fortissimo einen extrem dissonanten Klang, der in den tiefen und mittleren Lagen einen Tritonus enthält (SW 4/II, Nr. 6, T. 1). Dann verstummt die Musik, der Rest des Taktes ist eine Generalpause, die erst durch den folgenden, vorsichtigen Paukenschlag in piano durchbrochen wird. Was Wagner hier komponiert, ist die unvermittelte Plötzlichkeit der Erkenntnis, die wie ein Blitzschlag6 in Sentas Bewusstsein bricht. Wir werden Zeuge einer

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Vgl. Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft, S. 182. Vgl. Assmann, Erinnerungsräume, S. 27–32. Diese Deutung des Blickes als ein Blitz wird auch in Siegmunds Monolog im ersten Aufzug der Walküre deutlich. Dort vermeint Siegmund durch das Aufleuchten des Feuers den Blick Sieglindes wiederzusehen: »Des Blinden Auge / leuchtet ein Blitz: / lustig lacht da der Blick. / […] Ist es der Blick / der blühenden Frau, / den dort haftend / sie hinter sich ließ, / als aus dem Saal sie schied?« (W, 21) Auch hier wird also, wie im Holländer, das Déjà-vu als ein Imprévu gedeutet. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die etymologische Verwandtschaft von Blick und Blitz, auf die Oswald Panagl hinweist. Vgl. Müller / Panagl, »Ein Blick sagt mehr als eine Rede«, S. 327.

Abb. 11: Sentas Déjà-vu als Imprévu (SW 4/II, Nr. 6, T. 1-5).

Liebe auf den ersten Blick, eines ›coup de foudre‹, der das Déjà-vu als ein Imprévu entlarvt.7 Neben der Musik macht vor allem Sentas Schrei diese überraschende

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Es war Henri Bergson, der im Jahr 1908 in seinem Aufsatz über die ›fausse reconaissance‹ darauf verwies, dass sich Erinnerungs- und Wahrnehmungsakt überlagern, im Déjàvu also immer schon die Erfahrung unmittelbarer Gegenwärtigkeit mitschwingt. Vgl. Bergson, Oeuvres, Paris 1959, S. 879–930. Diesen Gedanken hat Gerhard Neumann in seinem Aufsatz über »Imprévu und Déjà-vu« zum Anlass genommen, das Wechselspiel beider Elemente im Liebesaugenblick eingehend zu analysieren. Neumann geht davon aus, dass das »unbegreifliche Ineinanderspielen von vorweggenommenem ›Stereotyp‹ und ›Mächtigem Überraschen‹« erstmals durch Stendhals Le rouge et le noir (1830) in die europäische Literatur eingeführt worden sei (G. Neumann, Imprévu und Déjà-vu, S. 82). Auf die Tatsache, dass sich im Déjà-vu verschiedene Zeitebenen überlagern, verweist auch Harald Neumeyer: »Im Hier und Jetzt wird etwas als Vergangenes geahndet.« (Neumeyer, »Zwischen Erinnerung und Ahnung«, S. 131) Gabriele Brandstetter hat in demselben Sammelband gezeigt, dass auch Walter Benjamin die »Augenblicks-

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Unvorhersehbarkeit hörbar, die jeder Anamnese innewohnt.8 Auch in den folgenden Musikdramen wird Wagner das Déjà-vu in dieser Weise inszenieren: Elsa stößt beim Anblick Lohengrins einen »hellen Schrei des Entzückens« aus (L, 19); Eva gibt beim Eintritt Walthers in die Schusterstube »einen leisen Schrei« von sich (M, 138). Ein Blick auf die Gesamtanlage des Holländers zeigt, dass die Bewusstwerdung des Unbewussten bei Senta stets plötzlich und unvermittelt geschieht. Dies impliziert, dass auf die schlagartige Erinnerung das Vergessen und Zurücksinken ins Unbewusste folgt. Senta entwickelt im Laufe der Handlung ein ekstatisches Bewusstsein, das einem abrupten und unvorhersehbaren Auf und Ab gleicht. Zu Beginn des zweiten Aktes ist sie zunächst »im träumerischen Anschauen des Bildes im Hintergrunde versunken« (H, 20). Erst als sie »mit zunehmender Aufregung« die Ballade singt, scheint sie aus dieser Bewusstlosigkeit erwachen zu können. Doch da sie von ihrem Gesang »zu heftig angegriffen« ist, sinkt sie am Ende der dritten Strophe »in den Stuhl zurück« (26). Deshalb übernimmt der Chor der Mädchen den Refrain, den Senta jedoch unvermittelt unterbricht: »Von plötzlicher Begeisterung hingerissen, springt sie vom Stuhle auf« und ruft: »Ich sei’s, die dich durch ihre Treu’ erlöse!« Diese erste Ekstase löst bei Mary, Erik und den Mädchen Entsetzen aus. Doch erst als Erik Senta daran erinnert, dass ihr Vater naht, reagiert sie: »Senta, die in ihrer letzten Stellung verlieben und von allem nichts vernommen hatte, wie erwachend und freudig auffahrend: Der Vater kommt?« (27) Aus ihrer Verzückung wieder zu sich gekommen, scheint Senta vergessen zu haben, was ihr soeben widerfahren ist. »Ich bin ein Kind, und weiß nicht, was ich singe …« (31), antwortet sie, als Erik ihr vorwirft, dass sie von ihrer Schwärmerei für das Holländer-Porträt nicht ablasse und schon wieder die Ballade gesungen habe. Doch schon während der darauf folgenden Traumerzählung »versinkt sie wie in magnetischen Schlaf«, aus dem sie wieder »schnell erwachend, in höchster Verzückung« auffährt und abermals in Ekstase gerät. Erik stürzt entsetzt davon, während Senta, »nach dem Ausbruch ihrer Begeisterung in stummes Sinnen versunken«, in ihrer Stellung verbleibt, »den Blick auf das Bild geheftet« (34). Sie befindet sich wieder in jenem träumerischen Anschauen des Holländer-Porträts, mit dem ihr Auftritt begann. Alles, was sie zuvor gesungen und gesagt hat, ist wieder aus ihrem Bewusstsein verschwunden. In diesen Szenen wird deutlich, dass das Wechselspiel zwischen unbewussten und bewussten Zuständen in Der fliegende Holländer durch die Körpersprache

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Struktur«, »das Moment des Schocks als blitzhafte Bewusstwerdung« für das Déjà-vu als charakteristisch ansah. Gabriele Brandstetter, Der unheimliche Gast. Zur Figur des Déjà-vu bei E.T.A. Hoffmann, C.F. Meyer und Walter Benjamin. In: Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, hg. von Günther Oesterle, München 2003, S. 151–162, hier S. 152. Die Tatsache, dass Wagner diese Stelle zehn Jahre später uminstrumentierte, hat vielleicht nicht nur mit seinem Bemühen zu tun, die Dynamik der Urfassung zurückzunehmen. »Man soll über Senta’s Schrei beim Anblick des Holländers erschrecken, nicht aber über die Pauke und das Blech« (SB V, 162), schrieb er an Franz Liszt.

codiert wird. Senta fährt aus ihrer starren Bewusstlosigkeit auf, um dann wieder unvermittelt dorthin zurückzusinken. Dass sich dieser Vorgang nicht nur einmal, sondern mehrmals wiederholt, spricht für die Instabilität ihres Bewusstseins. Nicht umsonst erscheint Senta ihrer Umgebung als Wahnsinnige: »Sie ist von Sinnen!« rufen die Mädchen erschreckt nach Sentas erstem Ausbruch (H, 27). Die Plötzlichkeit ihrer Erinnerung wird Senta zum Verhängnis. So schnell ihr das Wissen von ihrem Schicksal vor Augen steht, so schnell entschwindet es ihr wieder. Sie vermag nicht, es dauerhaft im Bewusstsein zu bewahren. In sämtlichen Musikdramen Richard Wagners spielt dieser Zusammenhang von Plötzlichkeit, Wahnsinn und Gedächtnis eine entscheidende Rolle. Beschrieben wird er stets durch die Körpersprache der Figuren, ihr abwechselndes Auffahren und Niedersinken. So etwa im dritten Akt des Lohengrin, als Elsa auf einmal das Herannahen des Schwanes zu vernehmen glaubt. »In heftigster Aufregung zusammenschreckend und wie lauschend« fragt sie Lohengrin: »Hörtest du nichts? Vernahmest du kein Kommen?« Dann ruft sie, »vor sich hinstarrend«: »Ach nein! – – Doch dort! Der Schwan, der Schwan! / Dort kommt er auf der Wasserflut geschwommen … / Du rufest ihn, – er zieht herbei den Kahn! –« (L, 63f.) Elsas Somnambulismus, der im ersten Akt noch als eine göttliche Gabe erschien, verwandelt sich nun in einen gefährlichen Irrsinn. Dies liegt vor allem an der Plötzlichkeit, mit der die Vision in ihr Bewusstsein dringt. Ähnlich wie im Holländer komponiert Wagner an dieser Stelle einen abrupten Schlag im Orchester, der die harmonische Logik der vorhergehenden Takte durchbricht. Die Bläser spielen im fortissimo einen verminderten Dreiklang auf Ais-Cis-E-G, der die zuvor durch den Dominantseptakkord auf H angedeutete Auflösung nach E-Dur verweigert (SW 7/III, T. 707). Nun zählt die Darstellung von Überraschung und Schrecken durch den verminderten Septakkord seit Monteverdi zum Standard-Repertoire der Opernkomponisten. Aber Wagner geht es um mehr: Der grelle Blitzschlag der Bläser signalisiert, dass Elsa in einen anderen, wahnsinnigen Bewusstseinszustand gerät. Dieser ist durch den Tritonus gekennzeichnet, der am deutlichsten bei Elsas »Ach nein!« hörbar wird (T. 711f.), aber auch in der folgenden Gesangslinie, die vom H’ zum F’’ führt und dabei von der Gis-D-Spannung des Streichertremolos begleitet wird. Später, in den Meistersingern von Nürnberg, wird Wagner den Wahn ebenfalls durch den Tritonus versinnbildlichen. Neben der Musik zeugt die Sprache, in der die Vision gehalten ist, von der labilen Geistesverfassung Elsas. Sie unterscheidet sich stark von der in den vorhergehenden und folgenden Versen. Das »Hörtest du nichts? Vernahmest du kein Kommen?« wirkt durch seinen deklamatorischen Stil innerhalb der dreihebigen Jamben wie ein Fremdkörper. Elsas Verwirrung wird durch die auffällige Interpunktion versinnbildlicht: Die Gedankenstriche, etwa zwischen »Ach nein!« und »Doch dort!« sowie die Auslassungspunkte durchbrechen den Redefluss und lassen ihre Worte abgehackt und unzusammenhängend erscheinen. Es war Heinrich von Kleist, der in einem Brief an seine Halbschwester Ulrike aus dem Jahr 1801 diese Zerstückelung der Sprache angesichts der Unaussprechlichkeit des Unbewussten 347

reflektierte: »Es giebt kein Mittel, sich Andern ganz verständlich zu machen«, mitzuteilen, wie es im »Innersten« der Seele aussehe. »Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht mahlen u was sie uns giebt sind nur zerrissene Bruchstücke.«9 Anhand der stammelnden, abgehackten Sprache zeigt sich, dass Elsas Gedächtnis durch die Eruption des Unbewussten zu zerreißen droht. Sie ist nur noch zu einer zusammenhanglosen Wahrnehmung fähig. Damit erscheint auch im Lohengrin der Wahnsinn als eine Gedächtnisstörung. Dadurch, dass Elsa die Ahnung der baldigen Wiederkehr des Schwanes plötzlich bewusst wird, verliert sie die Fassung und gerät außer sich. Selbst Lohengrins mahnende Worte – »Elsa, beruh’ge deinen Wahn!« (64) – können daran nichts mehr ändern. Der tragische Schluss des Musikdramas ist besiegelt: In höchster Aufregung fragt Elsa Lohengrin nach seinem Namen und seiner Herkunft. Just in diesem Augenblick stürmt Friedrich mit seinen Gefolgsleuten ins Brautgemach, um Lohengrin zu töten. Dieser streckt Friedrich »mit einem Streiche« tot zu Boden. »Elsa, die sich vor Lohengrins Brust geworfen hatte, sinkt ohnmächtig langsam an ihm zu Boden.« Wie Senta fällt sie nach ihrer Ekstase ins Unbewusste zurück. Es herrscht, so notiert Wagner im Textbuch, »lange atemlose Stille.« (65) Im Ring des Nibelungen wird dieses Motiv aufgenommen und weiterentwickelt. Wie die Einleitung dieses Kapitels bereits andeutete, wird Sieglinde am Schluss des ersten Walküre-Aktes von einer plötzlichen Ekstase erfasst. Diese beschreibt Wagner an mehreren Stellen als ein »Entzücken«: Als Siegmund »mit einem gewaltigen Zuck« das Schwert aus dem Stamm zieht, zeigt er es »der von Staunen und Entzücken erfaßten Sieglinde.« (W, 32) Dass dieser Zustand ihr gefährlich werden könnte, beginnt Sieglinde sehr früh zu ahnen: »Mir zagt’s vor der Wonne, / die mich entzückt« (29). Allerdings wird erst beim folgenden Auftritt des Zwillingspaares deutlich, dass Sieglinde durch das Erlebnis der Ekstase verrückt zu werden droht. Ihre Körpersprache verrät ein inneres Zittern, eine enorme Nervosität, die ihre Psyche destabilisiert. Ihr Entzücken wird zu einem Zucken. »Sie schreitet hastig voraus«, während Siegmund sie aufzuhalten versucht. »Raste nun hier: / gönne dir Ruh’!« ruft er, doch sie will »Weiter! Weiter!« Daraufhin umfasst er sie »mit sanfter Gewalt« und mahnt: Nicht weiter nun! / Verweile, süßestes Weib! – / Aus Wonne-Entzücken / zucktest du auf, / mit jäher Hast / jagtest du fort / […] sprachlos schweigend / sprangst du dahin; / zur Rast hielt dich kein Ruf. (W, 57f.)

Doch Siegmund vermag Sieglinde nicht zu beruhigen. »Sie starrt wild vor sich hin«, während er spricht. Und auch nachdem er sie zu einem Steinsitz geleitet hat, um ihr Ruhe zu verschaffen, »fährt sie mit jähem Schreck auf« und ruft: »Hinweg! hin-

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Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 4, S. 196f. Zum Thema der Sprachskepsis bei Kleist vgl. die Analyse des Zerbrochnen Krugs in 2.2.2.

weg! / flieh die Entweihte!« (58) Sie gerät in einen paranoiden Wahn und vermeint Hundings Meute nahen zu sehen, die Siegmund zerfleischt: Sieglinde schrickt auf und lauscht. Horch! die Hörner – / hörst du den Ruf? – / Ringsher tönt wütend Getös’; / aus Wald und Gau / gellt es herauf. / Hunding erwachte / von hartem Schlaf; / […] Sie lacht wie wahnsinnig auf: – dann schrickt sie ängstlich zusammen. / Wo bist du, Siegmund? / seh’ ich dich noch? / […] Horch! o horch! / das ist Hundings Horn! / Seine Meute naht mit mächtiger Wehr. / Kein Schwert frommt / vor der Hunde Schwall: – / wirf es fort, Siegmund! – / Siegmund – wo bist du? – / Ha dort – ich sehe dich – / schrecklich Gesicht! – / Rüden fletschen / die Zähne nach Fleisch; / sie achten nicht / deines edlen Blicks; / bei den Füßen packt dich / das feste Gebiß – / du fällst – / in Stücken zerstaucht das Schwert: – / die Esche stürzt – / es bricht der Stamm! – / Bruder! mein Bruder! / Siegmund – ha! – Sie sinkt mit einem Schrei ohnmächtig in Siegmunds Arme. (60f.)

Genau wie in Der fliegende Holländer und Lohengrin ist es in der Walküre nicht nur die Verzerrung der Wahrnehmung, die Sieglindes Wahnsinn charakterisiert, sondern in erster Linie das Hin- und Hergerissensein zwischen Unbewusstem und Bewusstem. Sieglinde fährt plötzlich auf und sinkt dann wieder in sich zusammen. Wie Elsas Wahnsinnsvision werden auch ihre Worte durch zahlreiche Gedankenstriche unterbrochen, ihre Rede wirkt atemlos, gehetzt und deshalb unzusammenhängend und irr. Doch Wagner geht in der Walküre noch einen Schritt weiter, indem er die verstörende Unmittelbarkeit der Erinnerung auf ein traumatisches Ereignis zurückführt. Nachdem Siegmund zum Kampf mit Hunding aufgebrochen ist, wird Sieglinde von einem Traum geplagt, in dem sich die Katastrophe ihrer Kindheit wiederholt: Das Elternhaus brennt, sie wird von Siegmund getrennt.10 »Zu Hilfe, Bruder!« ruft sie im Schlaf. Währenddessen ist ein Gewitter aufgezogen, »starke Blitze zucken durch das Gewölk auf; ein furchtbarer Donnerschlag erweckt Sieglinde: sie springt jäh auf« und ruft: »Siegmund! – Ha!« Sie starrt »mit steigender Angst um sich her« (70). Als sie den Kampf vernimmt und schließlich Siegmunds Todesseufzer an ihr Ohr dringt, sinkt sie »mit einem Schrei wie leblos zusammen.« (72) Die Parallelisierung des Blitzschlages mit der traumatischen Trennung der Geschwister gibt der Darstellung des Wahnsinns in den Musikdramen Richard Wagners eine neue Qualität. Die Unmöglichkeit, die Erinnerung ins Gedächtnis zu integrieren, erscheint nun psychologisch begründet. Im Holländer ist dies noch nicht der Fall, im Lohengrin wird das Kindheitstrauma Elsas allenfalls angedeutet: Die Erinnerung an den Schwan, die sie im dritten Akt heimsucht, spielt auf die frühe Trennung von ihrem Bruder an, der von Ortrud in einen Schwan verwandelt wurde. Kein Zweifel: Senta, Elsa und Sieglinde haftet etwas »Somnambules, Verzücktes« an, das Thomas Mann an den Frauenfiguren Wagners beobachtete und das ihn 10

Vgl. zum Motiv des Traumas in der Walküre und im Lohengrin die entsprechenden Ausführungen in 3.4.2.

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zu dem Schluss brachte, dass deren »romantische Heroik« mit »bedenklicher Modernität« durchsetzt sei. Diese Feststellung deckt sich mit der Beobachtung, dass Wagner der bedrohlichen Seite der Ekstase große Aufmerksamkeit widmet. Seine weiblichen Protagonisten wirken aufs Äußerste zerrissen, weil das Unbewusste wie ein Blitzschlag in ihr Bewusstsein bricht. Dennoch greift es zu kurz, wenn man diese Darstellung als eine geschlechtertypische versteht und wie Thomas Mann als ein Zeichen der »Edelhysterie« deutet.11 Denn Wagners Musikdramen kennen auch den wahnsinnigen Mann, wie die Figur des Mime zeigt. Deren Gestik gleicht in auffälliger Weise jenem unvermittelten Auffahren und Niedersinken, das als Signum der Geistesstörung dem Körper eingeschrieben ist. Zu Beginn der zweiten Szene des dritten Aktes von Siegfried sieht der Zuschauer Mime »verzweifelnd auf dem Schemel hinter dem Amboß« zusammengeknickt – er weiß nicht, wie er Siegfried das Schwert Nothung neu schmieden soll. Als Wotan in der Gestalt des Wanderers die Bühne betritt und seine Worte an Mime richtet, ist dieser »erschrocken aufgefahren« (Sf, 25). Während der nun folgenden ›Wissens-Wette‹, die sich zwischen Wotan und Mime entspinnt, tritt dessen Wahnsinn nach und nach zu Tage. Während der ersten Fragerunde stellt Mime seine Frage »nach einigem Nachsinnen«, bei der zweiten ist er schon »in tieferes Sinnen« geraten, bei der dritten »ganz in Träumerei entrückt«. Doch dann, als Wotan auch die dritte Frage richtig beantwortet und dabei »wie unwillkürlich mit dem Speer auf den Boden« stößt, lässt sich »ein leiser Donner« vernehmen, »wovon Mime heftig erschrickt.« Er ist, wie es im Libretto weiter heißt, »aus seiner träumerischen Versunkenheit aufgefahren« (28–31). Dieses Muster wiederholt sich in der zweiten Fragerunde, während der Mime wiederum ins Unbewusste zu entrücken scheint: »Seine gegenwärtige Lage immer mehr vergessend«, wird er »von dem Gegenstande lebhaft angezogen.« (33) Aber als ihm Wotan die dritte und letzte Frage stellt – wer wird Nothung neu schweißen? –, weiß Mime keine Antwort und wird jäh aus seinen Träumen gerissen. Er »fährt im höchsten Schrecken auf« und ruft: »Die Stücken! das Schwert! / Oh weh! mir schwindelt!« (35) Nun verkündet Wotan die Antwort und geht lachend in den Wald zurück. Mime dagegen »ist, wie vernichtet,

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Vaget, Im Schatten Wagners, S. 94. Das Phänomen der Hysterie in Wagners Musikdramen wurde bisher untersucht von Elisabeth Bronfen, Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin 1998, S. 341–362. Bronfen widmet sich der Figur der Kundry und untersucht sie vor dem psychiatrischen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts. Sie geht auf die Überzeugung des berühmten Nervenarztes Charcot ein, dass die Hysterikerin »durch ihre Inzenierung Wirkung als Wahrheit maskiert«. Die Hysterikerin inszeniere sich selbst in verschiedenen Rollen, doch obwohl sie jedesmal überzeugt sei, dass sie die Wahrheit spielt, lasse schon allein die Vielzahl der Rollen den Schluss zu, »daß alle ihre Symptome ein Artefakt sind« (ebd., S. 342f.). Diesen histrionischen Charakterzug der Hysterikerin sieht Bronfen in Kundrys wiederholtem Lachen am Werk und erkennt darin ein dekonstruktivistisches Potential. Kundry lache »über die fehlbaren Repräsentanten der väterlichen Macht« und unterminiere damit »jene symbolische Ordnung«, die sie durch ihr Verhalten zugleich stütze (ebd., S. 345).

auf den Schemel hinter dem Amboß zurückgesunken: er stiert, grad’ vor sich aus, in den sonnig beleuchteten Wald hinein. – Nach längerem Schweigen gerät er in heftiges Zittern.« (36) Es folgt eine Halluzination, die nicht nur ihrem alptraumartigen Inhalt, sondern auch ihrer Diktion nach an diejenige Sieglindes erinnert: »Verfluchtes Licht! / Was flammt dort die Luft? / Was flackert und lackert, / was flimmert und schwirrt, / was schwebt dort und webt / und wabert umher? […] Ein gräßlicher Rachen / reißt sich mir auf! – / Der Wurm will mich fangen! / Fafner! Fafner!« Daraufhin schreit Mime »laut auf und knickt hinter dem breiten Amboß zusammen.« (36f.) Das Flackern und Flirren, das Mimes Wahnsinns-Rede an dieser Stelle beschwört, veranschaulicht den Zustand seines labilen Bewusstseins auf eindringliche Weise: Seine Sinne verwirren sich, er weiß nicht mehr zwischen Phantasie und Realität zu unterscheiden. Zugleich erinnert das Bild an das permanente Wechselspiel von Licht und Dunkel, Erinnern und Vergessen, dem Wagners Figuren unterworfen sind. Nur kurz blitzt die Erkenntnis auf, um dann wieder im Dunkel des Unbewussten zu verschwinden. Bemerkenswert ist im Ring des Nibelungen aber auch, dass der Dramatiker Wagner sich vom Psychologen Wagner unbeeindruckt zeigt. Die Beschreibung der Plötzlichkeit als gefährlichen Wahnsinn hindert ihn nicht daran, sie mit größter Theatralität zur Darstellung zu bringen. Die Szenen, in denen es gewittert und blitzt, zählen zweifellos zu den eindrucksvollsten der Tetralogie und man darf durchaus bedauern, dass die zeitgenössischen Inszenierungen so wenig von den dramatischen Effekten Gebrauch machen, die Wagners Lichtregie bereithält. Man denke nur an den Einzug der Götter in Walhall am Ende des Rheingolds, der als Bühnenereignis im Stile der Grand Opéra erscheint: Eine Gewitterwolke ballt sich zusammen, der ein »starker Blitz« entfährt. Dann, »plötzlich«, verzieht sich die Wolke und die Regenbogenbrücke taucht auf, von der Abendsonne beschienen (R, 93). Noch komplexer gestaltet Wagner das Gewitter am Schluss des zweiten Walküre-Aktes, wo der Kampf Siegmunds mit Hunding nur durch vereinzelte Blitze sowie den abrupt und grell aufscheinenden Lichtglanz Wotans und Brünnhildes erhellt wird (W, 72f.). Ein Motiv, das der ›Walkürenritt‹ des folgenden Aktes wiederholt: »Einzelne Wolkenzüge jagen, wie vom Sturm getrieben«, vorbei, als plötzlich »Blitzesglanz« ausbricht: »eine Walküre zu Roß wird in ihm sichtbar« (74). Auch wenn er die Problematik der plötzlichen Wahrnehmung erkannt hatte, wusste Wagner seinen Zuschauern sehr wohl jene grellen Überraschungseffekte zu bereiten, die er in Oper und Drama noch als bloßen Theaterdonner verworfen hatte.12

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»Wir kennen jetzt die übernatürlichen Wunder, mit denen einst die Priesterschaft kindliche Menschen der Art täuschte, daß sie glauben mußten, irgendein lieber Gott gebe sich ihnen kund: nichts als die Mechanik hat von je diese täuschenden Wunder gewirkt. So wird auch heutzutage das Übernatürliche, eben weil es das Unnatürliche ist, dem verblüfften Publikum nur durch das Wunder der Mechanik vorgeführt« (OuD, 80).

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Auch in seinen späteren Musikdramen hat Richard Wagner das Thema des Wahnsinns nicht losgelassen. Im Gegenteil: In Tristan und Isolde rückt es ins Zentrum des Werkes und erscheint dabei zutiefst ambivalent: Während die Protagonisten die Wahrnehmung ihrer Umgebung als täuschenden »Wahn« bezeichnen (TuI, 61), erliegen sie diesem permanent: In ihrem Liebesrausch glaubt Isolde statt des Hörnerschalls »des Quelles sanft / rieselnde Welle« zu vernehmen (45). Doch auch im Tristan wird diese Verzerrung der Wahrnehmung als ein Gedächtnisphänomen beschrieben. Gleich zu Beginn wird klar, dass es vor allem Isoldes unvermittelt wechselnde Bewusstseinszustände sind, die sie in den Augen Brangänes als »wild verstört« erscheinen lassen (10). Wir sehen Isolde ›auf einem Ruhebett, das Gesicht in die Kissen gedrückt.« (7) Sie befindet sich, ähnlich wie Senta bei ihrem ersten Auftritt, in völliger Bewusstlosigkeit. »Kalt und stumm, / bleich und schweigend / […] starr und elend« sei Isolde auf der Überfahrt gewesen, berichtet Brangäne (10). Doch als sie die Stimme des jungen Seemannes vernimmt, fährt sie »jäh« auf und blickt »verstört« um sich (7). Ebenso erwacht Tristan im ersten Akt mit unvermittelter Heftigkeit. Er blickt zunächst »sinnend« ins Meer (10f.), aber als Kurwenal ihn am Gewand zupft, um ihm eine Botschaft von Isolde anzukündigen, sagt Tristan »auffahrend«: »Was ist? – Isolde? –« (13) Obwohl er sich schnell wieder zusammenzureißen versucht, kann er im Laufe der Handlung nur schlecht sein unbeherrschtes Wesen verbergen. Als Isolde mit dem Trank zu ihm tritt, blickt er ihr »starr« in die Augen und entreißt ihr kurz darauf »wild auffahrend« und »ungestüm« die Trinkschale (36f.). In der folgenden Trankszene wird deutlich, dass der Modus der Plötzlichkeit nicht nur ein verstörender Charakterzug der Protagonisten ist, sondern in erster Linie das Gedächtnis betrifft. Obwohl Tristan und Isolde auf den Trank des »Vergessens« anstoßen, entpuppt sich dessen Wirkung als das Gegenteil: Beiden wird die Erinnerung an ihre verdrängte Liebe vollends geweckt. »Von Schauer erfaßt« blicken sie sich mit höchster Aufregung, doch mit starrer Haltung, unverwandt in die Augen […]. – Zittern ergreift sie. Sie fassen sich krampfhaft an das Herz, – und führen die Hand wieder an die Stirn. – Dann suchen sie sich wieder mit dem Blicke, senken ihn verwirrt, und heften ihn von Neuem mit steigender Sehnsucht auf einander. (38)

Die Liebe bietet keine Erlösung von den Lebensqualen, sondern ist ein krampfhaftes Zittern: Die Schlagartigkeit, mit der sie die Anamnesis in diesem Augenblick überfällt – das in ihrem Déjà-vu enthaltene Imprévu –, bringt die Liebenden in große Gefahr. Es verdrängt alles, was vorher in ihrem Bewusstsein gespeichert war: Der Liebestrank ist Erinnerungs- und Vergessenstrank zugleich. Als Brangäne des »in Liebesumarmung versunkenen Paares« gewahr wird, stößt sie verzweifelte Weh-Rufe aus, und Tristan und Isolde »fahren verwirrt aus der Umarmung auf« (39). Doch sie haben vergessen, was sie auf dem Schiff machen. »Mit reichem Hofgesinde / dort auf Nachen / naht Herr Marke«, frohlockt Kurwenal, worauf Tristan, »in Verwirrung aufblickend«, fragt: »Wer naht?« »Der König«, antwortet Kurwenal, 352

was Tristan immer noch nicht begreift: »Welcher König?« Und selbst als die Männer ihre Heil-Rufe auf »König Marke« anstimmen, löst das bei Tristan nichts als Verwunderung aus: »Marke? Was will er?« Dabei »starrt« er »wie sinnlos nach dem Lande.« (42) Im dritten Akt des Musikdramas wird der Prozess der Wiedererinnerung ebenfalls unmittelbar mit dem Wiedervergessen konfrontiert. Tristan liegt, »auf einem Ruhebette schlafend, wie leblos ausgestreckt.« (78) Sein Erwachen erfolgt langsam, Schritt für Schritt. »Nach langem Schweigen, ohne Bewegung, dumpf« schlägt er die Augen auf und fragt: »Wo – bin ich?« (79) Nun setzt, wie das fünfte Kapitel gezeigt hat, eine narrative Anamnese ein, in deren Verlauf nicht nur die Ereignisse der Handlung, sondern auch Tristans Kindheits-Erlebnisse immer deutlicher in sein Bewusstsein treten. Die Erinnerung erscheint dabei, wie in der Walküre, als ein schmerzvoll-traumatisches Ereignis, das Tristan nicht in sein Bewusstsein integrieren kann: Dies ist der Grund, warum er zurück will in das »Reich der Welten Nacht«, wo »ew’ges Ur-Vergessen« herrscht (83).13 Tristans Körpersprache gibt dieses Hin- und Hergerissensein zwischen der Bewusstwerdung des unbewussten Wissens und dem Wunsch nach dessen Auslöschung wieder: Während des dritten Aktes versucht er wiederholt, sich von seinem Krankenlager zu erheben, um dann wieder erschöpft und bewusstlos zurückzusinken. Zunächst richtet er sich »immer mehr« (84) auf. Doch als er merkt, dass seine Geliebte noch fern ist, lauscht er »mit abnehmender Aufregung« der Weise des Hirten, beginnt kurz darauf aber wieder »mit wachsender Schwermut« von seiner Kindheit zu erzählen, an die ihn die Weise erinnert (88). Schließlich sinkt er »ohnmächtig« zurück, kommt jedoch kurz darauf wieder »langsam« zu sich, um »mit wachsender Begeisterung« von der baldigen Ankunft Isoldes zu sprechen (91ff.). Dabei richtet er sich »hoch« von seinem Ruhebett auf (95). Als seine Geliebte dann tatsächlich das Land erreicht, hat er sich »ganz aufgerafft, und springt jetzt vom Lager«, um ihr »in der furchtbarsten Aufregung« und »taumelnd« entgegenzustürzen. In dem Moment, in dem sich beide begegnen, »sinkt er leblos in ihren Armen langsam zu Boden.«14 (98f.)

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Dass das entscheidende Kriterium des Traumas seine schwierige oder sogar unmögliche Integration ins Bewusstsein ist, wurde in der Forschung wiederholt betont. Vgl. hierzu Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft, S. 188–190 sowie B. Neumann, Literatur, Erinnerung, Identität, S. 154. In der Version der Partitur hat Richard Wagner diese Nebentexte modifiziert, ohne den Grundgedanken des abwechselnden Hochfahrens und Niedersinkens zu ändern. Der Hinweis, dass sich Tristan zunächst »immer mehr« aufrichtet, fehlt. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die folgenden Verse nach Wagners späterem Willen entfallen sollten (vgl. die hier verwendete Ausgabe, S. 84). Dennoch fügte Wagner in der Partitur den zusätzlichen Hinweis an, dass Tristan »erschöpft« und »leise« zurücksinkt (85). Und obwohl er die Nebentexte strich, in denen Tristan »mit wachsender Begeisterung« spricht und sich »auf dem Lager hoch« aufrichtet, notiert er in der Partitur, dass Tristan sich »in höchster Aufregung auf dem Lager« müht und sich schließlich »hoch« aufrichtet (97f.).

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Wiederholt wechselt Tristans Zustand vom Bewussten ins Unbewusste. Die Erlebnisse, die in ihm aufsteigen, werden von der Ohnmacht verdunkelt und vom Tod vollends zunichte gemacht. Die Erfahrung des in der Wieder-Erinnerung verborgenen Traumas destabilisiert das Gedächtnis, weshalb sich Traum und Wachen, Phantasie und Realität überlagern. In letzter Konsequenz erscheint alle Erinnerung und damit das Bewusstsein als solches als täuschende Wahrnehmung, als Wahn.15 Ihm erliegt Tristan, als er in einer rauschhaften Halluzination Isoldes Schiff zu sehen vermeint: »Es naht, es naht / mit mutiger Hast! / Sie weht, sie weht, / die Flagge am Mast. / Das Schiff, das Schiff! / Dort streicht das Schiff! / Dort streicht es am Riff! / Siehst du es nicht? / Kurwenal, siehst du es nicht?« (88) Im Bild des taumelnden Tristan manifestiert sich Richard Wagners Konzeption der gebrochenen und gefährdeten Subjektivität. Denn in dieser gründet der Wahnsinn in seinem Werk, und nicht, wie in den Wahnsinns-Arien der italienischen Oper der 1830er Jahre, in einer tragischen Schicksalsverwicklung.16 Während Lucia di Lammermoor in Gaetano Donizettis gleichnamiger Oper oder Imogene in Vincenzo Bellinis Il Pirata durch den Konflikt mit der Gesellschaft in den Wahnsinn getrieben werden, sind Senta, Elsa und Tristan in ihrer psychischen Konstitution von Beginn an instabil. Die Disposition zum Wahnsinn ist ihrer Subjektivität a priori eingeschrieben. Dies ist auch der Grund, warum es zu kurz griffe, Wagners Darstellung des Wahnsinns als psychiatrische Fälle einzelner, besonders labiler (und meist weiblicher) Figuren zu lesen. Dies gilt es zu beachten, wenn man sich Wagners letztem Musikdrama, dem Parsifal, nähert. Auch in diesem ist die Erin-

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Besonders im Dialog Tristan und Isoldes im zweiten Akt wird dieser Konnex von Erinnerung, Täuschung und Wahn deutlich. Beide sprechen von der »Welt / mit ihren Blenden: / die mir der Tag / trügend erhellt, / zu täuschendem Wahn / entgegengestellt«, und beschwören des »nie-wieder-Erwachens / wahnlos / hold bewußter Wunsch.« (TuI, 61) Auf den Zusammenhang von Erinnerung und Täuschung hat als erster Jörg Krämer hingewiesen. Die Figuren versuchten, ihrer »erinnerungsbeladenen Vergangenheit« zu entkommen: »Der Last der Memoria kann von den Figuren nicht die Gegenwart der Handlungszeit entgegengestellt werden; als Ausweg bleibt lediglich das Urvergessen.« Krämer, Wagners Rhetorik, S. 627. So betont Eva Rieger, die die Darstellung von wahnsinnigen Frauen in der Operngeschichte untersucht hat, in Bezug auf Donizetti und Bellini: »Alle Frauen, die wahnsinnig werden, stehen in einem Feld antagonistischer Kräfte, die sie psychisch zu erdrücken drohen.« Auch macht Rieger darauf aufmerksam, dass sich die Wahnsinnsszenen in der Oper zwischen 1820 und 1880 stark häufen und dass ihre kompositorische Darstellung auf »musikalischer Diskontinuität« aufbaut: »Es gibt rezitativische Bruchstücke, die Vokallinien werden unterbrochen, die Tonarten, das Tempo und das Tongeschlecht unvermittelt verändert, rhythmische Floskeln tauchen auf und verschwinden«. Dies alles helfe, »das Bild eines psychischen Zusammenbruchs herzustellen, bei dem die Gedankenbruchstücke wie im Traum vorbeihuschen und kein Sinn herstellbar ist.« Eva Rieger, Zustand oder Wesensart? Wahnsinnsfrauen in der Oper. In: Wahnsinnsfrauen, hg. von Sibylle Duda und Luise F. Pusch, Frankfurt am Main 1996, Bd. 2, S. 366–389, hier S. 374 u. 378.

nerung mit einem traumatischen Ereignis verbunden, wodurch die Funktionsweise des Gedächtnisses beeinträchtigt wird. Dies wird zum einen deutlich an Amfortas, dessen Trauma sich wie bei Tristan in einer Wunde zeigt. Auch er liegt als Kranker ausgestreckt auf seinem Lager, von dem er sich mehrmals zu erheben versucht, auf das er aber immer wieder zurücksinkt.17 Wiederholt überkommt Amfortas die Erinnerung an seine Sünde, so etwa bei der Enthüllung des Grals im ersten Akt: »Oh! – / Daß keiner, keiner diese Qual ermißt, / die mir der Anblick weckt, der euch entzückt!« (P, 31) Noch intensiver vorgeführt wird der Wahnsinn aber anhand der Figur der Kundry, deren nervös-labiler Charakter bei ihrem ersten Auftritt als ein Taumeln exponiert wird: Kundry stürzt hastig, fast taumelnd herein. Wilde Kleidung, hoch geschürzt; Gürtel von Schlangenhäuten lang herabhängend: schwarzes, in losen Zöpfen flatterndes Haar; tief braun-rötliche Gesichtsfarbe; stechende schwarze Augen, zuweilen wild aufblitzend, öfters wie todesstarr und unbeweglich. (10)

Sodann wirft sich Kundry mit den Worten »Ich bin müde« auf den Boden (ebd.). Diese Charakterisierung wiederholt sich an mehreren Stellen des Musikdramas, etwa kurz vor dem Aufbruch Gurnemanz’ und Parsifals zur Gralsburg: Während Gurnemanz sich väterlich um Parsifal bemüht, schleppt sich Kundry, von beiden unbeachtet, einem Waldgebüsche zu. Nur Ruhe! Ruhe, ach, der Müden! – / Schlafen! – Oh, daß mich keiner wecke! Scheu auffahrend. Nein! Nicht schlafen! – Grausen faßt mich! Nach einem dumpfen Schrei verfällt sie in heftiges Zittern; dann läßt sie die Arme matt sinken, neigt das Haupt tief, und schwankt matt weiter. Machtlose Wehr! Die Zeit ist da. / Schlafen – schlafen –: ich muß. Sie sinkt hinter dem Gebüsch zusammen, und bleibt von jetzt an unbemerkt. (27)

In dieser Szene wird deutlich, dass nicht nur die körperlichen Symptome des Wahnsinns – der Schrei, das Zittern, das plötzliche Auffahren und Zurücksinken – bei Kundry präsent sind. Auch ihre Sprache zeugt von ihrem prekären Geisteszustand: Wagner treibt hier die Zusammenhanglosigkeit der Rede, die sich in den vorhergehenden Werken bereits andeutete, ins Extreme. Als Klingsor Kundry zu Beginn des zweiten Aktes weckt,18 stammelt diese »rauh und abgebrochen, wie im Versuche

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Bei Amfortas’ erstem Auftritt heißt es: »Ein Zug von Knappen und Rittern, die Sänfte tragend und geleitend, in welcher Amfortas ausgestreckt liegt, gelangt, von links her, auf die Bühne.« (P, 10) Dann erhebt Amfortas sich »ein wenig« (11). Nach seinem langen Monolog, der das Gralsamt einleitet, sinkt er »bewußtlos zurück« und erhebt sich dann wieder (33f.). Und kurz darauf: »Während des Mahles, an welchem er nicht teilnahm, ist Amfortas aus seiner begeisterungsvollen Erhebung allmählich wieder herabgesunken: er neigt das Haupt und hält die Hand auf die Wunde.« (37). »Im Todesschlafe hält der Fluch sie fest, / der ich den Krampf zu lösen weiß.« (P, 39) Kundry erwacht mehrmals aus starrem Schlaf: Im ersten Akt erzählt Gurnemanz, wie Titurel einst Kundry im Wald gefunden hat: »Schlafend« sei sie gewesen, »erstarrt, leb-

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wieder Sprache zu gewinnen«: »Ach! – Ach! / Tiefe Nacht – / Wahnsinn! – Oh! – Wut! – / Oh! Jammer! – / Schlaf – Schlaf – / tiefer Schlaf! – Tod!« (40) Erst bei ihrer Begegnung mit Parsifal im Zaubergarten wird deutlich, dass Kundrys Irrsinn von einem Trauma herrührt: Sie erzählt von einem »Fluch«, der sie »endlos durch das Dasein quält« und der sie traf, weil sie den leidenden Heiland verschmäht habe: Ich sah – Ihn – Ihn – / und – lachte … / da traf mich Sein Blick. – / Nun such’ ich ihn von Welt zu Welt, / ihm wieder zu begegnen: / in höchster Not – / wähn’ ich sein Auge schon nah, / den Blick schon auf mir ruhn: – / da kehrt mir das verfluchte Lachen wieder, – / ein Sünder sinkt mir in die Arme! / Da lach’ ich – lache –, / kann nicht weinen: / nur schreien, wüten, / toben, rasen / in stets erneuten Wahnsinns Nacht, / aus der ich büßend kaum erwacht. (60f.)

Die Rückkehr der Erinnerung wird im Parsifal zu einer nicht enden wollenden Repetition eines traumatischen Erlebnisses gesteigert, das »ewig erneut« (33) und unvermittelt ins Bewusstsein bricht.19 Immer wieder entfährt Kundry ihr höhnisches »Ha Ha«, etwa, als sie Klingsor wegen seiner Keuschheit verlacht (42). Man könnte so weit gehen zu behaupten, dass die Figur der Kundry die Summe der Beschäftigung Wagners mit dem Wahnsinn bildet. Erstaunlich ist dabei vor allem, dass Wagner in seinem Spätwerk keine Spur von Altersmilde zeigte und sich genötigt sah, eine derart extreme Figur auf die Bühne zu bringen: Kundry wirkt verstörter als sämtliche Protagonisten seiner Musikdramen, sie hat die Grenze zur vollständigen Geisteszerrüttung fast schon überschritten.

6.2.

Wahnsinn und Gedächtnis in der Romantik

6.2.1. Die Darstellung des Wahnsinns in Platons Phaidros und Cervantes’ Don Quixote Fragt man nach dem kulturgeschichtlichen Ursprung des Zusammenhangs von Wahnsinn und Gedächtnis, so stößt man abermals auf Platons Phaidros. Dort be-

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los, wie tot.« (15) Später, im dritten Akt, wird Gurnemanz sie genau in diesem Zustand wiederfinden und wecken (67). Aleida Assmann bemerkt – unter Hinweis auf Freud – zu dieser als Gefahr erlebten Form der Erinnerung: »Die vorübergehend inerte Erinnerung nimmt die Gestalt des Vergessens an, bis sie wieder zurückgeholt oder rekonstruiert worden ist. Wenn die Erinnerung, um die es dabei geht, ein Affektpotential enthält, das nicht im Verwahrensvergessen unterzubringen ist, sondern durch Verdrängung aus dem Bewußtsein ausgeschlossen werden muß, dann gestaltet sich die Wiederkehr der Erinnerung als ein dämonisches Geschehen. In diesem Fall wird die willentliche Steuerung des Bewußtseins außer Kraft gesetzt, und der Erinnerungsprozeß folgt den Rhythmen einer immanenten Energetik.« (Assmann, Erinnerungsräume, S. 174) Ein Mechanismus, der sich bereits bei Wagner beobachten lässt.

zeichnet Sokrates die Anamnesis in der Form des »Wiedererinnertwerden an die Schönheit« als die »vierte Art des Wahnsinns«: Derjenige, der bei dem Anblick der hiesigen Schönheit, jener wahren sich erinnernd, neubefiedert wird und mit dem wachsenden Gefieder aufzufliegen zwar versucht, aber unvermögend ist, nur wie ein Vogel hinaufwärts schauend, was drunten ist, jedoch gering achtend, beschuldigt wird seelenkrank zu sein […].

Sokrates glaubt, dass diejenigen, die im Diesseits das Urbild des Jenseits wiedersehen, »entzückt« und »nicht mehr ihrer selbst mächtig« seien.20 Wer »ein gottähnliches Angesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche die Schönheit vollkommen darstellen: so schaudert er zuerst, und es wandelt ihn etwas an von den damaligen Ängsten«. Es überfallen ihn »Schauder des Fiebers, Umwandlung und Schweiß und ungewohnte Hitze.«21 Dennoch erweist sich für Sokrates diese Form des Wahnsinns unter allen »Begeisterungen als die edelste und des edelsten Ursprungs«. Derjenige, der »dieses Wahnsinns teilhaftig die Schönen liebt«, werde ein »Liebhaber« genannt.22 Im Augen-Blick der Liebe schwingt immer schon der Wahnsinn mit, denn wer sich an die Idee des Schönen erinnert, vergisst zwangsläufig das Hier und Jetzt. Platon fasst diesen Vorgang in das Bild des Vogels, der zum Himmel abheben will und deshalb den Blick nach oben richten muss. Nur den anderen Menschen, die für die Schönheit weniger empfänglich sind, erscheint dies als verwerfliche Seelenkrankheit. Der Philosoph dagegen adelt die Fähigkeit, das Schöne wieder erblicken zu wollen, als Zugang zum höchsten Wissen. An diesem Punkt wird der Unterschied der platonischen Konzeption des Wahnsinns zu derjenigen Richard Wagners deutlich. Letzterer verweist die Wiedererinnerung auf traumatische Erlebnisse, die im Unbewussten gespeichert werden. Die Erschütterung, die diese unvermittelte Bewusstwerdung provoziert, führt zu einer gebrochenen Subjektivität. Hier zeigt sich abermals der Einfluss der Romantik. Sie war es, die in verschiedenen Wissensfeldern den Zusammenhang von Wahnsinn und Gedächtnis reflektierte und so dem ambivalenten Verständnis entzückter und ekstatischer Geisteszustände den Weg bereitete. Bevor dies näher erläutert wird, sei auf einen Text verwiesen, der eine wichtige Mittlerrolle zwischen der platonischen und der romantischen Vorstellung vom Wahnsinn einnimmt. Die Rede ist von Miguel de Cervantes Saavedras Roman El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha, der 1605 und 1615 in zwei Teilen erschien und knapp zweihundert Jahre später von Ludwig Tieck erneut ins Deutsche übersetzt wurde. Es verwundert nicht, dass sich die dritte Auflage dieser Übertragung in der Wahnfried-Bibliothek befindet,23 hat Richard Wagner doch wiederholt

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Platon, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 571. Ebd., S. 572. Ebd., S. 571. Katalog der Wahnfried-Bibliothek, S. 65.

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seine große Bewunderung für Cervantes’ Werk zum Ausdruck gebracht. In einem Gespräch mit Cosima im Herbst des Jahres 1869 nannte er den spanischen Dichter sogar in einem Atemzug mit Shakespeare, wie dieser gehöre Cervantes zu den Künstlern, »denen man gleich Homer gar nicht die Kunst anmerkt« (CT I, 160).24 Wagner war sich auch der Verbindung des Don Quixote zur Romantik bewusst, wie seine spätere Bemerkung zeigt, dass der Roman dem Werk E.T.A. Hoffmanns »in der Anschauung« verwandt sei (CT I, 331). Das Erstaunliche an der Figur des Don Quixote ist, dass ihr Wahnsinn erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist. Immer wieder betont der Erzähler, dass Quixote eigentlich vernünftige Reden führe und auch über die alltäglichen Dinge des Lebens zusammenhängend sprechen könne. Erst wenn er sich seinen Gesprächspartnern als ein irrender Ritter zu erkennen gibt und ihnen von seinen Abenteuern mit Riesen und Zauberern sowie seiner Dame Dulcinea von Toboso vorschwärmt, halten ihn diese für übergeschnappt. Es sei »wunderbar«, sagt der Pfarrer, »daß außer den Narrheiten, die dieser gute Mann vorbringt, wenn es seine Verrücktheit betrifft, er überaus verständige Sachen redet und in allen Dingen einen hellen und gesunden Verstand beweist, so daß, wenn er nicht auf seine Ritterschaft gebracht wird, ihn jedermann für überaus verständig halten würde.«25 Erstaunlich ist auch, dass Quixotes Gedächtnis außerordentlich gut funktioniert. Nicht nur verbringt er seine Nächte damit, Dulcineas zu gedenken, er vermag es auch, ausführlich über die Ritterromane seiner Zeit und die Tugenden der Ritterschaft zu referieren.26 Die Figur des Quixote bietet einen Speicher, der die kollektiven Erfahrungen einer ganzen Epoche zu bewahren versucht. Cervantes’ Roman stellt ein Archiv jenes mittelalterlichen Wissens dar, das mit der Neuzeit an sein Ende gelangt.

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Diese Aussage notiert Cosima am 16. Oktober 1869 – sie und Richard haben die Lektüre des Quixote im Mai dieses Jahres aufgenommen. Noch zehn Jahre später sprechen die beiden »über das Schicksal der großen Menschen, Shakespeare, Cervantes, Beethoven« (CT II, 370). In der Schrift Über das Dichten und Komponieren, die ebenfalls aus dem Jahr 1879 stammt, verglich Wagner Cervantes’ Roman mit Goethes Faust: »Aber, was Cervantes als Don Quixote und Sancho Pansa ersehen hatte, ging Goethe’s tiefem Weltblicke als Faust und Mephistopheles auf« (SSD X, 144). Die Bedeutung Cervantes’ und des Don Quixote für Wagner hat die Forschung erst in jüngster Zeit herausgestellt. Vgl. hierzu den Aufsatz von Dieter Borchmeyer, Wagner und die spanische Literatur des goldenen Zeitalters. In: wagnerspectrum 6, H. 1, 2010, S. 223–239, hier S. 227–233. Borchmeyer kommt nach seiner Analyse von Wagners Äußerungen zu Cervantes sogar zu dem Schluss, dass Wagner Cervantes vor allem als epischen Dichter »weit höher stellt als Goethe« (ebd., S. 228). Miguel de Cervantes Saavedra, Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, aus dem Spanischen von Ludwig Tieck, Frankfurt am Main 2008, S. 336. So heißt es im achten Kapitel des ersten Teils: »Don Quixote schlief die ganze Nacht hindurch nicht, sondern dachte an seine Gebieterin Dulcinea, um es nachzutun, was er in seinen Büchern gelesen« (ebd., S. 78).

Mit der Steigerung des Erinnerungsvermögens geht aber zugleich der Wahnsinn einher, da Don Quixote durch die Lektüre seiner Bücher das Hier und Jetzt zu vergessen droht. Der Glanz, den die untergegangene Welt idealer Ritterschaft verströmt, verdrängt die Wahrnehmung der Realität: Zwei reisende Benediktiner werden zu bösen Zauberern, die Bartschüssel eines Barbiers zu »Mambrins Helm« und Windmühlen zu Riesen. Kein Zweifel kann diese Wahrnehmung der Welt ins Wanken bringen. Don Quixote ist, wie Hegel in seiner Ästhetik schreibt, »ein in der Verrücktheit seiner selbst und seiner Sache vollkommen sicheres Gemüt, oder vielmehr ist nur dies die Verrücktheit, daß er seiner und seiner Sache so sicher ist und bleibt.«27 Zweifellos trägt der starrsinnige Wahn, mit dem Quixote der Gegenwart die Anerkennung verweigert und die Werte und Taten einer verklärten Vergangenheit im Gedächtnis zu bewahren versucht, ganz im Sinne Platons edle Züge. Doch in Cervantes’ Roman zeigt der Wahnsinn auch seine Schattenseite. Don Quixote gerät immer wieder unvermittelt in großen Zorn, in dem er in blindem Wahn auf seine angeblichen Feinde einschlägt. Besonders deutlich wird diese eruptive Seite des Irrsinns jedoch bei einer weiteren Figur. Die Rede ist von Cardenio, jenem Jüngling, dem Don Quixote und Sancho Pansa im ersten Teil des Romans begegnen. Nachdem sein Freund Fernando ihm seine Verlobte abspenstig gemacht hatte, flüchtete der gekränkte und verzweifelte Cardenio ins Schwarze Gebirge, wo er seither von wiederholten Irrsinns-Anfällen geplagt wird. Von diesen berichtet dem Don Quixote ein Ziegenhirte: Er war ein sehr schöner und ansehnlicher junger Herr, und seine höflichen und wohlgesetzten Reden bewiesen auch, daß er von vornehmer Familie sein mußte […]. Indem er nun noch am besten in seiner Rede fortfuhr, hielt er plötzlich inne und verstummte, lange Zeit schloß er die Augen, indes wir alle verwundert dastanden und warteten, was aus dieser Verzückung werden sollte, es war uns ein kläglicher Anblick, denn sowie er die Augen wieder aufmachte, sah er lange Zeit ganz starr den Boden an, ohne die Augenwimpern zu bewegen, dann drückte er sie wieder zu, rührte die Lippen und zog die Augenbrauen zusammen, woraus wir leichtlich abnahmen, daß ihn wieder ein Anstoß von Wahnsinn überfiele. Er gab uns auch zu erkennen, wie richtig unsre Vermutung gewesen sei, denn wild sprang er plötzlich von der Erde auf und warf sich auf den, der ihm am nächsten stand, mit so großer Gewalt und Wütigkeit, daß, wenn wir ihn ihm nicht aus den Händen rissen, er ihn gewiß mit Faustschlägen und Hieben umgebracht hätte, wobei er beständig ausrief: ›Ha! nichtswürdiger Fernando! Jetzt sollst du deine Beleidigungen bezahlen, diese Hände sollen dir das Herz ausreißen, in welchem alle Bosheiten herbergen und wohnen, vorzüglich Betrug und Hinterlist.‹ […] Daraus schlossen wir aber, daß die Raserei ihn nur zu Zeiten überfiele […].28

Cardenio überfallen seine traumatischen Erinnerungen so plötzlich und unvermittelt, dass er wahnsinnig wird. Es ist erstaunlich, wie genau das Vokabular der Tieckschen Übersetzung auf Wagner vorausweist: die Verzückung, der starre Blick, das Plötzliche. 27 28

Hegel, Werke, Bd. 14, S. 218. Cervantes, Don Quixote, S. 233f.

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6.2.2. Das Gedächtnisproblem im Magnetismus Genau diese Janusköpfigkeit des Wahnsinns ist es, mit der die Romantiker sich auseinandersetzten.29 Er erscheint auf der einen Seite im platonischen Sinne als ›höherer‹ Wahnsinn, auf der anderen Seite aber als destabilisierender Erinnerungsakt. Dabei gilt es zu bedenken, dass das Wort »Wahnsinn« in der deutschen Sprache erst um das Jahr 1780 gebräuchlich wird. Mit dem Aufkommen der Anthropologie, der Erfahrungsseelenkunde und der Psychiatrie wächst auch das Interesse für psychische Zustände, die von der Norm abweichen.30 Allerdings wurden daraus unterschiedliche Theorien abgeleitet. Ein Psychiater wie Reil, der noch in der Aufklärung verwurzelt war, unterschied klar zwischen Vernunft und Wahnsinn. Sein Ziel war es, die Kranken zu klarem Denken zu bringen und sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Die Romantiker wollten diese klare Aufteilung in Gesundheit und Krankheit nicht akzeptieren. Sie sahen den Wahnsinn nicht mehr nur negativ, weshalb ein Anthropologe wie Carl Gustav Carus noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Folgende schreiben konnte: »Der höhere, oder wie Plato ihn ganz recht nennt, der göttliche Wahnsinn entsteht dann erst, wenn in dem Geiste des Menschen, d.h. in der zu ihrem eigenen und wahren Centrum, dem Selbstbewußtsein der Idee gelangten Seele, das Walten einer aus dem großen für uns unbewußten Mysterium der Welt eingedrungenen Idee sich geltend macht und herrschend wird«.31 Wie dieses Zitat zeigt, knüpfen die Romantiker an Platons Engführung von Anamnesis und Wahnsinn an. Dieser wird als eine außergewöhnliche Gedächtnisleistung verstanden, die den Zugang zum unbewussten Wissen garantiert. So erwähnt Gotthilf Heinrich von Schubert den Erfahrungsbericht eines geheilten Wahnsinnigen, den er Johann Christian Reils Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen entnimmt: Ich erwartete […] meine Anfälle mit Ungeduld, denn ich genoß während derselben eine Art von Seligkeit. Alles schien mir leicht, kein Hinderniß hemmte mich, weder in der Theorie, noch in der Ausführung. Mein Gedächtniß bekam auf einmal eine besondere Vollkommenheit – ich erinnerte mich z.B. langer Stellen aus lateinischen Schriftstellern. Es kostete mir im gewöhnlichen Leben viel Mühe, gelegentlich Reime zu finden, aber in der Krankheit schrieb ich so geläufig in Versen, als in Prosa.32

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Paul Arthus Loos war der Erste, der darauf hingewiesen hat, dass der Wahnsinn ein konstantes Motiv in Wagners Werk bildet und die Romantik dabei als entscheidendes Vorbild diente. Auch bei Wagner werde der Wahnsinn sowohl in seiner erschreckenden als auch seiner faszinierenden Form sichtbar. Allerdings konzentrierte er sich dabei zu sehr auf den vielzitierten Topos vom romantischen Künstler als wahnsinnigem Genie, der an der gesellschaftlichen Realität zu zerbrechen droht. Vgl. Loos, Richard Wagner, S. 293–328. Vgl. hierzu Košenina, Vorbewußtsein und Traum, S. 373 sowie Košeninas Beschreibung der Irrenhausbesuche Lichtenbergs, Kleists und Claudius’ in Košenina, Literarische Anthropologie, S. 39–52. Carus, Psyche, S. 440f. Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 149f.

Dieses Phänomen versucht Schubert physiologisch zu erklären,33 und zwar durch das Zusammenwirken des Cerebralsystems mit dem Gangliensystem. Letzteres sei das »Reich« der »Erinnerungen«,34 in dem kein Erlebnis je verloren gehe. Wenn die Scheidewand zwischen beiden Nervenzentren aufgehoben werde, sei eine vollständige Erinnerung möglich. Dies gelinge allerdings nur in außergewöhnlichen Momenten, zu denen Schubert nicht nur die Anfälle von Wahnsinn zählt, sondern auch den magnetischen Schlaf der Somnambulen. Dieser ist ihm der deutlichste Beweis für seine These, dass »die noch ungebohrnen Kräfte eines künftigen Da seyns vornehmlich in einem krankhaften oder ohnmächtigen Zustand des jetzigen« sichtbar würden.35 »In jenem höheren Zustand« nehme die »liebende und erkennende Seele an dem Lichte des höchsten Erkennens Theil, in welchem sich, als in der allgemeinen Urquelle alles Seyns, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, Nahes und Fernes abspiegeln.«36 Wie aus diesen Ausführungen Schuberts hervorgeht, definieren die Romantiker das Unbewusste als eine Art vollkommenen Speicher, in dem das gesamte Wissen der Vergangenheit und Zukunft aufbewahrt wird. Er soll garantieren, dass uns »das ewige Eigenthum unsers Geistes […] durch nichts entwendet werden« kann.37 In diesem Sinne schreibt Carl Gustav Carus, in der Seele des Menschen ruhten eine Menge von Vorstellungen, Empfindungen, Gedanken, von denen nur wenige zugleich in einem Augenblick ihm ins Bewußtsein kommen; nichts desto weniger sind doch alle diese jetzt nicht gewußten Schätze ihm stets unverloren […].38

Die Rückkehr zum Unbewussten, die die romantische Naturphilosophie fordert, wird so zu einer Frage des Gedächtnisses. Hatte nicht schon Schelling in seinem »Glaubensbekenntniß Heinz Widerporstens« das menschliche Bewusstsein als einen »Riesengeist« definiert, der »seiner Abkunft ganz vergißt«?39 Es geht in romantischen Texten, seien sie philosophischer oder literarischer Natur, ganz wesentlich um das Wiederfinden dieses vergessenen, aber im Unbewussten bewahrten

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Diese physiologische Grundlegung des Gedächtnisses wird möglich, weil sich die Psychiatrie am Ende des 18. Jahrhunderts (u.a. Reil) von der Humoralpathologie, die die Patienten durch das Abzapfen von Blut behandelte, verabschiedete. Es setzt sich ein physiologischer Ansatz durch, der entzündete und verknotete Nerven (Ganglien) für die Ursache des Wahnsinns ansieht. Wer den Wahnsinn heilen wollte, musste deshalb die Nerven ruhig stellen, d.h. den Kranken mit psychischen Kurmethoden behandeln. Vgl. Auhuber, In einem fernen dunklen Spiegel, S. 5. Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 153. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 302. Schubert, Die Symbolik des Traumes, S. 200. Ebd., S. 146. Carus, Psyche, S. 76f. Carus unterscheidet das »Erinnerungs-« von einem »Vorausahnungsvermögen« und nennt diese das »epimetheïsche und prometheïsche Princip« (ebd., S. 28). Schelling, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 8, S. 428–430.

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Wissens. Auch deshalb wird das platonische Modell der Anamnesis zu einer wichtigen Referenz: nicht nur bei Schelling, sondern auch bei Schubert, der in manchen Träumen »die Erinnrung an einen vorhergegangnen Zustand« am Werk sieht.«40 Auch Carus beruft sich explizit auf Platon: Wenden wir uns übrigens wieder zu Dem, was wir im bewußten Seelenleben das Wissen, das Erkennen nennen, so verstehen wir gegenwärtig auch, indem wir auf das Hervorgehen desselben aus dem Unbewußtsein achten, warum Plato schon alles Erkennenlernen darstellte als ein Erinnern, als ein ›im Innern finden‹; also da finden wo bisher noch kein Wissen war, und wo diese Wahrheit, dieser Gedanke, doch war, wie der unbewußte Embryo in der bewußten Mutter […]. 41

Von entscheidender Bedeutung ist nun, dass das durch die Erinnerung wiedergefundene Wissen dem Bewusstsein nicht wieder abhanden kommen darf, wenn die Bewusstwerdung des Unbewussten wirklich gelingen soll. Am Schluss der Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft verkündet Schubert, die Wiederkehr der »Vollendung aller Kräfte«, welche das menschliche Geschlecht »am Anfang seiner Geschichte verherrlichte«, solle im heraufbrechenden goldenen Zeitalter »selbständiger und bleibender« sein.42 Wie dies zu erreichen sei, bestimmt die Beschäftigung Schuberts mit dem Magnetismus. Dabei stößt er auf ein grundlegendes Problem: Wie zahlreiche Magnetiseure in ihren Schriften übereinstimmend berichteten, hatten die Somnambulen nach ihrem Erwachen aus dem magnetischen Schlaf alles, was sie dort gesehen hatten, wieder vergessen. 43 Bereits der Marquis de Puységur beobachtete in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts dieses Phänomen an einem seiner ersten Patienten, dem jungen Bauern Victor Race. Dieser schien während des magnetischen Schlafes über einen helleren Verstand zu verfügen als im Wachzustand. Die Lieder, die der Marquis während der Behandlung vor sich hinsummte, konnte Victor in diesem Zustand laut nachsingen. Doch sobald er wieder zu Bewusstsein kam, hatte er keine Erinnerung mehr an sie. Die kollektiven magnetischen Behandlungen, die Puységur später unter der großen alten Ulme des Dorfes Buzancy durchführte, zeigten dasselbe Ergebnis. Als er den Hypnotisierten befahl, den Baum zu küssen und diese daraufhin erwachten, erinnerten sie sich an nichts von dem, was geschehen war. Besonders erstaunlich aber war, dass den Somnambulen, sobald sie in magnetischen Schlaf zurückversetzt wurden, ihre Erinnerung wiederkehrte. Im Jahr 1818 kam Puységur nach Buzancy zurück, um den schwerkranken Victor erneut zu behandeln. Er war überrascht, dass sich Victor, inzwischen 58 Jahre alt, an alle Einzelheiten seiner früheren somnambulen Zustände erinnern konnte. 44

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Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 268. Carus, Psyche, S. 17f. Schubert, Ansichten von der Nachtseite, S. 384. Vgl. hierzu Scheuerbrandt, »… ich rede mit Dir in Geheimnissen«. Vgl. hierzu Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 116–119.

Ob diese Berichte des Marquis de Puységur den Tatsachen entsprechen oder nicht, sei dahingestellt: Die Krankengeschichten, die die Magnetiseure erzählten, waren für die Romantik auf jeden Fall von großer Bedeutung. Auch Kluge, in Sachen Magnetismus die wichtigste Quelle Schuberts und Hoffmanns, wies darauf hin, dass der magnetischen Behandlung in der Regel eine Amnesie des Patienten folge. Zwar dringe der Somnambule während des magnetischen Schlafes »mittelst der Erinnerung auch in die entfernteste Vergangenheit«45 und könne sogar kommende Ereignisse vorhersagen. Doch wenn er wieder zu Bewusstsein komme, schwinde ihm dieses Wissen: Von alle dem, was während des magnetischen Schlafes mit dem Kranken vorgenommen worden ist, und was er in dieser Zeit wahrgenommen, gedacht, gesagt und gethan hat, besitzt er im Wachen entweder nur eine sehr dunkele, oder gar keine Rückerinnerung; kommt er aber wieder in diesen Zustand, so erinnert er sich alles dessen sehr genau […]. 46

Schubert musste also in seinen Schriften einräumen, dass die Ekstase, in der die Wahnsinnigen und Somnambulen Zugang zu ihrem Unbewussten erhalten, nur kurz anhält. Er war sich bewusst, dass die dauernde Aufhebung der Scheidewand zwischen Ganglien- und Cerebralsystem, sprich: die bleibende Vermittlung zwischen dem im Unbewussten gespeicherten Wissens und dem Bewusstsein, vorerst eine Utopie bleiben müsse. Bis zu deren Verwirklichung erhasche der Mensch nur hin und wieder einen Hauch der Erinnerung, ohne sich jedoch das Unbewusste vollständig verfügbar machen zu können. Die deutsche Romantik stieß hier auf jenes Paradox, das die Struktur des Gedächtnisses kennzeichnet. Es ist einerseits der Ort, in dem kein Erlebnis verloren geht, andererseits aber verläuft der Prozess der Erinnerung nicht kontinuierlich und schließt Intervalle des Vergessens mit ein. Der englische Romantiker Thomas de Quincey verglich das Gedächtnis deshalb mit einem Palimpsest, Sigmund Freud griff zur Metapher des Wunderblocks. 47 Indem der Magnetismus das Unbewusste entdeckte, machte er zugleich die unüberwindbare Spaltung des menschlichen Bewusstseins offenbar. Der Wahnsinn der Somnambulen war nicht nur göttlich, sondern auch bedrohlich. Zwar erschienen sie einerseits als mit einer außergewöhnlichen Begabung gesegnete Medien, durch die die Gedächtnisressourcen der tieferen Seelenschichten geborgen werden konnten. Als solche wurden sie bewundert, ja verehrt, wie der Fall Friederike Hauffes, der ›Seherin von Prevorst‹, zeigt. Andererseits aber galten sie als Fälle von Geisteskrankheit, die der Heilung bedurften. Deutlicher als bei anderen Menschen zeigte sich bei ihnen, dass das moderne Subjekt zwischen unbewussten und bewussten Seelenanteilen zu zerreißen droht. Sie changierten zwischen völliger Bewusstlosigkeit und Wachzustand, ohne zwischen beiden Polen vermitteln zu

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Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, S. 206. Ebd., S. 186. Vgl. hierzu ausführlich Assmann, Erinnerungsräume, S. 153–158.

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können. Dies drückte sich auch körperlich aus, wie aus den Beschreibungen der Magnetiseure hervorgeht. Besonders im dritten Grad des animalischen Magnetismus, den Kluge als die »Grenze zweier sehr verschiedener Welten«, als »Pforte« zum Reich des Unbewussten bezeichnet, 48 zeigten die Kranken Anzeichen der »völligen Erstarrung«, aber auch »Ohnmachten, allgemeines, convulsivisches Zittern, wirkliche Krämpfe, cataleptische und selbst apoplectische Zustände.« Eine magnetisch behandelte Frau sei einmal, wie Kluge berichtet, »mit einem heftigen Schrei in Zuckungen« geraten. 49 Der Übergang vom Bewussten ins Unbewusste, vom Wachen in »Ecstase« und »Entzückung«,50 gestaltet sich als heftige Krise. Er trägt die Züge des Plötzlichen, Schlagartigen und Unvermittelten. 6.2.3. Plötzlichkeit und Wahnsinn bei Kleist und Hoffmann Wie gezeigt wurde, hat Richard Wagner diesen Zusammenhang genau gesehen und es verstanden, ihn musikdramatisch umzusetzen. In den vorübergehenden Starren, Krämpfen und Zuckungen, die seine Figuren durchleiden, fi ndet sich die Bewusstwerdung des Unbewussten als prekäre und krisenhafte Erfahrung dargestellt, die in den Wahnsinn zu münden droht. Dabei konnte sich Wagner auch auf die romantische Literatur berufen, die den Magnetismus in diesem Sinne rezipiert hatte. In Heinrich von Kleists letztem Drama Prinz Friedrich von Homburg (1809) wird der Titelheld gleich im ersten Akt als somnambuler Träumer dargestellt, der in den Gärten des kurfürstlichen Schlosses schlafwandelt. Als sein Freund Hohenzollern ihn beim Vornamen ruft, wird Homburg aus seinem träumerischen Zustand gerissen. Er fällt plötzlich um, was Hohenzollern mit den Worten kommentiert: »Da liegt er; eine Kugel trifft nicht besser!« Der unvermittelte Umschlag vom Unbewussten ins Bewusstsein hinterlässt Spuren: Der Prinz weiß nicht, wo er ist und

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Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, S. 109. Ebd., S. 124. Eine ähnliche Stelle findet sich bereits in Johann Christian Reils Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Dort schreibt Reil über einen Zustand, den er als »Katalepsie« des »Vorstellungsvermögens« bezeichnet und der auch bei gesunden Menschen zu beobachten sei. Diese »starren unverwandt ein nahe gelegenes Object an, ohne klares Bewußtseyn ihrer Existenz, und bemerken erst beim Aufhören des Anfalls, daß sie abwesend waren.« Johann Christian Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803, S. 125. So bezeichnet Kluge die höchsten Grade des animalischen Magnetismus, wobei die »Ecstase« eigentlich der sechste und letzte Grad sei. Die »Entzückung« gehöre eigentlich nicht zu einer »rationell durchgeführten magnetischen Behandlung« (Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, S. 122f.). Es wird also deutlich, dass Kluge diejenigen Zustände aus der magnetischen Therapie auszuschließen bestrebt ist, in denen sich das Bewusstsein völlig ins Unbewusste aufzulösen droht. In der »Entzückung« sei der Mensch »empfindungs- und bewußtlos«, da das Intellektuelle »durchgehends aufgehoben« und das »Leben aus der Sphäre des Animalischen ganz in die des Vegetativen zurückgedrängt zu seyn scheint« (ebd., S. 113).

wie er in diese Situation geraten ist. Er erscheint Hohenzollern nicht nur als »sinnverwirrter Träumer«, sondern sogar als »rasend toll«.51 Doch nach und nach gelingt es Homburg, seine Amnesie zu überwinden. Erstaunlicherweise fällt ihm nicht nur ein, wie er in den Garten geraten ist, er hat sogar seinen Traum im Gedächtnis bewahren können. Obwohl Kleist mit den Krankengeschichten des Magnetismus vertraut war, folgt er ihnen an dieser Stelle nicht. Denn dass ein Somnambuler sich im Wachzustand an das erinnern konnte, was er im magnetischen Schlaf gesehen hatte, geschah äußerst selten. Allerdings hat Kleist gute dramaturgische Gründe für seine Entscheidung: Zwar kann der Prinz seinen Traum en detail nacherzählen,52 der Name Natalies will ihm aber partout nicht einfallen. Seine Erinnerung bleibt an der entscheidenden Stelle opak. Erst als Homburg in der folgenden Szene Natalie ihren Handschuh reicht, holt ihn die Erinnerung ein. Er steht »einen Augenblick, wie vom Blitz getroffen, da«.53 Prinz Friedrich von Homburg gibt einen Hinweis darauf, dass die Figuren im Werk Kleists, ganz ähnlich wie in demjenigen Wagners, schlagartig von einem Zustand in einen anderen wechseln. Karl Heinz Bohrer hat dieses Phänomen bei seiner Untersuchung des Kleistschen »Plötzlichkeitsmotivs« ausführlich dargestellt.54 Er weist darauf hin, dass sich bei Kleist die Beschreibungen extremer Gefühlszustände stark häufen: »Entweder überkommt die Personen ein ›Erschrecken‹, ein ›Erstaunen‹, Sprachlosigkeit und Bewußtlosigkeit, Schmerz, oder aber das Gegenteil tritt ein: überschwenglicher Jubel und Freude.« Stets werde dabei »das gewohnte physische Erscheinungsbild« der Figur verwandelt, was sich vor allem in ihrem »Erröten« oder »Erbleichen« zeige. Bohrer betont zudem die »schnelle Aufeinanderfolge« der Gefühle sowie »ihr häufiges Umschlagen in den entgegengesetzten Zustand.«55 Letzteres könne unter anderem dadurch ausgelöst werden, dass die Figu-

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Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 562f. Dass der Prinz träumt, was tatsächlich geschah – die Finte des Kurfürsten, der Verlust des Handschuhs –, ist für die Wahrnehmung der Somnambulen typisch. Kluge schreibt über den vierten Grad des magnetischen Schlafes: »Durch das Verschlossenseyn dieser Organe wird der Sinn des Gesichtes aber nicht aufgehoben, sondern tritt mit einer oftmals noch vermehrten Stärke in den sämmtlichen Organen des Gefühls wieder hervor. Zunächst metamorphosiert sich das Getaste zum vollkommenen Gesichtssinne, so, daß der Somnambul durch dasselbe die feinsten Gesichtsgegenstände, sowohl ihren Umrissen, als Farben nach, auf das deutlichste unterscheiden kann. Er empfindet z.B. den jedesmaligen Stand der Zeiger einer ihm vorgehaltenen und von ihm entweder nur oberflächlich berührten, oder manchmal auch nicht berührten Uhr, und giebt ganz genau die Zeit auf derselben an«. Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, S. 130. Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 574. Vgl. zur Einordnung dieser Szene in den zeitgenösssichen anthropologischen Diskurs Weder, Kleists magnetische Poesie, S. 350–352. Karl-Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1998 [1981], S. 161–179. Ebd., S. 168.

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ren für einen kurzen Moment jemanden anblicken. Darin gelte es, so Bohrer, »die Punktualität, die dramatische Weise des psychologisch-ambivalenten Moments – das ist die fiebrige Umschlägigkeit der psychischen Identität – zu erkennen.« Aus dieser Umschlägigkeit ergebe sich die »Gefährdung zum Extrem, zur Auslöschung hin.«56 Besonders deutlich wird die destabilisierende Wirkung dieser Ästhetik der Plötzlichkeit in der Marquise von O..., und zwar als der Graf das Haus des Obristen betritt und sich so als der leibliche Vater des Kindes zu erkennen gibt. Das Déjà-vu der Geliebten gerät zu einem Imprévu: Die Marquise glaubte vor Verwirrung in die Erde zu sinken; sie griff nach einem Tuch, das sie auf dem Stuhl hatte liegen lassen, und wollte eben in ein Seitenzimmer entfliehn; doch Frau von G…, indem sie die Hand derselben ergriff, rief: Julietta –! und wie erstickt von Gedanken, ging ihr die Sprache aus. Sie heftete die Augen fest auf den Grafen und wiederholte: ich bitte dich, Julietta! indem sie sie nach sich zog: wen erwarten wir denn –? Die Marquise rief, indem sie sich plötzlich wandte: nun? doch ihn nicht –? und schlug mit einem Blick funkelnd, wie ein Wetterstrahl, auf ihn ein, indessen Blässe des Todes ihr Antlitz überflog. […] Die Marquise stand starr über ihm, und sagte: ich werde wahnsinnig werden, meine Mutter!57

Von Kleists Psychologie des unvermittelten Gefühlsausbruchs lässt sich eine Linie zu Wagners Musikdramen ziehen. Das Gleiche gilt für die Darstellung des Wahnsinns in den Prosatexten E.T.A. Hoffmanns. Dass sich diese eng an die psychiatrische Literatur der Zeit und dabei vor allem an den Magnetismus anlehnt, ist in der Forschung oft betont worden.58 Es soll an dieser Stelle deshalb nur ein bestimmter Aspekt von Hoffmanns Rezeption des Magnetismus aufgegriffen werden. Dabei 56 57

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Ebd., S. 171. Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, S. 183. Der Hinweis auf diese Stelle findet sich bei Bohrer, Plötzlichkeit, S. 176. Bohrer hat sich auch mit der Herkunft der BlitzMetapher im Werk Kleists beschäftigt. Dieser habe »im Analogieschluß zu elektrischen Phänomenen« eine »Polaritäts-Psychologie« entwickelt (ebd., S. 171). Bohrer weist in diesem Zusammenhang auf eine Stelle in dem Aufsatz Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden hin, wo Kleist sich mit einem berühmten historischen Augenblick der Französischen Revolution beschäftigt: Der Rede Mirabeaus im Ballhaussaal von Versailles, in der er gegenüber dem königlichen Zeremonienmeister erklärte, dass die Stände die Repräsentanten der Nation seien. Mirabeau, so Kleist, habe in diesem Augenblick nicht gewusst, was er sagen werde. Vielmehr sei ihm »plötzlich« ein »Quell ungeheurer Vorstellungen« aufgegangen. »Wenn man an den Zeremonienmeister denkt, so kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht anders, als in einem völligen Geistesbankerott vorstellen; nach einem ähnlichen Gesetz, nach welchem in einem Körper, der von dem elektrischen Zustand Null ist, wenn er in eines elektrisierten Körpers Atmosphäre kommt, plötzlich die entgegengesetzte Elektrizität erweckt wird.« Daraus schließt Kleist: »Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.« Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3, S. 537. Vgl. hierzu Košenina, Literarische Anthropologie, S. 200–204, Barkhoff, Magnetische Fiktionen, S. 195–237 sowie die bereits erwähnte Dissertation von Auhuber, In einem fernen dunklen Spiegel.

geht es vor allem um jene Szenen in seinem Werk, in denen der Wahnsinns- mit dem Gedächtnisdiskurs verknüpft und durch die Körpersprache der Figuren zum Ausdruck gebracht wird. In der Erzählung Das öde Haus59 aus dem Jahr 1817 verliebt sich der Erzähler und Protagonist Theodor in ein Mädchen, das er am Fenster eines verwahrlosten Spukhauses wahrzunehmen glaubt. Daraufhin erscheint sie ihm im Traum, wo ihre Augen aber »etwas todstarres« haben (SäW 3, 176). Diese für die Somnambulen typische Starre wiederholt sich, als Theodor in einen Taschenspiegel blickt, den er einem Krämer abgekauft hat. Er verfällt in ein »waches Träumen«: »Mir war es, als lähme eine Art Starrsucht nicht sowohl mein ganzes Regen und Bewegen als vielmehr nur meinen Blick, den ich nun niemals mehr würde abwenden können von dem Spiegel.« (177) Theodors Geistesverfassung wird zunehmend labiler, da ihn die Erinnerung an das zauberhafte Bild schlagartig übermannt: Nun begab es sich in dieser Zeit, daß ich zuweilen aus dem Schlaf auffuhr, wie plötzlich durch äußere Berührung geweckt, und dann war es mir doch deutlich, daß nur der Gedanke an das geheimnisvolle Wesen, das ich in meiner Vision und in dem Fenster des öden Hauses erblickt, mich geweckt hatte. Ja selbst während der Arbeit, während der lebhaftesten Unterhaltung mit meinen Freunden, durchfuhr mich oft plötzlich, ohne weitern Anlaß jener Gedanke, wie ein elektrischer Blitz. (180)

Eindringlich schildert Theodor die Wirkungen des so entzündeten Wechselspiels aus Erinnern und Vergessen für seine Physis. Immer, wenn das soeben erinnerte Bild wieder zu verblassen droht, ergreift ihn ein »körperliches Übelbefinden« und die Gestalt tritt abermals hervor. Es folgt ein »empfindlicher Brustschmerz«, bevor schließlich »gänzliche Apathie« dem »peinlichen Zustand« ein Ende bereitet und nichts bleibt als eine »das innerste Mark wegzehrende Erschöpfung«. Diese »ewige Spannung« führt ihn bis an den Rand des Abgrunds: »Blaß wie der Tod und zerstört im ganzen Wesen schwankte ich umher, meine Freunde hielten mich für krank«. Bedrohlich ist Theodors Zustand vor allem deshalb, weil er durch die permanente Wiedererinnerung des Mädchens die Realität zu vergessen droht. Er lebt nur in dem Gedanken an das Bild, vernachlässigt sowohl seine Freunde als auch seine Studien: »alles übrige war abgestorben« (181). Erst als Theodor »Reils Buch über Geisteszerrüttungen« in die Hände fällt und er erkennt, dass er sich in einem »fi xen Wahnsinn« und also »auf dem Wege zum Tollhause« befindet (ebd.), begibt er sich in ärztliche Behandlung. Es gelingt ihm, reflexive Distanz zu seinem Symptom aufzubauen: Auf einer Abendgesellschaft, während der über den Magnetismus

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Ein weiteres Beispiel für den hier dargelegten Zusammenhang von Plötzlichkeit, Wahnsinn und Gedächtnis ist die Erzählung Der Magnetiseur (1814). Dort ist es der Major, der immer zur Tag- und Nachtgleiche von einem »Paroxysmus« befallen wird. »Den Tag darauf schien er von allem, was er unternommen, auch nicht das mindeste zu ahnden, nur war er störrischer, jähzorniger, härter als je, bis er wieder in jene gutmütige Stimmung geriet.« (SäW 2/1, 182).

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diskutiert wird, hört er die Fallgeschichte eines italienischen Obristen. In dessen Wahnsinn erkennt Theodor den seinigen wieder: Sein todbleiches Gesicht, seine düstern Augen zeugten von Krankheit oder tiefer Schwermut. Nur wenige Tage war er bei mir, als sich auch der besondere Zufall kund tat, von dem er behaftet. Eben befand ich mich auf seinem Zimmer, als er plötzlich mit tiefen Seufzern die Hand auf die Brust, oder vielmehr auf die Stelle des Magens legte, als empfinde er tödliche Schmerzen. Er konnte bald nicht mehr sprechen, er war genötigt sich in den Sopha zu werfen, dann aber verloren plötzlich seine Augen die Sehkraft und er erstarrte zur bewußtlosen Bildsäule. Mit einem Ruck wie aus dem Traume auffahrend, erwachte er endlich, aber vor Mattigkeit konnte er mehrere Zeit hindurch sich nicht regen und bewegen. (186f.)

E.T.A. Hoffmann hat genau gesehen, dass sich hinter diesen körperlichen Symptomen magnetischer Behandlungen ein Gedächtnisproblem verbirgt. Ein Arzt, der bei der Abendgesellschaft zugegen ist, vergleicht den unvermittelten Einfall unbewusster Bilder ins Bewusstsein mit einem Déjà-vu. Oft geschehe es, dass uns unbekannte Menschen vertraut vorkommen. Dieses Gefühl, so der Arzt, sei »die dunkle Erinnerung« an ein »Traumbild«. Woraus er schließt: »Wie wenn dies plötzliche Hineinspringen fremder Bilder in unsere Ideenreihe, die uns gleich mit besonderer Kraft zu ergreifen pflegen, eben durch ein fremdes psychisches Prinzip veranlaßt würde?« (184) Der Konnex von plötzlicher Wieder-Erinnerung, körperlichen Symptomen und Wahnsinn tritt auch in jenen Texten Hoffmanns zu Tage, die nicht explizit auf das Wissensfeld des Magnetismus verweisen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Novelle Doge und Dogaresse (1819), in der, wie das fünfte Kapitel gezeigt hat, der Protagonist Antonio in einem narrativ-anamnetischen Verfahren nach und nach über seine wahre Identität aufgeklärt wird. Zu Beginn befindet er sich in einer völligen Amnesie, die ihre physische Entsprechung in der Starrheit findet. Auch hier greift Hoffmann wieder auf die Metapher der »Bildsäule« zurück, die bereits in Das öde Haus den magnetischen Schlaf des italienischen Obristen kennzeichnete. Antonio liegt »vor den Säulen der Dogana, auf dem harten Marmorpflaster ausgestreckt«. Seine Locken sind »zersaust und verworren« und umschatten seine Stirn. Er starrt »mit stierem gedankenlosen Blick ohne Regung und Bewegung hinein in das Meer. Man hätte denken sollen, das Leben sei von ihm gewichen, der Todeskampf habe ihn zur Bildsäule versteinert«. Erst als ihn ein seltsames Bettelweib – seine ehemalige Amme Margaretha – beim Namen ruft, erhebt er sich »mühsam mit halbem Leibe« und spricht »matt und kaum vernehmbar: Wer ist’s, der mich ruft?« (SäW 4, 434f.) Man erkennt in dieser Konstellation unschwer das Vokabular wieder, mit dem Richard Wagner Jahrzehnte später die Bewusstwerdung seiner Figuren beschreiben wird. Auch Hoffmann beschreibt den blitzhaften Umschlag vom Vergessen ins Erinnern als ein ständiges Hochfahren und Niedersinken. Wie sehr Antonio in seinen Handlungen dem Modus der Plötzlichkeit unterworfen ist, zeigt sich gleich am Beginn der Novelle. Als das Boot des Dogen in einem Sturm unterzugehen droht, betrachtet er das Schauspiel zunächst »erstarrt«, 368

bevor ein Einfall »wie ein Blitzstrahl in seine Seele« fährt, er in einen Kahn springt und den Dogen rettet. Obwohl ihm dies gelingt und der Doge in die Kirche Einzug hält, beachtet niemand Antonio. Dieser liegt »todmüde, halb ohnmächtig von Schmerz […] in dem Säulengange des herzoglichen Palastes.« (438f.) An einer anderen Stelle berichtet er Margaretha von den traumatischen Ereignissen seiner Kindheit, die in den plötzlichen Pest-Tod seines Ziehvaters Blaunas mündeten. In diesem Moment schwanden Antonio die Sinne und er fand sich in einem Kloster wieder: Wie vemag ich dir denn, Alte, diesen Augenblick des Erwachens zu beschreiben! Die Wut der Krankheit hatte mir alle Erinnerung des Vergangenen gänzlich geraubt. Gleich als wäre in die todstarre Bildsäule plötzlich der Lebensfunken gefahren, gab es für mich nur augenblickliches Dasein, das sich an nichts knüpfte. Du kannst es dir denken, Alte! welchen Jammer, welche Trostlosigkeit dies Leben, nur ein im leeren Raum ohne Halt schwimmendes Bewußtsein zu nennen, über mich bringen mußte! (449)

Anhand der sich ergänzenden Motive der Säule und des Blitzes wird der Gedächtnisdiskurs sichtbar, der die Novelle durchzieht. Nicht zufällig steht Antonio in dem Augenblick, als er in der Dogaressa seine Kindheitsliebe Annunziata wiedererkennt, an einem »Säulengange« und sinkt »mit dem lauten Schrei: O du Gott des Himmels!« auf das Marmorpflaster. Auch Annunziatas Brust durchfährt »plötzlich« so etwas wie »ein glühender Dolchstich«, sie erbleicht, wankt, und kann nur durch ein Riechfläschchen »von tiefer Ohnmacht« bewahrt werden (460f.). Das Déjà-vu ist auch bei E.T.A. Hoffmann ein verstörendes Imprévu. Dass die Schlagartigkeit, mit der die unbewussten Bilder ins Bewusstsein brechen, für das Subjekt von großer Gefahr ist, wird nicht nur in Das öde Haus, sondern auch in Doge und Dogaresse deutlich. Antonio weiß, dass ihm die Liebe zu Annunziata bedrohlich werden kann. Er sagt zu seiner Amme: »Habe ich dir nicht gesagt, daß irgend ein dunkler Zauber in mir ruhe, der mein Selbst unwiderstehlich beherrsche? Aus der Dunkelheit blitzstrahlend ist er hervorgetreten, um mich in namenlosem Entzücken zu verderben!« (462) Ihren Höhepunkt findet die Darstellung der Liebe als eines plötzlichen Erkenntnisaktes in der Szene, in der die venezianische Tradition des ›Giovedi grasso‹ geschildert wird: Antonio fährt, in einer schiffsartigen Maschine sitzend, zum Markusturm hinauf und dann wieder hinab, um der Dogaressa Blumen zu überreichen.60 Der Augen-Blick der Liebe wird hier nicht nur in das Bild des Hochfahrens und Niedersinkens gefasst, sondern erscheint auch als gefährliches »Verlangen« und »Entzücken«. Das Individuum droht »rasend« zu werden:

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Seine Schilderung der venezianischen Traditionen des ›fetten Donnerstags‹ entnahm Hoffmann seiner Hauptquelle, »Le Bret’s Geschichte von Venedig« (SäW 4, 438). Vgl. den Stellenkommentar der hier verwendeten Ausgabe, S. 1411.

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Mitten durch die knisternden zischenden Flammen des Kunstfeuers fuhr mit des Sturmwindes Schnelle Antonio auf in die Lüfte – unversehrt sank er nieder zur Galerie, schwebte er vor der Dogaressa. – Sie war aufgestanden und vorgetreten, er fühlte ihren Atem an seinen Wangen spielen – er reichte ihr den Strauß; aber in der unsäglichsten Himmelswonne des Augenblicks faßte ihn wie mit glühenden Armen der brennende Schmerz hoffnungsloser Liebe. – Sinnlos – rasend vor Verlangen – Entzücken – Qual, ergriff er die Hand der Dogaressa – drückte er glühende Küsse darauf – rief er mit dem schneidenden Ton des trostlosen Jammers: Annunziata! – Da riß ihn die Maschine, wie das blinde Organ des Schicksals selbst, fort von der Geliebten, hinab ins Meer, wo er ganz betäubt, ganz erschöpft in Pietros Arme sank, der seiner in der Barke wartete. (467)

Es lassen sich in Hoffmanns Werk noch weitere Belege für die Verknüpfung von Wahnsinn und Gedächtnis finden.61 Man denke nur an den Roman Die Elixiere des Teufels (1815/16), in dem die Hauptfigur Medardus mehrmals verrückt zu werden droht. Als er aus einem langen Anfall des Irrsinns erwacht und sich in einem Kloster wiederfindet, schildert ihm ein Mönch die Symptome: Medardus habe sich zunächst in einem »vollkommen apathischen Zustande« befunden, in dem er offenbar die Kontrolle über seinen Körper verlor: »Ihr gingt, wenn man Euch führte, Ihr bliebt stehen, wenn man Euch losließ, Ihr setztet, Ihr legtet Euch nieder, wenn man Euch die Richtung gab.« Dabei habe er nur »dumpfe, unverständliche Laute« von sich gegeben, sein Blick schien »ohne alle Sehkraft«. Nach vier Wochen sei er in »die schrecklichste Raserei« verfallen, nach der »plötzlich« der »apathische Zustand« des Anfangs wiederkehrt sei. Dieser ging in eine »vollkommene Starrsucht« über, aus der er schließlich »genesen« erwacht sei (SäW 2/2, 261). Die hier beschriebenen körperlichen Erscheinungen schließen offenkundig an die Fallgeschichten des Magnetismus an. Dabei wird deutlich, dass Medardus’ Wahnsinn sich nicht auf die Raserei reduzieren lässt, in die er zeitweise gerät. Diese bildet nur den Höhepunkt eines prekären Prozesses, der abrupt von einem Stadium ins nächste springt und so auf die generelle Labilität von Medardus’ Bewusstsein verweist. Auch hier deuten die Schwankungen des Körpers auf die Schwankungen des Gedächtnisses. Der wiederholte Versuch, sich eine stabile Identität zu schaffen, wird von Kapriolen der Erinnerung zunichte gemacht. So leidet Medardus nach seinem Erwachen aus des Bewusstlosigkeit an einer Amnesie: Unerachtet mein Geist vollkommen genesen, war ich mir doch selbst eines gefühllosen Zustandes bewußt, der über jedes im Innern aufkeimende Bild einen düstern Flor warf, so daß alles farblos, grau in grau erschien. Ohne alle deutliche Erinnerung des Vergangenen, beschäftigte mich die Sorge für den Augenblick ganz und gar. (267)

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Erwähnt werden sollte auch Der Sandmann, wo der Wahnsinn explizit als ein Gedächtnisverlust begriffen wird. Im Rausch, in den Nathanael durch die Liebe zu Olimpia sinkt, verliert er seine Erinnerungen: »– die Mutter – Lothar – Alle waren aus seinem Gedächtnis entschwunden« (SäW 3, 42). Die Amnesie funktioniert aber auch umgekehrt. Nach Nathanaels Genesung heißt es: »Siegmund ließ ihn nicht weiter reden, aus Besorgnis, tief verletzende Erinnerungen möchten ihm zu hell und flammend aufgehen.« (48).

Der Unterschied zu Das öde Haus besteht darin, dass in den Elixieren der Wahnsinn auf einen Doppelgänger projiziert wird, der die gespaltene Identität und die Zerrüttung des Gedächtnisses inkarniert. Bei seinen Auftritten schnellt er »auf seltsame Weise« in die Höhe und bewegt sich »in wilden Sprüngen« (129). Er spricht jene abgehackte, stammelnde Sprache,62 die später bei Richard Wagner die unzusammenhängende Erinnerung und die Verwirrung des Subjekts kennzeichnen wird: »I… Imm… Immer bin ich bei di... dir… Brü… Brüderlein… Brüderlein Medardus!« (227) Als man den wahnsinnigen Mönch – bei dem es sich um Medardus’ Bruder Viktorin handelt – ins Irrenhaus bringt, sitzt er dort »Tag und Nacht mit starrem Blick, ohne Regung, wie eine Bildsäule.« Ein Zustand, aus dem er erst in dem Moment erwacht, in dem der Pater Cyrillus in ihm Medardus zu erkennen glaubt: »›Heilige Mutter Gottes! Medardus, unglückseliger Medardus!‹ So ruft Cyrillus, und in dem Augenblick beleben sich die starren Augen des Mönchs. Er steht auf, und fällt mit einem dumpfen Schrei kraftlos zu Boden.« (220) Die Bewusstlosigkeit, die hier unmittelbar auf die Nennung des Namens und das Erwachen des Bewusstseins folgt – man denke an den Prinz von Homburg –, wird bereits in der ersten Begegnung des Medardus mit Viktorin vorbereitet. Medardus findet diesen »an einem jähen entsetzlichen Abgrund« sitzend: Mit dem ganzen Körper über den Abgrund hängend, schien er eingeschlafen und immer mehr und mehr herüber zu sinken. – Sein Sturz war unvermeidlich. Ich wagte mich heran; indem ich ihn mit der Hand ergreifen und zurückhalten wollte, schrie ich laut: um Jesuswillen! Herr! – erwacht! – Um Jesuswillen. – So wie ich ihn berührte, fuhr er auf aus tiefem Schlafe, aber in demselben Augenblick stürzte er, das Gleichgewicht verlierend, hinab in den Abgrund […]. (58)

Während E.T.A. Hoffmann in der Figur des Viktorin das Motiv der Plötzlichkeit mit dem der Identität verknüpft, zeigt er im Brief Aurelies an die Äbtissin, wie ein verdrängtes Kindheitstrauma somatische Symptome auslöst. Das Bild des Malers Francesko, das ihre Mutter heimlich anbetet, schwindet Aurelie zwar wieder schnell aus dem Gedächtnis, doch später überfällt sie eine »unerklärliche Stimmung«, die ihr »ganzes Wesen verstörte«. Mal ist sie »der Ohnmacht nahe«, mal steigen »wunderliche Bilder und Träume« in ihr auf. »Ohne zu wissen, warum? konnte ich oft bis zum Tode betrübt, oft ausgelassen fröhlich sein. Bei dem geringsten Anlaß stürzten mir die Tränen aus den Augen, eine unerklärliche Sehnsucht stieg oft bis zu körperlichem Schmerz, so daß alle Glieder krampfhaft zuckten.« (240f.) Bei ihrer ersten Begegnung mit Medardus treten dann die verdrängten Erlebnisse zu Tage. Aurelie erinnert sich so plötzlich ihrer Kindheitsbilder, dass sie das Bewusstsein verliert. Man findet sie in einem »erstarrten, todähnlichen Zustande« und befürchtet einen

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Dass das Außerkraftsetzen der Sprache bei Hoffmann nicht nur mit dem Wahnsinn, sondern oft auch mit der Darstellung von Musik einhergeht, zeigt John T. Hamilton, Musik, Wahnsinn und das Außerkraftsetzen der Sprache, Göttingen 2011, S. 235–290.

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»Nervenschlag« (244). Auch hier sind Déjà-vu und Imprévu auf unauflösliche Weise verbunden. Hoffmann wäre jedoch nicht Hoffmann, wenn er das Beunruhigende nicht ins Ironische zu wenden wüsste. Dies ist die Funktion der Figur Peter Schönfelds, dem Medardus im ersten Teil des Romans begegnet: Ein wunderlicher Friseur mit grotesken Einfällen und absonderlichem Verhalten: »Unter seltsamen Sprüngen, Grimassen und wunderlichen Reden, bearbeitete der Kleine mein Haar. Bald sah er finster und mürrisch aus, bald lächelte er, bald stand er in athletischer Stellung, bald erhob er sich auf den Fußspitzen« (107). Die Sprunghaftigkeit, die Schönfelds Wesen auszeichnet, ist eine milde Form jenes Wahnsinns, an dem Medardus beinahe zu Grunde geht. Zugleich ist Schönfeld eine Reminiszenz an Hoffmanns Alter Ego, den Kapellmeister Johannes Kreisler. Dessen nervöser, zwischen Verrücktheit und Genie schwankender Charakter, seine so regelmäßigen wie abrupten Stimmungsumschwünge, kurz: sein instabiles und zerrissenes Bewusstsein bilden die Summe von Hoffmanns Beschäftigung mit dem Wahnsinn. Im Kater Murr spricht Kreisler selbst von »den Sprüngen des St. Veits Tanzes«, zu denen er gezwungen sei und die ihn zunehmend ermüdeten (SäW 5, 78). In einer Zeichnung, die E.T.A. Hoffmann von Kreisler angefertigt hat, steht dieser mit nur einem Bein auf dem Boden, das andere hebt er in die Luft, zum Sprung bereit. Eine Bleistiftskizze, die mit dieser Zeichnung entstand, ist noch extremer: Sie zeigt Kreisler, wie er zu stürzen droht.63 Man kann darin unschwer jene Körpersprache des plötzlichen Hochfahrens erkennen, mit der Hoffmann die Schlagartigkeit der Erinnerung zu veranschaulichen suchte. Wenn das Unbewusste zum Tanz bittet, droht der Mensch das Gleichgewicht zu verlieren.

6.3.

Plötzlichkeit vs. Erzählung

In den Texten E.T.A. Hoffmanns taucht das Problem der Plötzlichkeit noch in einem anderen Zusammenhang auf. Die Rede ist von dem Verhältnis von reflexiver Narration und Augenblickserfahrung. Wenn in Das öde Haus das »plötzliche Hineinspringen fremder Bilder in unsere Ideenreihe« betont wird (SäW 3, 184), so deutet dieses psychologische Phänomen auf ein ästhetisches. Bei Hoffmann wird die Erzählung immer wieder von plötzlichen Ereignissen unterbrochen, der Modus der distanzierten Kontemplation von blitzhaften Intuitionen in den Hintergrund gedrängt. Das überraschende Wechselspiel von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit steht im Zentrum seiner Ästhetik.

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Vgl. hierzu den entsprechenden Kommentar in SäW 5, S. 927.

Abb. 12: Bleistiftskizze E.T.A. Hoffmanns, die den Kapellmeister Johannes Kreisler darstellt.

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Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet die Novelle Der Magnetiseur aus dem Jahr 1814.64 In ihr geht es um eine bürgerliche Familie, die den Magnetiseur Alban bei sich aufnimmt. Während Ottmar ein Anhänger von dessen angeblichen Heilkünsten ist, steht sein Vater dem Wirken Albans skeptisch gegenüber. Und auch Ottmars Schwester Maria weiß nicht so recht, ob sie dem Magnetiseur trauen soll. Deshalb erzählt Ottmar seiner Familie eine Geschichte, die sie von Albans Handeln überzeugen soll: Einst eilte Alban seinem Freund Theobald zu Hilfe, als dessen Geliebte Auguste sich in einen italienischen Offizier verliebte. Durch seine hypnotische »Kur« bewirkte Alban, dass Auguste ihre Liebe zu dem Fremden vergaß und sich mit Theobald vermählen wollte: Ja, sie müsse gestehen, daß sie jetzt nicht einmal des Fremden äußere Gestalt sich ins Gedächtnis zurückrufen könne, und nur Theobald lebe in ihrem Innern. Alban und Theobald, beide waren überzeugt, daß Augusten der wirkliche Wahnsinn, von dem sie ergriffen worden, gänzlich verlassen habe, und kein Hindernis stand der Vereinigung des – So wollte Ottmar seine Erzählung endigen, als Maria mit einem dumpfen Schrei ohnmächtig vom Stuhle in die Arme des schnell herbeigesprungenen Bickert sank. […] Sie lag totenbleich da, jede Spur des Lebens war auf dem krampfhaft verzogenen Gesichte verschwunden! (SäW 2/1, 201)

Es ist sicher kein Zufall, dass Ottmars Schwester Maria just in dem Moment zusammenbricht, als ihr Bruder seine Erzählung zu Ende führen will. Was auf den ersten Blick als hysterischer Wahnsinnsausbruch erscheint, offenbart sich bei genauerem Hinsehen als eine richtige Intuition. Maria erkennt die bösen Absichten Albans, die Ottmars Geschichte zu affirmieren versuchte: »Verlasse mich, entsetzlicher Mensch«, sagt sie, als sie erwacht und ihr Blick auf den inzwischen hinzugetretenen Alban fällt. Ihre Ohnmacht verhilft eben jenem Wahnsinn zu seinem Recht, den Alban zu heilen vorgibt. Die unvermittelte Unterbrechung der Erzählung erscheint hier als gewaltsamer Einfall des unbewussten Wissens, der die diskursive Logik, die Ottmar entwickelt, in Frage stellt. Hoffmann hat die ästhetischen Möglichkeiten dieses plötzlichen Zerreißens der narrativen Logik sehr genau erkannt und den überraschenden Abbruch von Geschichten häufig und sehr wirkungsvoll eingesetzt. Dies zeigen, neben dem Magnetiseur, auch die Romane Die Elixiere des Teufels und Die Lebens-Ansichten des Katers Murr.65 Er war aber nicht der einzige Romantiker, den das Verhältnis

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Zum 26. September 1870 heißt es in Cosimas Tagebüchern: »Abends beginnt R. den ›Magnetiseur‹, der ihm als Kind viel Eindruck gemacht hat« (CT I, 291). Auch Albans Brief an Theobald, der in die Novelle eingelegt ist, bricht unvermittelt ab. Es folgt ein neuer Abschnitt, der das Bild der Blitzhaftigkeit evoziert: »Das Gewitter war vorüber, und in rotem Feuer brennend, brach die sinkende Sonne durch die finsteren Wolken, die schnell fliehend in den tiefen Gründen verdampften.« (218) Später hat Hoffmann diese Technik vor allem in seinen Romanen weitergeführt und vertieft. In den Elixieren des Teufels wird die Geschichte, die der Arzt Medardus erzählt, zweimal auf-

von Unmittelbarkeit und Erzählung beschäftigte. Schon in Novalis’ Hymnen an die Nacht (1800) wird das geschichtsteleologisch angelegte Modell des Goldenen Zeitalters immer wieder von rauschhaften Augenblickserfahrungen aufgebrochen.66 Auch Friedrich Creuzer reflektiert dieses Thema in seiner Mythologie der alten Völker (1810–12), wo er die mythologische von der symbolischen Ausdrucksweise unterscheidet. Diese wirke unmittelbar und imaginativ, jene mittelbar und diskursiv. Das Symbol sei »wie ein Blitzstrahl, der auf Einmal die dunkele Nacht erleuchtet«.67 Es bezeichne die »momentane Totalität«. Der Mythos dagegen, der sich am besten im »Epos« entfalte, sei »Fortschritt in einer Reihe von Momenten.«68 Für Johann Jakob Bachofen, dem Creuzers Theorie geläufig war, spielt diese Unterscheidung ebenfalls eine wichtige Rolle. In seiner Lebensrückschau schreibt er: Es gibt zwei Wege zu jeder Erkenntnis, der weitere, langsamere, mühsamere verständiger Kombinationen, und der kürzere, der mit der Kraft und Schnelligkeit der Elektrizität durchschritten wird, der Weg der Phantasie, welche von dem Anblick und der unmittelbaren Berührung der alten Reste angeregt, ohne Mittelglieder das Wahre wie mit Einem Schlage erfaßt.69

Von hier aus führt der Weg weiter in die Moderne. Nietzsches Begriffspaar dionysisch/apollinisch verdankt sich nicht zuletzt der romantischen Unterscheidung von Symbol und Mythos. Manfred Frank, der den Einfluss Creuzers auf Bachofen und Nietzsche herausgearbeitet hat, fasst zusammen: Das Symbol sei »Rausch, Tanz und Musik«, es zeige die »myst(er)ische, ekstatische, die dionysische Seite« der Religion. Der Mythos dagegen, der bei Nietzsche seine Entsprechung im Apollinischen

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genommen und wieder unterbrochen (SäW 2/2, 182 u. 222). Das zweite Mal »mit einem entsetzlichen Schlage«, der den plötzlichen Einbruch des wahnsinnigen Doppelgängers markiert. Bezeichnend ist auch, dass die Familiengeschichte, die das Pergamentblatt des alten Malers enthält, so unvermittelt abbricht, wie sie einsetzt (277 u. 297). Und im Kater Murr wird der überraschende Wechsel der Erzählerstimme sogar zum vorherrschenden Verfahren. Detlef Kremer sieht in den Hymnen an die Nacht ein Schweben zwischen »Heilserwartung und augenblicklichem Glücksbedürfnis.« Novalis habe die Realisierung des von ihm selbst entworfenen »reflexiven Universalprogramms« in Zweifel gezogen und zugunsten einer »individuellen utopischen Realisation im Augenblick« aufgebrochen. Allerdings betont Kremer auch, dass diese Sehnsucht nach dem unmittelbaren Rausch bei Novalis wieder durch einen »Rückgriff auf die Ordnungsfunktionen« der Geschichtsphilosophie kompensiert werde. Kremer, Romantik, S. 76f. Creuzer, Symbolik, S. 69. Ebd., S. 83f. Hans G. Kippenberg (Hg.), Johann Jakob Bachofen. Mutterrecht und Urreligion, Stuttgart 1984, S. 11. Aleida Assmann verweist bei ihrer Deutung dieses Zitates darauf, dass Bachofens »kurzer Weg der Erkenntnis« auf die Erinnerungs-Theorie Aby Warburgs vorausdeute. Dieser habe sich lebhaft für »das Phänomen unmittelbarer Berührungen und punktueller elektrischer Entladungen« interessiert und im Begriff der ›antëischen Magie‹ zu fassen versucht. Vgl. Assmann, Erinnerungsräume, S. 174.

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finde, beruhe auf der »Repräsentation des Sprachlichen« und »distinkten Bildern, die zugleich vergegenwärtigen und in die Ferne rücken.«70 Es verwundert daher nicht, dass auch für Nietzsches Definition des Dionysischen das Merkmal des Plötzlichen entscheidend ist. Karl Heinz Bohrer verweist in diesem Zusammenhang auf das erste Kapitel der Geburt der Tragödie, in dem Nietzsche in Anlehnung an Schopenhauer über das »Grausen« schreibt, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird […]. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird.71

Nietzsche verbindet mit diesen ekstatischen Zuständen »völliger Selbstvergessenheit«72 vor allem die »bacchischen Chöre der Griechen«,73 aber auch die religiöse Tanzwut des Mittelalters, wie sie sich in den »Sanct-Veittänzern« zeige. Wie Richard Wagner erkennt auch er die »Doppelheit in den Affecten«, die die »Verzückung« der dionysischen Schwärmerei mit sich bringe. »Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust«.74 Der »Wahnsinn«, als den Nietzsche das Dionysische in seiner Tragödien-Schrift bezeichnet,75 ist deshalb ambivalent: Einerseits wird er als innovative und erneuernde Kraft verstanden, die die erstarrten Regeln maroder Kulturen aufbrechen soll.76 Andererseits aber gefährdet und destabilisiert er das Individuum, das sich dem Rausch der Ekstase hingibt. Aufschlussreich für die Frage nach dem Verhältnis von Erzählung und Augenblick ist nun, dass bei Nietzsche mit dem Konzept des Dionysischen eine Fundamentalkritik des Historismus einhergeht. Der Begriff »Plötzlich«, betont Bohrer,

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Frank, Der kommende Gott, S. 94. Frank übersieht bei dieser Parallelisierung allerdings, dass Creuzer im Gegensatz zu Nietzsche das Element des Symbolischen / Dionysischen eher mit dem Bild als mit der Musik assoziiert. Es gibt also, bei aller Ähnlichkeit, durchaus Unterschiede in den Theorien. Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 28. Ebd., S. 33. Ebd., S. 29. Ebd., S. 33. An zwei Stellen seiner Schrift spricht Nietzsche explizit vom »Wahnsinn«: Zum einen zu Beginn des 14. Kapitels, wo die »dionysischen Abgründe« als »der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung« erscheinen. Und auch am Schluss, wo vom »dithyrambischen Wahnsinn« die Rede ist, den Dionysos verbreite (ebd., S. 92 u. 156). Hierzu bemerkt Karl Heinz Bohrer: »Die Figur des Wahnsinnigen fungiert in Nietzsches Werk immer als der Brecher einer kulturellen Norm. Als Variation desselben Typus sind zu nennen: der tolle Mensch, der kranke Denker, der dionysische Erregte, Zarathustra.« Bohrer, Plötzlichkeit, S. 154.

zentriert die Erfahrung des Augenblicks jenseits reflektierter Geschichte am radikalsten und ist das für Nietzsches Anti-Historismus am häufigsten gebrauchte semantische Zeichen. ›Plötzlichkeit‹ stellt nämlich jene punktuelle Qualität her, in der sowohl das ›Neue‹, das ganz ›Andere‹ der kulturellen Alternative rein statuarisch gedacht wird, als dabei auch von einem notwendig gedachten zeitlichen Verlauf abgesehen werden kann.77

Im Vorwort seines Buches erläutert Bohrer, dass dieser »Modus des mit der Historie nicht mehr identischen Augenblicks« in der »Frühromantik« begonnen habe und nach Nietzsche von »modernen Autoren wie Marcel Proust, James Joyce, Robert Musil und Walter Benjamin begrifflich und ästhetisch variiert« worden sei.78 Tatsächlich spricht einiges für die These, dass die Moderne die romantischen Experimente mit dem poetischen Potential der Plötzlichkeit fortführt. Etwa bei Marcel Proust: Wie Gérard Genette gezeigt hat, bewegen sich Prousts Texte eben an jener Grenzlinie, die zwischen Betrachten und Erleben, Kontemplation und Intuition verläuft. Dabei gelinge es Proust, die Distanz der Erzählerfigur aufrechtzuerhalten und zugleich direkte Wahrnehmung zu erzeugen. Die »extreme Mittelbarkeit« sei bei Proust gleichzeitig »Fülle und Gipfel des Unmittelbaren.« Das Symbol hierfür sieht Genette – ein deutlicher Anklang an Wagner und die Romantik – in der »Ekstase der plötzlich aufsteigenden Erinnerung«.79 Und auch ein Blick in das Werk Walter Benjamins zeigt, dass romantische Denkfiguren bis weit ins 20. Jahrhundert ihre Wirkung entfaltet haben. »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei«, schreibt Benjamin in Über den Begriff der Geschichte (1940). »Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.«80 Von diesem kulturgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet erscheint die Wagnersche Konzeption der Plötzlichkeit in einem neuen Licht. Diese kann nicht nur als eine Weiterführung der romantischen Diskussion des Liebesaugenblicks als Déjà-vu/Imprévu oder als eine Spielart des Wahnsinns begriffen werden, sondern auch als eine Kritik geschichtlich-diskursiven Denkens. Obwohl dieses, wie das fünfte Kapitel gezeigt hat, als ein Erbe des 19. Jahrhunderts in Wagners Musikdramen Eingang gefunden hat, wird es dort zugleich durch den Blitzschlag augenblicklicher Erkenntnis in Frage gestellt. Man muss darin nicht unbedingt ein Zeichen metaphysischer Epiphanie erkennen. Aufschlussreicher wäre es, das plötzliche Abreißen diskursiver Gedankenketten – ganz im Sinne Nietzsches81 – als ein rhetorisches Moment zu begreifen.

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Ebd., S. 118. Ebd., S. 7. Genette, Die Erzählung, S. 120. Der Hinweis auf diese Stelle verdankt sich Basseler / Birke, Mimesis des Erinnerns, S. 137. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974ff., Bd. 1.2, S. 695. In einer ausführlichen Analyse hat Karl Heinz Bohrer die rhetorische Tradition aufgedeckt, die sich hinter Nietzsches Begriffen des »Scheins« und der »Plötzlichkeit« ver-

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In keinem anderen Musikdrama wird dies so deutlich wie in Der fliegende Holländer. Kurz vor dem Ende ihrer Ballade sinkt Senta, weil sie durch ihren Gesang »zu heftig angegriffen« ist, in ihren Stuhl zurück (H, 26). An ihrer Stelle singen die Mädchen die dritte Strophe, können diese aber nicht zu Ende führen, weil Sentas Ekstase sie – und damit auch die Erzählung der Ballade – abrupt unterbricht. Die Plötzlichkeit dieses Ereignisses, die im Libretto angelegt ist, wird durch die kompositorische Umsetzung noch intensiviert. Der Gesang der Mädchen ist als sanfter vierstimmiger Choral gestaltet, was ihm die Konturen einer religiös-entrückten Kontemplation verleiht. Im größten Gegensatz dazu steht Sentas Wahnsinns-Ausbruch, der auf den Dominantseptakkord der Mädchen mit einem verminderten Dreiklang und auf das pianissimo mit einem forte antwortet (SW 4/I, Nr. 4, T. 444f.). Entscheidend dabei ist, dass Wagner zwischen beiden Abschnitten eine Pause setzt, die durch eine Fermate noch verlängert wird.82 Erst sie macht den Abbruch der Erzählung und die Plötzlichkeit der folgenden Ekstase wirklich hörbar. Dieses Muster wird an mehreren Stellen des Werkes wiederholt. Zunächst am Ende von Eriks Traumerzählung, wo die Pause zwischen Eriks »sah ich aufs Meer euch fliehn« und Sentas zweitem Wahnsinns-Anfall eine halbe Note dauert. Das Zerreißen der Geschichte, die Erik erzählt, wird hier durch einen im fortissimo auffahrenden, chromatischen Streichereinsatz dargestellt: ein musikalischer Blitzschlag (4/II, Nr. 5, T. 294). Abermals steht die Musiksprache der Narration in krassem Gegensatz zu der der schlagartigen Ekstase. Und schließlich markiert auch das überraschende Aufeinandertreffen Sentas und des Holländers den Abbruch einer Erzählung, da Senta kurz zuvor ihre Ballade wieder aufgenommen hatte.83 Der fliegende Holländer zeugt von einem Paradox, das für Wagners Anthropologie wie auch für seine Ästhetik von zentraler Bedeutung ist. Zwar wird der Aufstieg unbewussten Wissens ins Bewusstsein, wie das fünfte Kapitel ausführlich gezeigt hat, durch eine narrativ gestaltete Anamnese angeregt. Aber das Erwachen des Ich

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birgt. Diese beruhe auf einer bestimmten Definition des Erhabenen, die vom PseudoLonginos ausgehe und über Burke bis zu Kant führe. Darin werde die aristotelische Ethos/Pathos-Formel, die eigentlich noch einen Ausgleich zwischen Gefühlswirkung und Überzeugung durch Einsicht sucht, zugunsten des Ethos verschoben. Dies kehre Nietzsche um und wende den Pathos gegen Pragma und Ethos (Bohrer, Plötzlichkeit, S. 126–128). Für Bohrer besteht deshalb kein Zweifel daran, dass Nietzsche die Eigenschaften des Dionysischen »von vornherein als ästhetische definiert« (ebd., S. 117). Es geht deshalb an der ursprünglichen Intention des Musikdramas vorbei, wenn Dirigenten diese Pause einfach überspielen und eine nahtlose Verbindung zwischen dem Choral der Mädchen und Sentas Ekstase suggerieren. Dies tut etwa Wolfgang Sawallisch bei seiner Live-Einspielung des Holländers (Bayreuth 1961), die gleichwohl eine der wenigen Aufnahmen der a-Moll-Fassung der Ballade ist. Vgl. Richard Wagner, Der fliegende Holländer. Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele, unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch. Universal Music 1962. Hierzu passt auch, dass im Holländer sämtliche Lieder unterbrochen werden, nicht nur die Ballade Sentas, sondern auch das Lied des Steuermanns, das Spinnerinnenlied im zweiten sowie das Lied der Mannschaft und der Matrosen im dritten Akt.

erfolgt dann plötzlich und unmittelbar, als ekstatischer Rausch. »Ich sei’s, die dich durch ihre Treu’ erlöse!« (H, 27) Sentas Subjektwerdung wäre ohne die Geschichte des Holländers, die die Ballade erzählt, nicht vorstellbar. Dennoch scheint der Akt der Bewusstwerdung als solcher von allem zuvor Gesagten unabhängig zu sein. Die Erzählung erzeugt das Spannungsfeld, das jene Erkenntnis erst ermöglicht, die dann durch einen Blitzschlag die Erzählung wieder aufhebt. Das Konzept der Subjektivität, das dieses Musikdrama prägt, ist ein zutiefst widersprüchliches: Senta kann nur zu sich finden, wenn sie außer sich ist. Sie braucht das Unbewusste, um »Ich« sagen zu können, aber eben dieses Unbewusste ist es auch, das das Ich gefährdet. Wie vor ihm die Romantiker hat Wagner genau erkannt, dass die Bewusstwerdung des Subjekts nicht geradlinig, sondern in Brüchen geschieht. Obwohl das Moment der individuellen Geschichte in seinen Musikdramen spürbar wird, sind sie doch vom idealistischen Konzept einer in Stufen verlaufenden, logisch-reflexiv nachvollziehbaren Entfaltung des Selbstbewusstseins sehr weit entfernt. Die Einfügung der »unbegreiflichen Plötzlichkeit« in ein »symbolisch sich verzweigendes Gewebe«84 erscheint im Holländer noch aus einem zweiten Grund als problematisch und prekär. Dieser ist in der radikalen ästhetischen Umsetzung des anthropologischen Konzepts von Subjektivität zu suchen. In Sentas Ekstase findet ein abrupter Wechsel in der Art der Wahrnehmung und Erinnerung statt, der auf ein Gedächtnisproblem verweist. Das ›erinnernde Ich‹ wird zu einem ›erlebenden Ich‹, das Präteritum der Erzählung zum szenischen Präsens.85 Senta hat zu dem,

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G. Neumann, Imprévu und Déjà-vu, S. 83. Neumann weist darauf hin, dass Sigmund Freud den Zusammenhang von der »Geflecht-Struktur der Wahrnehmung und ihrer bewussten Repräsentation« in seiner Traumdeutung in folgendes Bild zu fassen versuchte: »Die Traumgedanken […] müssen nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus einem Mycelium.« (Freud, Studienausgabe, Bd. 2, S. 503) Bei dieser Metapher wird allerdings die Gefährdung der Diskursivität durch die Blitzhaftigkeit der Erkenntnis nicht deutlich genug: Das Ereignis der plötzlichen Bewusstwerdung erscheint stattdessen als organische Folge des Vorhergehenden. Das Gedächtnisproblem, das sich hinter dem Plötzlichkeits-Diskurs verbirgt, bleibt so unsichtbar. Michael Basseler und Dorothee Birke nehmen in ihrem Aufsatz über die Darstellung des Erinnerns in Erzähltexten die narratologische Unterscheidung zwischen erlebendem und erinnerndem/erinnertem Ich wieder auf und führen sie auf die Freudsche Unterscheidung von ›Felderinnerung‹ und ›Beobachtererinnerung‹ zurück. Während die Figurenerinnerung im ersten Fall von einem »unvermittelten Eintauchen in die Vergangenheit« gekennzeichnet sei, ließe sich beim ›erinnerten Ich‹ von einem »gezielten Rekonstruieren« eben dieser Vergangenheit sprechen. »Vermehrt auftretende, eindeutig dem Erzähler zuzuordnende Kommentare wären beispielsweise textuelle Signale, die auf ein ›erinnertes Ich‹ hindeuten. Eine hohe Selbstvergessenheit des Erzählers sowie die Tendenz zum dramatischen Modus dagegen würde eher auf ein erlebendes Ich im Sinne einer ›ekstatisch aufsteigenden Erinnerung‹ schließen lassen.« (Basseler / Birke, Mimesis des Erinnerns, S. 138) Basseler und Birke veranschaulichen dies zum einen an Charles Dickens’ Roman David Copperfield (1849), der für das ›erinnerte Ich‹ stehe

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was sie erzählt, keine Distanz mehr. Indem sie mit der Geschichte des Holländers verschmilzt, löst sie diese zugleich in totale dramatische Gegenwärtigkeit auf; die Bewusstwerdung des Unbewussten ist nicht nur ein Erinnerungs-, sondern auch ein Vergessensakt. Wagners Musikdramen gehen hier in ästhetischer Hinsicht einen entscheidenden Schritt über die romantische Literatur hinaus. In Hoffmanns Magnetiseur wird die Unterbrechung von Ottmars Geschichte durch die Ohnmacht Marias nur im Präteritum geschildert. Der distanzierte Blick des Erzählers wird nie in Frage gestellt, weshalb Form und Inhalt auseinander laufen. Anders bei Wagner, dem sich als Musikdramatiker die Möglichkeit bietet, den Umschlag von Kontemplation in Intuition, von mittelbarer Narration in unmittelbare Dramatik tatsächlich zu inszenieren. Hier zeigt sich abermals, dass Wagner das Potential des Musiktheaters nutzt, um die Anthropologie der Romantik ästhetische Wirklichkeit werden zu lassen. Der Gedächtnisdiskurs, der sich hinter dem Zerreißen der Erzählung und der ausschließlichen Konzentration auf den Augenblick verbirgt, tritt bei Wagner noch deutlicher zu Tage als bei Hoffmann. Nun stellt sich die Frage, ob diese Radikalität in der Gegenüberstellung von Erzählung und Augenblick auch in den späteren Musikdramen beibehalten wird. Dass die Verbindung von Plötzlichkeit, Wahnsinn und Gedächtnis sich durch Wagners Gesamtwerk zieht, wurde im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits gezeigt. Sieglindes, Tristans und Kundrys Bewusstsein ist ebenso instabil wie dasjenige Sentas. Aber wird die Schlagartigkeit intuitiver Erkenntnis, die dies bewirkt, auch in der musikdramatischen Ausführung für den Zuschauer spürbar? Da an dieser Stelle unmöglich die kompositorische Behandlung des Plötzlichkeits-Motivs in Wagners Werk en detail verfolgt werden kann, muss die kurze Analyse zweier Szenen genügen, in denen der Konflikt zwischen erzählender Entfaltung und plötzlicher Unmittelbarkeit besonders deutlich hervortritt. Das beste Beispiel hierfür ist die Nornenszene zu Beginn der Götterdämmerung. In ihr wird die Welt-Erzählung der Nornen durch das Seil veranschaulicht, das sie sich zuwerfen. Es steht für die Linearität, die jeder Narration als Entwicklung einer diskursiven Gedankenreihe zugrunde liegt. Dies erscheint aber als ein prekärer Vorgang, da die Nornen in ihrer Erzählung immer wieder neu ansetzen, bis sie, wenn man so will, den Faden verlieren: »Verflochten ist das Geflecht. / Ein wüstes Gesicht / wirrt mir wütend den Sinn«, bemerkt die erste Norn just in dem Moment, als die Erzählung sich Alberichs Fluch nähert. Dieser »nagt meiner Fäden Geflecht«, klagt die zweite Norn (G, 12). Es ist also ein der kollektiven Geschichte inhärentes traumatisches Ereignis, das letztlich zum Abbruch der Erzählung führt. »Es riß!« rufen die drei Nornen und

und subjektfestigend wirke. Im Gegensatz dazu stehe die Literatur der Postmoderne, in der die Erinnerung und die mit ihr verbundene Ich-Konstitution prekär werde. Diese Zuordnung ist allerdings fragwürdig. Denn bereits die romantische Literatur sowie die Musikdramen Richard Wagners zeugen von einer ekstatischen – und auch prekären – Subjektivität.

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fahren dabei »erschreckt« in die Höhe (13). Allerdings ist die Plötzlichkeit dieses Augenblicks in der musikdramatischen Gestaltung dieser Szene nicht wirklich fassbar. Denn der halbverminderte Septakkord auf A-C-Es-G wird, als das Seil reißt, lediglich eine kleine Terz tiefer gerückt (SW 13/I, T. 284f.). Damit läuft die Musik dem Libretto entgegen, denn sie stellt den Abbruch der Erzählung als Ereignis innerhalb einer diskursiven Logik dar. Zwar wird das Reißen des Seils im fortissimo dargestellt, dieses wird aber durch ein crescendo vorbereitet. Zudem erklingt während des »Es riß« der Nornen das Fluchmotiv in der Basstrompete (T. 286ff.), was den plötzlichen Abbruch sofort reflexiv einfängt. Obwohl das Seil der Nornen reißt, bleibt das Gewebe der Wagnerschen Komposition erhalten. Das Ende von Siegfrieds Erzählung im dritten Akt desselben Musikdramas erinnert da schon eher an den Holländer. Denn hier wird die prächtig-erhabene CDur-Kadenz, die die Schilderung der ersten Begegnung Siegfrieds mit Brünnhilde abschließen soll, von Gunthers entsetztem »Was hör ich!« abrupt in das Fis des Tritonus gelenkt (III, T. 835). Die darauf folgenden dissonanten Akkordschichtungen schnellen chromatisch nach oben; »Errätst du auch dieser Raben Geraun’?« fragt Hagen, woraufhin Siegfried »heftig« auffährt und, den Raben nachblickend, Hagen den Rücken zukehrt. Dieser tötet ihn mit einem Stoß seines Speeres. Kein Zweifel: Der Wechsel des narrativen in den dramatischen Modus ist in dieser Szene augenfälliger als in der Erzählung der Nornen. Und doch setzt Wagner auch hier das Fluchmotiv zur Erklärung der Handlung ein: In den Hörnern und der Basstrompete (T. 840ff.) deutet es dem Zuschauer die Ermordung Siegfrieds als Folge einer zurückliegenden Tat, als Racheakt Hagens für seinen Vater Alberich. Das dramatische Präsens des Bühnengeschehens wird vom Orchester in das Präteritum der Erzählung getaucht. Wie gesagt: Es kann hier nicht der Ort sein, das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit in Wagners Musik erschöpfend darzustellen – dazu bedürfte es einer eigenen Studie. Dennoch wird in den beiden genannten Beispielen eine Tendenz in Wagners Kompositionstechnik deutlich, die die Musikwissenschaft seit langem herausgearbeitet hat. Bereits im Lohengrin, spätestens aber im Rheingold und der Walküre wird die Musik zu einem Element der Vermittlung, das schroffe Kontraste zumindest abmildert. Dies geschieht auf mehreren Ebenen. Erstens in den Leitmotiven, die die Handlung in einen reflexiven Interpretationsvorgang einbinden. Des Weiteren in der nahtlosen Überleitung von einem Abschnitt in den anderen, wie sie sich beispielhaft in den Szenenwandlungen des Parsifal ausdrückt; und zudem in der Ableitung und Variation des motivischen Materials aus einigen wenigen musikalischen Grundgedanken. Hinzu kommt die Ablösung des Nebeneinanders von Rezitativ und Arie durch eine Dialogstruktur, die auf einem durchkomponierten Tonsatz beruht. Dies verweist nicht zuletzt auf die Abschaffung einer ›quadratischen‹ und periodischen Satzstruktur zugunsten einer ›musikalischen Prosa‹, in der Abschnitte verschiedener Länge miteinander verknüpft werden. Die Musik wird also, um es mit Wagners eigenen Worten zu sagen, zu einer »Kunst des Ueberganges«. Dieses Zitat entstammt einem Brief an Mathilde We381

sendonck aus dem Jahr 1859, in dem Wagner sich ausdrücklich gegen eine Ästhetik der Plötzlichkeit verwahrt: Das Schroffe und Jähe ist mir zuwider geworden; es ist oft unumgänglich und nöthig, aber auch dann darf es nicht eintreten, ohne dass die Stimmung auf den plötzlichen Uebergang so bestimmt vorbereitet war, dass sie diesen von selbst forderte. (SB XI, 329)

Gleichwohl war sich Wagner bewusst, dass seine Kunst des Übergangs sich aus der Notwendigkeit herleitete, die Extreme der dargestellten Stimmungsumschwünge abzumildern. »Im Grunde hat auch die wahre Kunst keine andern Vorwürfe, als diese höchsten Stimmungen in ihrem äussersten Verhalten zu einander zu zeigen«, schreibt er, schränkt aber sofort ein: »Für die Kunst entsteht aus der materiellen Verwendung dieser Extremitäten leicht aber eine verderbliche Manier, die bis zum Haschen nach äusserlichen Effecten sich verderben kann.« (328f.) Neben diesem ästhetischen Einwand hat Wagners Abwehrhaltung gegenüber der Plötzlichkeit aber auch psychologische Gründe. »In meiner Natur liegt es ursprünglich, schnell und stark in den Extremen der Stimmung zu wechseln« (328), räumt er gleich zu Beginn des Briefes ein – ein Geständnis, das durch die Tagebücher Cosimas und Zeugnisse von Freunden belegt ist. »Ich bin ein Gemisch von Hamlet und Don Quixote«, sagt er einmal zu seiner Frau.86 Wie aus dem Brief an Mathilde Wesendonck hervorgeht, war Wagner die Wirkung dieser Gefühlsausbrüche auf andere »peinlich«. Das Wichtigste sei ihm »verstanden zu werden«, was aber nur »durch die bestimmteste und zwingendste Motivierung der Uebergänge zu erreichen« sei (329f.). Gerade deshalb sei er so redselig: Entsinnen Sie sich noch des letzten Abends mit Semper? Ich hatte plötzlich meine Ruhe verlassen und meinen Gegner durch einen stark accentuirten Angriff verletzt. Kaum war mir das Wort entflogen, als ich sogleich innerlich abgekühlt war, und nur noch die – eben von mir gefühlte – Notwendigkeit begriff, zu versöhnen, und dem Gespräch wieder die schickliche Fassung zu geben. Zugleich aber leitete mich das bestimmte Gefühl davon, dass diess nicht durch ein plötzliches Verstummen, sondern nur durch ein allmähliches, bewusstes Ueberleiten verständlich geschehen konnte; ich entsinne mich, selbst als ich noch stark und meiner Meinung angemessen sprach, das Gespräch bereits nur noch mit einem gewissen künstlerischen Bewusstsein geführt zu haben, das, wenn man mich meiner Absicht nach gewähren lassen haben würde, ganz bestimmt zu einem intellectuell wie moralisch versöhnenden Schlusse geführt und als Verständigung und Beschwichtigung zugleich geendet haben würde. (330f.)

Diese Selbstanalyse Wagners führt tiefer in sein Werk als vieles, was später über es geschrieben wurde. Sie berührt den zentralen anthropologischen und ästhetischen Konflikt zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung, wobei letztere als eine Abwehr jener Gefahr erscheint, die der schlagartigen Intuition innewohnt. Wag-

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Tagebucheintrag vom 7. August 1878 (CT II, 156). Ein Jahr später sprechen die beiden »über den göttlichen Zorn des D. Quixote« und Cosima notiert: »R. vergleicht sich damit, ungefähr so geriete er in Zorn.« (448).

ner war sich bewusst, dass er dieses Modell auf seine Musikdramen übertrug. Die »Kunst hängt sehr mit dem Leben bei mir zusammen« (329), schreibt er. Während er die Heftigkeit seiner Wutanfälle mit Hilfe wortreicher Erklärungen zu bändigen suchte,87 schuf er in seinen Musikdramen ein narratives »Gewebe« (ebd.),88 das die Ekstasen der Figuren der Diskursivität unterwarf. Unerträglich war es ihm deshalb, wenn in der Aufführung seiner Werke »Sprünge vorgenommen wurden« (330). Nichts wäre jedoch falscher, als rein biographische Gründe für Wagners Reform des Musiktheaters anzunehmen. Seine persönlichen Exzesse spiegeln die Zerrissenheit des modernen Subjekts wider, das den Kapriolen des Unbewussten unterworfen ist. Als neurotischer Künstler ist Wagner vor allem deshalb interessant, weil er in seinem Werk die eigenen Symptome als kulturelle Muster deutete. Während die Libretti mit ihrer Psychologie des jähen Wahnsinns, des plötzlichen Umschlags von Erinnern in Vergessen dem modernen Bewusstsein die Diagnose stellen, bilden seine späten Partituren mit ihrer Rhetorik der Vermittlung und des Übergangs das Gegenmittel. Damit treten Form und Inhalt aber auseinander. Tristan, Isolde oder Kundry sind ebenso wie Senta von der Sprunghaftigkeit des Wahnsinns bedroht, aber anders als im Holländer fängt die Kunst des Übergangs, die die Musiksprache von Wagners Spätwerk auszeichnet, diese Tendenz auf. Natürlich schlüge eine rein rationalistische Deutung seiner Kompositionstechnik fehl – gerade der Tristan be-

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In diesem Zusammenhang ist auch Wagners Bemühen zu sehen, die Spuren seines Lebens minutiös zu dokumentieren und aufzubewahren. Die Autobiographie Mein Leben legt davon beredtes Zeugnis ab. Häufig zitierte Wagner die Redensart: »Wer schreibt, der bleibt«. Einen Kasten, in dem Cosima wichtige Papiere aufbewahrte, nannte er »Geschreibsel, Gebleibsel« (Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 601). Beeindruckend sind auch jene Passagen aus Cosimas Tagebüchern, in denen sie davon berichtet, wie Carl Friedrich von Glasenapp Dokumente aus Wagners Leben nach Wahnfried schickt und diese in Wagner selige Erinnerungen auslösen. Auch in seiner Biographie ist also die Idee erkennbar, die eigene Existenz durch einen Gedächtnisakt zu stabilisieren. Die Metapher des »Gewebes« taucht nicht nur in dem hier zitierten Brief an Mathilde Wesendonck, sondern auch in Wagners späten ästhetischen Schriften auf. So heißt es in Über die Anwendung der Musik auf das Drama aus dem Jahr 1879, dass die Musik sich »über das ganze Drama« erstrecken und dabei doch eine Einheit aufweisen müsse. »Diese Einheit giebt sich dann in einem das ganze Kunstwerk durchziehenden Gewebe von Grundthemen, welche sich, ähnlich wie im Symphoniesatze, gegenüber stehen, ergänzen, neu gestalten, trennen und verbinden« (SSD X, 185). Zum einen löst diese Metapher die an die traditionelle Formenlehre gebundene Vorstellung der Musik als Architektur ab – zu Beginn des Aufsatzes beschrieb Wagner die Musik Beethovens mit Hilfe der Architektur-Metapher, und noch Alfred Lorenz griff bei seiner Analyse von Wagners Musik auf sie zurück. Demgegenüber betont Carl Dahlhaus zu Recht, dass Wagner das Bild des Gewebes nicht zufällig gewählt habe. Vgl. Carl Dahlhaus, Die Musik. In: Richard-Wagner-Handbuch, hg. von Ulrich Müller / Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 197–221, hier S. 207. Zum anderen aber ist das ›Gewebe‹ ein bereits in der Antike verwendetes Bild zur Beschreibung des Erzählaktes – man denke nur an Ovids Metamorphosen, wo die Weberin Arachnae einen Wandteppich schafft, der in einer Reihenfolge von mehreren Szenen die Liebesabenteuer der Götter schildert.

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weist, dass Wagner wie kein zweiter den rauschhaften Sog der Ekstase darzustellen wusste. Kein Zweifel kann aber daran bestehen, dass er beständig darum bemüht war, zu starke Kontraste und jähe Übergänge zu vermeiden. Genau diese sind es ja, die das Musiktheater vor Wagner kennzeichnen. Dazu schreibt Carl Dahlhaus: Musik in der Oper ist, grob und formelhaft gesprochen, affirmativ und an den Augenblick, die unmittelbare Gegenwart gebunden. Sie begründet und verknüpft nicht, sondern behauptet und setzt fest; und es gelingt ihr, sogar dem Unmotivierten den Schein von Notwendigkeit und dem Absurden, Entlegenen den von Glaubwürdigkeit zu verleihen. Gerade indem sie den schroffen Kontrast, den abrupten Umschlag durch Musik, durch tönende Rhetorik evident macht und gleichsam den Mangel an dramaturgischer Vermittlung durch die Macht der musikalischen Erscheinung ausgleicht, zeigt sich die Oper als das, was sie ist. Die Kunst des Überganges ist ihr ursprünglich fremd.

Demgegenüber würden im Musikdrama Wagners, zu dessen konstitutiven Merkmalen die Leitmotivtechnik gehört, unablässig Fäden geknüpft und Zusammenhänge gestiftet. Alles, was geschieht, erinnert an Früheres, aus dem es hervorgeht oder mit dem es durch Analogie verbunden ist. Ein dichtes Netz von Motivationen […] überzieht das ganze Werk. In der Oper, in der die Teile sich deutlich voneinander absetzen, als folge ein Stück fest umrissener Gegenwart dem anderen, herrscht der Kontrast, im Musikdrama die Vermittlung. Von den Momenten der musikalisch-dramatischen Form kehrt die Oper das plastische, das Musikdrama das logische hervor.89

Natürlich ist diese Darstellung sehr schablonenhaft, aber sie trifft doch einen wichtigen Punkt: Die Oper beruht auf Unmittelbarkeit, das Musikdrama auf Erzählung.90 Dessen Musiksprache wird letztlich von der Idee bestimmt, ein stabiles Gedächtnis zu schaffen, das die Brüche überwinden soll, die die traditionelle Oper – in Wagners Augen – durch ihren jähen Wechsel von Erinnern, Erleben und Vergessen erzeugt. Ist nicht die Kunst des Übergangs von einem Zustand in den anderen genau jene Eigenschaft, die Senta, Sieglinde und Kundry fehlt? Und was stiften die Leitmotive, die Wagner als »ahnungsvolle Erinnerungen« (OuD, 361) bezeichnet hat, anderes als einen Speicher, dem nichts verloren geht – eben jenes Unbewusste, das romantische Psychologen wie Schubert dauerhaft im Bewusstsein aufgehoben wissen wollten?

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Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 42f. Aus diesem Grund ist es ein Widerspruch, wenn Carl Dahlhaus an anderer Stelle schreibt: »Das Auseinanderbrechen des Dramas, das man übertreibend als szenisches Epos bezeichnen könnte, wird allein durch die Musik, durch die Motivzusammenhänge, die wie ein Netz das ganze Werk überziehen, verhindert.« (Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 39) In der Logik Wagners wäre das Gegenteil richtig: Die Erzählung mildert durch ihre Fähigkeit zur Verknüpfung und Motivierung den Kontrastreichtum des Dramas.

6.4.

Die Heilung des Wahnsinns in Die Meistersinger von Nürnberg

Auch in den Meistersingern von Nürnberg beschreibt Wagner den Wahnsinn als eine Gedächtnisstörung. Allerdings rückt in diesem Musikdrama die Frage ins Zentrum, wie sich diese überwinden lasse. Wenn man verstehen will, wie Wagner dabei vorgeht, muss man das Werk als eine doppelte Replik lesen. Zum einen auf den Tristan. Dessen Ästhetik der Nacht wird in den Meistersingern durch einen Lobgesang auf den Tag ersetzt, auf den Rausch der Geschlechtsliebe folgt die Entsagung des Sachs, auf den Ehebruch die Eheschließung.91 Vor allem aber bildet in den Meistersingern anders als im Tristan nicht das »Ur-Vergessen« (TuI, 83) den Zielpunkt, sondern, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die dauerhafte Aufbewahrung unbewussten Wissens im Bewusstsein. Wie sich dies gestaltet, wird aber nur verständlich, wenn man die Meistersinger auch als Antwort auf den Gedächtnisdiskurs begreift, den der Tannhäuser entwirft. Zwar vollendete Wagner die Meistersinger erst im Anschluss an den Tristan, der erste Entwurf datiert aber bereits vom Juli 1845. Wagner plante, wie er in Eine Mittheilung an meine Freunde schreibt, ein »heiteres Satyrspiel« auf die Tragödie des Tannhäuser folgen zu lassen (SSD IV, 284). Tatsächlich scheint das zentrale Thema beider Werke – der Konflikt des genialen Künstlers mit der Gesellschaft – in den Meistersingern einen positiven Ausgang zu nehmen. Während Tannhäusers Gesang in der Gemeinschaft der Wartburg Entsetzen und Hass auslöst, gelingt es Walther nach anfänglichen Schwierigkeiten, die Meistersinger von seiner Kunst zu überzeugen. Doch mit der Frage nach der Produktion und Aufführung von Kunst verknüpft sich in beiden Musikdramen diejenige nach dem ›wahnsinnigen Genie‹. Tannhäuser scheitert, weil er seine plötzlichen Intuitionen nicht dauerhaft im Bewusstsein speichern kann. Im Gegensatz zu Walther, dem genau dies mit Hilfe des Hans Sachs gelingt. 6.4.1. »All mein Erinnern ist mir schnell geschwunden«: Tannhäuser Deutlich wird die Verbindung von Kunstproduktion und Gedächtnisdiskurs in einer der zentralen Szenen des Tannhäuser, dem ›Sängerkrieg‹ im zweiten Akt. Während die vier Edelknaben mit den Worten »Wolfram von Eschenbach beginne« den Wettkampf einleiten, gerät Tannhäuser in einen Zustand der Entrückung. Er »stützt sich auf seine Harfe und scheint sich in Träumereien zu verlieren.« (T, 33)

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Zum Motiv der Nacht in Tristan und Isolde und seinen romantischen Konnotationen vgl. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 261–287. Als erster hat Friedrich Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth auf »die Nachbarschaft des Tristan und der Meistersinger« hingewiesen (Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 480). Die Meistersinger von Nürnberg wurden in der Forschung vor allem aufgrund ihrer Entsagungs-Idee als Replik auf den Tristan gedeutet. Siehe hierzu u.a. die Ausführungen Peter Wapnewskis in Müller / Wapnewski, Richard-Wagner-Handbuch, S. 318f. sowie Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 177.

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Dass Tannhäuser, indem er sich auf die Eingebungen seines Unbewussten verlässt, darin zu versinken droht, geht deutlich aus dem Nebentext hervor, den Wagner der Partitur92 vorbehielt: Seine trotzige Miene nimmt sofort den Ausdruck der Entzückung an, mit welchem er in die Luft vor sich hinstarrt; ein leises Zittern der Hand, die bewußtlos nach den Saiten der Harfe sucht, ein unheimliches Lächeln des Mundes, zeigt an, daß ein fremder Zauber sich seiner bemächtigt. Als er dann, wie erwachend, kräftig in die Harfe greift, verrät seine ganze Haltung, daß er kaum mehr weiß, wo er ist und namentlich Elisabeth nicht mehr beachtet. (35)

Die Inspiration Tannhäusers wird hier als ein Erinnerungsakt inszeniert. Der »fremde Zauber«, von dem das Libretto spricht, ist in Wahrheit so fremd nicht. Es ist, wie nicht zuletzt die Musik verrät, die Welt des Venusberges, aus der Tannhäuser im ersten Akt geflohen ist und an die er sich nun wieder erinnert (SW 6/ II, T. 501ff.). Er singt das Lied, dessen erste Strophen er im ersten Akt bereits für die Göttin Venus spielte: Das verdrängte und unbewusst gewordene Wissen steigt plötzlich und unvermittelt in sein Bewusstsein. Doch diese Bewusstwerdung impliziert – und das ist das Entscheidende –, dass er seine Umgebung, auch Elisabeth, nicht mehr wahrnimmt. Das Erinnern ist zugleich ein Vergessen. Die Welten des Venusberges und der Wartburg versinnbildlichen also nicht nur den Gegensatz von Heidentum und Christentum, sondern können auch als Chiffren für das Unbewusste auf der einen und das Bewusste auf der anderen Seite gelesen werden.93 Dass zwischen beiden keine Vermittlung möglich ist, artikuliert sich im Tannhäuser wesentlich als ein Gedächtnisproblem. Der Protagonist ist gefährdet, weil er es nicht schafft, das Unbewusste dauerhaft im Bewusstsein zu bewahren, sondern alles, was er erinnert, sofort wieder vergisst. Sein Gedächtnis ist instabil, sein Ich zwischen Erinnern und Vergessen hin- und hergerissen. Unschwer erkennt man in Tannhäuser die Figur des Somnambulen, wie sie in der Literatur des Magnetismus beschrieben wurde: Zunächst starrt er entzückt vor sich hin, seine Hand zittert, bevor er »wie erwachend« in die Saiten seiner Harfe greift. Wagner folgt hier genau der Beschreibung der verschiedenen Grade des magnetischen Schlafes. Während der dritte Grad das Übergangsstadium zwischen Bewusstem und Unbewusstem darstellt und durch physische Phänomene wie die Starre und Zuckungen gekennzeichnet ist, signalisiert das Erwachen, dass Tannhäuser den vierten Grad der ›vollkommenen Krise‹ erreicht hat. Von ihm schreibt Kluge, der Somnambule sei zwar »schlafend, im Schlafe aber wachend, und nun in so fern des 92 93

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Die Änderungen in den Nebentexten der Partitur beziehen sich auf die so genannte ›Wiener Fassung‹ von 1875. Zur Metapher des Unbewussten als Berginneres in der Romantik vgl. 3.4.2. Der Venusberg zeichnet sich außerdem durch jene Zeitenthobenheit aus, die die Romantiker dem Unbewussten zugeschrieben haben: »Die Zeit, die hier ich weil’, ich kann sie nicht / ermessen: – Tage, Monde – gibt’s für mich nicht mehr« (T, 11). Vgl. hierzu Kienzle, Liebe, Schlaf und Tod, S. 344f.

Schlafes Meister, daß er ihn zwar nicht zu tilgen vermag, doch aber davon nicht beschränkt ist, sondern aus sich herausgehen und sich äußern kann.«94 Dieses Erwachen betrifft aber nur den inneren, nicht den äußeren Sinn: »Die gewohnten Zugänge für die Außenwelt«, schreibt Kluge, »sind entweder gänzlich geschlossen, oder doch unter einer andern Form hervorgetreten, und nur der innere Sinn ist noch derselbe.«95 Dass Tannhäuser zwischen dem Unbewussten und Bewussten hin- und hergerissen ist, wird nicht zuletzt in der dramaturgischen Anlage des Werkes deutlich. Der Venusberg taucht an drei neuralgischen Punkten der Handlung auf, nämlich am Anfang, in der Mitte und am Schluss. Zu Beginn legt es Tannhäuser darauf an, aus dem Venusberg so schnell wie möglich zu entkommen. »Zu viel! Zu viel! O, daß ich nun erwachte!« sind die ersten Worte, die wir von ihm hören (T, 10). Tatsächlich entlässt Venus ihn aus ihrem Reich und er findet sich in einem Tal vor der Wartburg wieder, wo er auf seine ehemaligen Gefährten trifft. In der Mitte des zweiten Aktes, dem Sängerkrieg, versinkt er dann in die Erinnerung an den Venusberg, aus der er jedoch wieder zu sich kommt und nun, am Ende des zweiten Aktes, sein Heil in Rom sucht. Das Ende ist bekannt: Da Tannhäuser die Gnade des Papstes verweigert wird, kehrt er am Schluss des Musikdramas enttäuscht zum Venusberg zurück, vor dem ihn schließlich das Selbstopfer Elisabeths bewahrt. Entscheidend ist, dass diese Übergänge vom Unbewussten ins Bewusstsein und wieder zurück unvermittelt und plötzlich erfolgen und die Erinnerung an den vorhergehenden Zustand abrupt verloren geht. Dies deutet sich schon zu Beginn an, als Tannhäuser »mit dem Haupte« emporzuckt, »als fahre er aus einem Traume auf«, und sich mit der Hand »über die Augen« fährt, »als ob er ein Traumbild fest zu halten suche.« (ebd.) Es zeugt von Wagners dichterischem Können, in der ersten Geste Tannhäusers die Quintessenz des zentralen Konflikts zu veranschaulichen: Den Versuch, die Erinnerung zu bewahren. Die Gesten des Auffahrens und Emporzuckens stehen dabei für die Plötzlichkeit des Bewusstseinswandels, der Tannhäuser unterliegt, für den unvermittelten Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein. Es ist auffällig, wie oft und konsequent Wagner dieses zu Beginn exponierte Motiv im Lauf des Musikdramas wiederholt.96 Nachdem Venus Tannhäuser zum Bleiben zu bewegen versucht, ermannt sich dieser »zu einem plötzlichen Entschlusse«: Er »nimmt die Harfe und stellt sich feierlich vor Venus hin.« (11) Genauso ist auch der Übergang von der zweiten in die dritte Szene gestaltet: Als Tannhäuser ruft: »Mein Fried’, mein Heil ruht in Maria!«, ertönt ein »furchtbarer

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Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus, S. 110. Ebd., S. 126. Auch Carl Dahlhaus hat beobachtet, dass Tannhäuser »jäh und seltsam gedächtnislos« fühle und handele. »Er erscheint, seiner selbst nicht ganz bewußt, als Gefangener des Augenblicks und des Affekts, der ihn gerade beherrscht. Was sich ereignet, geschieht in abruptem Wechsel zwischen Extremen.« Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 41.

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Schlag«, »Venus verschwindet« und »Tannhäuser steht plötzlich in einem schönen Tale« (17). Die scheinbar nebensächlichen Nebentexte sind für die Ästhetik dieses Werkes von zentraler Bedeutung. Der Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein geschieht immer auf einmal und augenblicklich, nicht schrittweise. Auch am Ende des zweiten Aktes wird dies durchgespielt. Der Gesang der Pilger löst bei dem verzweifelt um Gnade bittenden Tannhäuser abermals eine intuitive Reaktion aus. Während Wagner im Libretto schreibt, Tannhäusers Züge werden »von einem Strahle schnell erwachter Hoffnung erleuchtet«, präzisiert er in der Partitur: Tannhäuser »hält plötzlich in den Bewegungen der leidenschaftlichsten Zerknirschung ein und lauscht dem Gesange«. Sodann stürzt er sich »mit krampfhafter Heftigkeit zu Elisabeths Füßen, küßt inbrünstig hastig den Saum ihres Gewandes und bricht dann, vor ungeheurer Erregung taumelnd, auf mit dem Rufe: Nach Rom!« (43) Tannhäusers Erkenntnis erfolgt immer auf jähe Weise, seine Entschlüsse beruhen nicht auf reiflicher Überlegung, sondern auf spontanen Intuitionen, die freilich nicht von Dauer sind. Dies betrifft auch die Liebe zu Elisabeth, die ebenfalls dem Wechselspiel von Erinnern und Vergessen unterworfen ist. »Dich, teure Halle, grüß’ ich wieder, / froh grüß’ ich dich, geliebter Raum! / In dir erwachen seine Lieder, / und wecken mich aus düstrem Traum.« (26) So lauten Elisabeths erste Worte zu Beginn des zweiten Aufzuges. Es geht in ihnen um die Erinnerung an Tannhäusers Lieder, die in Elisabeths Bewusstsein Spuren hinterlassen haben. Dies gibt sie Tannhäuser zu verstehen: Der Sänger klugen Weisen / lauscht’ ich sonst gern und viel; / ihr Singen und ihr Preisen / schien mir ein holdes Spiel. / Doch welch’ ein seltsam neues Leben / rief euer Lied mir in die Brust! / Bald wollt’ es mich wie Schmerz durchbeben, / bald drang’s in mich wie jähe Lust: / Gefühle, die ich nie empfunden! / Verlangen, das ich nie gekannt! / Was einst mir lieblich, war verschwunden / vor Wonnen, die noch nie genannt! – / Und als ihr nun von uns gegangen, – / war Frieden mir und Lust dahin; / die Weisen, die die Sänger sangen, / erschienen matt mir, trüb’ ihr Sinn; / im Traume fühlt’ ich dumpfe Schmerzen, / mein Wachen ward trübsel’ger Wahn; / die Freude zog aus meinem Herzen: – / Heinrich! Was thatet ihr mir an? (28f.)

Die Liebe geht in diesen Versen mit einer prekären Verfassung des Gedächtnisses einher. Die Wirkung von Tannhäusers Liedern bezeichnet Elisabeth als »jähe Lust«. Alle Erinnerung an die anderen Sänger werden so gelöscht: »Was einst mir lieblich, war verschwunden«. Doch diese Erfahrung ist, wie alles im Tannhäuser, nur von kurzer Dauer: »Und als ihr nun von uns gegangen, – / war Frieden mir und Lust dahin«. Genauso ergeht es Tannhäuser, der sich im Gespräch mit Elisabeth nicht mehr an seine Zeit im Venusberg erinnern kann. Auf Elisabeths Frage »Wo weiltet ihr so lange?« antwortet er: »Fern von hier, in weiten weiten Landen. Dichtes Vergessen hat zwischen heut und gestern sich gesenkt. – All mein Erinnern ist mir schnell geschwunden« (27). Dies ist einer der wichtigsten Sätze dieses Musikdramas, da er das Motiv der Hast und der Plötzlichkeit mit den Themen der Erinnerung und des Gedächtnisses verknüpft. Wie stark die Psyche Tannhäusers von dem jähen Wechselspiel 388

aus Erinnern und Vergessen betroffen ist, zeigt die Tatsache, dass die Liebe zu Elisabeth ihm stets in einer unvermittelten Augenblickserfahrung zu Bewusstsein kommt, aber nie dauerhaft in seinem Bewusstsein verbleibt. In der vierten Szene des ersten Aktes ruft Wolfram dem forteilenden Tannhäuser zu: »Bleib bei Elisabeth!«, worauf dieser »heftig und freudig ergriffen« ruft: »Elisabeth! – O Macht des Himmels, / rufst du den süßen Namen mir?« (22) Dies wiederholt sich in der dritten Szene des dritten Aktes als entscheidende Peripetie der Handlung. Als Tannhäuser in den Venusberg zurück will, sagt Wolfram: »Ein Engel bat für dich auf Erden – / bald schwebt er segnend über dir: / Elisabeth!« Durch die Nennung des Namens bleibt Tannhäuser, »der sich soeben von Wolfram losgerissen, […] wie von einem heftigen Schlage gelähmt, an die Stelle geheftet« stehen und wiederholt: »Elisabeth!« (56) Zwischen Unbewusstem und Bewusstem besteht keine Vermittlung, Erinnerung schlägt übergangslos in Vergessen um. Der Modus der Plötzlichkeit, dem Tannhäusers Fühlen und Handeln unterworfen ist, lässt sein Gedächtnis als instabil und ihn selbst als zerrissenes Subjekt erscheinen, das vom Wahnsinn bedroht wird: Als er sich während des Sängerkrieges an das Venus-Lied erinnert, wird seine Verzückung von einem »unheimliche[n] Lächeln« begleitet, das seinen Mund umspielt (35). Das Motiv der Plötzlichkeit spielt bereits in den Quellen des Werkes eine Rolle. Dies zeigt E.T.A. Hoffmanns Novelle Der Kampf der Sänger (1819). Auch Hoffmann gestaltet den Moment des künstlerischen Einfalls als eine blitzhafte Erinnerung und verbindet ihn zugleich mit der Frage, ob der Augenblick der Liebe im Bewusstsein bewahrt werden kann. Als Wollframb gegen Nasias singt, gewinnt er seine Inspiration aus der Erinnerung an das Imprévu, das ihn mit Mathilde verbindet: So gedachte Wollframb, während daß Nasias fortfuhr mit seinen eitlen Liebesliedern, jenes Augenblicks, als er die Dame Mathilde zum erstenmal erblickte in dem Garten auf der Wartburg, sie selbst stand vor ihm in der Holdseligkeit und Anmut wie damals, sie blickte ihn an wie damals, so fromm und liebend. Wollframb hatte nichts vernommen von dem Gesange des Bösen; als dieser nun schwieg, begann Wollframb ein Lied, das in den herrlichsten, gewaltigsten Tönen die Himmelsseligkeit der reinen Liebe des frommen Sängers pries. (SäW 4, 371)

Genau dies wiederholt sich in realiter während des Kampfes gegen Heinrich: Wolfframb durchbebte ein elektrischer Schlag, er erwachte aus dem träumerischen Hinbrüten, er blickte hin, und o Himmel! eben schritt die Dame Mathilde in aller Holdseligkeit und Anmut, wie zu jener Zeit, als er sie zum erstenmal im Garten auf der Wartburg sah, in den Kreis. Sie warf den seelenvollsten Blick der innigsten Liebe auf ihn. Da schwang sich die Lust des Himmels, das glühendste Entzücken jubelnd empor in demselben Liede, womit er in jener Nacht den Bösen bezwungen. Das Volk erkannte ihm mit stürmischen Getöse den Sieg zu. (378)

Wagner übernimmt die Vorlage Hoffmanns und wendet sie zugleich in ihr Gegenteil. Während Hoffmann die blitzhafte Intuition als heilendes und positives Element versteht, das der Kunst Wolfframbs die Anerkennung der Gemeinschaft 389

sichert, wird die Plötzlichkeit bei Wagner zur Bedrohung. Gleiches gilt für die Darstellung der Liebe. Am Schluss der Novelle versichert Wolfframb Mathilde, sie habe »fortwährend in seinem Herzen gelebt« (379): Der Erinnerungsakt, das Wieder-Sehen der Liebenden, wird nicht wieder vergessen. Am Schluss sinken sie sich »aufs neue« in die Arme und können nicht aufhören, »von der überstandenen Qual, von dem süßen Augenblick des Wiederfindens zu reden.« (380) Diese Vermittlung der unmittelbaren Intuition mit dem Bewusstsein gelingt Elisabeth und Tannhäuser nicht; Wagner zeigt sich an dieser Stelle seiner Hoffmann-Rezeption pessimistischer als sein Vorgänger. Zweifellos hat jedoch die Darstellung der Plötzlichkeit im Kampf der Sänger dazu geführt, dass Wagner dieses Element in sein Libretto einfügte. Dadurch werden die Kontrasteffekte der Grand Opéra, die im Tannhäuser nachhallen, von Wagner psychologisch motiviert.97 Nicht zuletzt darin liegt die Bedeutung dieses Werkes, die man nicht vorschnell als einen unfertigen Vorläufer der späteren Musikdramen abtun sollte. 6.4.2. Deuten und Merken: Die Meistersinger Genie und Wahnsinn liegen auch in den Meistersingern von Nürnberg nah beieinander. Dies gilt nicht zuletzt für Walther. Als dieser im zweiten Aufzug Eva von seinen Erlebnissen mit den Meistersingern erzählt, steigert er sich so in seine Beschreibung hinein, dass er zu halluzinieren beginnt: Überall Meister, / wie böse Geister, / seh’ ich sich rotten / mich zu verspotten: / mit den Gewerken, / aus den Gemerken, / aus allen Ecken, / aus allen Flecken, / seh’ ich zu Haufen / Meister nur laufen, / mit höhnendem Nicken / frech auf dich blicken, / in Kreisen und Ringeln / dich umzingeln, / näselnd und kreischend / zur Braut dich heischend, / als Meisterbuhle / auf dem Singestuhle, / zitternd und bebend, / hoch dich erhebend: – / und ich ertrüg’ es, sollt’ es nicht wagen / gradaus tüchtig drein zu schlagen? (M, 79f.)

In diesem Moment hört man »den starken Ruf eines Nachtwächterhornes. Walther legt mit emphatischer Gebärde die Hand an sein Schwert, starrt wild vor sich hin und ruft: Ha!« (80) Sieht man genau hin, so handelt es sich bei diesem Ausbruch des Wahnsinns wieder um eine Gedächtnisstörung. Denn Auslöser für Walthers Halluzination ist die Erinnerung an sein gescheitertes Vorsingen im ersten Akt, das sich in seiner Wahrnehmung immer stärker verzerrt und ihn schließlich die Gegenwart falsch deuten lässt. Sein impulsives Naturell droht an dieser Stelle in blanke Aggression umzuschlagen und in die Katastrophe zu führen, wenn nicht Eva beschwichtigend eingriffe: »Geliebter, spare den Zorn! / ’s war nur des Nachtwächters Horn.«98 (ebd.)

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Diesen Hinweis verdanke ich Dr. Sven Friedrich vom Richard-Wagner-Museum in Bayreuth. Dass Dieter Borchmeyer diese Szene als Ausdruck »typischer donquijotesker Situationsverkennung« bezeichnet, passt durchaus zur obigen Analyse des Don Quixote. Borch-

Noch stärker tritt die Instabilität des Gedächtnisses allerdings bei Beckmesser zu Tage. Dies zu zeigen ist der Sinn der berühmten Pantomime-Szene des dritten Aufzugs, deren Nebentext in der Fassung der Partitur wie folgt lautet: Er blickt sich erst unter der Tür nochmals genau in der Werkstatt um. Dann hinkt er vorwärts, zuckt aber zusammen und streicht sich den Rücken. Er macht wieder einige Schritte, knickt aber mit den Knien und streicht nun diese. Er setzt sich auf den Schusterschemel, fährt aber schnell schmerzhaft wieder auf. Er betrachtet sich den Schemel und gerät dabei in immer aufgeregteres Nachsinnen. Er wird von den verdrießlichen Erinnerungen und Vorstellungen gepeinigt; immer unruhiger beginnt er, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. – Er hinkt immer lebhafter umher und starrt dabei vor sich hin. – Als ob er von allen Seiten verfolgt wäre, taumelt er fliehend hin und her. – Wie um nicht umzusinken, hält er sich an dem Werktisch, zu dem er hingeschwankt war, an und starrt vor sich hin. (180)

In dieser Szene sind alle Elemente versammelt, die den Konnex von Plötzlichkeit, Wahnsinn und Gedächtnis bilden: Der starre Blick ebenso wie das plötzliche Zusammenzucken, Auffahren und Zurücksinken, das, wie bei Tristan und Tannhäuser, als ein Taumeln erscheint. Diese physischen Symptome versinnbildlichen die irre geleitete Erinnerung, der Beckmesser erliegt, als er sich von allen Seiten verfolgt und kurz darauf sogar »die Verhöhnung der Weiber und Buben auf der Gasse zu vernehmen« glaubt (ebd.). Während Beckmessers Versuch, Walthers Lied vor dem Festwiesen-Publikum vorzutragen, tritt dieser Wahnsinn dann offen als Gedächtnisstörung ans Licht der Öffentlichkeit. Beckmesser kann Walthers Preislied nur unzusammenhängend wiedergeben, weil er sich an nichts als Versatzstücke erinnert und diese wie wild durcheinanderwirft. »Ist er von Sinnen?« »Ist er nur toll?« (156) Die entsetzte Reaktion der Meister deutet Beckmessers Vortrag als Ausbruch des Irrsinns.99 Es ist eine feine Pointe dieses Musikdramas, dass es ausgerechnet der

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meyer weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Ritter im Marienbader Entwurf der Meistersinger im zweiten Akt wie ein »Hidalgo in einer Comedia de capa y espada« auftrete (Borchmeyer, Wagner und die spanische Literatur, S. 233). Die entsprechende Stelle in diesem Entwurf lautet: »Der Liebhaber tritt in einem Mantel und mit dem Degen auf der Straße auf« (SSD XI, 347). Auch in der Musik lässt sich diese Charakterisierung Beckmessers als Wahnsinniger zeigen. Arne Stollberg hat darauf aufmerksam gemacht, dass »an drei Stellen, die Beckmesser auf dem Tiefpunkt seiner Erniedrigung und zugleich auf dem Höhepunkt seiner Lächerlichkeit zeigen«, jene Cello-Kantilene zurückkehrt, die im Orchestervorspiel zum dritten Akt bzw. am Anfang des ›Wahnmonologs‹ erklang. Arne Stollberg, »… wenn die Würde und Konvention plötzlich durch das Naturgesetz gebrochen wird«. Zur musikalischen Darstellung des Komischen in Wagners Musiktheater. In: wagnerspectrum 3, H. 1, 2007, S. 35–58, hier S. 57. Stollberg verweist in diesem Zusammenhang auch auf Parallelen zwischen Beckmesser und Shakespeares Malvolio aus Twelfth Night, or What You Will, der ebenfalls als toll und irr erscheint (ebd., S. 55–57). Im Oktober 1882 notiert Cosima in ihrem Tagebuch: »R. sagt, dieser geglückte Streich auf einen rechtschaffenen Menschen mit Hülfe seiner Eitelkeit zeige, wie nahe der Wahnsinn immer dem Menschen sei, in Malv. durch die Eitelkeit, in Othello durch die Eifersucht.« (CT

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»Merker« ist, dessen Gedächtnis unzureichend funktioniert. Denn kurz vor seinem Vortrag versucht Beckmesser noch, das Lied Walthers auswendig zu lernen, er hat »das Blatt mit dem Gedicht heimlich herausgezogen« und »memoriert« nun. Dass ihm dies nur schlecht gelingt, verrät die Tatsache, dass er zwar »genau zu lesen versucht«, sich dabei aber »verzweiflungsvoll« den Schweiß von der Stirn wischt (154). Sein falscher Gesang wird deshalb, wie der Nebentext vermerkt, »durch mangelhaftes Memorieren gänzlich behindert« (156). Im Gegensatz zu Beckmesser gelingt es Walther mit Hilfe Hans Sachs’ seinen Wahnsinn zu besänftigen. Wagner beschreibt dies als den Versuch, in der Kunstproduktion Innovation und Gedächtniskunst zusammenzuführen. Zu Beginn des Musikdramas erscheint Walther noch als das gedächtnislos handelnde Naturgenie, das ganz dem Reiz des Neuen ergeben ist: »Neu ist mein Herz, neu mein Sinn, / neu ist mir alles, was ich beginn’« (16). Das Lied, das er im ersten Akt den Meistern vorträgt, handelt vom Erwachen der Natur, vom »Ruf« des Lenzes und dem »Schwellen«, das dieser im Wald auslöse. Seine Verse poetisieren in improvisatorischer Geste die unmittelbare Gegenwart. Walther nimmt das »Fanget an!« des Merkers Beckmesser auf und lässt daraus sein Gedicht entstehen (46). Als er die kratzenden Geräusche vernimmt, die Beckmesser mit seiner Kreide verursacht, reagiert er sofort darauf: »In einer Dornenhecken, / von Neid und Gram verzehrt, / mußt’ er sich da verstecken, / der Winter, Grimm-bewehrt« (47). Es ist dieses Improvisationsund Innovationsvermögen, das Hans Sachs fasziniert und das er in seinem ›Fliedermonolog‹ im zweiten Akt reflektiert. »Wie Vogelsang im süßen Mai« erscheint ihm Walthers Lied, »wer ihn hört, / und wahnbetört / sänge dem Vogel nach, / dem brächt’ es Spott und Schmach.« (67) In Walthers Lied glaubt er die Notwendigkeit der Natur zu erkennen: »Nun sang er, wie er mußt’! / Und wie er mußt’, so konnt’ er’s« (68). Doch an diesem Punkt der rein unmittelbar-unbewussten Kunstproduktion will Sachs nicht stehen bleiben. Er stellt die Frage, ob die Innovation im Bewusstsein aufbewahrt, »behalten« werden könne: Ich fühl’s, – und kann’s nicht verstehn;– / kann’s nicht behalten, – doch auch nicht vergessen; / und fass’ ich es ganz, – kann ich’s nicht messen. – / Doch wie auch wollt’ ich’s fassen, / was unermeßlich mir schien? (67)

Wagners Antwort auf diese Frage lautet in den Meistersingern: Nur wenn die Kunst die Bilder des Unbewussten dem Bewusstsein vermittelt, kann sie den Wahnsinn überwinden. Dies wird bereits deutlich in dem Aufsatz Über Staat und Religion, der im Jahr 1864 entstand, also während der Arbeit an den Meistersingern.100 In ihm

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II, 1030) Dass auch Bottom/Zettel aus Shakespeares Midsummer Night’s Dream Einfluss auf die Konzeption der Beckmesser-Figur gehabt haben könnte, zeigt Yvonne Nilges, »Die Meistersinger von Nürnberg« oder Die Geburt der musikalischen Komödie aus dem Geiste Shakespeares. In: wagnerspectrum 3, H. 1, 2007, S. 7–34, hier S. 31–33. Hinweise auf diesen Zusammenhang, aber keine ausreichenden Analysen finden sich bei Iris Gillespie, The theory and practise of »Wahn«. In: Wagner 5, H. 3, 1984, S. 79–85

kreisen Wagners Gedanken zunächst um den »Wahn« des Staates, den er als »Patriotismus« bezeichnet (SSD VIII, 12). Auch die Religion könne mit dieser gesellschaftlich fundierten Art des Wahns zusammenhängen, gäbe es da nicht noch die intimere Seite der Religiosität, die der »wahren Religion« (20). Sie ermögliche die »unmittelbare Wahrnehmung des Religiösen« und sei deshalb ebenfalls ein Wahn, allerdings kein negativer, sondern ein »göttliche[r]« (22). Doch einer solchen unmittelbaren Wahrnehmung des Absoluten seien nur die wenigsten Menschen fähig, die anderen seien auf das »Dogma« angewiesen. Dieses dürfe aber nicht mit der Offenbarung selbst verwechselt werden, da es nur deren »Allegorie« sei. Zur Schilderung dieses Zusammenhangs unterscheidet Wagner, in Anlehnung an Schopenhauer, zwei Arten von Träumen. Die Allegorie könne sich »zu dem vom Religiösen unmittelbar angeschauten nur dem ähnlich verhalten, wie sich der am Tage erzählte Traum zu dem wirklichen Traume der Nacht verhält«, enthalte also nicht das »Allerwesentlichste« der religiösen Erfahrung (23). Der entscheidende Punkt ist nun, dass Wagner das Deuten der Ur-Bilder des Unbewussten in seiner Schrift zwar als begrenzt beschreibt, es aber nicht völlig verwirft. Denn es bezeichne den »einzigen Weg zur Kundgebung dieser Empfängnis an den Laien« (ebd.). Es geht also darum, wie das im Inneren Erschaute vermittelt werden kann. Es ist klar, dass sich hinter diesen theologischen Ausführungen, wie immer bei Wagner, ein ästhetischer Diskurs verbirgt. Es geht jetzt nicht mehr nur um den potenzierten Blick des Künstlers, sondern darum, wie dieser seine Inspiration dem Publikum verständlich machen kann – die zentrale Frage der Meistersinger. Wagner glaubt, dass die Kunst nicht im Unbewussten verharren darf, sondern als Übersetzung unbewussten Wissens ins Bewusstsein verstanden werden muss. Sie allein vermag das Leben zu reflektieren und uns so den Spiegel vorzuhalten. Wagner schreibt, die Kunst setze den »bewußten Wahn an die Stelle der Realität«, wobei sie »nicht wirklich und völlig aus dem Leben hinausführt, dafür aber innerhalb des Lebens über dieses erhebt«. Sie ist es, die den Wahn ans Tageslicht holt, ihn bewusst macht und damit das Leben erträglich werden lässt. Der Sinn der im Unbewussten erschauten Traumbilder wird dem Zuschauer durch die Kunst wieder erschlossen: »[...] und im entrücktesten Hinblicke auf dieses wundervolle Wahnspiele wird ihm endlich das unaussprechliche Traumbild der heiligsten Offenbarung, urverwandt sinnvoll, deutlich und hell wiederkehren.« (29) Erst vor diesem Hintergrund wird der kunsttheoretische Dialog verständlich, den Sachs und Walther in der zweiten Szene des dritten Aufzuges führen. In ihm werden die Ideen von Über Staat und Religion aufgenommen und weitergeführt. Bildet dort noch das »unaussprechliche« Traumbild das Ziel der ästhetischen Theorie, wird in den Meistersingern das Element der Sprache aufgewertet. Die Frage, wie sich das unbewusst Gefundene dem Bewusstsein vermitteln lasse, kann oh-

sowie Jeffrey Stokes, »Contour and motive«. A Study of »flight« and »love« in Wagner’s Ring, Tristan and Meistersinger, Ann Arbor 1984, S. 178f.

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ne die Hilfe der Worte nicht gelöst werden. Es ist bezeichnend, dass am Anfang des Dialoges Walthers Weigerung steht, Sachs von seinem nächtlichen Traum zu erzählen. Er hat Angst, dieser könnte ihm dadurch »vergehn«. Genau diesen Ausschluss der Sprache will Sachs überwinden, weshalb er Walther folgende Formel zur Hand gibt: »Mein Freund, das grad ist Dichters Werk, / daß er sein Träumen deut’ und merk’. / Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn / wird ihm im Traume aufgetan: / all Dichtkunst und Poeterei / ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.« (119) Die Theorie der Transformation von unbewusstem in bewusstes Wissen, die diese sechs Zeilen entwerfen, besteht in der Verbindung der Wörter »deut’« und »merk’«: Der innovative Einfall – und der in ihm mitschwingende Wahnsinn – soll dauerhaft im Bewusstsein aufbewahrt und die ständige Gefahr eines abrupten und unvermittelten Wechsels zwischen Erinnern und Vergessen gebannt werden. Aus diesem Grund besteht Sachs darauf, die überlieferten Regeln zu erhalten: »Die Meisterregeln lernt beizeiten, / daß sie getreulich Euch geleiten, / und helfen wohl bewahren, / was in der Jugend Jahren / in holdem Triebe / Lenz und Liebe / Euch unbewußt ins Herz gelegt, / daß Ihr das unverloren hegt.« (121) Richard Wagner geht es in den Meistersingern um nichts weniger als die Lösung eines fundamentalen produktionsästhetischen Problems: Wie kann die Vermittlung gelingen zwischen der Gedächtniskunst, die auf das Festhalten von Wissen zielt, und dem Einfall, der auf der intuitiven Bewusstwerdung des Unbewussten beruht? Diese zwei unterschiedlichen Konzepte hat Aleida Assmann mit den Begriffen ›ars‹ und ›vis‹ versehen. ›Ars‹ bezeichnet die auf die antike Mnemotechnik zurückgehende Tradition des Speicherns, also »jedes mechanische Verfahren […], das die Identität von Einlagerung und Rückholung anzielt.«101 ›Vis‹ dagegen ist die Kraft, die im Akt der Erinnerung als solchem liegt und immer auch das Vergessen mit einschließt. Sie ist im Gegensatz zur ›ars‹ kein »Verfahren«, sondern ein »Prozeß«: »Anders als das Auswendiglernen ist das Erinnern kein vorsätzlicher Akt; man erinnert sich, oder man erinnert sich eben nicht.«102 Sachs versucht, das kreative Potential der Erinnerung zu bewahren, indem er es in eine Regelkunst überführt. In Beckmesser präsentiert Wagner einen Vertreter der Mnemotechnik. Sein Auswendiglernen ist schriftbezogen, rein instrumentell und mechanisch,103 es könnte letztlich auf jeden beliebigen Inhalt angewendet werden, da es die Essenz des Memorierten gar nicht erst zu erfassen versucht. Zwar

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Assmann, Erinnerungsräume, S. 28. Ebd., S. 29. Assmann selbst hat auf den Unterschied von Memorier-Kunst und Inspiration in den Meistersingern aufmerksam gemacht. Aleida Assmann, Zwischen Kälte- und Hitzetod. »Die Meistersinger von Nürnberg« als Meta-Oper. In: Angst vor der Zerstörung. Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung, hg. von Robert Sollich / Clemens Risi / Sebastian Reus / Stephan Jöris, Berlin 2008, S. 29–45, hier S. 35f. Nicht zufällig hat Wagner dem Beckmesser in der Pantomime-Szene der Schusterstube das Merkmal des Mechanischen zugesprochen: »Sehr verstört wendet er sich mechanisch wieder dem Werktische zu« (M, 180).

führt Wagner diesen Gedächtnisbegriff in der Figur Beckmessers ad absurdum, aber er gibt ihn nicht völlig auf. Denn er kennt auch die gefährliche und verstörende Seite des ›mémoire involontaire‹, der plötzlichen Erinnerung. Sie ist es, die das Subjekt in den Wahnsinn zu stürzen droht. Diese Gefahr soll mit Hilfe einer Gedächtniskunst gebannt werden, die nicht mehr nur auf der Schrift beruht, sondern die Imagination und damit das Unbewusste miteinbezieht.104 Das Gedächtnis, das Sachs entwirft, zielt deshalb im Gegensatz zu dem Beckmessers nicht auf das bloße Auswendiglernen bzw. »Memorieren« von Regeln. Stattdessen soll der im Bild gespeicherte unbewusste Grund des Preisliedes festgehalten und anschließend reflexiv vermittelt werden. Die Meister, so Sachs, hätten sich ein »Bildnis« geschaffen, damit »ihnen bliebe / der Jugendliebe / ein Angedenken klar und fest, / dran sich der Lenz erkennen läßt.« (121f.) Als Walther das Preislied dichtet, rät Sachs ihm deshalb: »Drum bitt’ ich, merkt mir gut die Weise; / gar lieblich drin sich’s dichten läßt: / und singt Ihr sie in weitrem Kreise, / dann haltet mir auch das Traumbild

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Genau diese zentrale Funktion des Bildes übersehen Aleida Assmann und Dieter Borchmeyer, die sich beide mit dem Gedächtnisdiskurs der Meistersinger beschäftigt haben. Borchmeyer hat dies in einem Programmheft-Beitrag getan, dessen Thesen er in einem späteren Aufsatz wieder aufgenommen hat. Vgl. Dieter Borchmeyer, Aufhebung der Schrift – Über Geist und Buchstabe in Wagners »Meistersingern«. In: Programmbuch der Bayreuther Festspiele, 2007, S. 40–77 sowie Dieter Borchmeyer, »Die Meistersinger von Nürnberg« oder die Geburt der Kunst aus dem Geiste des Chaos. In: Angst vor der Zerstörung. Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung, hg. von Robert Sollich / Clemens Risi / Sebastian Reus / Stephan Jöris, Berlin 2008, S. 46–60. Borchmeyer interpretiert die Meistersinger vor dem Hintergrund der Paulinischen Unterscheidung von Buchstabe und Geist als einen Kontrast von »Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Notation und Improvisation«, Altem und Neuem Testament. Die Meistersinger und Beckmesser stünden auf der Seite der Schriftlichkeit, Walther auf der Seite der Mündlichkeit (ebd., S. 52). Sehr genau erkennt Borchmeyer, dass Walthers Preislied eine Genese durchläuft, die durch das Stadium der Schriftlichkeit hindurch gehen müsse. Das Kunstwerk der Zukunft erscheine als »work in progress«, als Wechselspiel und Ausgleich von Schriftlichkeit und Mündlichkeit (ebd., S. 56). Dem ist eigentlich nur noch hinzuzufügen, dass man diesen Prozess als Gedächtnisakt begreifen sollte, der den Wahnsinn zu heilen versucht und dabei auf das Bild als Vermittlungsinstanz zwischen Unbewusstem und Bewusstem setzt. Auf diese Tatsache hingewiesen zu haben, ist der Vorzug der Interpretation Aleida Assmanns. Allerdings verkennt auch sie die eigentliche Funktion der Bilder in den Meistersingern, weil sie diese als rein eruptive, das Gedächtnis gefährdende Erinnerung deutet. Ihr Hauptargument ist, neben einem intertextuellen Verweis auf Shakespeares Darstellung der Imagination, die entzückte und entrückte Reaktion der Zuhörer auf Walthers Lied. Assmann kommt deshalb zu dem Schluss, Wagner komponiere »gegen das Gedächtnis an«. Vgl. Assmann, Zwischen Kälte- und Hitzetod, S. 40–42. Dieses Urteil ist aber aus zwei Gründen fragwürdig: Erstens komponiert Wagner in den Meistersingern alles andere als rein unmittelbar wirkende, rauschhafte Musik. Im Gegenteil: Diese ist in der Tradition des Kontrapunkts verankert und schafft durch die Leitmotive immer einen Abstand zum gegenwärtig Gehörten. Zweitens übersieht Assmann, dass es in der Genese von Walthers Preislied eine eindeutige Entwicklung von der Intuition zur Gedächtniskunst gibt.

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fest.« (126f.) Später, auf der Festwiese, lassen die Meister vor Ergriffenheit durch Walthers Vortrag das Blatt, auf dem Sachs das Preislied notiert hat, fallen und Walther fährt »in freier Fassung fort« (161): Das Publikum hört nun eine neue Version des Liedes, die aber, und das ist der entscheidende Punkt, auf dasselbe Traumbild Bezug nimmt wie die vorige. Walther tut in seinem letzten Lied also genau das, was Hans Sachs in der Schusterstube von ihm forderte: Er erzählt dem Publikum seinen Traum, deutet seinen Zuhörern die Bilder des Unbewussten. Sein Traum wird so zum »wachen Dichtertraum« (162). Und Walther geht sogar noch einen Schritt weiter: Es verlegt den Traum in die Mitte einer Trias aus Tag-Nacht-Tag und reflektiert somit zugleich die temporale Struktur der Meistersinger, die ja am Tag beginnen, im zweiten Akt in die Johannisnacht führen und dann mit dem Johannistag enden. Jeder Strophe ist eine Zeitebene zugeordnet. Das Lied führt so vom Tag (»morgendlich leuchtend«) über die Nacht (»abendlich dämmernd«) und preist schließlich in der letzten Strophe das neu erwachte Bewusstsein: »Huldreichster Tag, / dem ich aus Dichters Traum erwacht!« (ebd.) Gerade in dieser Reflexivität unterscheidet sich die endgültige Version des Preisliedes von der ersten.105 Dort improvisierte Walther noch aus dem Augenblick heraus, in reiner Unmittelbarkeit. Nun, am Ende seiner künstlerischen Entwicklung, bindet er die Reflexion in die Kunstproduktion ein, er schöpft aus dem Gedächtnis. Dieses erscheint sowohl als ein individuelles als auch als ein kollektives: In seinem Lied ist seine eigene Geschichte, aber auch die Geschichte der europäischen Kultur aufgehoben. Die Bewusstwerdung des Unbewussten erscheint in den letzten Versen als kühne Vision, in der die Synthese von griechischer und christlicher Tradition mit der Vollendung der Liebe enggeführt wird: »Der Erde lieblichstes Bild, / zur Muse mir geweiht / so heilig hehr als mild, / ward kühn von mir gefreit, / am lichten Tag der Sonnen / durch Sanges Sieg gewonnen / Parnaß und Paradies!« (163) Das Paradox dieser Ästhetik ist allerdings, dass diese Aufhebung des Unbewussten ins helle Tageslicht des Bewusstseins dem Künstler vorbehalten bleibt.106 Denn das Volk, das Walthers Lied lauscht, fühlt sich dadurch »in den schönsten Traum« versetzt – den es freilich nicht begreift: »hör’ ich es wohl, doch fass’ es kaum!« Eva befindet sich währenddessen »in seliger Geistesentrücktheit« (ebd.). Damit kehrt

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Den Unterschied zwischen beiden Versionen betont auch Borchmeyer, Die Meistersinger von Nürnberg, S. 55, der zugleich darauf verweist, dass die Genese des Preisliedes durch das ihr inhärente Wechselspiel von Improvisation und Schriftlichkeit auf die Theorie der ›fi xierten Improvisation‹ vorausweise (ebd., S. 54), die Wagner erst später, in der Schrift Über die Bestimmung der Oper (1871), konzipiert hat. Aleida Assmann hat deshalb Recht, wenn sie in den Meistersingern eine Trennung des »lenkenden Kunstverstandes« vom Volk erkennt, »das mitgehend genießt.« (Assmann, Zwischen Kälte- und Hitzetod, S. 39) Allerdings steht dieser Befund des lenkenden Kunstverstandes quer zu Assmanns folgender These, dass die auf Imagination beruhende Ästhetik der Meistersinger alle Reflexion ausschließe (s.o.).

jedoch das, was Wagner in der Kunstproduktion eigentlich überwinden wollte, in der Rezeption zurück: jener entzückte und ekstatische Zustand, in dem das Subjekt sich zu verlieren droht. Aufschlussreich ist auch, wie Wagner den Übergang vom Unbewussten ins Bewusstsein musikalisch inszeniert. Eine große Rolle spielt dabei die kompositorische Gestaltung des »Wahns«, von dem in den Meistersingern so oft die Rede ist.107 Als das Wort zum ersten Mal auftaucht, ertönt in der Orchesterbegleitung das Intervall, das Wagner im weiteren Verlauf als musikalisches Signum des Wahns einsetzen wird: der Tritonus. In der zweiten Szene des ersten Aktes singt David vom »Meisterwahn« und dabei erklingt in Takt 802 (SW 9/I) jener Septakkord auf D mit kleiner None, der später auch das Lenzgebot-Motiv charakterisieren wird (II, T. 346). Von zentraler Bedeutung ist dabei der diesem Akkord inhärente Tritonus zwischen C und Fis. John Warrack hat diesen ins Zentrum seines Aufsatzes Wahn, words and music 108 gestellt und seine weitreichenden Konsequenzen innerhalb des Werkes aufgezeigt. Wagner denke im Tritonus zusammen, was eigentlich getrennt sei: Die Sphäre der Ordnung, wie sie traditionell im C-Dur repräsentiert wird, und die Sphäre des unbewussten Chaos, wie sie sich im harmonischen Umfeld von FisDur ereignet.109 »Though not a motive, it is the chord of Wahn, containing both C and F sharp, two aspects of Wahn, and is itself an illusory chord in that it has no root, and can modulate in virtually any direction«.110 Der Tritonus C/Fis findet sich auch zu Beginn des Wahn-Monologes wieder (III, T. 305). Dies ist vor allem deshalb interessant, weil Hans Sachs in diesem Monolog zum ersten Mal die Idee einer bewussten Gestaltung des »Wahns« formuliert: »Jetzt schaun wir, wie Hans Sachs es macht, / daß er den Wahn fein lenken mag, / ein edler Werk zu tun; / denn läßt er uns nicht ruhn, / selbst hier in Nürenberg, / so sei’s um solche Werk’, / die selten vor gemeinen Dingen, / und nie ohn’ ein’gen Wahn gelingen.« (M, 118) Diese Umlenkung des Wahns von einem blinden, rein unbewussten Trieb in ein bewusst

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In den Meistersingern – und auch in den anderen Musikdramen Wagners – ist durchgehend von »Wahn« und nicht von »Wahnsinn« die Rede. Das ältere Wort ›Wahn‹ hatte, wie das Grimmsche Wörterbuch ausweist, im Gegensatz zum erst im 18. Jahrhundert aufkommenden ›Wahnsinn‹ keine psychiatrische Bedeutung. Es stand zunächst für ›Erwartung‹, dann auch für ›Meinung, Denken, unsichere Annahme‹. Daraus leitet sich dann die noch heute gebrauchte negative Verwendung als ›eingebildeter Wahn‹ oder ›falscher Wahn‹ ab. Vgl. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 27, Sp. 602ff. Dennoch ist der ›Wahn‹, den Wagner in seinen Werken beschreibt, durchaus vergleichbar mit dem, was bereits zu seiner Zeit ›Wahnsinn‹ genannt wurde. Gerade die Charakterisierung Beckmessers in der zitierten Pantomime-Szene ist dafür ein eindrückliches Beispiel. Vgl. Warrack, Wahn, words and music. Bereits Ray Komow erwähnt den Tritonus im Zusammenhang mit dem Motiv des Wahns, vgl. Ray Komow, The genesis and tone of »Die Meistersinger von Nürnberg«, Ann Arbor 1991, S. 389. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Déjà-vu in 4.4.2. Warrack, Wahn, words and music, S. 116.

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eingesetztes Werkzeug geschieht bereits zuvor, als Sachs die Prügelei der vorigen Nacht als »Wutesbrand« beklagt und fragt: »Gott weiß, wie das geschah?« (ebd.) Die Melodie dieser Verszeile führt von C nach Fis (III, T. 381ff.), wodurch ein Wechsel in der tonartlichen Disposition eingeleitet wird. Entwickelte sich die Erzählung von der Prügelei aus dem Nürnberg-Motiv in F-Dur, leitet das weit entfernte H-Dur, das nun ab Takt 384 notiert wird, zur Welt der Johannisnacht über. Entscheidend ist, wie dabei die gewohnte Semantik der harmonischen Sphären verschwindet. H-Dur ist zwar erotisch konnotiert, wirkt an dieser Stelle aber als Beruhigung des blind gewalttätigen Irrsinns, der sich aus F-Dur, also der Sphäre bürgerlicher Ordnung, entwickelte. Das eben noch so bedrohliche Prügelmotiv erscheint nun neckisch und belustigend im staccato-scherzando der Oboen, es hat seine Aggressivität eingebüßt. Diese kompositorische Umwertung lässt sich auch, wie Warrack gezeigt hat,111 anhand einer anderen Wahn-Szene der Meistersinger belegen. Als Walther sich in seinem Anfall von Paranoia von feindseligen Meistern umstellt sieht und am Höhepunkt seiner Erregung ein spitzes »Ha!« ausstößt, erreicht sein Gesang in Takt 773 (9/II) das dreigestrichene C. Dieses wird kontrastiert mit dem überraschenden Fis des Nachtwächters, das nun in die Johannisnacht überleitet. Erst jetzt gelingt es Eva, Walther zu beruhigen. Damit löst Wagner die harmonischen Bedeutungen, die er selbst entwickelt hat, auf. Im Vorgängerwerk Tristan und Isolde repräsentierte C-Dur noch eindeutig die Welt von Herrschaft und Ordnung. H-Dur dagegen stand, etwa in ›Isoldes Liebestod‹, für weltentrückten Liebeswahn. Die Transformation des unbewussten Wahns ins Bewusstsein, wie sie Hans Sachs in seinem Monolog formuliert, bringt eine völlig andere Art des Komponierens mit sich. Gegensätzliche Sphären werden aufeinander zu bewegt. Ein Nachtwächter, der, obwohl Vertreter der Ordnung, auf seinem Horn ein Fis bläst: Ein besseres Symbol für die musikalische Semantik der Meistersinger lässt sich nicht finden. Die Auflösung dichotomischer Strukturen betrifft auch den Gegensatz von Chromatik und Diatonik. Diese standen im Tristan und im Tannhäuser in Kontrast zueinander, weil sie den Konflikt zwischen unbewussten Wünschen auf der einen und der gesellschaftlichen Ordnung auf der anderen Seite symbolisierten. Auch diese Logik setzen die Meistersinger außer Kraft, indem sie, wie Carl Dahlhaus schreibt, eine Diatonik entwerfen, die die Chromatik des Tristan zwar »reduziert und zurückgedrängt, aber nicht aus der Erinnerung ausgelöscht« hat.112 Deutlich wird dies abermals im Wahn-Monolog, und zwar an der Stelle, die den Übergang vom Unbewussten ins Bewusste als Übergang von der Nacht in den Tag deutet: »Der Flieder war’s: – Johannisnacht. – – / Nun aber kam Johannis-Tag« (M, 118). Ein erster Blick in die Partitur zeigt einen harmonischen Wechsel vom E-Dur ins C-Dur an (SW 9/III, T. 404f.). Aber die Dinge liegen komplizierter. Denn der Johannistag, den Sachs als Lösung der Konflikte preist,

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Ebd., S. 118. Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, S. 108f.

ist keineswegs von strahlendem C-Dur beseelt, sondern auf motivischer und harmonischer Ebene noch mit Elementen der zuvor vernommenen »Johannisnacht« durchtränkt. Das in Takt 414 zitierte Liebesmotiv weist durch seine punktierte Rhythmik und Quartenmelodik Gemeinsamkeiten zu dem Johannistag-Motiv (T. 406) auf. Vor allem aber ist die Diatonik dieser Stelle chromatisch eingefärbt, die Nacht findet sich in der Harmonik des Tages wieder. Davon zeugt nicht nur die Chromatik von Sachs’ Gesang in Takt 411, die von den Celli gestützt wird, sondern auch weitere Stellen in den folgenden Takten. In Takt 429 singt Hans Sachs schließlich vom »Wahn«, durch den sein Vorhaben gelingen soll, und es wird klar, dass dieser zwar aus der Sphäre der Johannisnacht gewonnen wurde, nun aber im Johannistag aufgehoben ist: Liebes- und Johannistag-Motiv erklingen abwechselnd und erscheinen so problemlos ineinander verschränkt. Harmonisch zeigt sich dies in den Noten G-Fis-F in der Mittelstimme. Die Passage endet keineswegs in klarem C-Dur, sondern auf einem Quartsextakkord, der in der Folge chromatisch eingetrübt und über einen Nonakkord auf G zu Beginn der zweiten Szene überraschend in einen B-Dur-Septakkord geführt wird. Diese Verschränkung entgegengesetzter Tonarten und Leitmotive sowie das Zusammendenken von Diatonik und Chromatik, wie sie der Tonsatz des WahnMonologes entwirft, lassen sich als eine Bewusstwerdung verstehen, die zugleich eine Heilung der zuvor entfalteten Konflikte andeutet.113 Das Unbewusste steht nicht mehr, wie in Tannhäuser und Tristan, in scharfem Kontrast zum Bewusstsein, sondern ist in ihm aufgehoben. Dies ist die kompositorische Umsetzung der Idee, dass die Vermittlung beider Sphären möglich sei. Nach diesem kurzen Exkurs zur Musiksprache der Meistersinger soll nun abschließend nach den Quellen des Gedächtnis-Konzeptes dieses Musikdramas gefragt werden. Sie finden sich im Werk E.T.A. Hoffmanns, der bereits in seinen Fantasiestücken in Callot’s Manier das Gedächtnis auf die inneren Bilder bezieht. Davon zeugt die Diskussion, die der Hund Berganza in der nach ihm benannten Erzählung aus dem Jahr 1814 mit dem Erzähler führt. »Das eigentliche Gedächtnis höher genommen« bestehe, so Berganza, »in einer sehr lebendigen regsamen Fantasie, die jedes Bild der Vergangenheit mit allen individuellen Farben und allen zufälligen Eigenheiten im Moment der Anregung hervorzuzaubern vermag.« Eben deshalb behalte man Reden, »die tief ins Gemüt drangen«, besser als »auswendig« gelernte

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Dies hat Ray Komow getan. Er weist darauf hin, dass das Wahnmotiv zunächst kontrapunktisch zum Schusterlied gespielt werde, bevor Sachs es zu Beginn des Monologs mit den Worten »Wahn, Wahn, überall Wahn« belege. Durch diese »Selbsterkenntnis« (self-knowledge), die sich auch in der »motivischen Überlagerung« (motivic superimposition) am Schluss des Monologes zeige, werde schließlich auch der »Virus« des Lenzgebot-Motivs geheilt: »The superimposition of multiple motives at the end of the Wahn monologue is a representation of Sachs’ success in first externalizing internal impulses and then coming to terms and living with them.« Komow, The genesis and tone, S. 252f.

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Vokabeln (SäW 2/1, 115). Diese Idee wird in der Novellensammlung Die SerapionsBrüder weiterentwickelt, die ja bekanntlich mit der Diskussion darüber einsetzt, was im Gedächtnis bewahrt werden könne und was nicht. Da die vier Freunde Lothar, Theodor, Ottmar und Cyprian sich nach langer Zeit das erste Mal wiedersehen, stellen sie enttäuscht fest, dass die anderen sich verändert haben und die gute alte Zeit verloren scheint. So klagt Lothar darüber, dass nimmer wiederkehrt, was einmal da gewesen. […] Nur die Schattenbilder des in tiefe Nacht versunkenen Lebens bleiben zurück, und walten in unserm Innern, und necken und höhnen uns oft, wie spukhafte Träume. Aber Toren! wähnen wir, das, was unser Gedanke, unser eigen Ich ward, noch außer uns auf der Erde zu finden, blühend in unvergänglicher Jugendfrische. – Die Geliebte, die wir verlassen, der Freund von dem wir uns trennen mußten, verloren sind beide für uns auf immer! (SäW 4, 13)

Auch Theodor räumt ein, dass die Zeitlichkeit des Daseins und »der wilde Strudel von Ereignis zu Ereignis« äußerst mächtig seien. »Darüber erbleichten die Bilder des früheren Lebens, und fruchtlos bleibt nun das Mühen, sie wieder aufzufrischen!« (15) Dennoch entwickeln die vier Freunde eine Poetik, die versucht, die unbewussten Bilder bewusst werden zu lassen, die innere Imagination mit der Außenwelt zu vermitteln. Dies ist die zentrale Idee des berühmten ›serapiontischen Prinzips‹,114 das Lothar wie folgt definiert: Jeder prüfe wohl, ob er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unternommen, ehe er es wagt laut damit zu werden. Wenigstens strebe jeder recht ernstlich darnach, das Bild, das ihm im Innern aufgegangen recht zu erfassen mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schatten, und dann, wenn er sich recht entzündet davon fühlt, die Darstellung ins äußere Leben zu tragen. So muß unser Verein auf tüchtige Grundpfeiler gestützt dauern und für jeden von uns allen sich gar erquicklich gestalten. (69)

Der Name dieses Prinzips leitet sich bekanntlich von dem wahnsinnig gewordenen Einsiedler Serapion her, von dem Cyprian zu Beginn des ersten Bandes berichtet. Bei Serapion handelt es sich um einen Nachfolger Don Quixotes. Er ist ein junger

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Es gilt zu beachten, dass das serapiontische Prinzip in den Serapions-Brüdern keineswegs eindeutig und klar definiert wird. Dies wird schon allein an der Tatsache deutlich, dass die Serapionsbrüder Erzählungen als serapiontisch bezeichnen, die Lothars Definition nicht erfüllen. Zudem erfüllt das Prinzip eine doppelte Funktion: Es dient sowohl der Kritik als auch der Produktion von Kunst. Vgl. hierzu Uwe Japp, Das serapiontische Prinzip. In: E.T.A. Hoffmann. Text + Kritik. Sonderband, hg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1992, S. 63–75, hier S. 64. Dass der im serapiontischen Prinzip geforderte »Transfer der Darstellung ›ins äußere Leben‹« in den Erzählungen nicht immer funktioniert, betont Japp in E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Detlef Kremer, Berlin 2009, S. 265. Auf den Einfluss des serapiontischen Prinzips in Bezug auf Wagners Ästhetik geht ein: Kaiser, Die Kunstästhetik Richard Wagners, S. 251ff. Dabei übersieht Kaiser aber das zentrale Motiv des Gedächtnisses.

Mann aus hohem Hause, der sich in den Wald zurückzieht und steif und fest behauptet, der Märtyrer Serapion zu sein. Die Beweise, die von seinem Gesprächspartner gegen seinen Irrglauben hervorgebracht werden, können ihn nicht aus der Ruhe bringen. So ist er davon überzeugt, dass das Wäldchen nahe der Stadt B., in dem er lebt, in Wahrheit die Thebaische Wüste sei. Wenn nun die Serapions-Brüder sich in ihrer Poetik auf diesen seltsamen Heiligen berufen, der ganz in seiner inneren Anschauung lebt, so geschieht dies doch nicht ohne einen entscheidenden Vorbehalt: Armer Serapion, worin bestand dein Wahnsinn anders, als daß irgend ein feindlicher Stern dir die Erkenntnis der Duplizität geraubt hatte, von der eigentlich allein unser irdisches Leben bedingt ist. Es gibt eine innere Welt, und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit, in dem vollendetsten Glanze des regesten Lebens zu schauen, aber es ist unser irrdisches Erbteil, daß eben die Außenwelt in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt. […] Aber du, o mein Einsiedler! statuiertest keine Außenwelt, du sahst den versteckten Hebel nicht, die auf dein Inneres einwirkende Kraft […]. (68)

Es geht also nicht darum, wie Serapion im reinen Unbewussten zu leben, sondern die Dichotomie von Unbewusstem und Bewusstem, Innen und Außen anzuerkennen und mit Hilfe der Poesie zwischen beiden zu vermitteln. Dies wird von Hoffmann als ein Erinnerungsakt gestaltet, den das vierte Kapitel als Déjà-vu bezeichnet hat: Erstaunt stellen die Freunde fest, dass sie sich am 14. November, dem Namenstag Serapions, zusammengefunden haben und Cyprian wohl deshalb die Geschichte des merkwürdigen Einsiedlers wieder eingefallen sei. Der Eindruck blieb unauslöschlich und wohl mag es sein daß der innere Geist mittelst einer geheimnisvollen dir selbst unbewußten Operation das Bild des verlorenen Freundes an seinem Todestage frischer gefärbt vorschiebt als sonst. (66)

Sodann leeren Lothar, Theodor, Ottmar und Cyprian ihre Gläser »zum Gedächtnis« an Serapion. Genau darauf spielt der letzte Satz des serapiontischen Prinzips an, der in den Interpretationen meist außen vor gelassen wird: Die Hoffnung, dass der Serapions-Bund »auf tüchtige Grundpfeiler gestützt dauern« werde. Besonders deutlich wird diese Hoffnung, dass die Bilder eine erhöhte Gedächtnisleistung ermöglichen, in der Erzählung Meister Martin der Küfner (1818), die sich im zweiten Band der Serapions-Brüder befindet und ein wichtiger Bezugspunkt für Wagners Meistersinger ist. In ihr fertigt der Maler Reinhold am Schluss ein Gemälde, das Meister Martin mit seinen drei Gesellen bei der Arbeit in der Werkstatt zeigt, just in dem Moment, in dem Martins Tochter Rosa durch die Tür tritt. Das Bild bringt den zentralen Konflikt der Erzählung zur Anschauung, da alle drei Gesellen in Rosa verliebt sind und als Konkurrenten um ihre Gunst werben. Vor allem aber versucht es, den gefährlichen Augenblick des Imprévu, in dem sich das Begehren entzündet, festzuhalten. Reinhold schenkt das Gemälde Friedrich und Rosa zu ihrer Hochzeit und fordert sie auf, es »zum ewigen Gedächtnis« in ihrem Haus aufzuhängen (SäW 4, 567). Die Überführung und Besänftigung des erotischen Begeh401

rens in die bürgerliche Ehe wird somit als eine Aufbewahrung des unvermittelten Augenblicks im Bewusstsein der Liebenden gedeutet. Die Definition des Gedächtnisaktes als einer Vermittlung zwischen unbewusstem und bewusstem Wissen, die das serapiontische Prinzip entwirft, ist anthropologisch umso bedeutender, als sie eine Heilung des Wahnsinns115 verspricht. Wenn Cyprian den Mangel an »Duplizität« als Grund für die Geisteszerrüttung Serapions angibt, so impliziert die Aufrechterhaltung und gleichzeitige Vermittlung eben jener Duplizität eine Überwindung des Wahnsinns. Indem die inneren Bilder in eine narrative Darstellung verwoben werden, so die Hoffnung, könne ein stabiles Gedächtnis geschaffen werden, das dem Ich einen dauerhaften Zugang zum Unbewussten gewährt. Das Diktum des Hans Sachs, dass der Dichter sein Träumen »deut’ und merk’«, kann deshalb als eine Weiterführung des serapiontischen Prinzips gelesen werden, zumal auch die Meistersinger ihre Gedächtnistheorie explizit auf die Imagination gründen. Mit dieser Poetik des Überganges zwischen Unbewusstem und Bewusstem versuchen Hoffmann und Wagner jene Lücke zwischen Träumen und Wachen zu schließen, die in der Praxis des Magnetismus sichtbar wurde. Dass sich die Patienten nach ihren somnambulen Zuständen meist an nichts erinnern konnten und die Arbeit der Reflexion und der narrativen Ausarbeitung von Fallgeschichten ganz dem Arzt überlassen blieb, erwies sich als zentrales Problem dieser Therapietechnik. Hier setzte Sigmund Freud an, da seine Behandlungstechnik den Patienten an der Deutung der inneren Bilder teilhaben ließ.116 Die Heilung des Wahnsinns durch die Herstellung von Gedächtnis, wie sie die Psychoanalyse entwarf, findet sich im Werk E.T.A. Hoffmanns und Richard Wagners bereits vorgedacht. Ob sie auch funktioniert, ist freilich eine ganz andere Frage. So kündet Theodor zu Beginn seiner Erzählung Rat Krespel an, diese beabsichtige, »den sanften Übergang vom Wahnsinn durch den Spleen in die völlig gesunde Vernunft zu bewirken.« (SäW 4, 39) Doch am Ende der Erzählung zeigt sich Lothar enttäuscht, indem er Theodor vorhält, er stelle »Bilder auf, über die man, faßt man sie recht scharf ins Auge, alle gesunde Vernunft verlieren könnte.« (64) Und in den Meistersingern funktioniert die Vermittlung zwischen Unbewusstem und Bewusstem nur, weil die negative Seite des Wahnsinns sich auf die Figur des Beckmesser konzentriert. Dieser spielt eine ähnliche Rolle wie der verrückte Dop-

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Das Thema des Wahnsinns spielt in den Serapionsbrüdern eine große Rolle. Darauf verweist schon die Tatsache, dass es gleich zu Beginn, in der kurzen Erzählung Der Einsiedler Serapion, von zentraler Bedeutung ist. Den Wahnsinn behandeln darüber hinaus Rat Krespel, Die Bergwerke zu Falun und Das Fräulein von Scuderi. Wie Henri F. Ellenberger berichtet, zeigte sich der junge Sigmund Freud von der Behauptung des Psychiaters Bernheim fasziniert, dass die post-hypnotische Amnesie nicht so vollständig sei wie allgemein angenommen. »Durch Konzentration und mit Hilfe geschickter Befragung konnte Bernheim den Patienten dazu bringen, sich an das zu erinnern, was er in der Hypnose erlebt hatte.« Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 142.

pelgänger in den Elixieren des Teufels. Am Schluss verliert sich Beckmesser »unter dem Volke« (M, 158), die Gefahr des Wahnsinns wird förmlich in den Volkskörper aufgelöst, worauf Walther kurz darauf »aus dem Volke« hervortritt (159). Der Zusammenhang von Wahnsinn und Gedächtnis in den Meistersingern von Nürnberg verweist auch auf einen wichtigen Unterschied zwischen der Philosophie Arthur Schopenhauers und Richard Wagners. In der Forschung wurde wiederholt der Versuch unternommen, das Motiv des Wahns in den Meistersingern aus dem Werk Schopenhauers herzuleiten. Diese These findet einen wichtigen Beleg in dem bereits zitierten Wahn-Monolog des Hans Sachs zu Beginn des dritten Aufzuges: »Wahn, Wahn! / Überall Wahn! / Wohin ich forschend blick’ / in Stadt und WeltChronik, / den Grund mir aufzufinden, / warum gar bis aufs Blut / die Leut sich quälen und schinden / in unnütz toller Wut!« (M, 116f.) Meistens deuten die Interpreten diese Zeilen als eine poetische Umsetzung der Schopenhauerschen Willensphilosophie. Hans Sachs beschreibe die Welt nach dem pessimistischen Bild Schopenhauers, in dem die Menschen, vom blinden Willen getrieben, sich gegenseitig Leid zufügen.117 Die Überwindung des Wahns erscheint in dieser Perspektive dann als eine »Bändigung der Triebkräfte des Willens mit den Mitteln der Kunst«.118 Nun spricht tatsächlich einiges für einen Einfluss der Philosophie Schopenhauers auf Wagners Konzeption des Wahns,119 nicht zuletzt die Tatsache, dass die Schrift Über Staat und Religion, die für den Wahn-Begriff der Meistersinger wichtig ist, von Schopenhauers Denken beeinflusst ist. Und auch der in diesem Kapitel herausgearbeitete Konnex von Plötzlichkeit, Wahnsinn und Gedächtnis findet sich 117

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So schreibt etwa Ulrike Kienzle: »Die Klage über den Wahn als blinde Kraft, die allem menschlichen Handeln zugrunde liegt, weist direkt auf Schopenhauers Begriff des Willens zurück: Der Wahn ist gleichsam dessen Transformation von der Naturphilosophie auf das Gebiet gesellschaftlichen und politischen Handelns.« Kienzle, …daß wissend würde die Welt, S. 174f. Ebd., S. 184. Etwa die Entstehungsgeschichte des Wahn-Monologes, der erst nach Wagners Schopenhauer-Lektüre zu dem wurde, was er ist. Im ersten Prosaentwurf von 1845 ist noch wenig vom »Wahn« zu spüren, dieser tritt erst im Prosaentwurf von 1861 deutlich zu Tage. Selbst die folgende erste Fassung des Librettos, die Wagner am 25. Januar 1862 beendete, sollte nicht das letzte Wort sein. Dort findet sich die Glühwürmchen-Passage noch weiter ausgebaut, von einem Weltenbrand ist die Rede und die katastrophalen Auswirkungen des Wahns werden deutlicher ausgemalt, als dies in der endgültigen Fassung vom 24. Oktober 1867 der Fall ist. Doch die entscheidende Wendung, die der Wahnmonolog nimmt, findet sich schon im zweiten Prosaentwurf. Dort ist nämlich von einem »edler[en] Wahn« die Rede, der die günstige Wendung des Geschehens herbeiführen soll. Michael von Soden (Hg.), Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Frankfurt am Main 1983, S. 173. In der ersten Fassung des Librettos fasste Wagner diesen Gedanken dann in die Verse »Denn lässt er uns nicht ruhn / selbst hier in Nürenberg, so sei’s um solche Werk’, die selten vor gemeinen Dingen / und nie ohn ein’gen Wahn gelingen.« Diese behielt er dann auch unverändert in der Schlussfassung des Musikdramas bei. Zum Vergleich der beiden Monolog-Fassungen siehe Voss, »Wagner und kein Ende«, S. 300f.

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bereits bei Schopenhauer. Dieser räumt im ersten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung zwar ein, dass den Wahnsinnigen »weder Vernunft noch Verstand« abgesprochen werden könne: Meistens nämlich irren die Wahnsinnigen durchaus nicht in der Kenntnis des unmittelbar Gegenwärtigen; sondern ihr Irrereden bezieht sich immer auf das Abwesende und Vergangene und nur dadurch auf dessen Verbindung mit dem Gegenwärtigen. Daher nun scheint mir ihre Krankheit besonders das Gedächtnis zu treffen; zwar nicht so, daß es ihnen ganz fehlte: denn viele wissen vieles auswendig und erkennen bisweilen Personen, die sie lange nicht gesehn, wieder; sondern vielmehr so, daß der Faden des Gedächtnisses zerrissen, der fortlaufende Zusammenhang desselben aufgehoben und keine gleichmäßig zusammenhängende Rückerinnerung der Vergangenheit möglich ist.120

Hier sieht Schopenhauer die Verbindung zum »genialen Individuo«. Auch dieses lasse »die Erkenntnis des Zusammenhangs der Dinge aus den Augen: das einzelne Objekt seiner Beschauung oder die übermäßig lebhaft von ihm aufgefaßte Gegenwart erscheinen in so hellem Licht, daß gleichsam die übrigen Glieder der Kette, zu der sie gehören, dadurch ins Dunkel zurücktreten«.121 Schopenhauer erkennt genau, dass die abnorme Veranlagung des Genies zu einer »Überspanntheit der Stimmung« und einer »Heftigkeit der Affekte« führen könne. Im Vergleich mit der »bald träumerischen Versunkenheit, bald leidenschaftlichen Aufregung« des genialen Menschen wirke der »Normalmensch« durchaus vernünftig.122 Aber letztlich bleiben diese Eskapaden von geringer Bedeutung. Denn Schopenhauer glaubt, dass die gefährlichen Zustände, die die Intuition hervorruft, durch die Anschauung selbst behoben werden können. Deshalb hebt er die »Besonnenheit« hervor, die das Genie kennzeichne. Dieses erhebt sich über das ›principium individuationis‹ und ist »reines Subjekt«, »klarer Spiegel des Objekts«.123 Die Intuition geht umstandslos in Kontemplation über: Der, wie gesagt, mögliche, aber nur als Ausnahme zu betrachtende Übergang von der gemeinen Erkenntnis einzelner Dinge zur Erkenntnis der Idee geschieht plötzlich, indem die Erkenntnis sich vom Dienste des Willens losreißt, ebendadurch das Subjekt aufhört, ein bloß individuelles zu sein, und jetzt reines, willenloses Subjekt der Erkenntnis ist, welches nicht mehr dem Satze vom Grunde gemäß den Relationen nachgeht; sondern in fester Kontemplation des dargebotenen Objekts, außer seinem Zusammenhange mit irgend andern, ruht und darin aufgeht.124

Es ist also nicht die Sprache, die bei Schopenhauer den Übergang der Intuition in die Kontemplation garantiert, sondern der Blick. Zwar betont er, dass die Sprache dem Gedächtnis zugeordnet sei, da sie das Geschaute aufbewahren und vermitteln

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Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 274f. Ebd., S. 277. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 502f. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 257. Ebd., S. 256.

könne. Aber die höchste Form der Erkenntnis ist und bleibt für Schopenhauer die »unmittelbare Einsicht«: Daher sind auch jene großen Entdeckungen alle, eben wie die Anschauung und jede Verstandesäußerung, eine unmittelbare Einsicht und als solche das Werk des Augenblicks, ein Aperçu, ein Einfall, nicht das Produkt langer Schlußketten in abstracto; welche letztere hingegen dienen, die unmittelbare Verstandeserkenntnis für die Vernunft durch Niederlegung in ihre abstrakten Begriffe zu fi xieren, d.h. sie deutlich zu machen, d.h. sich in den Stand zu setzen, sie andern zu deuten, zu bedeuten.125

Aus diesen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass die Poetik der Meistersinger und ihre Synthese verschiedener Medien und Erkenntnisweisen um einiges komplexer ist als die letztlich starre und dichotomische Philosophie Schopenhauers. Dass Walther nicht nur über Intuition verfügt, sondern in zunehmendem Maße auch der Kontemplation fähig wird,126 hängt damit zusammen, dass er dank Sachs seine Kunst als eine Deutung unbewussten Wissens verstehen lernt. Diese Heilung des Wahnsinns durch die Überwindung der Trennung von Innovation und Gedächtniskunst steht nicht im Zentrum der Schopenhauerschen Philosophie – weshalb Wagner in diesem Punkt eindeutig über sie hinausgeht. Es führt deshalb weiter, Wagners Werk mit jenem Psychologen-Blick zu betrachten, den Friedrich Nietzsche so vehement eingefordert hat. Dieser kam zu dem Schluss, dass Wagners Musikdramen der Ausdruck einer marode gewordenen Kultur seien. In ihrem Bemühen, dem modernen Individuum durch Erlösung sein Seelenheil verschaffen zu wollen, erwiesen sie sich, so Nietzsche, als Symptom einer zu Ende gehenden, dekadenten Epoche. Wagner’s Kunst ist krank. Die Probleme, die er auf die Bühne bringt – lauter Hysteriker-Probleme –, das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärfern Würzen verlangte, seine Instabilität, die er zu Principien verkleidete, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, diese als physiologische Typen betrachtet (– eine Kranken-Galerie! –): Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel lässt. Wagner est une névrose.127

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Ebd., S. 55. Als Walther im dritten Akt die Schusterstube betritt, ist er im Gegensatz zur vorigen Nacht »sehr ruhig« (M, 118). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Wagner in der Figur des Hans Sachs Intuition und Kontemplation zu vereinigen versucht. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den intuitiven Handlungen des sonst (vor allem am Schluss) so kontemplativen Hans Sachs. Als Walther und Eva im zweiten Akt zu fliehen versuchen, wird Sachs »von einem plötzlichen Einfall erfaßt« (M, 84). Er zieht das Licht ein, öffnet den untern Teil des Ladens und stellt seinen Werktisch an die Türe. So kann sein Schusterlied Beckmesser stören und von Eva vernommen werden. Am Schluss des Aktes wird abermals deutlich, dass Sachs die Intuition dazu dient, die drohende Katastrophe zu verhindern. Er zieht Walther »gewaltsam schnell« in seine Schusterstube (109). Die Plötzlichkeit ist hier nicht Signum einer zerrissenen Subjektivität, sondern mit wohlüberlegtem und planvollem Kalkül vereinbar. Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 22. Dass Nietzsches Verwendung des

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Genau aus diesem Grund, weil er die »Überreiztheit der nervösen Maschinerie« zum Musikdrama gemacht habe, sei Wagner der »moderne Künstler par excellence«.128 Nietzsche dehnt diese Diagnose auf die Kompositionskunst Wagners aus. Deren einziger Ehrgeiz sei es, »die Nerven zu überreden«, Wagner sei ein »Magnétiseur«, dessen Musik »hypnotisiert«.129 So genau Nietzsche die Krankheitsbilder der Wagnerschen Werke erkannt hat, seine Interpretation muss doch erweitert werden: Hinter dem Wahnsinn des Figurenpersonals verbirgt sich die Bedrohung des Gedächtnisses durch die Eruption der Erinnerung. Wagner hat sehr genau erkannt, dass sich Bewusstwerdungsprozesse plötzlich und unvermittelt ereignen, und er hat versucht, auf dieses Problem eine ästhetische Antwort zu finden. Deshalb entfaltet seine Musik nicht nur hypnotische Wirkungen, sondern erweist sich auch als eine subtile Vermittlungskunst. Sie erzeugt das Unbewusste und stellt es zugleich in einen diskursiv-reflexiven Zusammenhang. »Sein Bewußtsein schult sich in der Nacht, die das Bewußtsein zu verschlingen droht.«130 Besser als Adorno kann man nicht formulieren, dass Wagners Werke Krankheit und Heilung zugleich sind. Nicht, weil sie dem modernen Menschen metaphysische Erlösung bieten, sondern weil sie an jenem Gedächtnis arbeiten, das am Wahnsinn der Unmittelbarkeit zu zerbrechen droht.

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Begriffs ›Hysterie‹ in diesem Zitat von der Psychiatrie seiner Zeit beeinflusst ist, zeigt Bronfen, Das verknotete Subjekt, S. 341–344. Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 23. Ebd., S. 29. Ausgehend von diesem Urteil Nietzsches über Wagner kommt Elisabeth Bronfen zu dem Schluss, dass Wagners »Hysterismus« durchaus Positives abzugewinnen sei. Denn er insistiere darauf, »daß keine totalisierende Heilung tragfähig ist und daß es eine unverstellte, reine Wahrheit im Bereich der Repräsentation nicht gibt.« Hysterie verweise als Selbstinszenierung und Simulation von Wahrheit immer auf die Grenze, die zwischen Erscheinung und Wahrheit verläuft. Durch seine hysterischen Figuren, so Bronfen, halte Wagner diese Grenze aufrecht. Mit Kundry präsentiere uns Wagner »eine Stimme, die die Erlösungsphantasie, um deren Entwurf er sich bemüht, zugleich in Frage stellt«. Vgl. Bronfen, Das verknotete Subjekt, S. 348. Diesem Urteil ist zuzustimmen, da Bronfen die Skepsis erkennt, die Wagners Werk einer puren Unmittelbarkeit entgegenbringt. Wenn hier, anders als bei Bronfen, von »Heilung« gesprochen wird, so sollte das nicht als eine Totalisierung oder eine mögliche Erlösung des Subjekts missverstanden, sondern ausschließlich auf das Phänomen des Gedächtnisses bezogen werden. Wie die Meistersinger zeigen, vollzieht sich Heilung bei Wagner gerade als Kritik der Unmittelbarkeit. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 13, S. 144.

Ausblick und Schluss

Die Studie ist an ihr Ende gelangt. Es bleibt nur noch, aus den in ihr gewonnenen Erkenntnissen Perspektiven für die künftige Forschung abzuleiten. Zunächst stellt sich die Frage, welche Konsequenzen Wagners Konzeption der Bewusstwerdung des Unbewussten für die Rezeption seiner Musikdramen hatte. Zwar konnte diese Studie nachweisen, dass sich Wagners kompositorische Innovationen aus seiner Anthropologie herleiten lassen, aber es müsste noch genauer verfolgt werden, welche Wirkungen Wagner mit seiner Ästhetik beim Zuschauer beabsichtigt. Anders gefragt: Wenn das Bewusstsein der Figuren immer auf einen unbewussten Grund bezogen bleibt – warum sollte das beim Rezipienten anders sein? Als Erstes wäre zu prüfen, inwieweit Wagners Musik in die Rolle des Unbewussten schlüpft. Sicher ist, dass das System der Leitmotive dem Zuschauer ein Gedächtnis bietet, das den Prozess der Erinnerung und des Vergessens hörbar macht. Es führt dazu, dass auch wir eine Bewusstwerdung des Unbewussten vollziehen. Allerdings zielt die Musik ebenso oft auf die Darstellung des unmittelbaren Rausches und der Ekstase, sie ist nicht nur der Vermittler zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, sondern versucht auch, uns in ihren Bann zu schlagen. Gerade in dieser doppelten Funktion liegt ihr besonderer Reiz. Weitere wichtige Hinweise darauf, wie Wagner die Wirkung seiner Kunst auf den Zuschauer konzipierte, geben die Musikdramen selbst. In ihnen gibt es zahlreiche Szenen, in denen die Rezeption eines performativen Aktes reflektiert wird. Dies zeigt sich unter anderem im Fliegenden Holländer, wo die Mädchen von Sentas Ballade »ergriffen« werden und den Schlussreim leise mitsingen (H, 26). Überhaupt ist auffällig, dass Wagner in den Schlüssen fast aller seiner Werke eine Situation inszeniert, in der eine große Versammlung von Menschen einem faszinierendem Spektakel beiwohnt. In dieser Hinsicht erinnern seine Musikdramen an die Werkschlüsse der Grand Opéra. Jedoch wird vor allem deutlich, dass es Wagner um die oft sprachlose Ergriffenheit geht, der die Zuschauer in diesen Szenen erliegen. Im Tannhäuser führen das Selbstopfer Elisabeths und die vermeintliche Erlösung Tannhäusers bei sämtlichen auf der Bühne anwesenden Figuren zu »höchster Ergriffenheit.« (T, 58) Ähnliches geschieht im Lohengrin, wo die Schlusserzählung des Protagonisten von den umstehenden Männern und Frauen mit den Worten kommentiert wird: »Hör’ ich so seine höchste Art bewähren, / rennt mein Aug’ in heil’gen Wonnezähren.« Dabei blicken sie »voll Staunens und in höchster Rührung auf ihn hin« (L, 71) In der Götterdämmerung sprengt Brünnhilde mit ihrem Pferd Grane in den brennenden Scheiterhaufen, kurz darauf tritt der Rhein über die Ufer. 407

Dem schauen die Männer und Frauen »in sprachloser Erschütterung« zu (G, 111). Der Schluss der Meistersinger von Nürnberg thematisiert dann explizit die Wirkung der Kunst. Das Volk lauscht dem Preislied Walthers und wird dabei so von dessen Vortrag ergriffen, dass es das soeben Gehörte kaum fassen kann: »Gewiegt wie in den schönsten Traum, / hör’ ich es wohl, doch fass’ es kaum!« (M, 163) Im Parsifal wendet sich diese faszinierende und unbeschreibliche Wirkung ins Metaphysische. Auf die Heilung Amfortas’ reagieren die Anwesenden mit »höchster Entzückung«, kurz darauf enthüllt Parsifal den Gral, von dem aus sich eine »Glorienbeleuchtung« über alle »ergießt«. Daraufhin schwenkt Parsifal den Gral »sanft vor der aufblickenden Ritterschaft.« (P, 83) Zu fragen wäre nun, inwieweit diese Vorstellung des Ergriffenwerdens des Zuschauers durch das Unbewusste sich auch in Wagners Theaterpraxis umgesetzt findet. Wie hat Wagner in seiner Konzeption des Bayreuther ›Traumtheaters‹ versucht, die Anthropologie des Unbewussten bühnentechnisch zu realisieren?1 Welche Hinweise geben dabei die von ihm als Regisseur gestalteten Inszenierungen in Bayreuth und anderen Städten? Von diesem Punkt aus könnte dann in einem nächsten Schritt die Inszenierungsgeschichte von Wagners Musikdramen analysiert werden, wobei man sich nicht nur auf die Bayreuther Festspiele konzentrieren müsste. Besonders aufschlussreich wäre hier eventuell ein Blick auf jene Epochen, in denen das Phänomen des Unbewussten eine große Rolle in der ästhetischen Diskussion spielte: etwa in der klassischen Moderne oder in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Zudem ist die Rezeption von Wagners Werk in Deutschland und Europa längst noch nicht genügend erforscht.2 Leider konnte diese Arbeit nur andeuten, dass sich zu den Werken Sigmund Freuds, Arthur Schnitzlers und Richard Strauss’ bisher unerkannte Verbindungen ergeben. Doch damit ist höchstens skizziert, welchen Einfluss Wagners Konzeption des Unbewussten auf das 20. Jahrhundert hatte. Um das Bild zu vervollständigen, müsste man den Blick auf Europa richten: Was ist mit dem Wagnérisme und Baudelaire, wie haben Wagners Musikdramen auf Prousts Gedächtniskonzeption, wie auf die Philosophie Henri Bergsons gewirkt? Es gibt also noch viel zu tun. Natürlich ist sich der Autor dieses Buches schmerzlich bewusst, dass er nicht auf alle Probleme, die der »Fall Wagner« aufwirft, eine abschließende Antwort finden konnte. Aber er hofft doch, zumindest die richtigen Fragen gestellt zu haben.

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Die bühnentechnische Realisierung der Anthropologie des Unbewussten lässt sich u.a. an der Gestaltung des Lichts in Wagners Musikdramen zeigen. Vgl. hierzu Martin Schneider, »Dämmerndes Wähnen«. Zu Wagners Lichtregie und Rezeptionsästhetik. In: wagnerspectrum 8, H. 2, 2012. Einen ersten Überblick bietet Udo Bermbach, Richard Wagner in Deutschland. Rezeption – Verfälschungen, Stuttgart, Weimar 2011.

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Abbildungsnachweise

Abb. 1: Abb. 2: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11:

Rheingold-Vorspiel, Einsatz der Hörner (SW 10/I, T. 17–24). Die Instabilität des Walhall-Motivs (SW 10/I, T. 769–773, Ausschnitt). Das Schwertmotiv, harmonisch verdunkelt (SW 11/I, T. 856–859). Die alte Weise (SW 8/III, T. 626–630). Sieglindes potenziertes Sehen in Des-Dur (SW 11/I, T. 1217–1219, Ausschnitt). Elsa: »Ist dies nur Liebe?« (SW 7/III, T. 395–399). Elsas Bewusstwerdung als Déjà-vu (SW 7/I, T. 600–605, Ausschnitt). Sentas Ekstase (SW 4/I, Nr. 4, T. 445–448) Beginn von Kundrys Erzählung (SW 14/II, T. 824–828). Sentas Déjà-vu als Imprévu (SW 4/II, Nr. 6, T. 1–5). © Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Abb. 3:

Wagners Schema zu »Oper und Drama« (SB III, 478) © Deutscher Verlag für Musik, Leipzig

Abb. 12:

Bleistiftskizze E.T.A. Hoffmanns, die den Kapellmeister Johannes Kreisler darstellt. © Staatsbibliothek Bamberg, Foto Gerald Raab

Danksagung

Dieses Buch ist die durchgesehene und leicht bearbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Juli 2011 an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Ich will all jenen danken, die meine Arbeit an dieser Studie begleitet haben. An erster Stelle steht mein Doktorvater Prof. Dr. Jörg Krämer. Er hat mich sofort in meinem Promotions-Vorhaben unterstützt und mir im weiteren Verlauf viele Ratschläge und Anregungen gegeben, um meine Ideen in die richtigen Bahnen zu lenken. Wenn ich in meinem Urteil zu einseitig zu werden drohte, hat er mich gewarnt, wenn ich zu Ausschweifungen neigte, hat er mir Mut zur Lücke gemacht. Die Tatsache, dass eine solch zuverlässige, sachliche und souveräne Betreuung im heutigen Wissenschaftsbetrieb nicht selbstverständlich ist, lässt meinen Dank umso größer werden. Auch Prof. Dr. Hartmut Schick hat mich stets in meinem Vorhaben bestärkt, über Wagner zu schreiben. Seinen Vorlesungen und Seminaren verdanke ich das musikwissenschaftliche Handwerkszeug, ohne das ich mich nie an Wagners Partituren gewagt hätte. Er gab mir zudem Gelegenheit, meine Thesen in seinem Oberseminar, aber auch in einem Vortrag an der LMU München vor Publikum zu erproben. Wichtige fachliche Ratschläge erhielt ich darüber hinaus von Dr. Christa Jost von der Wagner-Gesamtausgabe in München, sowie von meinen Kollegen Prof. Dr. Michael Waltenberger und Dr. Frieder von Ammon. Und last not least wäre es mir ohne ein Abschlussstipendium des Graduate Center der LMU München nicht möglich gewesen, mich in den letzten Monaten vor der Abgabe ausschließlich der Dissertation zu widmen. Danken will ich auch meinen Freunden und meiner Familie. Clemens Volkwein und Judith Lebiez haben Teile des Manuskripts gelesen und mir gesagt, was klar ist und was unklar. Dies gilt auch für Claudio Gutteck, dem ich nicht nur für unbestechliche Sprachkritik und regen geistigen Austausch danke, sondern auch und vor allem für unsere Freundschaft. Mein Onkel Gert Reiprich hat mich während meiner Aufenthalte in München beherbergt und meinen Doktorandenstress durch humorvolle Lebensweisheit gemildert. Vor allem aber danke ich meinen Eltern: dafür, dass sie mich bei allem, was ich in meinem Leben unternommen habe, unterstützt haben. Vergessen will ich auch nicht den treuesten Begleiter dieser Arbeit: meinen Kater Triton. Zwar habe ich bis heute nicht herausgefunden, warum er jedes Mal, wenn ich mich an die Arbeit machte, auf den Schreibtisch sprang und es sich zwischen den dort aufgeschlagenen Büchern und Manuskripten bequem machte. Sei 427

es, dass er wie sein Vorfahre Murr das Lesen gelernt hat, sei es, dass er sich nur an meinem Laptop wärmen wollte: Sein zufriedenes Schnurren war jedenfalls ein gutes Antidot gegen Wagners Nervosität.

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Personenregister

Adorno, Theodor W IX, 5, 115, 162, 224, 406 Aischylos 93, 191 Aristoteles 90, 256, 281, 316 Augustinus von Hippo 173 Arnim, Achim von 121f., 146, 176 Baader, Franz von 35 Bachofen, Johann Jakob 198, 375 Bacon, Francis 227 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 5 Balzac, Honoré de 316, 340 Baudelaire, Charles 189, 408 Baumgarten, Alexander Gottlieb 181 Beethoven, Ludwig van 57, 113, 126, 160–164, 167–169, 358, 383 Bellini, Vincenzo 102, 354 Benjamin, Walter 169, 227, 345, 377 Bergson, Henri 227, 345, 408 Berlioz, Hector 269 Bernheim, Hippolyte 402 Bichat, Xavier 39 Bloch, Ernst 121, 133, 227 Blumenbach, Johann Friedrich 35 Böhme, Jakob 173, 276 Braid, James 36 Brecht, Bertolt 257 Brentano, Clemens 146 Breuer, Josef 286 Bülow, Hans von 70 Büsching, Johann Gustav Gottlieb 236 Burckhardt, Jakob 227 Burke, Edmund 378 Carlyle, Thomas 13, 99 Carus, Carl Gustav 9, 12, 14f., 25f., 33, 35, 45, 64, 75, 134f., 205–207, 269, 278–282, 322f., 360–362 Cervantes Saavedra, Miguel de 356–359 Charcot, Jean-Martin 184, 350 Chéreau, Patrice 6, 90, 94 Claudius, Matthias 360

Creuzer, Friedrich 32, 198–200, 375f. D’Alembert, Jean le Rond 26 Descartes, René 20, 35, 189 Devrient, Eduard 256, 320 Dickens, Charles 379 Diderot, Denis 26 Donizetti, Gaetano 354 Dürer, Albrecht 85f. Eichendorff, Joseph von 68, 78, 309 Eschenmayer, Carl August von 35 Euripides 317 Fechner, Theodor 13 Feuerbach, Ludwig 5, 31, 114, 216, 320, 322 Fichte, Johann Gottlieb 20–23, 27, 120, 174, 275 Flaubert, Gustave 340 Fontane, Theodor 340 Franck, Hermann 218 Friedrich, Caspar David 134 Flimm, Jürgen 6 Fortlage, Karl 33 Fouqué, Friedrich de la Motte 113 Freud, Sigmund 10, 14, 19, 74, 87, 124, 128f., 150, 207, 233, 235f., 244f., 247, 249f., 263, 266f., 277f., 286, 290f., 323, 334, 356, 363, 379, 402, 408 Garrick, David 162 George, Stefan 189 Geyer, Ludwig 299 Glasenapp, Carl Friedrich von 301, 323, 383 Gmelin, Eberhard 41f. Görres, Joseph 309 Goethe, Johann Wolfgang 1, 4, 18, 35, 68f., 81f., 133f., 160, 163, 191, 260, 282f., 286f., 316, 332f., 358 Gottfried von Straßburg 130, 316, 339 Grimm, Jacob 93, 120f., 235 Günderrode, Karoline von 19f., 63

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Habermas, Jürgen 121 Haeckel, Ernst 128 Hanslick, Eduard 111, 124, 203 Hartmann, Eduard von 13, 33, 322 Hauffe, Friederike 180, 190, 363 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 26, 30–33, 35f., 104, 114–117, 272, 275, 300, 322, 337, 341, 359 Heidegger Martin 4 Heine, Ferdinand 260 Heine, Heinrich 22 Helvétius, Claude Adrien 172 Henscheid, Eckhard 330 Herbart, Johann Friedrich 13, 26, 33 Herder, Johann Gottfried 35, 44, 59, 104, 118f., 143, 165, 171, 181, 228, 272, 287 Hesiod 50f., 96, 198 Hölderlin, Friedrich 21–23, 27, 45, 99f., 104, 118, 134, 144, 174, 272 Hoffmann, E.T.A. 12f., 15, 44, 46f., 49–52, 69, 71, 74f., 78, 85f., 100f., 105f., 108, 124, 128, 130f., 136–138, 142, 144–150, 162, 171f., 176–179, 183f., 191, 198, 205, 207–214, 216, 227, 233–237, 250, 263, 266, 276, 283–286, 291f., 294–297, 305, 308–310, 314, 332f., 340f., 358, 363f., 366, 368–374, 380, 389f., 399, 401f. Hofmannsthal, Hugo von 254 Homer 193, 198, 317, 358 Huch, Ricarda 18 Hufeland, Christoph Wilhelm 39 Hugo, Victor 191 Hume, David 271 Janet, Pierre 323 Joyce, James 377 Jung, Carl Gustav 10, 323, 333 Kafka, Franz 49f., 73–75 Kanne, Johann Arnold 32, 51 Kant, Immanuel 18, 21, 32, 73, 82, 107, 174, 197, 378 Kerner, Justinus 180, 190 Kirchner, Alfred 6 Kleist, Heinrich von 12, 15, 21, 44, 46f., 49f., 69–76, 100, 137, 176, 180–182, 232f., 235, 237, 288–291, 326, 341, 347f., 360, 364–366 Kluge, Carl Alexander Ferdinand 35–41, 178f., 229, 266, 363–365, 386f. Kolbe, Carl Wilhelm 210, 212–214

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Kopernikus, Nikolaus 133 Lacan, Jacques 19 La Mettrie, Julien Offray de 172 LeBret, Johann Friedrich 214, 369 Lehrs, Samuel 31 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18, 181 Lessing, Gotthold Ephraim 96, 119, 196–198, 202, 317 Leupoldt, Johann Michael 64 Lévi-Strauss, Claude 90 Lichtenberg, Georg Christoph 360 Liszt, Franz 188, 346 Locke, John 271f. Ludwig II. von Bayern 126 Lykurgos von Sparta 132 Mallarmé, Stéphane 121, 189 Mann, Thomas 4, 11, 54, 91, 107, 110f., 129, 142, 153, 180, 182, 184, 257, 316, 330, 340, 349f. Marschner, Heinrich 53f., 102, 253, 261f., 264 Marx, Karl 121 Mesmer, Franz Anton 12, 36f., 172, 178, 266, 284–286 Meyenburg, Malwida von 99 Meyer, Conrad Ferdinand 189 Meyerbeer, Giacomo 115, 203, 261–264, 321 Mirabeau, Marquis de 366 Molière 288f. Mone, Franz Joseph 80, 93, 329 Monteverdi, Claudio 156, 347 Moritz, Karl Philipp 104, 144, 295 Mottl, Felix 68 Mozart, Wolfgang Amadeus 1, 26, 74, 156, 261, 266, 320f., 332, 334 Müller, Wilhelm 68 Musil, Robert 377 Nietzsche, Friedrich 1f., 4, 11, 52, 58, 73, 79, 83, 123, 128, 132, 162–164, 168, 189, 191, 198, 200, 290, 300, 317–319, 322, 375–378, 385, 405f. Novalis 15, 20f., 23–25, 27, 29, 45–47, 63, 73, 77, 86, 96–100, 105, 107f., 119, 121, 135–137, 143f., 148, 150, 171, 174f., 198, 231f., 274, 276, 278, 287, 343, 375 Oken, Lorenz Ovid 383

35

Paul, Jean 19, 47, 51, 167, 172, 178, 309, 323, 343 Pecht, Friedrich 114 Peri, Jacopo 156 Platner, Ernst 18, 323 Platon 51, 90, 93, 108, 116, 167, 171, 173, 201, 228–231, 233, 236, 240, 247, 263, 286, 319, 322f., 342, 356f., 359f., 362 Ponte, Lorenzo da 332f. Proudhon, Pierre-Joseph 5 Proust, Marcel 73, 377, 408 Pseudo-Longinos 378 Puységur, Marquis de 36, 362f. Quincey, Thomas de 363 Raabe, Wilhelm 189 Raffael 198, 228f. Reil, Johann Christian 38f., 360f., 364, 367 Ritter, Johann Wilhelm 35, 198 Röckel, August 168, 191, 234, 245 Rousseau, Jean-Jacques 59, 143 Rudolf von Ems 310 San Marte 316 Sartre, Jean-Paul 121 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 12–14, 20, 24f., 27–36, 41, 44–46, 49, 51, 55–58, 79, 97, 104, 108, 116, 119–121, 125, 127, 174, 205f., 231, 269, 271–281, 285f., 341, 343, 361f. Schiller, Friedrich 4, 12, 30, 68, 70, 96f., 115, 131f., 143, 160, 297, 316, 337 Schlegel, August Wilhelm 25, 29, 119, 126, 135, 198 Schlegel, Friedrich 23, 25, 29, 97, 104f., 118, 121, 134, 171, 175, 231, 287, 343 Schleiermacher, Friedrich 25, 105, 174 Schnitzler, Arthur 225f., 338f., 408 Schopenhauer, Arthur 30–35, 79, 157f., 160f., 163, 167–172, 180, 186f., 197, 235, 246f., 280, 312, 318, 321f., 376, 393, 403–405 Schröder-Devrient, Wilhelmine 239 Schubert, Gotthilf Heinrich von 12, 14, 35–37, 41–44, 50f., 59f., 77, 97, 100, 120, 132–135, 143, 149, 175, 179f., 190, 198, 224, 269, 276–281, 286, 290f., 294, 329, 360–363, 384

Scott, Walter 316 Scribe, Eugène 261 Shakespeare, William 1, 97f., 162–164, 169, 191, 328, 358, 391f., 395 Shaw, Bernard 5, 90 Simrock, Karl 51 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 25 Spohr, Louis 102, 252f. Stifter, Adalbert 188f., 234 Strauss, Richard 156, 254, 408 Sulzer, Johann Georg 18, 144f., 181, 301 Swedenborg, Emanuel 276 Tieck, Ludwig 63, 70, 85, 98, 105, 146, 148, 175, 228, 309, 357, 359 Troxler, Ignaz Paul Vitalis 35, 64 Uhlig, Theodor 111 Verdi, Giuseppe 69, 133, 269 Vergil 96, 175 Wackenroder, Wilhelm 63, 85, 105, 143f., 171, 175, 228 Wagner, Adolf 12, 31, 52 Wagner, Cosima 12, 31, 52, 64, 70, 79, 97, 99, 161, 185, 200, 208f., 224, 256, 301, 308, 316, 323, 358, 374, 382f., 391 Wagner, Friedrich 299 Wagner, Richard 1–17, 20, 26, 30–32, 34f., 41, 46–48, 50, 52–71, 73–83, 85, 87–119, 121–127, 129f., 132f., 137–142, 145, 147, 149–172, 176, 179f., 182–196, 200–205, 208f., 211–227, 234–257, 259–262, 264, 266–269, 274, 279, 285f., 290f., 297–312, 314–336, 338–344, 346–360, 364–366, 368, 371, 376–398, 400–403, 405–408, 427f. Wagner, Rosalie 53, 237 Wagner, Wieland 3f., 6 Warburg, Aby 227, 375 Weber, Carl Maria von 101f., 111 Wesendonck, Mathilde 158, 161, 188, 196, 301, 309f., 316, 381–383 Winckelmann, Johann Joachim 104 Wolff, Christian 18 Wolfram von Eschenbach 310, 316 Zola, Emile 316

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