Kondylis heute: Anthropologie im Werk von Panajotis Kondylis [1 ed.] 9783428586912, 9783428186914

Panajotis Kondylis, 1943–1998, hat in seinem umfangreichen Werk maßgebende Epochen der europäischen Theorie- und Ideenge

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German Pages 204 [205] Year 2022

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Kondylis heute: Anthropologie im Werk von Panajotis Kondylis [1 ed.]
 9783428586912, 9783428186914

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Kondylis heute Anthropologie im Werk von Panajotis Kondylis Falk Horst (Hg.)

Duncker & Humblot  ·  Berlin

FALK HORST (Hrsg.)

Kondylis heute

Kondylis heute Anthropologie im Werk von Panajotis Kondylis

Herausgegeben von Falk Horst

Duncker & Humblot · Berlin

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Mitglieder des „Freundeskreises Panajotis Kondylis“ gefördert

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-428-18691-4 (Print) ISBN 978-3-428-58691-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Falk Horst Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dietrich Harth Panajotis Kondylis’ Weg in die „Geistesgeschichte“ und seine resignative Sicht auf die Ambivalenz sozialen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Christof Kraus „Weltgesellschaft“ oder planetarische Politik? Panajotis Kondylis’ weltpolitische Analysen 1991 bis 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrich E. Zellenberg Macht und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alexey Zhavoronkov Wertfreiheit vs. Rangordnung der Werte. Kondylis’ Anthropologie im Lichte seiner Nietzsche-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gisela Horst Kondylis’ Beobachtungen zur Freudschen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Panajotis Kondylis und Gisela Horst Kondylis’ philosophische Anthropologie als Einspruch gegen Heideggers „Sein und Zeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Panajotis Kondylis „Sein und Zeit“. Eine Sammlung raffinierter und nebulöser Gemeinplätze . . . . 115 Konstantin Verykios Die Handlungstheorie von Panajotis Kondylis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Michael Rumpf Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Rainer E. Zimmermann Nochmals zum Sinn des Lebens. Über den modernen Naturbegriff, im Ausgang von Kondylis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Michael Rumpf Wertungsenthaltung. Watzlawicks Paradox und Kondylis’ „Macht und Entscheidung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Falk Horst Moderne und Postmoderne bei Panajotis Kondylis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

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Inhaltsverzeichnis

Quellennachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Einleitung Falk Horst Der Band setzt in der Mehrzahl der Beiträge zum Werk von Kondylis zwei Schwerpunkte, den einen mit der Analyse des Politischen und einen zweiten durch die Anthropologie, die auch das Politische bestimmt. Als den Beginn von Kondylis’ wissenschaftlichem Weg in die europäische Geistesgeschichte verweist D. Harth in einem Abriss zu Leben und Werk auf die ausführliche Einführung zu einer griechischen Ausgabe ausgewählter Texte Machiavellis. Sie stehen als Beispiel dafür, wie breit Kondylis von Anbeginn seine Forschung aufgestellt hat. Er berücksichtigt stets historische, soziologische, politische, philosophische und geistesgeschichtliche Aspekte, um in diesem Fall einem politischen Denker gerecht werden zu können. Diese Einführung brachte er aus Athen nach Heidelberg mit, um zeigen zu können, wie umfassend er seine Studien für die Promotion „Entstehung der Dialektik“ anzulegen gedachte. Tatsächlich griffen diese so weit auf die gesamte Epoche der Aufklärung und deren Genese aus, dass mit dem für die Dialektik verfassten Manuskript noch beträchtliche Teile des daran anschließenden Werkes „Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus“ – das M. Rumpf knapp vorstellt – vorbereitet waren. Auch wurden Bereiche einbezogen, die bereits Anregung und Material zur „Metaphysikkritik der Neuzeit“ und zum Werk „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ lieferten. Die Epoche der Aufklärung ist mit dem Aufstieg des Bürgertums innerhalb einer Mangelgesellschaft und dessen Weltund Menschenbild verbunden, von dem sich das der Massengesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts als Überflussgesellschaft und damit als Gegenmodell unterscheidet. Für das Weltbild des Bürgertums und das seines Gegenpols liefert Kondylis eine Vielzahl allgemeiner Beschreibungen und Zeittypisches, doch verzichtet er auf Einzelbeispiele, um den Leser auf dessen persönliches historisches Wissen, seine Lebenserfahrung und Bildung zu verweisen und sich als Autor nicht im Uferlosen von Beispielen zu verlieren. Typische Beispiele für beide Epochen vor allem aus der Dichtung wird zur Veranschaulichung von F. Horst im Vergleich von „Moderne und Postmoderne“ vorgestellt. Aus dem Material und den Anregungen des Aufklärungsbuches ist auch die Idee zu „Macht und Entscheidung“ entsprungen. Hier stellt Kondylis seine anthropologische Grundeinsicht vor, für die er sich durch seine bisherigen geistesgeschichtlichen Studien bestätigt sah, dass nämlich das die Lebewesen bestimmende Selbsterhaltungsstreben sich beim Menschen als Gemeinschaftswesen in Machtstreben wandelt, welches das Individuum nach einer seinem Selbst entsprechenden gesellschaftlichen Position streben lässt, wofür bei Platon „Thymos“, die Kraft sich auszuzeichnen, steht oder das, was z. B. Dante bei Odysseus

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Falk Horst

als brennenden Eifer sieht. Machstreben ist der Antrieb, sich von anderen zu unterscheiden, deshalb sei nach Kondylis Denken polemisch. R. Zimmermann konzentriert die Aufmerksamkeit beim Aufklärungsbuch auf die dort beschriebene, innerhalb der Epoche erfolgte Aufwertung der Sinnlichkeit, die nicht mehr als Gegnerin der Moral gesehen wird, weil beide zur harmonischen Entwicklung der menschlichen Kräfte zusammenwirken würden, womit die Transzendenz in die Immanenz aufgenommen wird. Die Sinnlichkeit bzw. die Natur wurde so weit aufgewertet, dass sie zum höchsten und würdigsten Gegenstand der Erkenntnis wurde. Daran hat sich für die Naturwissenschaft bis heute nichts Wesentliches geändert. Unser moderner Naturbegriff erhielt seine wesentliche Prägung in der Zeit der Aufklärung und darin ist versteckt die Metaphysik mitenthalten. Für Kondylis ist es unzweifelhaft, dass der Mensch nicht auf Metaphysik verzichten kann.1 In „Macht und Entscheidung“ wird das Verfahren des „deskriptiven Dezisionismus“ erklärt, das als ein neutrales Beschreiben auf ideologische Sichtweisen verzichtet, die Sein und Sollen miteinander verknüpfen und dementsprechend werten. Für den „deskriptiven Dezisionismus“ ist der Mensch weder gut noch böse, auch die Politik ist es nicht. Einem solchen Vorgehen lasse sich entgegnen, – erläutert M. Rumpf in seinem Beitrag zur „Wertungsenthaltung,“ – ein Nichtwerten sei nicht möglich. Allerdings enthält sich der „deskriptive Dezisionismus“ ideologischer Denkmodelle, wie sie H.-C. Kraus in „,Weltgesellschaft‘ oder planetarische Politik?“ bereits einleitend am Beispiel der Thesen von Fukuyama feststellt, die dieser nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit der Behauptung aufstellte, indem er behauptete, in der Folge würden die liberalen Demokratien als einziges politisches Modell mit universalem Anspruch übrigbleiben. Mit dieser These erweise sich Fukuyama als Hegelianer, wenn er erkläre, Konflikte würden verschwinden, wenn liberale Demokratien sich weltweit durchsetzten, wobei unterstellt ist, diese besäßen Qualitäten, die ein teleologisches Prinzip in der Geschichte bestätigen. Zwar wurde im 20. Jahrhundert durch technische Entwicklungen in den fortgeschrittenen Ländern die Knappheit der Güter überwunden. Daraus ließe sich folgern, damit werde die Ursache für einen Kampf um Ressourcen entfallen. Es wurden zwar aus Mangelgesellschaften Überfluss- bzw. Massengesellschaften, doch das hatte eine Politisierung des Ökonomischen zur Folge, denn der Überfluss weckt umso mehr Begehrlichkeiten. Deshalb muss die Politik sicherstellen, dass die Wirtschaft immer neue Konsumwünsche auch erfüllen kann. Der hohe Ressourcenbedarf hat eine globale Wirtschaftsverflechtung zur Folge, wobei aber der Wettstreit der Volkswirtschaften um knapper werdende Ressourcen und ein rascher und breiter technischer Fortschritt Konflikte eher fördert als vermindert. Menschliches Machtstreben verschwindet auch in liberalen Demokratien nicht. Bei der Beobachtung von politischem Geschehen geht es für Kondylis darum, die „Funktion von Denkgebilden in konkreten Lagen“ zu berücksichtigen, denn Ideologien haben entscheidenden Einfluss auf Denken und Handeln, nicht zuletzt zeigt sich 1

Vgl. hierzu P. Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik.

Einleitung

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an ihnen die enge Verflechtung von Überbau und Basis. Die Bedeutung der „Menschenrechte“ in den modernen Gesellschaften und der globalisierten Welt kommt nicht ohne die Frage nach der Macht aus. U. Zellenbergs Beitrag hat dementsprechend den Titel „Macht und Menschenrechte“ und nimmt die Feststellung von Kondylis, „es gibt keine Menschenrechte,“ zum Ausgangspunkt der Darstellung: Menschenrechte könne es nur geben, wenn sie im Weltmaßstab gelten würden. Allerdings gibt es Länder, in denen sie einen höheren Stellenwert als die Bürgerrechte zu haben scheinen, wenn sie aufgrund einer materiellen Auslegung und damit verbundenen Konsumerwartungen zugunsten der Bürgerrechte einen Vorrang bekommen, also einem ethischen Universalismus gefolgt werde. Dieser kollidiert absehbar mit der zunehmenden Knappheit der Güter bei einem wachsenden ökologischen Fußabdruck von immer mehr Menschen auf der Erde. Menschenrechte dienen politischen Zielen und werden, weil es um Macht geht, instrumentalisiert; sie können entsprechend der bestimmenden „Denkgebilde“ als Propagandawaffe eingesetzt werden oder auch einer kulturbedingten Relativität unterliegen. Kondylis stützt sein in „Macht und Entscheidung“ dargestelltes anthropologisches Modell zur Erprobung seiner These u. a. dadurch ab, dass er z. B. Beobachtungen von S. Freud, aus denen dieser sein Modell entwickelte, in ihrem zeitlichen Nacheinander untersucht und dabei entsprechend veränderte Beschreibungen des Modells entdeckt. In einigen Folgerungen und Annahmen nähert sich Freud einem einfacheren Modell als dem an, für das er sich zuletzt entschied. Das einfachere hätte eine größere Erklärungskraft besessen, hätte er, was ihm zwischendurch gedanklich nicht fern zu liegen schien, menschliches Machstreben anstelle eines „Todestriebs“ angenommen. Machtstreben als zentrales Bestreben ist für Kondylis weder gut noch böse, es kann Mitmenschen nützlich sein oder ihnen auch schaden. Dieses Doppelgesicht eines einzigen Bestrebens erkennt Freud nicht; für ihn ist der Gegentrieb zur Libido der „Todestrieb“ als Destruktionstrieb, der für Kondylis nichts anderes als die negative Seite des Machtstrebens ist. Dies zeigt G. Horst bei der Auswertung seiner entsprechenden Notate. – Von der Einsicht her, dass der Mensch nur als Gesellschaftswesen verstanden werden kann, ist die Heideggers Sichtweise zugrundeliegende Anthropologie einseitig und nur auf eine bestimmte zeitgeschichtliche Situation und Kultur bezogen und damit alles andere als universell, wie G. Horst ergänzend zu einem Text von Kondylis betont. Ähnlich wie im Fall von S. Freud – so lässt sich aus der Untersuchung von A. Zhavoronkov schließen – verfährt Kondylis mit den Einsichten Nietzsches und dessen daraus abgeleiteten theoretischen Folgerungen. In manchem entdeckt er für seine eigene Anthropologie und sein Denkmodell Bestätigung und offenbar wichtige Anregungen. Er zeigt aber auch die Grenzen und logisch falsche Schlüsse von Nietzsches Ansatz auf. Stets untersucht Kondylis die Ergebnisse anderer Forscher genau, legt ihre Grundannahmen frei und prüft sie auf Stringenz. Er setzt sich intensiv mit ihnen auseinander, wobei er sein eigenes Modell durch den Vergleich auf mögliche Beobachtungs- und Denkfehler überprüft. Dabei ist er bestrebt, dem anderen in seinen Beobachtungs- und Denkvoraussetzungen gerecht zu werden.

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Alle Bücher, die Anregungen und Ideen aus der Beschäftigung mit der Epoche der Aufklärung – und freilich auch deren Vorgeschichte – empfingen, hat Kondylis irgendwann als Vorübungen für sein opus magnum aufgefasst. Immer hat ihn die Fülle der Anregungen durch den Reichtum der Heidelberger Bibliotheken begeistert. Gewöhnlich nutzte er sie im Sommer, um im Winter in Athen zu schreiben und dann im Frühjahr womöglich mit einem fertigen Manuskript nach Heidelberg zurückzukehren. Doch nicht selten kam es vor, dass er auch den Winter in den Heidelberger Bibliotheken recherchierte, weil ihn Fragen nicht zur Ruhe kommen ließen und er schließlich neue Forschungsfelder erschließen wollte und mehr Buchprojekte entwarf, als er zeitlich verwirklichen konnte. Schließlich war er sich sicher, für sein Hauptwerk, die „Sozialontologie“, aufgrund der jahrzehntelangen Vorarbeiten präpariert zu sein. Von den geplanten drei Bänden konnte er nur den ersten Band – von einem kleinen Schlusskapitel abgesehen – fertigstellen. Einen Ausblick auf die darin entworfene Anthropologie gibt K. Verykios mit der Handlungstheorie von Kondylis. Die Sozialontologie möchte die Einheitlichkeit der Grundstrukturen menschlichen Verhaltens und die innere Logik seiner Entfaltung in allen Bereichen erkennbar machen. Auf einer Tiefenschicht von universellen menschlichen Anlagen verhält sich der Mensch stets gleich, wobei die jeweils herrschenden Ideologien und Ethiken darüber hinwegtäuschen können, denn sie sind ständigen Änderungen unterworfen. Triebe und Affekte sind einem Filter der Reflexion ausgesetzt, so dass entgegen einer triebpsychologischen Anthropologie der Mensch nicht Spielball seiner Affekte ist. Er ist aber auch nicht durchgehend rein rationaler Akteur, der die Affekte fest im Griff hat. Die Sinndimension des Sozialen bedeutet, dass wir für alles, was wir tun, einen Sinn angeben müssen; er muss konsistent innerhalb des Rahmens einer Kultur artikuliert werden. Der sozial lebende Mensch muss seinem Verhalten und Handeln nicht nur nach außen, sondern auch nach innen einen Sinn geben. Es ist daher gar nicht paradox, dass wir uns deshalb manchmal oder oft selbst nicht auf die Spur kommen.

Panajotis Kondylis’ Weg in die „Geistesgeschichte“ und seine resignative Sicht auf die Ambivalenz sozialen Lebens1 Dietrich Harth „Man kann auch in der Hoffnung resignieren, wenn viel schlimmere Formen von Resignation vermieden werden sollen.“ Dieser von Panajotis Kondylis (Pamaci~tgr Jomd}kgr) auf den letzten Seiten von Ap| tom 20| stom 21o ai~ma (Vom 20. zum 21. Jahrhundert) notierte Satz wirkt wie ein Echo seines im Vorwort desselben Buches geäußerten Verdachts, das 21. Jahrhundert werde sich als „das erschütterndste und tragischste Zeitalter“ in der Menschheitsgeschichte offenbaren.2 Kondylis starb 1998 im Alter von 55 Jahren in einer Athener Klinik, wenige Wochen nach Publikation der griechischen Ausgabe der von ihm komponierten, posthum 2001 unter dem Titel Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung veröffentlichten Fassung seiner in bundesdeutschen Zeitschriften und Tageszeitungen erschienenen welt- und regionalpolitischen Analysen. Sein unzeitiger Tod beendete abrupt die geradezu asketische Hingabe eines Intellektuellen an die Rekonstruktion der europäischen „Geistesgeschichte“ aus dem Gesichtspunkt einer agonistisch bewegten, mit Machtansprüchen zuinnerst verquickten Ideenproduktion. Kondylis war ein sprachenkundiger Entdeckungsreisender zwischen den Gedankenwelten der europäischen „Neuzeit“ und des – wie er es nannte – „multipolaren“, von Gewaltexzessen geprägten 20. Jahrhunderts, in dessen grausames von Deutschen über Griechenland verhängtes Unterdrückungsregime er hineingeboren wurde. Nach dem Studium der Klassischen Philologie und der Philosophie in Athen und dem von der griechischen Obristendiktatur (1967 – 1974) erzwungenen Militärdienst machte er sich 1971 auf den Weg in die Bundesrepublik Deutschland. Zunächst schrieb er sich an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main ein, wechselte dann aber an die Heidelberger Ruperto Carola. Dort knüpfte er an frühere Marxismusstudien an, bewegte sich aber bald auf eigensinnigen, zwischen Philosophie, Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie mäandernden Pfaden. Sein Ziel war die Promotion an der Philosophischen Fakultät der altehrwürdigen Heidelberger Universität. Anregungen auf der Suche nach einem Dissertati1 Erweiterte Fassung eines Essays, der – übersetzt von Gérard Raulet – die französische Ausgabe von Kondylis, Das Politische im 20. Jahrhundert (La mutation du politique. Des utopies à la mondialisation. Éditions de la Maison des sciences de l’homme. Paris 2022) einleitet. 2 Zitiert nach Das Politische im 20. Jahrhundert, S. 218 u. 12.

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onsthema boten ihm Dieter Henrichs Studien über Hölderlins „Vereinigungsphilosophie“ und über die Hegelrezeption des jungen Marx.3 Kondylis trieb die Frage um, was Marx Hegel verdankt und von welchen zeitlich weit zurückliegenden geistigen Quellen der Autor der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte, den er als soziologisch gewitzten Historiker schätzte, Gebrauch gemacht hat. Als 1979 die Dissertation unter dem Titel Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802 erschien, wurde klar, dass sich der Fokus der Fragestellung von Marx auf Hegel, dessen Symphilosophieren mit Schelling und Hölderlin sowie auf Hegels folgenreichen Bruch mit dem Denken der Tübinger Freunde verschoben hatte. Gleichsam nebenbei hatte Kondylis darüber hinaus die wichtigsten Kapitel einer weiteren umfangreichen Monographie zu Papier gebracht, deren komplette Fassung er bereits zwei Jahre nach Erscheinen der Dissertation unter dem Titel Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus veröffentlichen konnte. In diesem Werk enzyklopädischen Ausmaßes widerspricht er mit guten Gründen der eindimensionalen Rückführung des „weltanschaulichen Rationalismus“ auf den Ursprung eines mit dem Verstand paktierenden Intellektualismus. Ein Vorurteil übrigens, das – wie in Kondylis’ Konservativismus nachzulesen ist – zu den Standardargumenten der gegen die Aufklärungsphilosophie gerichteten konservativen Pauschalpolemik gehört. Kondylis’ „idealtypische Rekonstruktion“ des mit dem Beginn der „Neuzeit“ einsetzenden emanzipatorischen Denkens möchte hingegen belegen, wie der alte Philosophenstreit zwischen Geist und Natur (Materie) im Zuge des Aufklärungsdenkens schließlich in eine Phase eintrat, deren säkulare Quintessenz er in der Formel „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ verdichtet hat. Diese Formel spricht keineswegs allein vom Biologischen, vielmehr spielt sie auf das Reflexivwerden der Menschennatur an und rückt zugleich damit die durchaus ambivalente Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Verfügungsmacht über die physische Natur in ein komplementäres Verhältnis zur Geist-Natur der menschlichen Spezies. Mehr als das verknüpft sie in der Hegelschen Fassung des „sinnlichen Bewußtseins“ noch die trivialste Erfahrung mit dem Absoluten, ohne dadurch die permanente Revidierbarkeit einer jeden als absolut gesetzten Wahrheit aus den Augen zu verlieren. Eine Einsicht, die Kondylis durchaus stärker beeindruckt hat, als ein erster Blick vermuten lassen würde. Im Anschluss und im Abstand von wenigen Jahren hat Kondylis mehrere umfangreiche, die bereits behandelten Themen des Idealismus und der Aufklärung flankierende Monographien veröffentlicht: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang (1986), Theorie des Krieges (1988) sowie eine begriffsanalytisch und theoretisch aufschlussreiche Rekonstruktion der neuzeitlichen Metaphysikkritik (1990) in ihren vielfältigen, vom humanistischen Nominalismus bis zum Neopositivismus des 20. Jahrhunderts sich entfaltenden Erscheinungsformen. Allen genannten Werken gemeinsam ist der europäische Horizont der vom Autor analysierten Li3 Insbesondere „Hegel und Hölderlin“ sowie „Karl Marx als Schüler Hegels“ in: Henrich, Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1971, S. 9 – 40 u. 187 – 207.

Panajotis Kondylis’ Weg in die „Geistesgeschichte“

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teraturen. Auch hat er seine deutschsprachigen Bücher zum größten Teil selber aus seiner bzw. in seine Muttersprache übersetzt und um speziell auf das jeweils andere Lesepublikum zugeschnittene Einleitungen ergänzt. Als Wanderer zwischen zwei Welten – er lebte, forschte und schrieb für je ein halbes Jahr in der Metropole Athen und im „Weltdorf“ Heidelberg (Camilla Jellinek)4 – konnte er immer wieder aus dem reichhaltigen Thesaurus der Heidelberger Universitätsbibliothek schöpfen. Dort fand er nicht nur die für seine eigenen kreativen Lektüren notwendige Nahrung, er konnte auch auf die traditionsstiftenden, einen europäischen Ideenkanon repräsentierenden Werke zugreifen, um diese ins Griechische zu übersetzen und zu kommentieren. Seine Absicht war, seinen Landsleuten eine wahrhaft großeuropäische Bibliothek in Übersetzungen zugänglich zu machen und ihnen diesen Zugang kommentierend und einleitend zu erleichtern. Von dieser Bildungsmission angetrieben, gelang es ihm mit Hilfe griechischer Verlage, zwei opulente Publikationsreihen ins Leben zu rufen: Philosophische und politische Bibliothek (mindestens 50 Titel) sowie Neuere europäische Kultur (ca. 12 Titel). Um Beispiele zu nennen: Die Liste der ins Griechische übersetzten und meist von ihm selber einleitend vorgestellten deutschsprachigen Autoren verzeichnet u. a. die Namen Georg Christoph Lichtenberg, Friedrich Schiller, Karl Marx, Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein, Ernst Cassirer, Helmut von Glasenapp, Werner Sombart, Robert Michels, Carl Schmitt, Hannah Arendt, Martin Heidegger, Arnold Hauser und Max Horkheimer.5 Ebenso viele französische (u. a. Derrida und Foucault), italienische und englische Autoren sind in den erwähnten Buchreihen vertreten. Alles in Allem schuf Kondylis auf diese Weise ein Panoptikum europäischen Geistes, mit dem er seinen Landsleuten, von denen er meinte, sie seien noch nicht erwachsen, vor allem Moderne und Nachmoderne nahebringen wollte. Bereits 1971, im Jahr seiner Abreise aus Griechenland, hatte Kondylis den ersten von ihm aus dem Italienischen ins Griechische übersetzten Band einer MachiavelliWerkauswahl veröffentlicht und diesem eine Abhandlung vorangestellt, deren Gehalt und Umfang durchaus den Qualitätsansprüchen an eine Doktorarbeit hätte genügen können.6 Die Machiavelli-Studie ist nicht nur wegen des Umfangs der vom Autor diskutierten internationalen Forschung und seiner umsichtigen Belesenheit im Werk des Italieners bemerkenswert. Vielmehr präsentiert diese frühe Arbeit bereits jene forschungstheoretischen und -praktischen Werkzeuge, die Kondylis in seinen folgenden Arbeiten nach und nach in eine analytisch-kritische, auf die Ideen- und Theoriegeschichte applizierte Erkenntnismethode integriert hat. Da er im Rückblick auf den Bildungsgang des Florentiner Staats- und Kriegstheoretikers diesen in einem Atemzug mit Thukydides und Max Weber als einen für ihn vorbildlichen Denker von 4 Georg Jellinek, Ein Lebensbild, entworfen von seiner Witwe Camilla Jellinek [1912]. Sonderdruck aus Georg Jellinek, Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Aalen 1970, S. 85*. 5 https://biblionet.gr/pqosypo/?personid=218. Viele der in den Buchreihen edierten Bücher haben mehrere Auflagen erreicht und sind z. T. in Neuausgaben verfügbar, was auch für Kondylis’ eigene Werke in griechischer Sprache gilt. 6 Mijok| Lajiab]ki, 8qca (2 t|l.). Ah^ma: J\kbor 1971 – 72.

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Dietrich Harth

anderen Geistesgrößen unterschieden hat (Interview mit S. Koutroulis), bediene ich mich im Folgenden der Machiavelli-Studie als Fundgrube für eine komprimierte Darstellung der vom Autor für seine Zwecke entworfenen Epistemologie. Ob die Namen Thukydides, Machiavelli, Weber, denen der Ruf legendärer Gründungsfiguren der Geschichts-, Politik- und Gesellschaftswissenschaften vorausgeht, mit der bewussten Wahl einer wissenschaftlich relevanten Handlungsnorm zu tun haben, ist hier kein Thema. Immerhin ist auffallend, dass die Genannten einen heroischen Pessimismus verkörperten, mit dessen stoischer Devise „Vivere militare est“7 Kondylis – um es zurückhaltend auszudrücken – zumindest sympathisierte. Nennt der Autor sogleich zu Beginn seiner Untersuchung Machiavelli einen „Dezisionisten“, so ist das für den Historiker zwar nichts Neues, doch für den KondylisLeser ein deutlicher Fingerzeig auf den Autor selbst, da er – zumindest in dieser Hinsicht – sich entschieden auf die Seite des Florentiners gestellt hat. Als Dezisionist gilt im Verständnis der Alltagssprache, wer das kompromisslerische „sowohl als auch“ zugunsten des kompromisslosen „entweder oder“ verwirft. Doch wie sich zeigen wird, ist es so einfach nicht. Gewiss, Machiavelli entsprach mit der strikten Loslösung politischer Entscheidungen von moralischen Urteilsnormen dem dezisionistischen Modell. Denn auf diese Weise klammerte er das zweckrationale, erfolgsorientierte politische Handeln aus der Zuständigkeit gewöhnlicher Werturteilsdiskurse aus und hob zugleich die Rationalisierung der Entscheidung zugunsten eines Willensakts auf. Kondylis wiederum hat die so behauptete Werturteilsfreiheit auf die perspektivisch gebrochene Wahrnehmung des wissenschaftlichen Forschers übertragen, der vorhat, die im Sinne der Problemgeschichte erklärungsbedürftigen Denkformen und Weltbildstrukturen der Vergangenheit nach Maßgabe ihrer schwachen oder starken Wirkungsfunktionen im Feld weltanschaulicher Kämpfe zu untersuchen. Vorausgesetzt in diesem Konzept ist die Annahme eines – sowohl auf ideologischer als auch theoretischer Ebene wirksamen – Machtstrebens, das sich nicht selbst genügt, sondern nach dem für die „Neuzeit“ charakteristischen Zusammenbruch des theozentrischen Weltbildes auf die voluntaristische Durchsetzung radikal diesseitiger, metaphysikkritisch ausbuchstabierter Ordnungvorstellungen zielt, ohne überkommene Formen der Weltbildfabrikation vollständig über Bord zu werfen. Zwar erfahren diese im Laufe der Geschichte Umdeutungen, verbürgen aber – strukturell gesehen – wie Leitmotive jene Kontinuität, die es dem Ideenhistoriker gestattet, Probleme in der „Geistesgeschichte“ aufzuspüren, die über alle Epochenumbrüche hinweg als unerledigte Herausforderungen angenommen wurden. Hatte Niccolò Machiavelli mit der Scheidung zwischen Politik und Moral dem Hume’schen Gesetz vorgearbeitet, das die Ableitung des Sollens (Norm) aus dem

7 L. A. Seneca, Ad Lucilium epistulae morales. Buch XVI, Brief Nr. 96, 5. In: Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, hg. v. Manfred Rosenbach. Darmstadt 1995, 4. Bd., S. 512.

Panajotis Kondylis’ Weg in die „Geistesgeschichte“

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Sein (Faktum) als Fehlschluss brandmarkt,8 so erklärt Kondylis dieses Gesetz zum Prüfstein für eine wissenschaftliche Haltung, die – lebenspraktisch gesehen – völlig interesselos ist, da sie ihre Gegenstände aus der Perspektive eines – so formuliert er in einer späteren Grundsatzschrift – „deskriptiven Dezisionismus“ in den Blick nimmt. „Da der wertfreie deskriptive Dezisionismus keine Machtansprüche erhebt,“ heißt es lapidar in Macht und Entscheidung,9 „so hat er auch den Menschen nichts zur Gestaltung ihres Lebens vorzuschlagen.“ Zeitlebens entschied sich Kondylis gegen die Macht des Amtes und des akademischen Lehrers und für den Status der freischwebenden Intelligenz. Die Tugend der Wertneutralität, die er an Max Weber bewunderte, werde, wie er meinte, in den Wissenschaften unterschätzt, weshalb er mit Ausdauer gegen jene Vertreter der Zunft polemisierte, die seiner Ansicht nach das Hume’sche Gesetz ignorierten, indem sie wertgebundenen normativen Verfahren einerseits und wertfreien deskriptiven Verfahren andererseits den gleichen logischen Rang zusprechen wollten. Vor dem skizzierten Hintergrund lässt sich Kondylis’ frühe Beschäftigung mit den Schriften des Florentiner Machttheoretikers als Auftakt zu seinen eigenen, später entstandenen theorie- und begriffsgeschichtlichen Untersuchungen verstehen. Denn diese datieren den epochalen Paradigmenwechsel von den theozentrischen zu den anthropozentrischen Weltbildfabrikationen ebenfalls auf den Beginn jener „Neuzeit“, deren Geltungsdauer Kondylis in seiner Untersuchung über den Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform mit dem Zusammenbruch utopischen Denkens in den multipolaren Konstellationen der westlichen Massendemokratie und Massenkultur um 1900 zu Ende gehen lässt. Nach dem „neuzeitlichen Rationalismus“, dem Skepsis und Relativierungen nicht fremd waren, lautet die These, verbreite sich eine von „technischer Rationalität“ beherrschte Kultur der Permissivität und des Wertepluralismus in geradezu „planetarischen“ Dimensionen. In dieser epochenstürzenden Entwicklung zeigt sich eine Ironie der Geschichte, die ich – Kondylis’ Thesen zusammenfassend – als Dialektik der Transformation charakterisieren möchte. Denn mit dem Niedergang der „Neuzeit“ kommt ein europäisches Zeitalter ans Ende, dessen mit imperialistischer Gewalt erwirtschaftete Errungenschaften sich gegen dieses selbst richten und im Begriff sind, das stolze Europa – allen Vereinigungsfantasien zum Trotz – in einen asthenischen Zustand zu versetzen. Mit Kondylis’ eigenen Worten: „[S]elbst wenn wir von den gravierenden Gründen absehen wollen, die den [bürgerlich-liberalen] Sozialentwurf des Westens eben bei seiner wachsenden Planetarisierung bedrohen – ökologische und demographische Faktoren, weltweite Verbreitung der Anomie, Verschärfung der Verteilungskämpfe sowohl unter den großen Nationen als auch innerhalb der westlichen Nationen eben infolge der steigenden Konkurrenz von außen, Auflösung des Junktims von freier Wirtschaft und Parlamentarismus –, ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass sich 8

David Hume, A Treatise of Human Nature. Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects. III.1.1.27, S. 469 f. [https://davidhume.org/ texts/t/]. 9 Machtfragen, S. 127.

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die wirtschaftlichen und politischen Prinzipien, die der Westen heute verficht, bald gegen ihn wenden könnten.“10 Um Epochenbezeichnungen kommt Kondylis, wie er widerstrebend feststellen muss, auch in Niedergang nicht herum. So konfrontiert er in diesem panoramatischen Essay die bürgerliche „Moderne“ quasi als Ausläufer „neuzeitlicher“ Ideologien – gemeint sind Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus – mit der massengesellschaftlichen „Postmoderne“, die ihre globale Etablierung noch vor sich hat. Ob „Moderne“ oder „Postmoderne“, beiden historischen Kennzeichnungen liegen normative Vorstellungen zugrunde, deren Bedeutung Kondylis zu entschärfen sucht, indem er seine Analysen auf die in den „Geistesprodukten“ beider Epochen verkörperten „Wahrnehmungsformen und Denkstile“ konzentriert. Drängt er in diesem Essay das Politische bewusst in den Hintergrund, so rückt er es in den Betrachtungen zur Planetarischen Politik nach dem Kalten Krieg umso deutlicher ins Licht einer drohenden, durch Bevölkerungsexplosion und Güterknappheit erzwungenen Ökonomisierung und Biologisierung der globalen Entwicklung. Zu den weiteren, auf methodische Grundsatzentscheidungen vorausdeutenden Besonderheiten der Machiavelli-Studie gehört Kondylis’ Versuch, eine im engeren Sinn biographische Erzählung zu vermeiden und stattdessen die Denkart seines Helden mit dessen zeitgenössischer Lebenswelt und deren Überlieferungswissen in Beziehung zu setzen. Um herauszupräparieren, wie der Florentiner in seinen Schriften auf bestimmte Tendenzen der Epoche reagierte, macht Kondylis von den wissenssoziologischen Angeboten sowohl Wilhelm Diltheys als auch des Alfred-Weber-Schülers Karl Mannheim Gebrauch. Selbstkritisch reflektiert er hier die Verwendung des Epochenbegriffs, den er nicht auf die Funktion eines chronologischen Teilungskriteriums für zwei einander ablösende Zeitalter reduziert, sondern als ein a posteriori konstruiertes „Instrument der Forschung und des Verstehens“ begreift, das den Interpreten zwingt, sich die Grenzen des Deutungsschemas „Persönlichkeit-Epoche“ stets bewusst zu halten.11 Zwar übernimmt Kondylis hier so konventionelle Periodisierungsbegriffe wie „Mittelalter“ und „Renaissance“, zugleich sucht er aber deren Inhalte typologisch zu fassen: „Den Platz,“ schreibt er „den im Idealtypus des Mittelalters der Glaube an das Metaphysische, Theologische einnimmt, besetzt im Idealtypus der Renaissance die Ratio.“12 Bemerkenswert an dieser Formulierung ist nicht nur die blockartige Gegenüberstellung Ratio vs. Metaphysik, sondern auch die Verwendung des von Max Weber in die verstehende Soziologie eingeführten Konzepts des „Idealtypus“. In Machiavellis politischer Theorie erkannte Kondylis die Zeichen der Moderne: den Verzicht auf die Tradition der metaphysischen (religiösen) Herrschaftslegitimation und – nicht zuletzt – die Einsicht, dass ein Konflikt zwischen dem Herrscher und 10 „Marxismus, Kommunismus und die Geschichte des 20. Jahrhunderts“ (1994), in: Das Politische im 20. Jahrhundert, S. 37. 11 Machiavelli, S. 2. 12 Machiavelli, S. 6.

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den Beherrschten nicht notwendig zur Gewaltherrschaft führen muss, sondern die Chance eines soziopolitisch konstruktiven Interessenausgleichs sogar verbessern kann.13 Die Opposition zwischen zwei (oder mehr) Weltanschauungslagern wird Kondylis später grundsätzlich unter der Figur polemisch geführter Machtkämpfe diskutieren und den im Zentrum solcher Kämpfe stehenden Leitbegriffen jeweils ausführliche funktionale Analysen widmen. Die in Konflikten dieser Art sich entfaltende agonale Dynamik – bemerkte er einmal unter Verwendung einer bekannten Marx’schen Metapher – gleiche einer die Geschichtsmotorik antreibenden „Lokomotive“. Das Konzept des „Idealtypus“ wiederum verwendet er hier wie in allen weiteren Untersuchungen ganz im Sinne Webers, der es mit einem „Gedankenbild“ verglichen und als „Deutungshypothese für konkrete Einzelzusammenhänge“ umschrieben hat.14 Der Weg zur idealtypischen Konstruktion entspricht mithin einem induktiven Verfahren, das den Werturteilsmechanismus auszuschalten vermag, ohne sich in einer einseitigen, sei es partikularen, sei es positivistischen Bestandsaufnahme zu verlieren. Stimmt diese Umschreibung, so ist damit auch der stark verallgemeinernde Gebrauch gerechtfertigt, den Kondylis vom idealtypischen „Gedankenbild“ macht, um zum Beispiel auch die theoriegeleiteten, historische Daten verknüpfenden Aussagen sowohl von Montesquieu als auch von Marx zu charakterisieren.15 Wenn Kondylis seine Arbeiten hin und wieder unter den Begriff der „Geistesgeschichte“ rubriziert hat, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich darunter ein anspruchsvoller erkenntnistheoretisch durchdachter Arbeitsbegriff verbirgt. Bereits im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den der Machiavelli-Studie zugrundeliegenden Forschungsbeiträgen war er auf Probleme gestoßen, die ihn auch weiterhin beschäftigen sollten. Zu diesen Problemen gehört nicht nur die hermeneutische Frage nach den Bedingungen historischen Verstehens, sondern auch die nach der Vermittlung zwischen der Denkart des Individuums – hier Machiavellis – und dem gesellschaftlichen Allgemeinen – hier dem „kalkulierenden Geist“ des stadtbürgerlichen Frühkapitalismus. Während seiner Studien in Heidelberg blieben solche und ähnliche Fragen virulent und fanden schließlich – nach dem Durchgang durch eine Periode intensiver geistes- und sozialwissenschaftlicher Lektüren – ihren Niederschlag in den wissenschafts- und methodenkritischen Kapiteln der Sozialontologie.16 Zunächst ist hier aber zu fragen, welche wissenschaftlichen Angebote der Entdeckungsreisende in Heidelberg vorfand und wie er sie zu nutzen verstand. Im Fach Philosophie hörte er Vorlesungen nicht nur bei dem bereits erwähnten Dieter Henrich, sondern auch bei Michael Theunissen, mit dessen Sozialontologie er sich später 13

Vgl. Kondylis’ Hinweis in: Das Politische und der Mensch 1999, S. 304. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann. Tübingen 61985, S. 130. 15 Montesquieu und der Geist der Gesetze 1996, S. 34 f.; Das Politische und der Mensch 1999, S. 134. 16 Vor allem in den Kapiteln II.1: „Stolpern und Höhenflug der Philosophie im Bereich des Sozialen“ und II.2: „Sozialwissenschaftliche Methodenfragen in sozialontologischer Perspektive“. 14

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kritisch auseinandersetzen sollte. Beide Professoren hatten seine Promotion begleitet und die Dissertation mit Bewertungen bedacht, die ihn enttäuschen mussten, da sie – befangen in departmentalistischem Denken – den philosophischen Ertrag der Arbeit geringer als den historischen erachteten. Im Fach Geschichte hingegen hatte Kondylis – hält man sich an eine Bemerkung Reinhart Kosellecks17 – in Werner Conze (1910 – 1986) sogar einen „Lehrer“ gefunden.18 Conze gilt als Begründer der sozialund strukturgeschichtlichen Ausrichtung der westdeutschen Geschichtswissenschaft. Bereits 1957 hatte er einen langfristig wirkenden Paradigmenwechsel eingeläutet: Nicht mehr sollten die res gestae im alten Sinn der Ereignisgeschichte im Mittelpunkt stehen, vielmehr sollten die überkommenen arbeitsteiligen Trennungen zugunsten eines „Strukturgeschichte“ genannten Paradigmas überwunden werden, das die Perspektiven der Politik-, Kultur-, Sozial-, Wirtschafts- und Geistesgeschichte in einer Synthese zu bündeln versteht.19 Kondylis war nicht nur an Conzes Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte interessiert, er übernahm auch auf Anfrage die entsagungsvolle Aufgabe, zwei Artikel („Würde“ und „Reaktion, Restauration“) für das von Koselleck konzipierte und von Conze und Otto Brunner mitherausgegebene Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland auszuarbeiten. Der erste Band dieses Heidelberger Großprojekts, das 1997 mit zwei Registerbänden zum Abschluss kam, war 1972 im Stuttgarter Klett-Verlag erschienen, just in dem Jahr, in dem Kondylis von Frankfurt nach Heidelberg wechselte. Der Berührung mit der Heidelberger Sozial-, Struktur- und Begriffsgeschichte verdankte Kondylis – nimmt man die Früchte seiner Heidelberger Studien zur Kenntnis – entscheidende Impulse. Überraschend ist es daher nicht, dass er seine Epochenbegriffe sozialhistorisch umformulierte. Fortan stand „societas civilis“ für die alteuropäische Gesellschaft, „bürgerlich-liberale Gesellschaft“ für die spätneuzeitliche und „demokratische Massengesellschaft“ für die pluralistischen Sozialformen der Nachmoderne. Die Strukturgeschichte operiert mit einem Zeitkonzept, das weitgehend mit der „langen Dauer“ (longue durée) Fernand Braudels übereinstimmt.20 Conze war – nebenbei bemerkt – mit Braudel befreundet und hat über viele Jahre mit ihm in der in Paris gegründeten Commission Internationale d’Histoire des Mouvements Sociaux et 17 Reinhart Koselleck, Kondylis’ Beiträge zu den „geschichtlichen Grundbegriffen“. In: Falk Horst (Hg.): Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission. Berlin 2007, S. 3. 18 Es ist kein Zufall, dass Kondylis sich in Die Entstehung der Dialektik (S. 18) für Förderung allein bei Werner Conze bedankt, der sich für die Veröffentlichung der Dissertation bei Klett-Cotta eingesetzt hatte. 19 Werner Conze, Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht. Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen Heft 66. Köln & Opladen 1957. Vgl. auch die Würdigung von Jürgen Kocka, Werner Conze und die Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37/10 (1986), S. 595 – 602. 20 Fernand Braudel, „La longue durée“. In: Annales: Économies, Sociétés, Civilisations, 13/4 (1958), S. 725 – 753.

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Structures Sociales zusammengearbeitet. Kondylis, der sich der objektkonstituierenden Funktion wissenschaftlicher Begriffe (und Theorien) stets bewusst war, erkannte sofort die Verwandtschaft des strukturhistorischen Konzepts mit dem des Idealtypus. Denn in beiden Fällen sind die Leitbegriffe darauf ausgerichtet, die multidimensionalen Interdependenzen der wie Knotenpunkte die Struktur zusammenhaltenden partikularen Elemente sozialen Geschehens typologisch kohärent zum Ausdruck zu bringen. Kosellecks Konzeption der Begriffsgeschichte bot ihm nun Gelegenheit, seine eigenen, mit der Machiavelli-Studie begonnenen Erkundungen der nach gängiger Auffassung zwischen Alteuropa und der „Neuzeit“ vermuteten geistesgeschichtlichen Epochenschwelle systematisch auszubauen und zugleich um die Dimension einer anthropologischen Grundlegung zu erweitern. Koselleck hatte in der Einleitung zum ersten Band der Geschichtlichen Grundbegriffe das „Janusgesicht“ der im Lexikon zu verhandelnden Begriffe wie folgt umschrieben: „rückwärtsgewandt meinen sie soziale und politische Sachverhalte, die uns ohne kritischen Kommentar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns zugewandt haben sie Bedeutungen gewonnen, die zwar erläutert werden können, die aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen.“21 Mit dieser Bemerkung hielt er jenen Hiat zwischen Begriff (Significans) und Sache (Significatum) offen, der darauf aufmerksam macht, dass sich im Lauf der Geschichte der ursprüngliche Bedeutungsinhalt eines Begriffs – wie Kondylis mit Blick auf den aktuellen Gebrauch von „Menschenwürde“ argumentierte22 – vollständig im Leeren verlieren kann. Die historische Zeit innerhalb welcher die große Transformation der Grundbegriffe sich vollzog, verlegte Koselleck – ganz im Sinne der longue durée – auf das Centennium zwischen 1750 und 1850, zwischen dessen Eckdaten sich die für die Moderne typischen gesellschaftlichen, staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Sphären ausdifferenziert und politische, industrielle sowie ästhetische Revolutionen das Gesicht Alteuropas auf nachhaltige Weise verändert haben. Sowohl im Einleitungskapitel des Aufklärungsbuches – also in jener Monographie, die das Zeitalter der großen Transformation in den Blick nimmt – als auch in seiner Grundlagenschrift Macht und Entscheidung hat Kondylis am Beispiel des „Geist“-Begriffs seine Auffassung von dem expliziert, was Begriffe leisten können und welche Funktionen sich an ihrem historischen Bedeutungswandel ablesen lassen.23 Was er dort zu sagen hat, gibt auch Auskunft über die Reichweite und die Besonderheiten der von ihm als „Geistesgeschichte“ etikettierten Auseinandersetzung mit den traditionellen und neuzeitlichen Formen der Theoriebildung. Wie jeder traditionsgesättigte Grund- oder Leitbegriff – das hatte schon Kosellecks Be21 Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 1. Bd., Einleitung. Stuttgart 1972, S. XV. 22 Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 677. 23 Die Überschriften der einschlägigen Kapitel lauten „Geist oder Sinnlichkeit oder Seinsfrage und Wertfrage“ (Die Aufklärung 1981, S. 9 – 19), „Macht und Entscheidung in der Front des ,Geistes‘“ (Macht und Entscheidung 1984; zit. nach Machtfragen 2006, S. 86 – 117).

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griffslehre verkündet – hat auch der „sogenannte ,Geist‘“ (Kondylis) einen Gegenbegriff. Kondylis verwendet, so scheint es zunächst, als Gegenbegriff zu „Geist“ mal „Instinkt“, mal „Biostruktur“ oder „Trieb“, packt den terminologischen Widerpart aber schließlich unter den Begriff des „Selbsterhaltungstriebes“ und knüpft mit dieser Wahl an eine moralphilosophische Tradition an, die sich bis auf die Oikeiosis (oQje_ysir) der Stoa zurückverfolgen lässt. Ich will hier nicht darüber spekulieren, ob er auf den für die Begründung seiner anthropologischen Sozialontologie maßgebenden Begriff der „Selbsterhaltung“ während der Arbeit an der Machiavelli-Studie gestoßen ist. Immerhin bietet Diltheys Abhandlung Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, die er in der genannten Studie zitiert, Stoff genug, um die Spuren des stoischen Selbsterhaltungskonzepts in den Diskursen der frühneuzeitlichen Anthropologie von Hobbes bis Spinoza nachverfolgen zu können. Ganz abgesehen von dem Gebrauch dieses Konzepts im 15. Kapitel von Machiavellis Il Principe.24 Da Kondylis’ Projekt der „Geistesgeschichte“ den Strukturen, nicht aber den Inhalten kognitiver Prozesse gelten soll, um – wie es in Machtfragen (S. 123) heißt – auf eine „Morphologie des im Zeichen des Selbsterhaltungbestrebens und der Polemik stehenden Denkens“ hinzuarbeiten, komme ich nicht umhin, hier zwei der wichtigsten Merkmalselemente hervorzuheben, die nach Kondylis’ Willen in der Struktur des „Geist“-Begriffs zur Einheit finden sollen. Kondylis diskutiert diese Merkmale indessen nicht nach Art einer begriffslogischen Untersuchung, sondern unter dem Aspekt ihrer – naturalistisch gesagt – „biopsychischen“ Funktionsweisen: Dazu gehört zum einen die Fähigkeit des „Geistes“, im Namen der Vorsorge zu antizipieren, eine Fähigkeit, die den „Geist“ in ständige Unruhe versetzt, zum anderen aber auch die „Entfesselung eines unendlichen Machtstrebens“, das die dem „Geist“ eigene präventive Aggressivität zu verschärfen vermag.25 Beide Funktionsweisen sollen im Dienst der Selbsterhaltung stehen und jenen Mangel an instinktgeleitetem Überlebensverhalten kompensieren, der die Menschenspezies kategorisch von anderen Tiergattungen unterscheidet. Auch die Genese des „Geistes“ ist aus dieser Instinktschwäche zu erklären, weshalb Kondylis die oben angesprochene Opposition von Begriff („Geist“) und Gegenbegriff („Biostruktur“) in einer Art coincidentia oppositorum aufhebt und die Entstehung der Kultur – als Inbegriff „geistiger“ Produktion – in dieses paradoxe Kräfteparallelogramm einschließt. Ernüchternd heißt es in Machtfragen (S. 87 f.): „Die Feststellung, Kultur (,Geist‘) sei Überwindung und zugleich Verlängerung und Verkleidung der Natur (des ,Instinkts‘), bildet eigentlich nur eine Umschreibung der fundamentalen Ambivalenz des sozialen Lebens […].“ Geist, Vernunft, Ideen, Theorien, Kultur usw. dienen in dieser Perspektive daher 24

W. Dilthey, Gesammelte Schriften, II. Bd. Stuttgart und Göttingen 61960, S. 285 – 292. Kondylis hat, ausgehend vom Begriff der Selbsterhaltung (perservazione), Machiavellis politische Theorie ausdrücklich mit den zeitgenössischen Anschauungen einer „naturalistischen Anthropologie“ in Zusammenhang gebracht; vgl. Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 132. 25 Machtfragen, S. 86 f.

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seit je der illusionären Verkleidung der realen Kämpfe des sozialen Lebens und sind durch keine noch so pathetische Reinheitsbeschwörung vor einem strategisch-polemischen Einsatz zu bewahren. Ihre Geschichte rekonstruieren bedeutet vor diesem Hintergrund, ihre Funktionsweisen in den Kämpfen um Macht und Selbsterhaltung thematisieren. In diesem Sinne bieten Kondylis’ Erzählungen der „Geistesgeschichte“ nicht nur Auskünfte über den Wandel der großen, die neuzeitliche Geschichte des okzidentalen Denkens tragenden Ideen und Begriffe. Vielmehr stellen sie auch die Vergeblichkeit dar, mit Hilfe dieser Begriffe und ihrer argumentativen Verknüpfungen (Theorien) die Machtansprüche zu camouflieren, die den eigentlichen Grund ihrer Hervorbringung bilden. In der Formel „fundamentale Ambivalenz sozialen Lebens“, die wie ein Refrain an mehreren Stellen in Kondylis’ Schriften wiederkehrt, steckt – wie mir scheint – eine existenzialistische Pointe. Denn es gibt für ihn kein Jenseits des Sozialen, da dieses die menschliche Existenz vollkommen umgreift und durchdringt. Das aber heißt, die Fähigkeit des Nein- und Ja-Sagens als anthropologische Disposition und die Gesellschaft als das anzuerkennen, was – nach einer paradoxen Formulierung G. E. Lessings – „nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu erhalten“ ist.26 In der Sozialontologie, die als sein unvollendetes systematisches Vermächtnis anzusehen ist, hat Kondylis Marxens Konditionalsatz aus der Heiligen Familie „Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft“27 in einen Aussagesatz verwandelt. Die fundamentale Ambivalenz im Zusammenleben prägt die Erfahrung indessen auch dann, wenn derjenige, der sich in einem Entscheidungsakt aus den gesellschaftlichen Konventionen, die für bestimmte, kollektiv anerkannte Normen einstehen, lösen will, zugleich für diesen Loslösungsakt um Anerkennung werben muss, um seinen Anspruch ohne Gewalt glaubhaft machen bzw. durchsetzen zu können. Ambivalenz bedeutet daher vor den Herausforderungen des sozialen Lebens nicht nur, alle Machtansprüche zu relativieren, sondern auch, dass der Handelnde gezwungen ist, je nach Situation zwischen den Perspektiven des Entweder-oder und des Sowohl-alsauch hin und her zu wechseln. Jedes soziale Subjekt, das politisch, wissenschaftlich oder künstlerisch handelt, hat Teil an diesem Zugleich, das den starren Gegensatz zwischen dezisionistischem und pragmatischem Handeln zugunsten einer schwebenden Komplementarität aufhebt. Das gilt für Machiavellis Principe ebenso wie für den Dezisionisten à la Max Weber. Sowohl die Gesellschaften der Polis (p|kir) als auch die Akademiens ()jad^leia) haben für Kondylis’ Entdeckungsreisen durch die Welten okzidentalen Denkens Anerkennung gezeigt: Das Goethe-Institut hat ihn mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet, das Berliner Wissenschaftskolleg ihn unter die Fellows aufgenommen, die Alexander von Humboldt-Stiftung ihn mit einem hoch dotierten Forschungspreis 26 G. E. Lessing, Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe, Bd. 10. Frankfurt a. M. 2001, S. 31. 27 Karl Marx, Die Frühschriften. Hg. von S. Landshut. Stuttgart 1964, S. 354.

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geehrt. Im Weltdorf Heidelberg sorgt ein Freundeskreis für die Verbreitung und Wiederauflage seiner Schriften, ohne darüber die lebendige Auseinandersetzung mit seinen historischen und systematischen Studien sowie mit den nonkonformen Thesen seiner öffentlichen Interventionen zu vernachlässigen.28 Schriften von Panajotis Kondylis in Auswahl Alte und neue Gottheit [1978]. Aus dem Griechischen übersetzt von Konstantin Verykios. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (Akademie Verlag) 60/3 (2012), S. 351 – 364 Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung. Heidelberg: Manutius Verlag 2001 Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie. Bd. 1: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität. Aus dem Nachlaß hg. v. Falk Horst. Berlin: Akademie Verlag 1999 Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim: VCH, Acta Humaniora 1991 Der Philosoph und die Lust (Exkursionen 6). Frankfurt a. M.: Keip Verlag 1991 Der Philosoph und die Macht. Eine Anthologie. Hamburg: Junius Verlag 1992 Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart: Klett-Cotta 1981 Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart: Klett-Cotta 1979 Die Geschichte lauert. Sozialontologie, Macht und die Zukunft des Griechentums. Panajotis Kondylis, interviewt von Spyros Koutroulis [1998]. Aus dem Griechischen übersetzt von Konstantin Verykios. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 60/3 (2012), S. 397 – 418 Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart: Klett-Cotta 1990 Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart: Klett-Cotta 1986 Machiavelli [1971]. Aus dem Griechischen übersetzt von Gaby Wurster, durchgesehen von Athanasios Kaissis. Berlin: Akademie Verlag 2007 Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage. Stuttgart: KlettCotta 1984 Machtfragen. Ausgewählte Beiträge zu Politik und Gesellschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006 [enthält u. a. die Schrift „Macht und Entscheidung“ aus dem Jahr 1984] Marx und die griechische Antike. Zwei Studien. Heidelberg: Manutius Verlag 1987 Montesquieu und der Geist der Gesetze. Berlin: Akademie Verlag 1996 Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg. Berlin: Akademie Verlag 1992 Theorie des Krieges. Clausewitz – Marx – Engels – Lenin. Stuttgart: Klett-Cotta 1988 28

Der Freundeskreis e.V. unterhält eine eigene Homepage: http://www.kondylis.net. Hier finden sich unter anderem Informationen zu den Übersetzungen, zur bevorstehenden Wiederauflage längst vergriffener Bücher sowie zu bereits erschienenen oder geplanten Sammelbänden und Monographien, die Kondylis’ disziplinübergreifendes Werk aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.

„Weltgesellschaft“ oder planetarische Politik? Panajotis Kondylis’ weltpolitische Analysen 1991 bis 1998 Hans-Christof Kraus

I. Panajotis Kondylis hat sich erst vergleichsweise spät dem Gegenstand der internationalen Politik zugewandt, nachdem er sich zuerst als Philosoph, Ideenhistoriker und Analytiker der neuzeitlichen Geistesgeschichte einen Namen gemacht hatte. Gleichwohl finden sich politische Themen und Fragestellungen auch bereits über sein frühes Werk verstreut, und wenn man nach den geistigen Einflüssen fragt, die sein Denken prägten, dann sind immer wieder bestimmte politische Klassiker der antiken ebenso wie der neueren Ideengeschichte zu benennen, die Kondylis schon früh zur Kenntnis nahm und die sein Denken und auch seine späteren politischen Analysen prägen sollten1: die Sophisten ebenso wie Thukydides, Machiavelli und Hobbes, Hegel, Marx und Nietzsche, aber auch Max Weber sowie (wenn auch in Grenzen und eher distanziert) Carl Schmitt2. Seine frühe Monographie über Machiavelli3 sowie seine Einzelstudien über Clausewitz und die modernen Kriegstheorien von Marx,

1 Hier folge ich der Zusammenstellung in der ersten ausführlichen Darstellung von Leben und Werk bei Gisela Horst, Panajotis Kondylis. Leben und Werk – eine Übersicht, Würzburg 2019, S. 102 ff., 124 ff., 213 ff. 2 Zum sehr diffizilen Verhältnis Kondylis-Schmitt siehe ebenda, S. 109 – 112, 428 f. – In einem Interview mit der griechischen Zeitschrift „Nea Koinoniologia“ (H. 25, 1998, S. 17 – 36) hat sich Kondylis hierzu eingehend geäußert (nach einer noch ungedruckten Übersetzung von Anastasia Daskarolis): „Persönlich brauchte ich nichts bei Carl Schmitt zu lernen, was ich nicht bereits vom Studium der Geschichte der Vergangenheit und der Gegenwart wusste, oder von politischen Denkern, wie Thukydides, Machiavelli oder Max Weber. Ich habe übrigens das Werk Carl Schmitts viel später als diese Autoren gelesen, und obwohl ich … seinen wunderbaren Stil sehr schätze, so erkenne ich bei ihm versteckte logische Lücken oder Fehler“; er habe, so Kondylis weiter, in seinem Buch „Macht und Entscheidung“ der „militanten Theorie der Entscheidung“ Schmitts seine eigene „deskriptive Theorie der Entscheidung“ gegenübergestellt. 3 Das Buch ist zuerst 1971 in griechischer Sprache erschienen, als Einleitung zu einer Übersetzung von Machiavelli-Texten, und wurde erst posthum auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht: Panajotis Kondylis, Machiavelli, Berlin 2007 (mit einer instruktiven Einleitung von Günter Maschke, S. VII – XX).

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Engels und Lenin4, seine Anthologie betreffend das Machtproblem in der Philosophie5, schließlich seine späte knappe Monographie über Montesquieu6 weisen Kondylis als einen genuin politischen Denker aus, der die von ihm untersuchten Autoren und Themen keineswegs nur aus einem rein historischen Interesse in den Blick nahm. Insofern ist es nicht allzu verwunderlich, dass er sich nach der großen weltpolitischen Wende der Jahre 1990/91 – neben der Ausarbeitung des unvollendet gebliebenen großen Werkes einer Sozialontologie des Politischen7 – daranmachte, die neu entstandene Lage besser zu verstehen, schärfer zu analysieren und nicht zuletzt mit Blick auf weitere Entwicklungen in der nahen Zukunft eingehend zu reflektieren. Tatsächlich geht es Kondylis in seinen bisher eigentlich viel zu wenig beachteten8 zeitkritischen und politisch-analytischen Schriften, die er in den Jahren zwischen 1991 und seinem vorzeitigen Tod 1998 publizierte, etwas zugespitzt formuliert zuerst und vor allem um die Ausführung des bekannten, von Gottfried Benn und Carl Schmitt nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach ausgesprochenen Imperativs: „Erkenne die Lage!“9. Eben diese Lage hatte Schmitt im Jahr 1960, auf einem der Höhepunkte des Kalten Krieges und der globalen Ost-West-Spaltung, einmal als „die eines latenten, kalten Bürgerkrieges“ und damit „einer traurigen Zeit“ für Europa 4 Panajotis Kondylis, Theorie des Krieges. Clausewitz – Marx – Engels – Lenin, Stuttgart 1988; zu Marx siehe ebenfalls Panajotis Kondylis, Marx und die griechische Antike. Zwei Studien, Heidelberg 1987. 5 Panajotis Kondylis (Hrsg.), Der Philosoph und die Macht. Eine Anthologie, Hamburg 1992 (mit wichtiger Einleitung von Kondylis, S. 9 – 36). 6 Panajotis Kondylis, Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996. 7 Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Bd. I: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Falk Horst, Berlin 1999. 8 Siehe aus der Literatur über Kondylis etwa Gerrit Walther, Die Parteilichkeit der Objektivität. Die historische Vernunftkritik des Panajotis Kondylis: Ein Überblick über sein Werk aus Anlaß seiner Analyse der „Postmoderne“, in: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), S. 222 – 239, sodann Andreas Krause-Landt, Mechanik der Mächte. Über die politischen Schriften von Panajotis Kondylis, in: Falk Horst (Hrsg.): Panajotis Kondylis – Aufklärer ohne Mission. Aufsätze und Essays, Berlin 2007, S. 101 – 124; Sebastian Edinger, Planetarische Politik im Spannungsfeld von Macht und Norm. Zum Verhältnis dezisionistischer Machttheorie und politischer Analyse bei Panajotis Kondylis, in: Falk Horst (Hrsg.): Panajotis Kondylis und die Metamorphosen der Gesellschaft – Ohne Macht lässt sich nichts machen. Aufsätze und Essays, Berlin 2019, S. 231 – 259; neuerdings auch ders., Dialektik der Aufklärung im tellurischen Maßstab? Zur Bedeutung des Verhältnisses von tellurischer und planetarischer Politik für den Anthropozän-Diskurs, in: Hannes Bajohr (Hrsg.): Der Anthropos im Anthropozän – Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung, Berlin – Boston 2020, S. 131 – 151. 9 Gottfried Benn, Gesammelte Werke, hrsg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 5, Wiesbaden 1968, S. 1404 („Der Ptolemäer – Berliner Novelle 1947“), mehrfach aufgenommen von Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958, Neuausgabe, hrsg. v. Gerd Giesler/Martin Tielke, Berlin 2015, S. 113; die realistische Lageerkenntnis wird hier als „Todesstoß für die Utopie“ bezeichnet. Ebenso Carl Schmitt an Julien Freund, 15. 4. 1960, abgedruckt in: Piet Tommissen (Hrsg.): Schmittiana II, Brüssel 1990, S. 43 – 45, hier S. 44: „Das erste Gebot – das allen anderen vorangeht – lautet: Erkenne die Lage!“.

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und die Welt bezeichnet, die er selbst wohl nicht mehr überleben werde10. Nun aber, dreißig Jahre später, war genau dies tatsächlich geschehen: Die Zeit der politischen Doppelpoligkeit des Globus, die Jahrzehnte des zum Glück nur latent gebliebenen Weltbürgerkrieges waren vorbei und die nun entstandene neue Lage verlangte nach umfassender Deutung. Zudem war Kondylis das wissenschaftliche Konzept einer „politischen Lageanalyse“ von einem seiner Heidelberger Lehrer, dem (Carl Schmitt nahestehenden) Politikwissenschaftler Hans-Joachim Arndt, vermittelt worden11; auch in dieser Hinsicht also war Kondylis darauf vorbereitet, die Bedeutung neuer Lagen zu erkennen und diese entsprechend – im Sinne einer „zukunftsorientierte[n] Lagebeschreibung“12 – zu analysieren. Während der 1990er Jahre hatte er sich dabei allerdings – sei es explizit, sei es implizit – in Gegensatz zu einer ganzen Reihe einflussreicher Autoren zu stellen, von der die neue weltpolitische Situation, die durch den Zerfall des einstigen Ostblocks und anschließend auch der einst übermächtigen Sowjetunion selbst bewirkt worden war, völlig anders gedeutet wurde als von Kondylis. Man hat den Denker deshalb einmal als „Anti-Fukuyama“ bezeichnet, und diese – von Kondylis nachträglich auch akzeptierte – Kennzeichnung13 trifft tatsächlich ins Schwarze, denn der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama schien mit seinen Anfang der 1990er Jahre höchst aufregenden – und seinerzeit auch vielen Zeitgenossen einleuchtenden – Thesen vom angeblichen „Ende der Geschichte“ als Folge einer universalen Durchsetzung und dauerhaften globalen Dominanz der liberalen Demokratie das zentrale Deutungsmuster für den soeben sich vollziehenden weltpolitischen Epochenwandel und dessen Folgen gefunden zu haben14. Angesichts der kaum zu bestreitenden Tatsache, dass die von den USA angeführte westliche Welt, deren führende Staaten tatsächlich parlamentarisch-demokratisch regiert wurden, über den gegnerischen, im Zeichen des „realen Sozialismus“ beherrschten und politisch organisierten Osten den Sieg errungen hatte, schien tatsächlich einiges für die These Fukuyamas zu sprechen. Dabei kannten viele derjenigen, die sein Schlagwort vom universalen Sieg der westlichen Demokratie und damit von einem vermeintlich guten „Ende der Geschichte“ übernahmen, nicht einmal die geis10

Schmittiana II (Anm. 9), S. 44. Siehe Hans-Joachim Arndt, Politische Lageanalyse, in: Dieter Nohlen (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur Politik, Bd. 1, München, Zürich 1985, S. 754 – 757; Wiederabdruck in: Volker Beismann/Markus Josef Klein (Hrsg.): Politische Lageanalyse. Festschrift für Hans-Joachim Arndt zum 70. Geburtstag am 15. Januar 1993, Bruchsal 1993, S. 11 – 14; zum Einfluss Arndts auf Kondylis siehe auch Horst, Panajotis Kondylis. Leben und Werk (Anm. 1), S. 67 ff. 12 Panajotis Kondylis, Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992, S. 2. 13 Vgl. hierzu die Hinweise bei Hans-Christof Kraus, Panajotis Kondylis und sein „Konservativismus“-Werk – Zu einem Klassiker neuerer Ideengeschichtsschreibung, in: Horst (Hrsg.): Panajotis Kondylis und die Metamorphosen der Gesellschaft (Anm. 8), S. 25 – 45, hier S. 44 f. 14 Francis Fukuyama, The End of History? in: The National Interest 16 (1989), S. 3 – 18; weiter ausgeführt in einer gelegentlich etwas langatmigen, viele Wiederholungen enthaltenen Monographie; Fukuyama, Das Ende der Geschichte – Wo stehen wir? München 1992. 11

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tesgeschichtlichen Hintergründe seiner Argumentation, die in seinem Buch deutlicher erkennbar waren als in dem zuerst veröffentlichten aufsehenerregenden Aufsatz von 1989. Fukuyama erwies sich bei näherem Hinsehen als überzeugter Hegelianer, der nicht nur die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen der Hegelschen Deutung der Weltgeschichte übernahm, sondern sich zugleich auf die exzentrische, wenn auch zeitweilig sehr einflussreiche Hegel-Interpretation des russisch-französischen Denkers und Hegelinterpreten Alexandre Kojève bezog15. Das alte hegelsche Diktum vom „Kampf um Anerkennung“ und von der die Geschichte der Menschheit in ihren unterschiedlichen Stadien bestimmenden Dialektik von „Herr und Knecht“ wird von Fukuyama aufgenommen und „als das zentrale Problem der Politik in Jahrtausenden menschlicher Geschichte“ angesehen. Mit dem Niedergang der autoritären Systeme aller Art sei am Ende „nur noch ein politisches Modell mit universalem Anspruch übrig geblieben“, nämlich „die liberale Demokratie, die Lehre von der Freiheit des einzelnen und der Souveränität des Volkes“, in welcher der Gegensatz von Herr und Knecht „durch universale und gleiche Anerkennung“ 16 ersetzt worden sei. Diesem Modell gehöre deshalb, maßgeblich unterstützt vom Fortschritt der Naturwissenschaften17, die Gegenwart und aller Voraussicht nach auch die Zukunft der gesamten Menschheit. Denn wenn – so eine grundlegende Annahme Fukuyamas – im Laufe der Zeit „immer mehr Gesellschaften mit unterschiedlicher Kultur und Geschichte ähnliche langfristige Entwicklungsmuster aufweisen sollten“ und sich die politischen Formen der höchstentwickelten Gesellschaften „immer mehr annähern und wenn sich die Vereinheitlichung der Menschheit im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung fortsetzen sollte“, – dann würde sich die jahrtausendealte Konflikthaltigkeit der zwischenstaatlichen Beziehungen gewissermaßen ins Nichts auflösen und nur noch als Relikt vergangener – oder in diesem Fall überwundener – Stadien der historischen Entwicklung erscheinen18. Es spricht für Kondylis, dass er dieser extrem verengten Perspektive auf die Weltgeschichte – eigentlich eine im akademischen Elfenbeinturm konstruierte philosophische Utopie universalistischer Wünschbarkeiten ohne realistische Anthropologie und ohne historische Tiefenschärfe – stets entschieden widersprochen hat, obwohl er bei Gelegenheit dem Denker Kojève seine Achtung durchaus nicht versagte19. Und es 15

Fukuyama, Das Ende der Geschichte (Anm. 14), S. 22 ff., 196 ff., 203 ff. u. passim; Bezug genommen wird auf Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la phénoménologie de l’esprit, professées de 1933 – 39 à l’Ecole des Hautes-Etudes réunies et publiées par Raymond Queneau, Paris 1947; deutsche Ausgabe: Hegel – Versuch einer Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Iring Fetscher, Stuttgart 1958. 16 Fukuyama, Das Ende der Geschichte (Anm. 14), S. 24, 79; vgl. auch 227. 17 Vgl. ebenda, S. 113 ff. 18 Ebenda, S. 445. 19 Siehe die knappen Bemerkungen zu Kojève in: Kondylis, Einleitung, in: Kondylis (Hrsg.): Der Philosoph und die Macht (Anm. 5), S. 29 f.; ein kurzer Ausschnitt aus Kojèves „Hegel“ ebenda, S. 187 – 194.

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spricht ebenfalls für Kondylis, dass er im, wie man heute sagen könnte, inzwischen vergangenen „weltpolitischen Traumland“ der 1990er Jahre, als man vom Niedergang der Nationalstaaten und vom Ende der modernen Souveränität, vom Aufstieg einer universalen „Weltgesellschaft“, gelegentlich auch von einem kommenden „Weltstaat“ oder doch wenigstens von einer künftigen unipolaren Hegemonie eines „freundlichen“ Weltreichs westlicher Prägung träumte, sich von derartigen Chimären nicht einfangen ließ, sondern auf einer realistischen, die konkreten Machtverhältnisse stets in Rechnung stellenden Lageanalyse beharrte. Die Vertreter des Westens sollten sich davor hüten, schrieb er schon 1992, „den unseligen hegelianisch-marxistischen Determinismus unter anderen Vorzeichen zu übernehmen, um beweisen zu können, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion ein Gebot der Weltvernunft … war“20. Und der Staat klassischer Prägung wurde in seiner Perspektive eben nicht durch eine zur „Übernationalität“ hin offene Ordnung, damit im Kern durch eine neue „Weltgesellschaft“ mit „supranationalen Herrschaftsstrukturen“ abgelöst21, sondern blieb, was er seit Beginn der Neuzeit war: die politische Grundinstitution derjenigen Völker, die sich aus eigener Kraft zur geeinten Nation konstituiert hatten. Dagegen sprach und spricht auch nicht die Tatsache vielfältiger politischer, wirtschaftlicher und militärischer Bündnisse und Zusammenschlüsse von Nationalstaaten und Staatengruppen überall auf der Welt22.

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Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 137. Aus der unendlichen Fülle der entsprechenden Literatur seit den 1990er Jahren seien hier nur genannt: Udo Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft (Beiträge zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, 166), Tübingen 2001, S. 15 ff. u. passim (dazu meine Rezension in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 10. 2001, S. 57); Martin Albrow, Das Globale Zeitalter [zuerst 1996], Frankfurt a. M. 2007, mit einem aufschlussreichen, die früheren eigenen Illusionen bereits deutlich relativierenden Anhang (ebenda, S. 319 – 350) und Verweisen auf die gleichgerichteten Thesen des Soziologen Ulrich Beck und seiner Idee einer vermeintlichen „zweiten Moderne“; sodann Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 2005: Hauke Brunkhorst, Legitimationskrisen. Verfassungsprobleme der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2012, bes. S. 63 ff., 165 ff., 173 ff. u. passim; zum (durchaus zweifelhaften) Konstrukt einer „Weltgemeinschaft“ im Völkerrecht der Jahre nach 1990/91 siehe vor allem Andreas Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht: eine Untersuchung zur Entwicklung des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung (Münchener Universitätsschriften/Reihe der Juristischen Fakultät, 159), München 2001; eine gute Übersicht über die Konzeptionen neuerer „Weltordnungspolitiken“ vermittelt Rüdiger Voigt, Weltordnungspolitik, Wiesbaden 2005, bes. S. 35 ff., 45 ff., 199 ff. u. passim. 22 Hierzu Hans-Christof Kraus, Nation und Nationalstaat. Historische Voraussetzungen und gegenwärtige Bedeutung, in: Carlo Masala (Hrsg.): Zur Lage der Nation. Konzeptionelle Debatten, gesellschaftliche Realitäten, internationale Perspektiven (Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, 36), Baden-Baden 2018, S. 9 – 27. 21

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II. Die Überlegungen über Gegenwart und Zukunft planetarischer Politik, die Panajotis Kondylis in den 1990er Jahren anstellte, gehören also einerseits in den Zusammenhang des „weltgesellschaftlichen“ Illusionismus jener Jahre, vom dem er sich – ab 1993/94 immer entschiedener – direkt oder indirekt abgrenzt, und andererseits in den Kontext eines in jenen Jahren sich weniger in Deutschland, dafür jedoch in den Vereinigten Staaten nur umso deutlicher artikulierenden neuen politischen Realismus, der allerdings weniger darauf hinauslief, die, wie es schien, nunmehr US-amerikanisch bestimmte Weltordnung als universales Friedensreich im Sinne einer Pax Americana – gewissermaßen als Neuauflage der spätantiken Pax Romana – zu deuten23, sondern die neue Lage lediglich als weitere Etappe im Kampf um den Vorrang als Weltmacht in einem Zeitalter neuer globaler Unsicherheiten nach dem Ende des Kalten Krieges aufzufassen24. Von sehr lobenswerten Ausnahmen einmal abgesehen25, waren viele Deutsche, von einer realistischen Politikanalyse aus naheliegenden Gründen weitgehend entwöhnt, kaum in der Lage, die weltpolitischen Wandlungen illusionslos neu zu erfassen und analytisch zu durchdringen, sondern sie wandten sich nur allzu bereitwillig jenen soeben knapp skizzierten universalistischen Träumereien zu, in der Hoffnung, dass eine vermeintlich grundsätzlich „böse“ Machtpolitik nunmehr endgültig der Vergangenheit angehören werde26. In diesem Kontext wirkten die Analysen von Kondylis, sein Buch über die „Planetarische Politik“ ebenso wie seine seit 1992 in verschiedenen deutschen Tageszeitungen veröffentlichten Beiträge zu weltpolitischen Themen27, wie ein eiskalter, aber letztlich sehr notwendiger Wasserguss auf die erhitzten Köpfe derjenigen, die bereits die künftige Ära eines dauernden universalen Friedensreiches anbrechen sahen. Und in mehr als einer (wenn auch nicht in jeder) Hinsicht haben sie ihre Aktualität bis heute nicht eingebüßt. Bereits in seinem 1991 publizierten Buch über den „Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“ hatte Kondylis den etwa ein Jahrhundert umfassenden langsamen, aber doch kontinuierlichen Wandel von der bürgerlichen Moderne zur massendemokratischen Postmoderne skizziert, durch den zum ersten Mal in der mensch23 Diese Naivität blieb leider wieder einmal vor allem den Deutschen vorbehalten, siehe etwa das Buch von Peter Bender, Weltmacht Amerika – Das Neue Rom, Stuttgart 2003 u. ö. 24 Diese Richtung vertrat vor allem Zbigniew Brzezinski, The Grand Chessboard. American Primacy and its Geostrategic Imperatives, New York 1997. 25 Zu nennen sind hier vor allem die vorzüglichen Analysen von Werner Link, Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert [1998], 3. Aufl. München 2001, der auch die Thesen des Außenseiters Kondylis zur Kenntnis genommen hat; vgl. ebenda, S. 32, 35, 189. 26 Zur wirkungsgeschichtlich sehr einflussreichen Charakteristik der vermeintlich „bösen“ Macht siehe die bekannten Ausführungen bei Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. v. Rudolf Marx, Stuttgart 1978, S. 36 f., 97, 139 u. a. 27 Siehe die Auflistung in Horst, Panajotis Kondylis. Leben und Werk (Anm. 1), S. 490 – 492.

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lichen Geschichte ein Zustand beseitigt wurde, „der für die Gestaltung des sozialen Lebens und nicht zuletzt der ethischen Vorstellungen ausschlaggebend war: die Knappheit der Güter“28. Die entscheidenden und die spätere Entwicklung prägenden Folgen dieses Wandels bestanden in fortgeschrittener (und weiter fortschreitender) Arbeitsteilung, einer sich stetig steigernden Atomisierung der Gesellschaft und schließlich einer zunehmenden sozialen Mobilität29. Wie bereits frühere gesellschaftliche Ordnungen ist jedoch auch die hieraus hervorgegangene massendemokratische Lebensform der Gegenwart von inhärenten, nicht zu ignorierenden Gegensätzen gekennzeichnet – in diesem Fall besonders von zwei grundlegenden Widersprüchen: erstens „zwischen erklärten Gleichheitsprinzipien und faktischer Herrschaft von Eliten“, und zweitens „zwischen Leistungsprinzip oder technischer Rationalität überhaupt und den hedonistischen Einstellungen“30 der meisten Menschen, hervorgerufen durch die neu entwickelten Reize und Möglichkeiten eines allgemeinen Massenkonsums. Die neuen Realitäten und Existenzformen der massendemokratischen Postmoderne bewirken jedoch in keinem Fall – und in der gegenteiligen Behauptung sieht Kondylis einen entscheidenden Denkfehler „postmoderner“ politischer Theorie – eine grundlegende Wandlung der conditio humana, denn die Verschiedenheit der Menschen und ihrer jeweiligen Interessen bleibt als Grundfaktor, ja als Voraussetzung ihrer sozialen Existenz auch in der Gegenwart – selbst unter Bedingungen der „Vermassung“ – bestehen, und das gilt im negativen ebenso wie im positiven Sinne31. Anders gewendet bedeutet dies, dass auch die genuine Konflikthaltigkeit politischer Existenz, die sich jeweils aus bestimmten sozialen und politischen Konstellationen heraus entwickelt, in der Gegenwart nicht etwa verschwindet, sondern erhalten bleibt. Denn die Ähnlichkeit vergangenen und gegenwärtigen menschlichen Verhaltens beruht, wie Kondylis weiter sagt, nicht zuletzt „auf bestimmten Konstanten, unter denen das Streben nach Selbsterhaltung durch Machtsteigerung den Ausschlag gibt. Diese Konstanten aktualisieren sich aber nur in konkreten geschichtlichen

28 Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991, S. 189; vgl. hierzu auch Walther, Die Parteilichkeit der Objektivität (Anm. 8), S. 230 ff. u. passim, sowie Horst, Panajotis Kondylis. Leben und Werk (Anm. 1), S. 377 ff. 29 Vgl. Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform (Anm. 28), S. 192 ff. 30 Die Zitate ebenda, S. 201. 31 Ebenda, S. 289 f.: „Es liegt … auf der Hand, daß es in unserem Jahrhundert wie in den vergangenen auch Menschen gibt, die sich von ihrem Charakter und von ihren Interessen her voneinander unterscheiden, die auf den verschiedensten Gebieten aktiv sind und zu den verschiedensten Beziehungen zueinander kommen, die schließlich Gefühle und Gedanken haben und diesen auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln Ausdruck verleihen“.

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Lagen und nur in solchen Lagen haben sie konkreten Bestand und Inhalt. Auf die Erfassung dieser Lagen kommt es schließlich an …“32. Auch das vermeintliche Ende der Ideologien, der Zerfall der politischen Richtungen, wie sie sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten, wird nach Kondylis keineswegs „das Ende der Machtkämpfe zwischen sozialen Gruppen, Nationen und Staaten herbeiführen“33. Und selbst wenn es tatsächlich so etwas wie ein – gelegentlich wohl etwas vorschnell verkündetes – „Ende der Ideologien“34 geben sollte, sei es doch immer noch zu früh, hieraus gleich so etwas wie „den ewigen Frieden auf Erden zu stiften“, denn alle in diesem Kontext beschworenen „Ideale und Werte“ seien ihrerseits wiederum interpretationsbedürftig und müssten „infolgedessen unter gegebenen Umständen zum Zankapfel werden“, denn: „Was Vernunft, Konsens oder Gerechtigkeit heißen soll, muß jedesmal von einer Instanz verbindlich definiert und inhaltlich konkretisiert werden“. Und dasselbe gilt nach Kondylis ebenfalls für den vielbeschworenen Pluralismus, denn im massendemokratischen Zeitalter gibt es „Vielfalt und Vielheit …nur da, wo eben Raum für Viele und Vieles vorhanden ist, und daher muß der Mangel an solchem Raum den Pluralismus als Prinzip und als Praxis beeinträchtigen oder aufheben“35. Die „postmoderne“ Gegenwartsgesellschaft erweist sich damit, so das Fazit, im Vergleich zu modernen und vormodernen Gesellschaftsformen als keineswegs weniger konflikthaltig.

III. Die nach 1990/91 neu entstandene Lage erwies sich also in wenigstens zweierlei Hinsicht als nicht ganz so neu, wie viele der Zeitgenossen jener Jahre dies empfinden mochten: Zum einen war mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes keineswegs die Vorform eines neuen – vielleicht sogar unmittelbar bevorstehenden – konfliktfreien Weltfriedensreichs angebrochen, und zum anderen hatte mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten des ehemals von der Sowjetunion beherrschten Ostblocks die Utopie ihre Funktion als wirkungsmächtige Kraft des Politischen noch keineswegs vollständig verloren und war deshalb auch nicht verschwunden. In seinem Beitrag für die Festschrift für Hans-Joachim Arndt36 hat Kondylis 1993 das Argument, „der Zusammenbruch des Kommunismus sei letztlich auf die Unrealisier32

Ebenda, S. 291. – Zum Verständnis des dieser Auffassung zugrundeliegenden Denkansatzes bei Kondylis siehe auch Kondylis, Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage, Stuttgart 1984, bes. S. 14 ff. u. passim. 33 Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform (Anm. 28), S. 293. 34 Seinerzeit stichwortgebend war bekanntlich David Bell, The End of Ideology – On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, New York 1960. 35 Die Zitate: Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform (Anm. 28), S. 295 f. 36 Panajotis Kondylis, Utopie und geschichtliches Handeln, in: Beismann/Klein (Hrsg.): Politische Lageanalyse (Anm. 11), S. 163 – 175.

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barkeit der Utopie zurückzuführen“37, mit nachvollziehbaren Argumenten zurückgewiesen. Insofern bedeutete das Ende des Kommunismus (oder wie man seinerzeit auch sagte: des „real-existierenden Sozialismus“) nach Kondylis’ Diagnose „keinen endgültigen Abschied der Weltgeschichte von der Utopie, sondern er ist die Niederlage einer großen Nation, die sich in ihrem Kampf um Weltmachtstellung und Weltherrschaft der Utopie bedient hat – genauso wie jede andere moderne Weltmacht auch als Verkünder universalgeschichtlicher Ideen auf den Plan treten muß“. Dies gelte auch dann, wenn in der „massendemokratischen“ Gegenwart die andere, eben die „westliche“ Utopie sich als die erfolgreichere erwiesen habe – auch wenn diese ihre eigenen „relativen Zielsetzungen“ eigentlich nur „unmerklich“ durchgesetzt habe und deshalb in der Weltsituation nach 1991 als „geschichtlich erschöpft und ohne erkennbare Funktion“38 erscheine. Und er schließt auch die Möglichkeit einer „negativen Utopie“ in der Form von „Ideologien, die harte Disziplinierungen und Hierarchien legitimieren würden“, keineswegs aus, jedenfalls dann nicht, wenn die „Bewegung der planetarischen Geschichte in eine Sackgasse hineingeraten“ würde, in der sich politisches Handeln auf einem dicht bevölkerten Planeten letztlich nur noch auf „die Verteilung von knapp gewordenen materiellen und ökologischen Gütern“39 beschränkte. Die besondere welthistorische Bedeutung des sowjetischen Kommunismus und seiner Ableger und politischen „Satelliten“ sah Kondylis, trotz der offenkundigen politischen Niederlage jenes Systems in den Jahren 1989 bis 1991, in dessen nicht zu bestreitendem Beitrag zu einer beispiellosen „Verdichtung des Netzes planetarischer Politik“ und zur weltweiten „Nivellierung aller aus der Vergangenheit bekannten sozialen Hierarchien durch die Massendemokratie“40. Diese wiederum wurde allerdings durch einen sich konsequent weiterentwickelnden, auf Massenkonsum setzenden universalen Kapitalismus verwirklicht und trug am Ende folgerichtig – eben als die erfolgreichere Variante eines massendemokratisch angelegten Sozial- und Gesellschaftssystems – über die einstmals ältere Utopie den Sieg davon. Hierbei handelt es sich jedoch nur um eine von mehreren historischen und politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungstendenzen planetarischer Politik nach 1991. Will man den eigentlich „planetarischen“ Charakter der modernen Politik angemessen verstehen, dann müssen vor allem deren historische Voraussetzungen seit dem 16. Jahrhundert genauer in den Blick genommen werden, denn in eben dieser Zeit kamen die ersten europäischen Mächte auf, deren wirtschaftliche und politische Interessen sich „auf jeden Ort des Planeten ausdehnten oder wenigstens aus37

Ebenda, S. 167. Alle Zitate ebenda, S. 174. 39 Ebenda, S. 175, 174. 40 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 123, siehe auch ebenda, S. 121 – 138, sowie Kondylis, Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001, S. 13 – 43. 38

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dehnen konnten, falls die Konkurrenz oder die Eigendynamik der Expansion dies erforderten“41. Und das bedeutet: Nicht etwa die Errichtung und Durchsetzung universeller Normen oder globaler Ordnungsvorstellungen stand am Beginn jener auf den ganzen Planeten bezogenen Politik, sondern ganz bestimmte, konkret zu benennende und geographisch präzise zu lokalisierende Mächteinteressen, die sich wiederum in indirekter oder bereits direkter Konkurrenz zu anderen Mächteinteressen entwickelten und die sich in den Formen ihrer jeweiligen Expansion auf dem Globus artikulierten, und zwar während der gesamten Neuzeit42. Gleich am Beginn seines Buches über „Planetarische Politik“ stellt Kondylis unmissverständlich klar, was er unter diesem Begriff versteht: Planetarische Politik bedeutet, erstens, gerade keine „Unterwerfung des politischen Handelns … unter bestimmte Normen, die universelle Anerkennung finden“, sondern es verhält sich umgekehrt: „Normen mit universellem Charakter entstehen als ideelle Begleiterscheinungen von politischen Phänomenen planetarischen Umfangs und sollen den Verkehr zwischen planetarischen Mächten zumindest in Zeiten regeln, die nach dem jeweils allgemeinen Empfinden normal sind. Diese Normen werden von den Mächten festgesetzt, die planetarische Politik in dieser oder jener Intensität treiben können, also von den Subjekten und nicht von den Objekten planetarischer Politik“. Und zweitens, so Kondylis weiter, bedeutet planetarische Politik ebenfalls nicht, „daß alle Nationen, Völker oder Staaten das planetarische Geschehen in seinem ganzen Umfang aktiv gestalten oder daß diejenigen, die sich an der Gestaltung dieses Geschehens aktiv beteiligen, es gleichermaßen und in gleicher Weise tun. Planetarische Politik schafft aber eine Lage, in der sich alle Staaten gezwungen sehen, ihr politisches Verhalten mehr oder weniger, direkt oder indirekt eingedenk der Konstellation der Kräfte auf dem ganzen Planeten festzulegen, obwohl der Aktionsradius der Mächte unterschiedlich groß ist“, und genau deshalb müssen auch kleinere, regional beschränkt agierende Mächte stets „die planetarische Konstellation zumindest insofern im Auge behalten, als eine oder mehrere planetarische Mächte vitale Interessen in der betreffenden Region haben“43. Die planetarische Politik des 20. Jahrhunderts ist – vor allem auch als Folge der nach dem Zweiten Weltkrieg mit Macht einsetzenden Dekolonialisierung – durch die Merkmale politischer Demokratisierung und ökonomisch-sozialer Egalisierung im Weltmaßstab gekennzeichnet, von der die alten, von den früheren Kolonialmächten etablierten Machtordnungen in zunehmendem Maße überlagert, jedoch nicht vollständig aufgehoben wurden. Die, wie Kondylis sagt, „unstabilen Massengesellschaf41 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 3; zur historischen Entwicklung siehe auch die Ausführungen ebenda, S. 6 ff. 42 Die (von Kondylis hier nicht explizit erwähnte) spanisch-portugiesische Weltkonkurrenz des späten 15. und des 16. Jahrhunderts ließe sich in ihrer expansiven Dynamik als sprechendes Beispiel für diese These heranziehen; siehe hierzu statt vieler die ausführliche Gesamtdarstellung von Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415 – 2015, München 2016, S. 113 – 176, 291 – 413. 43 Die Zitate: Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 3 f.

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ten“ der ehemals europäisch kolonisierten, jetzt unabhängigen Staaten samt der hier stattfindenden Bevölkerungsexplosion und der nicht zuletzt hierdurch bewirkten „in weiten Teilen des Planeten herrschende[n] Anomie“44 haben bestimmte universale Problemlagen entstehen lassen, von denen eine gegenwärtige und ebenfalls eine künftige planetarische Politik immer noch geprägt ist und noch lange Zeit sein wird. Als ein weiteres Signum der massendemokratischen Postmoderne nach dem Ende der west-östlichen Weltteilung identifiziert Kondylis schließlich auch die Wunschvorstellung einer konsequenten „Ökonomisierung des Politischen“45, die im Übrigen beiden vormals miteinander konkurrierenden politischen Systemen gemeinsam war46. Wie alle Wunschvorstellungen hat sich auch diese letzten Endes nicht realisieren lassen – schon deshalb nicht, weil sie die ursprüngliche und im Grunde auch wesensgemäße „Verflechtung des Ökonomischen mit Macht- und Herrschaftsfaktoren“ weitgehend ignorierte, denn Wirtschaft ist eben, so Kondylis zutreffend, „nicht weniger als ,Politik‘ oder ,geistiges Leben‘ eine Frage von konkreter Gruppierung von Menschen, von konkreten Beziehungen konkreter Menschen zueinander“. Nicht mehr als Wunschvorstellung, sondern als gegebenes Faktum identifiziert Kondylis eine, wie er bemerkt, „ganz anders beschaffene Ökonomisierung des Politischen“47 – die er als solche vielleicht präziser und angemessener als eine neuartige „Politisierung des Ökonomischen“ hätte bezeichnen können: Gemeint ist der für die Politik in „massendemokratischen“ Gesellschaften bestehende unmittelbare Zwang, sich ständig und systematisch mit wirtschaftlichen Fragen befassen zu müssen, um einen Legitimitätsverlust der jeweils bestehenden politischen Ordnung nach Möglichkeit zu verhindern. Der Grund hierfür liegt darin, dass eben nicht mehr wie in vormodernen Zeiten und noch am Beginn der Moderne, nach einer prägnanten Formulierung Heinrich von Treitschkes zu Ende des 19. Jahrhunderts, „die Millionen ackern, schmieden und hobeln müssen, damit einige Tausende forschen, malen und dichten können“48, 44

Die Zitate ebenda, S. 15. Vgl. ebenda, S. 20 ff. 46 Ebenda, S. 21: „Das gemeinsame dogmatische Bekenntnis von Liberalismus und Marxismus zum Primat von Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber Politik und Staat schlug sich in den sozialen Utopien beider Richtungen nieder, die das Thema des Dahinwelkens von Staat und Politik variierten. Dem liberalen Wunschbild von der Ablösung des Krieges durch den Handel innerhalb einer einheitlichen Welt, in der teils die unsichtbare Hand, teils universalethische Prinzipien obwalten würden, entsprach die marxistische Zukunftsvision einer klassenlosen Gesellschaft, in der die wirtschaftenden Subjekte sich selbst verwalten würden, ohne Politik im traditionellen Sinne treiben zu müssen. Es liegt auf der Hand, daß beide Entwürfe im Glauben an die Möglichkeit einer Ökonomisierung des Politischen, d. h. eines Aufgehens der politischen Funktionen in den ökonomischen gründeten und daß dieser Glaube seinerseits auf der Annahme von der Eigenständigkeit und der sozialen Priorität des Ökonomischen beruhte“. 47 Die Zitate ebenda, S. 22. 48 Heinrich von Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hrsg. v. Max Cornicelius, Bde. I – II [1897], 5. verb. Aufl. Leipzig 1922, hier Bd. I, S. 51. 45

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sondern dass man es heute mit einem „unerhörte[n] … Novum der hochtechnisierten industriellen und Dienstleistungsgesellschaft im Vergleich zu den früheren Agrargesellschaften“ zu tun hat: „nämlich Menschenmassen in den reichlichen Genuß von Nahrung und Energie kommen zu lassen, die derlei nicht unmittelbar produzieren“. Und dies wiederum darf nicht „unkontrollierten Improvisationen“ überlassen werden, denn: „Es wird zu einem Politikum ersten Ranges, und keine massendemokratische Politik kann Bestand haben, wenn sie die elementare Daseinsvorsorge nicht zu garantieren vermag“49. In diesem Zusammenhang spricht Kondylis sogar von einer „Biologisierung“ des Politischen – jedoch nicht etwa in der Bedeutung der Foucaultschen „Biopolitik“ oder ähnlicher Konzepte50, sondern im Sinne der konkreten Sicherung des biologischen Überlebens von Menschen und Menschengruppen angesichts zunehmender Knappheit an lebensnotwendigen Gütern51.

IV. Die geopolitische Kartierung der durch eine neue planetarische Politik bestimmten Welt nach dem Ende der Ost-West-Spaltung stellte sich für Kondylis zu Beginn der 1990er Jahre als eine „außerordentliche geschichtliche Konstellation“ dar, die darin bestand, dass es seinerzeit tatsächlich nur noch eine einzige Großmacht auf der ganzen Welt gab, die nach seinen Worten „die Bezeichnung ,planetarisch‘ voll und ganz verdient: die Vereinigten Staaten“, denn nur diese verfügten nunmehr als einzige „über ein dichtes und weltweites strategisch-militärisches Netz sowie über die ganze Skala der Logistik und der Waffen, die Eingriffe in jede Lage und jede Stelle des Planeten mit den jeweils geeigneten Mitteln gestattet“52. Dieses einer einzigen Weltmacht gehörende Monopol auf die Möglichkeit eines globalen politischen Aktionsraumes könnte deshalb wohl kaum zur Herausbildung von 49

Die Zitate: Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 24. Zu Foucault hat sich Kondylis an einer Stelle knapp geäußert: Kondylis, Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Der Philosoph und die Macht (Anm. 5), S. 33 f. – Ohne Bezugnahme auf diese kritischen Äußerungen über Foucaults Verständnis von „Macht“ hat Sebastian Edinger die Konzepte beider Autoren verglichen: Sebastian Edinger, Von der Gouvernementalität (Foucault) zur planetarischen Biopolitik (Kondylis)? Ein klassisch gewordenes Konzept und seine unbekannte Alternative, in: Walter Reese-Schäfer/Samuel Salzborn (Hrsg.): „Die Stimme des Intellekts ist leise“. Klassiker/innen des politischen Denkens abseits des Mainstreams (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, 30), Baden-Baden 2015, S. 325 – 349. 51 Vgl. Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 50: „Reduzierte sich das Politische aber in Zeiten höchster Not auf die Güterverteilung, so muß eine Biologisierung desselben in doppelter Hinsicht eintreten: nicht nur wäre das (direkte oder indirekte) Ziel des politischen Kampfes ein biologisches, nämlich das Überleben in mehr oder weniger engerem Sinne, sondern auch die Unterscheidungsmerkmale, die dabei als Gruppierungskriterien dienen würden, wären höchstwahrscheinlich biologischer Natur, nachdem die traditionellen ideologischen und sozialen Unterscheidungen … hinfällig geworden wären“. 52 Ebenda, S. 41. 50

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„Großräumen mit Interventionsverbot für andere Mächte“53 führen, wie Kondylis unter Aufnahme von Carl Schmitts bekannter Formulierung einer deutschen Monroedoktrin zu Beginn des Zweiten Weltkriegs anmerkt54, sondern jenes Modell würde von einer Großmacht, „die den eigenen Großraum bereits besitzt und darüber hinaus Möglichkeiten planetarischen Handelns hat, die sie nicht durch Interventionsverbote anderer Großmächte begrenzt sehen will“55, aus genau diesem Grund verhindert werden – einmal ganz davon abgesehen, dass es unter den gegebenen Bedingungen kaum im Interesse einer anderen Großmacht mit geringeren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Potentialen liegen könnte, das von vornherein überlegene US-amerikanische Monopol brechen zu wollen56. Zudem dürften wohl ebenfalls (wie man hinzufügen könnte) die Beispiele Deutschlands und Japans abschreckend wirken, die beide während des Zweiten Weltkriegs vergeblich eine wesentlich gegen die USA gerichtete Großraumbildung versuchten und dabei zu ihrem eigenen Schaden das – bereits damals im Kern vorhandene – amerikanische Potential für eine global und damit planetarisch agierende Politik massiv unterschätzten; welchen Preis sie am Ende dafür zahlen mussten, ist bekannt. Kondylis hält allerdings das Aufkommen „verschiedener Mittelmächte mit regionalem hegemonialem Anspruch“ für möglich, deren Aspirationen „das Ihrige zur Regionalisierung planetarischer Politik in Form eines gespannten Nebeneinanders von mehr oder weniger heterogenen größeren Staaten beitragen“ könnten, die als solche vornehmlich an der Gestaltung der eigenen „geopolitische[n] Umgebung“ interessiert wären und dabei wiederum kleinere Mächte „um sich gruppieren“ könnten, jedoch „ohne dadurch eine radikale Änderung im Gesamtbild herbeizufüh-

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Ebenda, S. 43, vgl. S. 45. Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht [1939/41], Berlin 1991. 55 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 45. 56 Vgl. ebenda, S. 45 f.: „Eine wirtschaftliche Großmacht, die den Aufbau eines in jeder Hinsicht souveränen Großraums in Angriff nehmen würde, müßte das planetarische politischmilitärische Netz der Vereinigten Staaten um ein ziemlich großes Stück auftrennen und dann nicht bloß dieses Stück durch eigenes politisch-militärischen Potenzial ersetzen, sondern darüber hinaus imstande sein, über die Grenzen des Großraums hinaus ihre Anwesenheit sowohl in normalen als auch in unruhigen Zeiten bemerkbar zu machen; eine Großraummacht müßte also mehr oder weniger auch planetarische Macht sein. Die heutigen wirtschaftlichen Großmächte werden sich indes nicht so schnell und nicht so leicht in der Lage dazu befinden, und zwar nicht so sehr deshalb, weil sich dies technisch bei der angemessenen Anstrengung nicht bewerkstelligen läßt, sondern eher aus der Zweideutigkeit ihrer Position heraus. Sie sind groß … während des Kalten Krieges und im Treibhaus der Vereinigten Staaten geworden … und stehen noch immer unter deren militärischem Schirm. Sie befürchten weiterhin, daß die totale oder teilweise Auftrennung des amerikanischen politisch-militärischen Netzes unberechenbare Gefahren heraufbeschwören könnte; daher bleiben sie direkt oder indirekt auf die Vereinigten Staaten angewiesen, um einen (wirtschaftlichen) Großraum aufzubauen, dessen politisch-militärische Verselbständigung zum Konflikt mit eben diesen Vereinigten Staaten führen müßte“. 54

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ren“57 – also im Klartext: ohne die fundamentalen Interessen der derzeit einzigen Weltmacht mit globalem Hegemonialanspruch, die der Vereinigten Staaten, zu tangieren. Die nahezu unangreifbare Dominanz nur noch einer einzigen Weltmacht bedeutet nach Kondylis jedoch keineswegs ein „Ende der Staatlichkeit“, wie es – wiederum von Carl Schmitt – im Jahr 1963 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges postuliert worden war58. Kondylis hält dieser schon seinerzeit umstrittenen Diagnose59 zutreffend entgegen, dass von einer tatsächlichen Relativierung der „klassischen“ Staatlichkeit während der Zeit der Ost-West-Spaltung60 keineswegs auf ein „Ende der Staatlichkeit an sich und überhaupt geschlossen werden dürfte“61. Dagegen spreche auch keineswegs die „heutige Konstellation“ eines, wie er sagt, „Überhandnehmen[s] des menschenrechtlichen Universalismus“ und der Wirkung internationaler Organisationen sowie der bestehenden intensiven weltwirtschaftlichen Verflechtungen. Die Vergangenheit habe, zum einen, immer wieder aufs Neue gezeigt, in welch starkem Maße sich universalistisch-menschenrechtliche und ähnliche Prinzipien „selektiv handhaben und in machtpolitische Interessen bestimmter Staaten gegen andere umfunktionieren lassen“ – mit dem Ergebnis, dass die „Staatlichkeit“ der Unterlegenen geschwächt, die der Überlegenen jedoch gestärkt werde62. Und zum anderen komme dem Staat auch weiterhin die Aufgabe zu, die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft festzulegen sowie in bestimmter Lage auch einem drohenden allgemeinen Ordnungszerfall aktiv entgegenzutreten: „Diese Verbindung von wirtschaftlichen Funktionen mit der gewaltigen künftigen Aufgabe der Eindämmung der Anomie wird in der anbrechenden Phase planetarischer Politik die Grundlage abgeben, auf der sich Staatlichkeit in älteren und neueren Formen weiterhin behaupten wird“63. Der gerade zu Anfang der 1990er Jahre von manchen westlichen Autoren immer wieder totgesagte – oder doch wenigstens als politisches Auslaufmodell angesehe57

Die Zitate ebenda, S. 46 f. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1979, S. 10 (Vorwort „März 1963“): „Der europäische Teil der Menschheit lebte bis vor kurzem in einer Epoche, deren juristische Begriffe ganz vom Staate her geprägt waren und den Staat als Modell der politischen Einheit voraussetzten. Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende“. – Umfassend zur neueren Debatte um Staat und „Ende der Staatlichkeit“: Stefan Haack, Verlust der Staatlichkeit (Jus Publicum, 164), Tübingen 2007. 59 Dazu Marcus Llanque/Herfried Münkler, „Vorwort“ von 1963, in: Reinhard Mehring (Hrsg.): Carl Schmitt – Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 9 – 20, hier S. 18 ff. 60 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 30: „Im Kalten Krieg schien die Staatlichkeit von beiden Seiten her unter Beschuß zu geraten, denn beide führten ihren Kampf im Namen universalistischer und internationalistischer bzw. freiheitlicher und proletarischer Prinzipien, denen die Loyalität des einzelnen mehr gelten sollte als dem eigenen (gleichviel, wie beschaffenen) Staat“; siehe auch die Ausführungen ebenda, S. 31 ff. 61 Ebenda, S. 30. 62 Ebenda, S. 32 f. 63 Ebenda, S. 37. 58

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ne – Nationalstaat hat seine Bedeutung und seine Funktion nach Kondylis’ Einschätzung auch in der Gegenwart und absehbaren Zukunft noch keineswegs verloren. Das zeigt bereits ein kurzer Blick auf die jüngere Zeitgeschichte: Der antikoloniale Nationalismus führte nach 1945 ebenso zur Entstehung neuer Nationalstaaten wie der Zerfall der sowjetisch dominierten Großräume in den Jahren 1990/91. Der Widerstand gegen diverse Formen der Fremdbestimmung64 und ebenso das Bestreben, für die eigene Nation „einen festen und unumstrittenen Platz innerhalb der sich herausbildenden Weltgesellschaft zu erkämpfen“65, haben gerade zu Anfang der 1990er Jahren zu einer nur auf den ersten Blick erstaunlichen Renaissance des Nationalstaats geführt. Auch das Bemühen um Abgrenzung vom „Westen“, nicht nur von westlichen Lebensformen, auch von dessen menschenrechtlichem Universalismus, habe sich forcierend auf die Bildung neuer Nationalstaaten oder auch bestimmter nationalistischer Ideologien ausgewirkt. Kondylis verweist in diesem Zusammenhang nicht nur auf China, sondern ebenfalls auf den Iran, dessen spezifischer national-antiwestlicher und zugleich islamistischer Traditionalismus „nicht einfach eine Verteidigung der bedrohten heimatlichen Sitten und Bräuche“ darstelle, sondern zugleich „aggressiv als weltanschaulich fundierte Kampfansage an die westliche Gesellschaft, ihre Lebensweise und ihre Werte“66 auftrete und sich damit ebenfalls als eine bestimmte Form der nationalen Selbstbehauptung im Rahmen einer sich neu ordnenden Welt erweise. Die Notwendigkeit nationalstaatlicher Selbstbehauptung ergibt sich für Kondylis – in modifizierender, teils auch korrigierender Anknüpfung an frühere eigene Überlegungen zum Problem des modernen Krieges67 – nicht zuletzt aus der brisanten Tatsache einer „Demokratisierung des Krieges auf planetarischer Ebene durch das Aufweichen oder die Beendigung von militärtechnischen Monopolen“. Faktisch bedeutet dies, dass die Zersplitterung der politischen Kräfte nach dem Kalten Krieg folgerichtig in eine Aufwertung derjenigen Waffensysteme mündet, „die sich in sehr unterschiedlichen lokalen Situationen mit hoher Präzision einsetzen lassen“. Das gilt nicht nur für die Mächte mittlerer politischer Größenordnung, sondern, mehr noch, für die Vereinigten Staaten als diejenige „planetarische Macht, die den Krieg gewonnen hat“ und die deshalb im Rahmen der neu entstandenen globalen Lage – „will sie weiterhin planetarische Macht bleiben“ – ein neues militärisches Konzept perfektionieren muss: nämlich „die Fähigkeit, in jeden Konflikt mit der jeweils geeigneten Ausrüstung einzugreifen“68. Damit hat Kondylis zugleich, wenn auch nur in knapper Andeutung und ohne den später sehr bekannt gewordenen Begriff zu verwenden, das Problem der (etwa von Martin van Creveld oder Herfried

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Dazu ebenfalls Kraus, Nation und Nationalstaat (Anm. 22), S. 21 ff. Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 63 66 Ebenda, S. 68. 67 Vgl. Kondylis, Theorie des Krieges (Anm. 4), S. 142 ff. 68 Die Zitate Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 78 f.

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Münkler so bezeichneten) „asymmetrischen Kriege“ aufgegriffen69, das eben dann entstehen kann, wenn, wie Kondylis sagt, eine mittlere Macht, „die einem allseitigen Kampf mit der Großmacht ohnehin nicht gewachsen ist, ihr dennoch solchen Schaden zufügen [kann], daß dies als Abschreckung wirkt“70. Die Bewältigung der Probleme, die künftig als Folgen einer möglichen globalen Anomie zu erwarten wären, könnte, so seine abschließende Feststellung, „sowohl die Struktur der künftigen Weltordnung als auch den Charakter der künftigen Kriege beträchtlich beeinflussen“71. Die geistige Wendung zu diversen Formen eines ethischen Universalismus, die zu Anfang der 1990er Jahre ebenfalls wesentlich durch die weltpolitische Entwicklung mit bewirkt wurde, hat Kondylis einer in der Sache ebenso scharfen wie argumentativ ins Schwarze treffenden Kritik unterzogen72. Die spezifisch deutschen Voraussetzungen jener dominanten intellektuellen Haltung, „die ein mehr oder weniger eindeutiges Bekenntnis zur Ethik und Vernunft in diesem Land zur Pflichtübung gemacht haben“73, deutet Kondylis hier lediglich knapp an (wenn auch in einer für alle Kenner unmissverständlichen Weise). Das doppelte argumentative Defizit dieses Universalismus benennt er ebenfalls mit aller Klarheit, wenn er zum einen dessen konsequentes „Verwischen der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen“74 und zum anderen wiederum dessen „Loslösung von der empirischen Anthropologie und der Geschichte“ anführt und besonders sein Erstaunen darüber ausdrückt, dass sich „heutige universalistische Ethik keine ernsthaften, auch theoretisch artikulierten Sorgen über die Fähigkeit des Menschen zu machen [scheint], der dunkleren Schichten seiner Existenz dauerhaft Herr zu werden“75. Die allgemeine Ausbreitung einer universalistischen Ethik, wie sie wenigstens zu Anfang der 1990er Jahre zu beobachten war, bringt Kondylis in unmittelbaren Zusammenhang mit der allgemeinen politisch-sozialen Entwicklung; jene Denkform bilde, merkt er an, „in demselben Sinne und Ausmaße eine Begleiterscheinung der fortschreitenden Vereinheitlichung des Weltmarktes und der planetarischen Politik wie etwa die allmähliche Standardisierung von wirtschaftlichen und juristischen 69 Vgl. hierzu statt vieler (mit einer Fülle weiterer Hinweise) nur die gründliche Darstellung der unterschiedlichen Theorien und der Problematik bei Lukas von Krshiwoblozki, Asymmetrische Kriege: Die Herausforderung für die deutsche Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert, Marburg 2015, bes. S. 54 ff. u. passim. 70 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 82. 71 Ebenda, S. 89. 72 Ebenda, S. 105 – 120. 73 Ebenda, S. 106. 74 Ebenda, S. 108; hier findet sich ebenso eine sehr deutliche Kritik (ohne den Namen zu nennen) an Habermas‘ Kommunikationstheorie, der Kondylis vorwirft, sie werde „als wissenschaftliche Theorie solange nichts taugen, wie sie das nicht leistet, was man sinnvollerweise von jeder wissenschaftlichen Theorie erwarten darf: daß sie nämlich zuerst jene Phänomene erklärt, die ihr widersprechen“ (ebenda). 75 Ebenda, S. 108 f.

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Regeln oder Gepflogenheiten“. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellten jene „universalethischen Gemeinplätze einen Teil der sich gerade herausbildenden lingua franca dar, und wer sie verbreitet, hat Chancen auf einen raschen internationalen Erfolg“76. In politischer Hinsicht freilich könnte sich – auch das deutet Kondylis hier nur knapp an – der ethisch-menschenrechtliche Universalismus im Zeichen kommender Verteilungskrisen sehr anders auswirken als von seinen Urhebern eigentlich beabsichtigt77. In der Tat: „Die Dinge nehmen ihren Lauf, und dieser Lauf wird durch Ideen … viel weniger bestimmt als die Produzenten und Konsumenten von Ideen glauben oder glauben machen wollen“78.

V. Nach seinen in den Jahren 1991/92 konzipierten und niedergeschriebenen Reflexionen, die 1992 in dem Band über „Planetarische Politik“ veröffentlicht wurden, setzte Panajotis Kondylis seine Überlegungen zur zeitgenössischen Politik und deren künftigen Möglichkeiten wie auch Gefahren bis zu seinem Tod sporadisch weiter fort; seine zwischen 1993 und 1997 verfassten und publizierten Aufsätze und Artikel erschienen jedoch – in einer von ihm noch zu Lebzeiten vorbereiteten Form – erst nach seinem Tod79. In diesen Texten greift er die zentralen Themen des ersten Bandes noch einmal auf, indem er sie vertieft, variiert, erweitert und gelegentlich (wie noch zu zeigen sein wird) auch korrigiert. Unter den von ihm als Klassiker herangezogenen Denkern trat in seiner Spätphase vor allem Thukydides in den Vordergrund, über den Kondylis im 1998 geschriebenen Vorwort für seine politischen Aufsätze – einem seiner letzten Texte – anmerkt, dessen „klassische politische, soziale und historische Analyse“ liefere uns „bis heute hinreichende Werkzeuge, um in die Tiefe zu gehen und die Dinge nüchterner zu betrachten“80. Die auf plakativ-universalistische Zielsetzungen gerichtete Politik der ehemals – oder bereits wieder – „westlichen“ Mächte unterzieht Kondylis auch jetzt und weiterhin einer scharfen, an den politischen Realitäten und der konkreten Lage orientierten Kritik. Das betrifft vor allem den Anspruch auf Einhaltung der Menschenrechte im Bereich der internationalen Politik, denn eben jene „Menschenrechte“ sind, wie er 76

Die Zitate ebenda, S. 111 f. Ebenda, S. 119 f.: „Es ist … nicht ausgeschlossen, daß die Reduktion des Menschen auf sein bloßes Menschsein eine Epoche einleiten und begleiten wird, in der die Menschen gegeneinander werden um Güter kämpfen müssen, die für das nackte Überleben der Tierart ,Mensch‘ absolut notwendig sind – im schlimmsten Fall um Luft und Wasser“. 78 Ebenda, S. 120. 79 Kondylis, Das Politische (Anm. 40); die Edition der hier erneut abgedruckten, insgesamt neunzehn Texte aus den Jahren 1993 bis 1997 besorgte Markus Käfer (vgl. ebenda, S. 6). 80 Das Vorwort: ebenda, S. 7 – 12, die Bemerkung über Thukydides S. 11; zu Thukydides’ Bedeutung für Kondylis siehe ebenfalls die abschließenden Bemerkungen unten, Abschnitt VIII. 77

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einwendet, realpolitisch gesehen oftmals kaum etwas anderes als „politisches Instrument innerhalb einer planetarischen Lage, deren Dichte zwar zum Gebrauch universalistischer Ideologeme zwingt, in der aber große Nationen weiterhin die verbindliche Interpretation dieser Ideologeme bestimmen“; insofern müsse sich der Streit hierüber in eine Kontroverse über dasjenige verwandeln, was die Menschen „jeweils für die eigenen Rechte halten“81. Und nicht zuletzt stecke, wie Kondylis an anderer Stelle ausführt, in den Erwartungen, die der Westen durch den versuchten „Weltexport seines ethischen Universalismus geweckt hat, … ein globales Potenzial“82, das massive internationale Konflikte nach sich ziehen könne. Letzten Endes wäre nur ein Weltstaat wirklich in der Lage, „Menschenrechte im rechtlichen Sinne“ gewähren zu können, da „nur in ihm die Begriffe ,Mensch‘ und ,Bürger‘ zusammenfallen“83. Die in der „Planetarischen Politik“ lediglich angedeuteten Aussichten auf künftig sich anbahnende globale Verteilungskämpfe im Kontext wachsender Güterknappheit hat Kondylis in seinen späteren Aufsätzen noch weiter präzisiert – so etwa, indem er darauf hinweist, dass die durch Globalisierungstendenzen niedergerissenen Grenzen aller Art sehr rasch wiedererstehen könnten, sollte „unter dem Druck (importierter und hausgemachter) demographischer und ökologischer Faktoren“ eine weitere Verschärfung der globalen Verteilungskämpfe eintreten84. Die auch heute noch gelegentlich vorgebrachte These, das stete Wachstum globaler Wirtschaftsverflechtungen vergrößere konstant die „Unwahrscheinlichkeit großer Kriege zwischen großen Nationen“85 widerlegt er nicht nur mit einer Erinnerung an die erste Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg, sondern auch mit Blick auf die gegebene Lage: Das derzeitige Vorhandensein eines konkurrenzlosen Welthegemons (eben der USA) sei eben keine historisch-politische Lage, die gewissermaßen, etwa im Sinne eines „Endes der Geschichte“86, auf Dauer gestellt werden könne, sondern sie werde irgendwann einmal enden. Und was darauf folgen werde, sei gegenwärtig noch nicht abzusehen. Auch und gerade angesichts dieser weltpolitischen Lage plädiert Kondylis für einen engen Zusammenschluss Europas, wobei er jedoch anmerkt, angesichts zahlreicher interner Konfliktlagen müsse das vereinigte Europa, „wenn überhaupt, durch den Konsens seiner zwei oder drei großen Nationen aufgebaut werden“87. Auf welche Weise das jedoch konkret durchzuführen wäre, verrät er an dieser Stelle freilich nicht, und einige Seiten später weist er nur en passant, aber in der Sache durchaus hellsich81

Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 66. Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 116. 83 Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 158, denn, fährt der Autor hier fort, das „verkündete Recht würde nur im Weltstaat alle Menschen in ihrer bloßen Eigenschaft als Menschen betreffen, ohne Vermittlung einer bestimmten Staatsangehörigkeit“ (ebenda). 84 Ebenda, S. 72 f. 85 Ebenda, S. 79. 86 Siehe oben, Abschnitt I. 87 Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 81; er fügt sogar in deutlicher Zuspitzung an: „Das gegenwärtige Dilemma des Kontinents heißt nicht, wie vor 1945, Einheit oder Krieg, sondern Einheit oder Untergang“ (ebenda). 82

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tig darauf hin, dass die „Stunde der Wahrheit für Europa“ genau dann schlagen werde, „wenn man nicht mehr den Wohlstand, sondern Lasten und Schulden wird verteilen müssen“88. Als politischer Autor erwies sich Kondylis allerdings als durchaus lernfähig, deshalb hat er 1996 seine Thesen von 1991 immerhin an einer bestimmten Stelle deutlich korrigiert, nämlich dort, wo es um den (auch von ihm anfänglich gelegentlich verwendeten) Begriff einer „Weltgesellschaft“ geht. Das damit verbundene, im deutschen Sprachraum wohl zuerst von Niklas Luhmann Anfang der 1970er Jahre auf den Begriff gebrachte Konzept89 hat Kondylis um 1991 – allerdings in einer auf die eigene Argumentationsrichtung zugeschnittenen Version – zuerst übernommen, wenn er damals die Entstehung einer „wahre[n] Weltgesellschaft“ diagnostizieren zu können glaubte, die als solche „zwar durch erhebliche faktische Ungleichheiten und Ungleichartigkeiten gekennzeichnet“ sei, sich aber dennoch „zur prinzipiellen Gleichheit ihrer Mitglieder“ bekenne und ihnen sogar dieselben Rechte zugestehe90. Tatsächlich hielt Kondylis es anfänglich, kurz nach dem Ende des Kalten Krieges und der globalen Ost-West-Spaltung, noch für möglich, dass der Planet im Zuge einer weltgesellschaftlichen Weiterentwicklung irgendwann einmal „einem riesigen Markt und zugleich einem riesigen Sozialstaat ähneln“91 werde, einem Gebilde also, das sich ebenfalls als, „eine bunte Massengesellschaft“ vorstellen lasse, „die nur regional lebens- und leistungsfähige Zusammenschlüsse kennt und sonst entweder durch gelegentliche konzentrierte planetarische Aktionen von Großmächten bzw. der führenden Macht“ zusammengehalten werde, oder letzten Endes „bloß durch das Schreckgespenst der Überlebensfrage der ganzen Menschheit“92. Ein halbes Jahrzehnt später hat sich Kondylis allerdings von den „weltgesellschaftlichen“ Illusionen der Jahre um 1991 wieder weit entfernt; er spekuliert jetzt bereits über die Möglichkeit neuer Blockbildungen93 und erklärt nunmehr unzweideutig, er halte die Erwartung des raschen „Fortschreiten[s] einer Weltgesell88

Ebenda, S. 97. Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft [1971], in: derselbe: Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, S. 51 – 71; zur Debatte in den 1990er Jahren, etwa im Umfeld von Anthony Giddens und Ulrich Beck, siehe die Hinweise bei Voigt, Weltordnungspolitik (Anm. 21), S. 45 ff.; zur historischen, konzeptions- und begriffsgeschichtlichen Einordnung dieses Konzepts vgl. auch Rudolf Stichweh, „Weltgesellschaft“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12: W–Z, Basel 2004, Sp. 486 – 490. 90 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 10. 91 Ebenda, S. 11. 92 Die Zitate ebenda, S. 48. – Auch der Zerfall großer multinationaler Gebilde und Staatenverbünde nach 1990/91 sowie die Entstehung einer Reihe kleinerer neuer Nationalstaaten diene letztlich, merkte Kondylis hier noch an, „der sofortigen und möglichst vorteilhaften Eingliederung in die Weltgesellschaft. … jede Nation will die genannte Eingliederung in eigener Regie in die Wege leiten …“ (ebenda, S. 63 f.). 93 So etwa, wenn er, Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 131, anmerkt, es könne für den Westen eventuell lebenswichtig sein, „die Herausbildung eines russisch-chinesischen Blocks zu verhindern“! 89

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schaft, die Schranken und Grenzen, Nationalstaaten und Großräume auf einmal verschlingen würde …, für unrealistisch“, da die künftig alles entscheidende Verteilungsfrage hierdurch nicht geklärt werden könne. Es sei, im Gegenteil, „anzunehmen, daß die Verschärfung der Verteilungskämpfe die Globalisierung von Produktion und Kommunikation einschränken“ könnte, was in diesem Fall dazu führen würde, dass einstmals abgebaute Grenzen im Rahmen dieser Verteilungskämpfe wieder aufs Neue errichtet werden könnten. Und hierzu wiederum würden ebenfalls die absehbare demographische Entwicklung und die aus ihr resultierenden Migrationsbewegungen der nahen Zukunft mit beitragen94. Selbst für den – doch eher unwahrscheinlichen – Fall, dass die gegenwärtig bestehenden politischen Kollektive tatsächlich einmal durch eine einheitliche „Weltgesellschaft“ ersetzt würden, sei damit deren vermeintlich inhärente Friedfertigkeit keinesfalls gegeben, denn: „Das einzige, wofür die Weltgesellschaft bürgen kann, ist zunächst lediglich die Verwandlung aller Kriege in Bürgerkriege“95. Im Übrigen könne durchaus auch mit einer „Balkanisierung auf globaler Ebene“96 gerechnet werden – mit ebenfalls in ihrem Ausmaß kaum absehbaren Konflikten. Wie er sich implizit mit Fukuyamas These vom angeblichen „Ende der Geschichte“ auseinandergesetzt hatte, greift Kondylis ebenfalls – dieses Mal nun explizit – ein weiteres vieldiskutiertes Theorem der 1990er Jahre auf: Samuel Huntingtons aufsehenerregende Zeitdiagnose vom „Kampf der Kulturen“97. Die Bedeutung, die Huntington dem kulturellen, auch dem religiösen Faktor in der Weltpolitik als „Schlüsselphänomen der beginnenden weltgeschichtlichen Epoche“ zumisst, wird von Kondylis allerdings vehement bestritten; gleichzeitig stellt er den Kulturbegriff des amerikanischen Politikwissenschaftlers in Frage: Huntington rede so, „als seien Kulturen grundsätzlich stabile Substanzen, konfliktträchtig wegen ihrer Irreduzierbarkeit“98. Dagegen setzt Kondylis die historische Erfahrung von der Volatilität und auch der politischen Instrumentalisierbarkeit kultureller Gegensätze; nicht nur könne sich „die Einstellung einer Kultur zu den anderen und zu sich selbst … langsam oder rasch ändern“, etwa durch einen Wechsel der politischen Konstellationen99, sondern 94 Kondylis thematisiert diesen nicht erst seit 2015 brandaktuell gewordenen Aspekt tatsächlich mit einer auch für ihn ungewöhnlichen Schärfe, ebenda, S. 133: „Man mag in verzeihlicher humanistischer Blauäugigkeit die Bedeutung des demographischen Faktors einigermaßen unterschätzen oder, in erhabene Gedanken vertieft, daran vorbeigehen. Wer aber offen und im Ernst behaupten wollte, die Einwanderung von 30 oder 40 Millionen Menschen ins heutige Frankreich oder Deutschland würde keine anomischen Erscheinungen hervorrufen, der ist – ich kann es nicht anders ausdrücken – ein Idiot“. 95 Ebenda, S. 132. 96 Ebenda, S. 179. 97 Samuel P. Huntigton, Der Kampf der Kulturen – The Clash of Civilisations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1997 [zuerst 1996]. 98 Beide Zitate Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 89. 99 Ebenda, S. 90; als Beispiel führt er an, es wäre absurd anzunehmen, „die Japaner würden künftig ihre Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten auf der einen, China auf der anderen Seite nach dem Kriterium kultureller Nähe bestimmen“ (ebenda, S. 91).

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es hätten sich inzwischen auch die kulturellen Gegensätze und unterschiedlichen Lebensweisen in einer bisher noch niemals dagewesenen Weise angenähert. Gegenseitige Abgrenzung werde künftig im Rahmen universaler Verteilungskonflikte stattfinden, weniger entlang kultureller Trennlinien. Dementsprechend werde der Kulturbegriff zu einem Mittel der Abgrenzung in einem sich ständig verschärfenden und zuspitzenden globalen Verteilungskampf. In diesem Kontext nun werde „jede Differenz hochstilisiert und politisiert, sofern sie symbolischen und mobilisierenden Wert“100 besitze und insofern enthalte die These vom Konflikt der Kulturen „also allenfalls eine partielle Wahrheit“101. Auch dieser Einschätzung liegt natürlich Kondylis’ Hauptannahme einer künftigen internationalen Konfliktordnung zugrunde, die nach seiner Überzeugung durch globale Verteilungskämpfe und hieraus entstehende planetarische Machtrivalitäten bestimmt sein werde. Mit der Akzeptanz dieser Prämisse steigen oder fallen Wert und Überzeugungskraft seiner politischen Reflexionen.

VI. Wenn man die These überzeugend findet, der „Kern der heutigen Weltlage“ bestehe in der „Ausbreitung der produzierenden und konsumierenden Massendemokratie“, charakterisiert durch „das ständige Wachsen der Erwartungen“ und daher auch durch „eine Verschärfung der Konkurrenz, die unter dem Druck ökologischer und demographischer Faktoren bedenklich werden kann“102, – dann wird man auch Kondylis’ kritische Entzauberung des älteren Nationsbegriffs akzeptieren müssen: Wirklich entscheidend für die politische Konstitution einer Nation sind nicht etwa gemeinsame Geschichte, Kultur, Sprache oder Religion, sondern – der ihr zugrunde liegende kollektive Wille, eine Nation zu sein und auch dementsprechend zu handeln. Kondylis stellt dies unzweideutig klar: „Die politisch brisante Frage lautet, ob konkrete Kollektive bereit sind, notfalls unter Aufbietung der dazu geeigneten Mythologeme, sich als Nation zu definieren und im Namen dieser Nation zu handeln, also zu leben oder zu sterben. Wenn sie es tun, und sich sogar dabei von Wahrheitsfragen nicht abschrecken lassen, so müssen sie ihre – guten oder schlechten – Gründe haben, und es fragt sich, ob sie auch in Zukunft dieses Konstrukt für den besseren Weg zur Wahrung ihrer Interessen halten werden. Sollte dies der Fall sein, so wären Beweise und Gegenbeweise umsonst“103 – eben weil es sich dann um eine Frage des Glaubens, nicht eine des Wissens handelte. 100

Ebenda, S. 93; insofern, heißt es hier weiter, sei die Tatsache, dass sich verschiedene Konfliktparteien „auf ihre kulturelle Identität“ beriefen, durchaus „noch kein Beweis für die kulturelle Ursache des Konflikts“ (ebenda). 101 Ebenda, S. 94. 102 Ebenda, S. 105. 103 Ebenda, S. 104 f.

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Bezogen auf die Lage der Gegenwart und auf die Entwicklungen der absehbaren Zukunft bemisst sich der Stellenwert der Nation und des Nationalstaats ausschließlich daran, inwieweit sie sich als beste Organisationsformen zur möglichst effektiven Teilnahme am globalen Verteilungskampf, also als „die planetarisch konkurrenzfähigste politische und ökonomische Einheit“ erweisen können104. Insofern hänge das Überleben der Nationen als politische oder auch kulturelle Einheiten ausschließlich ab – so seine zentrale These zu diesem Problem – „von den langfristigen Erfordernissen der planetarischen Lage, genauer: von der Art und Weise, wie die Akteure diese Erfordernisse begreifen und sich darauf einstellen“; und hierbei verfügen diejenigen Nationen über einen wichtigen Vorteil, „die auf Grund ihres Potentials auch im planetarischen Zeitalter konkurrenzfähige politische Einheiten bilden können“105. Das besondere Problem Europas liegt nach Kondylis nun in der Tatsache begründet, dass die großen europäischen Nationen keine „Weltmächte“ im alten Sinne mehr sind und auch nicht sein können106, daher auch, wenn jede von ihnen für sich bleibt, für die kommenden globalen Verteilungskämpfe nicht mehr in dem Maße gerüstet sein werden, wie es eigentlich zum Zweck einer erfolgreichen Selbstbehauptung erforderlich wäre. Insofern sieht Kondylis eine ökonomisch-politische Einigung Europas als letztlich unabweisbare Notwendigkeit an, wobei es allerdings noch immer fraglich sei, ob diese Einheit „durch die Hegemonie einer Nation oder auf anderen Wegen zustande kommen könnte“. Da Großbritannien vermutlich auch weiterhin in traditioneller Distanz zum Kontinent abseitsstehen werde, wie er (ein Vierteljahrhundert vor dem „Brexit“) hellsichtig voraussieht, kämen nur Frankreich oder Deutschland für die Position eines kontinentalen Hegemons in Frage; am besten wäre eine Kombination aus beiden, in der deutsche Wirtschaftskraft und französische militärische Stärke sowie das politische Selbstbewusstsein der „Grande Nation“ zusammenfänden107. Unter bestimmten Bedingungen könnte also, folgert der griechische Autor, „das harmonische und dynamische Zusammengehen zweier getrennter Nationalstaaten, die sich ihrer Lage bewußt und imstande wären, andere mitzureißen, der europäischen Sache womöglich mehr dienen … als eine halbherzige und schlaffe politische Vereinigung“108. Das klingt auf den ersten Blick überzeugend – nur eben das „Mitreißen“ der anderen wäre ohne Frage doch etwas problematischer als Kondylis es hier offenbar annimmt: die Angst, von den anderen, eben den „Größeren“ und „Reicheren“, dominiert und fremdbestimmt zu werden, spielt im übrigen Europa, eingedenk spezifischer historischer und noch gar nicht so lange zurückliegender Erfahrungen, immer noch eine politisch nicht zu unterschätzende Rolle109. 104

Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 106. Die Zitate ebenda, S. 109. 106 Vgl. ebenda, S. 107, wo Kondylis darauf hinweist, dass „die führenden west- und zentraleuropäischen Nationen nach planetarischen Maßstäben Mittelmächte sind, … die weder abseits stehen noch sich ganz allein – oder gar allein gegen alle anderen – behaupten können“. 107 Ebenda, S. 119 ff.; das Zitat S. 119. 108 Ebenda, S. 124. 109 Dazu die Bemerkungen bei Kraus, Nation und Nationalstaat (Anm. 22), S. 21 ff. 105

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Jedoch könnte Europa gewissermaßen zusammengeschweißt werden durch ein großes gemeinsames Zukunftsprojekt, das Kondylis in durchaus kühner Manier wenigstens in den Grundzügen skizziert: Jenes Zukunftsprojekt Europas könne „Rußland, bzw. Sibirien“ heißen, das „die letzte rohstoffreiche und praktisch menschenleere Großfläche auf einem bereits dicht bevölkerten Planeten“110 darstelle. Schon aus wohlverstandenem eigenen Interessen der europäischen Nationen dürfe das nach dem Zerfall der Sowjetunion erneuerte, aber geschwächte und international orientierungslose Russland weder „in die aggressive Isolierung oder in die Arme Chinas treiben“. Eine enge Kooperation zur ökonomischen Erschließung der reichen Schätze Sibiriens durch die Europäer in enger Partnerschaft mit Russland dürfte für beide Seiten höchst profitabel sein, werde aber nur dann auch politisch funktionieren, wenn die Europäer dem neuen Russland das uneingeschränkte Recht zugestünden, „als die große Ordnungsmacht in Kaukasien, in Zentralasien und im ganzen sibirischen Raum zu fungieren“111. Kondylis fasst seine Idee zusammen mit den Worten: „Die große planetarische und weltgeschichtliche Chance eines vereinigten Europas hieße also Eurasien“112. Das ist eine in der Tat erstaunliche Vision, für deren Charakterisierung Kondylis im Jahr 1996 tatsächlich (ohne dies jedoch hier auch nur anzudeuten) das bekannte und umstrittene Konzept Carl Schmitts einer „planetarischen Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ revitalisiert – das von Kondylis nur fünf Jahre zuvor in seiner Schrift über die „Planetarische Politik“ angesichts der amerikanischen Welthegemonie noch für obsolet erklärt worden war113. Umso überraschender erscheint jetzt ebenfalls Kondylis’ ausdrückliche Berufung auf den Urund Cheftheoretischer der neueren angelsächsischen Geopolitik, Sir Halford Mackinder, der zuerst 1904 das eurasiatische „Herzland“ zum „Angelpunkt“ („pivot“) der Weltgeschichte erklärt114 und nach dem Ersten Weltkrieg eine folgenschwere Warnung an die anglo-amerikanische Welt formuliert hatte: Wer Osteuropa beherrsche, kontrolliere das Herzland, wer das Herzland beherrsche, kontrolliere die 110

Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 125; vgl. auch insgesamt S. 124 ff. Die Zitate ebenda, S. 127; es heißt weiter: „Europa hätte nichts zu verlieren, wenn Rußland diese Funktion erfolgreich erfüllt, ganz im Gegenteil sogar. Die Gefahr einer russischen Hegemonie über ein vereinigtes, politisch geschlossen handelndes hochindustrialisiertes Europa von 350 Millionen Menschen bestünde nicht. Ein solches Europa hätte von Rußland nichts zu befürchten, Rußland hätte von einem solchen Europa alles zu hoffen“! – Daher liegt in der von Krause-Landt, Mechanik der Mächte (Anm. 8), S. 117, formulierten Deutung, Kondylis empfehle „eine russische Hegemonie über Europa“, ein Missverständnis. 112 Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 127; es sei gewiss, meint Kondylis weiter, „daß ein Europa ohne eigene Energiequellen und Rohstoffe, ein Europa, dessen alternde Bevölkerung höchstens drei oder vier Prozent der Weltbevölkerung ausmachen würde und von den großen strategischen Schauplätzen der planetarischen Geschichte des 21. Jahrhunderts abgeschnitten wäre – … früher oder später verkümmern“ werde (ebenda, S. 128). 113 Siehe oben, Anm. 56. 114 Halford Mackinder, The Geographical Pivot of History, in: The Geographical Journal 23 (1904), S. 421 – 437; deutsch in: Josef Matznetter (Hrsg.), Politische Geographie (Wege der Forschung, CCCCXXXI), Darmstadt 1977, S. 54 – 77. 111

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(aus Europa, Asien und Afrika bestehende) „Weltinsel“, wer die Weltinsel beherrsche, kontrolliere am Ende die ganze Welt115. Wenn Kondylis nun im Kontext seiner Argumentation etwas leichthändig feststellt: „Mackinders Theorem über Eurasien behält noch immer großenteils seinen Wert“116, dann verkennt er allerdings den eigentlichen Sinn und Zweck jenes Theorems, das seinerzeit eben hauptsächlich vor einem eventuellen Zusammengehen Deutschlands und Russlands warnte, weil hieraus eine möglicherweise tödliche Bedrohung für das britische Empire, für die „Westliche Hemisphäre“ und überhaupt für die anglo-amerikanische Weltdominanz hätte erwachsen können. Berücksichtigt man, von anderem einmal abgesehen, gerade diesen Kontext, dann resultiert hauptsächlich hieraus wohl auch die Undurchführbarkeit dieser kühnen Vision, die als solche vermutlich niemals eine wirkliche Chance gehabt haben dürfte, da ein solches Projekt, wäre es tatsächlich in Angriff genommen worden, den fundamentalen Interessen gleich zweier Weltmächte, nämlich nicht nur denen der USA, sondern auch Chinas, widersprochen hätte. Und zweitens wäre hierfür eine besonders enge, einvernehmliche Kooperation der europäischen Völker erforderlich gewesen, es hätte von den noch kurz zuvor dem früheren sowjetischen Machtbereich zwangsweise angehörenden mittelosteuropäischen Nationen ein plötzliches neues Vertrauen gegenüber den Russen verlangt und es hätte ebenfalls – last but not least – in Europa selbst das Vorhandensein einer regierenden politischen Elite erfordert, die fähig gewesen wäre, in globalpolitischen und geostrategischen Kategorien nicht nur zu denken, sondern auch entsprechend zu planen und zu handeln. Das war seinerzeit nicht der Fall und dafür lassen sich viele Gründe anführen. Nicht übersehen werden sollte in diesem Kontext auch der explizite Hinweis auf China, dem Kondylis bereits um 1994 die Fähigkeit zuspricht, künftig einmal das „erste Exportland“117 der Welt werden zu können. Und im Kontext der Darlegung seines europäisch-sibirischen Projekts merkt er denn auch – wiederum auf den Spuren Mackinders – vieldeutig an: „In einer planetarischen Welt, in der sich der gewaltige Schatten Chinas immer mehr ausbreitet, könnte der sibirische Raum den Schlüssel zur Weltherrschaft abgeben“118.

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Halford Mackinder, Democratic Ideals and Reality. A Study in the Politics of Reconstruction [1919], London 1942, S. 150. – Zur historischen und politischen Bedeutung der Konzepte Mackinders und deren Rezeption im 20. Jahrhundert siehe u. a. diverse Beiträge in Peter J. Taylor (Hrsg.), Political Geography of the Twentieth Century. A Global Analysis, Chichester 1995, sowie in Brian W. Blouet (Hrsg.), Global Geostrategy – Mackinder and the defence of the West, London – New York 2005. 116 Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 128. 117 Ebenda, S. 37. 118 Ebenda, S. 128; vgl. auch S. 126 ff.

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VII. Die internationale Politik seit 1945 stand – und steht in mancher Hinsicht bis heute – stets im Schatten des letzten Weltkriegs und der aus ihm resultierenden internationalen Machtordnung. Dieser Krieg bildete tatsächlich, wie Kondylis schreibt, „in dem Sinne eine bis dahin beispiellose Verdichtung planetarischer Politik, daß es in ihm letztlich um die Weltherrschaft ging – und der Kalte Krieg, der auf ihn folgte, zeigte ebenfalls, daß es von nun an nur um die Weltherrschaft gehen konnte“119. Ganz in diesem Sinne ist auch die kurz vor Kriegsende 1945 erfolgte Gründung der „Vereinten Nationen“, der UNO zu verstehen, die von ihren Urhebern keineswegs etwa als „weltstaatliches“ Projekt gedacht war, sondern, politisch verstanden, als Ausdruck der Absicht der siegreichen und nunmehr führenden Nationen des Westens, „im Namen universalistischer Prinzipien weiterhin aktiv in der Weltpolitik zu bleiben“, während die aktive Mitwirkung der Sowjetunion an diesem Projekt – gleichfalls aus strikt politischen Gründen – deren Entschlossenheit zum Ausdruck brachte, „in jenem Weltforum präsent zu sein und bei der Gestaltung des Weltgeschehens den eigenen universalistischen Standpunkt geltend zu machen“120. Insofern stellen die Vereinten Nationen, realistisch betrachtet, bis heute nichts anderes dar als eben einen „Spiegel der bestehenden Kräftekonstellationen“121, und dies waren sie bereits im Jahr 1945, als von den Siegermächten die von ihnen gewünschte neue Weltordnung zugleich als neue Machtordnung errichtet wurde – und nach Möglichkeit auch dauerhaft installiert werden sollte. Aus diesem grundlegenden Faktum ergibt sich nämlich ebenfalls jene, wie Kondylis sagt, charakteristische „Grundgegebenheit, in der die Vereinten Nationen selbst gründen, nämlich der Verflechtung zwischen universalistischen Prinzipien und partikularistischen Anliegen auf der Ebene des Handelns von Nationen mit planetarischen Interessen und planetarischem Aktionsradius“; das bedeutet, dass selbst „Interventionen zur Friedensstiftung oder zur Wiedergutmachung von Unrecht in zwischenstaatlichen Beziehungen“ nur dann stattfinden können, wenn diese Maßnahmen den Interessen der Weltmächte, in diesem Fall also der fünf Vetomächte im Weltsicherheitsrat der UNO, nicht widersprechen122. Wie sich jene internationalen Kräftekonstellationen im Lauf der Zeit ändern können, zeigt sich etwa am Beispiel einer spezifischen Handlungsschwäche des „Westens“, die neuerdings ein anderer Autor, Herfried Münkler, treffend als Aus119

Ebenda, S. 139. Die Zitate ebenda, S. 139 f. – Dagegen spricht, so Kondylis, auch nicht der kurz nach der Gründung der UNO ausbrechende Kalte Krieg und die Spaltung der Welt, denn der „ambivalente Charakter“ dieser Organisation zeigte sich nicht zuletzt darin, dass sie „einen gemeinsamen Boden in Form von (interpretationsbedürftigen) Grundsätzen und gleichzeitig einen Rahmen für Sondierungen, Manöver und propagandistische Auftritte anbot“, denn ein „Begegnungsort“ kann unter Umständen eben auch zu einem „Schlachtfeld“ umfunktioniert werden (ebenda, S. 140). 121 Ebenda, S. 144. 122 Die Zitate ebenda, S. 143 f. 120

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druck der Mentalität einer „postheroischen Gesellschaft“ gekennzeichnet123 hat und die der Sache nach von Kondylis bereits zwei Jahrzehnte zuvor ebenfalls ausgesprochen prägnant auf den Begriff gebracht worden ist124. Tatsächlich wird Kondylis in seinen politischen Schriften nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass aus der Tatsache einer wachsenden Vereinheitlichung der Welt und einem entsprechend zunehmenden „Dichtegrad planetarischer Politik“ eben durchaus keine notwendige Verstärkung der gemeinsamen Interessen unterschiedlicher Nationen und Völker resultiert. Wer dies annimmt, verwechselt lediglich „die (tatsächliche) wachsende Vereinheitlichung und Homogenisierung des planetarischen Spannungsfeldes mit der (hypothetischen) wachsenden Gemeinsamkeit der Interessen der kollektiven Akteure“; der Denkfehler besteht also in der Annahme, dass von bestimmten Vorgängen und Entwicklungen allgemeiner Globalisierung auf eine vermeintlich „notwendige Vereinheitlichung der Ziele und der Antworten“125 geschlossen wird. Die weit verbreitete Wunschvorstellung, dass bestimmte Prozesse globaler Anpassung zugleich das Faktum wirtschaftlicher und machtpolitischer Konkurrenz zwischen den kollektiven Akteuren der Weltpolitik auf irgendeine wunderbare Weise obsolet machen könnten, wird von Kondylis unnachsichtig als Illusion entlarvt und konsequent ad absurdum geführt. Das Konzept eines künftigen „Weltstaates“ hingegen wird von Kondylis – nur auf den ersten Blick überraschend – keineswegs als absurd abgetan, dafür jedoch konsequent im Kontext seiner möglichen realen politischen und ökonomischen Voraussetzungen erörtert126. Ein Weltstaat wäre, so seine Auffassung – mit der er übrigens in diesem Fall nicht nur von Carl Schmitt, sondern auch früheren deutschen Autoren wie etwa Leopold Ranke und anderen deutlich abweicht127 – an sich keineswegs unmöglich, nur biete die Möglichkeit seiner Realisierung, entgegen einer verbreiteten 123

Vgl. Herfried Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 169 – 187. 124 Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 144 f.: „Der Zusammenhang zwischen Handlungsfähigkeit und Bereitschaft, den entsprechenden Blutzoll zu entrichten, hat sich mittlerweile auch herausgestellt, nur weiß man im Westen nicht recht, durch welche Loyalitäten er einleuchtend gemacht werden soll. Wer nicht die geringste Lust verspürt, für die eigene Nation zu sterben, wird es um so weniger für den Frieden anderer Nationen oder gar für den noch abstrakteren Frieden einer noch abstrakteren Menschheit tun, zumal wenn er auf den verbissenen Widerstand von Menschen stößt, die primitiv genug sein wollen, um ihr Leben für das zu opfern, was sie als ihre nationale Sache ansehen. Die ideologischen und praktischen Schwierigkeiten des Westens entspringen hier der Tatsache, daß auch im Zeitalter des Geldes manches noch immer an Blut gemessen werden muß“. 125 Die Zitate ebenda, S. 139. 126 Vgl. ebenda, S. 149 – 159. 127 Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen (Anm. 58), S. 54: „Es gibt …, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden ,Weltstaat‘ geben“; Leopold von Ranke, Sämmtliche Werke, Bd. 49/ 50, Leipzig 1887, S. 338: „Die Idee des Staates würde … vernichtet werden, wenn er die Welt umfassen wollte: Staaten sind viele“ („Politisches Gespräch“, 1836). Weitere Zeugnisse ließen sich anführen.

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Überzeugung, eben „keine Garantie für das Eintreten des ewigen Friedens und der universalen Freiheit, auch nicht für den Fortfall der Politik, wie wir sie kennen“128. Die seit den 1990er Jahren vielfach, vor allem in den westlichen Ländern, aufgekommene und propagierte Idee, die Welt werde sich infolge eines „allmählichen Aufgehens des Politischen in der Funktion des Ökonomischen vereinheitlichen“, und gleichzeitig würden infolge wirtschaftlicher Verflechtung sowie „globale[r] Informatik“ jene Grenzen obsolet, „von deren Erweiterung oder Verteidigung Politik bisher gelebt hat“, läuft, so Kondylis, letzten Endes durchaus nicht primär auf die „Errichtung eines Weltstaates“ hinaus, sondern eher auf „die Erschaffung einer offenen Weltgesellschaft, die sich vielleicht einer politischen Organisation in weltstaatlicher Form bedienen könnte, diese aber auf die Rolle des bloßen Instruments degradieren würde“129. Eine solche Konzeption setzt jedoch wiederum eine beispiellose „Determinierung des Politischen durch das Ökonomische“ voraus, die bei näherem Hinsehen die zentrale, ebenfalls nur machtpolitisch zu regelnde „neuralgische Frage der Verteilung“130 außer Acht lässt. Da in dieser Frage schon sehr bald die unterschiedlichen Interessen im Kampf um den ökonomischen Vorteil, auch um den inzwischen errungenen Lebensstandard unerbittlich aufeinanderprallen dürften, könnte dieser Konflikt wiederum nur politisch entschieden werden. Dies nun führt zu einem Paradox, das Kondylis folgendermaßen beschreibt: „Gerade jene Mächte würden durch die Errichtung eines Weltstaates Einbußen erleiden, die gegenwärtig am stärksten sind und deshalb einem solchen Projekt die Triebkraft verschaffen müßten, wenn es überhaupt Aussichten auf Verwirklichung haben sollte“; kurz gesagt: „Dem Weltstaat stehen die Weltmächte im Wege“131. Neben den rein ökonomischen Hindernissen stünden der Errichtung eines Weltstaates vor allem auch politische Widerstände im Wege: So würden die westlichen Mächte – so hoch auch die „weltstaatlichen“ Ideen bei manchen westlichen Intellektuellen immer noch im Kurs stehen – wohl kaum ohne Weiteres „eine Verwirklichung der one world unter der Regie und nach den Vorstellungen Chinas“132 hinnehmen – und das Gleiche dürfte auch in umgekehrter Perspektive gelten. Nicht zuletzt würden sich kleinere Nationen wohl kaum freiwillig dazu bereitfinden, von einer einzigen Weltmacht (oder wenigen Weltmächten) im Rahmen einer „weltstaatlichen“ Ordnung faktisch dominiert zu werden. So bleiben im Grunde nur zwei Möglichkeiten eines tatsächlich nur durch Zwang zu errichtenden Weltstaates übrig: entweder als Mittel des Notstands in der Folge einer „ökologischen oder demographischen Katastrophe planetarischen Ausmaßes“, oder – ebenso unerfreulich – „als Ergebnis des planetarisch spürbaren Übergewichts einer Weltmacht gegenüber den übrigen 128

Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 149 f. Ebenda, S. 150. 130 Ebenda, S. 151. 131 Die Zitate ebenda, S. 152. 132 Ebenda, S. 153. 129

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und/oder durch erfolgreiche Kriegführung gegen dieselben“, faktisch also als politisch-militärische Weltdominanz einer einzigen hegemonialen Weltmacht. Der „Traum vom Weltstaat“ ließe sich am Ende also „nur durch blutige Konflikte von beispielloser Intensität und Ausdehnung realisieren“133. Und Ähnliches gilt auch für die Aufrechterhaltung eines – wie auch immer im Detail organisierten – „weltstaatlichen“ Regimes134, das in einem solchen Fall auf eine Politik des divide et impera nach römischem Vorbild und auf den Einsatz von Vasallen und Satrapen zur Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Globus angewiesen wäre. Insofern könnten sich tatsächlich vermeintlich historisch überholte Strukturen aufs Neue bilden, d. h. die in Europa und Asien in der Neuzeit weitgehend nivellierte „innerstaatliche Pyramide der feudalen oder halbfeudalen Imperien“ könnte in einem neuen Sinne und mit neuen Funktionen wiederentstehen. Und schließlich wären im Rahmen einer solchen Ordnung, da ein Weltstaat kaum „die institutionelle Geschlossenheit des Nationalstaates“135 erreichen könnte, alle neu entstehenden Kriege automatisch Weltbürgerkriege, die nach dem Vorbild der früheren Bürgerkriege auf nationaler Ebene umso schrecklicher ablaufen müssten, weil in diesem Fall das „weltstaatliche“ Gewaltmonopol aufgrund eigener Schwäche wohl kaum mehr in der Lage wäre, diese Kriege wirksam einzudämmen. Ein Gegenargument, das aus heutiger Sicht gegen diese von Kondylis in den späten 1990er Jahren entwickelte, durchaus ernüchternde Perspektive in Stellung gebracht werden könnte, hat er selbst bereits vorweggenommen: nämlich das Faktum der rasanten Weiterentwicklung der Informationstechnik136. Nach seiner Überzeugung sind die aus ihr resultierenden Folgen eben nicht geeignet, universelle Freiheit, allgemeinen Wohlstand und globalen Frieden im Zeichen von „Weltgesellschaft“ oder „Weltstaat“ zu befördern. Im Gegenteil: Die jetzt technisch möglich gewordene außerordentliche Massierung von Informationen und die ungeheure zeitliche Verkürzung ihrer Vermittlung und Verbreitung könnten im schlimmsten Fall sogar dazu führen, dass sich das „kognitive Element in einer hochkomplexen Gesellschaft“137 sogar abschwächte, vor allem im Hinblick auf eine Abschätzung möglicher Handlungsfolgen, denn als Ergebnis einer intellektuell-kognitiven Überforderung könnte, so Kondylis, „im entscheidenden Moment … die entscheidende Information fehlen“, oder sie könnte sich „inzwischen in einen Streitpunkt verwandelt haben“, der aus den genannten Gründen nicht mehr eindeutig zu entscheiden wäre138. Und die schönen „Träume vom Cyberspace“139 müssten vermutlich bereits daran scheitern, dass die „Grenzen, die die globale Informationsflut verwischen soll“140, 133

Die Zitate ebenda, S. 154 f. Vgl. zum Folgenden ebenda, S. 157 ff. 135 Ebenda, S. 157. 136 Zum Folgenden siehe ebenda, S. 181 – 201, 213 – 219. 137 Ebenda, S. 184. 138 Ebenda, S. 185. 139 Siehe ebenda, S. 187 ff., das Zitat S. 187. 134

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dort neu errichtet werden, wo die hiermit verbundenen Verteilungskämpfe sich bemerkbar machten, die wiederum aus der ökonomischen Verwertbarkeit des Internets (und dem ungehinderten, auch zeitlich unbeschränkten Zugang zu diesem) entstehen würden. Das Bild der Technik hat sich also grundlegend gewandelt: Sowohl die einstige „bürgerlich-liberale Synthese von Technik und Humanität“ als auch die marxistische „Utopie einer hochtechnisierten Gesellschaft von freien allseitigen Individuen“ haben sich beide in der Gegenwart als idealistisches und zugleich weltfremdes, im Kern letztlich eschatologisch bestimmtes Wunschbild herausgestellt141. Und angesichts der Tatsache, „daß die Versorgung der Massengesellschaften von heute ohne hohe Technisierung zusammenbrechen müßte“, erscheint auch eine Rückkehr zur vortechnischen Zivilisation weitgehend ausgeschlossen. Es bleibt angesichts möglicher ökologischer und anderer Katastrophen lediglich die Hoffnung, auch diese Probleme wiederum durch die Entwicklung jeweils neuer Techniken einmal lösen zu können: „Je deutlicher sich hinter dem Prometheus der Zauberlehrling abzeichnet, desto mehr verstärkt sich die Abhängigkeit von dessen Einfällen“, denn wenn, so Kondylis, die Technik auf Weltebene tatsächlich einmal vor der demographischen und ökologischen Belastung kapitulierte, dann stünde uns allerdings „mit Gewißheit der Kannibalismus bevor“142 – damit also, mit den klassischen Worten des Thomas Hobbes formuliert, der einst überwundene frühere Naturzustand in der düsteren Gestalt des bellum omnium contra omnes143.

VIII. Wirklich optimistisch anmutende Zukunftsperspektiven hat Panajotis Kondylis in seinen politischen Schriften also nicht zu bieten, doch immerhin einen radikal realistischen, von typisch menschlichen Illusionen konsequent freien und unverstellten Blick auf die gegenwärtige Lage der Welt und des Menschen. Es ist erstaunlich, wie klar dieser Denker – von kleineren, zumeist unwesentlichen Details einmal abgesehen – die Entwicklung und die globalen Probleme der ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts in ihren wesentlichen Grundzügen vorausblickend skizziert hat. Dabei ist er allerdings auch kein ausgesprochener historischer Pessimist: Als exzellenter, seit seiner Heidelberger Dissertation vielfach ausgewiesener Kenner der Philosophie Hegels144 ist Kondylis dennoch weder ein optimistischer Hegelianer, noch schließt er sich den Grundideen Schopenhauers an, des einstigen pessimisti140

Ebenda, S. 191. Ebenda, S. 215. 142 Alle Zitate ebenda, S. 217 f.; vgl. auch Kondylis, Utopie und geschichtliches Handeln (Anm. 40), S. 174 f. 143 Thomas Hobbes, De Cive, 1642 (Praefatio ad lectores); Hobbes, Leviathan, 1651, Kap. XIII. 144 Panajotis Kondylis, Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802, Stuttgart 1979, passim. 141

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schen Widerparts von Hegel. Die Frage nach einem inneren Sinn der Geschichte stellt sich für Kondylis überhaupt nicht, deshalb kann er sie weder positiv (wie Hegel und seine Schule) noch negativ (wie Schopenhauer und dessen lebensphilosophische Nachfolger) beantworten, auch nicht einmal als „Sinngebung des Sinnlosen“ bezeichnen145. Die von Kondylis gelegentlich noch kritisch thematisierte „Hypostasierung der Geschichte“, die sich etwa in dem „Gedanken des stufenmäßigen Fortschritts“ ausdrückte, ist für ihn ein historisch erledigtes, nur noch ideologisch zu verstehendes Stereotyp der bürgerlich-liberalen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts, dessen letzte, in das marxistische Geschichtsverständnis übergegangene Reste für ihn mit dem „Zusammenbruch des anthropologisch und geschichtsphilosophisch ausgerichteten Marxismus“146 verschwunden sind. Und das religionskritische, antimetaphysische Denken der Schopenhauer-Nachfolge, das nicht erst bei Nietzsche auch eine (von Kondylis in anderem Zusammenhang thematisierte) stark geschichtskritische Komponente aufweist147, gehört mit seiner Erledigung jeder Art von historischer Teleologie ebenfalls bereits einer vergangenen Epoche an, der „Gedankenwelt der untergehenden oder untergegangenen europäischen Neuzeit“148, kann also als Argument gegen die Valenz historischer Sinndeutungen eigentlich nicht nochmals revitalisiert werden. Kondylis’ Zugriff auf die Deutung historisch-politischer Vorgänge könnte dagegen wohl noch am ehesten als machtpragmatisch bezeichnet werden, orientiert an einer an klassischen Vorbildern geschulten realistischen Anthropologie und geprägt durch einen illusionslosen Blick auf das Konkrete und auf gegebene politische Lagen. Kaum überschätzt werden kann in diesem Zusammenhang wohl der Einfluss der Gedankenwelt des Thukydides auf Kondylis; in der „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ mit den in ihr enthaltenen Analysen und Deutungen menschlich-politischen Handelns kann man in mancher Hinsicht fast so etwas wie ein Referenzwerk für Kondylis sehen149. Historische Krisen, Kriege und Katastrophen begleiten, wie es bei Thukydides einmal an zentraler Stelle heißt, die menschliche Geschichte – „wie 145 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, 4. Aufl. Leipzig 1927. 146 Die Zitate: Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 33. 147 Vgl. Panajotis Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, Stuttgart 1990, S. 521 ff., 538 ff.; zu den Grundformen philosophischer Geschichtskritik im 19. Jahrhundert siehe auch die Untersuchung von Jürgen Große, Kritik der Geschichte. Probleme und Formen seit 1800 (Philosophische Untersuchungen, 15), Tübingen 2006, passim. 148 Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 101. 149 Siehe auch oben, Anm. 80. In dem bereits zitierten späten Interview aus dem Jahr 1998 (siehe oben, Anm. 2) hat sich Kondylis über die „großen politischen Denker“, die bei „der Gestaltung meines Denkens eine wichtige Rolle spielten“, geäußert: „Sowohl hinsichtlich seines geistigen Gewichts als auch in der zeitlichen Reihenfolge war Thukydides der erste, dessen Studium mich seit meinen ersten Pubertätsjahren bis heute begleitet“. Und 1992 sprach Kondylis von seinem großen Anreger Thukydides als dem „genialsten Schüler der Sophistik und vielleicht dem größten Historiker, der je gelebt hat“; Kondylis, Einleitung, in: Kondylis (Hrsg.): Der Philosoph und die Macht (Anm. 5), S. 12.

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es … geschieht und immer wieder sein wird, solange Menschenwesen sich gleichbleibt, aber doch schlimmer oder harmloser und in immer wieder anderen Formen, wie es jeweils der Wandel der Umstände mit sich bringt“150. Auch Kondylis hält, wie vor mehr als zwei Jahrtausenden bereits Thukydides, das Streben nach Macht für einen wesentlichen, nicht wegzudenkenden oder gar zu leugnenden Bestandteil der menschlichen Natur oder doch wenigstens menschlicher Handlungsweisen und Handlungszwänge: „Zum Machtstreben zwingt bereits die Logik der Handlungssituationen in den menschlichen Gesellschaften, die sich nicht aufheben läßt, solange Menschen einfach an ihrer Selbsterhaltung interessiert sind“. Und zusätzlich wird, wie bereits Thomas Hobbes erkannte, dieser „Selbsterhaltungsvorgang … durch die spezifisch menschliche Fähigkeit dynamisiert, sich künftige Situationen auszumalen und Vorsorge für bloße mögliche Lagen zu treffen“151. Deshalb widerspricht Kondylis auch entschieden jener von ihm als „normativistisch“ bezeichneten philosophischen Mehrheitsmeinung, die von der Überzeugung lebt, „Vernunft“ und „Geist“ verlangten rationales, also in der Konsequenz „tugendhaftes“ menschliches Handeln und stünden deshalb über dem „dunklen“ und bloß „triebhaften“ Streben des Menschen nach Macht. Nach Kondylis verhält es sich indessen gerade umgekehrt: Der „Wille zur Macht“ sei eben deshalb „eine spezifisch menschliche Erscheinung, weil das Spezifische des Menschen in dem liegt, was wir ,Geist‘ oder ,Vernunft‘ zu nennen pflegen. Machtstreben mit einem gewissen … sozialen Anspruch kann sich nicht entfalten, wenn das betreffende Subjekt nicht imstande ist, auf unmittelbare Lustbefriedigung zu verzichten und überhaupt planend und vorausschauend kurzfristige Wünsche langfristigen Zielsetzungen unterzuordnen“. Da ein solcher „Geist“ natürlich nicht nach ethisch-moralischen Zielsetzungen, sondern rein zweckmäßig, in diesem Fall machtpragmatisch verfahre, liege hierin für alle normativistischen Ethiker und überhaupt alle idealistischen Denker eine „ungeheuerliche Paradoxie“. Die von ihnen deshalb, wie Kondylis sagt, „seit eh und je“ unternommenen Bemühungen, die „Grenzen zwischen normativer und instrumenteller Vernunft“ möglichst scharf zu ziehen, seien indes vergeblich: denn schon die historisch vielfach zu belegende Tatsache, dass ethische Normen wieder und wieder für reine Machtzwecke instrumentalisiert wurden und auch weiterhin werden können, spreche eindeutig gegen die Möglichkeit solcher Grenzen152. Vor dem Hintergrund dieser philosophischen Grundpositionen konnte Kondylis im Kontext der frühen 1990er Jahre recht viel Wasser in den Wein damaliger optimistischer Zukunftshoffnungen gießen, indem er auf die mangelnde Realisierbarkeit des universalistischen „massendemokratischen Weltprogramms“ mit dem Ziel einer 150

Thukydides, Der Peloponnesische Krieg III, 82 (deutsche Übersetzung von Georg Peter Landmann). 151 Kondylis, Einleitung, in: Kondylis (Hrsg.): Der Philosoph und die Macht (Anm. 5), S. 35. 152 Die Zitate ebenda, S. 36.

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Ausweitung westlicher Lebensstandards auf den gesamten Globus hinwies. Ein sehr wahrscheinliches Scheitern dieses Projekts könnte anschließend, wie er damals feststellte, nicht nur „zu einer langen und wilden Unordnung, sondern auch zu einer brutalen Ordnung führen, in der die auf Güterverteilung reduzierte Politik eine strenge soziale Disziplinierung … aufzwingen würde“, und im Weiteren könnten – von ihm als „negative Utopie“ bezeichnet – eventuell sogar „eine neue Askese und vielleicht eine neue Religiosität unter den Umständen großer Bevölkerungsdichte und Güterknappheit … dem Pluralismus massendemokratischer Anschauungen und Werte ein Ende bereiten“153. In dieser Hinsicht äußerte sich Kondylis also in der Tat wenig zuversichtlich, und er bemerkte einmal mit kaum misszuverstehender Deutlichkeit, das 21. Jahrhundert werde seines Erachtens „das erschütterndste und tragischste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit werden“154. Aber mit diesen Worten drückte er nur seine persönliche, subjektive Annahme aus, für die in der Tat Manches zu sprechen schien und immer noch zu sprechen scheint, doch er postulierte (um dies zu wiederholen) keineswegs etwa eine „historische Notwendigkeit“ oder etwas Ähnliches. Denn er war ebenfalls von der Tatsache einer prinzipiellen Unvorhersehbarkeit historischer Abläufe überzeugt: „Die planetarische Geschichte ist offen, ihre bevorstehenden Peripetien und Kombinationen lassen sich weder durch Projektionen der Gegenwart in die Zukunft noch durch ethischuniversalistische oder durch konservativ-nationalistische Stereotypen erfassen“155. Und die Möglichkeiten einer Lage erkennt man eben, davon war Kondylis ebenfalls überzeugt, vollständig erst im Nachhinein156. In diesem einen Punkt allerdings war er sich mit Hegel einig, denn in der Tat beginnt „die Eule der Minerva … erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“. Ob aber am Ende des 20. Jahrhunderts „eine Gestalt des Lebens alt geworden“ ist oder nicht157 – wer könnte und wer sollte es entscheiden.

153 Die Zitate: Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 57; Kondylis, Utopie und geschichtliches Handeln (Anm. 36), S. 175. 154 Kondylis, Das Politische (Anm. 40), S. 12. 155 Ebenda, S. 100 f.; vgl. ebenfalls Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik (Anm. 147), S. 561. 156 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 12), S. 41. 157 Die Zitate aus Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821], hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 17 (Vorrede, „Berlin, den 25. Juni 1820“).

Macht und Menschenrechte Ulrich E. Zellenberg

I. Einleitung „Es gibt keine Menschenrechte.“1 Diese apodiktische Feststellung Panajotis Kondylis’ mutet seltsam kontrafaktisch und widersprüchlich an: kontrafaktisch, weil „Menschenrechte“ oder „Human Rights“ nicht nur Inhalt einer Vielzahl von völkerrechtlichen Verträgen sind, sondern auch im einschlägigen historischen, philosophischen, politik- und rechtswissenschaftlichen Schrifttum intensiv diskutiert werden, und widersprüchlich, weil Menschenrechte nach Kondylis’ eigenen Bekundungen einerseits im Mittelpunkt des politischen Vokabulars stehen und andererseits die lingua franca sowie der große ideologische gemeinsame Nenner der sich ausbildenden Weltgesellschaft sind.2 Was auf den ersten Blick als unzutreffende und inkonsistente Position erscheint, erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als schlüssig. Kondylis’ Bemerkungen zu Menschenrechten stehen weder in einem Gegensatz zur Wirklichkeit noch sind sie inkonsequent. Kondylis leugnet nicht Tatsachen, sondern nimmt mit dem Wort „Menschenrechte“ eine zentrale Kategorie der politischen Sprache buchstäblich: Er fragt nach der Bedeutung des Begriffs, nach dessen Implikationen, nach den Voraussetzungen und Konsequenzen der Realisierung des von ihm Bezeichneten, und er stellt Überlegungen hinsichtlich der zu erwartenden, weil aus der inneren Logik der „Menschenrechte“ hervorgetriebenen Entwicklung an. Kondylis’ Ansatzpunkt ist ein semantischer und terminologischer: Da sich von einem Recht nur sprechen lasse, wenn dessen Einklagbarkeit und Durchsetzbarkeit gegeben sei, müsse, wenn man den Begriff der Menschenrechte ernst nehme, aufgrund des diesem inhärenten universellen Geltungsanspruchs jedermann auch wirklich in den Genuss der Rechte kommen, und das unabhängig davon, wo er wohnt und lebt. Gerade das sei aber nicht der Fall. Solange etwa ein Albaner nicht über exakt dieselben Rechte verfüge wie ein Italiener in Italien und ein Grieche in Griechenland, lasse sich streng genommen nur von politischen und zivilen, nicht aber von Menschenrechten sprechen. Man könne daher allein von „Menschenrechten“ unter An1

Panajotis Kondylis, Das Politische im 20. Jahrhundert, Heidelberg 2001, S. 61. Zu Kondylis’ Sicht der Menschenrechte siehe Gisela Horst, Panajotis Kondylis, Würzburg 2019, S. 308 ff. 2 Panajotis Kondylis, Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992, S. 112 f.

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führungszeichen reden, da solche Rechte zwar niedergeschrieben seien und als Konzeptionen, aber nicht in der Realität existieren.3 Realen Sinn und Bestand können Kondylis zufolge Menschenrechte nur haben, wenn sie einerseits schlechthin allen Menschen allein aufgrund ihrer Eigenschaft, Mensch zu sein, unabhängig von irgendwelchen anderen Voraussetzungen zukommen, und wenn andererseits alle Menschen diese Rechte an jedem Ort der Erde, und d. h. überall dort, wo sie wollen, ohne jede Einschränkung genießen können, wenn also die Menschenrechte nicht bloß erklärt, sondern auch einklagbar und durchsetzbar sind, und das nicht beschränkt auf einzelne Staaten und für deren Bürger, sondern im Weltmaßstab für jedermann. Aus diesem Grund könnte nur die Menschheit als konstituiertes einheitliches politisches Subjekt nach dem Ende der Staatlichkeit das Zeitalter der realen Menschenrechte einleiten: Menschenrechte als Rechte, die schlechthin allen Menschen in gleicher Weise zukommen, setzen nämlich uneingeschränkte Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit unabhängig von der jeweiligen Staatsangehörigkeit voraus; sie implizieren die Geltung eines einheitlichen Rechtssystems und damit die Aufhebung der Staatlichkeit zu Gunsten eines Weltstaats, da einerseits kein Staat garantieren kann, dass Menschenrechte außerhalb seiner Grenzen verbindlich und durchsetzbar sind, und da andererseits Staaten ausnahmslos allen Menschen Rechte wie das Wahlrecht oder die Niederlassungsfreiheit nicht zugestehen können, ohne sich selbst aufzulösen. Nur ein Staat, der die gesamte Menschheit vertritt und dem gegenüber schlechthin alle Menschen unmittelbar sind, könnte den einzelnen Menschen allein aufgrund ihrer Eigenschaft, Mensch zu sein, unabhängig von ethnischen oder nationalen Attributen Menschenrechte einräumen. Da diese Voraussetzung nicht vorliege, da nicht alle Bürger aller Länder die jeweils gleichen Rechte genießen, sondern allein Bürgerrechte im Sinne von Rechten, die einzelnen durch die Vermittlung von Staaten gewährleistet sind, gebe es in der Realität keine Menschenrechte im Vollsinne des Wortes.4 Kondylis’ eigentliches Thema sind aber weder die Mehrdeutigkeiten und Unschärfen des Menschenrechtsbegriffs noch die Diskrepanz zwischen dessen eigentlicher Bedeutung auf der einen und seinem Gebrauch in der sozio-politischen Wirklichkeit auf der anderen Seite, sondern die „politischen Schattenseiten der Menschenrechte“.5 Kondylis versteht darunter sowohl die bereits sichtbaren als auch die möglichen und wahrscheinlichen Auswirkungen des Umgangs mit Menschenrechten in der Praxis insbesondere der Staaten der Welt, die ihre Ursachen einerseits in der Sinnvariabilität des Begriffs und andererseits im Streben von Menschen und Gruppen nach Selbstbehauptung haben, die sich in einer im Wege der Berufung auf Menschenrechte betriebenen Verfolgung je besonderer Interessen äußert. Kondy3 Panajotis Kondylis, Die Geschichte lauert. Sozialontologie, Macht und die Zukunft des Griechentums (Interview mit Spyros Koutroulis), Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012), S. 397 – 418, hier S. 408 f. 4 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 2), S. 114 f., 118; Kondylis, Das Politische (Anm. 1), S. 61 f., 141; Kondylis, Geschichte (Anm. 3), S. 409. 5 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 2), S. 112.

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lis warnt auf dem Boden seiner im Blick auf die Geschichte getroffenen Feststellung, dass sich das Ethische bei seinem Zusammenwirken mit dem Politischen meist der Logik des letzteren unterworfen habe und dass die Gründe für das Aufgebot des Ethischen oft selbst politischer Natur waren, ausdrücklich vor der Annahme, „der Nominalwert von Ideen könne ihre polemische Instrumentalisierung verhindern“.6 Dass Menschenrechte zur Durchsetzung bestimmter Interessen und zur Verfolgung politischer Ziele eingesetzt und dabei umgedeutet werden, ist für Kondylis unumgänglich, und das deshalb, weil sie nur von Stärkeren gegenüber Schwächeren durchgesetzt werden können, eine Umkehrung dieses Verhältnisses aber weder einer institutionellen Regelung zugänglich noch funktional sei. Aus diesem Grund haben ihm zufolge Menschenrechte „ihre souveränen und verbindlichen Deuter“ in Gestalt der weltpolitisch maßgeblichen Nationen,7 und deshalb kann Kondylis im Blick auf die strategischen Interessen der Großmächte sagen, dass sich die Instrumentalisierung der Menschenrechte „weiterhin nicht zuletzt an ihrem selektiven Einsatz entsprechend außerethischen Gesichtspunkten kundtun“ werde.8 Wenngleich Kondylis Beispiele einer solchen Instrumentalisierung wie die Ungleichbehandlung des Irans und Saudi Arabiens durch die USA bei gleich gelagerter schlechter Menschenrechtssituation anführt, geschieht das nicht, um Heuchelei zu entlarven und Doppelzüngigkeiten im Verhalten einzelner Akteure zu kritisieren. Kondylis beschreibt nur, wertet aber nicht. Er verweist auf den Status quo allein zur empirischen Untermauerung seiner Ausführungen, nicht aber um Verstöße gegen ethische Normen zu beklagen. Sein Anliegen ist nicht die moralische Beurteilung des Geschehens, sondern dessen Erklärung. Er legt dar, warum die Beschaffenheit der Situation eine solche ist, dass es zu einer Instrumentalisierung der Menschenrechte kommen muss, die in seinen Augen „keine endgültige geistige und ethische Errungenschaft“ sind9 und unter Bedingungen großer Bevölkerungsdichte und Güterknappheit Inhalte annehmen könnten, die mit den gegenwärtigen ethisch-normativen Vorstellungen des Westens nur wenig gemeinsam haben.10 Kondylis leitet aus dem Zusammenhang zwischen der Universalisierung der Menschenrechte und der Entstehung der Weltgesellschaft ab, dass die Spannungen innerhalb der Gesellschaft auf die Menschenrechte mit der Konsequenz durchschlagen, dass letztlich jeder gegen alle um die Durchsetzung der eigenen Interpretation derselben kämpfe, sodass sich der Kampf um die Deutung der Menschenrechte zwangsläufig in einen Kampf zwischen Menschen um das von ihnen jeweils für ihr unveräußerliches Recht Gehaltene wandle, in einen Kampf, der bei einem materiellen Ver-

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Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 2), S. 112 ff. (S. 114). Kondylis, Geschichte (Anm. 3), S. 408; Kondylis, Das Politische (Anm. 1), S. 66. 8 Kondylis, Das Politische (Anm. 1), S. 64. 9 Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Weinheim 1991, S. 209. 10 Kondylis, Das Politische (Anm. 1), S. 62. 7

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ständnis der Menschenrechte zu einem Kampf um knappe Güter werde.11 Nicht weltweite ethische Verständigung wird deshalb nach Kondylis die Folge der Anerkennung der menschenrechtlichen Grundsätze sein, sondern diese werden in seinen Augen „das gemeinsame Schlachtfeld abgeben, auf dem jede der konkurrierenden Seiten um die Durchsetzung der eigenen Interpretation der genannten Grundsätze und gegen alle anderen Interpretationen kämpfen wird“.12 Der menschenrechtliche Universalismus, der dem Westen „als politische Waffe“ gegen den Kommunismus gedient habe, kehrt sich in Kondylis’ Augen zunehmend gegen den Westen selbst, und zwar insofern, als Völker und Staaten, die im Zuge der Entkolonialisierung politisches Selbstbewusstsein erlangt haben, nicht nur Menschenrechte für sich einfordern, sondern diesen auch eine immer extensivere Deutung beimessen. Mit dem Export seines ethischen Universalismus habe der Westen Erwartungen geweckt, die zunehmend zum Problem für ihn werden müssen und tatsächlich werden, weil sie sich gegen ihn wenden: Er selbst wird zum Adressaten von Menschenrechtsforderungen anderer, muss aber die logischen Konsequenzen seiner Propaganda umgehen, da er umfassend verstandene Menschenrechte ohne Selbstaufgabe nur unter dem Vorbehalt der Staatlichkeit praktizieren kann, sodass es von den einzelnen Staaten abhängt, in welchem Umfang und in welcher Weise Menschenrechte gelten und wer sich auf diese berufen kann. Damit aber verwickele sich der Westen in einen Widerspruch, der sich einerseits im Umgang westlicher Staaten mit illegalen Einwanderern manifestiere, die nicht deshalb des jeweiligen Landes verwiesen werden, weil sie Menschen, sondern deshalb, weil sie nicht Angehörige des jeweiligen Staates sind, und andererseits an Versuchen zeige, Menschenrechte in Gestalt der für die Bürger des Westens geltenden Rechte in anderen Weltgegenden durch politische oder auch militärische Interventionen durchzusetzen: Interventionen zu solchen Zwecken müssen nämlich aufgrund ihrer in Anbetracht der geopolitischen Machtverhältnisse zwangsläufigen Selektivität zu Glaubwürdigkeitsverlusten führen.13 Kondylis hält es für zwingend, dass materiell ausgelegte und mit Konsumerwartungen verbundene Menschenrechte in einen Konflikt mit der gegebenen Knappheit der Güter im Weltmaßstab geraten und sich dabei „in Waffen beim Kampfe um die Verteilung der knappen Güter verwandeln“, sodass Menschenrechte gegen Menschenrechte in Stellung gebracht werden.14 Deshalb könnten Menschenrechte „eine höchst explosive Angelegenheit werden“, und das insbesondere dann, wenn sie „z. B. unter schweren ökologischen Bedingungen das Recht auf Luft und Wasser miteinschließen sollten“.15 Dem Westen mit seiner „Utopie der auf menschenrecht11

Kondylis, Geschichte (Anm. 3), S. 408. Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 2), S. 113. 13 Kondylis, Das Politische (Anm. 1), S. 64; Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 2), S. 118. 14 Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 2), S. 116. 15 Kondylis, Niedergang (Anm. 9), S. 296. 12

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licher Basis zur Harmonisierung tendierenden Weltgesellschaft“16 seien mit dem Sieg seiner Ideen Aufgaben und Hypotheken zugewachsen, „unter deren Druck er sich von Grund aus ändern könnte“.17 Es sei die innere Logik der Menschenrechte, die zu einer Belastung für ihn selbst werden und ihn dazu zwingen könne, aktuelle ideologische Positionen zu räumen. Kondylis äußert die Vermutung, dass die westliche Rhetorik der Menschenrechte „in dem Maße abnehmen wird, in dem der Westen feststellen muss, dass seine Predigten ihn mit Lasten beladen, die er nicht tragen kann.“18 An Kondylis’ Wahrnehmung der Menschenrechte ist nicht so sehr der nüchternrealistische, um nicht zu sagen: pessimistische Zugang zur Thematik bemerkenswert als vielmehr das in seinen Darlegungen in martialischer Terminologie zum Ausdruck gebrachte funktionale Menschenrechtsverständnis. Er versteht von seiner Warte des bloß beschreibenden Beobachters aus die Menschenrechte, obwohl er sie in ihrer Bedeutung als gemeinsamer ideologischer Nenner der sich ausbildenden Weltgesellschaft würdigt, nicht als für diese maßgebliche ethische und rechtliche Standards, denen Rechnung zu tragen ist und auf die hin sich das politische Handeln zu orientieren hat, sondern als Mittel zur Erreichung je unterschiedlicher Ziele. Für ihn sind sie ein „politisches Instrument innerhalb einer planetarischen Lage, deren Dichte zwar zum Gebrauch universalistischer Ideologeme zwingt, in der aber große Nationen weiterhin die verbindliche Interpretation dieser Ideologeme bestimmen“.19 Er qualifiziert sie als „höchst explosive Angelegenheit“, apostrophiert den menschenrechtlichen Universalismus als „Waffe“ und bezeichnet die menschenrechtlichen Grundsätze als „Schlachtfeld“. Zudem spricht er im Zusammenhang mit Deutungen der Menschenrechte und Berufungen auf diese von „Kampf“ und von „Kämpfen“. Damit drängen sich nicht zuletzt aufgrund des verwendeten Vokabulars mehrere Fragen auf: Welches Anliegen verfolgt Kondylis? Was veranlasst ihn dazu, Menschenrechte nicht als absolute Werte, sondern funktional zu verstehen? Und wie ist es um die Stichhaltigkeit seiner Analyse unter Einschluss seiner Problematisierung des Menschenrechtsbegriffs und um die Plausibilität seiner Prognosen bestellt? Diesen Fragen ist im Folgenden nachzugehen.

II. Begriffliches Die Begriffe Menschenrechte und Grundrechte werden heute oft synonym verwendet.20 Es ist aber zweckmäßig, zu differenzieren und, wie es in der deutschen 16

Kondylis, Das Politische (Anm. 1), S. 65. Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 2), S. 116. 18 Kondylis, Geschichte (Anm. 3), S. 409. 19 Kondylis, Das Politische (Anm. 1), S. 66. 20 Klaus Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, Heidelberg 2004, S. 3 – 47, hier S. 26 f. Rn. 46; Arnd Pollmann, Menschenrechte, Grundrechte, Bürger17

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Rechtssprache geschieht, zwischen Menschenrechten als dem gesetzten (positiven) Recht vorausliegende normative Positionen einerseits und Grundrechten in Gestalt positiv-rechtlich verbürgter Ansprüche andererseits zu unterscheiden: Menschenrechte in diesem Verständnis sind moralische, d. h. überpositive und vorstaatliche Rechte, aus denen Ansprüche auf Verwirklichung und damit auf eine ihnen entsprechende Ausgestaltung nationaler Rechtsordnungen abgeleitet werden. Grundrechte hingegen sind solche (Menschen)Rechte, die Eingang in die Rechtsordnung eines Staates gefunden haben und regelmäßig in seiner Verfassungsrechtsordnung verbürgt sind, sodass es sich bei ihnen – in der insofern klaren Terminologie des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes – um „verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte“ handelt, also um subjektive Rechte, die den Einzelnen durch Verfassungsvorschriften eingeräumt und durch das verfassungsgesetzlich vorgesehene und einfachgesetzlich ausgestaltete Rechtsschutzsystem durchsetzbar gemacht sind.21 Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Verfassungsrecht und damit zu einer höherrangigen Rechtsschicht, die dem einfachen Gesetzesrecht übergeordnet ist, vermitteln Grundrechte Individuen fundamentale Rechtspositionen, deren Durchsetzbarkeit vor allem durch unabhängige und unparteiische Gerichte sichergestellt ist und die sogar eine den jeweiligen nationalen Gesetzgeber beschränkende Wirkung entfalten. Grundrechte gewährleisten dem je Einzelnen Freiheitsräume gegenüber dem Staat und sind insofern in ihrer klassischen Konzeption Abwehrrechte, vermöge welcher Verletzungen der durch sie garantierten Freiheitssphären durch staatliche Organe abgewehrt und sanktioniert werden können. Unabhängig davon, ob die Rechte, um die es geht, als sog. Jedermannrechte ausgestaltet sind, die schlechthin jedem Menschen zustehen, der sich auf dem Territorium des betroffenen Staates aufhält, oder sog. (Staats)Bürgerrechte sind, auf die sich allein Angehörige des jeweiligen Staates berufen können, ist in jedem Fall für ihre Wirksamkeit der territoriale Bezug ausschlaggebend: Adressat der Ansprüche der Grundrechtsberechtigten ist immer der Staat, der die Hoheit über das Gebiet ausübt, für das seine Rechtsordnung gilt, in der die Grundrechte verbürgt sind. Der Unterschied zwischen bloß moralischen Rechten und staatlich gewährleisteten, in dafür vorgesehenen Verfahren durchsetzbaren subjektiven Rechten verschwimmt, wenn, wie es in völkerrechtlichen Verträgen und insbesondere im anglo-amerikanischen Rechtsdenken der Fall ist, undifferenziert von Menschenrechten (Human Rights) zur Bezeichnung nicht nur moralischer, sondern auch gesetzlich und völkervertragsrechtlich verbürgter Rechte gesprochen wird. Eben deshalb kann Kondylis die Rede von den Menschenrechten kritisch hinterfragen, zumal die gängigen positivistischen Rechtsbegriffe allesamt darauf abstellen, dass die Regeln, die das Recht im objektiven Sinne, d. h. die jeweilige Rechtsordnung konstituieren, rechte, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hrsg.), Menschenrechte, Stuttgart/Weimar 2012, S. 129 – 136, hier S. 129 f. 21 Vgl. Walter Berka/Christina Binder/Benjamin Kneihs, Die Grundrechte, Wien 22019, S. 7, und Christoph Bezemek, Grundrechte in der Rechtsprechung der Höchstgerichte, Wien 2016, S. 28 f.

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über ein Mindestmaß an sozialer Wirksamkeit verfügen, also nicht nur normative Verbindlichkeit beanspruchen, sondern auch tatsächlich effektuiert und in den vorgesehenen Verfahren durchgesetzt werden.22 Von seiner Wortbedeutung her ist ein Menschenrecht ein Recht, das schlechthin allen Menschen allein deshalb zukommt, weil sie Menschen sind, das ihnen also unabhängig von Merkmalen wie Alter, Beruf, Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Vermögen, kulturelle Prägung oder soziale Herkunft nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zusteht.23 Menschenrechten in diesem Sinne fehlt, was der Grund für die faktische Wirksamkeit nationalstaatlicher Grundrechte ist, nämlich die institutionelle Gewährleistung im Rahmen gewaltenteilig organisierter Rechts- und Verfassungsstaaten durch Organe, die demokratisch legitimiert sind und die Rechte in detailliert geregelten formellen Verfahren durchsetzen. Moralische Menschenrechte sind nicht mehr als Postulate. Auch die völkerrechtlich vereinbarten Menschenrechte sind unbeschadet aller internationalen Schutzmechanismen von ihrer nationalstaatlichen Gewährleistung und Durchsetzung abhängig: Die einschlägigen Vertragswerke verpflichten denn auch regelmäßig die Staaten dazu, geeignete Maßnahmen zur Verwirklichung der Menschenrechte zu treffen. Damit steht und fällt die Sache der Menschenrechte mit dem Verhalten der einzelnen Staaten.24

III. Stellenwert der Menschenrechte Die Rede von den Menschenrechten hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eingang in das politische Standardvokabular gefunden. Sie ist heute allgegenwärtig. Einerseits haben sich die Menschenrechte zu einer „Schlüsselkategorie der politischen Kommunikation“ entwickelt,25 andererseits ist der Idee der Menschenrechte mittlerweile „die geistige Hegemonie zugefallen“.26 Sie hat in ihrer Bedeutung und Rolle das frühere Naturrecht abgelöst, denn Menschenrechte sind Wertmaßstä22 Z. B. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 21960, S. 10 ff.; Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 1992, S. 201 ff.; Peter Koller, Theorie des Rechts, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 41 ff. 23 Hans Jörg Sandkühler, Menschenrechte, in: ders. (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 1999, S. 818 – 823 ff. Zur Debatte Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hrsg.), Gelten Menschenrechte universal? , Freiburg/Basel/Wien 2008. 24 Emilie M. Hafner-Burton/Kiyoteru Tsutsui, Human Rights in a Globalizing World: The Paradox of Empty Promises, American Journal of Sociology 110 (2005), S. 1373 – 1411. 25 Annette Weinke, Vom „Nie wieder“ zur diskursiven Ressource. Menschenrechte als Strukturprinzip internationaler Politik seit 1945, in: Norbert Frei/Annette Weinke (Hrsg.), Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Göttingen 2013, S. 12 – 39, hier S. 20. 26 Josef Isensee, Die heikle Weltherrschaft der Menschenrechte. Zur Dialektik ihrer Universalität, in: Marten Breuer/Astrid Epiney/Andreas Haratsch/Stefanie Schmahl/Norman Weiß (Hrsg.), Der Staat im Recht. Festschrift für Eckart Klein zum 70. Geburtstag, Berlin 2013, S. 1085 – 1112, hier S. 1098. Ähnlich Jack Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice, Ithaca, N.Y./London 32013, S. 55 ff.

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be. Sie sind „die grundlegenden Prinzipien politischer Humanität“,27 die als Vorgaben für die Ausgestaltung von Rechtsordnungen sowie die Gestaltung sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse herangezogen werden und gerade wegen ihrer Deutungsoffenheit der symbolischen Integration der internationalen Gemeinschaft und der Konstruktion ihrer Identität dienen.28 Menschenrechte wirken als „säkulare Weltreligion“,29 fungieren als „lingua franca des weltweiten moralischen Denkens“30 und entfalten Strahlkraft als die „mächtigste politische Idee der Gegenwart“.31 Die Idee der Menschenrechte beansprucht weltweite Geltung. Sie ist von ihrer Stoßrichtung her kosmopolitisch32 und zielt auf „Weltmission“.33 Ihren völkerrechtlichen Siegeszug hat sie nach dem Zweiten Weltkrieg angetreten, als, getragen von pazifistischen Idealen, Menschenrechte unter dem Eindruck der Schrecken des Krieges und der in diesem begangenen barbarischen Akte in Opposition zu Nationalsozialismus und Faschismus zum politischen Ziel und Eckpfeiler der zu schaffenden internationalen Friedensordnung erklärt wurden:34 Schon die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 proklamiert in ihrem Art. 1 Z 3 „die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“ als eines der zu fördernden und zu festigenden Ziele der Vereinten Nationen.35 In der Präambel der drei Jahre später am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkünde27 Otfried Höffe, Die Menschenrechte als Legitimation und kritischer Maßstab der Demokratie, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, Kehl am Rhein/ Straßburg 1981, S. 241 – 274, hier S. 245. 28 Thorsten Bonacker/André Brodocz, Im Namen der Menschenrechte. Zur symbolischen Integration der internationalen Gemeinschaft durch Normen, Zeitschrift für internationale Beziehungen 8 (2001), S. 179 – 208. 29 Christian Tomuschat, Menschenrechte und kulturelle Traditionen, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 43 (2016), S. 6 – 17, hier S. 6. 30 Michael Ignatieff, Die Politik der Menschenrechte, Hamburg 2002, S. 74. Ähnlich Kenneth Cmiel, The Emergence of Human Rights Politics in the United States, The Journal of American History 86 (1999), S. 1231 – 1250, hier S. 1248 f. 31 Josef Isensee, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, Berlin 2009, S. 5. 32 Isensee, Weltherrschaft (Anm. 26), S. 1087. 33 Isensee, Vorwort (Anm. 31). 34 Zum Folgenden: Bardo Fassbender, Idee und Anspruch der universalen Menschenrechte im Völkerrecht der Gegenwart, in: Josef Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, Berlin 2009, S. 11 – 41; Andreas Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, Potsdam 4 2010, S. 69 ff.; Eckart Klein, Die völkerrechtliche Entwicklung nach 1948, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hrsg.), Menschenrechte, Stuttgart/Weimar 2012, S. 123 – 128. Speziell zur Motivation hinter der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Johannes Morsink, World War Two and the Universal Declaration, Human Rights Quarterly 15 (1993), S. 357 – 405. Siehe auch Micheline R. Ishay, The History of Human Rights, Berkeley/Los Angeles, C.A. 22008, S. 211 ff. 35 Charta der Vereinten Nationen, auszugsweise abgedruckt in: Bruno Simma/Ulrich Fastenrath (Hrsg.), Menschenrechte, München 62010, S. 1 – 3, hier S. 2.

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ten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die als Deklaration allerdings rechtlich unverbindlich ist, wird diese Erklärung ausdrücklich als das „von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ bezeichnet. Schritte zur Annäherung an dieses wurden mit der am 19. Dezember 1966 erfolgten Annahme der beiden Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen gesetzt, des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte einerseits und des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits. Diese drei Dokumente, die zusammengenommen auch als „Bill of Rights“ bezeichnet werden,36 stellen für die Staaten der Welt einen Standard auf, der in den folgenden Jahrzehnten durch die Schaffung weiterer Menschenrechtskonventionen wie etwa denjenigen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau, über die Rechte des Kindes sowie über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und durch das Erheben von immer neuen als Menschenrechte bezeichneten Ansprüchen auf Güter und Dienstleistungen immer feiner ausziseliert wurde, sodass eine Beobachterin angesichts dessen von einem „cornucopia of universal human rights“ sprechen konnte.37 Einen Meilenstein der Menschenrechtsentwicklung stellt die Wiener Weltmenschenrechtskonferenz des Jahres 1993 dar: § 5 der von ihr verabschiedeten sog. Wiener Erklärung vom 12. Juli 1993 proklamiert nämlich nicht nur die Allgemeingültigkeit und Unteilbarkeit aller Menschenrechte, sondern bestimmt auch, dass diese in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen, einen Sinnzusammenhang bilden und von den Staaten unbeschadet ihres jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Systems zu fördern und zu schützen sind.38 In dieser Festlegung liegt eine Anerkennung sowohl der Universalität der Menschenrechte als auch ihrer Unteilbarkeit, Interdependenz und Gleichheit, was nichts anderes bedeutet als die Bejahung der Gleichwertigkeit der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte mit den bürgerlichen und politischen.39 Aus diesem Grund konnte davon gesprochen werden, dass die von 171 Staaten mitgetragene Wiener Erklärung „den moralischen Kodex der menschlichen Gattung bekräftigt, der die verschiedenen Dimensionen des Zusammenlebens von Menschen durchdringen soll“.40 Nüchterner Betrachtung er36

Sie sind abgedruckt bei Simma/Fastenrath (Anm. 35), S. 5 ff., 57 ff., und 101 ff. Onora O’Neill, The Dark Side of Human Rights, International Affairs 81 (2005), S. 427 – 439, hier S. 428. 38 Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) (Hrsg.), Gleiche Menschenrechte für alle. Dokumente zur Menschenrechtsweltkonferenz der Vereinten Nationen in Wien 1993, Bonn 1994, S. 16. 39 Manfred Nowak, Menschenrechte. Eine Antwort auf die wachsende ökonomische Ungleichheit, Wien/Hamburg 2015, S. 85. Zur Problematik der angenommenen Unteilbarkeit der Menschenrechte, die in der Staatenpraxis als rechtfertigender Grund dafür herangezogen wird, dem Umgang mit ökonomischen sowie sozialen Ansprüchen und Forderungen den Vorrang vor dem Schutz von Freiheitsrechten einzuräumen siehe Aaron Rhodes, The Debasement of Human Rights, New York, N.Y./London 2018, S. 97 ff. 40 Rolf Zimmermann, Zur Begründung der Universalität von Menschenrechten, in: Eckart Klein/Christoph Menke (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote, Berlin 2008, S. 17 – 31, hier S. 17. 37

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scheint die Erklärung freilich als bloßer Formelkompromiss, als „Ergebnis eines diplomatischen ,Kuhhandels‘, der viele Interpretationsmöglichkeiten und Widersprüche beinhaltet“41 und als aufgrund geänderter politischer Machtverhältnisse möglich gewordener Sieg der asiatisch-islamischen Koalition über den überstimmten und ausmanövrierten Westen.42 Aber wie auch immer man die Wiener Erklärung bewerten mag: Daran, dass die Menschenrechte in der Konsequenz der völkerrechtlichen Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg „zum Grundsatzprogramm der Völkerrechtsgemeinschaft schlechthin geworden“ sind,43 ist nicht ernsthaft zu zweifeln.

IV. Kontroversen Obwohl der historische Prozess der Ausdifferenzierung und der völkerrechtlichen Vereinbarung der Menschenrechte als Erfolgsgeschichte gelesen werden kann, als stete Entwicklung in Richtung der weltweiten Anerkennung immer weiterer fundamentaler Standards der Humanität, greift die verbreitete Auffassung, die in völkerrechtlichen Verträgen verankerten Menschenrechte verkörperten „das einzig universell anerkannte Wertesystem der Gegenwart“,44 doch zu kurz. Sie blendet nämlich aus, dass der Konsens der Staatengemeinschaft in Sachen Menschenrechte ein bloß formaler und vordergründiger ist, der sich auf den Nominalwert von Begriffen bezieht, über deren Bedeutung alles andere als Einigkeit besteht. Zudem haben viele Staaten – ganz abgesehen davon, dass auch Signatarstaaten der einschlägigen Verträge massive Menschenrechtsverletzungen begehen –, einzelne Verträge gar nicht erst ratifiziert, sodass sich „echte Universalität nicht eingestellt hat“,45 oder sind ihnen nicht aus dem Grunde der Bejahung ihres Inhalts beigetreten, sondern deshalb, weil sie nicht als Außenseiter dastehen wollen und überdies davon ausgehen, durch die Verträge nicht zu einer Änderung ihres Verhaltens und zur Umgestaltung ihrer Rechtsordnung gezwungen zu werden.46 Auch haben nicht wenige Signatarstaaten eine Reihe von Vorbehalten gegenüber einzelnen Verträgen angebracht, die, wie etwa die zum Zwecke des Schutzes ihres je eigenen Familien- und Sozialmodells erklärten Vorbehalte islamischer Staaten gegenüber der Kinderrechtekonvention und der Konvention über die Beseitigung aller Formen von Diskriminierung 41

Ruth Klingebiel, Weltkonferenz über die Menschenrechte in Wien 1993, in: Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hrsg.), Weltkonferenzen und Weltberichte, Bonn 1996, S. 186 – 194, hier S. 192. 42 Samuel Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York, N.Y. 1996, S. 196 f. 43 Fassbender (Anm. 34), S. 30. 44 Nowak, Menschenrechte (Anm. 39), S. 170. 45 Christian Tomuschat, Menschenrechte in der Praxis der Vereinten Nationen, in: Bernd von Hoffmann (Hrsg.), Universalität der Menschenrechte, Frankfurt am Main 2009, S. 13 – 36, hier S. 18. 46 Eric A. Posner, The Twilight of Human Rights Law, New York, N.Y. 2014, S. 65 f.

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gegenüber Frauen diesen Regelwerken im Effekt die Substanz nehmen.47 Dazu kommt, dass nicht nur die Frage, welche Rechte Menschenrechte sind und Aufnahme in die einschlägigen Dokumente finden sollen, sondern auch die Deutung und Interpretation einmal vereinbarter menschenrechtlicher Texte insbesondere hinsichtlich der Rolle, die der Staat für das Wohlergehen seiner Bürger spielen soll, immer umstritten waren und weiter umstritten sind.48 Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte lässt sich als „Synthese zweier antagonistischer Menschenrechtskonzepte“ deuten, nämlich des bürgerlich-liberalen der westlichen Welt, das individuellen Freiheitsrechten und politischen Teilhaberechten absoluten Vorrang einräumt, und des sozialistischen der seinerzeitigen Länder des Ostblocks, das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in den Vordergrund stellt.49 Zudem war die ideologische Frontstellung zwischen West und Ost zusammen mit der ganz unterschiedlich gearteten Problematik der Implementierung von Abwehrrechten einerseits und von positiven Leistungsansprüchen andererseits auch ursächlich dafür, dass anstelle der Schaffung eines einheitlichen Menschenrechtskatalogs der Vereinten Nationen „ein ,westlicher‘ und ein ,sozialistischer‘ Menschenrechtspakt verhandelt [wurde], wobei die jeweils andere Seite peinlich darauf achtete, dass die jeweiligen Bestimmungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert wurden“.50 „Menschenrechte“ sind nicht gleich „Menschenrechte“. Es kommt immer darauf an, was unter Menschenrechten im Allgemeinen und was unter einem konkreten Menschenrecht im Besonderen genau verstanden wird. Das zeigt die Auseinandersetzung um Universalität und kulturbedingte Relativität der Menschenrechte,51 in 47

Ralph Alexander Lorz, Menschenrechte unter Vorbehalt: Verfassungsdogmatische Lösungsansätze für eine kontroverse Völkerrechtsproblematik, Der Staat 41 (2002), S. 29 – 46, hier S. 31 f.; Tomuschat (Anm. 45), S. 18 f. 48 Vgl. nur die Deutung der Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen als „Plattform für die Aushandlung verschiedener Versionen der Idee der Menschenrechte“ von Christoph Menke/Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 42007, S. 225 f. Anm. 13. 49 Nowak (Anm. 39), S. 64. Siehe auch Posner (Anm. 46), S. 17 f. Zur sozialistischen Menschenrechtskonzeption siehe Hermann Klenner, Marxismus und Menschenrechte, Berlin 1982, der ebd. S. 131 ausführt, „daß die sozialistischen Grundrechte die Negation des Wesensgehaltes kapitalistischer Freiheiten institutionalisieren und diese Negation irreversibel permanent zu erhalten haben“ (Hervorhebung im Original), sowie Erhardt Grella, „Sozialistische Grundrechte“ – eine neue Kategorie der Menschenrechte?, in: Jahrbuch für Ostrecht 19 (1978), S. 143 – 153. 50 Nowak, Menschenrechte (Anm. 39), S. 73. Differenzierter Jennifer Amos, Unterstützen und Unterlaufen. Die Sowjetunion und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948 – 1958, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 142 – 168, und Daniel J. Whelan/Jack Donnelly, The West, Economic and Social Rights, and the Global Human Rights Regime: Setting the Record Straight, Human Rights Quarterly 29 (2007), S. 908 – 949. 51 Für eine gute Übersicht über die Debatte m. w. N. siehe Christine Meyer, Menschenrechte in Afrika, Baden-Baden 2013, S. 23 – 36. Siehe auch Heiner Bielefeldt, „Western“

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deren Rahmen das westliche Menschenrechtsverständnis aus politischen Gründen auf unterschiedliche Art und Weise in Frage gestellt wurde und wird, so durch die behauptete Modifikation der Menschenrechte durch „asiatische Werte“, die im Vorfeld der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz seitens der Regierungen einzelner asiatischer Länder ins Spiel gebracht wurden,52 durch die Menschenrechtserklärungen muslimischer Staaten, in denen Menschenrechte unter den Vorbehalt der Scharia gestellt, also inhaltlich religiösen Vorgaben untergeordnet werden,53 und durch die Propagierung afrikanischer Menschenrechte, die Rechte durch Individualpflichten ergänzen und Anforderungen von Kollektiven unterstellen.54 Zudem ist das Menschenrechtsverständnis der USA, die den Weltpakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bis heute nicht ratifiziert haben, ein engeres als das der einschlägigen völkerrechtlichen Vertragswerke: Die USA setzen, wenn sie die Beachtung von Menschenrechten von anderen einfordern, diese regelmäßig mit ihrer Konzeption persönlicher Freiheit gleich, wie sie dem amerikanischen Sozialmodell zugrunde liegt.55 Es kann daher nicht verwundern, dass von Ländern des Westens verfochtene Menschenrechte in anderen Teilen der Welt negativ wahrgenommen werden und kritischen Beobachtern als „das Trojanische Pferd der weltweiten Verbreitung des globalen Kapitalismus“56 oder als Produkt der europäisch-amerikanischen Kultur in Gestalt eines anderen Kulturen unangemessenen ideologischen Pro-

versus „Islamic“ Human Rights Conceptions?: A Critque of Cultural Essentialism in the Discussion on Human Rights, Political Theory 28 (2000), S. 90 – 121; Jack Donnelly, The Relative Universality of Human Rights, Human Rights Quarterly 29 (2007), S. 281 – 306. 52 Bilahari Kausikan, Asia’s Different Standard, Foreign Policy, Nr. 92 (Autumn 1993), S. 24 – 41; Eun-Jeung Lee, „Asien“ und seine „asiatischen Werte“, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35 – 36/2003, S. 3 – 6; Christian Tomuschat, Europäische vs. Asiatische Werte. Scheitert die Universalisierung der Menschenrechte?, in: Richard Schröder/Johannes Zachhuber (Hrsg.), Was hat uns das Christentum gebracht?, München 2003, S. 161 – 179. 53 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Islam und die Kairoer Erklärung der Menschenrechte sind abgedruckt bei Anne Duncker, Menschenrechte im Islam. Eine Analyse islamischer Erklärungen über die Menschenrechte, Berlin 2006, S. 121 – 142. Dazu Geert Hendrich, Konkurrierende Vorstellungen von Menschenrechten: Diskurse und Kontroversen in der islamischen Welt, in: Gerd Steffens/Edgar Weiß (Hrsg.), Menschenrechte und Bildung. Jahrbuch für Pädagogik 2011, Frankfurt am Main 2011, S. 161 – 174; Moussa Al Hassan Diaw, Das Verhältnis von Menschenrechten und Gottesrecht (Scharia) im Islam, in: Friedrich Johannsen (Hrsg.), Die Menschenrechte im interreligiösen Dialog, Stuttgart 2013, S. 52 – 75; Rhodes (Anm. 39), S. 214 ff. Siehe auch Bassam Tibi, Im Namen Gottes? Der Islam, die Menschenrechte und die kulturelle Moderne, in: Michael Lüders (Hrsg.), Der Islam im Aufbruch?, München/Zürich 1992, S. 144 – 164. 54 Meyer (Anm. 51). 55 David P. Forsythe, Human Rights in International Relations, Cambridge 22006, S. 160 ff.; Jack Donnelly/Daniel J. Whelan, International Human Rights, New York, N.Y. 5 2018, 128 f. 56 So eine bestimmte kritische Strömung zusammenfassend Seyla Benhabib, Kosmopolitismus ohne Illusionen. Menschenrechte in unruhigen Zeiten, Berlin 2016, S. 7.

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jekts mit hegemonialem Anspruch erscheinen.57 Die Menschenrechte der völkerrechtlichen Vertragswerke sind allerdings so abstrakt formuliert, dass sie aufgrund ihrer dadurch bedingten Deutungsoffenheit nicht nur als Instrument zur Verbreitung des Neoliberalismus verstanden, sondern auch gegen diesen aufgeboten werden können: So ist aus der völkervertraglichen Verpflichtung der Staaten der Welt, die fortschreitende Verwirklichung aller Menschenrechte voranzutreiben, deren Pflicht abgeleitet worden, die behaupteterweise durch die neoliberale Wirtschaftspolitik in Zeiten der Globalisierung bewirkte Zunahme einer Einkommens- und Vermögensungleichheit in einer Vielzahl der gegenwärtigen Staaten, die dem historischen Konsens universeller Menschenrechte widerspreche, „durch entsprechende Sozial- und Umverteilungsmaßnahmen wie progressivere Einkommens-, Vermögens-, Erbschafts-, Schenkungs- und Finanztransaktionssteuern und direkte soziale Transferleistungen für besonders benachteiligte Gruppen zu bekämpfen“.58 Solche Folgerungen lassen sich zwar nicht methodisch korrekt im Wege rechtswissenschaftlicher Exegese aus den Menschenrechtstexten ableiten, aber allein schon der Umstand, dass sie als Gebot der Menschenrechte in den Raum gestellt und behauptet werden können, bestätigt anschaulich Panajotis Kondylis’ These von den menschenrechtlichen Grundsätzen als Schlachtfeld, auf dem unter Berufung auf diese einander widerstreitende Begehrlichkeiten, Forderungen und Interessen aufeinandertreffen. Es ist der mehrdeutige Inhalt vieler menschenrechtlicher Formulierungen, der gegenläufige Interpretationen zulässt und es damit den politischen Akteuren ermöglicht, einander widersprechende Anliegen und Forderungen auf die jeweils selbe Vorschrift zu stützen.59 In Grundrechtstexten verwendete Begriffe können daher „im Streit der Ideologien als semantische Waffen“ dienen, was keine neue Erkenntnis ist und nicht erst von Kondylis festgestellt wurde.60 Es verhält sich vielmehr so, dass die Auseinandersetzung um die philosophische Begründung von Menschenrechten insoweit, als diese kodifiziert und in völkervertraglichen oder verfassungsrechtlichen Vorschriften verankert werden, in eine solche der „letztlich politischen 57 Paradigmatisch Makau Mutua, Human Rights. A Political and Cultural Critique, Philadelphia, PA, 2002, S. 155: „International human rights fall within the historical continuum of the European colonial project in which whites pose as the saviors of a benighted and savage non-European World. The white human rights zealot joins the unbroken chain that connects him to the colonial administrator, the Bible-wielding missionary, and the merchant of free enterprise. Salvation in the modern world is presented as only possible through the holy trinity of human rights, political democracy and free markets.“ 58 Nowak (Anm. 39), S. 172 (im Original kursiv). 59 Vgl. Tom Campbell, Human Rights: A Culture of Controversy, Journal of Law and Society 26 (1999), S. 6 – 26, und Posner (Anm. 46), S. 34 ff., 86 ff. Siehe auch Mark Mazower, The Strange Triumph of Human Rights, 1933 – 1950, The Historical Journal 47 (2004), S. 379 – 398, hier S. 396 zur zeitgenössischen Einschätzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als „Leuchtturm der Hoffnung für die Menschheit“ einerseits und als Versuch der weltweiten Förderung des Staatssozialismus, wenn nicht des Kommunismus andererseits. 60 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt am Main 21994, S. 16 f. Siehe auch Rhodes (Anm. 39), S. 130 ff. mit vielen Beispielen der Transformation wirtschaftlicher und sozialer Rechte in Waffen zur Verfolgung politischer Umverteilungsziele.

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Inhaltsbestimmung“ derselben umschlägt.61 In den Zeiten des West-Ost-Konflikts wurde der politische Charakter des Streits um die Menschenrechte auch klar benannt: Diese erschienen einem prominenten Rechtsphilosophen der DDR als „Element des nationalen und des internationalen Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat“.62

V. Menschenrechte und der Primat der Politik Menschenrechte sind nicht etwas an sich Gegebenes, sondern menschliche Schöpfungen. Bei ihnen handelt es sich, wie Panajotis Kondylis formuliert hat, um Werte, „die genauso wie alle anderen Werte auch Produkte überempirischer weltanschaulicher Entscheidungen darstellen“ und in deren Begründung ebenso wie im Aufstellen von Theorien mit allgemeinem Geltungsanspruch ein Machtanspruch liegt.63 Was in der Gestalt von Menschenrechten von der Völkerrechtsgemeinschaft als moralischer Standard anerkannt wird, ist nicht etwas bereits Bestehendes, das nur aufgefunden werden muss, sondern immer etwas von Menschen bewusst Gesetztes, das regelmäßig erst als Resultat eines oft kontroversen politischen Prozesses und damit als Ergebnis eines Ringens feststeht,64 in dem vor dem Hintergrund wechselnder Machtkonstellationen unterschiedliche Interessen vor allem von Staaten und Nichtregierungsorganisationen aufeinandertreffen. Die letztlich gefundenen Ergebnisse spiegeln regelmäßig die Stärkeverhältnisse der Akteure und deren Geschick im Finden von Verbündeten, Schmieden von Allianzen und Aushandeln von Kompromissen wider: Das zeigt sich paradigmatisch daran, dass die seitens der USA und Brasiliens betriebene Aufnahme der Missbilligung des Antisemitismus in die Konvention gegen Rassendiskriminierung am vehementen Widerstand sowohl der Sowjetunion als auch afrikanischer und asiatischer Staaten gescheitert ist,65 wohingegen die Erklärung des Zionismus zu einer Form des Rassismus in einer Resolution

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Pollmann (Anm. 20), S. 132 (Hervorhebung im Original). Klenner (Anm. 49), S. 162 (Hervorhebung im Original). 63 Panajotis Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, Stuttgart 1990, S. 24. 64 Makau Mutua, Standard Setting in Human Rights: Critique and Prognosis, Human Rights Quarterly 29 (2007), S. 547 – 630. Siehe auch Mazower (Anm. 59) zu den Gründen für die Aufnahme eines Bekenntnisses zu den Menschenrechten in die Satzung der Vereinten Nationen und für die Ausgestaltung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in der Form, die sie letztlich erhalten hat, und die kritischen Beobachtungen von Rhodes (Anm. 39), S. 140 ff. 65 Sidney Liskofsky, United Nations and Human Rights, in: The American Jewish Yearbook 67 (1966), S. 457 – 470, hier S. 460 ff.; Jan Eckel, Symbolische Macht. Antikolonialismus und Menschenrechte in den Vereinten Nationen, in: Norbert Frei/Annette Weinke (Hrsg.), Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Göttingen 2013, S. 134 – 148, hier S. 142 f. 62

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der Generalversammlung aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in derselben problemlos möglich war.66 Dass der Kanon der Menschenrechte ein offener ist und dass den Menschenrechten eine Tendenz zur Erweiterung und Vertiefung, zur Vergrößerung des Kreises der durch sie Berechtigten einerseits und zur Ausweitung ihrer inhaltlichen Dimension andererseits innewohnt, zeigt neben der extensiven, grundrechtliche Verbürgungen im Interesse des Schutzes individueller Freiheiten sukzessive weiter auslegenden Rechtsprechung nationaler und internationaler Gerichte sowie des diese begleitenden und ihr vorangehenden rechtswissenschaftlichen Schrifttums die politische und völkerrechtliche Praxis: In ihr kommt es zu einer „steten Proliferation menschenrechtlicher Gewährleistungen“67 und damit zu einer „vor allem in internationalen Dokumenten verbreiteten Inflationierung von Rechten, die als Menschenrechte etikettiert werden“.68 Immer mehr und immer neue Menschenrechte entstehen in Abhängigkeit von der Durchsetzungskraft dahinterstehender Interessen, denen es im Wege des Einbringens ihrer Anliegen in völkerrechtliche Menschenrechtstexte gelingt, diesen eine höhere Dignität zu verleihen. Diese Entwicklung führt, wie einer ihrer Kritiker festgestellt hat, zu einer „Hypertrophierung des Menschenrechtsgedankens“ einerseits und zur „Überschwemmung der öffentlichen Diskussion mit immer neuen Menschenrechten“ andererseits.69 Kehrseite dieses Vorgangs ist eine Schwächung der Menschenrechtsidee. Diese verliert nämlich in dem Maße, in dem Ansprüche zu „Menschenrechten“ hochstilisiert und als solche qualifiziert werden, obwohl sie den Charakter angeborener und fundamentaler Rechte nicht aufweisen,70 an Eindeutigkeit. Sie wird einerseits banalisiert und andererseits widersprüchlich, wie die letztlich von Erfolg gekrönten Bestrebungen zeigen, Abtreibung und damit die Negation des fundamentalen Menschenrechts auf Leben in den Rang eines Menschenrechts zu erheben.71 An der Ausweitung des Kreises der in internationalen Texten als Menschenrechte apostrophierten Rechte wird auch die zunehmende Politisierung des Menschenrechtsverständnisses sichtbar. Sie ist an der üblich gewordenen Kategorisierung 66 Sidney Liskofsky, UN Resolution on Zionism, The American Jewish Yearbook 77 (1977), S. 97 – 126. 67 Eckart Klein, Menschenrechtsinflation?, in: Dirk Hanschel/Sebastian Graf Kielmansegg/Uwe Kischel/Christian Koenig/Ralph Alexander Lorz (Hrsg.), Mensch und Recht. Festschrift für Eibe Riedel zum 70. Geburtstag, Berlin 2013, S. 117 – 129. Ähnlich Posner (Anm. 46), S. 91 ff. Siehe auch Clifford Bob, The International Struggle for New Human Rights, Philadelphia, P.A. 2009. 68 Stern (Anm. 20), S. 46 Rn. 89. 69 Wolfgang Kersting, Politik und Recht, Weilerswist 2000, S. 255. 70 Stern (Anm. 20), S. 27 Rn. 49 f. Siehe auch schon Philip Alston, Conjuring up New Human Rights. A Proposal for Quality Control, The American Journal of International Law 78 (1984), S. 607 – 621. 71 Manfred Spieker, Missbrauch der UNO – Der globale Kampf um die Legalisierung der Abtreibung, in: Bernward Büchner/Claudia Kaminski/Mechthild Löhr (Hrsg.), Abtreibung – ein neues Menschenrecht?, Krefeld 2014, S. 111 – 140; Rhodes (Anm. 39), S. 138 f.

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der Rechte in solche der „ersten“, der „zweiten“ und der „dritten“ Generation ablesbar: Neben den historisch ersten und in ihrer Bedeutung relativ klar fassbaren Menschenrechten in Gestalt der klassischen staatsgerichteten Freiheits- und Abwehrrechte, deren Justiziabilität keine prinzipiellen Probleme aufwirft, stehen, manifest im Sozialpakt der Vereinten Nationen, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte, die als Teilhaberechte auf positive Leistungen des Staates nach Maßgabe seiner ökonomischen Möglichkeiten abzielen. Aufgrund der mangelnden Eindeutigkeit solcher Rechte wie etwa derjenigen auf „Soziale Sicherheit“, „auf angemessenen Lebensstandard“ und auf das „erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ ist die Klärung ihres Inhalts nicht im Wege rechtswissenschaftlicher Interpretation eines Vertragstextes oder einer Grundrechtsbestimmung, sondern nur im politischen Prozess möglich.72 Das hat zur Konsequenz, dass die sozialpolitische Auseinandersetzung in den einzelnen Staaten in der Sprache der Menschenrechte formuliert und rekonstruiert werden kann, womit sich politische Verteilungsfragen in menschenrechtliche Auslegungsstreitigkeiten verwandeln.73 Zudem erweisen sich Menschenrechte aufgrund der je unterschiedlichen ökonomischen Möglichkeiten und politischen Traditionen der einzelnen Staaten sowie der verschiedenen Niveaus gesellschaftlicher Entwicklung auch als kulturrelativ,74 sodass ihr genauer Inhalt, wie in der Literatur bemerkt wurde, „immer wieder und immer wieder neu ausgehandelt werden“ muss, woraus auch folge, „dass nicht einmal die völkerrechtlich bereits verbindlichen und interkulturell anerkannten UN-Vereinbarungen als abschließende Formulierungen oder erschöpfende Kataloge der Menschenrechte angesehen werden sollten.“75 Noch deutlicher zeigt sich diese Problematik bei den Solidaritätsrechten, die als Rechte der sog. „dritten Generation“ nicht primär einzelnen, sondern insbesondere Völkern und Volksgruppen zukommen sollen.76 Der Rechtscharakter dieser Rechte auf saubere Umwelt, auf Entwicklung, auf Frieden, auf Teilhabe am gesamten Erbe der Menschheit und auf Kommunikation ist umstritten; sie sind denn auch letztlich nicht mehr als „politische Programmsätze mit hohem Abstraktionsgrad“, die vor allem einem dienen: der Begründung von Ansprüchen im 72 Siehe die Art. 9, 11 und 12 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966, abgedruckt bei Simma/Fastenrath (Anm. 35), S. 101 – 109, sowie dazu Kathrin Moosdorf, Das Recht auf Wasser. Die Entstehung eines neuen Menschenrechts, Baden-Baden 2007; Katharina Engbruch, Das Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard. Ernährung, Wasser, Bekleidung, Unterbringung und Energie als Elemente des Art. 11 (1) IPWSKR, Frankfurt am Main u. a. 2008. 73 Vgl. Posner (Anm. 46), S. 87 ff. Siehe auch Aryeh Neier, Social and Economic Rights: A Critique, Human Rights Brief 13 2/2006, S. 1 – 3. 74 So lässt sich etwa das Wahlrecht auf vielfältigste und damit von kulturellen Entwicklungspfaden abhängige Weise ausgestalten. Darauf verweisen Donnelly/Whelan (Anm. 55), S. 47. 75 Arnd Pollmann, Von der philosophischen Begründung zur demokratischen Konkretisierung. Wie lassen sich Inhalt und Umfang der Menschenrechte bestimmen?, zeitschrift für menschenrechte 1/2008, S. 9 – 25, hier S. 23. 76 Eibe Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 16 (1989), S. 9 – 21.

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Verhältnis von Staaten untereinander, was sich daran zeigt, dass sie „immer wieder zur Förderung der eigenen politischen Positionen und zur Durchsetzung der eigenen Vorstellungen und Forderungen genutzt wurden und werden.“77 Aber nicht nur die Bestimmung des Umfangs des Kreises der Menschenrechte und des Inhalts der einzelnen Rechte ist eine hochpolitische Angelegenheit, sondern auch die Handhabung der Menschenrechte in der Praxis der Staaten unterliegt dem Imperativ des Politischen:78 So bildete es „von Anfang an ein wesentliches Strukturmerkmal der UN-Menschenrechtsarbeit, daß sie als eine Arena des ideologischen Propagandakampfes fungierte“, manifest zunächst in der noch in den späten 1940er Jahren einsetzenden Kampagne des Westens gegen Zwangsarbeit in den Ländern des Ostblocks,79 später in der Instrumentalisierung der Menschenrechte durch die Länder des Südens, die auf ihrer Grundlage gegen das Unrecht des Kolonialismus auftraten und sich ihrer als Legitimationsquelle politischer Forderungen nach Selbstbestimmung und Rassengleichheit bedienten. Es gelang den Ländern des Südens nicht nur, den antikolonialen Befreiungsdiskurs in menschenrechtlicher Sprache zu führen, sondern auch Anfang der 1960er Jahre aufgrund geänderter Mehrheitsverhältnisse in den Organen der Vereinten Nationen, Kolonialismus und Rassismus als Menschenrechtsverletzungen zu brandmarken und Selbstbestimmung als Menschenrecht in den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen zu verankern.80 Darüber hinaus konnte in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit Forderungen nach einer gerechten Weltwirtschaftsordnung ein – in seinem Inhalt bis heute umstrittenes – Recht auf Entwicklung in die Diskussion eingebracht werden, das vom Süden als Solidaritätsrecht und als Anspruchsgrundlage im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit verstanden wird, wohingegen der Westen zur Abwehr materieller Ansprüche den individuellen Charakter des Rechts betont und eigene Anstrengungen der Länder der Dritten Welt verlangt.81 77 Tobias H. Irmscher, Menschenrechte der dritten Generation, in: Burkhard Schöbener (Hrsg.), Völkerrecht. Lexikon zentraler Begriffe und Themen, Heidelberg u. a. 2014, S. 287 – 292, hier S. 292. Siehe auch kritisch Georg Lohmann, Werden die Menschenrechte überschätzt? Über Missbrauch, problematische Ausweitungen und Grenzen der Menschenrechte, zeitschrift für menschenrechte 7 (2/2013), S. 9 – 23, hier S. 15 f. 78 Z. B. Rosa Freedman, Failing to Protect. The UN and the Politicisation of Human Rights, New York, N.Y. 2015; Jacob Dolinger, The Case for Closing the UN. International Human Rights. A Study in Hypocrisy, Jerusalem/Springfield, N.J. 2016. 79 Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen 2014, S. 109 ff., hier S. 110. 80 Jan Eckel, Symbolische Macht (Anm. 65). 81 Sabine von Schorlemer, Recht auf Entwicklung – Quo vadis?, Die Friedens-Warte 72 (1997), S. 121 – 138; Martina Metz, Recht auf Entwicklung – Menschenrecht oder Hebel zu mehr Entwicklungshilfe?, in: Gerhart Baum/Eibe Riedel/Michael Schaefer (Hrsg.), Menschenrechtsschutz in der Praxis der Vereinten Nationen, Baden-Baden 1998, S. 179 – 190; Peter Uvin, From the Right to Development to the Rights-Based Approach: How ,Human Rights‘ Entered Development, Development in Practice 17 (2007), S. 597 – 606; Bonny Ibhawoh, The Right to Development: The Politics and Polemics of Power and Resistance, Human Rights Quarterly 33 (2011), S. 76 – 104; Markus Kaltenborn, Das Recht auf Ent-

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Auch der Menschenrechtsschutz durch die Organe der Vereinten Nationen erfolgt aufgrund der unterschiedlich gelagerten Interessen ihrer Mitglieder nicht gleichförmig, sondern ist seit jeher asymmetrisch und von massiven Ungleichgewichten geprägt: Manche Staaten unterliegen wesentlich stärkerer Aufmerksamkeit als andere, die eine gleiche Behandlung verdienen würden.82 Nicht ohne Grund wird aufgrund des Verhaltens der internationalen Gemeinschaft gegenüber Chile unter Pinochet, Südafrika während der Zeit der Apartheid und Israel bis heute von „Pariah-Staaten“ gesprochen.83 Ursächlich für die nicht durch Gegebenheiten im Tatsächlichen gerechtfertigte Ungleichbehandlung einzelner Staaten in Ansehung von diesen zu verantwortender Menschenrechtsverletzungen wie insbesondere die unverändert manifeste antiisraelische Schlagseite der Vereinten Nationen84 ist der Umstand, dass Einrichtungen wie die frühere Menschenrechtskommission und der heutige Menschenrechtsrat politische Organe sind, nicht aber Gerichte oder Verwaltungsbehörden, die in Bindung an Rechtsvorschriften konkrete Sachverhalte unter generelle Vorschriften zu subsumieren haben. Sie spiegeln in ihrer Zusammensetzung die Mehrheitsverhältnisse in der Weltgesellschaft wider, und eben deshalb wurden und werden sie von den Staaten des Westens ebenso wie von denjenigen des Südens zur Verfolgung ihrer Anliegen genutzt. Das äußert sich in einem selektiven Vorgehen unter Anlegung doppelter Standards: Die Arbeit der Organe ist aufgrund geo- und machtpolitischer Interessen von Bemühungen ihrer Mitglieder geprägt, befreundeten Staaten zu helfen und Kritik von den fragwürdigen menschenrechtlichen Praktiken ihrer Herkunftsstaaten abzuwehren.85 Die Politisierung der Arbeit der Menschenrechtskommission, ablesbar an der Schlagseite ihrer Arbeit und der Wahl von für ihre Menschenrechtsverletzungen bekannten Staaten wie Kuba und Libyen zu Mitgliedern, hat zu Glaubwürdigkeitsverlusten in einem solchen Ausmaß geführt, dass die Kommission im Jahr 2006 durch ein neu geschaffenes Organ in Gestalt des Menschenrechtsrats ersetzt wurde, der allerdings an denselben Problemen wie seine Vorgängerinstitution leidet:86 Im Rahmen des von ihm periodisch durchzuführenden Prozesses der Evawicklung und die US-amerikanische Außenpolitik, Verfassung und Recht in Übersee/Law and Politics in Africa, Asia and Latin America 44 (2011), S. 294 – 315; Andrea Kämpf, Entwicklung, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hrsg.), Menschenrechte, Stuttgart/Weimar 2012, S. 294 – 296. 82 Jack Donnelly, Human Rights at the United Nations 1955 – 85: The Question of Bias, International Studies Quarterly 32 (1988), S. 275 – 303. 83 Donnelly (Anm. 82), S. 285; Freedman (Anm. 78), S. 61 und 95. 84 Siehe nur Dolinger (Anm. 78) und Alex Feuerherdt/Florian Markl, Vereinte Nationen gegen Israel. Wie die UNO den jüdischen Staat delegitimiert, Berlin 2018, insbes. S. 193 ff. 85 Makau Mutua/Yvonne Terlingen/Constance de la Vega, Just back from the Human Rights Council, Proceedings of the Annual Meeting (American Society of International Law) 102 (2008), S. 329 – 338; Maximilian Spohr, Der neue Menschenrechtsrat und das Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Berlin 2014, S. 29 ff.; Dolinger (Anm. 78), S. 222 ff. 86 Spohr (Anm. 85), S. 47 f., 107 ff. Sven Bernhard Gareis, Der UN-Menschenrechtsrat: Neue Kraft für den Menschenrechtsschutz?, Aus Politik und Zeitgeschichte 46/2008, S. 15 – 21; Theodor Rathgeber, Der UN-Menschenrechtsrat: Was kann er leisten, was nicht?, in:

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luierung der Menschenrechtslage in den einzelnen Mitgliedstaaten gelingt es autoritären und totalitären Staaten, einander dabei tatkräftig wechselseitig unterstützend, regelmäßig, eklatante Verletzungen bürgerlicher und politischer Rechte hinter Maßnahmen wirtschaftlicher und sozialer Natur zurücktreten zu lassen und soziale und wirtschaftliche Rechte gegen bürgerliche und politische auszuspielen.87 Wie sehr Menschenrechte in der Staatspraxis dem Primat des Politischen unterliegen, zeigt in besonderer Weise der Umgang der USA mit diesen. Er schwankt zwischen lautstarkem Bekenntnis zur Sache der Menschenrechte, nationalen Interessen und politischen Imperativen. Dem vehementen, wenngleich nach Adressaten differenzierenden Verlangen nach Einhaltung der Menschenrechte durch andere,88 steht die hartnäckige Weigerung der USA gegenüber, ihre staatliche Souveränität durch internationale Normen einschränken zu lassen und sich der Anwendbarkeit internationaler Menschenrechtsverträge nicht bloß unter weitgehenden Vorbehalten, sondern auch tatsächlich vollinhaltlich, und d. h. durch Anpassung der eigenen Rechtsordnung zu unterwerfen.89 Ursächlich für diese Diskrepanz und die Doppelbödigkeit im Auftreten der USA sind Faktoren wie innerstaatliche Machtkonstellationen, wahltaktische Notwendigkeiten, nationale Sicherheitsinteressen, geopolitische und strategische Erfordernisse sowie bloße Zweckmäßigkeitsüberlegungen.90 So war etwa die Menschenrechtspolitik Präsident Carters nicht allein idealistischen Motiven geschuldet, sondern auch der Notwendigkeit, ein geeignetes Thema zur Wählermobilisierung gegen seinen Amtsvorgänger zu finden. Sie diente überdies als Mittel dazu, das Selbstbewusstsein der Nation in außenpolitischer Hinsicht zu stärken

Theodor Rathgeber/Dominik Steiger/Lilly Sucharipa-Behrmann/Günther Unser/Johannes Varwick, Die UN-Politik deutschsprachiger Länder, Potsdam 2013, S. 59 – 79. 87 Rhodes (Anm. 39), S. 149 ff. 88 David Carleton/Michael Stohl, The Foreign Policy of Human Rights: Rhetoric and Reality from Jimmy Carter to Ronald Reagan, Human Rights Quarterly 7 (1985), S. 205 – 229. 89 Georg Nolte, Die USA und das Völkerrecht, Die Friedens-Warte 78 (2003), S. 119 – 140, hier S. 123 f. 90 Andrew Moravcsik, The Paradox of U.S. Human Rights Policy, in: Michael Ignatieff (Hrsg.), American Exceptionalism and Human Rights, Princeton, N.J./Oxford 2005, S. 147 – 197. Siehe auch David P. Forsythe, American Foreign Policy and Human Rights: Rhetoric and Reality, Universal Human Rights 2/3 (1980), S. 35 – 53; David P. Forsythe, Human Rights and U.S. Foreign Policy: Two Levels, Two Worlds, Political Studies 43 (1995), S. 111 – 130; Jerome J. Shestack, Human Rights, the National Interest, and U.S. Foreign Policy, The Annals of the American Academy of Political and Social Science 506 (1989), S. 17 – 29; C. William Walldorf, Jr., Just Politics. Human Rights and the Foreign Policy of Great Powers, Ithaca, N.Y. 2008, sowie Georg Nolte, Messias oder Machiavell? Die Menschenrechtspolitik der USA, in: Georg Nolte/Hans-Ludwig Schreiber (Hrsg.), Der Mensch und seine Rechte. Grundlagen und Brennpunkte der Menschenrechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2004, S. 86 – 107.

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und die insbesondere durch den Vietnamkrieg verloren gegangene Glaubwürdigkeit der amerikanischen Politik wiederzuerlangen.91 Wie gering das Gewicht von Menschenrechten gegenüber sicherheitspolitischen Erfordernissen ist, zeigen die – Julie A. Mertus spricht in diesem Zusammenhang von der „co-option of human rights talk by the government to serve narrow state interests contrary to human rights principles“92 – von den USA begangenen schwerwiegenden Verletzungen elementarer Menschenrechte im Rahmen ihres in Reaktion auf die Terroranschläge des 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon ausgerufenen „Kriegs gegen den Terrorismus“93 in Gestalt von Folterungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib,94 im Widerspruch zu den Genfer Konventionen stehenden Haftbedingungen im Gefängnis Guantánamo95 und des Folterungen beinhaltenden Rendition-Programms.96 Menschenrechte sind in der Praxis der Staaten nicht die allein maßgeblichen Kriterien für außenpolitisches Handeln, sondern nur ein zu berücksichtigender Umstand neben anderen,97 weshalb die Gewichtung der Entscheidungsdeterminanten im Einzelfall nicht selten dazu führt, dass Maßnahmen gesetzt und Politiken verfolgt werden, die Menschenrechten abträglich sind: Massive Verletzungen der Menschenrechte werden nicht selten als „Kollateralschäden“ bei der Verhängung von Wirtschaftssanktionen in Kauf genommen, die oft nicht nur zu größerer Armut und verschlechterten Gesundheitsbedingungen der betroffenen Bevölkerung führen, sondern

91 Stephen Hopgood, The Endtimes of Human Rights, Ithaca, N.Y. 22015, S. 98 f.; Jan Eckel, Humanitarisierung der internationalen Beziehungen? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 603 – 635, hier S. 618. 92 Julie A. Mertus, Human Rights and Civil Society in a New Age of American Exceptionalism, in: Richard Ashby Wilson (Hrsg.), Human Rights in the ,War on Terror‘, New York, N.Y. 2005, S. 317 – 333, hier S. 317. 93 Reinhard Marx, „Globaler Krieg gegen den Terrorismus“ und territorial gebrochene Menschenrechte, Kritische Justiz 39 (2006), S. 151 – 178; Christine Lang, „All men are created equal“? Menschenrechtspolitik nach dem 11. September, in: Gisela Riescher (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst, Baden-Baden 2010, S. 249 – 272; Wolfgang Nesˇkovic´ (Hrsg.), Der CIA-Folterreport. Der offizielle Bericht des US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA, Frankfurt/Main 2015. 94 Karen J. Greenberg/Joshua L. Dratel (Hrsg.), The Torture Papers: The Road to Abu Ghraib, Cambridge 2005. Siehe auch Andreas Fischer-Lescano, Weltrecht als Prinzip. Die Strafanzeige gegen Donald Rumsfeld wegen der Folterungen in Abu Ghraib, in: Kritische Justiz 38 (2005), S. 72 – 93, und Bettina Greiner, Nach Abu Ghraib, in: Bernd Greiner/Tim B. Müller/Klaas Voß (Hrsg.), Erbe des Kalten Krieges, Hamburg 2013, S. 111 – 127. 95 Manfred Nowak, Das System Guantánamo, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36/2006, S. 23 – 30; Karen J. Greenberg, The Least Worst Place: How Guantanamo Became the World’s Most Notorious Prison, Oxford 2009. 96 Dawid Danilo Bartelt/Ferdinand Muggenthaler, Das Rendition-Programm der USA und die Rolle Europas, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36/2006, S. 31 – 38; Friedman (Anm. 78), S. 1 ff. 97 Donnelly, Universal Human Rights (Anm. 26), S. 205 ff.

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vielfach auch zu verstärkten Repressionsmaßnahmen des jeweiligen Regimes.98 Und als Konsequenz Humanitärer Interventionen können Tote in der Zivilbevölkerung zu beklagen sein. An Humanitären Interventionen, also an militärischen Maßnahmen eines Staates oder einer Gruppe von Staaten, die auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates ohne dessen Ersuchen durchgeführt werden, um Menschen egal welcher Staatsangehörigkeit vor massenhaften und gravierenden Menschenrechtsverletzungen oder den Auswirkungen einer herbeigeführten oder geduldeten humanitären Notlage zu bewahren, wird überdies das prekäre Verhältnis von moralischem Anspruch und Politik besonders deutlich: Die rechtliche Zulässigkeit solcher Interventionen ist umstritten, weil sie mit dem unbedingten Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen kollidieren. Nun kann zwar der Sicherheitsrat nach Kapitel VII der Charta Zwangsmaßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit billigen,99 doch ist dieser kein auf den Vollzug von Rechtsvorschriften verpflichtetes Organ, sondern aufgrund seiner Zusammensetzung ein politisches, das seine Entscheidungen nicht aufgrund rechtlicher Erwägungen, sondern auf dem Boden sicherheitspolitischer Interessen insbesondere seiner ständigen Mitglieder trifft.100 Dazu kommt, dass unter dem Titel der Humanitären Intervention Menschenrechte im Widerspruch zu bestehenden rechtlichen Schranken für die Anwendung von Gewalt in Ermächtigungsnormen für militärische Maßnahmen umgedeutet werden, sich auf diese Weise in Interventionstitel verwandeln und damit den Handlungsspielraum außenpolitischer Akteure er-

98 Barbara Lochbihler, Die Irak-Sanktionen, Menschenrechte und die Optionen der internationalen Politik, in: Dieter S. Lutz/Hans J. Gießmann (Hrsg.), Die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren, Baden-Baden 2003, S. 105 – 111; Dusen Peksen, Better or Worse? The Effect of Economic Sanctions on Human Rights, Journal of Peace Research 46 (2009), S. 59 – 77. Siehe auch Guglielmo Verdirame, The UN and Human Rights, Cambridge u. a. 2011, S. 306 ff. 99 Zur Diskussion um die Zulässigkeit Humanitärer Interventionen siehe z. B. Adam Roberts, Humanitarian war: military intervention and human rights, International Affairs 69 (1993), S. 429 – 449; Josef Isensee, Weltpolizei für Menschenrechte: Zur Wiederkehr der humanitären Intervention, Juristenzeitung 50 (1995), S. 421 – 430; Hermann-Josef Blanke, Menschenrechte als völkerrechtliche Interventionstitel, in: Archiv des Völkerrechts 36 (1998), S. 257 – 284; Burkhard Schöbener, Schutz der Menschenrechte mit militärischer Gewalt: die humanitäre Intervention zwischen Völkerrecht und internationaler Politik, Zeitschrift für Politik 47 (2000), S. 293 – 317; Ingo Liebach, Die unilaterale humanitäre Intervention im „zerfallenen Staat“ („failed state“), Köln/Berlin/München 2004; Ingo Thomas Bruha/Sebastian Heselhaus/Thilo Marauhn (Hrsg.), Legalität, Legitimität und Moral, Tübingen 2008; Herfried Münkler/Karsten Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention, Wiesbaden 2008; Hubertus Busche/Daniel Schubbe (Hrsg.), Die Humanitäre Intervention in der ethischen Beurteilung, Tübingen 2013. 100 Stefan Oeter, Humanitäre Intervention und die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots – Wen oder was schützt das Völkerrecht: Staatliche Souveränität, kollektive Selbstbestimmung oder individuelle Autonomie?, in: Herfried Münkler/Karsten Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention, Wiesbaden 2009, S. 29 – 64 (S. 41); Dolinger (Anm. 78), S. 213 ff.

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weitern,101 was auch für die Weiterentwicklung dieses Instituts zu einer internationalen Schutzverantwortung gilt.102 Es ist strittig, ob Menschenrechte, wenn sie denn zur Legitimation militärischer Einsätze aufgeboten werden, auch tatsächlich von ausschlaggebender Bedeutung für deren Durchführung sind. So waren im Falle des – ohne einen legitimierenden Beschluss des Sicherheitsrats erfolgten – Eingreifens der NATO im Kosovo 1999 humanitäre Erwägungen wohl ein behaupteter Beweggrund, doch ging es weniger um Menschenrechte als vielmehr um die Stabilität Südosteuropas und damit um geo- und sicherheitspolitische Interessen.103 Ursächlich für den Einsatz militärischer Gewalt sind, auch wenn humanitäre Erwägungen ins Treffen geführt werden, vielfältige andere Bestimmungsgründe wie der Umstand, dass von demokratischen Wahlen abhängige Regierungen militärische Einsätze und tote Soldaten vor ihrem Elektorat zu rechtfertigen haben, medialer Druck oder Desinteresse der Öffentlichkeit, vor allem aber geopolitische und wirtschaftliche Interessen im Zusammenhang mit der Sicherung essentieller Ressourcen.104 Wie der Blick auf militärische Interventionen der Vergangenheit zeigt, sind humanitäre Motive regelmäßig nicht bestimmend gewesen.105 Das gilt für die Interventionen Indiens in Pakistan 1971, der Türkei in Nordzypern 1974, Kambodschas in Osttimor 1975, Vietnams in Kambodscha 1978/79, Tansanias in Uganda 1978 sowie der USA in Grenada 1983 und in Panama 1989. Und auch wenn bei den Interventionen in Somalia 1992, Bosnien und Herzegowina 1992 – 1995, in Ruanda 1994, im Kosovo und in Osttimor 1999, humanitäre Gründe eine, wenngleich nicht bestimmende, Rolle gespielt haben mögen, so wird doch gerade am Beispiel der genannten Interventionen die Schieflage beim Einsatz dieses Instruments deutlich: In den Fällen des Sudan, des Kongo, Sierra Leones, Liberias und Ugandas sind nämlich keine Interventionen erfolgt, obwohl sie von einem moralischen Standpunkt aus nicht weniger gerechtfertigt gewesen wären.106 Im Blick auf die Praxis der Humanitären Interventionen kann daher bestenfalls von einer „se101 Dazu kritisch Ingeborg Maus, Menschenrechte, Demokratie und Frieden, Berlin 2015, S. 13; Norman Paech, Menschenrechte, Köln 2019, S. 26 ff. 102 Stephan Hobe, Die internationale Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) und die Maßnahmen des Sicherheitsrates gegenüber Lybien, in: Dirk Hanschel/Sebastian Graf Kielmansegg/Uwe Kischel/Christian Koenig/Ralph Alexander Lorz (Hrsg.), Mensch und Recht. Festschrift für Eibe Riedel zum 70. Geburtstag, Berlin 2013, S. 81 – 94; Paech, Menschenrechte (Anm. 101), S. 31 ff. 103 Schöbener (Anm. 99), hier S. 295; Christian Hillgruber, Humanitäre Intervention, Großmachtpolitik und Völkerrecht, in: Der Staat 40 (2001), S. 165 – 191, hier S. 186. 104 Isensee, Weltherrschaft (Anm. 26), S. 1102; Liebach (Anm. 99), S. 192 ff.; Ulrich Petersohn, Selektiver Schutz universaler Menschenrechte. Eine multikausale Erklärung des Interventionsverhaltens von Demokratien, Baden-Baden 2009. Siehe auch Norman Paech, Menschenrechte versus Völkerrecht, zeitschrift für menschenrechte 7 (2/2013), S. 101 – 109, hier S. 107 f. 105 Für einen Gesamtüberblick siehe Liebach (Anm. 99), S. 173 ff. 106 Sabine C. Carey/Mark Gribney/Steven C. Poe, The Politics of Human Rights, Cambridge 42016, S. 168 ff.

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lektiven Humanität“ gesprochen werden, die es angesichts des universalen Anspruchs der Menschenrechte nicht geben dürfte,107 aber doch gibt, weil das herrschende humanitäre, menschenrechtlich imprägnierte Weltethos nicht ausschließen kann, dass hegemoniale Mächte unverändert ihre Interessen nach geo- und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten verfolgen und sich dabei u. a. der Menschenrechte zur moralischen Legitimation ihrer militärischen Interventionen bedienen.108 Menschenrechte sind ein Ziel neben anderen Zielen und ein Mittel der Außenpolitik zugleich. So bekennt sich etwa die EU dazu, die Menschenrechte zu respektieren und zu fördern. Zur Erreichung dieses Ziels nimmt sie Menschenrechtsklauseln in Verträge mit Drittstaaten auf, bemüht sich um ein koordiniertes Auftreten in Menschenrechtsangelegenheiten in internationalen Organisationen, führt Menschenrechtsdialoge mit Staaten, unterstützt Initiativen zur Förderung von Menschenrechten und Demokratisierung und verhängt Sanktionen in Gestalt der Aussetzung von Wirtschaftshilfe und Handelspräferenzen.109 Sie verfolgt mit ihrer Konditionalitätspolitik, d. h. der Politik, Finanzhilfen und Handelsvorteile in Übereinkommen mit Drittstaaten an die Beachtung der Menschenrechte durch diese zu binden, explizit menschenrechtliche Ziele,110 mit der Folge freilich, dass ihr Handeln, das Hilfe mit politischen Verwendungszusagen verknüpft, als Imperialismus wahrgenommen wird, gerichtet auf die Durchsetzung der Ideologie der freien Marktwirtschaft und darauf, die Verringerung von Wirtschaftshilfe für Afrika zu legitimieren.111 Nähere Betrachtung erweist freilich bei allen Formen der Verbindung menschenrechtlicher Maßnahmen mit wirtschaftlichen das Bestehen einer vielfach gegebenen Diskrepanz zwischen nach außen bekundeter Zwecksetzung und tatsächlicher Handlungsmoti107

Berthold Meyer, Konfliktfolgenabschätzung – Ist die „humanitäre Intervention“ tatsächlich humanitär?, in: Bruha/Heselhaus/Marauhn (Anm. 99), S. 133 – 148, hier S. 146 (Hervorhebung im Original). 108 Rudolf Burger, Die Politik der moralischen Militärintervention, in: Rudolf Burger, Ptolemäische Vermutungen, Lüneburg 2001, S. 153 – 169. 109 Monika Lerch, Menschenrechte und europäische Außenpolitik, Wiesbaden 2004; Wolfgang S. Heinz, EU External Relations and Human Rights, in: Malte Brosig (Hrsg.), Human Rights in Europe, Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 184 – 207; Fabian Hemker, Handelspolitik und Menschenrechte: Das allgemeine Präferenzsystem Plus (APSplus) der Europäischen Union, MenschenRechtsMagazin 3/2006, S. 281 – 291. 110 Siehe die Studie The Application of Human Rights Conditionality in the EU’s Bilateral Trade Agreements and Other Trade Arrangements with Third Countries, EXPO-B-INTA2008 – 57, PE 406.991, vom November 2008, im Internet unter http://www.europarl.europa.eu/ RegData/etudes/etudes/join/2008/406991/EXPO-INTA_ET(2008)406991_EN.pdf (aufgerufen am 05. 01. 2021). 111 Z. B. John-Jean B. Barya, The New Political Conditionalities of Aid: An Independent View from Africa, in: Wiener Institut für Entwicklungsfragen und Zusammenarbeit (Hrsg.), The New Political Conditionalities of Development Assistance: Human Rights, Democracy and Disarmament, Report Series 2/92, Wien 1993, S. 32 – 46; Franz Nuscheler, Politische Konditionalität in der Entwicklungspolitik. Erpressung oder Imperativ universeller Menschenrechte?, in: Christian Pracher/Herbert Strunz (Hrsg.), Wissenschaft um der Menschen willen. Festschrift für Klaus Zapotoczky zum 65. Geburtstag, Berlin 2003, S. 647 – 660.

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vation: Es geht bei der Aufnahme von Menschenrechtsklauseln in Handelsverträge nicht selten weniger darum, die Beachtung der Menschenrechte in anderen Ländern zu sichern, als vielmehr darum, auf diese Weise innerstaatliche Probleme zu lösen, Eigeninteressen der handelnden Akteure zu befördern, Koalitionen zu schmieden und bestimmte innen-, aber auch außen- und handelspolitische Ziele zu verfolgen.112

VI. Würdigung Dass in Sachen Menschenrechte Rhetorik und Realität auseinanderklaffen, dass der politische Umgang mit Menschenrechten von Heuchelei und der Anwendung doppelter Standards gekennzeichnet ist, dass das Bekenntnis zu Menschenrechten oft nur ein Lippenbekenntnis ist, das immer wieder mit der gröblichsten Missachtung derselben und der Aufbietung oft spitzfindiger Rechtfertigungen für die Verletzung derselben Hand in Hand geht, dass sowohl das Eintreten für Menschenrechte als auch deren Beachtung ebenso wie die Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen oder das Schweigen zu solchen vielfach von Opportunitätserwägungen abhängt, und dass Menschenrechte, die wohl ein, wenn auch bei weitem nicht der einzige und schon gar nicht der primär maßgebliche Bestimmungsgrund für politisches Handeln sind, (auch) als Mittel zur Erreichung politischer Ziele herangezogen und insofern instrumentalisiert werden, ist Gemeingut, vielfach dokumentiert und wird oft genug beklagt.113 Nicht wenige Beobachter sind sich dessen bewusst, dass Menschenrechte nicht außerhalb des Politischen stehen – „politics trumps human rights each and every time“, hat Rosa Freedman formuliert114 –, sondern „von ganz unterschiedlichen Akteuren als Instrument im politischen Kampf eingesetzt und genutzt“ werden115 und dass der selektive Einsatz des Menschenrechtsarguments diesem tatsächlich den Charakter einer „Propagandawaffe“ verleihen kann.116 In der Tat: Menschenrechte finden Gebrauch, um andere zu diskreditieren,117 um militärische Interventionen zu legitimieren,118 um in ihrem Namen in einem Widerspruch zu Menschenrechten

112 Emilie M. Hafner-Burton, Forced to be Good. Why Trade Agreements Boost Human Rights, Ithaca, N.Y./London 2009. 113 Z. B. Slavoj Zˇ izˇek, Against Human Rights, New Left Review 34 (2005), S. 115 – 131, hier S. 128: „,[H]uman rights‘ are as such, a false ideological universality, which masks and legitimizes a concrete politics of Western imperialism, military interventions and neo-colonialism.“ 114 Freedman (Anm. 78), S. 67. 115 Lohmann (Anm. 77), S. 14. 116 Tomuschat (Anm. 45), S. 33. Siehe auch Mazower (Anm. 59), S. 395. 117 James H. Lebovic/Eric Voeten, The Politics of Shame: The Condemnation of Country Human Rights Practices in the UNCHR, International Studies Quarterly 50 (2006), S. 861 – 888. 118 Falko Grube, Menschenrechte als Ideologie. Die Rolle der Menschenrechte bei der Legitimation militärischer Interventionen, Baden-Baden 2010.

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stehende politische Interessen zu verfolgen,119 um diverse Ansprüche zu begründen und um verschiedenste Absichten, Anliegen und Vorgehensweisen zu rechtfertigen.120 Dabei werden sie in mehrfacher Hinsicht missbraucht: ideologisch, soweit sie als behaupteter Grund für Politiken aufgeboten werden, die in Wahrheit der Durchsetzung von Interessen und der Verfolgung verschiedenster Ziele dienen, die mit dem Schutz von Menschenrechten und dem Hintanhalten von Verletzungen derselben nichts oder nur am Rande zu tun haben; durch selektive Verkürzungen, indem bestimmte Rechte systematisch ausgeblendet werden; und schließlich durch normative Überschätzung in Gestalt der Erhöhung der Menschenrechte zu einer umfassenden Idee der Gerechtigkeit.121 Soweit Panajotis Kondylis in essayistisch knapper Form auf solche Gegebenheiten verweist, aus der Beobachterperspektive die Instrumentalisierung von Menschenrechten für unterschiedliche außerethische Zielsetzungen konstatiert und ihnen den Charakter des Endgültigen abspricht, sagt er nichts Neues. Er spricht an, was auch das Ergebnis vieler Detailstudien ist. Zudem bestätigt die Rolle, die Menschenrechte in der Praxis der Staaten spielen, eindrucksvoll seine im Blick auf die Geschichte gewonnene Feststellung von der immer wieder zu konstatierenden Unterwerfung des Ethischen unter die Logik des Politischen und der ausschlaggebenden Bedeutung vor allem politischer Gründe für das Aufgebot des Ethischen: Nicht Altruismus und nicht humanitäre Überzeugungen sind bestimmend für das Handeln von Staaten, sondern je und je gegebene Interessenlagen, Sachzwänge und strategische Zielsetzungen. Das gilt für die Gegenwart ebenso wie für die Vergangenheit. Wie Kondylis selbst gezeigt hat, sind Menschenrechte schon an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kontrovers gedeutet worden, als die Konservativen jener Zeit im revolutionär-militärischen Export der französischen Menschenrechtsidee das Eigeninteresse eines sich hinter dem Universalismus verbergenden Nationalismus erblickten und zur Verteidigung des Status quo dynastisch geführter partikularer „organisch gewachsener“ Gemeinschaften gegen die Idee der Menschenrechte und den revolutionären Universalismus derselben auf den geschichtlichen Charakter des Rechts und die Verwurzelung von Rechten in den überkommenen hierarchisch strukturierten Ordnungen verwiesen.122

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Z. B. Anne Bayefsky, The UN World Conference against Racism: A racist anti-racism Conference, in: Proceedings of the Annual Meeting (American Society of International Law) 96 (2002), S. 65 – 74; Arturo López-Levy/Harlan S. Abrams, Anything but Human Rights: US Policy towards Cuba under Helms-Burton, International Journal of Cuban Studies 2 (2010), S. 315 – 334. 120 Z. B. Jan Eckel, Utopie der Moral, Kalkül der Macht. Menschenrechte in der globalen Politik seit 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 437 – 484; Rhodes (Anm. 39), S. 146 f. 121 Dazu im Detail Lohmann (Anm. 77). 122 Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 42 f., 287 ff.

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Kondylis’ Lageanalyse weist allerdings eine Besonderheit auf. Diese liegt in seinem Zugang zum Phänomen der Ideen im Allgemeinen und dem der Menschenrechte im Besonderen. Kondylis moralisiert weder, noch konstatiert er Defizite und Abweichungen von einem wie auch immer gearteten normativen Standard. Er misst das Geschehen insbesondere auch nicht am Maßstab der Menschenrechte selbst, sondern er beschreibt es lediglich. In seinen Augen zeigt sich nämlich, und das ist das Spezifikum seines Ansatzes, im Umgang der einzelnen Akteure mit den Menschenrechten eine Grundstruktur des menschlichen Daseins, der sein eigentliches Erkenntnisinteresse gilt. Über diesen Zugang eröffnet er Einsichten in die Verfassung menschlicher und sozialer Praxis123 und kann erklären, warum der Umgang mit Menschenrechten so ist wie er ist. Zudem ermöglicht ihm das explikative Potential seines Ansatzes auch Prognosen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung. Ausgehend von der ontologischen Priorität konkreter Menschen versteht Kondylis die von diesen in die Welt gesetzten geistigen Schöpfungen als Funktionen und Derivate. Er begreift Ideen und Konzepte, Normen, Theorien und Werte, kurz: Normativismen aller Art, als existentielle Funktion der Menschen, d. h. als Erzeugnisse bestimmter Subjekte in bestimmten Situationen. Kondylis versteht sie als Mittel, die der Befriedigung des menschlichen Grundbedürfnisses nach Identität und Orientierung dienen. Sie sind von Menschen in Abhängigkeit von den durch die jeweilige Lage bedingten Notwendigkeiten in Abgrenzung zu jeweils anderen vorgenommene Setzungen im Interesse der Selbsterhaltung, die im Wege ihrer Objektivierung mit Machtansprüchen versehen werden. Sie fußen auf Entscheidungen, die für Kondylis unumgänglich sind, weil sie der Konstitution eines Weltbilds und damit der Identität des jeweiligen Subjekts dienen. Diese Entscheidungen sind freilich nie nur Entscheidungen für, sondern immer auch Entscheidungen gegen etwas, denn die Etablierung eines Weltbilds geht einher mit der Ausblendung von Anderem, und insofern wird es durch Abgrenzung und damit polemisch konstituiert.124 Kondylis kann daher annehmen, dass Ideen deshalb, weil sie als Gegenbegriffe zu anderen Ideen entstehen, als Mittel zum Zweck der Durchsetzung von Machtansprüchen und damit als Waffen im Kampf zur Verteidigung des Weltbilds fungieren, dessen Bestandteil sie sind.125 Kondylis deutet das soziale Geschehen als einen Kampf um Wertsetzung und Sinngebung, der von sich in Freund-Feind-Konstellationen gruppierenden126 Men123

Andreas Krause Landt, Mechanik der Mächte. Über die politischen Schriften von Panajotis Kondylis, in: Falk Horst (Hrsg.), Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission, Berlin 2007, S. 101 – 124, hier S. 102 f. Siehe auch Georg Zenkert, Entscheidung und Macht. Kondylis als Kritiker des Normativismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012), S. 383 – 396, hier S. 396. 124 Zum Folgenden grundlegend Panajotis Kondylis, Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage, Stuttgart 1984. Siehe auch Panajotis Kondylis, Geschuldete Antworten, in: Zeno 38 (2017), S. 34 – 65. 125 Kondylis, Macht (Anm. 124), S. 119 ff. 126 Zu der in ausdrücklicher Abgrenzung von Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, unveränderter Nachdruck der 1963 erschienenen Auflage, Berlin 1987, S. 26 ff., vorgenom-

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schen und Kollektiven geführt wird. Dieser Kampf ist ein solcher von Werten und von Interpretationen derselben. In ihm sind Normativismen Akte im Ringen um Selbstbehauptung.127 Soweit Begriffe und Werte in dieser Auseinandersetzung Dominanz erlangen, allgemein akzeptiert werden und den Sprachgebrauch beherrschen, werden sie von allen Seiten im Sinne ihrer Machtansprüche interpretiert. Der Streit um Begriffe ist deshalb gleichbedeutend mit dem Kampf um deren Auslegung,128 und deshalb bilden sie den Boden des Ringens um ihre verbindliche Deutung; sie mutieren insofern zum Kampfschauplatz und zum Schlachtfeld.129 Aus diesem Grund sind nach Kondylis Nominalwert und Funktionswert von Ideen, Ideologemen und Programmen zu unterscheiden: Nicht das vom Wortsinn her Gemeinte und weithin Akzeptierte, in dem alle oder sehr viele übereinstimmen, ist das Entscheidende, sondern das, was seitens der einzelnen darunter jeweils verstanden wird, kurz: die Bedeutung, die Konzepten in konkreten historischen Lagen beigemessen wird und die aus der Art und Weise erhellt, in der von ihnen in speziellen Konstellationen Gebrauch gemacht wird. Für Kondylis, der nach konsequent wertfreier Beschreibung des sozialen Geschehens strebt und darum bemüht ist, die „Funktion von Denkgebilden in konkreten existentiellen Lagen“ zu erfassen,130 sind alle werthaften Orientierungen funktional gleichberechtigt,131 denn er begreift moralische Werte als relativ. Ihnen kommt keine Objektivität im absoluten Sinne zu, denn es gibt ihm zufolge keine Werte an sich, sondern nur Menschen und Gruppen in je bestimmten Situationen, die Werte setzen und im Wege der Objektivierung derselben, also in der Behauptung ihrer Verbindlichkeit, Machtansprüche erheben. Weltbilder und die diese konstituierenden normativen Positionen sind daher, weil von den Bedürfnissen der Subjekte nach Orientierung, Macht und Selbsterhaltung bestimmt, notwendigerweise subjektiv. Und deshalb, weil Begriffe und Werte nur Derivate von Machtansprüchen und damit Funktionen des Geschehens sind, können sie keine unverrückbaren Markierungen für dessen Verlauf bieten.132

menen Verwendung der Freund-Feind-Unterscheidung siehe Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Bd. I, Berlin 1999, S. 209 Anm. 242, sowie ders., Geschichte (Anm. 3), S. 403 ff., und Antworten (Anm. 124), S. 40. 127 Kondylis, Geschichte (Anm. 3), S. 402 f. 128 Z. B. Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 2), S. 14. Dazu Landt (Anm. 123), S. 107 ff. 129 Kondylis, Macht (Anm. 124), S. 67 ff. 130 Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 24. 131 Kondylis, Antworten (Anm. 124), S. 48; Konstantin Verykios, Die Handlungstheorie von Panajotis Kodylis, IABLIS 16 (2017) (https://www.iablis.de/iablis/themen/2017-die-leidge pruefte-demokratie/campus-2017/357-die-handlungstheorie-von-panajotis-kondylis) (aufgerufen am 05. 01. 2021). 132 Kondylis, Aufklärung (Anm. 130), S. 20, 24, 32 ff.; ders., Antworten (Anm. 124), S. 41.

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Die Betrachtung sozialer und politischer Vorgänge im Lichte des von Kondylis entwickelten Ansatzes des wesenhaft polemischen Charakters des Denkens133 und der Deutung von Ideen und Werten als zur existentiellen Selbstbehauptung vorgetragenen, auf Machtansprüchen basierenden geistigen Waffen, lässt die Tiefenstruktur dieser Vorgänge erkennen und erlaubt es, den inneren Mechanismus von sozio-politischen Abläufen zu erfassen und damit auch das Menschenrechtsgeschehen zu erklären: Wenn nämlich alle Werte Gegenstand von Setzungen und von Interpretationen sind, die von Subjekten innerhalb konkreter historisch-sozialer Konstellationen zur Selbsterhaltung vorgenommen und über deren Objektivierung mit Machtansprüchen verbunden werden, dann können auch Menschenrechte diesem Umstand und damit der Logik des Streits um Begriffsinhalte nicht entkommen.134 Und gerade deshalb, weil die Menschenrechte im moralisch-politischen Diskurs hegemonialen Status erlangt haben, ist es ihre Begrifflichkeit, die nützen muss, wer sich mit seinen Anliegen in der politischen Auseinandersetzung Gehör verschaffen und nicht von Vornherein auf verlorenem Posten stehen möchte. Da an ihnen heute niemand vorbeikommt, werden Interessenkonflikte zwangsläufig in der Sprache der Menschenrechte ausgetragen und Anliegen aller Art und Bedeutung im Idiom der Menschenrechte formuliert und als Ausfluss derselben dargestellt.135 Und deshalb werden in Abhängigkeit von den verfolgten Zielsetzungen Menschenrechte einmal eng und einmal weit verstanden, einmal auf klassisch liberale Positionen reduziert und einmal als Anspruchsgrundlage für verteilungspolitische Maßnahmen der Sozialgestaltung herangezogen, neu kreiert oder in ihrer Geltung und Reichweite bestritten. Im Bereich sozialer Grundrechte liegen solche Engführungen und Ausweitungen in der Natur der Sache, denn Leistungsansprüche gegenüber einem Staat können aufgrund der Knappheit der zur Verfügung stehenden Mittel immer nur bedeuten, dass Bestrebungen, einem „Menschenrecht“ wie etwa dem auf Bildung, Gesundheit oder Wohnung Rechnung zu tragen, den Umfang der Mittel vermindern, die dafür zur Verfügung stehen, einem anderen dieser Rechte zu entsprechen.136 Aus diesen Gründen ist der Menschenrechtsdiskurs auch wirklich ein Ort der Auseinandersetzung und damit ein Kampfplatz im Sinne Kondylis’, auf dem um Verteilungsfragen gestritten und um die Durchsetzung handfester politischer und sozialer Interessen gerungen wird, zu deren Beförderung sich die Akteure auf Menschenrechte berufen, diese im Sinne ihrer Anliegen deuten und insofern für ihre Zwecke einspannen. Der menschenrechtliche Universalismus kann daher mit Recht als Terrain verstanden werden, auf dem Verständigung ebenso möglich ist wie die Austragung von Konflikten und Streitig-

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Kondylis, Aufklärung (Anm. 130), S. 20. In diesem Sinne schon Ernst Topitsch, Die Menschenrechte: Ein Beitrag zur Ideologiekritik, Juristenzeitung 18 (1963), S. 1 – 7. 135 Vgl. auch David Kennedy, The International Human Rights Movement: Part of the Problem?, Harvard Human Rights Journal 15 (2002), S. 101 – 125, hier S. 108, und Konrad Hilpert, Ethik der Menschenrechte, Paderborn 2019, S. 17 f. 136 Posner (Anm. 46), S. 87 ff., 112 ff. 134

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keiten, wenn nicht sogar Kämpfen um das „richtige“ Verständnis universaler Werte.137 Und weil das so ist, hat auch Kondylis’ Prognose einer Verflachung der westlichen Menschenrechtsrhetorik umgekehrt proportional zum Anwachsen der Lasten, die auf den Westen aufgrund seines Eintretens für universalistische Rechte und Werte zukommen, viel für sich. In der Tat mehren sich die Anzeichen dafür, dass es, obwohl die Herrschaft des menschenrechtlichen Universalismus im Westen ungebrochen scheint, aufgrund des wachsenden Migrationsdrucks zu einem Umdenken kommen könnte. Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 hat jedenfalls das Spannungsverhältnis zwischen dem universalistischen Anspruch der Menschenrechte und den Gegebenheiten im Tatsächlichen, zwischen Menschen- und Souveränitätsrechten sowie zwischen Menschenrechtsrhetorik und knappen Ressourcen sowohl materieller als auch sozialer und politischer Art drastisch vor Augen geführt.138 Das Völkerrecht kennt zwar das Recht der Staatsangehörigen, ihr Heimatland zu verlassen, nicht aber ein allgemeines Menschenrecht auf Freizügigkeit, das NichtStaatsangehörigen einen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt in einem beliebigen Staat ihrer Wahl verleiht. Die Verfügungsgewalt über das je eigene Territorium steht nämlich den einzelnen Staaten als Ausfluss ihrer Souveränität zu.139 Wo Freizügigkeit existiert, ist diese nationalstaatlich gewährleistet oder, wie im Falle der EU, Folge einer zwischenstaatlichen vertraglichen Vereinbarung.140 Sowohl aus völkerrechtlichen als auch aus innerstaatlichen Gewährleistungen ableitbare Rechtsansprüche kommen Fremden allerdings in Abhängigkeit von ihrem Aufenthalt auf dem Territorium eines Staates zu, wie insbesondere das Recht auf Durchführung eines rechtsstaatlichen Ansprüchen genügenden Asylverfahrens. Voraussetzung für die Inanspruchnahme dieser rechtlichen Wohltaten ist damit das Erreichen des Territoriums eines Staates. In dieser Konstellation postulieren Universalisten ein moralisches Recht auf Einwanderung,141 qualifizieren bestehende Einwanderungsbe137 Rudolf Burger, Globale Ethik: Illusion und Realität, Leviathan 27 (1999), S. 433 – 446, hier S. 446, im Anschluss an Kondylis, Planetarische Politik (Anm. 2), S. 112 f. 138 Zum Problemkomplex Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, Paderborn 2016; Christian Walter/Martin Burgi (Hrsg.), Die Flüchtlingsproblematik, der Staat und das Recht, Tübingen 2017. 139 Marcel Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Wolfgang Graf Vitzthum/Alexander Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin 62013, S. 131 – 235, Rn. 284; Eckart Klein, Rechtliche Klarstellungen zur Flüchtlingskrise, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, Paderborn 2016, S. 157 – 171. 140 David Miller, Is there a Human Right to Immigrate?, in: Sarah Fine/Lea Ypi (Hrsg.), Migration in Political Theory: The Ethics of Movement and Membership, Oxford 2016, S. 11 – 31; Markus Kotzur, Freizügigkeit, in: Arnd Pollmann/Georg Lohmann (Hrsg.), Menschenrechte, Stuttgart/Weimar 2012, S. 248 f. 141 Z. B. Michael Huemer, Is There a Right to Immigrate?, Social Theory and Practice 36 (2010), S. 429 – 461; Kieran Oberman, Immigration as a Human Right, in: Sarah Fine/Lea Ypi

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schränkungen als unhaltbar, gehen davon aus, dass es Staaten aus moralischen Gründen verwehrt sei, die Zuwanderung auf ihr Territorium nach Maßgabe der Interessen und Vorlieben ihrer Bürger zu beschränken, und vertreten die Auffassung, dass Menschen dazu berechtigt seien, sich grundsätzlich frei auf der Oberfläche des Planeten zu bewegen.142 Andere Vertreter dieser Auffassung leiten in extensiver Interpretation des in einzelnen Vorschriften des geltenden Rechts enthaltenen Refoulementverbots – dieses untersagt die Ausweisung, Abschiebung oder Zurückweisung von Personen, die sich in einem Land aufhalten, in Staaten, wenn diesen dort die ernsthafte Gefahr schwerer Menschenrechtsverletzungen wie insbesondere Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht143 – ein Asylrecht aus diesem ab144 oder wollen an sich Einreise zulassen,145 um den Zugang zu Asylverfahren überhaupt erst zu eröffnen.146 Da die rechtlichen Asylgründe jedoch beschränkt sind und zu diesen nur die Verfolgung von Personen wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung zählt, nicht aber auch die Flucht vor Armut, Krieg oder Umweltproblemen, sind die Erfolgsaussichten von als Asylwerber auftretenden Immigranten regelmäßig gering.147 In der Praxis kommt jedoch nicht selten allein schon der Zugang zu einem innerstaatlichen Asylverfahren einer Einwanderungserlaubnis gleich.148 Der Großteil derjenigen, die keinen Rechtsanspruch auf einen legalen Aufenthaltstitel (Anm. 140), S. 32 – 56. Siehe auch Stephan Breitenmoser, Migrationssteuerung im Mehrebenensystem, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 76, Berlin 2017, S. 9 – 48, hier S. 19 m. w. N. 142 Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit, Berlin 2016. 143 Christian Walter, Zwischen individuellem Menschenrechtsschutz und legitimer Migrationssteuerung: Der völkerrechtliche Rahmen der Flüchtlingspolitik, in: Walter/Burgi (Anm. 138), S. 7 – 53, hier S. 16 ff., 28 ff. 144 Bejahend etwa Rainer Keil, Asyl als Menschenrecht, in: Markus Krajewski/Matthias Reuß/Tarik Tabbara (Hrsg.), Gesellschaftliche Herausforderungen des Rechts. Gedächtnisschrift für Helmut Rittstieg, Baden-Baden 2015, S. 163 – 214, hier S. 191 ff. 145 Siehe auch Petra Bendel, Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und der Menschenrechte? Zugang zum Territorium und zu einem fairen Asylverfahren in der Europäischen Union, zeitschrift für menschenrechte 2/2014, S. 84 – 100. 146 In diesem Sinne hat etwa Generalanwalt Mengozzi in seinen Schlussanträgen vom 7. Februar 2017, Rs C-638/16 PPU, X, X gegen Etat belge, die Auffassung vertreten, die Verordnung über den Visakodex der Gemeinschaft verpflichte die Mitgliedstaaten der EU dazu, Drittstaatsangehörigen ein Visum zu erteilen, wenn ein solches aus humanitären Gründen beantragt wird – im konkreten Fall ging es um in Aleppo lebende syrische Staatsangehörige –, um es diesen zu ermöglichen, ihr Recht auf Beantragung internationalen Schutzes in dem betreffenden Mitgliedstaat auszuüben. Der EuGH ist ihm in seinem Urteil vom 7. März 2017, Rs C-638/16 PPU X und X gegen Etat belge, allerdings nicht gefolgt. 147 In Österreich werden rund 20 – 25 % der Asylanträge positiv erledigt. Dazu Magdalena Pöschl, Migration und Mobilität, Gutachten, Verhandlungen des 19. Österreichischen Juristentages, Bd. I/1, Wien 2015, S. 133. 148 Vgl. Klaus Ferdinand Gärditz, Die demokratische Gestaltungsverantwortung durch Recht in einer Einwanderungsgesellschaft, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 44 (2017), S. 516 – 525, hier S. 519.

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haben, verbleibt nämlich auch nach dem Erhalt einer negativen Asylentscheidung aus faktischen, rechtlichen oder politischen Gründen im jeweiligen Aufnahmeland, so etwa weil das Herkunftsland oder der sichere Drittstaat, aus dem die Einreise erfolgt ist, unbekannt ist, weil gültige Reisepapiere fehlen und Rückführungsabkommen nicht existieren, weil verantwortliche Staatsorgane aufgrund von Opportunitätserwägungen vor der Durchführung von Abschiebungen zurückscheuen oder weil aufgrund langer Verfahrensdauern eingetretene grundrechtlich relevante Verfestigungen des Aufenthalts der Erlassung von Rückkehrentscheidungen entgegenstehen.149 Angesichts solcher Entwicklungen und angestoßen durch die Wahrnehmung der sozialen und kulturellen Folgen der Migration artikuliert sich Kritik am menschenrechtlichen Universalismus zunehmend deutlicher.150 Wenn nicht dem Begriff, so doch der Sache nach wird darauf aufmerksam gemacht, dass Einwanderung unter dem ungeschriebenen Vorbehalt des Möglichen stehe,151 dass Leistungsansprüche ihre Grenzen in knappen Ressourcen finden,152 dass sozialpolitische Verteilungsfragen aus der Menschenrechtsdiskussion herausgelöst werden sollten153 und dass die verfassungsrechtliche Fundamentalentscheidung zur Nationalstaatlichkeit der Einwanderung Grenzen setze.154 Sogar die Forderung, Menschenrechte nicht länger als Mittel zur Beförderung und Legitimation von Masseneinwanderung zu verstehen, sondern auf ihre klassische Abwehrfunktion gegenüber dem Staat zurückzunehmen, ist erhoben worden.155 Unmittelbar politisch manifestiert sich die Gegenbewegung im Aufkommen populistischer Proteste, die sich aus der Unzufriedenheit der Angehörigen der von Zuwanderung kulturell, ökonomisch und sozial negativ betroffenen Bevölkerungsgrup-

149 Siehe z. B. Andreas Hauer, Sicherheitsverwaltung und EMRK, in: Mathias Vogl/Gregor Wenda (Hrsg.), Grundrechte – Rechtsschutz – Datenschutz, Wien/Graz 2012, S. 67 – 82, hier S. 70 ff.; Julia Ecker/Jasmin Ziegelbecker, Die Rückkehrentscheidung, in: Christian Filzwieser/Isabella Taucher (Hrsg.), Asyl- und Fremdenrecht. Jahrbuch 2017, Wien/Graz 2017, S. 149 – 215; Josef Isensee, Grenzen, Berlin 2018, S. 161 ff. 150 Z. B. Lothar Fritze, Kritik des moralischen Universalismus. Über das Recht auf Selbstbehauptung in der Flüchtlingskrise, Paderborn 2017. 151 Z. B. Hans-Werner Sinn, Der schwarze Juni, Freiburg/Basel/Wien 2016, S. 73 – 139; Hans-Peter Schwarz, Die neue Völkerwanderung nach Europa: Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten, München 2017. 152 Isensee, Grenzen (Anm. 149), S. 165 ff., 214 f. m. w. N. 153 Eric Posner, „Human Welfare, Not Human Rights“, Columbia Law Review 108 (2008), S. 1758 – 1801. 154 Christian Hillgruber, Der Nationalstaat in übernationaler Verflechtung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, Heidelberg 32004, S. 929 – 992, hier S. 936 ff. Rn. 12 ff., 17 ff.; Dietrich Murswiek, Staatsvolk, Demokratie und Einwanderung im Nationalstaat des Grundgesetzes, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 66 (2018), S. 385 – 429. 155 Jean-Louis Harouel, Les droits de l’homme contre le peuple, Paris/Perpignan 2016.

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pen speisen.156 Als Folge davon sind das Eintreten für den Bau von Mauern, Rufe nach effektiverem Grenzschutz und einwanderungskritische Äußerungen nicht nur zu Bestandteilen der politischen Rhetorik geworden, sondern haben auch zunehmend Niederschlag in der politischen Praxis gefunden, sichtbar an der Verfolgung restriktiverer Einwanderungspolitiken, an Bemühungen um strengere Fassungen des Asylund Fremdenrechts und an der Errichtung von Zäunen. Ob sich diese Tendenzen in naher Zukunft in einer Weise verschärfen werden, die nicht nur zu einem immer stärkeren Auseinanderklaffen zwischen humanitärer und menschenrechtlicher Rhetorik einerseits und letztlich inhumanem staatlichen Handeln andererseits führt, wie im Falle der Maßnahmen der USA im „Kampf gegen den Terror“, sondern tatsächlich eine Aufgabe gegenwärtiger westlicher Positionen nach sich zieht, ist freilich zweifelhaft. Zu dominant und hegemonial ist der Menschenrechtsdiskurs und zu schwach und vereinzelt sind kritische Stimmen, als dass mehr als bloße Akzentverlagerungen innerhalb desselben wahrscheinlich scheinen. Kondylis war sich aufgrund der von ihm angenommenen inneren Logik der Menschenrechte allerdings sicher, dass die Wendung der Menschenrechte gegen den Westen, d. h. das Erheben von auf die Menschenrechte gestützten Ansprüchen gegenüber dem Westen aufgrund der damit verbundenen kulturellen, ökonomischen, politischen und sozialen Lasten zu einem Umdenken führen werde. Wenn seine These zutrifft, dass die Kreation identitätsstiftender Weltbilder und der Gebrauch normativer Konzepte der Selbsterhaltung dient, dann ist eine nicht bloß faktische Änderung in der Position des Westens, sondern auch ein Wandel in seinen herrschenden Überzeugungen zu erwarten, der spätestens dann eintreten wird, wenn sich deren Beibehaltung gegen die Stellung derjenigen zu kehren beginnt, die diese Überzeugungen formulieren und propagieren. Ob der Westen aber auch im Falle einer Aufgabe gegenwärtiger ideologischer Positionen die sich immer deutlicher abzeichnenden gewaltigen Verteilungskämpfe im Weltmaßstab zu seinen Gunsten werde entscheiden können, schien ihm jedoch sehr fraglich.157

156

Zum vielschichtigen Phänomen des Populismus z. B. Suzanne Berger, Populism and the Failures of Representation, French Politics, Culture & Society 35 (2/2017), S. 21 – 31; Philip Manow, Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin 2018, S. 15, 43 ff., 59 ff.; Dani Rodrik, Populism and the Economics of Globalization, Journal of International Business Policy 1 (1 – 2/2018), S. 12 – 33; Jan Erik Grindheim, Why Right-Leaning Populism has Grown in the Most Advanced Liberal Democracies of Europe, The Political Quarterly 90 (2019), S. 757 – 771; Yotam Margalit, Economic Insecurity and the Causes of Populism, Reconsidered, The Journal of Economic Perspectives 33 (4/2019), S. 152 – 170. 157 Kondylis, Das Politische (Anm. 1), S. 67.

Wertfreiheit vs. Rangordnung der Werte Kondylis’ Anthropologie im Lichte seiner Nietzsche-Rezeption Alexey Zhavoronkov Abstract: Mein Beitrag behandelt die Frage nach dem Gewicht des Einflusses von Friedrich Nietzsches Anthropologie auf Panajotis Kondylis’ anthropologischen Ansatz in Macht und Entscheidung – im allgemeineren Kontext seiner Rezeption von Nietzsches philosophischer Methodologie und Metaphysikkritik. Der erste Teil wirft Licht auf die Ursprünge und allgemeine Eigenschaften von Kondylis’ Nietzscherezeption. Im zweiten Teil zeige ich, welche Rolle Kondylis Nietzsche in der Geschichte des anthropologischen Denkens zuordnet. Im letzten Teil beschäftige ich mich mit der Frage, ob bzw. inwiefern Kondylis’ wertfreie Anthropologie als Weiterentwicklung von Nietzsches anthropologischer Perspektive zu sehen ist. Schlüsselwörter: philosophische Anthropologie, Nietzsche, Kondylis, Werte, Selbsterhaltung, Metaphysikkritik, Macht, Relativismus

I. Kondylis und Nietzsche: Eine Einführung Für Panajotis Kondylis war die spöttische Direktheit und Schärfe philosophischer Argumentation immer ein integraler Bestandteil seiner Denkstrategien.1 Es ist deswegen kaum erstaunlich, dass gerade Friedrich Nietzsche unter seinen beliebtesten philosophischen Autoren war. Zwar hat Kondylis bekanntlich keinen Text verfasst, der sich – wenigstens zum großen Teil – spezifisch mit Nietzsches Philosophie befasste. Dennoch interessierten ihn Nietzsches Texte und Ideen bereits während seiner Schulzeit und bis in seine späte, vorzüglich durch politische Themen ausgezeichnete Periode.2 Wie Nietzsche befasste er sich zugleich mit klassischer Philologie und Philosophie, die er an der Universität Athen parallel studierte, wobei er sich aber von Anfang an nur der philosophischen Tätigkeit professionell widmete. Es ist somit kaum erstaunlich, dass in Kondylis’ Schriften aller Perioden ein impliziter und expliziter Dialog mit Nietzsche, auch ganz oft in Nietzsches eigenen Begriffen oder

1 Indem es nahe liegt, diesen Ansatz als polemischen Stil zu bezeichnen, wäre diese Charakteristik nicht im Sinne Kondylis’, weil er die Polemik (wohl im Lichte der altgriechischen Etymologie des Wortes) mit Kampfeifer assoziiert, der wichtigen Argumenten im Wege stehen kann (vgl. etwa Kondylis (1984), S. 100). 2 Vgl. Horst (2019), S. 30, 104 und passim.

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unter dem Zeichen seiner Fragestellungen, geführt wird.3 Dies bedeutet jedoch keinesfalls, Kondylis sei ein Nietzscheaner im Sinne einer unkritischen Übernahme von Nietzsches Begriffen, Grundargumenten oder wichtigsten Deutungen gewesen. Seine Aussagen zur historisch-philosophischen Rolle von Nietzsches Metaphysikkritik wie auch angesichts der modernen Gültigkeit von Nietzsches Argumenten und Deutungen waren immer skeptisch. In vielen Fällen stand Kondylis nicht auf Nietzsches Seite, auch wenn er mit den von ihm formulierten philosophischen Aufgaben in den meisten Fällen ausdrücklich sympathisierte. Wenn wir nur Begriffe und Themen in den Blick nehmen, können wir leicht den Eindruck gewinnen, Kondylis übernehme sehr viel von Nietzsche. Zu nennen wäre etwa seine Aufforderung zur Untersuchung der Entstehungsgeschichte moralischer Begriffe, seine Verteidigung des Relativismus, seine Kritik an Normativismus und christlichem Dualismus, die zentrale Stellung des Machtbegriffes in seiner Philosophie, sowie sein historisch-genealogisch orientierter Ansatz, der auf den ersten Blick als Überwindung des – von Nietzsche mehrmals kritisierten – Mangels am historischen Sinn in philosophischen Abhandlungen zentraler Fragen erscheint. Eine wichtige stilistische Übereinstimmung besteht in der – bereits angedeuteten – grundlegenden Rolle des spöttischen Tons,4 den Kondylis oft für die Entlarvung der Scheinbarkeit von einer Reihe gängiger Oppositionen wie etwa ,liberal vs. demokratisch‘, ,geschaffenes vs. vorgegebenes Recht‘, ,militanter bzw. präskriptiver Dezisionismus vs. Anti-Dezisionismus‘, ,Metaphysik vs. Metaphysikkritik‘ instrumentalisiert. In Macht und Entscheidung wie auch in einer Reihe weiterer Schriften werden diese Oppositionen bereits in der Einleitung behandelt, um die Besonderheiten seines eigenen, zum meisten Teil jenseits dieser Oppositionen liegenden Standpunktes zu beleuchten. Wie bei Nietzsche, wird die Agonalität bei Kondylis zur stilistischen Eigenschaft und zugleich zum Erklärungsinstrument, zu dem er regelmäßig greift.5 In methodologischer Hinsicht, also in den Grundlagen von Nietzsches und Kondylis’ Argumentation und in der Deutung eigener philosophischen Aufgaben, gibt es ebenfalls eine magistrale Übereinstimmung. Diese betrifft den dezidiert antimetaphysischen Charakter ihres Denkens – aus historisch-philosophischer wie auch aus gegenwärtiger praktischer, anthropologisch orientierter Perspektive. Es wäre allerdings völlig irreführend anzunehmen, Kondylis betrachte die Entwicklung der Metaphysik aus Nietzsches Perspektive oder sehe diese Perspektive in ausschließlich positivem Lichte. Wenn Nietzsche aus Kondylis’ Sicht eine wichtige Rolle in der Geschichte der Metaphysikkritik zukommt, so ist er doch nicht derjenige, mit dem eine 3 Deswegen bleibt die These, dass wir zahlreiche Spuren Nietzsches sowohl in der Methodologie als auch in der Sprache und in einzelnen Argumenten bei Kondylis finden können, seit langer Zeit eine Selbstverständlichkeit in der Forschung. Kurioserweise finden wir aber zugleich kaum Studien, die dieses Thema übersichtlich behandeln. 4 Die Übereinstimmung ist allerdings dadurch begrenzt, dass Kondylis direkte Polemik, deren Spuren und Auswirkungen er auch bei Nietzsche – v. a. in seinen antimetaphysischen (Gegen-)Konzepten – findet, negativ einschätzt. 5 Vgl. dazu Flügel-Martinsen (2012), S. 374.

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ganz neue Tradition bzw. Richtung des antimetaphysischen Philosophierens beginnt. Doch gerade, weil die von Nietzsche repräsentierte Richtung laut Kondylis’ Darstellung eine anthropologische ist, sind die Nietzsche-Referenzen im Lichte von Kondylis’ Entwicklung einer neuen Anthropologie so anschaulich. Insofern erweist sich eine detaillierte Darstellung seiner Argumentation als notwendig. In Die neuzeitliche Metaphysikkritik (1990) argumentiert Kondylis, dass die Grundlagen der Kritik an der Metaphysik in der westlichen Philosophie, d. h. sowohl die Hauptargumente als auch die zentralen Richtungen dieser Kritik, die entweder ihre „Unabhängigkeit der Erfassung“ der Transzendenz zu demonstrieren oder, in einer radikaleren Geste, die Scheinbarkeit der Trennung „zwischen Transzendentem und Immanentem“ zu entlarven suchte (Kondylis 1990, S. 19 – 20), bereits in der Neuzeit angelegt wurden und sie hätten im 19. und 20. Jahrhundert nur relativ kleine Änderungen und Entwicklungen erfahren. Am Ende der Aufklärungsperiode haben sich, so Kondylis, „vier Haupttypen von Metaphysikkritik“ ausgebildet, nämlich „der erkenntnistheoretische, der linguistische, der historisch-soziologische und der anthropologische“ (ebd., S. 20 – 21).6 Den letzteren charakterisiert Kondylis wie folgt: Auch hier [wie bei der historisch-soziologischen Kritik. – A.Z.] erscheint Metaphysik nicht als zuverlässige rationale Erfassung des Seins, sondern als Ausfluß gewisser tieferer Bedürfnisse der menschlichen Natur – Bedürfnisse sowohl kognitiven als auch volitiven und normativen Charakters. Aber ganz unabhängig davon, ob die Metaphysik im Irrationalen wurzelt und in Täuschungen besteht, wird sie solange lebendig und sozial wirksam bleiben, wie sich die menschliche Natur und ihre Bedürfnisse nicht ändern (ebd., S. 20).

Als wichtigste „Exponenten“ der anthropologischen Betrachtung der Metaphysik im 19. Jahrhundert betrachtet Kondylis Schopenhauer7, Nietzsche und Dilthey, trotz der wesentlichen Unterschiede in ihrer Philosophie (ebd., S. 21). Bei Nietzsche sei besonders gut sichtbar, dass die Metaphysikkritik im 19. Jahrhundert zwar keine völlig neuen Argumente gefunden, zugleich aber in ihrer Intensität stark zugenommen 6 S. auch weiter zum 19. und 20. Jahrhundert: „Entgegen einem weitverbreiteten Eindruck müssen wir hier darauf aufmerksam machen, daß die Metaphysikkritik im 19. und 20. Jh. den antimetaphysischen Ertrag der vier oder fünf vorangegangenen Jahrhunderte nicht wesentlich bereichert hat; die genannten, bereits feststehenden Haupttypen erfahren bloß verschiedene Abwandlungen oder Vertiefungen“ (ebd., S. 21). Über die gegenwärtige Situation der Metaphysik äußert sich Kondylis ganz scharf, indem er seine Metaphysikkritik mit der für ihn sehr charakteristischen Kritik der modernen akademischen Philosophie in einem Zuge verbindet: „Die Tradition metaphysischen Denkens lebt heute hauptsächlich im Treibhaus der Philosophiegeschichte weiter, die Verfassung von philosophiegeschichtlichen Werken bildet aber ihrerseits weniger ein Anzeichen für die Verbreitung des philosophischen oder gar metaphysischen Bedürfnisses und mehr eine Folge der prosaischen Tatsache, daß die Anzahl der in diesen Fächern publizierenden aus institutionellen und beruflichen Gründen erheblich gestiegen ist“ (ebd., S. 366). 7 Zu Schopenhauers Rolle s. v. a. S. 379: „Schopenhauers Bedeutung für die hier geschilderte Wende metaphysischen Denkens liegt einerseits in der Verwischung der Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz, andererseits in der Loslösung des Transzendenten bzw. des Dings an sich von traditionellen anthropomorphen Merkmalen wie dem Bewußtsein oder den normativen Bezügen.“

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habe. Dieser schärfere Ton des antimetaphysischen Denkens, das u. a. durch den „von einer Zuversicht in die Fähigkeiten des diesseitig orientierten menschlichen Geistes und in die geschichtliche Zukunft“ getragenen „Aufstieg von Naturwissenschaft, Technik und Industrie“ bekräftigt wurde, könnte laut Kondylis den falschen Eindruck erwecken, die Metaphysik habe während derselben Zeit eine Renaissance erlebt und deswegen eine so starke Reaktion ausgelöst (ebd., S. 22), auch wenn das, trotz einzelner Versuche, im Ganzen nicht der Fall gewesen sei. Bei Nietzsche sieht Kondylis eine Gedankenentwicklung – vom frühen Verständnis der Metaphysik als Ergebnis eines Irrtums bzw. der Unwissenheit bis zur psychologisch-genetischen Analyse ihrer Ursprünge, – die angeblich „in der Furchtsamkeit oder, anders herum, im Wunsch, die Angst vor dem Leiden erträglicher zu machen“, bestehe (ebd., S. 522). In Nietzsches Annahme, dass die „wirkliche Motivation der Metaphysiker […] mit ihrer eigenen Auffassung von den eigenen Triebfedern und Zielen“ nicht zusammenfalle, besteht für Kondylis eine bedeutsame Parallele zum marxistischen Verständnis der Ideologie (ebd., S. 523). In Bezug auf den deutschen Idealismus bestehe das Verdienst von Nietzsches Kritik besonders prominent in der Erschließung der „Mechanismen der Fiktionsbildung, deren Bedeutung für die Erkenntnis schon durch Kants elementare gnoseologische Annahmen impliziert wurde“ (ebd., S. 540). Der „asketische Zug von Kants Moral“ hänge mit dem tiefen Dualismus seines Denkens zusammen und wäre insofern aus Nietzsches Sicht als Variation von Platons „Grundmuster des metaphysischen Denkens“ zu verstehen. Dieser „unhistorischen“ Betrachtungsweise stelle Nietzsche seinen genealogischen Ansatz gegenüber, mit dessen Hilfe eine „Entstehungsgeschichte des Denkens“, u. a. die „geistesgeschichtliche Laufbahn metaphysischer (und nicht-metaphysischer) Begriffe auf Grund pragmatisch-rationaler Kriterien Klarheit schaffen sollte“ (ibid.). Zugleich macht Kondylis hier, wie auch früher in Macht und Entscheidung, deutlich, Nietzsche gehe als Kritiker der Metaphysik von eben diesen metaphysischen Voraussetzungen aus.8 Aus seiner These, dass Nietzsche „die Entstehung der Metaphysik derart erklärt, daß er ihre Unumgänglichkeit (sei sie nun religiös oder profan) annehmen muß“ (ebd., S. 539), also die Metaphysik genetisch-anthropologisch verwurzelt,9 folgt notwendigerweise, Nietzsche könne das von ihm formulierte theore8

Eine ähnliche These finden wir auch in der Einleitung zu „Macht und Entscheidung“ – in Bezug auf Kritiker des militanten Dezisionismus, die gleich den Anhängern desselben „an etwas Normativem“ festhalten sollen (Kondylis 1984, S. 8). 9 An einer späteren Stelle bietet Kondylis eine detailliertere Erklärung dieses Aspektes seiner Nietzscheinterpretation (ebd., S. 541): „Er wandte sich gegen eine oberflächlich-herabblickende Abrechnung mit der Metaphysik, die die ,historische und psychologische Berechtigung‘ metaphysischer Vorstellungen sowie deren konstruktive Rolle bei der Förderung der Menschheit verkennen würde. Nun ging er aber einen Schritt weiter und sprach nicht bloß von diesem zwar fördernden, aber im Hinblick auf die ganze geschichtliche Entwicklung des Menschen vielleicht doch nur vorübergehenden Einfluß der Metaphysik, sondern auch – wiederholt und unmißverständlich – von ihrer geradezu konstitutiven Bedeutung für menschliches Sprechen und Denken überhaupt, d. h. ohne Rücksicht auf eine Einteilung der Geschichte in die Epoche der Herrschaft der Metaphysik und in die ihres endgültigen Verfalls.“

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tische Ziel – nämlich die Beseitigung der Metaphysik – niemals erreichen. In anderen Worten, lässt sich Nietzsches Idee der psychologischen Notwendigkeit von Fiktionen auch auf metaphysische Fiktionen erweitern, indem letztere sich als notwendig „für den Lebenskampf der Gattung, also für die Entfaltung des Willens zur Macht“, erweisen (ebd., S. 542). In diesem Lichte hat gerade die anthropologische Perspektive Nietzsches aus Kondylis’ Sicht evidente Defizite, insbesondere in seinen späteren Schriften, in denen umfangreiche und angeblich verabsolutierende Begriffe wie ,Wille zur Macht‘ und ,ewige Wiederkunft‘10 entwickelt werden. Dasselbe kritische Bild von Nietzsches Denken zeichnet auch die Einleitung zur Anthologie Der Philosoph und die Macht aus, in der Kondylis mehr Licht auf die Genese und Gestalt von Nietzsches Machtbegriff wirft.11 Der entsprechende Teil seiner Argumentation wird durch die Idee geprägt, Nietzsche unterscheide „zwischen dem gesund-unschuldigen und dem krankhaften Willen zur Macht“, ohne zu bemerken, dass „er einen unschuldigen, also im unethischen Kosmos verwurzelten Willen zur Macht nur durch die Vermenschlichung des Kosmos, d. h. durch einen Anthropomorphismus gewinnen kann“ (Kondylis 1992, S. 26 – 27).12 In anderen Worten, mündet Nietzsches Metaphysikkritik aus Kondylis’ Sicht gerade in diejenigen impliziten, religiös-ethisch legitimierten Machtvorstellungen, die, um es in Nietzsches Vokabular zu sagen, ,entartet‘ sind. Diese Deutung, die auf Nietzsches Unvermögen hinweist, „bei allen feinfühligen individualpsychologischen Beobachtungen die Mechanismen sozialer Macht und Herrschaft konkret und vor dem Hintergrund einer ebenfalls konkreten multidimensionalen Anthropologie zu erfassen“ (ebd., S. 27), werde ich im Kontext des anthropologischen Ansatzes von Kondylis erläutern.

II. Kondylis’ Bild der Geschichte philosophischer Anthropologie Die Frage nach Präsenz einer anthropologischen Perspektive in Nietzsches Denken bleibt nach wie vor Gegenstand einer langfristigen und scharfen Kontroverse, insofern in der Nietzscherezeption, einschließlich der akademischen Nietzscheforschung, die antianthropologische Deutung seiner Philosophie stark ausgeprägt ist.13 Bei Kondylis wurde aber die Frage, ob wir Nietzsche als anthropologischen 10 In Nietzsches Idee der ewigen Wiederkunft findet Kondylis das wichtigste Beispiel dafür, dass Nietzsche letzten Endes auch selbst als Metaphysiker in der Philosophiegeschichte auftritt (ebd., S. 544). 11 Kondylis macht in diesem Kontext völlig treffende Bemerkungen über Nietzsches antike Quellen (Thukydides und Sophisten), wobei er aber auch französische Moralisten und Aufklärer (etwa Helvétius) als genauso wichtig für Nietzsche einschätzt (Kondylis (1992), S. 26). 12 Vgl. auch Horst (2019), S. 104 f. 13 In der deutschsprachigen Nietzscheforschung hat sich die anthropologische Deutung, die wenigstens seit Max Scheler latente Präsenz hatte, erst in den letzten 20 Jahren als eine der Mainstreamrichtungen durchgesetzt. Mehr zu diesem Thema s. in Ebke/Zhavoronkov (2017).

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Denker charakterisieren können, niemals explizit gestellt. Offensichtlich sah er keine Notwendigkeit, alle Pro- und Contra-Argumente in Detail zu erwägen und Nietzsche gegen seine antianthropologischen Interpretationen (etwa bei Deleuze oder in den späten Schriften von Foucault) zu verteidigen. Bei ihm gehört Nietzsche ganz offenbar in die Geschichte der philosophischen Anthropologie, deren Anfang Kondylis völlig zu Recht nicht erst bei Kant, sondern viel früher setzt. Kondylis’ Bild der Anthropologie zeichnet sich bereits in Die Entstehung der Dialektik (1979) und Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (1981) ab, etwa in seiner Darstellung der instrumentellen Vernunft, der Idee der Naturbeherrschung und des Menschenbildes bei konkreten Denkern wie Spinoza und Herder. In Macht und Entscheidung präsentiert er sein eigenes Konzept der wertfreien Anthropologie. In Konservativismus (1986) kritisiert er das Verständnis des Konservatismus als einer anthropologischen Konstante.14 Und in Die neuzeitliche Metaphysikkritik bietet er u. a. ein Panoramaüberblick über die wichtigsten historischen Stadien und Eigenschaften der philosophischen Anthropologie. Um Kondylis’ eigene Argumente auch vor dem Hintergrund seines Verständnisses der philosophischen Anthropologie sowie von Nietzsches Beitrag zu dieser Denkrichtung anschaulicher darzustellen, werde ich auf das strikte chronologische Prinzip der Analyse verzichten und zuerst eine Rekapitulation einiger Schlüsselargumente aus dem Buch von 1990 bieten. Gleich Foucault und vielen anderen, die über die Geschichte des anthropologischen Denkens in der Philosophie forschen, geht Kondylis davon aus, dass der anthropologische Ansatz während der Neuzeit das theologische Weltbild ersetzte, sodass nunmehr der Mensch als erkenntnistheoretischer Hauptgegenstand gesehen wurde. Für die Metaphysik bedeutete das eine Unterwerfung unter die Ethik bei der Suche nach einer neuen, praktisch-moralischen Begründung ihrer selbst. In diesem anthropological turn sieht Kondylis eine logische Weiterentwicklung der früheren humanistischen Idee des Primats der vita activa (Kondylis 1990, S. 348)15. Bei Kant sehen wir auf besonders exemplarische Weise diesen Übergang zum Primat der Anthropologie, der als „Primat der Erkenntnistheorie und zugleich […] des Praktisch-Ethischen“ zu verstehen wäre (ebd., S. 350).16 Obwohl Kondylis’ verengendes und zugespitztes Bild der reformierten Metaphysik sich bestreiten lässt, lässt sich seine letztere These aus der Perspektive der Analyse anthropologischer Grundlagen

14 Vgl. Kondylis’ Kritik an Utopie als anthropologischer Konstante im postum veröffentlichten Aufsatz „Zur geistigen Struktur der utopischen Konstruktionen des 16. und 17. Jahrhunderts“ (2003) sowie seine Argumentation in „Die neuzeitliche Metaphysikkritik.“ 15 An anderen Stellen erwähnt Kondylis konkrete Beispiele, die seine frühe Datierung der Entstehung des Konzeptes untermauern, u. a. die Texte des italienischen Humanisten Coluccio Salutati (ebd., S. 55). 16 Dabei argumentiert Kondylis, das theologische Element bei Kant werde erhalten – und zwar in seiner Idee des Strebens nach Glückseligkeit als anthropologischer Konstante (ebd., S. 354 – 355).

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von Kants pragmatischer Vernunft, als Verbindung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, auch bei einer näheren Betrachtung durchaus bestätigen. Nietzsches Verständnis der vorherigen Entwicklung des anthropologischen Denkens in der europäischen Philosophie ist, wie Kondylis mit gutem Grund betont, im Wesentlichen durch den Neukantianismus (etwa durch die Schriften von Friedrich Albert Lange) bestimmt. Dieses neukantianische Bild war, so Kondylis, vor allem erkenntnistheoretisch geprägt. In dieser Konstellation erschien Kants Metaphysik als „eine fiktive, aber nützliche Konstruktion“, die nur im Modus von ,als ob‘ wahr ist (ebd., S. 359). Laut Kondylis’ Argumentation wird dieses Verständnis der Metaphysik bei Nietzsche in einer scharfen Weise entlarvt. Allerdings weist Kondylis an einer anderen Stelle darauf hin, Nietzsche habe mit seiner Kritik am ,moralischmetaphysischen‘ Charakter der früheren Philosophie auch Kants eigene Verbindung von Metaphysik und „(normativen) Postulaten der praktischen Vernunft“ im Visier (ebd., S. 521), greife also gerade die Folgen der anthropologischen Transformation der Metaphysik an. Die weitere Entwicklung der Anthropologie am Ende des 19. und im 20. Jahrhundert, u. a. im Lichte der anthropologischen Deutung und Kritik der Metaphysik, assoziiert Kondylis mit der Entwicklung der „weltanschaulichen Grundansätze der Aufklärung“ (ebd., S. 278).17 Ein exemplarisches Beispiel ist für ihn die anthropologische Neubegründung der Metaphysik bei Max Scheler, v. a. mithilfe der Idee der Wesenskorrelation des werdenden Menschen und des werdenden Gottes (ebd., S. 383). Ein weiteres Beispiel bietet Karl Jaspers, der die Transzendenz „ausschließlich in der Perspektive der Existenz“ deutete (ebd., S. 391). Eine bedeutsame, seit dem 19. Jahrhundert präsente parallele Tendenz ist dabei die marxistische Kritik an der Deutung der Metaphysik als anthropologischer Konstante,18 die sich auch in der frühen Soziologie, etwa bei Comte, manifestiert (ebd., S. 518). Die Entwicklung der antianthropologischen Deutungen von Nietzsches Metaphysikkritik wird bei Kondylis, im Gegenteil, nicht thematisiert. Kondylis’ Darstellung von Nietzsches Rolle in der Geschichte der Metaphysikund der Normativismuskritik dient als Hintergrund und Ausgangspunkt für seine Bezüge auf Nietzsche in den Schriften zur Handlungstheorie. In letzteren lässt sich we17 Diese These steht im Einklang mit Kondylis’ allgemeiner Idee, dass v. a. „aufklärerisches Gedankengut“ Hauptrichtungen der „bürgerlichen“ Philosophie des 19. Jahrhunderts bestimmt (vgl. Kondylis 2010, S. 136). Für Kondylis bietet auch Nietzsches Philosophie ein Beispiel solcher aufklärerischen Einflüsse. Denn obwohl Nietzsche „gegen den aufklärerischen Normativismus […] zu Felde“ zieht, lassen sich „seine Genealogie der Moral oder seine Interpretationen menschlicher Beziehungen und Gefühle im Hinblick auf die Mechanismen der Selbstliebe […] an Hand aufklärerischer Materialien fast vollständig rekonstruieren“ (Kondylis 1981, S. 648). Dieser Auffassung würden wohl viele gegenwärtige Nietzscheforscher widersprechen, die Nietzsche nicht als Aufklärer, sondern eher (mit Nietzsches eigenen Worten) als ,Verklärer‘ betrachten, der Philosophie als Kunst der Transfiguration versteht (zum Begriff s. Müller 2020, S. 233 – 234). 18 Vgl. zu demselben Thema Kondylis (1987), S. 25, 26 und passim (im Kontext der Analyse von Marx’ Kritik an der Religion).

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nigstens eine geistige Affinität zwischen Nietzsches Anthropologie und dem anthropologisch fundierten Dezisionismus von Kondylis erkennen, die sich in formalen Eigenschaften wie Kondylis’ Begriffen und Sprachwendungen wie auch in einer Reihe von methodologischen Elementen seiner Normativismuskritik manifestiert. Können wir aber einen weiteren Schritt machen und auch von einer theoretischen Affinität oder gar von einer Abhängigkeit sprechen? In dieser Hinsicht ist die Antwort eher negativ als positiv. Denn in bestimmten Fragestellungen und Argumenten geht Kondylis sogar weiter als Nietzsche, während er sich in anderen von Nietzsche explizit distanziert.

III. Kondylis gegen Nietzsche: Eine anthropologische Bilanz Kondylis’ wertfreier anthropologischer Ansatz, der seine Theorie der Entscheidung untermauert, distanziert sich sowohl von der anthropologisch reformierten Metaphysik als auch von der Metaphysikkritik, insofern letztere oft von implizit metaphysischen Prämissen ausgehen, wie Kondylis an Nietzsches Beispiel veranschaulicht. Sein Hauptgegner in Macht und Entscheidung ist der Normativismus, mit seiner anthropologischen Annahme, „der Mensch sei, wenn nicht aktuell, so doch potenziell imstande, ,gut‘ und ,vernünftig‘ zu handeln, er sei also nicht von Natur aus ,böse‘ oder wenigstens könne er den ,bösen‘ Aspekt seiner Natur unter Kontrolle bringen und halten“ (Kondylis 1984, S. 122). Die Überlegenheit seines wertfreien, deskriptiven Dezisionismus sieht Kondylis gegenüber allen „Spielarten des Normativismus“ sowohl in seiner theoretischen Durchsichtigkeit, die die eben erwähnte implizite anthropologische Voraussetzung nicht braucht, als auch darin, dass der deskriptive Dezisionismus sich vorwiegend nicht um Denkinhalte, sondern um anthropologisch verwurzelte Denkstrukturen kümmert, – „also eine Morphologie des im Zeichen des Selbsterhaltungsbestrebens und der Polemik stehenden Denkens ist“, die aus der Perspektive des Normativismus nur schwer angreifbar ist (ebd., S. 123). Indem Kondylis eine ebenfalls vorwiegend anthropologische Begründung seiner Variante des Dezisionismus bietet, dient sein Ansatz nicht der impliziten Verabsolutierung des Normativismus, sondern der expliziten Begründung seiner wertfreien Betrachtung. An dieser zentralen Stelle seiner Argumentation wendet sich Kondylis Nietzsches Begriffen zu, wenn er feststellt, sein deskriptiver Dezisionismus könne „als regelrechter Nihilismus eingestuft werden“ – falls wir unter Nihilismus „ausschließlich die These von der objektiven Wert- und Sinnlosigkeit von Welt und Mensch“ verstehen (ebd., S. 124). Somit stellt sich die Frage nach Kondylis’ Nietzschedeutung von neuem – diesmal nicht nur vom engeren historisch-philosophischen Standpunkt der Metaphysikkritik aus, sondern auch vom Standpunkt der Frage nach der aktuellen Anwendbarkeit von Nietzsches anthropologischem Ansatz. Die kritische Seite von Kondylis’ deskriptivem Dezisionismus enthält die wichtigste Parallele zu Nietzsche. In Macht und Entscheidung sowie in späteren Schriften einschließlich der postum veröffentlichten Grundzüge der Sozialontologie präsen-

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tiert Kondylis seinen Ansatz im Wesentlichen als Ideologiekritik, deren Teil auch Entlarvung anthropologischer Grundlagen des Normativismus in den ,massendemokratisch‘ geprägten Sozialtheorien ausmacht (Kondylis 1998, S. 3 – 4). Anstatt einer ,halbherzigen‘ normativistischen Anthropologie sucht Kondylis nach einer neuen Anthropologie, die ontologische Grundfaktoren des sozialen Zusammenlebens in möglichst unbefangener Weise beschreiben kann. In diesem Kontext gibt es klare, wenn auch zum meisten Teil nicht explizite Anspielungen auf Nietzsches allgemeine Kritik an Ideologien, die nicht zuletzt gegen massengesellschaftliche Elemente sozialer und politischer Entwicklungen gerichtet war.19 Genau wie bei Kondylis, werden mit dieser Kritik Nietzsches primär normative Aspekte der Weltvorstellung anvisiert.20 Ebenso von Bedeutung ist dabei, dass sie bei Nietzsche ihre deutlichen anthropologischen Züge aufweist, sei es in seinem Verständnis der (Bluts-)Gemeinschaft21 oder in der Begründung des anthropologisch (u. a. ethnologisch) bedingten ethischen Relativismus. Wie angedeutet, wendet sich Kondylis Nietzsche vor allem an den Stellen zu, wo er die möglichen Gegenargumente der ,Normativisten‘ erwägt und diese ins Positive umwendet, anstatt sie zu widerlegen. Ein solches Kontra-Argument wäre etwa, dass es im Lichte eines wertfreien Dezisionismus „keine Wahrheit und keine Moral gäbe“ (ebd., S. 125). Ihm stellt Kondylis entgegen, in solchen Aussagen sei die normativistische Verflechtung des Seins mit dem Sollen, d. h. die Darstellung der „eigenen Wünsche […] in höchst objektiver Gestalt“ zu sehen (ebd., S. 126), während der deskriptive Dezisionismus diese Verbindung zu überwinden sucht, indem er sich auf die Betrachtung und ,Schilderung‘ des Seins beschränkt. Dieses anti-deontologische Programm, das laut Kondylis’ Prognose für seinen Dezisionismus keinen breiten

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Allerdings wird bei Nietzsche – anders als bei Kondylis – diese Kritik primär gegen die massengesellschaftliche Idee der menschlichen (Selbst-)Verkleinerung gerichtet, die in Nietzsches Augen politische Strömungen wie Sozialismus mit Religion, v. a. mit Christentum, vereinigt. Zur Kritik an verkleinernden, erniedrigenden Eigenschaften der Massengesellschaft s. etwa „Jenseits von Gut und Böse“ 241 (KSA 5, S. 181): „Es ist das Zeitalter der Massen: die liegen vor allem Massenhaften auf dem Bauche. Und so auch in politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen neuen Thurm von Babel, irgend ein Ungeheuer von Reich und Macht aufthürmt, heisst ihnen ,gross‘: – was liegt daran, dass wir Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen einstweilen noch nicht vom alten Glauben lassen, es sei allein der grosse Gedanke, der einer That und Sache Grösse giebt.“ 20 Vgl. „Menschliches, Allzumenschliches“ I, 460 (KSA 2, S. 298, zur normalisierenden Pervertierung der Idee der Größe): „D e r g r o s s e M a n n d e r M a s s e . – Das Recept zu dem, was die Masse einen grossen Mann nennt, ist leicht gegeben. Unter allen Umständen verschaffe man ihr Etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr erst in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm wäre, und gebe es ihr dann. / Zeigt sich nun, dass ein solcher starker Wille etwas der Masse sehr Angenehmes bewirkt, statt auf die Wünsche seiner Begehrlichkeit zu hören, so bewundert man noch einmal und wünscht sich selber Glück. Im Uebrigen habe er alle Eigenschaften der Masse: um so weniger schämt sie sich vor ihm, um so mehr ist er populär.“ 21 S. dazu Zhavoronkov (2018).

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Kreis von Anhängern gewinnen kann,22 erhebt auch keine Machtansprüche, insofern es keine objektiven Maßstäbe setzen kann bzw. soll. Die Ethik und die Metaphysik, die die Menschen sich „erdacht“ haben, um „ihre Welt beschönigen und bewohnbar machen zu können“ (ebd., S. 129), spielen für solchen Ansatz keine wegweisende Rolle, sondern sind nur Gegenstände der Betrachtung – als Elemente des Mechanismus des sozialen Lebens. Der Eindruck der Parallelität zu Nietzsches Gedankengang wird dadurch verstärkt, dass Kondylis, der im Gegensatz zu vielen frühen Kritikern Nietzsches (u. a. zu Georg Lukács) Nietzsches Skeptizismus nicht als Zerstörung der philosophischen Methodologie oder gar der philosophischen Vernunft sieht, in demselben Kontext betont, dass „die größten Zerstörungen und Leiden in der bisherigen Geschichte […] nicht von Relativisten, Skeptikern oder Nihilisten verursacht worden [sind], sondern von Moralisten und Normativisten – und zwar im Namen der ,einzig‘ wahren Religion, der ,einzig‘ richtigen Politik oder der ,einzig‘ zur Herrschaft geeigneten Rasse“ (Kondylis 1984, S. 125). Diese Äußerung enthält wenigstens auf den ersten Blick eine Weiterentwicklung von Nietzsches Argumentation und wirkt zugleich wie ein direkter Einwand gegen diejenigen, die ihn neben Kierkegaard (und seltener Marx) nicht lediglich als einen diagnostizierenden Beobachter seiner Epoche charakterisierten, sondern auch als denjenigen, der eine katalytische Wirkung auf die bereits vorhandenen Verfallsprozesse ausübte. Auch wenn es Kondylis’ Denken nicht gerecht würde, in ihm einen folgerichtigen Skeptiker zu sehen,23 wird Skeptizismus bei ihm, wie früher bei Nietzsche, zum wichtigen Instrument anthropologisch orientierter Kritik. Die Grenze zwischen Kondylis und Nietzsche wird hingegen klar, wenn wir die von Kondylis angedeuteten Ziele mit denjenigen von Nietzsche vergleichen – an den Stellen, wo der Letztere von kritischen Beobachtungen zu programmatischen Thesen übergeht. Wo Nietzsche mit seinen Ideen der kulturellen Umwertung und Reformierung auf allen Ebenen (einschließlich der für Kondylis besonders wichtigen Ebene der Politik) einsetzt, bleibt Kondylis auch in seinen Nachlassschriften zur Sozialontologie ganz bewusst bei Prognosen, die – wenn auch oft in großer Schärfe – Entwicklungstendenzen unter aktuellen, bereits präsenten Bedingungen beschreiben, anstatt Rezepte für deren Überwindung zu bieten. Insofern geht Kondylis’ Ideologiekritik nur bis zu einem bestimmten Punkt mit derjenigen Nietzsches zusammen, um der Gefahr eines neuen, auf dem Boden der Metaphysik- und Normativismuskritik aufwachsenden Normativismus zu entgehen. Die Kluft zwischen Nietzsches und Kondylis’ anthropologischem Ansatz erweist sich als substanziell auch, wenn wir uns nach der Stellung der Anthropologie gegen22 Diese elitistische Haltung von Kondylis lässt sich als weiteres, wenn auch vageres, Beispiel für Parallelität zu Nietzsches Philosophie interpretieren. 23 Ein Beispiel solchen Denkers wäre für Kondylis Machiavelli, in dem er den Urvater des neuzeitlichen Skeptizismus sieht. Für Argumente gegen die Einschätzung von Kondylis als Skeptiker s. etwa Krause Landt (2007).

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über anderen Ansätzen bzw. Perspektiven fragen. Kondylis betont mehrfach, die Anthropologie spiele aus seiner Sicht die wichtigste Rolle in der Beschreibung sozialer Fragestellungen und Prozesse.24 Für Nietzsches Philosophie ist die anthropologische Perspektive aber nur eine unter den möglichen, auch wenn sie für das Verständnis des thematischen und methodologischen Übergangs von den ,klassischen‘ Anthropologien des deutschen Idealismus zur Philosophischen Anthropologie Schelers und Plessners von grundlegender Bedeutung ist. Interessanterweise wird diese Perspektive in Kondylis’ Deutung auf die ganze Philosophie Nietzsches erweitert, weil sie sowohl seine Strategien der Metaphysikkritik als auch seine (Gegen-)Positionen betrifft. In dieser Hinsicht, also im Umfang der von ihm gewählten Optik, gleicht Kondylis’ Herangehensweise derjenigen Schelers, obwohl er Nietzsches Anthropologie gar nicht in solcher Detailliertheit untersucht, wie es etwa in Schelers spätem Nachlass von 1927/1928 der Fall ist. Wie wir bereits sehen konnten, ist diese Optik primär durch die historische Breite seines Anthropologiekonzeptes bedingt. Kondylis’ wertfreies Weltbild setzt auch einen Wertrelativismus voraus, der von der Idee der zeitlichen Begrenztheit sowie der Subjektivität aller Wertstrukturen abhängig ist. Eigentlich ist der letztere Aspekt des Relativismus laut Kondylis schon Teil der gegenwärtig dominierenden massendemokratischen Weltvorstellung, die in sich – u. a. mithilfe der Berufung auf anthropologische Axiome – den normativistischen Universalismus mit dem Pluralismus der Werte versöhnt. Wenn Kondylis den individualistischen Aspekt des Relativismus radikalisiert und ihn mit dem zeitlichen Aspekt verbindet, mündet das in der Idee der allgemeinen „Wert- und Sinnlosigkeit von Welt und Mensch“ (Kondylis 1984, S. 119). In dieser Hinsicht geht Kondylis deutlich weiter als Nietzsche mit seiner Idee einer philosophischen Bestimmung einer zukünftigen Rangordnung der Werte,25 die aus der Kritik an früheren oder gegenwärtig bestehenden Rangordnungen erwächst. Aus demselben Grund wie im Falle der Ideologiekritik wählt Kondylis von einem bestimmten Punkt an einen anderen Weg, der über alle normativen Rangfolgen führt. Seine Art des Nihilismus, die diese Einstellung untermauert, ist daher nicht völlig gleich demjenigen Nietzsches, insofern Kondylis’ Nihilismus zwar eine wertfreie Alternative präsentiert, zugleich aber keine destruktiven Züge hat, also den Normativismus nicht bekämpft oder irgendwie zu zerstören sucht, sondern nur unparteiisch und strukturell beschreibt. Das Fundament von Kondylis’ Dezisionismus formt seinen Begriff der Macht,26 der uns wenigstens auf der Oberfläche an Nietzsches Verwendung des Begriffes für die Beschreibung sozialer Verhältnisse erinnert. Auch Kondylis stellt diese Verhältnisse als Kampf um Erweiterung der Macht von „Existenzen, Individuen oder Gruppen“ dar (Kondylis 1984, S. 119). Wie – allerdings nur zum Teil – auch bei Nietzsche, geht es grundsätzlich um den Kampf der Interpretationen, in dem jede neue Position als Gegenposition entsteht (vgl. Kondylis 1981, S. 24 sowie Kondylis 1986, S. 17). 24

Vgl. etwa in amalgamierter Form in Kondylis (2001), S. 182. Vgl. „Zur Genealogie der Moral“ I, 17 (KSA 5, S. 289). 26 Zur Rolle des Begriffs in Kondylis’ politischer Anthropologie s. Terpstra (2019). 25

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Dabei grenzt Kondylis seine Position von allen biologistischen Interpretationen des Machtbegriffes (Kondylis 1984, S. 119)27 ab und damit auch dezidiert von Nietzsches doppeldeutigem Begriff des Willens zur Macht. Bei Nietzsche hat der Begriff zugleich eine innere bzw. individuelle und eine äußere bzw. soziale Dimension und verbindet – in einer nicht unproblematischen Weise – diese miteinander durch ein bestimmtes Bild ,sozialer‘ Beziehungen zwischen Teilen des Organismus.28 Auch in diesem Fall sehen wir zugleich Kondylis’ Nähe und Distanz zu Nietzsches Denken. Auf der Ebene historischer Analyse, die in allen Schriften von Kondylis stark präsent ist, gleicht seine Aufgabe der Demonstration der Abhängigkeit aller Theorien mit normativem Anspruch von sozialen Machtverhältnissen, in erster Linie von Zielen, die auf den Machterhalt ausgerichtet sind,29 Nietzsches Kritik an bestimmten normativen Ordnungen, wie etwa an christlicher Moral, die u. a. die Praxis der ,asketischen Priester‘ legitimiert. Andererseits ist schon hier eine starke Trennung zu sehen. Denn sowohl in Macht und Entscheidung als auch in Die neuzeitliche Metaphysikkritik deutet Kondylis an, die Aufgabe seines deskriptiven Ansatzes bestehe darin, solche Probleme wie Nietzsches de facto anthropologische Legitimierung aller von ihm kritisierten Ordnungen von Anfang an zu überwinden. Obwohl Kondylis’ Verständnis von Nietzsches Kritik vereinfachend wirkt, etwa die strukturelle Notwendigkeit von Nietzsches doppeldeutiger Idee des Asketismus (u. a. die Notwendigkeit des Asketismus für philosophische Weltbetrachtung) nicht berücksichtigt, ist es trotzdem klar, dass die strukturelle Rolle des Machtbegriffes bei ihm wesentlich anders als bei Nietzsche aussieht. Für Kondylis entspringt die Machterweiterung den Bedürfnissen der Selbsterhaltung, die somit das primäre Ziel des sozialen Kampfes ist und die Gruppierung – auf sozialontologischer Ebene – nach dem Freund-Feind-Prinzip bestimmt. Bei Nietzsche hingegen spielt der Selbsterhaltungstrieb, v. a. wegen seines angeblich passiven und teleologischen Charakters, 30 nur eine sekundäre Rolle im Vergleich zum Willen zur Macht.31 Die Differenz liegt wiederum in der Abwesenheit des deontologischen Elementes in Kondylis’ Ansatz, für den der

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Ob das Kondylis auch konsequent gelingt, ist eine andere Frage. So wirken seine Thesen zur Selbsterhaltung sozialer Gruppen als biologistische Argumente. 28 Zur Unmöglichkeit der theoretischen Versöhnung dieser zwei Seiten von Nietzsches Willen zur Macht s. Tugendhat (2010), S. 15 – 17. 29 Mehr dazu in Horst (2007), S. 46. 30 S. „Jenseits von Gut und Böse,“ 13 (KSA 5, S. 27): „Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft a u s l a s s e n – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten F o l g e n davon. – Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor ü b e r f l ü s s i g e n teleologischen Principien!“ 31 In seinem späten, besonders scharfen Angriff gegen das Christentum mit dessen altruistischer Idee der ,Gegenseitigkeit der Erhaltung‘ argumentiert Nietzsche wie folgt: Falls der Selbsterhaltungstrieb eine primäre Rolle spielen würde, sollten nicht die stärkeren und kühneren, sondern die schwächeren Wesen bessere Chancen haben, den Kampf um ihre Existenz zu gewinnen (NF Frühjahr 1888, 14[5], KGW VIII/3, S. 10 – 12).

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Begriff der Macht, nicht aber der mit ihm verbundene Begriff des Willens32 von grundlegender theoretischer Bedeutung ist. Eine wichtige verbindende Rolle zwischen Nietzsche und Kondylis in Bezug auf den Machtbegriff ist Helmuth Plessner, insbesondere seine Schrift Macht und menschliche Natur, als zentrale Quelle von Kondylis’ politischer Anthropologie.33 Hier wäre v. a. Plessners Idee der Unergründlichkeit des Menschen zu erwähnen (Plessner 1981, S. 188), die Nietzsches Idee des Menschen als „noch nicht festgestellten“34 Tieres weiterentwickelte und ihrerseits Kondylis’ These beeinflusste, dass unsere Entscheidungen durch eine „unerschöpfliche Varietät der konkreten Lagen“ bestimmt sind (Kondylis 1984, S. 45), sodass die Triebfeder der Entscheidungen sich in keiner systematisierenden Rationalisierung erschöpfen lassen.35 Für Nietzsche, Plessner und Kondylis ist der Mensch somit ein ,unvollendetes‘ Wesen, dessen Positionierung in der Welt sich ständig ändert und auch in der Zukunft ändern wird, wobei wir die Vielfalt der uns offen stehenden Möglichkeiten erst durch Handeln erschließen und bestimmen können.36 Es ist andererseits zu beachten, dass das Politische bei Kondylis und Nietzsche nicht die gleiche Rolle spielt, sodass auch die politischen Elemente ihres anthropologischen Ansatzes unterschiedliches Gewicht haben. Nietzsches doppeldeutige Haltung in Bezug auf die politische Sphäre macht es – trotz einer reichen Geschichte seiner politischen Rezeption – für seine Interpreten fast unmöglich, ihn auf eindeutige Weise entweder als politischen Philosophen oder, umgekehrt, als antipolitischen bzw. sogar apolitischen Denker zu bestimmen. Indem wir bei Nietzsche sowohl kritische Einschätzungen der ihm gegenwärtigen politischen Ideen, Konzepte und Strömungen wie auch seine eigenen Konzepte, etwa dasjenige der ,großen Politik‘, finden, sehen wir bei ihm keine vollständige politische Theorie, wohl aber eine Gegenüberstellung und einen Antagonismus von Kultur und Staat.37 Diese Einstellung 32 Vgl. Kondylis zur begrenzten Rolle des Willens in den Entscheidungen auf sozialer Ebene (1984, S. 54): „Im Rahmen der organisierten Gesellschaft können also nur objektivierte Entscheidungen als Machtansprüche erfolgreich fungieren. Als Lebensform eines Kollektivs beruht Kultur auf kollektiven Normen […]. Nur unter Aufbietung solcher Normen lassen sich die Mitglieder einer organisierten Gesellschaft disziplinieren, nur als Inbegriff solcher, in einem Weltbild verankerter Normen kann also die Entscheidung ihrem eigenen Charakter als Machtanspruch bzw. sozialer Disziplinierungsmacht gerecht werden. Entscheidungen, die sich als Frucht eines nackten subjektiv-freien Willens hinstellen und empfehlen, haben im Gegenteil innerhalb organisierter Gesellschaften keine Aussicht auf bleibenden Erfolg […].“ 33 S. dazu Terpstra (2019), S. 122 – 123. 34 Jenseits von Gut und Böse, 62 (KSA 5, S. 81). 35 In demselben Zug wird Plessners Unergründlichkeitsbegriff auch formal-direkt angespielt: „Der Entscheidungsakt oder -Vorgang verliert sich somit großenteils in der unergründlichen biopsychischen Wurzel der Existenz“ (ebd.). 36 Vgl. letztere These in Terpstra (2019), S. 125 (in Bezug auf Kondylis und Plessner). 37 S. „Götzen-Dämmerung, Was den Deutschen abgeht,“ 4 (KSA 6, S. 106): „Die Cultur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten: „Cultur-Staat“ ist bloss eine moderne Idee. Das Eine lebt vom Andern, das Eine gedeiht auf Unkosten des Anderen.

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Nietzsches macht klar, warum er niemals eine Erweiterung seiner anthropologischen Perspektive durch eine genuin politische Dimension zum Zweck haben konnte,38 wie es bei Plessner und Kondylis (allerdings erst beim Übergang zur politischen Theorie in seinen späteren Schriften) der Fall ist. Elemente des Politischen in Nietzsches Anthropologie finden wir nur in einzelnen Themen und Begriffen, nicht zuletzt in den gerade erwähnten Begriffen des Willens zur Macht und des Agonalen. Ebenfalls von Bedeutung ist hier die Tatsache, dass Kondylis über Individuelles und Kollektives im ,und‘-Modus und nicht im Modus einer Opposition spricht. Indem also die allgemeinen methodologischen Strategien bei Nietzsche und Kondylis sich voneinander grundlegend unterscheiden, hat das auch Einfluss auf ihre Interpretation der Vielheit von Motivationen in der Einheit des Individuellen. Indem Nietzsches Vorstellung von Vielfalt und hierarchisierender Veränderbarkeit der Motivationen primär durch seine von dem Biologen Wilhelm Roux entlehnte Idee des Kampfes der Teile im Organismus bestimmt ist,39 kommt Kondylis’ Erklärung vielmehr von außen, nämlich von der existenziellen Entscheidungsstruktur der Macht. Die höchst komplexe Einheit des Individuellen, die zugleich das Unbewusste und das Bewusste in menschlichen Motivationen einbezieht, wird bei ihm nicht als Anschein entlarvt, sondern als Realität sozialer Beziehungen präsentiert. Im Vergleich zu Helmuth Plessner scheint Carl Schmitts politische Theorie auf den oberflächlichen Blick ein besserer Kandidat für die Rolle des Bindeglieds zwischen politischen Elementen von Nietzsches anthropologischer Perspektive und Kondylis’ politischer Anthropologie zu sein. Dieser erste Eindruck ist aber nicht korrekt. Bei Nietzsche gibt es weder eine Freund-Feind-Theorie noch eine simplere strikte Gegenüberstellung von Freund und Feind.40 Seine Äußerungen zur politischen Sphäre geben außerdem keine Voraussetzungen dafür, eine Vorstellung von Autonomie des Politischen bei ihm zu vermuten – insbesondere in der Form, welche sie bei Schmitt hat. Seinerseits macht Kondylis zwar Gebrauch von Schmitts Freund-FeindUnterscheidung, setzt diese aber in viel breiteren Kontext sozialer Beziehungen, der durch das Politische nicht begrenzt wird.41 Unter den wichtigsten Zielen von Nietzsches anthropologischem Projekt ist die der ,Entmenschlichung der Natur‘ und der ,Vernatürlichung des Menschen‘,42 interAlle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst a n t i p o l i t i s c h .“ 38 Auch Nietzsches ,große Politik‘ wäre aus meiner Sicht primär als kulturelles Projekt zu verstehen (vgl. etwa Fornari 2014, S. 325 – 326). 39 Zu diesem Thema s. Toepfer (2018), S. 74 – 76. 40 Vgl. etwa Nietzsches Feststellung, dass Freunde unsere besten Feinde sind („Also sprach Zarathustra, Vom Freunde“; KSA 4, S. 71). 41 Vgl. Furth 2007, S. 151 – 152. 42 Fröhliche Wissenschaft, 109 (KSA 3, S. 468 – 469): „Hüten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. Es giebt nur Nothwendigkeiten: da ist Keiner, der befiehlt, Keiner, der gehorcht, Keiner, der übertritt. Wenn ihr wisst, dass es keine Zwecke giebt, so wisst ihr auch, dass es keinen Zufall giebt: denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort

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pretiert als Fähigkeit zur skeptischen Haltung gegenüber traditionellen Vorstellungen und Vorurteilen, die auf einer anthropomorphen oder mechanistischen Beschreibung der Welt als Ganzer beruhen.43 Verstanden als Kampf mit der traditionellen, metaphysischen und eurozentrischen Vorstellung von moralischer Zivilisierung und Verbesserung, ähnelt dieses Ziel Kondylis’ Aufgabe der Entmachtung anthropologischer Begründungen ethischer Normen und somit auch der Überwindung des Konfliktes zwischen Sein und Sollen (vgl. Kondylis 1999, S. 49). Jedoch, wie in anderen Fällen, sehen wir auch hier, dass Kondylis nicht bei Nietzsches Gegen-Konzepten bleiben will und diese nur als Zwischenpunkt in seinen Überlegungen betrachtet. Die Weiterentwicklung dieser Überlegungen, besonders in seinen Schriften über planetarische Politik,44 zeigt uns, wie groß der Unterschied zwischen Nietzsches und Kondylis’ Bild der Zukunft der Menschheit ist. Literatur Bertino, Andrea Christian: „Vernatürlichung“. Ursprünge Friedrich Nietzsches Entidealisierung des Menschen, seiner Sprache und seiner Geschichte bei Johann Gottfried Herder. Berlin/New York, De Gruyter, 2011. Ebke, Thomas/Zhavoronkov, Alexey: Editorial. In: Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie. Bd. 7: Nietzsche und die Anthropologie. Hg. von Th. Ebke/A. Zhavoronkov. Berlin/Boston, De Gruyter, 2018, S. V–XIV. Edinger, Sebastian: Planetarische Politik im Spannungsfeld von Macht und Norm. Zum Verhältnis von dezisionistischer Machttheorie und politischer Analyse bei Panajotis Kondylis. In: Falk Horst (Hg.), Panajotis Kondylis und die Metamorphosen der Gesellschaft: Ohne Macht lässt sich nichts machen. Berlin, Duncker & Humblot, 2019, S. 231 – 260. Flügel-Martinsen, Oliver: Apodiktischer Dezisionismus? Kondylis’ Machtdenken. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 60/3, 2012, S. 365 – 382. Fornari, Maria Christina: Nietzsche und die politische Philosophie. In: Helmut Heit/Lisa Heller (Hg.), Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Berlin/Boston, De Gruyter, 2014, S. 322 – 340. Furth, Peter: Über die Sozialontologie von Panajotis Kondylis. In: Falk Horst (Hg.), Panajotis Kondylis: Aufklärer ohne Mission. Berlin, Akademie Verlag, 2007, S. 141 – 183. „Zufall“ einen Sinn. Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene Art. – Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es giebt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein eben solcher Irrthum, wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu v e r n a t ü r l i c h e n !“ 43 Vgl. Bertino (2011), S. 10 ff. 44 Für eine detaillierte Analyse der Verbindung zwischen „Macht und Entscheidung“ und späten politischen Schriften von Kondylis s. Edinger (2019).

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Kondylis’ Beobachtungen zur Freudschen Anthropologie Gisela Horst* Kondylis hatte die „Sozialontologie“, die sein Hauptwerk werden sollte, auf drei Bände geplant, doch bis zu seinem Tod nur den ersten Band bis auf ein kurzes Schlusskapitel fertigstellen können. Zu den Bänden II und III liegen mehr als 4.000 Notate vor, von denen sich einige thematisch zusammenfügen lassen, wobei Auswahl und Akzentuierung subjektiv bleiben, denn lediglich die Reihenfolge der abgelegten Zettel und der Zusammenhang mit seinen übrigen Gedanken geben einen Hinweis auf Intensität und eventuell den Zeitraum der Auseinandersetzung mit einem Thema. So setzt sich Kondylis mit der Anthropologie von S. Freud direkt und indirekt und über längere Sammelzeiträume auseinander, wie er sich in gleicher Weise ebenso mit Argumenten und Modellen anderer Wissenschaftler beschäftigt, um sich zum einen von deren Beobachtungen und den daraus entwickelten Folgerungen inspirieren zu lassen, vor allem, um seine eigenen Ergebnisse und Thesen zu überprüfen und herauszufinden, wo es zwischen seinen und denen anderer Übereinstimmungen oder Widersprüche gibt, wo er seine Position überdenken oder korrigieren muss. Es interessiert ihn immer wieder die Antwort auf die Frage, wo bei gleichen Beobachtungen die Gründe für abweichende Schlussfolgerungen und Theorien liegen könnten. Die anthropologische Grundthese von Kondylis lautet, für den Menschen als Gemeinschaftswesen habe sich der Selbsterhaltungstrieb in Machtstreben gewandelt, der darauf abzielt, dem Subjekt in der Gruppe den Platz zu verschaffen und zu sichern, der seinem Ego bzw. seinem Selbstverständnis entspricht. Das Machtstreben kann sich als Streben zeigen, das dem sozialen Verband dient oder auch ihm schadet; in beiden Fällen kann es sich in Aggression äußern. Diese ist nicht mit Destruktion gleichzusetzen, wie Freud dies tut, denn in der Konkurrenz mit anderen kann das Bestreben auf Kulturleistungen zielen, die der Allgemeinheit dienen. Machtstreben kann demnach, um die Freudschen Begriffe zu verwenden, als Eros oder auch als Thanatos erscheinen. Was für Freud zwei gegensätzliche Triebe sind, ist für Kondylis, wie gesagt, nur ein einziger, nämlich das Machtstreben. Die eigenartigen Phänomene, die Freud mit dem Todestrieb in Verbindung bringt, erklärt Kondylis als Folgen des Machtstrebens bzw. des Machttriebes, den Freud nicht sieht und damit zu einer Theorie kommt, die mit dessen eigenen Beobachtungen teilweise in Widerspruch gerät: „Die Verkennung des Machtstrebens führt Freud * Übersetzung der Notate: Fotis Dimitriou.

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zu einer völlig erzwungenen dualen Klassifizierung der Triebe. Wenn er den Begriff der Macht und die Mechanismen des Machtstrebens studiert hätte, würde er nicht die Aggression ausschließlich mit der Destruktion und dem Todestrieb, noch würde er auf der anderen Seite den Selbsterhaltungstrieb mit dem Eros identifizieren. Der Selbsterhaltungstrieb kann Aggression auslösen, aber auch umgekehrt kann die Aggressivität sich veredeln und in den Dienst der Kultur stellen – auch als Herrschaft.“ (Notat 3521** Die Zahl der Asterisken gibt die Bedeutung der einzelnen Notizen für Kondylis an.) „Es ist ein Fehler von Freud, den Aggressionstrieb als ,stärkstes Hindernis‘ der Kultur [anzusehen], während er die Kultur ,Werk des Eros‘ nennt. (Unbehagen, VI = GW, XIV, 481) Ohne Polemik und ohne Machtstreben würde es keine Kultur geben. Der Eros würde von sich aus ewig eine Horde um das Feuer in Liebe und Eintracht halten.“ (Notat 3558) Kondylis findet bemerkenswerte Beobachtungs- und Auffassungsänderungen im Werk Freuds, wenn er ihn in der folgenden Notiz zitiert: „Wir sind von einer scharfen Scheidung zwischen Ichtrieben = Todestrieben und Sexualtrieben = Lebenstrieben ausgegangen. Wir waren ja bereit, auch die angeblichen Selbsterhaltungstriebe des Ichs zu den Todestrieben zu rechnen, was wir seither berichtigend zurückgezogen haben. [Kondylis kommentiert:] Jetzt zählt Freud die Selbsterhaltungstriebe zu den libidinösen Trieben dazu (66 Anm. 1), im Gegensatz zu den Destruktionstrieben. [Freud stellt fest:] Unsere Auffassung war von Anfang an eine dualistische und ist es heute schärfer denn zuvor, seitdem wir die Gegensätze nicht mehr Ich- und Sexualtriebe, sondern Lebens- und Todestriebe nennen. Jenseits des Lustprinzips (1920) = GW, XIII, 57. [Kondylis kommentiert:] Die Dualität betont Freud klar polemisch gegen den monistischen Ausgleich von Jung: Triebkraft = Libido.“ (Notat 3536) Der Hinweis auf die polemische Zuspitzung Freuds gegen Jung auch bei Freuds veränderten Zuordnung könnte Kondylis hier als Hindernis für Freud verstanden haben, das eigene dualistische Modell selbst infrage zu stellen: So als verlange die Polemik gegen den anderen vor allem die Bekräftigung der eignen Position, als könne man von ihr aus polemischen Gründen nicht so leicht abrücken, auch wenn Phänomene entdeckt werden, die sich nicht der bisherigen Theorie fügen. Vielleicht hätte – aus der Sicht von Kondylis – Freud ohne den Eindruck, zur Polemik herausgefordert zu sein, den Gedanken erwägen können, das dualistische Prinzip aufzugeben und dem Selbsterhaltungsstreben in der Form von Machtstreben Aufmerksamkeit zu schenken. Auch bei der zitierten nächsten Feststellung Freuds scheint sich aus der Perspektive von Kondylis ein Überdenken der eigenen Position anzubieten: „Freud erkennt, der Todestrieb sei sehr schwer wahrzunehmen – ,gewissermaßen nur als Rückstand hinter dem Eros‘ – und ,daß er sich uns entzieht, wo er nicht durch die Legierung mit dem Eros verraten wird. Im Sadismus, wo er das erotische Ziel in seinem Sinne umbiegt, dabei noch das sexuelle Streben voll befriedigt, gelingt uns die klarste Einsicht in sein Wesen und seine Beziehung zum Eros. Aber auch wo er ohne sexuelle Absicht auftritt, noch in der blindesten Zerstörungswut läßt sich nicht verkennen, daß seine Befriedigung mit einem außerordentlich hohen narzißtischen Genuß verknüpft ist, indem sie dem Ich Erfüllung seiner alten Allmacht-

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wünsche zeigt. Gemäßigt und gebändigt, gleichsam zielgehemmt, muß der Destruktionstrieb, auf die Objekte gerichtet, dem Ich die Befriedigung seiner Lebensbedürfnisse und die Herrschaft über die Natur verschaffen.‘ Unbehagen VI = GW, XIV, 480“ (Notat 3547) Was Freud hier dem Ich zuschreibt, ist für Kondylis nichts anderes als ein Ausdruck von Machtstreben, für das es keine Grenze gibt, weil es ein dynamisches Streben ist. Denn der Platz, der im sozialen Verband angestrebt oder besetzt werden soll, ist nicht für immer gesichert, vielmehr kann dieser jederzeit durch Konkurrenten bedroht werden. In den beiden folgenden Notizen, die Kondylis bei Freud fand, erkennt er eher eine Bestätigung für sein eigenes anthropologisches Modell. Freud hätte an dieser Stelle aufgrund seiner Folgerungen, so könnte Kondylis vermutet haben, noch einen Schritt weitergehen und das dualistische Erklärungsmodell aufgeben können. Denn die Folgerung kommt ohne den Dualismus aus. Beide Notate zu Freud belegen zum einen die Seltsamkeit, dass gegensätzliche Triebe zusammenwirken und bestätigen die Kondylis-Theorie von einem Machtstreben, das sich in unterschiedliche Strebungen teilen kann: „,Ganz selten ist die Handlung das Werk einer einzige Triebregung, die an und für sich bereits aus Eros und Destruktion zusammengesetzt sein muß. In der Regel müssen mehrere in der gleichen Weise aufgebaute Motive zusammentreffen, um die Handlung zu ermöglichen.‘ Freud, Warum Krieg? GW, XVI, 21“ (Notat 3548) Die übernächste Notiz zitiert im gleichen Sinn nochmals Freud: „,Beide Grundtriebe sind unerläßlich für das Leben. Nun scheint es, daß kaum jemals ein Trieb der einen Art sich isoliert betätigen kann, er ist immer mit einem gewissen Betrag von der anderen Seite verbunden, wie wir sagen: legiert, der sein Ziel modifiziert oder ihm unter Umständen dessen Erreichung erst möglich macht. So ist z. B. der Selbsterhaltungstrieb gewiß erotischer Natur, aber gerade er bedarf der Verfügung über die Aggression, wenn er seine Absicht durchsetzen soll. Ebenso benötigt der auf Objekte gerichtete Liebestrieb eines Zusatzes von Bemächtigungstrieb, wenn er seines Objekts überhaupt habhaft werden soll‘. Freud, Warum Krieg? GW, XVI, 20 f. ,Die Verquickung dieser destruktiven Strebungen mit anderen, erotischen und ideellen, erleichtert natürlich deren Befriedigung.‘ (21)“ (Notat 3550) Aus diesem und anderen Bemerkungen Freuds folgert Kondylis: „Die Inkonsequenz bei Freud ist, dass er auf die Dauer einen immer engeren Zusammenhang der beiden Triebe feststellt, obwohl er auf ihrer doppelten Wurzel besteht, in der anthropologischen Dualität. Wenn er annehmen könnte, beide seien eines, Offenbarungen einer und einzigen Energie, die sich um die Selbsterhaltung dreht, dann wäre die Dualität überflüssig.“ (Notat 3553) Wenn Freud sich auch noch mehrdeutig ausdrückt, so als könne man verschiedene Erklärungen anbieten, dann könnte sich Kondylis geradezu bestärkt darin gesehen haben, dass seine Erklärung durch das Prinzip der Selbsterhaltung für jenen fast nahelag, Freud aber sein bisheriges Erklärungsmodell nicht aufgeben wollte: „Für Freud besteht der Todestrieb vor dem Destruktionstrieb und verwandelt sich in diesen. Aber man kann sich vor der Spekulation des Todestriebes retten (als Wunsch zur Rückkehr zur anorganischen Materie), wenn man das Gegenteil annimmt: dass der Todestrieb oder die Selbstzerstörung äußerste Konsequenz des

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Selbsterhaltungstriebes ist, der sich in Macht- und Destruktionstrieb verwandelt hat und dann, wenn er es [sein Ziel] nicht erreicht, sich nach außen durchzusetzen, zum Todestrieb wird. Bzw. der Todestrieb wäre, wie auch das Gewissen, nach außen gehemmte und nach innen genährte Aggression. Freud selbst drückt sich zweideutig aus. Im gleichen Zusammenhang sagt er, ,der Todestrieb wird zum Destruktionstrieb‘ und dass der Todestrieb aus der ,Verinnerlichung des Destruktionstriebes‘ hervorgehe. Aber er sagt, verinnerlicht wird, was nicht nach außen kommt, was also vom ursprünglich existierenden Todestrieb ,verbleibt im Inneren des Lebewesens.‘ (Warum Krieg = GW XVI, 22)“ (Notat 3555) Mit dieser Formulierung kommt Freud dem Gedanken von Kondylis offenbar nahe, das Machtstreben setze Aggression ein, um sein Ziel zu erreichen und wenn dies trotz intensiver Bemühung nicht erreichbar ist, wendet sich die Aggression nach innen, lässt Depression und Melancholie entstehen. Auch das Phänomen, das mit dem Begriff Burn-out gefasst wird, gehört wohl dazu.1 Weitere Einsichten Freuds kann Kondylis zwanglos in sein Modell von Selbsterhaltungs- und Machtstreben einfügen: „Das Ich ist der durch den direkten Einfluß der Außenwelt unter Vermittlung von Wahrnehmungs-Bewußtsein veränderte Teil des Es, gewissermaßen eine Fortsetzung der Oberflächendifferenzierung. Es bemüht sich, den Einfluß der Außenwelt auf das Es und seine Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. Die Wahrnehmung spielt für das Ich die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich versucht das [Es] zu bändigen – aber als Reiter benutzt es nicht eigene, sondern geborgte Kräfte. Das Ich und das Es (1923) = GW, XIII, 252 f.“ (Notat 3564) Das Ich als Realitätsprinzip, so Freud, muss das Lustprinzip des Es so weit „bändigen“ oder grundlegend umformen, dass das Ich nicht in der Realität scheitert, also muss das, was der Selbstbehauptung in der Realität dient, als Lust wahrgenommen werden.2 Kondylis bezieht hier in die Beschreibung die Unterscheidung zwischen Selbsterhaltungsstreben und Machtstreben ein. Jenes muss auf die Realität bezogen sein, die eben diejenige des in Gesellschaft lebenden Menschen ist, der darin einen bestimmten Platz einnimmt bzw. stets bereit ist, um einen bestimmten Platz mit Konkurrenten zu wetteifern. Das ist in der Situation der Vergesellschaftung nicht mehr das ursprüngliche Selbsterhaltungsstreben, das zur Ruhe kommen kann, wenn die Lust gestillt ist, sondern ein immer waches Machtstreben. „Das Selbsterhaltungsstreben sorgt für die Triebbefriedigung oder hierarchisiert diese Befriedigung, wenn die gleichzeitige Triebbefriedigung nicht möglich ist. Weil eine solche Hierarchisierung notwendig wird, wenn es viele Triebe sind und sie sich zusätzlich untereinander verflechten, kommt das Selbsterhaltungsstreben beim Menschen nicht ohne eine Instanz aus, wie sie das Ich aufgrund seiner Fähigkeit zu sozialer Orientierung bildet – und das bedeutet: 1

Vgl. hierzu Kondylis: „Melancholie und Polemik“, in: „Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der Moderne“, hrsg. von Ludger Heidbrink, Wien 1997, S. 281 – 300. 2 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Umformung des Lustprinzips im Beitrag von Konstantin Verykios, Die Handlungstheorie von Panajotis Kondylis.

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Das Selbsterhaltungsstreben reicht nicht aus, wenn es nicht durch Machtstreben erweitert wird.“ (Notat 3374) Unter den Bedingungen der Kultur wird das Es gezwungen, „[…] sich zugunsten des Ich einzuschränken, da nur dies den Ansprüchen der Gesellschaft genügen kann. Sicher, diese Selbstbeschränkung bedeutet den Beginn eines immerwährenden Kleinkrieges, das Wichtigste ist aber, dass das Lustprinzip eingeschränkt wird. […]“ (Notat 3372) Die Lust, die bei Freud auch im Es verortet ist, muss zu einer Lust an der Macht umgeformt werden, wobei die mögliche, vorläufige Lusterfüllung immer wieder um einer zukünftigen aufgeschoben werden kann – und sei es eine in der Transzendenz. Durch die Differenzierung zwischen Selbsterhaltungsstreben und Machtstreben kann Kondylis den tiefgreifenden Wandel der Antriebsstruktur erklären, dem der Mensch als Gemeinschaftswesen gehorcht: Die Natur des Menschen sei Kultur, betont Kondylis wiederholt. Die von Kondylis verwandte Begrifflichkeit erfasst die von Freud beobachteten Phänomene genauer und damit in einem diesen eher gerecht werdenden Modell als dies das dualistische Triebmodell vermag. Zögernde und mehrdeutige Formulierungen Freuds bei der Auswertung seiner Beobachtungen als Bestätigung für sein theoretisches Konzept haben Kondylis darin bestärkt, seine eigene Theorie für die treffendere zu halten.

Kondylis’ philosophische Anthropologie als Einspruch gegen Heideggers „Sein und Zeit“ Panajotis Kondylis und Gisela Horst* Die Psyche des Menschen ist für Kondylis nur zu verstehen, wenn sie als die eines Gemeinschaftswesens aufgefasst wird. Viele seiner nachgelassenen Notate sind auf dieses Thema bezogen; einige Unterthemen sind angedeutet, die durch weitere Beispiele hätten ergänzt werden sollen. Wie ausführlich der Themenkomplex geworden wäre, lässt sich nicht ausmachen. Die hier beigezogenen Notate dienen dazu, die knappe und scharfe Kritik Kondylis’ an Heideggers „Sein und Zeit“ aus der Perspektive von Kondylis ergänzend zu begründen. Für Kondylis begreift das Individuum sich durch andere, es erkennt, wodurch es sich von anderen unterscheidet. Zugleich aber wird durch das Bedürfnis des Gemeinschaftswesens, seinen Platz in der Gruppe zu finden und zu sichern, eine tieferreichende Selbsterkenntnis auch wieder verhindert: Man täuscht sich aus verschiedenen Gründen über sich selbst und ist nicht das Wesen, das sich völlig losgelöst von sozialen Bindungen und der Perspektive anderer sehen kann. Wenn man mit anderen nicht übereinstimmt, versteht man, dass man sich von ihnen unterscheidet und begreift das eigene Selbst oder Teile davon. „Das Anwachsen und die Verarbeitung der erfahrenen Differenzen mit anderen formen Egos Wahrnehmung der Unterschiede zu anderen und ziehen so die Begrenzungslinien seines Selbst.“ Zustimmend zitiert Kondylis hier A. Gouldner (Notat 3355)1 und belegt durch zahlreiche Notizen, wie sehr Selbstverständnis, Selbsteinschätzung und Identität von Mitmenschen abhängen.2 Denn das Lebewesen Mensch wurde nur als Gemeinschaftswesen möglich und bleibt stets auf eine Gruppe, einen sozialen Verband bezogen, und dadurch ist bei ihm das alle Wesen auszeichnende Selbsterhaltungsstreben in Machtstreben verwandelt. Es ist das Streben, mit dem das Individuum seinen sozialen Platz in der Gruppe anstrebt und sichert. Damit ist der soziale Bezug allgegenwärtig, das einzelne Subjekt kann sich nicht ohne ihn denken und fühlen. Auch * Übersetzung der Notate Kondylis’ aus dem Griechischen von Fotis Dimitriou, Notate ausgewählt und kommentiert von Gisela Horst). 1 A. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise, Reinbek 1974, S. 271 f. 2 Rudolf Burger stellt den Gegensatz zu dieser Sicht in Heideggers „Sein und Zeit“ heraus, denn „alle Bezüge zur Mitwelt und Gebrauchswelt werden nichtig angesichts des Todes, in meinem unbezüglich-solipsistischen Vorlaufen zum Tode bleibe ich allein zurück in meiner ,Eigentlichkeit‘“. (R. Burger, Abstriche, Wien 1991, S. 103) Die Selbstbestimmung des einzelnen Subjekts werde „ohne Rücksicht auf die Welt der Dinge und andere Subjekte“ möglich (S. 103 f.); damit ist die Wirklichkeit der Psyche des Gemeinschaftswesens ausgeblendet.

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derjenige – so ein Beispiel von Kondylis aus der „Sozialontologie“3 – der sich als Einsiedler in die Wüste zurückzog und zu Gott betet, behält weiterhin seinen sozialen Bezug und selbst, wenn er meint, fern der Mitmenschen unabhängig von deren Anerkennung zu sein, ist doch die des eigenen Handelns durch die Instanz des Selbst vorausgesetzt, und dieses Selbstverständnis ist sozial vermittelt.4 Anerkennung sichert die Zugehörigkeit zur Gruppe bzw. zum Umfeld;5 jeder beachtet die Reaktion der anderen auf sein Verhalten und Tun und wünscht Beachtung. Sogar oder gerade bei Trauer und Schmerz um einen Angehörigen werden Aufmerksamkeit und Fürsorge als Bestätigung des Selbst geschätzt. „Wahrscheinlich spielen auch im Falle des Selbstmordes im Denken des Selbstmörders solche Faktoren eine Rolle: vorwegnehmender Genuss der Gefühle, die bei den anderen geweckt werden. […]“ (Notat 3422). Auch der, der mit dem Leben abgeschlossen hat, bleibt in Gedanken noch auf die Mitmenschen und deren erwartete künftige Reaktionen auf seinen Tod bezogen. Dieses Faktum ist für Kondylis ein wichtiges Argument gegen die Bedeutung, die Heidegger dem Tod für die Lebenswahrnehmung und -gestaltung zumisst. Freundschaft setzt Anerkennung voraus und wenn sie in der Freundschaft geringer wird, dann erschüttert es diese, denn wir finden üblicherweise den sympathisch, der uns Anerkennung zeigt. Vom Freund erwarten wir, dass die Anerkennung auch dann nicht geringer wird, wenn er unsere Schwächen kennt. Er soll uns trotz unserer Schwächen weiterhin mögen. (Notat 3387) Alle, die ein ähnliches Weltbild wie wir haben, werden als Verbündete wahrgenommen, denn sie stärken unser mit diesem Weltbild verknüpftes Selbstverständnis. Deshalb werden demjenigen, der Werturteile, die wir für wichtig ansehen, nicht teilt, häufig Vorurteile oder ein Kompetenzproblem unterstellt. (Notat 3376) Auf diese Weise kann der individuelle Wahrnehmungsfokus eingeschränkt werden, weil uns das Vorurteil davon abhält, bestimmten Meinungen Gewicht zu geben. In dem Fall entfällt der abwägende Austausch von Argumenten und die Überprüfung der eigenen Position. Handlungen, die wir vor allem deshalb vollziehen, um andere zu beeindrucken, engen ebenfalls die Positionsüberprüfung und Eigenverantwortung ein, machen abhängig und stärken eine Gewohnheit, im Meinungstrend mitzuschwimmen. „Die Wahrheit ist, dass diese Abhängigkeit von dem Augenblick an unsere psychische Ökonomie erleichtert. Sie befreit uns von der Mühe eines langen Nachdenkens, unter Berücksichtigung aller Gegebenheiten zu entscheiden.“ (Notat 3423). Wir nehmen uns nicht als die wahr, als die wir im Guten oder Schlechten hätten handeln wollen: Haben wir nur aufgrund der 3

P. Kondylis, Das Politische und der Mensch, Sozialontologie Bd. 1, Berlin 1999, S. 201. Vgl. hierzu den Beitrag von Konstantin Verykios, Die Handlungstheorie von Panajotis Kondylis, in diesem Band. 5 Das gilt universell für alle Menschen; einen Universalanspruch, so H. Plessner, kann Heideggers Existenzialanalyse nicht einlösen. Denn sie, „welche in der formalen Wesenserfassung (gegenüber einer materialen) sich gegen die Breite der Kulturen und Epochen offen halten wollte, entdeckt am Ende die Verengung ihres Blickfeldes als eine Folge ihrer methodischen Apriorität.“ (Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur, Frankfurt 1981, S. 158) Denn die Existentialanalyse setze ein christliches Weltbild voraus. 4

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Tatsache gehandelt, dass unser Tun beobachtet werden kann? Wie weit handeln wir überhaupt selbstbestimmt? Das Machtstreben erleichtert es uns also, an Vorurteilen festzuhalten, es unterstützt Selbstbetrug, nämlich das Gefühl der eigenen Gleichwertigkeit oder Überlegenheit gegenüber anderen zu erhalten. Daher „vermeiden wir es, den anderen zu kennen: Die selbstlos-nüchterne Analyse erlaubt uns nicht, ihm gegenüber diejenige Position einzunehmen, die wir möchten – vor allem kann es das Gefühl der Überlegenheit oder der Nachsicht ihm gegenüber erschüttern. Wie bevorzugen das gängige Bild über ihn, das die Bedürfnisse unseres Gemüts bedient.“ (Notat 3415) Das Machtstreben hält oft an ausgetretenen Pfaden fest: „Der Mensch kämpft ununterbrochen darum, nach außen eine Persönlichkeit zu zeigen. Aufrichtig und vollkommen. Dauernd hintergeht er sich selbst – für sich selbst. Sein Verhalten wird entsprechend dem Bild, das er geben möchte, bestimmt, deswegen existiert zwischen seinem Verhalten und seinem wirklichen Selbst eine Kluft (seine Höflichkeit besteht darin, sie zu übersehen – gegenüber den anderen.) Die Aggressivität wächst, wenn die anderen die Kluft sehen und vor allem, wenn wir wissen, dass sie sie sehen. Dann versuchen wir herauszufinden, welche niedrigen Motive das Verhalten des anderen uns gegenüber hat.“ (Notat 3432) Die Selbsteinschätzung kann durch Machtstreben verzerrt sein, denn es möchte uns bedeutender, als wir es tatsächlich sind. Zugleich unterliegt damit auch die Beurteilung anderer einer Verzerrung. „Gegenüber uns selbst und anderen sind die Kriterien der Kritik, aber auch der Abstand, aus dem wir den Kritisierten sehen (also uns oder den anderen), ganz verschieden. Gleichheit und Gerechtigkeit sind von Anfang an ausgeschlossen. Der Blickwinkel, aus dem wir den anderen sehen, unterscheidet sich notwendigerweise von dem, aus dem wir betrachtet werden. Aber unser Verhalten gegenüber den anderen nimmt diese grundlegende Tatsache nicht wahr und wird vom Eindruck bestimmt, wir würden mit den gleichen Kriterien messen (oder messen können.) Dies ist der Anfang vieler Missverständnisse. Wir vergleichen nicht Dinge, sondern Geschöpfe, die wir als Dinge betrachten.“ (Notat 3431)

Zwar lernen wir, uns am anderen zu erkennen, doch das Bestreben, einen gewünschten sozialen Platz einzunehmen, kann eine nüchterne Selbsteinschätzung behindern. Weil für die Zugehörigkeit zur Gruppe und der Stellung in ihr Anerkennung benötigt wird, sind viele bereit, ihre Identität der Lage entsprechend anzupassen. Identitäten zwischen einzelnen Subjekten werden „ausgehandelt“. Das bedeutet nicht, dass der eine vollständig die Werteskala des anderen übernimmt, „weil die Adoption einer Werteskala gefährlich für die eigene Identität sein würde.“ (Notat 3381) Wenn man eine Beziehung erhalten möchte, wird darüber entschieden, welche Teile einseitig beiseitegelegt werden und welche beiderseits verändert werden. Anderen Personen gegenüber bleibt die alte Werteskala möglicherweise erhalten. Allerdings können die Änderungen auch weitreichender sein: „Wenn wir erklären, wir schätzten die anderen entsprechend dem ein, wie sie unser Selbstverständnis beurteilen, meinen wir nicht, unser Selbstverständnis bleibe starr und verlange von den anderen ein alles oder nichts. Unter der Bedingung, Anerkennung könne erreicht werden, ist mancher bereit, nicht nur seine wahrnehmbare Identität zu ändern, sondern sein ei-

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genes Selbstverständnis. Das Verweigern von Anerkennung bewirkt Verhärtung – und umgekehrt. Es handelt sich um ein unendliches Spiel. Die Identität als Inhalt wird Objekt vorsichtiger Verhandlung mit dem Ziel, Anerkennung zu erreichen bzw. Identität und Selbstgefühl zu bestätigen. Diese beiden Elemente der Identität befinden sich in veränderbaren Beziehungen.“ (Notat 3382**) Der Einzelne macht sich somit in bestimmtem Maße von anderen abhängig und formt sich ihren Erwartungen entsprechend, um Anerkennung und Gruppenzugehörigkeit zu erhalten. Auf diese Weise ändert sich sein Selbstverständnis. „Die Art, in der das Individuum sich selbst darstellt, beeinflusst die Art, in der es sich selbst versteht. Selbstdarstellung zwecks Anerkennung beeinflusst das Selbstverständnis. Das Individuum glaubt aufrichtig, seine Selbstdarstellung entspreche seinem wahren Charakter […].“ (Notat 3369) Dieser bleibt dem eigenen Selbstverständnis verborgen, wenn wir so stark auf andere bezogen sind. Auch hier verhindert der ausgeprägte Wunsch nach sozialer Bindung die Selbsterkenntnis. Nur wenige verfügen über die innere Kraft und ein Selbstwertgefühl, mit denen sie sich über Meinungen und Anerkennung des sozialen Verbandes zumindest zeitweilig hinwegsetzen können; dadurch sind solche Persönlichkeiten fähig, ihre Auffassung nicht nur gegen die übergroße Mehrheit zu behaupten, sondern sich auch gegen diese durchzusetzen. Diese Gabe und dieses Machtstreben, die dem sozialen Verband zum Nutzen oder auch zum Schaden gereichen können, ist für Kondylis Kennzeichen für Charisma als Fähigkeit, Anfeindungen und Ausgrenzung zu ignorieren und zu erdulden, um zu einem späteren Zeitpunkt doch das Ziel zu erreichen, seinen Willen durchgesetzt zu haben. Es ist der Genuss von Macht, sich durchzusetzen. Auch der Charismatiker teilt mit allen anderen den unauflöslichen sozialen Bezug, er, der sich gegen die anderen durchsetzt, die sich dem Trend anpassen. Macht zu haben, beruhigt und stärkt das Selbstbewusstsein. „Die Ausübung von Macht, der Befehl an einen Untergebenen gibt den Nerven Gleichgewicht, der Psyche Selbstvertrauen – all das beruhigt. Besonders wenn es nach einer Demütigung geschieht oder als Antwort auf eine Situation, wo unsere Überlegenheit nicht selbstverständlich ist oder unser Gehorsam verlangt wird.“ (Notat 3427)

„Sein und Zeit“ Eine Sammlung raffinierter und nebulöser Gemeinplätze Panajotis Kondylis* Ich halte Heideggers Sein und Zeit für eines der am meisten überschätzten Bücher dieses Jahrhunderts, besser gesagt, für eine Sammlung von Banalitäten in einer gekünstelten und undeutlichen Sprache. Zu solchen Feststellungen ist man freilich nur in der Lage, wenn man bereit ist, die enge philosophische Perspektive zu überwinden und die Geistesgeschichte in ihrer Gesamtheit überblicken kann. Die in der Regel einseitig oder halbgebildeten Philosophen übertreiben oft die Bedeutung der Ereignisse auf dem eigenen berufsspezifischen Feld und halten das Werk eines Denkers nur deshalb für eine bahnbrechende Leistung, weil sie zum ersten Mal von ihm bestimmte Dinge erfahren. Im großen Ganzen hat die neuzeitliche Philosophie nicht eigenständig die eigenen Fragestellungen bestimmen können, denn diese wurden direkt oder indirekt, besser oder schlechter durch die Herausbildung der mathematischen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert, dann durch den Aufstieg von Anthropologie und Geschichts- bzw. Sozialwissenschaft im Zeitalter der Aufklärung diktiert. Die erkenntnistheoretisch ausgerichtete Subjektphilosophie gestaltete sich beim Bestreben, die epistemologischen Aporien zu bewältigen, welche die mathematische Naturwissenschaft z. B. durch die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Eigenschaften, die Naturkausalität, die Infragestellung des Substanzbegriffs etc. aufwarf. Geschichts- und Sozialwissenschaften und Anthropologie, die im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden und im 19. Jahrhundert zur Reife gelangten, richteten den Lebensmythos der Philosophie, als den Mythos von der Autonomie des Geistes durch den Nachweis seiner Abhängigkeit nicht nur von „irrationalen“ und „existentiellen“, sondern auch von „außergeistigen“, biologischen, sozialökonomischen und historischen Faktoren zugrunde. Unter dem Druck der neuen geistigen Strömungen wird nun zur zentralen Frage der Philosophie die Frage ihrer Selbstaufhebung oder zumindest die Aufhebung ihres traditionellen, stolzen und überheblichen Selbstverständnisses. Die Werke von Marx, Nietzsche, Freud, Dilthey, vom amerikanischen Pragmatismus und von Bergson haben auf verschiedene Weise aber hinlänglich gezeigt, dass Philosophie bzw. geistige Produktion im Allgemeinen in Tiefenschichten der menschlichen Existenz wurzeln. Die Frage der Seinsverankerung oder der ontologischen Fundierung dieser * Aus dem Griechischen übersetzt von Konstantin Verykios.

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Schichten ließ nicht lange auf sich warten. Heidegger nähert sich dieser Problematik über Husserls phänomenologisches Programm: die Erfassung der Konstitution des vorwissenschaftlichen, lebensweltlichen Subjekts als des Grundfeldes der Konstitution des wissenschaftlichen Weltbildes. Aus dieser Sicht ist Heidegger nicht Initiator einer neuen Betrachtung der Philosophie und damit einer neuen Deutung des philosophischen Phänomens. Er erweitert auch nicht die philosophische Erforschung der Seinsfundierung der Philosophie, im Gegenteil, er engt sie ein. Und schließlich stellt er nicht den Anfang, sondern das Ende einer Entwicklung dar: Die angebliche „Überwindung“ der Bewusstseinsphilosophie ist die umständliche, verspätete, durch eine geschwollene Ausdrucksweise verdeckte Anerkennung von geisteswissenschaftlichen Tendenzen, die seit der Aufklärung die Führung übernommen haben. Die Einengung des Horizontes der Daseinsanalytik ist dreifach bedingt, nämlich durch: a) die Grundlegung der „Fundamentalontologie“ in der Perspektive allein des Einzeldaseins, b) die Zweckentfremdung christlich-theologischen Gedankengutes, c) die normativ motivierte Trennung von Jenseits-Diesseits an Hand begrifflicher Spaltungen auf der Basis der „existentialen“ Analyse. Erstens: Die „Fundamentalontologie“ ist im Grunde „philosophische Anthropologie“. Die gesuchte Tiefenschicht wird in der unveränderlichen menschlichen Existentialstruktur, im menschlichen Sein als eines einzelnen Daseins geortet. Obwohl innerhalb dieser Existentialstruktur definitionsgemäß das In-der-Welt-Sein und das Mitsein bzw. Mitdasein enthalten sind, werden beide ausschließlich in der Perspektive des einsamen Einzeldaseins gesehen, während die Konstitution des sozialen Daseins (Subjekts) und des Mitseins (des sozialen Seins bzw. der Gesellschaft) an den Rand gedrängt werden und zu Marginalien degenerieren. Heidegger überschreitet also nicht die traditionelle Subjektbzw. Bewusstseinsphilosophie in Richtung einer sozialen Ontologie, wie die meisten noch immer glauben. Denn es ist offenbar zweierlei, das soziale Sein in seiner übersubjektiven Dimension begrifflich zu erfassen und den sozialontischen Aspekt oder Charakter der einzelnen Existenz hervorzuheben. Die Analyse der sozialen menschlichen Interaktionen, die sich bei Heidegger in einigen oberflächlichen Andeutungen erschöpft, ergibt nur dann einen (sozialontologischen) Sinn, wenn sie innerhalb bzw. vor dem Hintergrund einer bereits konstituierten Gesellschaft unternommen wird. Zweitens: Die Bestimmung des Seinscharakters des Daseins, nämlich der Existentialien, ist willkürlich und einseitig. In der Ontologisierung von Kategorien oder Begriffen, die von ihrem Gehalt eigentlich zur Anthropologie gehören, folgt Heidegger Kierkegaard. Dieser schildert zentrale existentielle Lagen des Menschen als Funktionen seines ontischen Verhältnisses mit einem Höheren und Übergreifenden und nicht etwa als bloß psychologische Gegebenheiten. Darüber hinaus entnimmt Heidegger seine grundlegenden ontologischen Kategorien unverändert und unbegründet zum größten Teil der christlich-theologischen Tradition, wobei er von Augustinus ausgeht. Es ist jedoch alles andere als selbstverständlich, Ideen, die sich innerhalb konkreter historischer Umstände und unter bestimmten weltanschaulichen Voraussetzungen

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herausbildeten, als geeignetes Koordinatensystem einer überhistorischen, d. h. ontologischen Analyse heranzuziehen. Und das Oxymoron wird größer, weil Heidegger christliche Inhalte in einem grundsätzlich nichtreligiösen, ja atheistischen Rahmen zu verwenden sucht. Aber weshalb sollte „Schuld“ z. B. zur Grundverfassung eines Daseins gehören, das einfach in eine Welt ohne Sinn „geworfen“ ist, eines Daseins, das von jeder ethisch geladenen Transzendenz abgeschnitten ist? (Und das heißt, Sinn wenigstens garantiert von einem, dem gegenüber der Mensch „Schuld“ empfinden sollte.) Drittens: Obwohl die Ontologie des Daseins den Anspruch erhebt, die Tiefenschichten der Existenz zu erfassen, und zwar ohne den Gebrauch der erkenntnistheoretischen philosophischen Begrifflichkeit und jenseits jeder moralischen Wertpräferenz, bleiben gleichwohl die ethisch-normativen Untertöne unüberhörbar und sind die ethischen Neigungen oder Abneigungen unübersehbar. Heidegger selbst weist jede moralisierende und kulturphilosophische Absicht von sich. Wer sich dennoch mit der geistig-philosophischen, kultur-literarischen und politisch-journalistischen Publizistik und Atmosphäre Deutschlands in den zwanziger Jahren vertraut gemacht hat, erkennt sogleich, dass sich diese ausgiebig des typischen Vokabulars und der vorherrschenden Leitgedanken dieser Zeit bedient. Das moralische Anliegen folgt nicht dem alten, ausgetretenen Pfad der konventionellen Ethik – im Gegenteil, die geläufige bürgerliche Moral wird scharf attackiert –, sondern wird als Entgegensetzung zwischen „Eigentlichkeit“ und „Uneigentlichkeit“ formuliert, die angeblich ihr Unwesen in der anonymen Masse des vulgus profanum treibt. Um die Achse dieser Gegenüberstellung gruppieren sich zusätzliche kategoriale Unterscheidungen z. B. zwischen „Entschlossenheit“ (wenn man sich den letzten existentiellen Fragen stellt) und „Unentschlossenheit“ (wenn man weiter im Modus der „Uneigentlichkeit“ existiert). Mit solchen begrifflichen Spaltungen hängen die späteren kulturkritischen Ansichten Heideggers über die „Gefährdung des Wesens des Menschen“ durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation eng zusammen. Wir sind jetzt in der Lage, an einem konkreten Beispiel zu zeigen, wie die drei herausgearbeiteten, die Daseinsanalytik beschränkenden Aspekte die Ergebnisse von „Sein und Zeit“ beeinflussen. In der Behandlung des Todes verbinden sich die Behandlung der Fundamentalontologie in der Perspektive der einsamen Existenz, des einzelnen Daseins, die theologischen Reminiszenzen und die ethisch-normativ motivierte Trennung von „Eigentlichem“ und „Uneigentlichem“. Das nette Resultat der philosophischen Analyse des Todes ist zwar pompös, sein sozialontologischer Ertrag aber gleich null. Der Tod interessiert nur als Auslöser jener Angst und jenes Erwartens, die von der „Eigentlichkeit“ der Existenz „Zeugnis“ ablegen sollen. Das „eigentliche“ Dasein stelle sich der Angst vor dem Tode und finde darin sein „ausgezeichnetes Seinkönnen“. Hinter der dramatischen Inszenierung eines in steter und höchster existentieller Anspannung befindlichen Daseins, das es am Rande des Abgrundes („Grenze zum Tod“) aushält und somit sein „echtes“ Wesen entdeckt, gähnt die absolute Leere. Hei-

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degger vermag – wie es vielen vor ihm erging – über das Faktum des Todes an sich nichts Entscheidendes mitzuteilen. Mag es auch paradox anmuten, aber der Mensch ist außerstande, an den Tod an sich und ausschließlich irgendwelche Gedanken zu knüpfen. Wenn man vom Tod redet, mag man vielleicht an das Leben denken, das man nicht verlassen möchte, oder womöglich an etwas, was einen nach diesem Leben erwartet. Aber der „physikalisch“-zeitliche Schnittpunkt der Zustände Leben – Tod, das Momentum des Todes, sein momentanes Erleben, entzieht sich jeder mentalen Erfassung – vielleicht ist es überhaupt unfassbar. Die ontologische Fragestellung erschöpft sich nicht in der Beziehung einer „eigentlichen“ Existenz zu einer Floskel („Sein zum Tode“). Sie besteht in der Untersuchung der Folgen des Faktums der Sterblichkeit des Menschen für die Konstitution seiner sozialen Existenz. Die Beziehung des Menschen zum Tod regelt nicht seine Beziehung zu den anderen Menschen. Im Gegenteil, seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen gestalten die Beziehung des Menschen zum Tod: Wie sich der einzelne Mensch mit ihm auseinandersetzt, sich angesichts seiner Unwiderruflichkeit verhält, gleichgültig, ob er als Anhänger einer politischen Organisation vor dem Hinrichtungskommando steht oder ob er auf dem Sterbebett glaubt, er werde zu seinem Herrn entschlafen – auch dieser Glaube ist der Glaube einer Gemeinschaft, welcher der Sterbende angehört. Solche und ähnliche Fragen, die den Hauptgegenstand der Sozialontologie ausmachen, werden in „Sein und Zeit“ kaum berührt. Seine Optik ergibt nur eine schmale und verkürzte Perspektive. Trotz seiner zahlreichen Leser und Kommentatoren hat das Werk die anthropologische bzw. soziologische oder gar die philosophische Forschung kaum befruchtet. Ich finde darin nichts, was man nicht anderswo besser, einfacher und deutlicher formuliert auch finden könnte. Wenn natürlich ein Buch ins Zentrum des Interesses rückt, findet es leicht Anschluss an die laufenden Diskussionen. Es wird dann der Eindruck erweckt, sein inhaltlicher Reichtum sei viel größer als es tatsächlich der Fall ist. Das gleiche gilt auch für das spätere Werk Heideggers. Bei anderer Gelegenheit (Die neuzeitliche Metaphysikkritik, Stuttgart 1990) habe ich gezeigt, dass seine Metaphysikkritik sowie seine Kritik des neuen technisch-wissenschaftlichen Geistes bzw. der Zivilisation wenig Originalität beanspruchen kann. Aber die Alten wussten es schon: Das Schicksal der Bücher wird von mannigfach heterogenen Umständen bestimmt: habent sua fata libelli.

Die Handlungstheorie von Panajotis Kondylis Konstantin Verykios

I. Sinn und theoretischer Status der Sozialontologie Oft wird theoretischer Erkenntnisgewinn in der jeweils gewünschten Richtung als methodisches Gebot und Resultat der Logik des Verfahrens ausgegeben. Dabei dient die Berufung auf die Methode dazu, inhaltlich bereits getroffene Vorentscheidungen im Hinblick auf die Interpretation etwa eines historischen und soziologischen Stoffes zu stützen. Durch bloßes Anhäufen empirischer Daten, die dann auf der Grundlage eines methodischen Verfahrens zu einem einigermaßen kohärenten Begriffssystem mit Anspruch auf Allgemeingeltung gebündelt werden, kann keine Wissenschaft entstehen. Denn der Einsatz einer bestimmten Erkenntnisweise und die Anwendung einer bestimmten Methode setzen bereits inhaltliche Überzeugungen über die Beschaffenheit der (physikalischen oder geschichtlich-sozialen) Welt voraus. – Dies gilt auch für die innere Logik und Gesetzmäßigkeit der Natur innerhalb der neuzeitlichen Naturwissenschaft. (Übrigens bildete sich diese Überzeugung in der Polemik gegen die antikchristliche Überzeugung von der ontologischen Minderwertigkeit der sinnlichen Welt heraus.) Also werden durch den Rückgriff auf erkenntnistheoretische und methodologische Einsichten theoretische Entscheidungen objektiviert, so dass noch vor Anwendung der Methode die angenommenen inhaltlichen Überzeugungen als notwendiges Ergebnis der richtigen Anwendung der methodischen Verfahrensregeln hingestellt werden. Auf diese Weise werde Methode, wie Kondylis anmerkt, zur prospektiven und faktisch retrospektiven Rationalisierung der eigenen Forschungspraxis. Tatsächlich müssen Ergiebigkeit und Richtigkeit des Verfahrens stets nach der Stichhaltigkeit der Resultate beurteilt werden. Die Notwendigkeit der Bestätigung des Erkenntnisverfahrens durch dessen inhaltliche Ergebnisse deutet an sich schon darauf hin, dass jede Erkenntnis- und Methodenlehre ihre inhaltlichen Pendants und Voraussetzungen hat. Deshalb führt die Bindung der Methode an inhaltliche Positionen oder Vorentscheidungen ihrerseits dazu, dass die Methode jene Inhalte bestätigen muss, mit denen sie sich ursprünglich verbunden hat. Welches Weltbild konstituiert nun bei Kondylis den Rahmen, innerhalb dessen die methodischen Regeln zur Anwendung kommen? Welche weltanschaulichen Ele-

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mente bilden das Fundament, genauer gesagt: die axiomatischen bzw. ontologischen Grundlagen seiner Theorie? Seine Grundhaltung lässt sich als historischer Relativismus kennzeichnen. Diese historisch relativistische Grundeinstellung bedeutet die Anerkennung der praktischnormativen und theoretisch-funktionellen Gleichberechtigung aller geschichtlichen Formen menschlichen Zusammenlebens und aller Menschenbilder, die sich sozial lebende Menschen über ihre Mitmenschen, über den Charakter, die Möglichkeiten und die Grenzen des menschlichen Wesens und Handelns machen. Diese relativistische Grundhaltung erklärt auch Kondylis’ Stellung innerhalb der wissenschaftlichen Tätigkeit im Allgemeinen. Er will Beobachter der menschlichen Dinge sein, ein Analytiker menschlichen Verhaltens in konkreten Lagen. Der wissenschaftliche Beobachter der situation humaine bedarf eines Außenpostens, der ihm die Betrachtung seines Gegenstandes aus dem gewünschten relativistischen Blickwinkel erlaubt. Diese besondere Perspektive ist bei Kondylis der Einheitsgedanke. Dessen theoretische Umsetzung bildet die Fachdisziplin „Sozialontologie“. Doch das bedeutet gerade nicht, dass menschliches Verhalten aus der Sicht der Philosophie, der Politik, der Soziologie etc. erfasst werde. Vielmehr gilt umgekehrt: Es soll die Einheitlichkeit der Grundstrukturen des menschlichen Verhaltens und die innere Logik seiner Entfaltung in allen Bereichen sozialen Handelns, des philosophischen, religiösen, geschichtlichen, sozialen oder politischen erkennbar gemacht werden. Denn der Mensch verhält sich in der Perspektive von Kondylis’ Sozialontologie grundsätzlich stets gleich, egal wo auch immer er aktiv ist. Jede sozial-geschichtliche Situation hat zwei Aspekte, und in jeder vollzieht sich das Menschliche in seiner strukturellen Totalität. Dies geschieht aber im Zeichen normativer Überzeugungen, die relativ und vergänglich sind. Dieser Doppelaspekt der Situation ist freilich keine heuristische Annahme, die noch der empirischen Bestätigung harrt. Vielmehr stellt er eine uralte Erkenntnis dar, über die alle Kulturen verfügen und die durch das Studium auch ältester Texte rekonstruiert werden kann. Das Wissen um die Doppelseitigkeit der Handlungssituation kann „das elementare Gefühl erklären, wie es denn damit sei, dass ständig Neues in einer Welt geschehe, die doch so alt und irgendwie vertraut anmutet.“1 Bestimmte Muster menschlichen Verhaltens sind in der Geschichte weitgehend stabil geblieben, während sich die jeweils herrschenden Ideologien und Ethiken inhaltlich immer wieder verändert haben. Die Stabilität der Verhaltensmuster verweist auf eine Tiefenschicht von universellen menschlichen Anlagen, während die inhaltliche Veränderbarkeit sozialer Werte, Normen, Ideen und Ideologien auf der Ebene der sich unausgesetzt vollziehenden gesellschaftlichen Tätigkeit auf die Bedeutung der sozialen Interaktion für den inhaltlichen Reichtum der menschlichen Denkprodukte hinweist. Es ist die Ebene der Sitten und Institutionen, der Rituale und Welt1 Panajotis Kondylis, Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Bd. 1: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität (hg. von Falk Horst), Berlin 1999, S. 194 (= SO).

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anschauungen. Der Gesichtspunkt der Einheitlichkeit meint hier, die anthropologisch gegebenen formalen Variablen seien offenbar so beschaffen, dass bei gleichbleibender Form und Funktion die Besetzung durch Inhalte offen bleibe. (SO 618 ff.) Aus diesen Überlegungen wird ersichtlich, dass die Sozialontologie vom langsamsten Zeitfluss handelt, den die menschlichen Dinge kennen, während die Ebene der sich rasch ändernden Inhalte Sache der Geschichtswissenschaft und der Soziologie ist. „Auf der Ebene der Darstellung und der begrifflichen Erfassung […] steht gleichsam die Zeit still.“ (vgl. SO 194) Geht man von einer in diesem Sinne verstandenen Einheitlichkeit des menschlichen Verhaltens aus, so könnte man sich einer einheitlichen Begrifflichkeit bedienen und die Grenzen der verschiedenen theoretischen Disziplinen sprengen, indem man sie gleichsam von außen betrachtet. Es ist nun die Frage, welche Begriffe auf dieser theoretischen Metaebene verwendet werden sollen: Woher soll eine Ontologie des Sozialen ihre Begriffe nehmen? Die zentralen Begriffe der Sozialontologie sind in der Regel solche, die mehr oder weniger in allen Wissenschaften vom Menschen geläufig sind.

II. Das „soziale Sein“ als Gegenstand der Sozialontologie Die Sozialontologie befasst sich mit dem Sein der Gesellschaft unter dem spezifischen Gesichtspunkt des Sozialen. Wie das Sein der Welt den absoluten Anfang der philosophischen Ontologie bildet, so ist das Sein der Gesellschaft der absolute Ausgangspunkt (das „Urfaktum“) der Wissenschaft Sozialontologie. Das Sein der Gesellschaft ist begrifflich umfangreicher als das soziale Sein. Denn dieses enthält nicht alles, was zum Sein der Gesellschaft gehört, vor allem nicht das, was die materiellen Voraussetzungen des Seins des Sozialen ausmacht. Sozialontologie stellt die begriffliche Rekonstruktion des sozialen Seins dar. Dieses lässt sich in seiner Totalität durch drei analytische Kategorien erfassen (sozialontisch: Kräfte oder Faktoren). Es sind dies die soziale Beziehung, die Anthropologie und das Politische. Dies erklärt sich dadurch, dass alles Geschehen in einer Gesellschaft, also das soziale Geschehen, über sichtbare und unsichtbare zwischenmenschliche Beziehungen abläuft und durch die Dynamik dieser Beziehungen entsteht. Also lässt sich Gesellschaft sozialontologisch als ein Geflecht von sozialen Interaktionen begreifen. An der sozialen Beziehung nehmen Menschen teil, und somit stellt sich die Frage für die Anthropologie nach deren „Wesen“. Das Politische bildet jene soziale Beziehung, die die Frage nach dem Zusammenhalt und der Ordnung der Gesellschaft stellt. Die Konkretisierung bzw. inhaltliche Bestimmung der formalen Begriffe „Zusammenhalt“ und „Ordnung“, ist eine sozialgeschichtliche Frage – Politik im Gegensatz zum Politischen. Eine Disziplin befasst sich nicht mit allen Erscheinungen eines ontischen Gebietes, sondern muss sich innerhalb davon einen engeren Bereich suchen, der dann als ihr eigentlicher gelten soll. Der Stoff der Sozialontologie unterscheidet sich ontisch

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kaum vom Stoff anderer Humanwissenschaften. Die Grenzen sind hier nicht ontischer, sondern kognitiv-epistemologischer Art. (Vgl. SO 184 ff., 196 ff.) Die Wahl eines jeden spezifischen Gebietes ist unumgänglich mit inhaltlichen Aspekten und Implikationen verbunden – was ja für alle methodologischen Überlegungen gilt (s. o.). Die inhaltliche Grundvoraussetzung oder -hypothese der Sozialontologie ist die absolute Offenheit und Plastizität des sozialen Seins. Die Annahme eines so oder so beschaffenen sozialen Seins hat übrigens sein Common Sense Äquivalent: Jeder Mensch lebt in Gesellschaft und handelt aufgrund einer mehr oder weniger bewussten, mehr oder weniger ausgearbeiteten allgemeinen Theorie von der Beschaffenheit der sozialen Realität: Sie ist ein offenes Feld von Handlungsmöglichkeiten, dessen beide Pole (sinnhaftes Selbstopfer und sinnhafte Fremdtötung) beispielhaft die Unberechenbarkeit oder absolute Wandelbarkeit der Subjektivität des Anderen in Reinform zeigen. Kein Mensch muss müssen; es gibt keine Lage, der sich der Mensch beugen muss, wenn er den Tod in Kauf zu nehmen bereit ist. „Das Subjekt kann […] sogar zwischen Sein und Nichtsein wählen.“ (SO 311) Diese grundsätzliche Unberechenbarkeit und Undurchdringlichkeit des Anderen durch Ego ist der tiefere Grund für das Misstrauen des Subjekts in die großen Systeme der Kultur und die Alltags- oder Kulturnormen, so dass es, um der Unberechenbarkeit der Subjektivität und der Unwägbarkeit der sozialen Umwelt einigermaßen Herr zu werden, ein eigenes Beobachtungssystem entwickelt. In der engeren Perspektive des „wissenschaftlichen Interesses“ könnte die Annahme von der Offenheit und Unberechenbarkeit des sozialen Geschehens durch noch ungelöste oder unbefriedigend gelöste theoretische Probleme nahegelegt werden. Dem Forscher können sich bei seiner intensiven Beschäftigung mit historischen und soziologischen Problemen Fragen aufdrängen: Weshalb können Geschichtswissenschaft und Soziologie keine Gesetze als feste und überall gleich wirkende Rangordnung kausaler Faktoren aufstellen? Warum sind historische oder soziologische Regelmäßigkeiten nicht für den Einzelfall verbindlich und daher praktisch nutzlos? Warum greift die Praxis dieser Disziplinen aus Erklärungsnot zu Aussagen, zu denen sie durch ihre eigenen Begriffe oder ihre Grundlegungslogik keineswegs berechtigt ist, indem sie z. B. diesen oder jenen Krieg auf die „menschliche Natur“ zurückführt? (SO 185 f.) Man könnte die Lösung dieser und ähnlicher Probleme in der Aufstellung einer allgemeinen Theorie des Sozialen sehen, die dadurch entstünde, dass man alle Begriffe, die den gemeinsamen Nenner aller Sozialwissenschaften (z. B. „menschliche Natur“, Handeln, Sinn, Verstehen, Rationalität etc.) abgeben, der Zuständigkeit der Sozialwissenschaften entzöge und ihre Behandlung der Theorie des Sozialen übergäbe. Nach ihrer Bestimmung als sozialontologisch universelle Formalien könnten die einzelnen Disziplinen dann auf jenen Teil dieser Formalien zurückgreifen, auf den sie durch die Logik ihrer Grundlegung legitimen Anspruch hätten. Der neue theoretische allgemeine Rahmen wäre nach dem Gesagten nicht die Umschreibung

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einer allumfassenden Gesetzmäßigkeit, sondern die ideelle formalisierte Summe der Schilderungen aller sozialen Handlungen, also der Rahmen, innerhalb dessen sich kollektives und individuelles, jedenfalls soziales Handeln bewegt. „Das soziale Sein als Gegenstand der Sozialontologie besteht aus jenen Faktoren oder Kräften, die keine Verfestigung des sozialen Seins und somit keine kausal oder emanatistisch hierarchisierte Fassung von ihm gestatten.“ „Sozialontologie bietet kein oberstes oder ausschließliches inhaltliches oder normatives Kriterium zur Betrachtung menschlicher Gesellschaft und Geschichte, sie liefert nur jene Grundlagenanalyse, aus der hervorgeht, warum die Aufstellung eines solchen Kriteriums unmöglich ist.“ (SO 186)

Dieser Rahmen bzw. das Gebiet der Sozialontologie enthält also alles, was sich als Aspekt oder Bestandteil des Faktums der Gesellschaft denken lässt. Somit gehören Individuum, individuelles sowie kollektives Handeln zu ihrem theoretischen Kern. Die Sozialontologie geht vom Faktum des gesellschaftlichen Seins aus, sie arbeitet ihre begrifflichen Festlegungen vor dem Hintergrund einer bereits existierenden Gesellschaft heraus. Die Verwechselung von „sozial“ und „sozialisiert“ und das Zusammendenken von „sozial“ und „kollektiv“ ergeben für sie keinen Sinn. „Das Individuum existiert nicht mit der Gesellschaft zusammen, sondern in Gesellschaft“. (SO 200) Soziales und Individuelles sind keine Gegenbegriffe, das Soziale erschöpft sich nicht im Kollektiven, sondern Individuelles und Kollektives sind Erscheinungsformen des Sozialen. Das Handeln eines Individuums kann nicht kollektiv, doch es muss ebenso wie Kollektives sozial sein. (Vgl. SO 200)

III. Die Aufgabe der Sozialontologie Zur Aufgabe der Sozialontologie gehören 1. Biologie, Cognitive-Emotional Neuroscience, Verhaltensforschung, Psychologie, 2. sozialontologische Anthropologie, 3. Sozialwissenschaften (Geschichte, Soziologie). Die Sozialontologie vermittelt zwischen den Ebenen 1 und 3; sie stellt das Bindeglied von 1 und 3 in der Überzeugung her, der Sprung von Ebene 1 auf Ebene 3 stelle keine theoretische Schlussfolgerung dar, obwohl die erste Ebene die dritte gattungsspezifisch determiniert. Denn es ist die besondere biophysische Konstitution, welche die Grundlage für die Entstehung des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens liefert: Eine ganz bestimmte und besondere biologische Struktur ermöglicht die Mannigfaltigkeit der Verhaltensarten, die eine Gesellschaft von Menschen charakterisieren. Die Vielfalt von Interaktionsformen des Menschen ist in diesem Sinne eine Funktion seiner Biostruktur, insofern diese der Gattung ausschließlich erlaubt, sich innerhalb der gegebenen (biologischen) Grenzen zu bewegen. Die biologischen Grundfunktionen (Selbsterhaltung) mussten bei der Bildung des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens durch spezifische Lösungen (Symbol, Sprache, Kultur allgemein) ergänzt werden. Dabei tritt die soziokulturelle Selektion an die Stelle der natürlichen, doch beide bedingen einander; Kultur (z. B. Herstellung von Werkzeugen, Bildung von sozialen Organisationsformen) läuft parallel zur biologischen Vervollkommnung wie der Ge-

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hirnentwicklung. Kultur ist mit Natur und Natur mit Kultur durchtränkt (s. u.). Das soziale Sein bzw. die Gesellschaft überhaupt bildet, wie gesagt, den spezifischen Untersuchungsgegenstand der Sozialontologie. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die inhaltliche Erscheinung und Wandlung aller menschlichen Denkprodukte auf eine Ebene zurückzuführen, die allen Menschen aller Kulturen und Zeiten gemeinsam ist. Es ist die erste Ebene, die der (formalen) sozialontologisch-anthropologischen Konstanten. Der Gedanke dahinter ist folgender: Es besteht kein Zweifel an der ubiquitären Geltung menschlicher Verhaltensschemata, die die Fachdisziplinen der ersten Ebene aufstellen. So bezieht sich z. B. das Grundschema Stimulus – Reaktion der behavioristischen Psychologie auf eine überall anzutreffende anthropologische Tiefenschicht. (SO 72 f.) Doch von dieser Tiefenschicht aus ist der Sprung auf die inhaltlich veränderliche Ebene der geschichtlichen und soziologischen Begrifflichkeit nicht möglich – trotz Anerkennung ihrer Selbständigkeit und Unentbehrlichkeit seitens der (behavioristischen) Psychologie. Denn der Behaviorismus postuliert eine eindeutige und permanente Beziehung zwischen Stimulus und Reaktion, und deshalb ist er nicht imstande, „die Faktoren namhaft [zu] machen, die, über die Gleichförmigkeit der verhaltensmäßigen Wirkung von Werten hinaus, den Wandel des Inhalts von Werten als solchen bedingen.“ (SO 73) Die Sozialontologie erarbeitet die Mechanismen der sozialen Interaktion, indem sie die Koeffizienten des inhaltlichen Wandels zunächst unabhängig vom historisch erfassbaren Inhalt der jeweiligen Werte, aber vor dem anthropologischen bzw. sozialontologischen Hintergrund ausreichend beschreibt und formalisiert. Das behavioristische Schema dagegen kann trotz universeller Geltung nicht als Erklärungsschema spezifisch gesellschaftlicher Phänomene dienen, weil es methodisch einen individualistischen Ausgangspunkt hat. „Je mehr der Mensch als isoliertes Individuum betrachtet wird, desto tiefer können jene Faktoren in seine Beschaffenheit gesetzt werden, die zur Erklärung seines Verhaltens angeführt werden, desto höher wird m. a. W. die biologische Dimension veranschlagt.“ (SO 73)

IV. Verhalten und Handeln Die begriffliche Trennung von Verhalten und Handeln setzt an der Dichotomie Tier – Mensch an, was direkt auf den anthropologischen Charakter des Handelns hinweist. Das Diktum von Aristoteles „Tiere handeln nicht“ gehört zum kulturellen Bestand aller Kulturen und Zeiten, denn darin drückt sich das Selbstverständnis der Gattung als animal rationale aus. Zum Verhalten gehören äußere Akte, die man nicht dem Handeln gleichsetzt, weil man mit ihnen keinen inneren reflexiv-sinnhaften Akt, also keine Absicht verbindet. Handeln ist immer auch Verhalten, aber Verhalten nicht immer notwendige Begleiterscheinung eines Handelns. Menschliches Handeln ist danach ein Verhalten aufgrund von Absichten, zu deren Realisierung zweckmäßige Entwürfe dienen. (SO 444 f.)

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Man kann das Verhältnis von Verhalten und Handeln schematisch durch zwei konzentrische Kreise wiedergeben; der große Kreis symbolisiert dabei die Summe der Verhaltens- und Handelnsschichten (also den Menschen als handelndes Wesen bzw. seine Gesamtintentionalität), der innere symbolisiert die Verhaltensschichten bzw. das Triebhafte und Affektmäßige. Der daran sich nach außen anschließende Flächenring zeigt das Gebiet reflektierter Handlungsmotive und höherer rationaler Leistungen, also das Gebiet des eigentlichen Handelns oder sinnhaften Verhaltens. Die Kreislinie des inneren Kreises ist als Reflexivitätsfilter vorzustellen, der, einer biologischen Zellmembran vergleichbar, in beiden Richtungen und in verschiedenen Graden durchlässig ist (Osmose). Extreme Durchlässigkeit nach außen würde absolute Herrschaft von Trieben und Affekten als Bestimmungsfaktoren des Handelns bedeuten, extreme Undurchdringlichkeit dagegen die Alleinherrschaft der rationalen Bestimmungsfaktoren des Handelns. Im sozialen Leben ausschlaggebend sind Misch- und Koexistenzformen des Handelns. Folglich wird sowohl jedem Idealismus einer dualistischen Anthropologie (der rationale Akteur ist als Herr seiner Triebe und Affekte zu denken) als auch einseitigen triebpsychologischen Anthropologien (der Mensch als Spielball von Trieben und Affekten) ein Riegel vorgeschoben. (SO 577) Die Sozialontologie setzt bei einer bereits vorhandenen Gesellschaft an. Als deren Mitglied steht der Mensch gleichsam unter dem Gebot, für all sein Tun sinnhaft-rationale Gründe anzugeben, zu finden oder zu erfinden. (SO 561 f.) Die Sinndimension des Sozialen verlagert den Bezugsrahmen des Menschlichen vom Biologischen aufs Ideelle; es kommt also durch die Vermittlung des sozialen Lebens zu einer neuen Bestimmung von Begriffen wie dem der Selbsterhaltung. So kann an die Stelle der biologischen Selbsterhaltung die idealisierte treten, die das physische Selbstopfer der ideellen Selbsterhaltung zuliebe verlangen kann. Der Sinn- und der Rationalitätsbegriff sind im Rahmen des Sozialen gleichwertig: Nach der erfolgten Erweiterung des Selbsterhaltungsbegriffs innerhalb der Kultur übernimmt die Rationalität die Aufgabe, Sinn konsistent und wirksam zu artikulieren. An dieser ubiquitären Funktion der Rationalität wird offenbar, dass sie anthropologisch so weit zurückreicht wie der Sinn selbst. (SO 561) Die so definierte Rationalität bedeutet ihre Erweiterung über das Zweck-Mittel Schema hinaus und ermöglicht eine Aufnahme des „Irrationalen“ (aufgrund triebhafter Impulse) in die Sozialontologie, ohne ihre epistemologische Geschlossenheit zu verletzen. Der sozial lebende Mensch steht nämlich unter dem Druck, seinem Verhalten nach innen und nach außen einen Sinn zu geben, wenn er ernst genommen werden will. Der Zwang zur Sinnhaftigkeit des Handelns lässt sich auch als Rationalitätszwang verstehen, wie es im Selbstverständnis der Gattung Mensch als animal rationale zum Ausdruck kommt. Innerhalb des sozialen Lebens nimmt die Rationalitätsannahme die Gestalt des Rationalisierungsdruckes oder Objektivierungszwanges an. (SO 569 ff.) Rationalisierung ist die Legitimierung durch Rationalität (oder durch Sinn). Es wird also ein psychischer oder theoretischer Stoff in der Weise gedanklich bearbeitet, dass die jeweiligen Einstellungen und Handlungen als Ergebnis der Rationalität er-

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klärt werden können und der Eindruck vermieden werden kann, es handele sich um das Ergebnis von instinktivem Eigennutz. (Vgl. SO 563)

V. Die Funktion der Rationalisierung Sie dient also zur Grenzverwischung zwischen rationalen bzw. logischen und irrationalen bzw. unlogischen Handlungen und dazu, die unlogischen wie logische erscheinen zu lassen. So wird der „irrationale Trieb“ durch Rationalisierung in einen vernünftigen Handlungsgrund umgedeutet. (Vgl. SO 563) Der Prozess der Rationalisierung bzw. Objektivierung weist einen Doppelaspekt auf. Er transformiert Wünsche und Neigungen bzw. Affekte in handlungsrelevante Absichten, indem er zugleich die Wirkungen der „irrationalen“ Verhaltensschichten aufnimmt bzw. seine „Materie“ (auch) aus existentiellen Tiefenschichten bezieht. Zusammenfassend gilt also: Verhalten muss in der Gesellschaft wegen des Rationalitätsdrucks zum Teil durch Handeln verdrängt oder überdeckt werden. Der Rationalitätsdruck in Gestalt des Rationalisierungszwanges bewirkt die Transformation von Wünschen und Präferenzen in Absichten, die durch zweckmäßige Wahl der Mittel auf Basis der Einschätzung der Motive des Anderen durch Ego (also durch Perspektivenübernahme) und der Situation gebildet, den Handlungsentwurf in die Praxis umsetzen. Dieser Vorgang der Rationalisierung beschränkt sich nicht auf das Zweck-Mittel Verhältnis, er erfasst vielmehr Schichten des Bewusstseins, die man in der engeren Rationalitätsauffassung als irrational oder als das Gebiet unkontrollierten Verhaltens bezeichnet. (Vgl. SO 577)

VI. Einige begriffliche Festlegungen 1. Mentale Handlung und Handlung in mente Sozialontologisch wichtig sind, wie gesagt, diejenigen mentalen Akte, die die Reflektivitäts- oder Handlungsschwelle überschreiten, die also durch reflexive Arbeit als Motiv, Absicht oder Perspektivenübernahme handlungsrelevant werden. Die mehr oder weniger reflexiv gefilterten mentalen Akte können in zwei große Kategorien zusammengefasst werden, nämlich in mentale Handlungen und Handlungen in mente; das sind die mentalen Akte, die mit einem Handlungsentwurf zum äußeren Handeln verbundenen sind. Umfangreicher als diese sind mentale Handlungen, denn sie schließen nicht nur jene ein, sondern auch die reflexiv ungenügend verarbeiteten mentalen Akte, bei denen sich die damit verbundene Intentionalität höchstens als „blinder Wunsch“ oder „blinde Aneignung“ betätigt, ohne in einen einigermaßen konkreten Handlungsentwurf einzumünden. (Vgl. SO 438) Die mentale Handlung bzw. der entsprechende mentale Akt muss keine Handlungen in mente hervorrufen, also ein planendes äußeres Handeln; sie kann folglich an vageren oder konkreteren

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Handlungsentwürfen vorbeigehen – aber doch nicht gänzlich an der Reflexion. Ähnlich müssen Handlungen in mente bzw. Handlungsentwürfe nicht zum äußeren Handeln führen. Das Ausbleiben der praktischen Umsetzung kann entweder auf reale Hindernisse oder auch auf den anthropologisch spezifischen Überschuss der Entwürfe in mente gegenüber ihren praktischen Umsetzungen zurückgeführt werden. „Dieser beliebig große Überschuss des vorgestellten Handelns gegenüber dem real stattfindenden äußeren bildet eine höchst wichtige Erscheinung, die manchen Zug menschlichen Handelns überhaupt verständlich macht.“ (SO 439)

2. Inneres Handeln und die Aufwertung ihres handlungstheoretischen Stellenwertes durch das Kriterium des sozialen Bezugs Es stellt sich die Frage, ob es für den Begriff des sozialen Handelns entscheidend ist, dass Handlungsentwürfe andere Subjekte betreffen. Sind reflektierte mentale Akte, die sich zwar auf andere Subjekte beziehen, auch dann als „soziales Handeln“ zu bezeichnen, wenn mit diesem Bezug keine Handlungsentwürfe ihres Trägers verbunden sind? (Vgl. SO 439) Nach M. Weber gehört die Orientierung an fremdem Verhalten zum Begriff des sozialen Handelns. Das innere Sichverhalten ist soziales Handeln nur dann, wenn es sich am Verhalten anderer orientiert.2 Demzufolge sieht es so aus, als werde der sinnhafte Bezug als Merkmal sozialen Handelns nur so weit zur Kenntnis genommen, wie er den äußeren Verlauf des Handelns durch seine Orientierung am fremden Handeln beeinflusst. (SO 439 f.) Wenn ein Produzent von Waren sich an den Bedürfnissen Dritter orientiert, die von ihm nichts wissen und von denen er wenig weiß, dann reicht hier der einseitige Sinnbezug zweifellos aus, um den Fall als „soziales Handeln“ einzustufen. Ist aber „soziales Handeln“ im Allgemeinen notwendig mit Handlungsentwürfen und äußerem Handeln verbunden? Wenn M. Weber diese Frage bejaht, dann deshalb, weil er die Überlegenheit des zweckrationalen Handelns für eine methodische Notwendigkeit hält. (Vgl. SO 490) – Im Rahmen der „Sozialontologie“ dagegen muss „soziales Handeln“ weder mit Handlungsentwürfen noch mit äußerem Handeln verbunden sein. Denn wenn Gebete in der Einsamkeit an Gott gerichtet werden, dann gehören sie – anders als für Weber – für die „Sozialontologie“ sozialontologisch zum sozialen Handeln dazu, da der Betende Mitglied einer religiösen Gemeinschaft ist. Durch seine Anteilnahme gewinnt er seiner sozialen Welt einen Sinn ab, der seine Identität stärkt und sein Handeln sicherer macht. Er grenzt sich durch sein Bekenntnis zu dieser Gemeinschaft vom Nichtfrommen ab, den er nicht für fähig hält, die tiefsten Bedürfnisse seiner Identität zu befriedigen. (SO 440) Der Eremit, der in der Wüste Erlösung sucht und dessen Handeln rein kontemplativ ist, handelt trotzdem sozial, denn Erlösung ist ein Konzept oder Bedürfnis, das nur in menschlichen Gesellschaften entstehen kann. (SO 201) Das Gleiche lässt sich von der Beziehung des Menschen 2

Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 429 f.

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zum Tod sagen; sie hängt wesentlich von seinen Beziehungen zu den Mitmenschen ab, es bestimmt also nicht umgekehrt die Beziehung zum Tod die Beziehung zu den Mitmenschen. (SO 440) „Soziales“ Handeln liegt bereits dann vor, wenn der soziale Bezug gegeben ist – und sei es nur in Gedanken. Handlungsentwürfe und äußeres Handeln sind also keine notwendigen Bedingungen für soziales Handeln. Durch die Berücksichtigung des sozialen Bezugs erweitert sich der Begriff des sozialen Handelns um seinen inneren Aspekt (inneres Handeln). Nachahmung auf breiter Basis, gemeinsames, „reaktiv verursachtes“ subjektives Handeln in einer örtlich zusammengedrängten Masse (emotionale Ansteckung) oder allgemein massenpsychologische Erscheinungen sind allesamt Phänomene, die Weber der Zuständigkeit der Soziologie als der Wissenschaft vom sozialen Handeln entziehen wollte. Drei mögliche Typen inneren sozialen Handelns sind: 1. Das Phänomen des Unterlassens oder Duldens, das Bewirken also eines Ereignisses durch Unterlassung seiner Verhinderung. Hier liegt ein Fall vor, den Weber zum sozialen Handeln rechnet, wobei die Trennung zwischen Handlungsentwurf und äußerer Handlung als zwei Phasen desselben Vorganges auf die Spitze getrieben wird; die Unterscheidung als Gegensatz-Relation. 2. Ein komplementäres Verhältnis, bei dem Handlungsentwürfe die Enthaltung von äußerem Handeln verlangen, Entwurf und Handeln als Vermeiden der vorgestellten Handlung fallen bereits im Geist des Subjekts zusammen. 3. Handlungsentwurf und Handlung verschmelzen deshalb miteinander, weil der mentale Akt selbst bei allem Bezug auf das Verhalten Dritter als Selbstzweck gilt. Zu dieser gehören wiederum a) und b). a) Mentale Akte, die bewusst als Ersatzhandlungen dienen und dadurch einen psychologischen Ausgleich für äußere Handlungen anbieten, die das Ich angesichts realer Hindernisse oder innerer Hemmungen nicht ausführen kann oder will, wenn es z. B. in der Phantasie am Feind Rache nimmt. Das Ich lässt seinen Emotionen und Wünschen ungestraft freien Lauf, ohne dass sein Verhalten davon direkt beeinflusst wäre. „Diese normale Schizophrenie bildet übrigens ein wichtiges Stabilisierungsmittel im sozialen Leben. Denn soziales Leben wäre nicht nur ohne äußeres Handeln unmöglich; es wäre gleichfalls praktisch unerträglichen Spannungen ausgesetzt, würde jeder einzelne seine mentale Tätigkeit unmittelbar und voll zum Ausdruck bringen und entsprechend handeln.“ (SO 441) b) Theoretische Tätigkeit als Form menschlichen Handelns zeichnet sich in formaler Hinsicht wie jedes andere Handeln durch Motive (theoretische Fragen), Ziele (Beantwortung dieser Fragen) und Mittel (Methoden, Experimente) zur Erreichung des gesteckten Zieles aus. Der soziale Bezug dieses inneren Handelns macht aus solchem Handeln soziales Handeln. Solche mentalen Akte heben sich grundsätzlich von jenen ab, die auf das Entwerfen praktischen Handelns abzielen, nämlich durch die Fähigkeit ihrer Vollendung vor dem inneren Forum, auch wenn sie durch äußere Zeichen mitteilbar sind.

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3. Soziales Handeln und soziale Beziehung Soziales Handeln unterscheidet sich begrifflich vom Handeln im Allgemeinen durch den (einseitigen) Sinnbezug des Handelnden auf andere Subjekte, während sich soziale Beziehung vom sozialen Handeln (nach Weber) durch den wechselseitigen Sinnbezug unterscheidet. Beide also, soziales Handeln und soziale Beziehung, bedeuten gleichermaßen Orientierung des Verhaltens am Verhalten anderer, nur im Fall der sozialen Beziehung ist diese Orientierung beiderseitig. Nach Weber ist daher der Übergang vom inneren zum äußeren Handeln bereits durch den Begriff des sozialen Handelns vollzogen. Gewiss, inneres Handeln bzw. jene mentalen Akte, die es zusammensetzen, sind soziale Akte: Zum einen die Wahrnehmung des Anderen, die einen spezifischen Erwartungshorizont festlegt, und zum anderen, die sich daran anschließende Perspektivenübernahme, die in ihrer formalen und inhaltlichen Dimension den Charakter und die Absichten des Anderen näher erfasst. Es sind soziale Akte, weil sie sich auf andere soziale Wesen beziehen. Doch sie können einseitig ohne Kenntnis des Anderen stattfinden. Aber selbst ihr beiderseitiger Vollzug mündet in keine Interaktion ein, solange das Ich nicht durch irgendwelche äußeren (verbalen oder motorischen) Zeichen erkennt, dass es die Aufmerksamkeit des Anderen auf sich gezogen hat. Wenn also ego und alter von dieser Beiderseitigkeit nichts wissen, müssen sie es erst durch Zeichen, also durch äußere Handlungen erfahren. Das bedeutet den Übergang vom inneren sozialen Akt zur interaktiven sozialen Beziehung. Soziale Handlungen haben also einen inneren und gegebenenfalls einen äußeren Aspekt, aber nur im Zusammenwirken beider Aspekte kommt eine soziale Beziehung zustande. Die soziale Beziehung braucht ein Zeichengeben durch äußeres Handeln, folglich ist die Perspektivenübernahme als innerer sozialer Akt die notwendige, aber nicht die hinreichende Voraussetzung. „Die soziale Beziehung bedarf als einzige Form des Handelns definitionsgemäß des inneren und äußeren Aspekts, und eben deshalb ist sie sozialontologisch entscheidend.“ (SO 443) „Die begrifflich spezifische Differenz zwischen sozialem Handeln und sozialer Beziehung erschöpft sich nicht im Kontrast von Ein- und Beidseitigkeit. Hinzu muss die Klarstellung kommen, dass erst mit dem Auftreten der sozialen Beziehung der Übergang vom inneren zum äußeren Handeln obligatorisch wird, obligatorisch im begrifflichen Sinn, versteht sich, denn genetisch und real haben sich solche Übergänge, wenn überhaupt, angesichts des ontischen Primats des äußeren Handelns eher in umgekehrter Richtung vollzogen.“ (SO 442 f., m. Hervorhebung) Die soziale Beziehung bietet begrifflich (sozialontologisch) Vorteile gegenüber dem sozialen Handeln im Allgemeinen oder dem äußeren Handeln im Besonderen. Im „realen“ Leben aber hat äußeres Handeln einen größeren Stellenwert (sozialontischer Primat). Eine Beziehung zweier Menschen ohne Motorik oder Sprache hätte langfristig keine Aussicht auf Bestand, also ist eine solche soziale Beziehung bloß ein Denkkonstrukt bzw. Grenzfall. Erst eine bestehende soziale Welt macht soziale Interaktion möglich. Die Vorstellung vom Anderen als Subjekt geht immer mit be-

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stimmten Objekten einher, seien es materielle Dinge oder Präferenzen, Interessen oder Werte und Ideen oder dritte Personen und bestimmte objektive Lagen. Es ist der gemeinsame Bezug auf ein bestimmtes Objekt, das früher oder später äußeres Handeln unumgänglich macht. Dieses Objekt „verweist letzten Endes auf die Anwesenheit einer handfesten sozialen Welt, innerhalb deren handfeste soziale Wesen früher oder später, frei- oder widerwillig, mehr oder weniger überlegt zum handfesten Handeln kommen müssen.“ (SO 444)

VII. Die Beziehung von Handlungstheorie und Sozialontologie Bereits die Verwendung des handlungstheoretischen Begriffs „Absicht“ als spezifische Differenz zur Unterscheidung des Handelns vom Verhalten weist direkt auf den gemeinsamen Nenner von Handlungstheorie und Sozialontologie. Das Heranziehen der Absicht, zu deren Realisierung zweckmäßige Entwürfe dienen sollen, bedeutet, dass die Rede vom Handeln eine ontologische und zugleich epistemologische Grenze kennzeichnet. Und weil der Mensch ein zoon politikon ist, „bedeutet Handeln soziales Handeln und soziale Beziehung par excellence, zumal gegenständliches Handeln sozialer Wesen in seiner Entfaltung nicht zuletzt durch den jeweiligen Charakter der sozialen Beziehung bedingt wird. In dieser breiten Perspektive gesehen führt uns die Handlungstheorie direkt in das Kerngebiet der Sozialontologie.“ (SO 445 f.) Handeln ist der umfangreichere Begriff und umfasst als Gattungsbegriff die Begriffe soziales Handeln und soziale Beziehung. Diese begriffliche Hierarchie belegt allerdings keinen sozialontologischen Primat des Handelns gegenüber einem Handeln, das mit dem Rahmen bzw. Spektrum und Mechanismus der sozialen Beziehung verbunden ist. Dem engeren kommt eher der genetische und funktional-strukturelle Vorrang zu – immer in sozialontologischer Perspektive. Denn der engere Begriff bedarf zu seiner logischen Abgrenzung über die Merkmale hinaus, die Handeln im Allgemeinen kennzeichnen (Absicht, Zweck-Mittel-Relation), zusätzlicher Differenzierungen (z. B. Perspektivenübernahme), er weist dementsprechend einen größeren Intentionsreichtum auf. (SO 452) Real beruht diese sozialontologische Priorität der sozialen Beziehung auf zwei Tatsachen; zum einen darauf, dass Menschen durch ihre sozialen Kontakte bzw. Wechselwirkungen erst erlernen, was überhaupt Handeln heißt, und dann handeln sie immer direkt oder indirekt im Hinblick auf eine soziale Beziehung, zum anderen darauf, dass die soziale Beziehung sich unauflöslich mit äußerem Handeln verbindet. Im äußeren Handeln und durch dieses fallen eigentlich die Entscheidungen über die Gestaltung des sozialen Lebens sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich. (SO 452 f.)

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VIII. Handlungstheoretische Grundbegriffe: Motiv, Grund, Absicht 1. Erste Zwischenbetrachtung Die sozialontologische Bevorzugung der sozialen Beziehung gestattet die Einbeziehung handlungstheoretischer Begrifflichkeit in den theoretischen Korpus der Sozialontologie ohne sie weder grundlegungslogisch unhaltbar zu machen, noch das Fassungsvermögen jener Begrifflichkeit zu beeinträchtigen. Es gibt also über das soziale Handeln und die soziale Beziehung hinaus mentale Akte, die das gesamte Gebiet des Handelns als Handeln kennzeichnen und nicht spezifisch für jene sind. Solche mentalen d. h. inneren Akte sind „Motiv“, „Grund“ und „Absicht“. (SO 437 f.) Die sozialontologisch relevante Frage ist dann die nach dem Zusammenhang zwischen den mentalen Akten, die die soziale Beziehung spezifisch charakterisieren (Perspektivenübernahme), und diesen Akten, die alle konventionell-analytisch konstituierten Regionen des Handelns durchdringen. Nur die klare analytische Scheidung dieser zwei Typen mentaler Akte ermöglicht ihre gemeinsame, widerspruchslose begriffliche Kooperation beim Verständnis der Motivationsfragen, die sich bei jeder einzelnen Beziehung der Identität zu anderen Identitäten beständig neu gestaltet; und zwar aufgrund des ständigen Strebens dieser Identität zur Bewahrung oder Änderung ihres Platzes im Spektrum der sozialen Beziehung oder, einfacher gesagt, innerhalb der Gesellschaft. (SO 438) Daraus ergeben sich zwei wissenschaftstheoretische Folgen. A) Die Handlungstheorie durch das Prisma der sozialen Beziehung zu untersuchen bedeutet, einen „holistischen“ Blick einzunehmen. Man sollte den sozialontologischen Aspekt der Handlungstheorie beachten und damit die Dynamik und Multidimensionalität der Motive. Sie dürfen nicht, wie oft geschehen, von einer Statik verdeckt werden, die durch „Fixierung auf den einzelnen Akteur und die Suche nach Garantien gegen den Einbruch der ,Irrationalität‘ heraufbeschworen“ wurden. (SO 462) B) Die Untersuchung wird im Hinblick auf die epistemologische Dyas von Handlungstheorie und Sozialontologie und nicht auf jene von Handlungstheorie und Soziologie betrieben. Somit wird die Soziologie von dieser Aufgabe freigestellt. Denn es ist nicht praktikabel, den Begriff des sozialen Handelns bzw. der sozialen Beziehung – samt der damit verbundenen Apparatur von (subjektivem) Sinn und Verstehen – als spezifische Differenz zur Grundlegung der Soziologie heranzuziehen. „Bei der Definition der Soziologie darf soziale Beziehung […] gar nicht und in der Praxis des Soziologen erst nach der Markierung und innerhalb der Grenzen seiner Disziplin berücksichtigt werden – d. h. in dieser oder jener ihrer konkreten Formen.“ (SO 109) Vom Standpunkt des methodologischen Individualismus aus lässt sich keine logisch konsistente Grundlegung erzielen. Obwohl Gesellschaft und jedes soziale Gebilde in ihr nur aus Menschen und deren Handeln besteht, reicht dieser unbezweifelbare Tatbestand dennoch nicht aus, um die Fachdisziplin „Soziologie“ zu konstituieren. Hier liegt eine Verwechselung der epistemologischen Ebene mit der Ebene der Wirklichkeit vor. „Der Hinweis auf eine ubiquitäre Wirklichkeit reicht keineswegs

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zur Begründung einer besonderen Disziplin aus. Denn die ubiquitäre Wirklichkeit ist nur eine, der Disziplinen aber sind viele, und die Wirklichkeitsebene, an der jede Disziplin anzusetzen hat, wird nach epistemologischen Kriterien und nicht unter Berufung auf ,die‘ Wirklichkeit bestimmt.“ (SO 114) (So ist etwa die Literaturwissenschaft eine Disziplin, die sich mit dem Handeln von Menschen als Autoren beschäftigt.) Weber z. B. legt nach seinen „methodologischen Pflichtübungen“ den „subjektiv gemeinten Sinn“ ad acta, d. h. ohne auf seine programmatische Grundlegung der Soziologie Rücksicht zu nehmen. (Vgl. SO 109) 2. Zweite Zwischenbetrachtung: Gesetz und Kausalität Alle menschlichen Denkgebilde, Weltbilder, Ideologien, die theoretischen Systeme metaphysischer oder auch wissenschaftlicher Prägung zeichnen sich durch den gleichen formalen strukturellen Aufbau aus, denn sie alle verdanken nach Kondylis ihre Existenz ausnahmslos dem ubiquitären, anthropologischen Mechanismus von Macht und Entscheidung. Der gemeinsame Ursprung bzw. Entstehungskontext ermöglicht folglich eine einheitliche und vereinheitlichende Betrachtung der Grundformen menschlichen Denkens und Wissens auf allen Gebieten der geistigen Produktion, so dass auch Geistes- und Naturwissenschaft auf einen großen gemeinsamen hermeneutischen Nenner gebracht werden können. Die Anwendung der anthropologischen Grundkategorien von Macht und Entscheidung erlaubt es außerdem, – d. h. über die soeben erwähnte bloß phänomenologische Beschreibung hinaus, die Denkinhalte auf Denkstrukturen reduziert – auch die Gründe zu nennen, die zur Herausbildung, Änderung und Auflösung der Grundformen geistiger Produkte führen können. Im Rahmen dieser Besprechung wird allein auf den phänomenologischen Aspekt dieser weitaus umfassenderen Problematik eingegangen. Es wurde zu Beginn erklärt, aus der Anhäufung einzelner empirischer Daten und durch Induktion könne keine allgemeine Theorie entstehen. Man kann begründet behaupten, im natur- und geisteswissenschaftlichen Bereich verfahre das wissenschaftliche Subjekt auf dieselbe Art und Weise: Es bekennt sich zwar zur Induktion, tatsächlich aber entwirft es Hypothesen, die es retrospektiv durch empirische Befunde zu bestätigen, sprich zu rationalisieren trachtet; es arbeitet also deduktiv. Die vorstehenden Bemerkungen zum Stellenwert von Induktion und Deduktion, nämlich dass man sich der Induktion zwangsläufig als verkappte Deduktion bedienen müsse, könnte eine kritische Frage einer Antwort zuführen: Wie kann bei schwerwiegenden ontologischen Differenzen dennoch ein identisches Erklärungsmuster vorliegen? Die im obigen Sinn formale Betrachtung der Theorieentwicklung erlaubt eine Differenzierung des Gesetzesbegriffes nach einem dreifachen Kriterium: Ebene der Geltung bzw. ontologische Ebene, Reichweite der Geltung und Stringenz der Geltung. (Vgl. SO 165 f.) Aus dieser formalen Differenzierung ergibt sich eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Gesetz und Kausalität. Gesetz im eigentlichen Sinn ist Kausalität von un-

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begrenzter Reichweite und absoluter Stringenz. Gesetz ist daher Kausalität, aber nicht jede Kausalität ist ein Gesetz. So bedeutet Gesetz eine Korrelation zwischen Ereignistypen, aber nicht zwischen einzelnen Ereignissen. Denn ein einziges atypisches Ereignis wird vom Gesetz nicht erfasst, obwohl es infolge der Wirkung einer bestimmten Kausalität entstanden sein muss. Aber die Form der kausalen Wirkung eines Ereignisses auf ein anderes bedeutet nicht die Übertragbarkeit der Form, unter der die kausale Wirkung stand, auf andere kausale Wirkungen, d. h. sie ist nicht generalisierbar. Dagegen ist Gesetz eine universell geltende Wirkungsform von Kausalität. Die formale Betrachtung der Beziehung von Gesetz und Kausalität liefert gewisse praktische Anhaltspunkte. (SO 166 f.) Im Interesse der gebotenen deutlichen Trennung zwischen Gesetz und Kausalität darf also bei der historischen Betrachtung nicht der kausale mit dem idiografischen Standpunkt vermengt und die Untersuchung von Regelmäßigkeiten diskreditiert werden. Ebenfalls erscheint es wenig sinnvoll, die Absage an die teleologisch verstandene Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung mit der Absage an den Kausalitätsgedanken im hier erklärten Sinn in Verbindung zu bringen, genauso wenig wie die Verteidigung der Kausalität logisch keineswegs die Annahme von Gesetzen naturwissenschaftlichen Typs impliziert. Ebenso unzulässig ist es, den Unterschied zwischen Gesetz und Kausalität dem Unterschied zwischen Natur und Geschichte oder Gesellschaft gleichzusetzen, eine gesetzhafte Kausalität nur in der Natur, eine gesetzlose Kausalität nur in der geschichtlich-sozialen Welt finden zu wollen. Gesetzlose Kausalität ist auch in der Natur denkbar, während statistisch-probabilistische Gesetze auf beiden ontologischen Ebenen möglich sind. Die formale Gemeinsamkeit beider ontologisch heterogener Gebiete gestattet eine genaue Verortung der methodologisch/formalen Differenz: Die Differenz besteht darin, dass das eine Ende des Spektrums der Kausalitäten, d. h. das Gesetz im strengen Sinn, „nur in der Natur, nicht in Geschichte und Gesellschaft anzutreffen ist; alles andere kommt, mindestens heuristisch, für beide ontologischen Bereiche in Betracht, wenn auch der Forscher im Voraus schätzen kann, wie häufig der eine oder andere Kausalitätstyp in jedem von ihnen vorkommt. Gesetz einerseits und Kausalität des einen Falls andererseits bleiben somit als methodische und ontologische Orientierungspunkte unentbehrlich – aber nur als solche.“ (SO 167 meine Hervorhebung.) Lässt man also das eine Ende des Spektrums, nämlich das naturwissenschaftliche Gesetz, beiseite, so kann folgende Einordnung in Richtung abnehmender Reichweite und Stringenz der Kausalitäten versucht werden: a) Gesetze, die die Totalität des geschichtlichen Ablaufs betreffen und auf der Annahme gründen, Geschichte habe Sinn, denn sie verlaufe nach einem teleologischen Prinzip. b) Gesetze, die innerhalb des historischen Entwicklungsprozesses ohne teleologische Annahmen wirken. Hier kann man zwei Kausalitätsklassen unterscheiden, näm-

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lich die mit ubiquitärer Geltung von solchen, die eine stabile Beziehung zwischen zwei besonderen Aspekten der Gesellschaft erfassen. So bezog die enge Verzahnung von Soziologie und Geschichtsphilosophie im 19. Jh. das statische Problem der Stabilität jeder individuellen Entwicklungsstufe in die dynamische entwicklungsgeschichtliche Perspektive ein; es sollten die Mechanismen innerhalb jeder Entwicklungsstufe ermittelt werden, die zur Herstellung von funktionalen Gleichgewichten dienen. Die Entwicklungsstufen der Geschichtsphilosophie wurden in soziologische Strukturbegriffe umgeformt, die funktional auf selbstgenügsame Gesellschaftsformationen bezogen und ohne teleologische Implikationen verwendet wurden; auf dieser geistesgeschichtlichen Linie steht der Webersche Idealtyp. – So betrachtet auch der historische Materialismus die kapitalistische Gesellschaftsformation in der entwicklungsgeschichtlichen und der strukturbegrifflichen Perspektive, also als einen Idealtypus. Wenn man von der geschichtsphilosophisch-eschatologischen Komponente absieht, dann stellt die Marxsche Strukturanalyse der kapitalistischen Gesellschaft ein Theoriekonzept auf, das historische und soziologische Aspekte in einer Weise verbindet, die mindestens zum Teil empirische Aussagen über die Funktionsweise von Gesellschaften und den kausalen Zusammenhang sozialer Faktoren abgeben und unabhängig vom teleologischen Hintergrund bestehen können. (Vgl. SO 133 f.) c) Kausalität des einen Falles. Die durchgängige Offenheit der geschichtlich-sozialen Entwicklungen bedeutet nicht, dass die Wirkung der Kausalitäten über kürzere oder längere Zeitabschnitte aussetzen würde. Offenheit bedeutet einfach, dass die ständige Verknüpfung vielfacher Kausalitäten miteinander eine zielgerichtete oder geradlinige Entfaltung einer einzigen von ihnen verhindert und unvorhersehbare Wenden erzwingt. Das ständige Kombinationsspiel der Kausalitäten macht jedes Gesetz unmöglich, das den gesamten Geschichtsablauf oder auch einzelne Aspekte desselben erklären wollte. Diese Einsicht ist nur auf der Grundlage der klaren Trennung von Gesetz und Kausalität zu gewinnen. Andererseits darf ein einzelnes Ereignis nicht als Zufall aufgefasst werden, so als ob historische Kausalitäten durch historische Zufälle ersetzt werden sollten, wie dies übrigens der fließende Übergang innerhalb des Kausalitätsspektrums sichtbar macht. Da die menschliche, notgedrungen auf Relevantes ausgerichtete Betrachtungsweise etwas außerhalb der jeweiligen, von einem bestimmten Standpunkt bzw. Forschungsinteresse eingenommenen Perspektive nicht wahrnimmt, so wird es immer Zufälle geben. Demnach ist der Zufall das Eindringen einer für uns irrelevanten Kausalität in eine für uns relevante. (Vgl. SO 167 f.) Es wurde bereits die Frage gestellt, wie die Identität des Erklärungsmusters bei gravierenden ontologischen Differenzen möglich sei. Die vorangehende Darstellung der formalen Ähnlichkeit der Kausalitätstypen macht ihre Beantwortung verständlicher. Die Beachtung der ontologischen Differenz zwischen Natur und Geschichte verbietet die Anwendung des formalen Kausalitätsbegriffes als universell gültige Gesetzmäßigkeit. Man kann also nicht zugleich ontologischer Dualist und methodologischer Monist sein. Geht man von der ontologischen Differenz zwischen Natur und

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Geschichte bzw. Gesellschaft aus, muss man die für das jeweilige Gebiet geeigneten Methodologien anwenden. Kausalität und Gesetz bzw. kausale Erklärung durch Gesetz wären identisch, wenn das Gesetz alle potentiellen kausalen Faktoren erfassen würde, die ein Phänomen verursachen. Doch ein Gesetz gilt nicht für einzelne Phänomene, sondern für einen Phänomentyp. Jedes Geschehen hat außer den typischen auch spezifische Aspekte, die in der besonderen Perspektive des Gesetzes außer Betracht bleiben: Der Apfel fällt vom Baum kraft Gravitationsgesetz, aber auch, weil der Baum geschüttelt wird. Das Schütteln stellt eine vom Gesetz unabhängige Ursache dar, welche die Unterordnung des Phänomens „Fall eines Apfels“ unter das Gravitationsgesetz vermittelt. Wenn man zur Erklärung von Handlungen Gesetze des Handelns heranzieht, wie z. B. das Gesetz einer stabilen psychischen Disposition, dann kann das Gesetz z. B. nicht jene Fälle erfassen, bei denen der Handelnde ungeachtet äußerer oder innerer Zwänge „gegen jede Vernunft“ handelt. (SO 174) Die Abweichung vom dispositionellen Gesetz wird durch das Dazwischentreten einer besonderen Kausalität bedingt, ebenso wie in anderen Fällen eben eine andere besondere Kausalität die Wirkung des Gesetzes ermöglicht. „Dies geschieht aber in konkreten Fällen, nicht immer und überall; Disposition ist daher Ursache dieser oder jener Handlung, nicht Gesetz des Handelns überhaupt.“ (SO 174; m. Herv.) Das nomologische Erklärungsmodell kann höchstens manche notwendigen Bedingungen beschreiben, die allerdings für die Erklärung historisch-sozialer Phänomene nicht ausschlaggebend sind.

IX. Motive 1. Motiv als Ergebnis psychologischer Rationalisierung Die Sozialontologie setzt bei der bereits konstituierten Intersubjektivität an, sie arbeitet vor dem Hintergrund der Gesellschaft und betrachtet alle Phänomene, die sich innerhalb von ihr abspielen, als „nachgesellschaftlich.“ Der gleiche Sachverhalt wird handlungstheoretisch durch die Auffassung deutlich gemacht, der Handlungskette könne alles zugerechnet werden, sobald es die Reflexivitäts- bzw. Bewusstseinsschwelle überschritten hat, die daher auch als Handlungsschwelle bezeichnet werden kann. Die einseitige Bindung des Motivbegriffes an Triebe und Affekte wurde einerseits durch Triebpsychologien verbreitet, die die „sekundären Prozesse“ als Strombetten für den Abfluss der Energie der „primären Prozesse“ im Sinne Freuds auffassten und somit Motivation mit Affekt oder elementarem Bedürfnis gleichsetzten; und andererseits durch die neuen Hermeneutiker (s. u.), die aus dem genau entgegengesetzten Grund diese Definition in den eigenen theoretischen Korpus aufnahmen: Die Gleichsetzung von Motiv und Trieb oder Affekt ließ die Rationalität bzw. die Macht der rationalen Gründe in einem günstigeren Licht erscheinen. (SO 458 f.) Fasst man hingegen „Motiv“ im allgemeinen als „Beweggrund“ auf – niemand be-

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hauptet, alle Handlungen würden allein durch Triebe und Affekte motiviert – kann man zum „Motiv“ nicht nur den rationalisierten Trieb oder Affekt und den gegen diesen sich stemmenden rationalen Grund, sondern auch „einen unvermittelt-elementar (d. h. immer: nur minimal reflektiert, nicht: vollkommen unreflektiert) in eine äußere Handlung übergehenden Trieb oder Affekt nennen.“ (SO 459) Das Motiv ist danach imstande, abwechselnd mit allen psychisch-geistigen Vermögen Verbindungen einzugehen. „Das Motiv kann also durch mehrere mögliche Ursachen bedingt werden, die wir konventionell Affekt, Gefühl, Disposition, Kalkül etc. nennen, kein Mensch ist aber imstande, aufgrund einer gesetzmäßig bestehenden Hierarchie dieser Ursachen mit Gewissheit vorherzusagen, wie und wann jede dieser Ursachen wirken wird.“ (SO 459 f.) 2. Motiv als Sinnzusammenhang Der Einfluss der sozialen Beziehung auf die Rationalisierung von Trieben und Affekten wird von Kondylis als psychologische Rationalisierung bezeichnet. Dieser Einfluss ist auf der Ebene der höheren Reflexions- und Denkleistungen einschneidender, denn Motive bilden sich dort oft (nicht immer) aufgrund der Annahme einer grundsätzlichen Zielerreichbarkeit aus. Die Motivbildung gründet hier auf einer Einschätzung der Situation, und dabei zählt die soziale Beziehung am stärksten. Denn sie aktiviert Aktualitäten und Potentialitäten, d. h. eine Beurteilung des Charakters, der Chancen und möglichen Bewegungen der relevanten Akteure im Spektrum der sozialen Beziehung – einschließlich jener Faktoren, von denen ein Akteur annehmen kann, sie würden auf die Gestaltung der sozialen Beziehung so oder so Einfluss nehmen, nämlich Einstellungen und Werte der Mithandelnden, sowie herrschende Verhaltensweisen, Sitten und Institutionen. All diese für die Motivbildung wichtigen Faktoren bilden im Sinne von M. Weber den „Sinnzusammenhang“, der dem Handelnden und dem Beobachter die Begründung für sein Verhalten gibt. (SO 462) Der Einfluss der sozialen Beziehung macht sich auch (mittelbar) in den Fällen bemerkbar, in denen die Motive dem Ich – nach entsprechenden Rationalisierungen – Selbstdeutungen der Handlung ex post facto bereitstellen. Und indem sie das tun, verwandeln sie sich aus einem Beweggrund zu Komponenten (äußeren) Handelns. Sie versuchen durch ihre geeignete Inszenierung nach außen, den Anderen für die eigene Sache zu gewinnen. Es kommen aber auch Fälle vor, in denen das Ich die ihm von Anderen zugeschrieben Motive internalisiert, um seinen Erwartungen entgegenzukommen. 3. Motiv als Zweck Die alltagssprachlichen Ausdrücke „was war sein Motiv“, „aus welchem Grund hat er das getan“, „was hat er damit bezweckt“ werden weitgehend synonym gebraucht, was auf den engen Zusammenhang von Motiven und Zwecken im Hin

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und Her der sozialen Interaktion verweist. Der Akteur kann das Motiv als solches, ohne Bezug auf das, wozu er durch dieses spezielle Motiv gebracht wird, kaum erfassen. Es sind zwei mögliche Wege der Motivbildung im Zusammenhang mit den Zwecken denkbar: a) Das Motiv bestimmt den Zweck; dieser bildet sich im Anschluss an die Motive heraus. Der so entstandene Zweck bewirkt eine Aufspaltung der Funktionen des Motivs, denn die Antriebsfunktion bleibt beim Motiv im engeren Sinne, während die Orientierungsfunktion auf den Zweck übergeht. (Vgl. SO 462) Die Orientierungsfunktion ist die sozialontologisch relevante, denn sie verweist auf die Außendimension der Motivbildung (Charakter der relevanten Akteure, Situation), jene Dimension also, die den direkten Übergang des Motivs in den Zweck erzwingt. b) Das Motiv wird durch den Zweck (mit-)bedingt, Motive bilden sich oft erst über die Orientierung an Situationen und vermuteten Handlungsspielräumen, d. h. im Hinblick auf mögliche Zwecke. Man kann analytisch die Motive in äußere (Weil-Motive) und innere (Um-Zu-Motive) einteilen. (SO 463, 337 f.) „Zweck wäre dann der wenigstens zum Teil von außen kommende und sich nach außen orientierende Beweggrund, das Motiv bestünde in den inneren Gründen, die den Akteur dazu bringen, sich ausgerechnet diesen Zweck zu setzen.“ (SO 463)

X. Rationalitätszwang als Bedingung der Differenzierung von psychologischer Rationalisierung und Handlungsgründen Wenn man die Verfeinerung, Verwandlung, Umleitung oder Überwältigung von Affekten und Trieben bei der Motivbildung verstehen will, muss die soziale Beziehung und die volle Anerkennung ihres Beitrages zur Rationalisierung der Motive berücksichtigt werden. Das „Motiv als Beweggrund des Handelns verdichtet in sich all diese inneren und äußeren Vorgänge und kann daher in seiner Sinnhaftigkeit erst vor ihrem Hintergrund erfasst werden.“ (SO 462) Die Behandlungsweise der Motivationsbildung vor dem Hintergrund der sozialen Beziehung behält selbstverständlich ihre Geltung bei der Untersuchung aller anthropologisch-sozialontologischen Parameter von Sinn, Rationalität, Identität etc. (SO 545) Der Erfolg eines solchen methodischen Vorgehens belegt rückblickend – also nach Konstituierung der Sozialontologie als einer Fachdisziplin – die Fruchtbarkeit der theoretischen Entscheidung, im Rahmen der bereits konstituierten Intersubjektivität bzw. vor dem Hintergrund der sozialen Gruppe zu operieren. Eine genetische Analyse der Fundamente der formalen Logik und Rationalität könnte auf fast direktem Weg ihren Ursprung aus den Realitäten und Notwendigkeiten der praktischen Orientierung in der Welt nachweisen. Viele Tiere leben zwar kollektiv und einige davon haben sogar elementare Mechanismen der Verteilung von Subsistenzmitteln; es gibt auch zeitweilige Kooperation bei solchen, die in Gruppen leben. Aber nur Menschen arbeiten (handeln) zusammen, um die zum Überleben nötige Nahrung zu gewinnen. Schon in der Urhorde machen die Jäger das, was die kollektive Bewältigung des Problems der Korrelierung

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von Zweck und Mittel miteinander nötig macht. Die Menschen treten bei dieser kollektiven Produktion und der Verteilung der gewonnenen Subsistenzmittel in soziale Beziehungen, deren Gestaltung Rationalität verlangt und zugleich Rationalität fördert, bis schließlich die biologischen Gesichtspunkte der Gattung hinter den sozialen Aspekten verschwinden. Die soziale Beziehung bildet den Übungsplatz für die Handlungsrationalität. Im Rahmen der kooperativen und antagonistischen sozialen Beziehung entwickelt das Mitglied der Gruppe im Kampf gegen die Natur technische Rationalität, aber auch seine soziale. Rationalität bedeutet auch Aufschub der Bedürfnisbefriedigung. Hier liegt die gemeinsame Wurzel von Technik bzw. technischer Rationalität und von Ethik bzw. ethischer Rationalität. Ebenfalls wird die Rationalität der Korrelierung von Zweck und Mittel und der konsistenten Darstellung des Sinnes entwickelt, wobei die Logik der Identität auf den Plan tritt. Die Entstehung dieser Logik der Identität verlangt nach einer Erklärung: Das Wichtigste für den Menschen bleibt immer der Mensch, was der Mensch über den Menschen direkt oder indirekt denkt, wie der Mensch auf den Menschen unmittelbar oder mittelbar reagiert. Um ein mehr oder weniger verlässliches Urteil darüber zu bilden, muss sich Ego einen Zugang zu Alter verschaffen. Es muss sich in die Lage von Alter versetzen, also die fremde Perspektive einnehmen. Eigenes Handeln gründet demnach auf Vorwegnahme fremden Handelns, von dem Ego weiß, dass Alter auch die Fähigkeit besitzt, fremdes Handeln durch Perspektivenübernahme vorwegzunehmen. Diese ist als mentaler Akt eine emotionale Identifizierung des Ich mit dem Anderen; sie würde sich darin erschöpfen, wenn sie sich nicht als reflexiver Akt betätigen könnte. (SO 399 f.) Die Überwindung des emotionalen Elements erfolgt durch die beiderseitige Rationalitätsannahme. Ego könnte sich kaum in die Lage des Anderen versetzen, wenn es ihm nicht einen mehr oder weniger konsistenten Zusammenhang zwischen seinen Zwecken und Mitteln, Motiven bzw. Gründen und Handlungsentwürfen unterstellte. Indem Ego die Rationalität von Alter annimmt, vollzieht es selber rationale Denkakte, übt sich selbst in der Rationalität; es unterwirft sich damit freiwillig oder unfreiwillig dem Rationalitätszwang. Die Rationalitätsannahme – so lehrt es die soziale Praxis – führt am weitesten. Also besteht die Sozialisierung auch darin, zu lernen, nicht instinktiv zu reagieren, sondern Handlungen zu begründen und durch Gründe zu rechtfertigen. Dabei zeigt sich die Rechtfertigungsabsicht nach innen und nach außen. (Vgl. SO 552) Die rationale Deutung des Fremdhandelns, die zugleich eigenes Denken und Handeln dem Rationalitätszwang unterwirft, kann jedoch keine lückenlose psychologische Rekonstruktion des Fremdhandelns sein, sondern nur ein Interpretationskonstrukt. Dies gilt sogar für die Perspektive des Handelnden, obwohl er offenbar die ursprüngliche Quelle des Handlungssinnes ist. Das heißt aber nicht, er habe unter allen Umständen den klarsten Einblick in die Faktoren, die in das eingeflossen sind, was er für den subjektiven Sinn seines Handelns hält. Die subjektive Sinngebung bildet für den Akteur zumindest teilweise ein zweckmäßiges Interpretationsschema, wobei ,zweckrationale‘ Gesichtspunkte sich für den Handelnden mit dem verbinden, was er für seine Identität hält. (SO 469) Als zweckmäßiges Interpretati-

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onsschema geht die Rekonstruktion des Fremdhandelns notgedrungen mit Abstraktionen, Vereinfachungen und Verkürzungen einher. Der Akteur geht genauso wie der Soziologe vor, der seinen Idealtyp unter Absehung bzw. ohne genaue Kenntnis der Motivation des Fremdhandelns auf der Grundlage der Rationalitätsannahme aufstellt. Der Rationalitätszwang bewirkt eine Entpsychologisierung der Betrachtung und richtet den Blick auf den objektiven Sinn des Handelns. (Vgl. SO 551)

XI. Gründe … Nach der oben referierten Auffassung stellen Motive nicht die Schicht der Triebe und Affekte dar, über denen eine Schicht rationaler Gründe liegt, vielmehr gehören rationale Handlungsgründe zu den Motiven im Allgemeinen: Motiv ist „Beweggrund“. Wenn das Rationalitätskriterium formal angewandt wird, kann man Motiv und Grund sogar weitgehend gleichsetzen. (SO 460) In absteigender Stufenfolge ergibt sich folgende Einteilung. Gründe liegen offenkundig in den Fällen vor, in denen 1. Triebe und Affekte gehemmt und überwunden werden; 2. aber auch dann, wenn durch mehr oder weniger elementare Rationalisierungen von Trieben und Affekten einigermaßen kohärente Konstrukte entstehen, die für den Akteur und oftmals für die Anderen den Stellenwert rationaler Gründe besitzen; und 3. auch wenn Triebe und Affekte den unmittelbaren Beweggrund oder das Motiv bilden. (SO 460) In diesem Fall sind die begrifflichen Nuancen zwischen Grund und Motiv verwischt, aber auch hier gilt das Kriterium der minimalen Reflexivität: Selbst bei einem scheinbar besinnungslosen Wutanfall greift der Akteur bei seiner Untat z. B. zu einem Messer und nicht zu einer Feder. Dem Handlungsmotiv des Akteurs entspricht ein Ziel, der Beweggrund gibt die Begründung für das, was der Akteur wollte. Wenn man erklärt, der Akteur handele ohne Überlegung, betont man das Affektive und Unüberlegte, signalisiert aber vor allem nur, dass die Folgen der Handlung nicht in Ruhe erwogen wurden. (Vgl. SO 461)

XII. … und Ursachen Der Mensch als biologische Spezies konnte sein Überleben sichern, indem er den Weg der Kultur einschlug; andere Möglichkeiten hatte er nicht. Demnach ist die Kultur des Menschen ebenso Natur wie seine Natur Kultur ist. Die Natur des Menschen zwang ihn, zum Kulturwesen zu werden. (SO 218) Die Struktur der sozialen Ordnung und der sozialen Verhältnisse wird weitgehend durch den jeweiligen Ausgang des Kampfes der Menschengattung gegen die äußere Natur bedingt. (SO 107) Gerade im planetarischen Zeitalter zeigt sich die Einbettung der Kultur in die Natur in unerbittlicher Deutlichkeit. Von der unauflöslichen Einheit

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menschliche Natur und Kultur auszugehen, bedeutet zugleich die Rationalitätsannahme („animal rationale“). Zwischen den Motiven bzw. Gründen eines Akteurs und seinen Handlungen nehmen die sozial lebenden Menschen unbedingt, wenn auch inhaltlich vage, eine kausale Beziehung an. Wie bereits oben erläutert, nimmt das Ich die Subjektivität des Anderen als dessen Fähigkeit wahr, sich aufgrund eigener Erwägungen zu bewegen, sein äußeres Handeln aufgrund eigener Motive und Absichten zu bestimmen, die so, aber auch anders ausfallen können. Dieser spontane Glaube an die kausale Abhängigkeit der Handlung von Motiven oder Gründen erklärt auch das Bestreben, den äußeren Handlungsablauf beeinflussen zu können. Auch haben die Menschen schon immer zwei Typen von Handlungskausalität auseinandergehalten. Handlungen, deren Ursache in Motiven bzw. Gründen gesehen wird, wurden von solchen unterschieden, die durch körperliche Gebrechen o. ä. verursacht oder als unbewusst zum Verhalten gezählt wurden. Die Vorstellung von der Handlungsverursachung durch Motive bzw. Gründe hat institutionelle Folgen. Jedes Rechtsystem behandelt die Mitglieder der Gesellschaft grundsätzlich so, als ob sie, wenigstens im Hinblick auf sozial maßgebliche Taten, Träger eines freien Willens seien. Dazu muss die Frage, ob der Mensch über einen freien Willen verfüge, nicht geklärt sein; es wird vielmehr verlangt, dass das menschliche Vermögen, das sein Handeln prinzipiell unberechenbar macht, auch in die Bahnen gelenkt werden kann, die sozial gewünscht sind. (SO 457) Von „Kausalität“ im Sinne von Motiven als Ursachen der Handlung darf man nur dann reden, wenn darunter etwas verstanden wird, das da sein muss, damit etwas anderes eintreten kann, ohne dass aber dieses Eintreten absolut notwendig wäre. (SO 456) In der sozialontologischen Perspektive erscheint eine engere Bestimmung der Art und des Verlaufs der kausalen Wirkung irrelevant. Wie die Gesellschaft (und ihre Institutionen) – ist diese Perspektive auf jene Ebene ausgerichtet, die zwischen Handlungsgründen bzw. Absicht und äußerem Handeln liegt, (es ist die Ebene der Handlungsfreiheit). Unter dieser Ebene liegt die, auf der sich die Determinierung der Gründe und Absichten vollzieht, (die Ebene der Willensfreiheit oder -unfreiheit.) Die dogmatischen Fächer (etwa das Strafrecht) der Rechtswissenschaft kommen gut ohne das Thema „Willensfreiheit“ zurecht, und in der Praxis kommt diese tiefer liegende Ebene erst dann in Betracht, wenn die auf der darüber liegenden Ebene angenommene Selbstbestimmung des Subjekts nicht so recht einleuchtet. Die Grenzlinie zwischen den zwei Ebenen bleibt allerdings nicht ein für allemal unverrückbar, sie kann durch geschichtliche und soziale Einflüsse verschoben werden. Dennoch lässt sich ein sozial organisiertes Leben ohne den institutionellen Einbau der Hypothese von der Verantwortlichkeit des Individuums schwer vorstellen. Ist eine Gesellschaft davon überzeugt, die Mechanismen der Willensbildung ließen sich (natur)wissenschaftlich-neurobiologisch zweifelsfrei erklären, etwa durch „restlose“ Erforschung der Struktur und der Funktionsweise des Gehirns, dem als physikalisches System eine lückenlose Kausalität unterstellt ist, dann wäre es im

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Prinzip möglich, ein naturwissenschaftliches d. h. theoretisches Konstrukt wie den „Determinismus“ anstelle der juristischen Konstruktion des „Schuld- und Verantwortungsprinzips“ als gesellschaftliches Ordnungsprinzip zu setzen. Bedeutet „Determinismus“ die Verneinung der Steuerungsfähigkeit des Verhaltens und folglich der fehlenden normativen Ansprechbarkeit des Täters, so dass nicht von Schuld und folglich nicht von Strafe die Rede sein könnte, dann müsste die Berechenbarkeit des gesellschaftlichen Geschehens anders garantiert werden: „Ein Individuum, das nach den Normen der Gesellschaft eine Straftat begangen hat, kann gemäß dieser Betrachtungsweise kaum im Sinne des Konstrukts der ,Schuldfähigkeit‘ bestraft werden, es könnte aber zu einer verhaltenstherapeutischen Maßnahme verurteilt werden, die seine Gedächtnisrepräsentationen und damit die funktionelle Organisation seines Gehirns verändert. Denn offensichtlich waren zum Zeitpunkt der Tat bestimmte Gehirnrepräsentationen nicht hinreichend stabil oder dominant ausgebildet, um das Handeln im Sinne des sozial Tolerablen zu beeinflussen, um es zum Beispiel gegenüber ,Versuchungen der Umwelt‘ zu schützen.“ Könnte man die für die Kontrollfunktion wichtigen Hirnstrukturen nicht verändern, bliebe nur die Konsequenz, „dass Personen, die aufgrund ihrer Disposition potentiell eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, in Sicherheitsverwahrung genommen werden müssen.“3 Rösler bezeichnet Schuldfähigkeit zutreffend als theoretisches Konstrukt. Es fragt sich aber, ob nicht der Terminus „Determinismus“ ebenfalls ein Konstrukt ist, ob er die reale Struktur der Welt genau und ohne vermittelnde Interpretation seitens eines Subjekts widerspiegelt, sich also direkt aus den „Tatsachen“ ableiten lässt und ob Experiment und Tatsachenfeststellung ohne eine bestimmte Theorie auskommen, welche die Feststellung von „Tatsachen“ mit einer wenigstens latenten Interpretation derselben verbindet. In diesem Sinne bringt es die folgende Bemerkung auf den Punkt: „Auch das Libet-Experiment, wonach sich bereits 300 Millisekunden vor einem behaupteten ,Willensakt‘ ein entsprechendes Bereitschaftspotential messen lässt, ergibt das Gewünschte, dass wir nämlich in unseren Entscheidungen nicht frei sind, sondern auch hier durch Naturkausalität bestimmt sind, nur, wenn die Muskelkontraktion, die nach dem Ablauf des Bereitschaftspotentials erfolgt, als Willensakt bzw. als Ausdruck eines solchen Aktes interpretiert wird. Eben dies ist selbst begründungsbedürftig.“4 Inzwischen hat John-Dylan Hayes die Obsoletheit des Libet-Experiments experimentell erweisen können.5 Die im Libet-Experiment gemessene Hirnpotentialänderung bzw. das Bereitschaftspotential sollte beweisen, dass dadurch das Handeln gesteuert würde und es somit den freien Willen des Menschen nicht gebe. Somit ist die These (Roth und Singer), der freie Wille sei Illusion, hinfällig. Bereits die Ar3

Frank Rösler, Einige Gedanken zum Problem der ,Entscheidungsfindung‘ in Nervensystemen. In: Zur Freiheit des Willens, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Bd. I (2004), S. 30 f. 4 Jürgen Mittelstraß, Der freie Wille – Eine Einführung (2004), S. 17. 5 John-Dylan Hayes, Proceeding doi:10.1073/pnas.1513569112.

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beit von Kornhuber/Deecke6 vermeidet die Folgerung, das Bereitschaftspotential steuere das Handeln, was einen vollständigen Determinismus rechtfertigen würde. Wahrscheinlich wirken bewusste Gründe als Ursachen der Handlungen anders, als es Triebe oder Gestimmtheiten tun, wenn sie mögliche kausale Bestimmungen für diese Gründe sind. Es ist gleichgültig, ob Handlungen frei oder determiniert sind; sie müssen jedenfalls anders als bei einem rein reaktiven Verhalten durch Willensakte auf den Weg gebracht werden; „der Wille muss da sein, egal, ob als freier Akteur oder als letztes Glied einer Determinationskette.“ (SO 458) Somit fragt es sich, ob die Verfolgung der Verursachungskette der Gründe über die mentale zu ihrer neuronalen oder fundamentalen physikalisch-quantenmechanischen Basis zum Problem der Willensfreiheit etwas (sozialontologisch) Erhellendes beisteuern kann. Historisch war es so, dass sich um die begriffliche Achse von „Determinismus“ und „Freiheit“ weltanschauliche Standpunkte bildeten, die das ganze Spektrum der Positionen von der absoluten Trennung über alle möglichen Zwischenstufen bis zur totalen Verschmelzung bzw. Versöhnung repräsentierten. Der Aufstand des „Geistes“ und der Kultur gegen den Materialismus des 19. Jahrhunderts kodifizierte sich im „Neukantianismus“ und führte zu richtungsweisenden handlungstheoretischen Positionen, die bereits jene späteren Debatten vorwegnahmen, allem voran die fundamentale Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften bzw. die zwischen gesetzmäßigen Naturvorgängen und intentionalem menschlichen Handeln. (SO 453 ff.) Die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aufkommende Reaktion gegen den Behaviorismus und Neopositivismus und im Anschluss an das Spätwerk Wittgensteins ließ angelsächsische Vertreter glauben, mit dieser Position Neues zu entdecken und „die hermeneutische Richtung gegen Physikalismus und Positivismus erst zu begründen.“ (SO 453) Die Reaktion brauchte aber von der Logik ihrer Position her nur ältere Einsichten zu wiederholen oder zu variieren. Während sich Naturereignisse als Anwendungsfälle unabänderlicher allgemeiner Gesetze erfassen lassen, stellt die menschliche Handlung die Folge einer Absicht dar, die auch anders hätte ausfallen können. Durch die Identifizierung naturwissenschaftlicher Kausalität mit Kausalität überhaupt – und zwar in der engen Humeschen Version – konnte man eine rein logische Beziehung zwischen Absicht und Handlung behaupten. Die Spaltung innerhalb der Gruppe erfolgte, als einige ihrer Mitglieder auf den Begriff der „Ursache“ nicht ganz verzichten wollten. Die „Kausalisten“ lockerten den Kausalitätsbegriff, um ihn auf die Handlungstheorie zu übertragen, während die „Intentionalisten“ weiterhin die enge Humesche Auffassung verteidigten, die, indem sie die klare Trennung zwischen Ursache und Wirkung annimmt, die Anwendung des Kausalitätsbegriffes auf das Gebiet der Handlungstheorie ausschließt: Es ließe sich zwischen Handlungsgrund und äußerem Vorgang keine klare Trennung durchführen. Die „Intentionalisten“ sichern sich gegen den Einzug des Determinismus in das Gebiet der Handlungstheorie und zwar zum 6 Kornhuber/Deecke, Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential, Pflügers Arch284:1 – 17 (1965).

Die Handlungstheorie von Panajotis Kondylis

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einen a) durch die soeben erwähnte enge Kausalitätsauffassung und zum andern b) durch die Übernahme der Logik des Covering-Law-Modells. Demnach müssten kausal erklärte individuelle Handlungen als Anwendungsfälle von überindividuellen Handlungsgesetzen aufgefasst werden – dieselben Ursachen (Motive, Gründe) müssten immer dieselben Handlungen hervorrufen. Die zwingende Logik des Gesetzes lässt keinen Raum für den Gedanken, kausale Erklärungen seien auch ohne Berufung auf allgemeine Gesetze möglich, dass nämlich eine kausale Erklärung grundsätzlich auch für den konkreten Fall denkbar ist und daher eine kausale Erklärung von Handlungen ohne Berufung auf allgemeine Gesetze voll gültig sein kann.

Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus Michael Rumpf Ist der Fortschrittsglaube ins Zweifeln geraten, in seiner engeren Domäne, dem Wissenschaftsbetrieb, steht er unangefochten, da er zu den Voraussetzungen seiner institutionellen Betriebsamkeit gehört. Dies lässt sich an der Tatsache veranschaulichen, dass zumal in den historischen Fächern kaum eine Untersuchung ohne den Anspruch veröffentlicht wird, über die Irrtümer und Halbwahrheiten des bisherigen Forschungsstandes hinauszugelangen. Kondylis löst einen solchen Anspruch ein. Er geht von der die Philosophiegeschichte prägenden Frage nach den Beziehungen zwischen Geist und Sinnlichkeit aus und interpretiert die Aufklärung als Versuch, diese Beziehungen zu erfassen. Zwar begreift Kondylis die Aufklärung in herkömmlicher Weise als Kampfbewegung gegen die christliche Theologie, ihre Ontologie und Moral, korrigiert aber die geläufigen Formeln vom Zeitalter der Vernunft und des Optimismus mit dem neuen Ansatz, die Aufklärung sei in ihrer Hauptströmung eine Epoche der Rehabilitation der Sinnlichkeit, die in der Erkenntnistheorie zur Wertschätzung der Erfahrung, in der Anthropologie zur Anerkennung von Triebbedürfnissen und allgemein zu einer Aufwertung der Natur, der Materie, des Diesseits, des Gefühls und der Abwertung der Transzendenz und des bloß konstruierenden Verstandes geführt hat. Die Vielfalt und Gegensätzlichkeit des 18. Jahrhunderts vor Augen, gesteht Kondylis zu, dass es keine für die damalige Zeit maßgebliche Lösung des Konflikts zwischen Geist und Sinnlichkeit gab, dass die Einheit nur in der Problemstellung liegt. Das Zeitalter, dem so unterschiedliche Denker wie Rousseau und La Mettrie, Herder und Locke, Fichte und Marquis des Sade zugehören, kann also mit gleichem Recht optimistisch wie pessimistisch, eschatologisch wie nihilistisch, vernunftgläubig wie gefühlsverherrlichend, religiös wie atheistisch genannt werden. Alle Positionen setzen sich aber mit den Folgen auseinander, welche der Verlust des aristotelisch-thomistischen Weltbildes bewirkte. Von daher kann Kondylis ins Bewusstsein heben, dass der Aufklärung neben der noch nicht besiegten Theologie ein neuer Gegner erwuchs, der Nihilismus, denn es bestand die Gefahr, mit der Ablehnung Gottes und der Metaphysik alle normativen Maßstäbe zu verlieren. Der eigentlich in der Konsequenz der Aufklärung liegende Materialismus, die Reduktion auf die Sinnlichkeit als Folge auf ihre Rehabilitation, tritt daher nur selten auf. Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Epoche, von der Forschung immer deutlicher erkannt, will Kondylis mittels zweier Thesen erklären, der von der Verflechtung der Seins- mit der Wertfrage und der vom polemischen Charakter des Denkens.

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Michael Rumpf

Die erste These besagt, dass eine bestimmte Analyse der Wirklichkeit sich auf die geläufigen Wertvorstellungen auswirkt. In der Konsequenz der antitheologischen Diesseitsbejahung konnte die Ablehnung sittlicher Ideale liegen, deren Gültigkeit mit der Existenz Gottes in Frage gestellt war. Kondylis zeigt, dass die Aufklärung nur zu verstehen ist, wenn man erkennt, dass ihre Hauptvertreter ein normatives Moralideal gleichwohl akzeptieren und gegen Skeptizismus und Nihilismus verteidigen. Dies ist allerdings nicht logisch notwendig, ja, es führte bei verschiedenen Autoren zu gedanklichen Widersprüchen, die sie aus weltanschaulichen Bedürfnissen heraus nicht wahr- oder in Kauf nahmen. Die zweite These besagt, dass die Wandlungen und Wendungen, die ein Denker auf sich oder unternimmt, wesentlich erklärt werden können aus der Absicht, Vorläufer oder Zeitgenossen, die er als philosophische Gegner einstuft, zu widerlegen oder ihre Ansichten zu umgehen. Jede Position entsteht als Gegenposition. (S. 24) Kondylis fasst Ideen und Ideale als geistige Waffen auf, deren Wirkung nicht von ihrer Wahrheit, sondern eher von ihrer Verfügbarkeit abhängt. Ob er Newton, Spinoza oder Leibniz behandelt, Kondylis veranschaulicht, wie ihre Systeme aus intellektuellen Gegnerschaften entstehen und ihrerseits in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich, ja, gegen die eigenen Intentionen wirksam werden. Besonders ausführlich stellt er dar, wie Descartes, der im Bestreben, die Scholastik zu überwinden, eine eigene Metaphysik erschuf, gleichzeitig argumentative Mittel erdachte, welche gegen ihn selbst gewandt wurden. Descartes nämlich, und hierin erkennt Kondylis eine Eigenart der Aufklärung, wird in seiner Hochschätzung des Intellekts, der Mathematik und der geometrischen Methode zu einer Negativfigur der Aufklärer, die den cartesianischen Zweifel an der sinnlichen Gewissheit ablehnen und ihm Newton und Bacon sowie die empirisch-induktive Methode vorzeihen. Kondylis unterscheidet hierbei zwei Arten von Rationalismus – ein Begriff, der ihm ohne Spezifikation als untauglich erscheint –, den Intellektualismus und den Empirismus, je nachdem, ob dem Geist oder der Sinnlichkeit die wichtigere Form der Welterfassung zugetraut wird. Descartes als Apologet des Geistes und insofern Idealist konnte den antiasketisch-materialistisch gestimmten Aufklärern trotz seiner Rolle als Überwinder der Scholastik nicht behagen. Diese Gegnerschaft hinderte allerdings nicht, dass auch die Aufklärung zu letzten Fragen Stellung nahm und eine eigene Metaphysik ausbildete, deren Kernüberzeugungen empirischer Analyse nicht zugänglich sein konnten. Kondylis analysiert, dass der Naturbegriff der Aufklärung in seiner Verschmelzung von kausalen und normativen Aspekten die Funktion des Gottesbegriffs übernimmt. Die Natur sollte nicht nur eine gesetzmäßige Struktur sein, die es zu erforschen gilt, sondern zugleich die weise Führerin des Menschen zu Sittlichkeit und politischer Ordnung. Nicht zufällig forderte Diderot, die Aufklärer sollten nicht nur mehr wissen als die Theologen, sondern auch ihre praktische Überlegenheit beweisen und für bessere Menschen sorgen. Ähnlichen Absichten dienten die geschichtsphilosophischen Modelle – Kondylis stellt u. a. Turgot, Condorcet, Lessing und Herder vor –, die mit der Gesetzlichkeit der Geschichte zugleich die sinngebende Hoffnung auf ihren Fortschritt konstruierten.

Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus

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Die Aufklärung hat in Westeuropa gesiegt, die wesentlichen gedanklichen Strömungen der Gegenwart lassen sich auf sie zurückführen. Dennoch geht Kondylis nicht von ihrer Überlegenheit über die Theologie aus: aufklärerisches und theologisches Weltbild erscheinen nicht nur strukturähnlich, da sie dieselben weltanschaulichen Probleme und Bedürfnisse bewältigen müssen, sondern auch gleichwertig. Letzte Fragen können – hier zeigt sich der Einfluss von Max Weber –, nicht argumentativ gelöst werden, Logik und Argumentation scheinen Methoden zu sein, die verschiedenen Herren gehorsam dienen. So erwartet Kondylis weder den Fortschritt in eine bessere Zukunft noch den Fortgang zu einer besseren Theorie, eher eine Abfolge von Blühen und Welken. In der Schlusspassage seines Buches deutet er an, dass die Krise, in welche die Aufklärung trotz ihres Sieges geraten ist, vermutlich von jenen gelöst werden wird, die weder nostalgisch noch tolerant noch besonders feine Denker sind. Solchen Sinn für die Zusammenhänge zwischen der Wahrheits- und Machtfrage bezeugt Kondylis, wohl an Nietzsche geschult, des häufigeren. Kondylis’ Buch ist in vielerlei Hinsicht erstaunlich: im Umfang, in der Nähe zum Stoff bei Distanz zum Gegenstand, in der Fülle treffender und also bösartiger Bemerkungen, in der Beherrschung historischer wie systematischer Argumentation und nicht zuletzt in der Formulierungskraft. Die Aufklärungsforschung wurde um ein Standardwerk, die Aufklärung um eine Krisendiagnose reicher. Gleichwohl mischt sich ins Staunen die Verwunderung, weshalb im Ideenkampf denn just die Idee der wissenschaftlichen Genauigkeit gestützt werden müsse; um vom Forschungsstand sagen zu können, er bewege sich doch?

Nochmals zum Sinn des Lebens Über den modernen Naturbegriff, im Ausgang von Kondylis Rainer E. Zimmermann

I. In unserer gegenwärtigen, pandemischen Zeit, unter anderem schon kurz zuvor auch angetrieben durch die Auseinandersetzung mit der aktuell gewordenen Klima-Problematik auf unserem Planeten, ist neuerlich die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ mit einiger Dringlichkeit in den Mittelpunkt gestellt worden. Unter „Sinn“ wird dabei freilich eher ein kosmischer Sinn verstanden, also die Vereinigung aller Bedeutungen von Lebensformen, auf welche das (physikalische) Universum in seiner Gesamtheit zu verweisen imstande ist. Andererseits orientiert sich der Begriff von „Bedeutung“ hierbei an der nüchternen (zum Beispiel bei Wittgenstein propagierten) Auffassung, daß die Bedeutung eines Systems oder einer Struktur durch ihre jeweiligen Funktionen ausgedrückt wird.1 (Das heißt, die Bedeutung eines Systems liegt in dem, was das System prozessiert.) Mithin verweist die Fragestellung zugleich auf einen angemessenen Naturbegriff und seinerseits der Naturbegriff auf das, was die Wirklichkeit des Universums, dieses selbst aufgefaßt als maximales System, dessen vielfältige Strukturen wiederum Teilsysteme sind, dem (menschlichen) Beobachter darbietet. Eine Differenzierung zwischen dem Naturbegriff (der nichtmenschlichen Natur) und dem Kulturbegriff (der menschlichen Natur) hat in diesem Zusammenhang lediglich klassifikatorischen Charakter, nicht aber ontologische Relevanz. Tatsächlich haben nämlich die kürzlich erzielten Ergebnisse bei der Erforschung von zahlreichen Planeten, die um fremde Sterne kreisen, und von denen viele (zumindest theoretisch) imstande sind, Leben zu tragen, eine Sichtweise begründen helfen, welche das Leben im Universum ganz allgemein, und somit auch menschliches Leben, als eine durchschnittliche, physikalische Struktur unter zahlreichen anderen begreift2 – ohne dabei aber auf einen mechanischen Reduktionismus 1 Vgl. Rainer E. Zimmermann/José M. Díaz Nafría: Emergence and Evolution of Meaning: The GDI Revisiting Programme. Part I: The Progressive Perspective: Top-Down. Information, 2012, 3, 472 – 503. 2 Dieser Aspekt ist allerdings in der Hauptsache ein ziemlich unmittelbares Ergebnis der relativistischen Kosmologie, der von vornherein das Kosmologische Prinzip zugrundeliegt, welches sicherstellt, daß die Physik im Universum überall dieselbe ist. Daraus folgt sofort, daß immer dort, wo die physikalischen Bedingungen so ähnlich sind wie in der Umgebung der

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Rainer E. Zimmermann

zurückzufallen. Das gelingt vor allem deshalb, weil davon auszugehen ist, daß das Substrat des Universums (Materie und Information) immer gleichbleibt, während die Strukturkomplexität dafür sorgt, daß sich dieses Substrat in vielfältige Formen aufzufalten imstande ist. Im Grunde ähnelt die modern formulierte Theorie emergenter, komplexer Systeme insoweit auf der systematischen Ebene den frühen Ansätzen zur Beschreibung einer Dialektik der Natur, wenn sich dabei auch die Theoriesprache, vor allem im Hinblick auf die mathematische Formalisierung, wesentlich verändert hat. Mithin gewinnt die hier skizzierte Fragestellung nicht nur an ontischer bzw. ontologischer, sondern auch an metaphysischer Relevanz, denn die Fragen nach dem Ursprung und der Verfaßtheit des Substrats (und seiner prinzipalen Kategorien) können nicht ausgeklammert werden, will man den eingangs erwähnten Sinn des Lebens überhaupt auch nur in Ansätzen erfassen und konzeptualisieren. Dadurch ist man allerdings gezwungen, auf einen außerhalb jenes Substrats liegenden Grund zu rekurrieren, der mit den Kategorien des Substrats nicht mehr zureichend beschreibbar ist. Es gilt also, den Naturbegriff in diesem Spannungsfeld von Sagbarem und Unsagbarem zu formulieren.3 Und bei genauerer Überprüfung zeigt sich, daß der moderne Naturbegriff in dieser Hinsicht wesentlich durch das vorgeprägt worden ist, was seit der Zeit der Aufklärung dazu gesagt wurde. Obwohl die Begründung des Lebens dann immer noch in der Hauptsache der jenseitigen Transzendenz verbunden bleibt (weil der Naturbegriff zunächst sowohl die unbelebte als auch die belebte Natur mitumfaßt und am Anfang nur die erstere an einen eindeutigen Materiebegriff gekoppelt werden kann – freilich an einen Begriff, der Materie eher als mechanische und passive „Klotzmaterie“ konzeptualisiert), läßt sie doch bereits eine ganzheitliche Tendenz erkennen, die sogar in der Nähe der heutigen Gaia-Hypothese angesiedelt werden kann – wenn auch erst im Organismus-Gedanken bei Schelling zur vollen Entfaltung kommend. Wenn wir auf die Anfänge dieser Entwicklung zurückgehen wollen, ist der Bezug auf die Arbeiten von Panajotis Kondylis äußerst vielversprechend: Zwar hat dieser meines Wissens keine explizit eigenen Entwürfe zum Naturbegriff vorgestellt, aber doch implizit mittels der historischen Kontextualisierung des Denkens seit der Aufklärung eine eigene Sichtweise nahegelegt, die zur Erhellung der Begründungsfrage sehr wohl beizutragen imstande ist.4 Erde, die Wahrscheinlichkeit für die Existenz lebender Strukturen sehr hoch ist. Ob das aber der Fall ist, kann leicht aus dem Spektraltyp des maßgeblichen Sterns herausgelesen werden, der beobachtet wird. 3 Dazu hat Cecile Malaspina in ihrer Dissertation Erhellendes ausgeführt, wenn sie den Begriff des Schellingschen Ungrundes mit dem zusammenführt, was allgemein als „Rauschen“ (noise) bezeichnet wird und weit über die bloß technische Bedeutung hinausgeht. Dabei scheint das Rauschen selbst als Ungrund im Schellingschen Sinn auf, freilich unter der Perspektive der französischen Epistemologen. Vgl. Cecile Malaspina: What is the Relation Between Information and Noise? PhD Dissertation, Paris VII Denis Diderot, 2013. Hier: 36, 56. (Ich zitiere hier aus einer frühen Manuskriptfassung der Arbeit. Soweit ich sehe, sind die Textteile über Schelling nicht in die gedruckte Fassung eingegangen. Vgl. Cecile Malaspina: An Epistemology of Noise. Bloomsbury Academic, London u. a. 2018.) 4 Die eher technischen Aspekte dieser Grundgedanken sind bereits im Rahmen unserer Arbeitsgruppe („Sinn des Lebens“) an anderen Orten ausführlich besprochen worden. Man

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II. In dem posthum erschienenen Werk von Panajotis Kondylis „Das Politische und der Mensch“5, das, wie der Titel bereits anzeigt, auf eine Sozialontologie abzielt, nimmt gleichwohl der Naturbegriff seit der Aufklärung eine wesentliche Position in den Darlegungen ein. In diesem Zusammenhang – diese Bemerkung erst einmal nur am Rande – ist ja offensichtlich jede Naturtheorie immer schon sozialontologisch bestimmt, einfach, weil es Menschen sind, welche Naturforschung unternehmen. In dieser Ausgangsstellung formuliert Kondylis folgendes, und wir zitieren hier ausführlicher: „In der doppelten Perspektive der Offenheit oder Plastizität und der Grenzen oder Zwänge des Menschlichen muß sozialontologisch die Beziehung zwischen Natur und Kultur beleuchtet werden. Die an sich richtige Auffassung, des Menschen Natur sei die Kultur, kann nicht heißen, wie man oft zu unterstellen beliebt, daß sich der Mensch von den Naturbestimmungen loslösen und sich nach Gutdünken bilden oder seine Existenz auf Erden nach ausschließlich kulturellen Maßstäben frei planen kann. Solche Annahmen oder Erwartungen zehren stillschweigend von einer unhaltbaren Gegenüberstellung zwischen der blinden Notwendigkeit der Naturbestimmungen und der Freiheit in der Kultur, wobei Freiheit wiederum irrtümlicherweise mit der tatsächlichen Offenheit und Plastizität der Kultur verwechselt bzw. aus dieser abgeleitet wird. Das sind aber zwei ganz verschiedene Dinge. Die Offenheit und Plastizität der Kultur, die sich an der parallelen Existenz oder an der Aufeinanderfolge mehrerer Kulturen zeigt, besteht nicht jenseits der Kausalbestimmungen in Natur und Geschichte, und es wäre einfach absurd, sie als Überwindung derselben zu deuten. Nicht weniger absurd wäre es, die durch Kultur dem Menschen angeblich geschenkte Freiheit ethisch-normativ auffassen zu wollen. Denn alles, was man üblicherweise als ,inhuman‘ und als Wirkung der ,blinden‘ oder ,tierischen Natur‘ apostrophiert, wurde in der bisherigen Geschichte innerhalb der Kultur und mit den Mitteln der Kultur vollbracht; Konzentrationslager sind z. B. reines Werk der Kultur, d. h. etwas, wofür es in der Natur absolut keine Beispiele gibt. Kultur kann nur in der Sprache der Ethik ein normativ geladener Begriff sein, nicht in jener der Sozialontologie. Sie dürfte logisch und sachlich nur dann als Beleg für die ethische und ontische Freiheit des Menschen ausgelegt werden, wenn schon ihre Entstehung auf einen freien Entschluß des Menschen zurückginge […]“6

Kondylis trägt an dieser wichtigen Stelle wesentlich zu einer Entmächtigung des Kulturbegriffs (und zu einer gleichzeitigen Ermächtigung des Naturbegriffs) bei, die sehe vor allem die Beiträge von Doris Zeilinger: Elemente von Schellings Positiver Philosophie in Blochs offenem System. In: Rainer E. Zimmermann (Hg.), Aktuelle Bloch-Studien 2013 – 2014 (Münchener Schriften zur Design Science, Band 8), Shaker, Aachen 2016, 124 – 147, und Annette Grathoff: An Evolutionary View on Function-Based Stability, Proceedings (mdpi) 2017, 1, 54 nebst: Exploration of Structural and Kinetic Components of Physical Information, Proceedings (mdpi) 2020, 47, 16. Sowie Rainer E. Zimmermann/Wolfgang Hofkirchner/José M. Díaz Nafría/Annette Grathoff/Tomásˇ Sigmund/Zhang Xiaomeng: Evolutionary Systems. A Manifesto. Proceedings (mdpi) 2017, 1, 253. 5 Panajotis Kondylis: Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie. Band 1. Edition Falk Horst, Akademie, Berlin 1999. 6 Ibd., 217.

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wir weiter oben bereits angekündigt hatten. Zwar ist unsere Weltsicht, samt Theoriebildung und Anwendungen, immer schon anthropomorph verfaßt (denn nach wie vor ist die Erkenntnis auf die Sinneswahrnehmungen verwiesen), und Kultur kann sich naturproduzierend äußern, sie ist aber zugleich immer stärker Produkt als Produzentin. Und die Natur gibt die „Rahmenrichtlinien“ von Beginn an vor.7 In diesem Sinne fährt Kondylis fort: „Andere Möglichkeiten hat er [der Mensch] aber nicht gehabt, außer der des Untergangs der Spezies. Der Satz, des Menschen Natur sei die Kultur, / besagt eigentlich, daß der Mensch unter dem Druck der (seiner) Natur zum Kulturwesen werden mußte und daß die Stimme der (seiner) Natur daher in allen ihren Tönen und Nuancen in der Kultur weiter zu hören ist […] Die Kultur des Menschen ist demnach ebenso Natur wie seine Natur Kultur ist. Und dieses Faktum muß sozialontologisch mit dem Faktum der Gesellschaft zusammengedacht werden […] Über die soziale Beziehung und über das Politische wird zwischen Mensch und Kultur vermittelt, der Mensch entfaltet sich dadurch als Kulturwesen und setzt sich instand, nicht nur die eigene, sondern auch die äußere Natur zu historisieren. Das Geschehen in der äußeren Natur ändert sich zwar in seiner Gesetzmäßigkeit nicht, seine Wirkungen auf das menschliche Kollektiv hängen aber fortab von der Kultur desselben ab. Mehr noch: Die Struktur des sozialen Zusammenhaltes und der sozialen Verhältnisse wird nicht zuletzt durch den jeweiligen Ausgang des Kampfes der Menschengattung gegen die äußere Natur bedingt. Diese große Wahrheit, die wir Marx zu verdanken haben, war noch nie so aktuell wie heute […]“8

Genauer kann der Status der (politischen) Kultur im Verhältnis zur originären Natur schwerlich auf den Punkt gebracht werden, zumal die lokale ebenso wie die globale Vermittlung (also jene zwischen Individuum und Natur und jene zwischen sozialem Kollektiv und Natur – mithin auch die Vermittlung zwischen Individuum und Kollektiv ihrerseits) angesprochen wird. Unabhängig also von eingangs erwähnten theoretischen Ergebnissen der Kosmologie und unabhängig auch von den neueren empirischen Ergebnissen der beobachtenden Astrophysik, gibt es eine vorgängig erkennbare, anthropologische Verfaßtheit des Menschen (dieser wiederum aufgefaßt als biologische Art), welche von Anfang an der menschlichen Natur als einer besonderen Ausprägung der Natur insgesamt Rechnung trägt und sie auch bis in die sozialen Entäußerungen des Alltags hinein zum Ausdruck bringt.

7 Freilich darf dabei im metaphysischen Kontext nicht jene Schleife der Selbstreferenz übersehen werden, die dadurch entsteht, daß jene Rahmenrichtlinien (oder: Naturgesetze) Formen menschlicher Weltbeschreibung (Repräsentation) sind, so daß der Mensch wesentlich damit befaßt ist, das zu beschreiben, was ihn hervorgebracht hat, samt jenen Mitteln, die ihm zur Beschreibung dienen. Präziser wäre es zu sagen, daß es dem Menschen so erscheint als würde er von der Natur hervorgebracht worden sein, aber jenseits dieser Perspektive findet im Grunde gar keine Produktion statt, weil die dafür notwendigen Kategorien, vor allem die Zeit, undefiniert sind. Anders gesagt: Raum und Zeit (und ebenso Materie) sind Kategorien, die nur aus der menschlichen Perspektive heraus sinnvoll verwendet werden können. 8 Kondylis: Das Politische, op. cit., 217 sq.

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Obwohl die „Dialektik-Schrift“9 als Bestandteil seiner Dissertation von Kondylis zuerst veröffentlicht worden ist, erweist sie sich im Grunde doch eher als der Text, in welchen die nachfolgende Betrachtung der Aufklärung einmündet.10 Die letztere endet auch vom Zuschnitt her mit dem Einstieg in die Tübinger Axiomatik, die Gegenstand der ersteren ist.11 Dieser Aspekt der Tübinger Axiomatik wird im Vorliegenden allerdings nicht weiter behandelt, weil ich dieses Thema mehrfach an anderen Stellen ausführlicher diskutiert habe.12 Nur soviel: Es geht im Wesentlichen um die These von einer Sinnlichkeit, welche nicht als Gegnerin der Moral, sondern als deren Wirkfaktor impliziert, daß Moral den ganzen Menschen zu durchtränken imstande ist und dadurch im Sinne der Schillerschen Freiheit allumfassend wird. Auf diese Weise tragen Sinnlichkeit und Moral gemeinsam zur harmonischen Entwicklung der menschlichen Kräfte bei, sind also zugleich Ausdruck der Natur, nämlich gesehen als menschliche Natur.13 Wie es bei Kondylis im expliziten Bezug auf die medizinischen Arbeiten Schillers, namentlich der „Philosophie der Physiologie“, wörtlich heißt: „Der Mensch ist ein organischer Teil und zugleich ein Spiegel der Welt; die Entwicklung der Kräfte scheint umso mehr der natürliche Weg zur Erlangung der wahren Freiheit zu sein, als sie sich in einer Welt vollzieht, die diesen Kräften ursprünglich wesensgleich ist.“14 Insofern erweist sich die Auffassung Schillers recht eigentlich als Wurzel der modernen Sichtweise, die noch heute ganz unter dem Eindruck dessen steht, was in der Tübinger Axiomatik ursprünglich formuliert worden war. Dazu führt Kondylis weiter aus: „Schiller nutzt die Abstraktion von jedem Inhalt [der Handlung], indem er nur die Form der praktischen Vernunft ins Spiel bringt, nicht im Sinne Kants aus, sondern um die reine Selbstbestimmung bzw. die Freiheit als ungehemmte und gleichsam wertfreie Entwicklung der jeweils vorhandenen Kräfte zu erklären. Einer solchen neutralen, nicht-moralischen Freiheit ist offenbar auch die Natur fähig, Schiller aber wagt oder vermag es nicht, die Konsequenzen daraus zu ziehen.“15

9 Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Klett-Cotta, Stuttgart 1979. 10 Dazu explizit: ibd., 15. 11 In ihrer sehr erhellenden Arbeit gibt Gisela Horst hierzu einen klärenden Überblick, Gisela Horst: Panajotis Kondylis. Leben und Werk – eine Übersicht. Königshausen & Neumann, Würzburg 2019, hier: 326 – 334. 12 Zuerst ausführlich in Rainer E. Zimmermann: Selbstreferenz und poetische Praxis. Entwurf zur Grundlegung einer axiomatischen Systemdialektik. Junghans, Cuxhaven 1991, zuletzt in Rainer E. Zimmermann: Metaphysik als Grundlegung von Naturdialektik. Zum Sagbaren und Unsagbaren im spekulativen Denken. wvb, Berlin 2020. 13 Kondylis, Dialektik, op. cit., 28 par. (In der vorliegenden Terminologie steht Moral hier offenbar für Ethik.) 14 Ibd., 29. 15 Ibd., 287.

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Das wird tatsächlich erst Schelling tun, dem wir nach wie vor den Einstieg in jenen Denkrahmen verdanken, der für uns andauernd verbindlich ist, auch, wenn über das Verhältnis von idealistischem und materialistischem Inhalt immer noch gestritten wird. Der ursprünglich metaphysische Zusammenhang wird aber zu keinem Zeitpunkt verlassen, und ein (wenn auch modifizierter) Begriff von Transzendenz bleibt weiterhin präsent. Obwohl also jene Bewegung, die zu dem hinführte, was wir heute pauschal als „Aufklärung“ bezeichnen, im Grunde als eine Rückkehr in die reine Immanenz verstanden werden kann, indem jede Transzendenz, wenn nicht ganz abgewiesen, so doch zumindest „entmächtigt“ werden sollte, konnte doch die erste gegen die zweite nie vollständig durchgesetzt werden und kehrte umso häufiger durch mannigfaltige Hintertüren wieder in die theoretischen Sichtweisen zurück, je mehr die Wissenschaftlichkeit ihren Siegeszug zu verwirklichen imstande war.16 Im „Aufklärungs-Buch“ von Kondylis heißt es dazu: „Jene Natur, die zunächst die Immanenz im Kampfe gegen die Transzendenz Gottes vertrat, wurde bald etwas mehr als die empirische Welt, sie bekam nämlich den Status einer höheren Instanz, die die einfache Summe der wahrnehmbaren Erscheinungen transzendiert und auf höchst objektive Weise erklärt, was Gut und Böse ist; gemäß der Natur leben bedeutet nunmehr ebensoviel wie die ebenfalls allgemeingültigen, im wahren Sein verankerten Gebote Gottes zu befolgen. Aber auch die neuzeitliche Vernunft, insofern sie die göttlichen Gebote zu ersetzen beansprucht, wird nicht empirisch verstanden, […] sondern ebenfalls zur überpersönlichen normativen Instanz hochstilisiert, die alle empirisch gegebenen und bekannten Formen von Vernunft transzendiert – wobei ihr Sitz und Träger unbestimmt bleiben müssen.“17

(Man muß freilich einwenden, daß bereits die Philosophie der griechischen Stoa, lange vor dem Christentum, eine ähnliche Herangehensweise propagiert hatte.) Die Natur gewinnt daraus ihren zentralen Status. Und selbst, wenn der metaphysische Aspekt der Transzendenz nicht immer deutlich genug im Bewußtsein verbleibt, so fördert dieser Status doch zumindest die „Überzeugung, die Natur bzw. die Sinnlichkeit sei der würdige, ja der höchste mögliche Gegenstand genauer und 16

Der wesentliche Grund hierfür liegt in der intrinsischen Ambivalenz der Begriffe, wie sie spätestens seit Spinoza bekanntgeworden ist: Wenn die Welt insgesamt (von welcher der Mensch aber nur einen Teil wahrnehmen kann) immer schon alles ist, was es gibt, dann sprechen wir zu Recht von Immanenz. Transzendentes kann es dann nicht geben, weil es außerhalb der Welt nichts gibt. (Es sei denn, und das ist schon bei Schelling keineswegs trivial, das Nichts bekäme eine eigenständige Existenz im Rahmen einer Dialektik, die darin das Nichtsein des Nichtseins zu erblicken in der Lage ist. Dann wäre das Nichts aber nicht einfach nur nichts.) Was der Mensch aber als Transzendentes gleichwohl ständig vor Augen hat, ist das unzugänglich Nicht-Konzeptualisierbare (das formal jenem Teil der Welt angehört, den der Mensch nicht wahrnehmen kann). Um jedoch auch in diesem Falle auf Konzeptualisierung nicht verzichten zu müssen, weicht er in die Abstraktion aus, die ihm neuerdings vor allem durch die Mathematik ermöglicht wird. 17 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. dtv/ Klett-Cotta, München 1986 (Stuttgart 1981), 58.

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endgültiger Erkenntnis […]“18 Die wesentliche Konsequenz aus dieser Zuordnung ist die künftige, uns heute noch umtreibende, Ermächtigung der mathematisch begründeten Naturwissenschaft und damit der Physik gegen die Metaphysik alten Zuschnitts.19 (Kondylis behandelt diesen Aspekt in einem eigenen Kapitel.20) Man sieht aber, daß die Metaphysik als systematisches Herangehen an Begründungsprobleme in der Hauptsache einfach nur weitergeführt, nicht aber wirklich aufgegeben wird. „Metaphysik alten Zuschnitts“ heißt lediglich, daß die Terminologie ausgetauscht wird und Metaphysik dadurch einen Anstrich von gleichsam exakter Wissenschaftlichkeit gewinnt (den sie aber eben nicht vollständig auszufüllen imstande ist). Es versteht sich von selbst, daß dieses Problem in den betroffenen Einzelwissenschaften (namentlich in der Physik) praktisch keine Erwähnung findet, mit ganz wenigen Ausnahmen.21 Im Grunde kann man sagen, daß von der Aufklärung an „[d]er Mensch […] Natur [ist] […]“22, und zugleich ist „[…] der Mensch […] Herr über die Natur“23 (auch noch kartesisch), immer aber auch auf eine mögliche Versöhnung von Mensch und Natur durchaus abzielend, wie sie sich noch bei Ernst Bloch niederschlagen wird. Nicht nur der Naturbegriff gewinnt insofern eine zentrale Position, es gibt auch eine Aufwertung der Materie als eine den bloßen Materialismus übersteigende – gleichsam als Ersatz für eine überkommene Theodizee.24 Und an erster Stelle stehen dabei Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Natur.25 Kondylis lokalisiert diese Tendenz aber bereits in der Renaissance. Dazu schreibt er einleitend in seinem Buch über die neuzeitliche Metaphysikkritik im Rückgriff auf die klassische Auffassung des Altertums: „Wie ja Aristoteles in klassischer Prägnanz schreibt, gäbe es keine anderen Substanzen außer denjenigen, denen wir in der empirischen Natur begegnen, so wäre die Physik erste Wissenschaft; der Vorrang, ja die Notwendigkeit und die Existenz der Metaphysik selbst gründet in der Überzeugung, jenseits der Natur würde es eine unveränderliche Substanz geben. Die Hierarchie des Seins begründet somit die Hierarchie der Ebenen der Erkenntnis, und der Terminus ,Metaphysik‘ gibt diese doppelte Hierarchie treffend wieder. 18

Ibd., 82. Vgl. ibd., 88 f. 20 Vgl. ibd., 119 ff.: Der Mensch als Herrscher über die Natur und das naturwissenschaftliche Modell. (Überschrift für den Abschnitt 3a.) 21 Im Rahmen dessen, was gewöhnlich „fundamentale Physik“ genannt wird, also zum Beispiel im Falle der Quantengravitation oder der Theorien von Allem, gibt es vereinzelt philosophische Reminiszenzen, die aber in der Regel nicht jene Tragweite gewinnen können, die sie im Fachgebiet der Einzelwissenschaften gewonnen haben. Was die erwähnten Forschungsrichtungen der „fundamentalen Physik“ angeht, gehören vor allem Roger Penrose, Lee Smolin, John Baez und einige andere zu den der Philosophie durchaus verbundenen Protagonisten, die jedoch zumeist nur um die Einsichten eines eher kontingenten Autors kreisen, dessen Einordnung in den gesamten philosophischen Kontext in der Regel leider unterbleibt. 22 Kondylis: Aufklärung, op. cit., 125. 23 Ibd., 170. 24 Vgl. ibd., 246. 25 Vgl. ibd., 302. 19

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Als Form der Erkenntnis, d. h. als System von Sätzen, die auf Grund von logischen Regeln miteinander verbunden sind, und unabhängig von ihrem jeweiligen Inhalt bzw. der jeweiligen Definition von Transzendentem und Immanentem, strebt Metaphysik die rational-demonstrative Erfassung des Seins und seiner letzten Prinzipien an.“26

Tatsächlich bleibt das Grundprinzip weiter erhalten, wobei aber nun das Verhältnis zur Formalisierbarkeit im Schwerpunkt der empirischen (positiven) Seite zugeführt wird, dabei scheinbar die Metaphysik schwächend: „Aus der Sicht unserer Fragestellung besteht der wesentliche Beitrag der mathematischen Naturwissenschaft in der ontologischen Aufwertung der sinnlichen Welt. Wurde diese im Rahmen der klassischen antik-christlichen Metaphysik für ontologisch unterlegen […] und […] einer rein intellektuellen Erfassung unzugänglich gehalten, so erscheint sie nun als kohärentes System von gesetzmäßigen Relationen, die einer logisch-mathematischen Deutung fähig sind und eben deswegen nicht bloß den Gegenstand einer Wissenschaft, die unter der Metaphysik stehen muß, sondern der Wissenschaft par excellence ausmachen […] Auf diese Weise wird die ontologische Fragestellung durch die methodologische verdrängt […]“27

In Wahrheit aber wird eben nur der Schwerpunkt verlagert – vom Ontologischen auf das Epi-stemologische – bereits eine Sicht vorwegnehmend, die erst vor relativ kurzer Zeit ausführlicher besprochen worden ist (nämlich von Sandkühler28) und die durch eine konzeptuelle Zusammenführung beider Komponenten im Onto-Epistemischen zwanglos von neuem an die metaphysische Tradition anschließt, nur mit dem Unterschied, daß dieses Mal die Mathematik mit ihrer intrinsischen Abstraktion die metaphysische Spekulation alten Stils ablöst. Insoweit äußert Kondylis ganz richtig: „Die Mathematisierung […] der Natur, die der scholastisch-aristotelischen qualitativen Betrachtungsweise gegenübergestellt wurde, implizierte indes die Trennung der Eigenschaften der natürlichen Körper in primäre (d. h. überempirische und mathematisch erfaßbare) und sekundäre (d. h. empirische und einer restlosen mathematischen Erfassung unfähig). Dies schien die klassische metaphysische Unterscheidung zwischen der Substanz und ihren Akzidentien von neuem ins Leben zu rufen, wenn auch diesmal in einer wesentlich anderen Perspektive. Daher kam es dazu, daß gerade in dem Augenblick, in dem die mathematische Naturwissenschaft die Metaphysik als rationale Wissenschaft vom Sein außer Gefecht setzte, eine neuartige Metaphysik entstand, die um das Problem der Substanz kreiste […]“29

Nimmt man noch hinzu, daß spätestens seit der Zeit der Tübinger Axiomatik die Metaphysik in die Nähe der Dialektik gestellt30 wird, dann erkennen wir die Möglich26 Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Klett-Cotta, Stuttgart 1990, 13. (Mit Bezug auf Metaphysik 1526a 10 – 23.) 27 Ibd., 16. 28 Ausführlich dazu Hans Jörg Sandkühler: [Stichwort] Onto-Epistemologie. In: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, 4 Bde., Meiner, Hamburg 1990, Band 3, 608 – 615. 29 Kondylis: Metaphysikkritik, op. cit., 17. – Vgl. dazu ausführlicher: ibd., 181 ff. (meine Hervorhebung). 30 Vgl. ibd., 375.

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keit einer modernen Fortsetzung des metaphysischen Programms unter Zugrundelegung der neueren Einsichten in die Evolution und Struktur lebender Formen im Universum: Das heißt, es gibt einen evolutiven Zirkel (eher: eine evolutive Spirale), die von der Spekulation alten Stils über die Rekonstruktion neuerlich zur Spekulation neuen Stils führt, wobei die letztere wesentlich von der mathematischen Konzeptualisierung bestimmt wird.31

III. Als Fazit können wir festhalten, daß der oben thematisierte „Sinn des Lebens“ einer sein wird, der im Rückbezug der Naturphilosophie auf die Metaphysik das Ganze der Welt in Sicht zu nehmen und von dort aus eine mögliche Vereinigung von (kosmischen) Bedeutungen zu rekonstruieren hat. Weil im Sinne einer früheren Formulierung von Theunissen (daß nämlich eine metaphysische Rekonstruktion heute nur noch als eine ultima philosophia im Nachgang zu dem durchgeführt werden könne, was die Wissenschaften gegenwärtig darbieten32) die grundsätzliche Orientierung stets an der wissenschaftlichen Erkenntnis anzusetzen hat, muß daher mit einer Rekonstruktion dessen begonnen werden, was in der theoretischen Physik der oben besprochenen Denkfigur von Substanz und Substrat am nähesten kommt. Gegenwärtig sind dies jene physikalischen Ansätze, die in der Hauptsache um die Themen Quantengravitation und Quanteninformationstheorie kreisen, nebst Dekohärenz und Modellen auf komplexen Mannigfaltigkeiten.33 Erst von dort aus kann eine metaphysische Neu-Formulierung des in Sicht genommenen Problems vernünftig ansetzen. Im Grunde wäre das nichts weiter als eine Fortsetzung des von Kondylis begonnenen Unternehmens. Eine zureichende Bearbeitung der Weiterführung des letzteren aber steht noch aus und ist Gegenstand der laufenden Forschungsarbeit.34 Abschließend scheint es noch angezeigt, auf folgenden Aspekt zu verweisen: Bernd A. Laska35 hatte im Rahmen seines Projektes (LSR) zu Recht darauf hingewiesen, daß Kondylis praktisch als Mitwirkender an diesem Projekt36 aufzufassen ist (er 31 Vgl. Rainer E. Zimmermann: From Re-construction to Speculation: Towards the Meaning of Life in the Universe. Wird veröffentlicht in id. (Hg.), The Meaning of Life in the Universe, Philosophies (mdpi), Special Issue, 2021. 32 Vgl. Rainer E. Zimmermann: Metaphysik als Grundlegung, op. cit., 34 f. 33 Vgl. Rainer E. Zimmermann: Emergence from Indifference. Aktuelle Blochstudien 2013 – 2014, Shaker, Aachen 2016, 148 – 161. Man sehe aber auch bereits id.: Initiale Emergenz und kosmische Evolution. Zur Rekonstruktion der Substanz-Metaphysik. System & Struktur I/1, 1993, 39 – 55. 34 Im Augenblick sind zwei Tagungen zu diesem Thema geplant, im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Schriften der Arbeitsgruppe, nämlich Ende März 2021 in Nürnberg und Anfang September 2021 an der Leucorea in Wittenberg. Die Planung kann aber wegen der gegenwärtigen Corona-Beschränkungen noch nicht restlos verbindlich sein. 35 http://www.lsr-projekt.de/intro.html (04. 01. 2021). 36 http://www.lsr-projekt.de/kondylis.html (04. 01. 2021). (Ich paraphrasiere im folgenden.)

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nennt ihn einen „unfreiwilligen Paten“): Die Gegnerschaft der Aufklärung zur Metaphysik habe jene nicht daran gehindert, ihrerseits zu den letzten Fragen Stellung zu nehmen und eine eigene Metaphysik auszubilden, deren Kernüberzeugungen empirischer Analyse nicht hinreichend zugänglich sein konnten. Kondylis habe analysiert, inwieweit der Naturbegriff der Aufklärung in seiner Verschmelzung von kausalen und normativen Aspekten die Funktion des Gottesbegriffs übernimmt. Die Natur sollte nicht nur eine gesetzmäßige Struktur sein, die es zu erforschen gilt, sondern zugleich die weise Führerin des Menschen zu Sittlichkeit und politischer Ordnung. Kondylis erwarte dabei aber weder den Fortschritt in eine bessere Zukunft noch den Fortgang zu einer besseren Theorie, eher eine Abfolge von Blühen und Welken. In der Schlusspassage seines Buches (über die Aufklärung) deute er an, daß die Krise, in welche die Aufklärung trotz ihres Sieges geraten ist, vermutlich von jenen gelöst werden wird, die weder nostalgisch noch tolerant noch besonders feine Denker sind. Kondylis herausragendes Verdienst bestehe vor allem in der Entdeckung der Singularität der Position La Mettries unter den Aufklärern. Nicht ganz ohne historische Ironie scheint mir Laska diesen Aspekt sehr treffend auf den Punkt gebracht zu haben: Wie er selbst, gehört ja auch Kondylis zu jenen, die im Kreise der Kolleginnen und Kollegen nicht zureichende Anerkennung gefunden haben (dazu gehört zweifellos auch La Mettrie), und der Grund dafür mag bei allen gleichermaßen darin liegen, daß sie nicht dem „mainstream“ gefolgt sind und auch nicht den Ideologievorwurf gescheut haben, der ihnen implizit (wenn auch zu Unrecht) gemacht wurde.37 Dieser letztere wird nämlich vor allem immer dann erhoben, wenn die Kontextualisierung von philosophischen Werken nicht der Standard-Interpretation folgt oder sogar eine eigenständige Rekonstruktion nutzt, welche die Komponenten der Werke auf neue Weise miteinander kombiniert und dadurch neue Perspektiven zu eröffnen imstande ist. (Damit kein Mißverständnis aufkommt: Es geht hier ausdrücklich nicht um die seit neuester Zeit durch die Neuen Medien stärker als sonst grassierenden esoterischen Abschweifungen einzelner vermeintlich Berufener von den Wissenschaften.38) Die auf diese Weise entstehende, kreative Unruhe ist es, welche die meisten der Kritiker scheuen. Insofern haben wir die Lektion, die uns einst Thomas Kuhn gegeben hatte, noch längst nicht verarbeitet. Und viele halten deshalb lediglich am überlieferten Kanon fest.39 Stattdessen aber geht es in der 37 Man könnte auch Gerhard Kuebart aus der jüngeren Zeit zu diesem Kreis zählen, wenn diesem auch weniger Gleiches vorgeworfen worden ist, sondern er stattdessen eher ein Opfer der Berufungspolitik geworden ist. Was im Grunde aber auch für Kondylis in Anspruch genommen werden kann. Zum Werk Kuebarts sehe man neuerdings id.: F. W. J. von Schellings System der Weltalter von 1827/28 im Vergleich mit seiner Philosophie der Offenbarung. Kuebart, München (1972), Lemgo (2020). 38 Vgl. Rainer E. Zimmermann: Zwischen Parrhesie und Fake. Wissenschaftsverantwortung heute. In: Harald A. Mieg/Hans Lenk/Heinrich Parthey (Hg.), Wissenschaftsverantwortung, wvberlin, 2019, 181 – 197. 39 Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, daß Laska sogar in einem Roman Martin Walsers erwähnt wird: Martin Walser, Der Augenblick der Liebe, Rowohlt, Reinbek 2004. Laska selbst hat zu dem Thema Einiges geschrieben. Man sehe dazu: http://www.lsr-pro

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Hauptsache darum und ist mehr als erforderlich, den Mut zum innovativen Denken nicht zu verlernen.40 In dieser Hinsicht können wir uns an Panajotis Kondylis auch heute noch orientieren.

jekt.de/walser.html (04. 01. 2021) Der Roman beschreibt einen Besuch des Protagonisten in den USA, wo er einen Vortrag über La Mettrie hält, der gehörig verrissen wird. Die auf La Mettrie (und den Vortragenden) zielende Kritik, die eine Verbindung zum Umgang mit dem Holocaust herstellt, war durchaus der an Walser und seinem Roman selbst geübten Kritik sehr ähnlich. Im Kern geht es auch hier um die Nichtbeachtung der kanonisierten Konvention, zu der neuerdings auch die sogenannte Politische Korrektheit zählt. (Bei La Mettrie ist das seine Haltung zur christlichen Religion.) Noch heute ist dieses Thema weitgehend unverarbeitet geblieben, na mentlich von der sogenannten Fortschrittlichen Linken. Ganz aktuell müssen wir gerade mit einigen Auswüchsen dieses Problems leben. 40 Vgl. Rainer E. Zimmermann: Principiis Obstate! Totale Struktur und kritische Funktion. In: Rainer E. Zimmermann/Silke Järvenpää/Ralph-Miklas Dobler (Hg.), Signifikant, Jahrbuch für Strukturwandel und Diskurs, xenomoi, Berlin 2/2019, 231 – 249.

Wertungsenthaltung Watzlawicks Paradox und Kondylis’ „Macht und Entscheidung“ Michael Rumpf Nachdem die Gewässer des Christentums aus Europa zurückgedrängt worden waren, wurde sichtbar, daß der Glaube an objektive Werte und Normen nur in Rinnsalen überlebte. Überall zeigten sich Lachen des Relativismus und Immoralismus und dünsteten Subjektivität aus. Diese Diagnose stellt Kondylis in seiner fulminanten Darstellung der europäischen Aufklärung. Noch war die christliche Ontologie und Anthropologie nicht endgültig besiegt, drohten im Skeptizismus und Nihilismus die normativen Maßstäbe verloren zu gehen,1 weshalb die eigentlich in der Konsequenz der Aufklärung liegende Materialismus und seine Rehabilitation der Sinnlichkeit selten philosophische Urständ feierten. Vielmehr bildete die Aufklärung eine neue Metaphysik aus, deren Kernüberzeugungen empirisch nicht fundiert werden konnten. Für Kondylis gibt es keine grundsätzliche Überlegenheit der Aufklärung über die christliche Theologie, ihr Weltbild bleibt dem ihren ähnlich, da sie dieselben Hoffnungen bedienen und Funktionen erfüllen muß. Moral, einst von der Religion bestimmt, ging in die Zuständigkeit des Staates über, der zum Inbegriff der Sittlichkeit wurde. Die neu gewonnenen Landstriche erwiesen sich durch Maßnahmen der Aufklärung als fruchtbar, und die Erde konnte Versprechen halten, welche die religiöse Trockenheit als Vorzug erscheinen ließen. Die Hoffnung jedoch, daß der Staat nicht nur die kriegerischen Auseinandersetzungen der Konfessionen befrieden, sondern ein goldenes Zeitalter der arbeitsamen Behaglichkeit gewährleisten würde, trog. Der Kampf um die Macht auf den urbar gemachten Ländereien in Europa war ebenso blutig wie der um die Seelen der Gläubigen, die Bedeutung des Weges zu Gott ging auf die Handelswege zu Wasser und zu Lande über. Wohlstand wurde zur neuen Seligkeit, und der Staat sicherte ihn mittels seiner Gesetze. Gelang dies nicht, verlor er seine Legitimität. Durch wachsende und wuchernde Institutionen stabilisierte er die biologisch gegebene Verhaltensunsicherheit der Menschen und organisierte durch sein Erziehungssystem die Möglichkeit des Zusammenlebens großer Gruppen. Dabei konnte die Jurisprudenz sich unter Rückgriff auf das Naturrechts lange Zeit das Ansehen einer Instanz si1

Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 490 – 536. – Zum Zusammenhang der im vorliegenden Essay thematisierten Programmschrift mit zuvor veröffentlichten Werken vgl. Falk Horst, Von der Ideengeschichte zu „Macht und Entscheidung, in: Falk Horst (Hrsg.), Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission, Berlin 2007, S. 43 – 52.

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chern, die über den menschlichen Setzungen stand, zu denen Normen und Werte entzaubert worden waren. Aber sie verhinderte nicht, daß die menschlichen Begierden und Interessen weiterhin aufeinanderprallten. Die Konflikte konnten weder durch die Politik, die zum Schicksal wurde, noch durch philosophische und ethische Spekulationen und Konstruktionen geschlichtet werden. Weder Vater Staat noch Mutter Natur gelang es, die ehernen Gesetze eines Schöpfergottes zu ersetzen und die Erde, nicht nur ihre Trockengebiete, war wieder wüst und leer. Nachdem der theologische Kampf um das wahre Bibelverständnis unentschieden geblieben und damit unbefriedigend verlaufen war, erwies sich der Kampf der philosophischen Systeme und der von ihnen abhängigen politischen Wertungen als ebenso unfruchtbar und die in Position gebrachten Argumente als abhängig von Setzungen wie von Machtverhältnissen. Letzte Fragen, hier schließt Kondylis an Max Weber an, können nicht rational und argumentativ gelöst werden. Die transzendentale Obdachlosigkeit führt zu der Einsicht, daß allem menschlichen Handeln nicht weiter rückführbare Entscheidungen zugrunde liegen, selbst dann, wenn der Einzelne noch einem von der Tradition hintergründig bereitgestellten religiösen Weltbild huldigt. Solchen Entscheidungen liegen Werte und Normen zugrunde, die zugleich ihre Grundlage und ihre Grenze sind.2 Indem sie stabilisieren, verfestigen sie, und ihre Diagnosen erhalten etwas Dogmatisches. Indem in der Theorie immer unbestreitbarer wurde, daß letzte Positionen trotz rationalen Gehabes Entscheidungen des Theoretikers als Fundament dienen und dienen müssen, und der Wille zur Wahrheit immer die Bereitschaft zur Einseitigkeit bezeugt, bildete sich ein militanter Dezisionismus heraus, der von einer festen Normenburg aus konkurrierenden Weltbildern trotzte. Ihre logischen Schwierigkeiten will Panajotis Kondylis vermeiden und damit die Konsequenz aus den Erfahrungen der europäischen Neuzeit ziehen.3 * In der Einleitung seiner 1984 geschriebenen Programmschrift „Macht und Entscheidung“ bezeichnet Kondylis seine Theorie als „deskriptiven Dezisionismus“ und charakterisiert sie folgendermaßen: Sie steht dem bisher in Erscheinung getretenen Formen des „militanten Dezisionismus“ ebenso fern wie seinen weltanschaulichen Gegenideologien, da beide Parteien Normen und Wertungen voraussetzen. Für Kondylis ist „deskriptiv“ gleichbe2

Vgl. Michael Rumpf, Vom Werten und den Werten, in: Petra Kamberg/Friedemann Spicker/Jürgen Wilbert (Hrsg.), Wertsetzung – Wertschätzung. Der Aphorismus im Wandel der Werte, Bochum 2013, S. 25 – 30. 3 Kondylis charakterisiert seine historischen Werke als „Theorie der europäischen Neuzeit“, und diagnostiziert das Ende ihrer spezifischen Merkmale. Vgl. sein Interview mit Marin Terpstra 1994 in der „Deutsche(n) Zeitschrift für Philosophie“ veröffentlicht. Wiederabdruck in: Panajotis Kondylis, Machtfragen. Ausgewählte Beiträge zu Politik und Gesellschaft, „Skeptische Wahrheitssuche gegen normative Entscheidung“, Darmstadt 2006, S. 157 – 172. Das Zitat findet sich auf S. 160.

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deutend mit „wertfrei“. (S. 9) Der deskriptive Dezisionismus stellt keinerlei Sollensforderungen, er beschreibt nur und schreibt nichts vor. Damit ist eine größtmögliche Nähe zur Wissenschaft und ihrer Objektivität gegeben. Konsequenterweise lehnt Kondylis für sich die Rolle des Aufklärers oder Therapeuten ab. Er akzeptiert das Selbstverständnis des frei schwebenden Diagnostikers, der es, paradox formuliert, besser weiß, aber nicht, wie es weitergehen soll. Er bewertet nichts von dem, was er in der sozialen Wirklichkeit beobachtet, als gut oder schlecht. Die Unabhängigkeit und Interessenungebundenheit des deskriptiven Dezisionisten macht ihn zum unbeteiligten Beobachter am Spielfeldrand der gesellschaftlichen Kämpfe und Kräfte, was ihm die Übersicht des Außenstehenden ermöglicht. Er wahrt den Abstand und ist illusionsfrei. Aufgrund seiner Normenabstinenz kann er nicht zum Handeln oder zur Lebensbewältigung beitragen. Kondylis gesteht zu und ein, daß das „wert- und normgebundene Denken“ auf praktischem Gebiet überlegen und daher unvermeidbar ist. In dieser Hinsicht ist der deskriptive Dezisionist also unterlegen.4 Wollte ein Christ in den Himmel kommen und befolgte daher die Gebote seiner Religion, bedeutete dies Verzicht auf Freuden der Sinnlichkeit. Will der Leser dem Autor in das Paradies der unvoreingenommenen Erkenntnis folgen, bedeutet dies den Verzicht auf die Freuden der Illusionen vom moralisch Guten oder gar der gerechten Gesellschaft, zumal den Verzicht auf politische Utopien.5 Der Verzicht auf jede Norm und damit auf jedes Ideal impliziert für Kondylis, dem Anspruch auf „Selbsterhaltung und Macht“ zu entsagen, da dieser nur um den Preis einer normativen Entscheidung zu haben ist. (S. 12) Wer sich aus dem Kampf der Ideologien heraushält, darf nicht damit rechnen, mit Pfründen versehen oder in die Ambitionen einer Gemeinschaft integriert zu werden, wie es die Teilnahme an politischen Konflikten in Aussicht stellt. Der Verzicht des deskriptivem Dezisionismus auf Anleitungen zur Praxis gründet u. a. in Kondylis’ Überzeugung, der für eine solche Anleitung unabdingbare Normativismus sei in der Geschichte stets für die Selbsterhaltung und Machtsteigerung der ihn vertretenden Gruppen gebraucht worden und habe zu Kriegen geführt. Das erklärt, warum durch ihn trotz humaner Absichten nie ein harmonisches Zusammenleben der Menschen erreicht wurde. * Im ersten Teil seiner Analyse exponiert Kondylis ihre anthropologischen Voraussetzungen: Der Mensch ist ein instinktarmes Wesen, welches den Ausfall der durch Instinkte6 möglichen Bewältigung des Daseins mittels lebensgenerierender und le4 Zur Frage der Überlegenheit des deskriptiven Verfahrens siehe das genannte Interview (Anm. 2) S. 165. Zu den inhumanen Folgen des Normativismus ebendort S. 163/164. 5 Zu ihrer Kritik vgl. Panajotis Kondylis, Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001. 6 Kondylis spricht von der „mangelhaften Spezialisierung des menschlichen Organismus“ (S. 42). Dieser Mangel wird durch den menschlichen Geist kompensiert. (Vgl. S. 81) Damit greift er Themen der philosophischen Anthropologie von Arnold Gehlen auf. Zum Vergleich

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benserhaltender Verhaltenswiesen durch kulturell vermittelte Weltbilder ausgleichen muß. Die einzig existente „absolute Konstante“ dabei ist der „Selbsterhaltungstrieb.“ (S. 43) Er gibt die Grundentscheidung, die „Urentscheidung“ (S. 26) vor, er ist „die volle existenzielle Entscheidung des Subjekts“ (S. 28) Jeder Alltagsentschluß wie jede Lebensentscheidung eines Menschen setzt voraus, daß er am Leben bleiben will, und gewinnt Sinn aus einem Bezug auf den Selbsterhaltungstrieb und sei er noch so indirekt und vermittelt. Er steht hinter allen Entscheidungen, gleichgültig, welches Entscheidungssubjekt sie trifft, die Spezies, die Gruppe oder das Individuum (S. 40). Er steht damit auch hinter der Geschichte der Menschheit, die Kondylis als ewigen und unvermeidbaren7 Kampf von der Selbsterhaltung dienenden Weltanschauungen begreift, deren Sequenz weder einen religiösen Heilsplan noch ein geschichtsphilosophisches Gesetz erkennen läßt. Die These von der Abfolge polemisch auf einander antwortender religiöser oder philosophischer Gebäude variiert Hegels Abfolge der Stufen des Geistes, allerdings ohne Höherentwicklung zu dem und ihre Vollendung im absoluten Geist, bzw. die marxistische Ansicht, die Geschichte sei die Geschichte von Klassenkämpfen, allerdings ohne deren Ausrichtung auf das Endziel einer klassenlosen Gesellschaft.8 Das historische Chaos läßt zwar im Überbau eine Schaukelbewegung erkennen, eine Art Gesetzmäßigkeit, jedoch keine Zielgerichtetheit, kein Telos. (Vgl. S. 22) Kants Hoffnung, ein weiser Schöpfer habe dem Menschen die Zwietracht beschert, damit er sich durch Arbeit und Mühseligkeit fortentwickle,9 bemäntelt eine Illusion. Wahrheit offenbart sich nicht, und sie trägt auch nicht zur Entwicklung bei. Die Welt, in welcher der Mensch sich seit etwa 300.000 Jahren vorfindet, die ferne, menschenfreie Ur-Welt, die gerne erforscht und in Bilderbüchern für Kinder dargestellt wird, als hätten wir in ihr gelebt und die Dinosaurier quasi gefilmt, war eine wertlose Welt, weil in ihr ein Wesen fehlte, welches sie bewerten, also ihr zustimmen oder sie ablehnen, sich für sie oder gegen sie entscheiden konnte und mußte. Der Kosmos vom Urknall über die sich bildenden Nebel bis zu einem der Sterne, um den sich Planeten wälzen, auf deren einer, wie Arthur Schopenhauer formulierte, „ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat“, verdankt sich dem Zufall, der die Jahrmillionen genutzt hat, um sich in göttliche Gewänder zu kleiden. Das heißt, daß die Evolution sinnlos wie wertlos, sinnfrei wie wertfrei jene zwischen beiden Autoren: Falk Horst, Institutionen bei Kondylis und Gehlen, in „Zeno-Jahrheft, Zeitschrift für Literatur und Kritik“, Nr. 39, o.O. 2019, S. 116 – 133. 7 Zu physiologischen Grundlage der unvermeidlichen und die Praxis bestimmenden Weltbilder siehe Michael Shermer, The Believing Brain: From Spiritual Faiths to Political Convictions (2012). Er weist nach, daß das Gehirn eine Maschine zur Produktion von Überzeugungen ist. 8 Vgl. Wolfgang Schuller, Marx, Engels und Marxismus bei Panajotis Kondylis, in: Falk Horst (Hrsg.): Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission, Berlin 2007, S. 133 – 140. – In dem in Anm. 2 nachgewiesenen Interview betont Kondylis die Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus in seinem Leben. (S. 161) 9 Vgl. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke in 10 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1970, Bd. 9, S. 38/39.

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Vorhandenheit des Seins zustande gebracht hat (vgl. S. 117), der von ihrem ,höchsten Produkt‘, dem verständigen Menschen, ein Wert verliehen werden muß,10 so wie jedes Individuum die Sinnkoordinaten für sein Leben bestimmen muß, um seinem Selbsterhaltungstrieb ein kulturelles Bewährungsfeld zu geben. Kondylis’ analytischer Ansatz meidet nihilistische Konsequenzen, denn die Welt hat sich für den menschlichen Selbsterhaltungstrieb als geeignet erwiesen, zumindest bezeugen dies die Überlebens- und Ausbreitungserfolge seiner Spezies. In bestimmtem Sinn hat sich der homo sapiens die Erde untertan gemacht. Auch in einer sinnlosen Welt muß gehandelt werden. Das sinnlos entstandene Leben sucht sich zu erhalten und benötigt dazu, sofern es menschliches ist, eine Sinngebung Der Verlauf der Evolution begründet Kondylis’ Aussage, die Selbsterhaltung des Menschen sei „langfristig“ ohne „Selbststeigerung“ und das heißt für ihn ohne „Machtsteigerung“ nicht möglich. (S. 34) Sie ergibt sich durch die Auflösung einer „chaotische(n) Vorwelt“ und ermöglicht den Bau einer „organisierte(n) Welt“ (S. 35). Kondylis geht den Anklängen an die neukantianische Lehre von der Außenwelt als eines heterogenen Kontinuums nicht nach und läßt sich nicht auf die idealistischen Vorstellungen eines die Objektwelt gliedernden geistigen Vermögens des Menschen ein, sondern zielt auf ontologische und politische Zusammenhänge. Um zu überleben, muß der Mensch alles Feindliche in der Natur identifizieren und zurückdrängen können und in seinem Weltbild alles, wovon Gefahr ausgeht, als Feind definieren. Aus diesem elementaren und existenziellen Sachverhalt leitet er unmittelbar die „Anwesenheit“ des Feindes in der Entscheidung ab.11 Damit erreicht Kondylis den ersten Begriff des Titels seines Buches, nachdem er den zweiten, die Entscheidung, in seiner Darstellung vorgezogen hat, und pointiert, daß Entscheidung ihrem Wesen nach „Machtanspruch“ ist. (S. 36) So lautet auch der Titel seines ganzen ersten Kapitels. (S. 14) Will man diese Bestimmung auf Alltagsentscheidungen anwenden, kann sie überzogen wirken, wie ein Beispiel veranschaulicht. Wenn ein Individuum sich entscheidet, ein Brot zu essen, (was zunächst synonym klingt wie „sich entschließt“ oder vereinfacht, es essen „will“), erhebt es sicherlich den Anspruch, es in die Hände zu bekommen und seinen Hunger zu stillen. Aber wieso geht damit ein Machtanspruch einher, der einen „Kampf“ nach sich zieht? (S. 38) Eventuell, wenn andere Individuen ebenfalls Anspruch auf das Brot erheben. Aber das muß in einer Überflußgesellschaft nicht ausgefochten werden, jedenfalls ließen sich unterschiedliche Formen des Kampfes differenzieren. Bei Entscheidungen zur Ertüchtigung des eigenen Körpers 10 Dies gelingt besonders gut aus der Distanz des Astronauten. Der Buchautor Frank White hat 1987 für das von mehreren Raumfahrern bekundete Gefühl der Verbundenheit mit dem Planeten und der Ehrfurcht vor seiner Schönheit den Begriff „Overview-Effekt“ geprägt. 11 Von einer ihm oft vorgeworfenen Nähe zu Carl Schmitt grenzt Kondylis sich ab in seinem Aufsatz „Jurisprudenz, Ausnahmezustand und Entscheidung“, in: Der Staat, 34. Band 1995, Heft 3, S. 325 – 357. – Im erwähnten Interview (Anm. 2) spricht Kondylis vom „Janusgesicht der menschlichen Natur“ und anerkennt die Bedeutung und Realität von Freundschaft und Frieden. (S. 167)

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oder zur Schließung von Wissenslücken stünde der Kampf gegen sich selbst auf einer Ebene mit dem gegen einen äußeren Feind. Auf solche Varianten geht Kondylis in seiner Programmschrift nicht ein, er begnügt sich mit dem Hinweis, daß am „individuellen Entscheidungsvorgang … das Bewußte wie Unbewußte, Trieb und diskursive Vernunft“ beteiligt sind. (45) Da die kollektive Selbsterhaltung über der individuellen steht (analog zur biologischen Lehre, daß die Natur nicht das einzelne Lebewesen erhält, sondern die Spezies), analysiert er die Objektivierung der eigenen Entscheidung im gesellschaftlichen Rahmen. Nur in ihm gelingt es einem Subjekt, den Eindruck der Willkür zu vermeiden und dem vordergründig selbstgesetzten Lebenssinn die Weihe der Anerkennung durch eine soziale Gruppe zu geben. Indem der Selbsterhaltungstrieb in einer Kultur zum Kampf für etwas Höheres, Übersubjektives idealisiert wird, erreicht der ihm innewohnende Machtanspruch eine über das Biologische hinausreichende Wertung und Wertschätzung: Ihm gelingt in allen kulturell vermittelten Normen und Werten die auf Selbsttäuschung beruhende Funktion der Sinngebung für das Individuum und das es tragende Kollektiv. Der Überbau, so ließe sich Kondylis’ Denkansatz auf die Marxsche Begrifflichkeit beziehen, ruht auf einem trieblichen Fundament. Seine Sinngebungsinstanzen sind „Mythen, Religionen und Ideologien“, also „kollektive weltanschauliche Entscheidungen“. (S. 43) Bei ihnen ist der Machtanspruch ihrer Werte und Normen klarer als bei alltäglichen Entscheidungen des Individuums gegeben, die als Äußerungen eines Willens und seines Ausgreifens in die Welt unter den Aspekt eines Machtanspruchs gestellt werden können. Kondylis konzentriert sich auf eine Sozialphilosophie, die er auf der Einsicht in einen geschichtlich und damit empirisch beglaubigten unaufhörlichen und unvermeidlichen Machtkampf aufbaut. Für ihn rekurriert er nicht konkret auf die Konflikte zwischen Parteien oder Staaten, sondern auf den Kampf um Begriffe und ihre Interpretationen als den wesentlichen Bestandteilen der konkurrierenden Weltbilder, die aus den Entscheidungen hervorgehen und sie leiten. Den Kampf fechten Gesellschaften aus, die sich hierarchisch organisieren und ihre Mitglieder disziplinieren müssen, um zu überleben und sich selbst zu erhalten. Kondylis betont, daß es nicht die Werte sind, die gegen einander kämpfen, sondern konkrete Menschen, deren Kampf nicht durch Diskurse oder die pragmatische Einigung auf die nützlichsten Werte entschieden werden kann. Die Hoffnung der „Kleinbürger des Geistes“, den härteren Kampfformen ausweichen zu können, hält er für eine Illusion. Es gibt nicht nur Gegner, sondern Feinde, zumal nicht rational entschieden werden kann, welches der Universalität beanspruchenden Weltbilder der Wahrheit am überzeugendsten nahekommt. * Daß Kondylis weder den Begriff der Macht noch den der Entscheidung in seinem Abriß explizit definiert und in der Breite einer möglichen Phänomenologie diskutiert, bezeugt der Titel des dritten Kapitel seines Buches. Er lautet: „Macht und Ent-

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scheidung in der Front des ,Geistes‘“.12 Auch „Geist“ definiert er nicht, charakterisiert ihn aber vielfältig: Er ist im Gegensatz zu den befriedigbaren animalischen Trieben „ruhelos“ (S. 80), er ist das „menschliche Element par excellence“ (81) und damit als unterscheidendes Merkmal zwischen Mensch und Tier hervorzuheben. Geist ist entbehrungsfähig und benötigt im Gegensatz zum Trieb keine unmittelbare Bedürfnisstillung, sondern kann verzichten, aufschieben und sublimieren. Für Kondylis entwickelt er sich parallel zur Gesellschaft, ist lebensnah und lebensrelevant (eine klare Distanzierung von Ludwig Klages’ Vorstellung der Lebensfeindlichkeit des Geistes)13 und gewährleistet als Quelle der Normen den sozialen Zusammenhalt und damit die Selbsterhaltung des von einer Gruppe abhängigen Individuums. Im Kern ist der Geist polemisch und nutzt für seinen Kampf Idealismus und Normativismus, deren negative Auswirkungen Kondylis zu dem Bekenntnis veranlassen, jeden Idealismus „ausmerzen“ zu wollen (S. 85), eine Absicht, die nicht zu den Kennzeichen seines deskriptiven Dezisionismus paßt,14 für den er Wertfreiheit postuliert und die Enthaltung von Polemik. (S. 117, vgl. S. 124) Was die Unhintergehbarkeit und Unausrottbarkeit des idealisierenden Denkens angeht, gibt es in der Gesellschaft und vor allem in ihren Intellektuellenkreisen eine große Angst vor seiner Ausmerzung, denn sie würde zu einer Abschaffung der Wahrheit und der sich auf sie stützenden Machtansprüche und Lebensorientierungen führen. Diese Angst hat Kondylis nicht, mehrfach betont er, daß der deskriptive Dezisionismus die mit dem Normativismus verbundenen Illusionen nicht teilt. Normativistische Verkörperungen wie das Christentum und die Aufklärung belehren darüber, daß Erlösungsphantasien ihre Anhänger, die ihre Identität auf ihnen aufbauen, in logische Widersprüche verstricken, die sich mit komplexen Theorie-Entwürfen nicht entwirren, sondern nur überdecken lassen. Eine längere Passage führt aus, daß die Philosophie-Geschichte Schauplatz des Krieges ihrer Theorien ist, der auch in der Neuzeit durch methodologische Strategien nicht entschieden werden konnte.15 Auf den Krieg religiöser Konfessionen und Sekten folgte, wie gesagt, der Kampf der spekulativen Schulen und Zirkel. Als die Theologie ihre Magd, die Philosophie, aus ihrem Dienst entlassen hatte, setzte sich der Zwist aus dem Herrenhaus unverändert in den Gesindeunterkünften fort. Die Ansprü12 Ein genaues Verständnis von Kondylis anthropologisch fundiertem Machtbegriff ermöglicht der Bezug auf seine Notizen aus dem Nachlaß. Falk Horst hat die entsprechenden Zusammenhänge überzeugend dargestellt in „Von der Selbsterhaltung zum Machtstreben in ,Macht und Entscheidung‘“, in: Falk Horst (Hrsg.): Panajotis Kondylis und die Metamorphosen der Gesellschaft. Ohne Macht läßt sich nichts machen, Berlin 2019, S. 93 – 106. 13 Vgl. dazu S. 93 ff. die Bemerkungen um die Kontroverse zwischen Rationalismus und Irrationalismus. 14 Im Schlußteil betont Kondylis, den Normativismus nur zu schildern und ihn nicht vernichten zu wollen. (S. 124) 15 Auch der Ideenhistoriker Kurt Flasch vertritt die Auffassung vom agonalen Charakter der Philosophie. Vgl. Kurt Flasch, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt a. M., 2. Aufl. 2009.

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che auf Wahrheit blieben dabei unverändert Ansprüche auf Macht, wie sie „vom Wesen des Geistes“ nicht wegzudenken sind. (S. 116) * Im vierten Teil seines Buches greift Kondylis die Anfangscharakteristik des deskriptiven Dezisionismus auf: seine Wertfreiheit und Unbrauchbarkeit für soziale und politische Zwecke. Das gesellschaftlich organisierte Leben bedarf der es strukturierenden Werte und muß deren Objektivität voraussetzen, die jedoch nicht gegeben ist. Sie dienen den um Selbsterhaltung kämpfenden Individuen und Gruppen. Da der deskriptive Dezisionismus dies durchschaut, ist er ungeeignet für die aktive Teilnahme am sozialen Leben. (S. 118) Umso geeigneter ist er zur Erkenntnis der geschichtlichen und sozialen Wirklichkeit. Er kompensiert praktische Nutzlosigkeit durch größeren theoretischen Nutzen. Ihn zieht er aus seiner weltanschaulichen Illusionslosigkeit: Die Welt und der Mensch sind in seiner Sicht wert- und sinnlos, obendrein liegt das Böse in der Natur des Menschen. So nihilistisch solche Ontologie und Anthropologie erscheinen mag, im Selbstverständnis des deskriptiven Dezisionismus sind die deskriptiv gemeinten Wertungen so wenig negativ, wie sein Zentralbegriff der Macht negativ konnotiert werden darf.16 Kondylis rechnet mit dem Nihilismusvorwurf, und weist ihn mit der Begründung zurück, seine Theorie ebne keineswegs der Vernichtung der Welt den Weg.17 Ihre Praxisabstinenz schützt sie vor einem destruktiv aktiven Nihilismus.18 Und vor Widerlegungen, die als Auswirkungen der Selbstbehauptungsfunktion seine Thesen nur bestätigen können, was Überlegenheit und Unwiderlegbarkeit seiner Position erweist. (Damit stellt er unverhofft die Wissenschaftlichkeit seiner Thesen in Frage, sofern man mit Poppers Wissenschaftstheorie die Falsifizierbarkeit als wesentliches Kriterium des wissenschaftlichen Anspruchs akzeptiert.) Die normativen Weltbilder etwa des Christentums und der Aufklärung sind jedenfalls für den rationalen und realistischen, unvoreingenommenen Ansatz des deskriptiven Dezisionismus keine Feindbilder. * Der deskriptive Dezisionismus kommt, seinerseits illusionslos betrachtet, nicht ohne Wertungen aus. Denn natürlich liegt eine Wertung darin, den theoretischen Weitblick trotz seiner Untauglichkeit für praktisches Handeln zu bevorzugen. Auch die Phänomene der Religions- und Geistesgeschichte, die Kondylis für schilderungs- und analysewürdig hält, werden aufgrund von Wertungen ausgewählt. 16 Vgl. die berühmte Aussage von Jakob Burckhardt, daß die Macht an sich böse sei. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. v. Rudolf Marx, Stuttgart 1969, S. 97. Im folgenden Satz betont Burckhardt, daß die Macht eine unerfüllbare Gier ist, was an Kondylis’ Charakteristik des Geistes erinnert. 17 Daß dies für ihn der Unterschied zum ,echten‘ Nihilismus darstellt, betont Kondylis u. a. im Interview. Siehe Anm. 2. Dort S. 163. 18 Zur Vielschichtigkeit von Problem und Begriff vgl. Dieter Arendt (Hrsg.), Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte in der wissenschaftlichen Diskussion unseres Jahrhunderts, Darmstadt 1974.

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Schließlich befaßt sich Kondylis’ Scharfsinn und Gelehrsamkeit nicht mit dem Mithras-Kult oder der Bachblütentheorie; seine umfangreichen Studien gelten großen Namen oder Traditionen der europäischen Bildungswelt. Und seine Erkenntnisfähigkeit richtet sich vornehmlich auf das „Wesen“ eines Phänomens oder auf „Denkstrukturen“ (S. 122), um sich nicht von vordergründigen Antagonismen oder abweichendem Sprachgebrauch in die Irre führen lassen. Neben- und Hauptsächliches unterscheiden heißt jedoch werten. Nicht zuletzt ist es die in Kondylis’ Stil offenkundige Lust an Zuspitzungen und Pointen, an der Entscheidung, die in jedem Urteil liegt, die seinen Lesern Lektüregenuß und Erkenntnisgewinn bescheren, der den Verlust von als Illusionen enttarnten Hoffnungen ausgleichen kann. Auch wer wissenschaftlich wertfrei schildert und sich aus den Meinungskämpfen des polemisch veranlagten Geistes heraushält, kommt um Wertungen nicht herum. Der Beobachter am Spielfeldrand schildert ein beobachtenswertes Spiel. Der in Kärnten geborene und in Kalifornien gestorbene Psychoanalytiker und Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawick (1921 – 2007) ist mit der Erkenntnis bekannt geworden, daß man nicht nicht kommunizieren kann.19 Sie baut auf der grundlegenderen Einsicht auf, daß Verhalten kein Gegenteil kennt, der Mensch sich also nicht nicht verhalten kann. Watzlawick veranschaulicht sie an vielen Beispielen, etwa mit dem Hinweis, daß der Unterschied zwischen Schweigen und Reden insofern aufgehoben ist, als der Schweigende durch Gesichtsausdruck oder Körperhaltung zu verstehen gibt, daß es ablehnt, angesprochen zu werden. Es verwundert daher wenig, daß Kondylis, einen Machtanspruch seiner Analysen bestreitend, selbst den Gedanken äußert, eigentlich solle er wohl schweigen, und seine Inkonsequenz mit persönlichen Eigenschaften wie Eitelkeit oder Lust an der Provokation begründet. (S. 127) Der als Watzlawick-Paradox anerkannte Sachverhalt gilt natürlich ebenfalls für das Verhältnis von Werten und Nichtwerten. Es ist unmöglich, nicht zu werten. Wer nicht werten will, signalisiert damit, und das tut Kondylis, wie gesagt, ausdrücklich, daß er das Nichtwerten für wertvoller und sinnvoller hält als das Werten. Der deskriptive Dezisionismus entscheidet sich für die Deskription, er will sine ira et studio schildern und dem Dilemma des Vorschreibens entgehen, indem er das Beschreiben zur Norm erhebt. Er will das Empirische als Bollwerk gegen die anstürmenden Illusionen und Hoffnungen befestigen und die für Intellektuelle typische Produktion von Ideologien vermeiden, indem er historische Tatsachen zur Analyse heranzieht und die konkreten Lebenssituationen der Menschen berücksichtigt. Für Watzlawick aber bedeutet jede Kommunikation eine Stellungnahme.20 Und eine solche liegt in „Macht und Entscheidung“ eindeutig vor. Eine Stellungnahme zugunsten der Wertfreiheit nimmt Partei für Redlichkeit und Illusionsfreiheit, für normative Abstinenz und Verzicht auf Praxisrelevanz. Die wertfreie Analyse ist dabei weder motivlos noch absichtslos, sie spiegelt kein interesseloses, ästhetisches Wohlgefallen, sondern zielt auf objektive Erkenntnisse. Sie greift den von Max Weber etablierten 19 Paul Watzlawick, Man kann nicht nicht kommunizieren. Trude Trunk (Hrsg.), Das Lesebuch, 2. unveränderte Aufl., Bern 2016. 20 Ebda. S. 15.

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Begriff in dessen Sinn auf und trennt wie er Sein und Sollen streng. In seinem Vortrag „Der Sinn der ,Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ von 191721 plädiert Weber dafür, auf dem professoralen Katheder die Erkenntnisse der vertretenen Wissenschaften darzustellen, ohne sie mit den Wertungen der eigenen Kulturideale zu vermengen und sich nicht wie die zeitgenössischen Lebensphilosophen anheischig zu machen, die Studenten auf einen spezifischen Lebenssinn hin zu erziehen.22 Einer lebensphilosophischen Intention steht Kondylis Programmschrift konsequenterweise fern, sie rechnet vielmehr damit, die Chance auf Anhänger ihrer Ideen zu verlieren, eben weil sie keine Sollensforderungen erhebt (S. 126/127), sondern der Theorie die Bedeutung eines „selbstzweckhaften Guten“ verleiht.23 Allerdings schlägt sich Kondylis damit auf die eine Seite eines philosophischen Meinungsstreits, der nicht entschieden ist.24 So wenig wie der, ob die Gleichung Selbsterhaltung = Machtanspruch = Setzung von Normen und Werten = Normativismus und Idealismus zur Ablehnung als schädlich hin bis zur Verursachung von Kriegen führen muß und damit zur polemischen Gegenposition eines deskriptiven Dezisionismus, dessen Beobachterposition die Frage zu reflektieren hätte, ob nicht jede Beobachtung auf das Beobachtete Einfluß nimmt, eine Frage, welche die Naturwissenschaft in der Quantentheorie bereits bejahen mußte. Watzlawicks Paradoxon müßte dann die Konsequenz nach sich ziehen, daß es nicht möglich ist, keinen Einfluß zu haben. Die Rezeption von Kondylis’ geisteswissenschaftlichen Standardwerken jedenfalls hat ihm zu verdientem Ansehen verholfen. Und dies, weil ihr Autor unbeirrt und zu Recht am Wert einer übersubjektiven Wahrheit und der Möglichkeit von philosophischen Erkenntnissen festhält.

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In: Max Weber, Schriften 1894 – 1922, ausgew. und hrsg. von Dirk Kaesler, Stuttgart 2002, S. 358 – 394. 22 Eine an die Forschungen von W. Hennis anschließende Darstellung des richtigen, die Vorwürfe des Positivismus der Frankfurter Schule widerlegenden Verständnisses von Max Webers Begriff der Wertfreiheit bietet der entsprechende Artikel in: Metzler Philosophie Lexikon, hrsg. v. Peter Prechtl/Franz-Peter Burkhard, Stuttgart/Weimar 1999, S. 658. 23 So formuliert Peter Furth in seinem Aufsatz „Aufklärer ohne Mission. Über die Position von Panajotis Kondylis“ im gleichnamigen Sammelband. (S. 73) Vgl. Anm. 1. 24 Vgl. dazu z. B. die Artikel „Sollen“ in philosophischen Lexika. Z. B. Rudolf Eisler, Handwörterbuch der Philosophie, Berlin 1913, S. 623/624. Oder: Metzler Philosophie Lexikon, S. 549/550.

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I. Die Denkfiguren von Moderne und Postmoderne Der Philosophie- und Sozialhistoriker Panajotis Kondylis (1943 – 1998) unterscheidet in „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“1 die Epochen Moderne und Postmoderne nicht aufgrund von Inhalten, sondern von „Denkfiguren“. Wie er bei der Darstellung seines philosophisch-anthropologischen Ansatzes in „Macht und Entscheidung“2 betont, verstellen die Inhalte den Blick auf die aufschlussreichen Denkfiguren. So geht beim Blick auf einzelne Inhalte der für das Ganze und die epochentypischen Denkfiguren verloren. Diese lassen sich in unterschiedlichen Variationen in den Bereichen des Ideellen und in dem Geschehen nachweisen, die Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen. Dabei zeigt sich die enge Verflechtung von geistesgeschichtlichen und historisch-soziologischen Phänomenen. Die Differenzierung dieser Figuren ermöglicht die Unterscheidung von Gesellschaftsformationen, weil deren jeweilige inhaltliche Gemeinsamkeiten auf jeweils eine formale Gemeinsamkeit rückführbar sind. „Überbau“ und „Basis“ wirken wechselseitig aufeinander ein, wobei zum „Überbau“ Ideologien und internalisierte Handlungsgrundsätze gehören.3 „Die Fruchtbarkeit dieses Verfahrens wird durch den Nachweis bestätigt, zwischen der zentralen Denkfigur, die in verschiedenen Varia1 Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Berlin 2010. 2 Panajotis Kondylis, Machtfragen, Darmstadt 2006. 3 Diese These findet in der Kritik von Herfried u. Marina Münkler, Abschied vom Abstieg, Berlin 2019 am Niedergangbuch von Kondylis keinerlei Beachtung. Für Münklers wird z. B. eine Technik moderner Massenproduktion, die eine Überflussgesellschaft hervorbringt, nicht zu mentalen Veränderungen gegenüber einer Mangelgesellschaft führen. Massenkonsum hat für Kondylis zur Voraussetzung, wenn dieser durch hedonistische Einstellungen befeuert wird. Für Münklers ist eine solche Feststellung eine „konservativ-pessimistische“ Sichtweise, wenn Kondylis „davon spricht, dass sich mit der hedonistischen Ethik auch eine Lebensführung der Spontaneität durchgesetzt habe […] auf dem ,Markt der Werte‘ ständig neue Produkte lanciert würden.“ (S. 461) Münkler widerruft damit stillschweigend seine Einschätzung in „Mitte und Maß“, Hamburg 2012, wo er konstatiert, nach dem Zweiten Weltkrieg habe eine „Entbürgerlichung“ (S. 47) eingesetzt, und die bürgerlichen Tugenden „sind vielmehr von konsumistisch-hedonistischen Einstellungen und Erwartungen überlagert, sodass ein Potpourri der Werte und Haltungen entstanden ist, das die Mitte nach allen Seiten offen hält.“ (S. 48) Für das, was er hier beobachtet, gibt Kondylis, anders als Münkler, eine die Genese der beobachteten Phänomene umfassende Erklärung.

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tionen alle Bereiche des Ideellen erfasst, und den in Wirtschaft und Gesellschaft bestimmenden Erscheinungen und Tendenzen gebe es eine genaue strukturelle Entsprechung.“4 Der Übergang von der liberal-aufklärerischen Moderne hin zur massendemokratischen Postmoderne habe zu einer Änderung der sozial vorherrschenden Denkfigur geführt.5 Mit deren Analyse erreicht Kondylis eine Abstraktionsstufe, auf den darunter liegende Abstraktionsschritte hin ausgerichtet sind. Diese sind so detailliert, dass auf illustrierende Einzelbeispiele für die Epochenkennzeichnung verzichtet werden kann. Vielmehr soll der Leser selbst aufgrund seiner Vorkenntnisse die aus seiner jeweiligen Perspektive passenden Belege ergänzen. Aus diesem Grund wollte Kondylis auf illustrierende Beispiele verzichten, die nur die Frage nach der Auswahl provoziert und die Darstellung umfangreicher und weniger übersichtlich gemacht hätten. Andere Autoren haben für diese Epochenbeschreibung einen induktiven Weg beschritten, indem sie über Beispiele zu Verallgemeinerungen gelangen und damit anschaulich bleiben, aber auf diese Weise nicht das allen Gemeinsame erfassen.6 Damit bleibt der Kennzeichnungsbereich der Epoche enger, als dies durch die das jeweils formal Gemeinsame erfassenden „Denkfiguren“ möglich ist, die die verschiedenen geistigen Produktionen – die künstlerischen, die der Geistesund Naturwissenschaften – und zugleich die Lebensformen charakterisieren. Auf induktive Weise hätte Kondylis für den Leser kaum eine klare Übersicht geben können. Im Folgenden soll das, was er als Epochenkennzeichen angibt, an einigen, vor allem literarischen Beispielen veranschaulicht werden, ein Bereich, der einer unter vielen ist.

II. Die synthetisch-harmonische Denkfigur und die Ideologie des Bürgertums Die Moderne umfasst nach der Kennzeichnung von Kondylis im Wesentlichen das bürgerliche Zeitalter, für das die synthetisch-harmonische Denkfigur kennzeichnend ist, von der sich im polemischen Gegensatz die analytisch-kombinatorische der Postmoderne absetzt, die das bürgerliche Zeitalter beendet. Die Postmoderne beginnt etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verstärkt sich nach dem I. Weltkrieg. Weil wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung und diese mit der Geistesgeschichte verflochten sind, gibt die jeweilige Denkfigur zugleich eine Erklärung dafür, gegen welche Gesellschaftsformation sie gerichtet ist. Denn jede Position 4 Niedergang, S. 7. Für Kondylis besteht eine organische Entsprechung zwischen der literarisch-künstlerischen und der historisch-soziologischen Komponente, daher ließen sie sich auf einen gemeinsamen interpretatorischen Nenner bringen (S. 8 f.); die gemeinsame Denkfigur erstrecke sich auch auf Philosophie und Natur- und Geisteswissenschaften (S. 12). 5 Niedergang, S. 15. 6 Z. B. Zygmunt Baumann, Leben als Konsum; Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus; Verfall und Ende des öffentlichen Lebens; Wolfgang Sofsky, Verteidigung des Privaten; Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne; Weg aus der Moderne.

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entsteht als Gegenposition – wie Kondylis in seinen geistesgeschichtlichen Arbeiten, vor allem im Aufklärungsbuch7, belegt. Das aufstrebende Bürgertum sah im Adel und damit in der societas civilis den Gegner, dem es ein Welt- und Menschenbild entgegensetzte, das seinen eigenen Machtanspruch rechtfertigte. Dabei wurde das Modell der societas civilis oft nur umgedeutet: Das Einzelne schließt sich einem Ganzen an und dieses ist mehr als nur die Summe seiner Teile, denn sie ergänzen sich durch Zusammenschluss. Sie sind vom Ganzen durchdrungen und fügen sich ihm bei aller Eigenständigkeit freiwillig ein.8 Die Teile werden dabei von ihrer Funktion her gedacht, und dennoch geht dabei ihre (aristotelische) Substanz nicht verloren, denn die Substanzialität wird gebraucht, weil sie eine objektive Einordnung der Teile auf der jeweiligen Stufe des Ganzen erlaubt. Dieses Modell ist auf ein soziales Gebilde beziehbar, für das die feste soziale Gliederung des ordo-Modells der societas civilis zu gelten scheint. Aber diese Gliederung ist nicht unüberwindlich und nicht vorgegeben; wird sie überwunden, bleibt die Harmonie des Ganzen erhalten. Die synthetisch-harmonische Denkfigur ist als Ideologie für ein Deutschland, das bis weit ins 19. Jh. aus Kleinstaaten bestand, bedeutsam, denn die ideologisch begründete Verbindung zwischen Individuum und Ganzem bezieht sich immer wieder auf das Gemeinwohl eines sozialen Verbandes, dem sich das Individuum einfügt – für Aufklärung und Weimarer Klassik ist dies nicht zuletzt ein als kulturell und demokratisch gedeutetes Kollektiv. Die nötigen verinnerlichten Regeln und Normen garantieren eine Innenlenkung.9 Die geistesgeschichtliche Differenzierung der für die jeweilige Epoche gültigen Denkfiguren bringt also zugleich auch Elemente einer politischen Anthropologie in den Fokus. – Das Bürgertum propagiert die synthetisch-harmonische Denkfigur, mit der sie auf ihre politische Rolle und Bedeutung gegenüber dem societas civilis-Modell aufmerksam machen kann. Die nachgelassenen Notate von Kondylis zeigen die herausragende Stellung des Gemeinwohls in seiner politischen Anthropologie: Kultur, also Vergesellschaftung ist die Voraussetzung der Menschwerdung. Das Leben in Gesellschaft zwingt das ungesellig-gesellige Menschenwesen zu sozialer Disziplinierung, denn das Individuum hat sich dem Allgemeinwohl zu fügen, weil es nur im Kollektiv überleben kann; also muss es sich diesem einfügen und dessen Überleben sichern helfen. Soziale Diszi7 Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, dtv 1986, Meiner Verlag Hamburg, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002. 8 „Das Schema ,Ganzes-Teile‘ gewinnt fortab immer mehr an Bedeutung als allgemeingültiges Darstellungs- und Erklärungsmuster, wobei sein polemischer Aspekt nicht übersehen werden darf: denn es verdrängt die Auffassung der societas civilis über die hierarchische Ordnung der Bestandteile der Welt sowohl im Bereich der Natur als auch im Bereich der Gesellschaft. Wenn das harmonische Ganze in der Vorstellung der societas civilis einer Pyramide ähnelte, so sieht es nun eher wie eine Kugel aus.“ Niedergang, S. 28 f. 9 David Riesman, Die einsame Masse, Hamburg 1958 unterscheidet epochentypische Innen- und Außenlenkung.

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plinierung ist der zentrale Begriff, um den sich für Kondylis alles dreht, was mit Vergesellschaftung zu tun hat – und damit die Verinnerlichung von Normen, das Politische, die Politik, Herrscherpflicht, Befehl und Gehorsam, Institution, Legalität und Legitimität und nicht zuletzt die metaphysische Begründung der Normen und damit verbunden die Beantwortung der Sinnfrage.10 Die Weimarer Klassik formuliert den Wertekanon des selbstbewussten Bürgertums polemisch gegen das Modell der societas civilis; dieser schenkt dem allgemeinen Wohl durch den Gedanken Hochschätzung, das Individuum unterstütze entsprechend seiner zu entwickelnden Fähigkeiten das Allgemeinwohl; ein Gedanke, der im „Wilhelm Meister“, dem klassischen Entwicklungsroman der Epoche, nicht fehlen darf:11 Nach einigen Zwischenreden fuhr Juliette fort, weiter aufzuklären, wie es gemeint sei: ,Jeder suche den Besitz, der ihm von der Natur, von dem Schicksal gegönnt ward, zu würdigen, zu erhalten, zu steigern; er greife mit allen seinen Fertigkeiten so weit umher, als er zu reichen fähig ist; immer aber denke er dabei, wie er andere daran will teilnehmen lassen: denn nur insofern werden die Vermögenden geschätzt, als andere durch sie genießen.‘ Indem man sich nun nach Beispielen umsah, fand sich der Freund erst in seinem Fache; man wetteiferte, man überbot sich, um jene lakonischen Worte recht wahr zu finden. Warum, hieß es, verehrt man den Fürsten, als weil er einen jeden in Tätigkeit setzten, fördern, begünstigen und seiner absoluten Gewalt gleichsam teilhaft machen kann? Warum schaut alles nach dem Reichen, als weil er, der Bedürftigste, überall Teilnehmer an seinem Überflusse wünscht? Warum beneiden alle Menschen den Dichter? weil seine Natur die Mitteilung nötig macht, ja die Mitteilung selbst ist […] Nun hieß es ferner im allgemeinen: jede Art von Besitz soll der Mensch festhalten, er soll sich zum Mittelpunkt machen, von dem das Gemeingut ausgehen kann; er muß Egoist sein, um nicht Egoist zu werden, zusammenhalten, damit er spenden könne. Was soll es heißen, Besitz und Gut an die Armen zu geben? Löblicher ist, sich für sie als Verwalter betragen. Dies ist der Sinn der Worte: ,Besitz und Gemeingut‘.

Juliette fordert, jeder solle seine von der Natur geschenkten Kräfte erhalten, denn damit stärke er das „Gemeingut“. Die synthetisch-harmonische Denkfigur stellt das Modell einer von Gott auf Harmonie hin angelegten Welt einem überholten ordo-Modell entgegen. Unter dem Gesichtspunkt, dem natürlichen Anerkennungsbedürfnis zu folgen, werden der Fürst, der Reiche und der Dichter in ihrer genuinen Hilfe für den Mitmenschen betrachtet. Insofern ist jeder, der seine Fähigkeiten übt, für den anderen ein „Vermögender“, als der er nach allgemeiner Achtung strebt. Der Fürst wird darum 10 Die über 4.000 nachgelassenen Notate, (eine erste, vorläufige Sammlung,) waren für die Bände II und III der „Sozialontologie“ vorgesehen. Sie sollen in der Übersetzung aus dem Griechischen durch Fotis Dimitriou im Jahr 2022 veröffentlicht werden. Kondylis hatte u. a. ein Thema „politische Anthropologie“ geplant, in dem er nachweist, dass sich alle zentralen Begriffe des Politischen auf das allgemeine Wohl und den Erhalt des Kollektivs beziehen. 11 J. W. von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre I, Goethes Werke (HA) Bd. 8, S. 68 f.

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in seinem Potential verehrt, andere in Tätigkeit setzen und fördern zu können, also in dem, was ihnen ohnedies vom Harmoniegedanken aufgetragen ist. In diesem gesellschaftlichen Idealbild erscheint das Wesen des Reichen als das des Spenders, der andere an seinem Überfluss teilhaben lässt. Das demokratische Prinzip löst die Hierarchie der societas civilis bzw. des Absolutismus ab. Die Antwort auf die Frage, weshalb alle Menschen den Dichter beneiden, nämlich weil seine Natur die Mitteilung selbst sei, schließt ein, dessen Wesen bilde die gesteigerte Form des jedem Menschen eigenen Mitteilungsbedürfnisses als soziales Wesen. So sind die einzelnen gesellschaftlichen Aufgaben und Rollen jeweils bestimmte und spezielle Formen des Grundbedürfnisses nach sozialem Austausch. Die Fortsetzung des Gedankenganges vom Axiom des in der Natur angelegten allumfassenden Guten führt auf die Idee von der Heterogonie der Zwecke bzw. auf die unsichtbare Hand Gottes, die z. B. Adam Smith im Lob des freien Handels preist, bei dem sogar der Egoist seinen Mitmenschen nützt, weil er Güter zusammenträgt und durch den sozialen Bezug allgemeinen Nutzen stiftet. Dabei soll der Egoist, seinem Wesen entsprechend, „Besitz und Gut“ nicht so verausgaben, dass er nichts behält, sondern, „löblicher“, der bürgerlichen Tugend von Sparsamkeit und Vorsorge in einer Mangelgesellschaft verpflichtet, „Verwalter“ der Güter sein, von deren Überschuss abgeben und die Substanz, aus der jener erwächst, nicht angreifen. In der, wie gesagt, polemischen Abgrenzung gegen die societas civilis war im 18. und 19. Jahrhundert die transzendente Bindung der Normen und Werte selbstverständlich und vertraut – was für die nachfolgende Epoche der Postmoderne bzw. der analytisch-kombinatorischen Denkfigur nicht mehr selbstverständlich ist. Mit der synthetisch-harmonisierenden Denkfigur kann das für die societas civilis gültige antik-christliche Welt- und Menschenbild mit seiner Gegensätzlichkeit von Natur und Vernunft, Geist und Materie, Norm und Trieb tendenziell aufgegeben werden. An die Stelle der dualistischen tritt eine monistische Vorstellung. So wird die Vernunft, die im antik-christlichen Bild des Menschen die Triebe einer ständigen Kontrolle unterwirft – wie es das platonische Bild vom Wagenlenker (Vernunft) über die zu lenkenden Pferde (Triebe) beschreibt – zur Beraterin der Triebe. Denn diese sind von sich aus gut und somit nicht Widerpart der Vernunft, sondern deren Partner. Sie werden von einer normativ überhöhten, einer vollkommenen Natur geschenkt und sind somit schätzenswert. Hier ist der Mensch, wie ihn die Natur hervorbrachte – z. B. bei Schiller der naive Mensch – von sich aus gut. Nur durch „Entfremdung“ kann er mit sich selbst in Widerspruch geraten und vom natürlich-guten Weg abirren. Hatte im antik-christlichen Menschenbild die Seele, der „Geist“ den Zugang zum normgebenden Transzendenten, so vertritt im modernen die „Vernunft“ als Teil der guten und geordneten Natur normative Forderungen. „Vernunft“ bildet für das bürgerliche Menschenbild das organisatorische Prinzip der Harmonie. So wandelt sich die instinktive Selbstsucht, indem sie das eigene Interesse darin sieht, Freiheit und Rechte des anderen zu respektieren. Im Rahmen der gegen das Weltbild der societas civilis gerichteten Aufwertung der

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Natur tritt nun der Primat der Anthropologie an die Stelle des für die societas civilis geltenden Primats der Theologie12. Beispielhaft bedient sich Fichte bei seinen Forderungen dem der harmonisch-synthetischen Denkfigur entsprechenden Menschen: „Der Mensch kann weder ererbt, noch verkauft, noch verschenkt werden; er kann niemandes Eigenthum seyn, weil er sein eigenes Eigenthum ist, und bleiben muß. Er trägt tief in seiner Brust einen Götterfunken, der ihn über die Thierheit erhöht und ihn zum Mitbürger einer Welt macht, deren erstes Mitglied Gott ist, – sein Gewissen. Dieses gebietet ihm schlechthin und unbedingt – dieses zu wollen, jenes nicht zu wollen; und dies frei und aus eigener Bewegung, ohne allen Zwang außer ihm. Soll er dieser inneren Stimme gehorchen – und sie gebietet dies schlechterdings – so muß er auch von außen nicht gezwungen, so muß er von allem fremden Einflusse befreit werden. Es darf mithin kein Fremder über ihn schalten; er selbst muß es, nach Maßgabe des Gesetzes in ihm, thun: er ist frei und muß frei bleiben; nichts darf ihm gebieten, als dieses Gesetz in ihm, denn es ist sein alleiniges Gesetz – und er widerspricht diesem Gesetze, wenn er sich ein anderes aufdringen läßt – die Menschheit in ihm wird vernichtet, und er zur Klasse der Thiere herabgewürdigt.“13

Für Fichte gilt, dass wir unser Bewusstsein der dinglichen Welt mit unserem Vorstellungsvermögen hervorbringen. Der Begriff „Götterfunken“ legt den Gedanken nahe, das Gewissen als sittliche Entscheidungsinstanz sei nicht durch gesellschaftliche Regeln von außen geprägt, sondern Anlage als auch inhaltliche Ausformung seien dem Menschen von Geburt mitgegeben. Dank der Gottebenbildlichkeit habe er teil an einer Welt, „deren erstes Mitglied Gott ist“. Dieser lenkt nicht mehr direkt die Geschicke der Welt, denn seine Geschöpfe tragen das Gesetz des Handelns in sich. Das gilt für jeden Einzelnen; er muss im Vollzug dieses Willens frei sein, denn sonst verliert er sein so definiertes Menschsein. Der „Götterfunken“ begründet radikale demokratische Forderungen. Wer andere hindert, diesem zu gehorchen – so wäre zu folgern – handele „entfremdet“. Die Orientierung am eigenen „Herzen“, der inneren Stimme, gibt dem Bürger Selbstvertrauen gegenüber dem Adel. Wertvoller als dessen Macht ist die Herzensbildung des Bürgers; so zeigt es beispielhaft ein Brief Mozarts. Einleitend rät er seinem Vater zu einem möglichst ökonomischen Postversand und kommt dann auf Spannungen zu sprechen, die jener und er selbst mit Adeligen, mit „Hofschranzen“, erlebt haben und wie er sich dabei verhalte: Mon très cher Père! Wien, den 20. Juni 1781 […] – daß sie die Hofschranzen über die querre ansehen werden, will ich gerne glauben; doch was haben sie sich aus solchem Elenden Gesinde zu machen. wie feindlicher dass diese leute gegen sie sind, desto stolzer und verrächtlicher müssen sie sie ansehen;

12 Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Berlin 2010, S. 32. 13 Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814), Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, 1793. Fichtes Werke Bd. VI. hrsg. v. I. H. Fichte, Berlin 1845/46, Nachdruck 1971, S. 11 f.

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wegen dem arco14 darf ich nur meine vernunft und mein Herz zu rathe ziehen, und brauche also gar keine damme oder Personn vom stande dazu, um das zu thun was recht und billig ist, was nicht zu viel und zu wenig ist; – das Herz adelt den Menschen; und wenn ich schon kein graf bin, so habe ich vielleicht mehr Ehre im leib als mancher graf; und hausknecht oder graf, sobald er mich beschimpft, so ist er ein hundsfut. – ich werde ihm von anfang ganz vernünftig vorstellen, wie schlecht und übel er seine sache gemacht habe; – zum schlusse aber muß ich ihm doch schriftlich versichern daß er gewis von mir einen fuß im arsch, und noch ein paar ohrfeigen zu gewarten hat; – denn, wenn mich einer beleidigt, so muß ich mich rächen; und thue ich nicht mehr als er mir angethan, so ist es nur wiedervergeltung und keine strafe nicht; und noch dazu würde ich mich mit ihm in gleichheit stellen, und da bin ich wahrlich zu stolz dazu, als daß ich mich mit so einem dummen schöps verglieche. […]15

Das Selbstwertgefühl ist nicht auf außerordentliche Leistungen gegründet, was für Mozart naheliegen könnte, sondern auf den Adel des Herzens, über den jeder, gleich welchen Standes, verfüge. Dies bekräftigt Mozart durch die Erinnerung an eine Beleidigung durch den Grafen Arco, für dessen angemessene Erwiderung er keine Belehrung im Sinne der geltenden Regeln brauche, denn hier gehe es allein um die Frage, wozu das Herz rate. Die Standesunterschiede können nicht unterschiedliches Recht begründen, wie dies für die Zeit der societas civilis noch galt. Wenn Mozart sich für eine Beleidigung durch den Grafen rächen würde, wäre es nur „Wiedervergeltung“ und nicht einmal eine Strafe, und wenn er auf sie verzichte, dann deshalb, weil er sich in seinem Stolz, dem Bewusstsein seines inneren Wertes dem Grafen überlegen fühle. – Ein ausgezeichneter Wert ist zumal die Liebe als Stimme des Herzens, deren Stärke die Befreiung von Konventionen und tradiertem Rollenverständnis vollbringen kann, wie es Goethe idealisiert in einem Rollengedicht eine Frau aussprechen lässt.16 Vor Gericht – J. W. v. Goethe Von wem ich’s habe, das sag’ ich euch nicht, Das Kind in meinem Leib. Pfui, speit ihr aus, die Hure da! Bin doch ein ehrlich Weib. Mit wem ich mich traute, das sag’ ich euch nicht, Mein Schatz ist lieb und gut, Trägt er seine goldne Kett’ am Hals, Trägt er einen strohernen Hut. Soll Spott und Hohn getragen sein, Trag’ ich allein den Hohn. Ich kenn’ ihn wohl, er kennt mich wohl, Und Gott weiß auch davon.

14 Karl Joseph Maria Felix Graf Arco (1743 – 1830) war Kämmerer des Salzburger Fürsterzbischofs. 15 Mozarts Briefe, hrsg. von Ludwig Nohl, 2012, S. 234. 16 J .W. v. Goethe, Werke, HA, Bd. 1, S. 85.

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Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr, Ich bitt’, laßt mich in Ruh! Es ist mein Kind und bleibt mein Kind, Ihr gebt mir ja nichts dazu.

Der Titel des Gedichts spielt auf eine zeitgenössische Regelung an, bei der durch gerichtliches Befragen die unverheiratet Schwangere den Kindsvater preisgeben soll, damit dieser zu Unterhaltszahlungen veranlasst werden kann; doch eine selbstbewusste Frau verweigert sich einem solchen Gericht. Jeweils zu Beginn der ersten beiden Strophen wird die Aufforderung dazu abgewiesen und die Weigerung begründet. Angesprochen werden dabei schließlich in der vierten Strophe die beiden direkt benannten Amtspersonen, Amtmann und Pfarrer, deren Autorität die Frau beeindrucken soll. In ihrer Antwort spricht sie indirekt eine Öffentlichkeit und deren üble Nachrede an, gegen die sie ihre Unbescholtenheit verteidigt („ehrlich Weib“). Denn wenn sie auch nicht vor der Welt mit ihrem Liebsten verheiratet sei, so sei sie es doch vor Gott (V. 12). Dieser ist für sie Rechtfertigungsinstanz, dagegen haben weder Trauschein noch soziale Stellung des Geliebten Bedeutung. Allein die Liebe zählt, die auf den Seelenadel („lieb und gut“) gründet. Dem vertraut sie wie ihrer Liebe als der von Gott bzw. der Natur geschenkten inneren Stimme. Sie verleiht ihr den selbstbewussten Mut, Spott und Hohn der Welt zu ertragen und den Geliebten davor zu schützen. Nachdem die dritte Strophe ihr Bekenntnis zu Gott als Rechtfertigungsinstanz nennt, wird in der vierten Strophe die Trennung zwischen öffentlich und privat reklamiert: Die Mutterschaft ginge die Amtspersonen nichts an, denn sie würden ihr finanziell nicht helfen. – Die Frau verteidigt sich durch den Hinweis auf den Widerspruch, zwischen der bürgerlichen Hochschätzung innerer Werte, dem damit verbundenen bürgerlichen Ideal der Liebesheirat und der üblen Nachrede.17 Die Beispiele bürgerlichen Selbstbewusstseins lassen sich verallgemeinern: Der Liberalismus des Bürgertums schützt Individualismus und propagierte Gleichheit gegen die Unterwerfung des Individuums unter ständische Bindungen und die daraus abgeleiteten hierarchischen Beziehungen der societas civilis. Ihr gegenüber wurde der Herrschaftsanspruch mit der Forderung nach freier individueller Entfaltung innerhalb einer sich öffnenden Gesellschaft begründet. Die Gleichheitsforderung spiegelte sich z. B. auch in seinerzeit verbreiteten Beschreibungen eines idyllischen menschlichen Naturzustandes. Diese Utopie impliziert demokratische Forderungen, die dem bürgerlichen Liberalismus fremd waren, denn von seinem Wesen her war er oligarchisch. Damit stand er im Widerspruch zum Grundsatz, „dass bürgerliche Herr17 Hier wird das durch innere Werte bestimmte Liebesideal gefeiert. Die Liebesheirat wurde zuerst in England, wo die Industrialisierung begann, von den gehobenen Schichten propagiert und später vom ökonomisch nachfolgenden Kontinentaleuropa übernommen. Das bürgerliche Ideal der Liebesheirat ironisiert z. B. Theodor Fontane in der Phase des etablierten Bürgertums im Roman „Frau Jenni Treibel“, wenn die neureiche, wenig gebildete Treibel die Geldheirat gegen die Liebesheirat durchsetzt und hier das bürgerliche Ideal des Bildungsbürgers als verzichtbaren Schmuck verachtet.

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schaft nur im Rahmen einer ökonomisch, sozial und ideologisch pluralistischen Gesellschaft möglich war.“18 In der zeitlichen Reihe der geistigen Schöpfungen der Moderne werden der Ideologie des bürgerlichen Liberalismus mehr und mehr Elemente einer egalitär-demokratischen Denkfigur eingefügt. Die Kultur der Moderne bildete den säkularen Ersatz für das überkommene ideologische Monopol der Theologie. Diesem wurde „die Autonomie und Vielfalt der kulturellen Sphäre“ gegenübergestellt und damit unbeabsichtigt „die freie Entfaltung antibürgerlicher Kräfte und Ideen innerhalb dieser selben Sphäre“ ermöglicht.19 Die Ideologie des Bürgertums enthält also einen selbstzerstörerischen Widerspruch, der umso deutlicher hervortrat, je mehr sich die egalitären Tendenzen gesellschaftlich durchsetzten, zumal sie durch technische Entwicklung und damit einhergehende Arbeitsteilung gefördert wurden. Die bürgerliche Ideologie prägt das Kunstideal, das auf enge Verbindung des Ästhetischen mit dem Ethischen, also die des Schönen, Guten und Wahren zielt. Das Individuelle sollte sich den sozialen Erfordernissen zwanglos einordnen. „In ihrer ständigen Verbindung und Auseinandersetzung mit dem höheren Reich der Werte sowie mit den die Gesellschaft bewegenden Fragen sollte Kunst objektiviert werden, also objektiven Gehalt und feste Form erlangen. Die individuelle Inspiration, die Phantasie und die elementare Schöpferkraft des Künstlers waren in gleichem Maße und Sinne gebändigt und zugleich fruchtbar zu machen, wie es mit der Kanalisierung der Triebe durch Vernunft auf dem Gebiet der Ethik geschah.“20

Dieses Konzept mit dem Ziel der Objektivierung des künstlerischen Produkts in der Harmonie von Form und Inhalt entspricht dem anthropologischen Harmonieprinzip einer Aufhebung der Polarität von Natur und Geist bzw. Trieb und Vernunft. Auch für das künstlerische Schaffen lieferte der Glaube an eine ideale Natur die Basis. Dieses Ideal beschwor Goethe wiederholt, der zusammen mit Schiller durch das Programm der Weimarer Klassik das Welt- und Menschenbild nicht nur des Bürgertums in Deutschland prägte. Besonders aufschlussreich ist hierzu ein wenig bekannter Teil aus seinem Aufsatz „Winckelmann und sein Jahrhundert“.21 „Der Mensch vermag gar manches durch zweckmäßigen Gebrauch einzelner Kräfte, er vermag das Außerordentliche durch Verbindung mehrerer Fähigkeiten; aber das Einzige, ganz Unerwartete leistet er nur, wenn sich die sämtlichen Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigen. Das letzte war das glückliche Los der Alten, besonders der Griechen in ihrer besten Zeit; auf die beiden ersten sind wir Neuern vom Schicksal angewiesen. Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen, schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn das harmonische Behagen 18

Panajotis Kondylis, Niedergang, S. 51. A. a. O., S. 51 f. 20 A. a. O., S. 47. 21 J. W. v. Goethe, Werke Bd. 12, Hamburger Ausgabe 1967, „Winckelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen herausgegeben von Goethe“, Tübingen 1805, S. 98. 19

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ihm ein reines freies Entzücken gewährt, dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern. Denn wozu dient alle der Aufwand von Sonnen und Planeten und Monden, von Sternen und Milchstraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreut?“

Der erste Abschnitt enthält auf den ersten Blick nur Thesen; allerdings deutet die Aufzählung sich steigernder Kräfte auf eine indirekte Argumentation: Der moderne Mensch gebrauche einzelne oder mehrere seiner Fähigkeiten, der Mensch des klassischen Griechenlands dagegen habe mehr vollbringen können, weil sich sämtliche Eigenschaften gleichmäßig in ihm vereinigten. Demnach sollte die Leistung umso bedeutender sein, je mehr von den angelegten Kräften im Tun wirksam würden. Dieser Gedanke unterstellt, die von Natur mitgegebenen Fähigkeiten müssten möglichst „gleichmäßig“ entfaltet werden, als sei damit eine von der Natur zugewiesene Aufgabe erfüllt. Diese Behauptung wird als Axiom genommen, dessen Wahrheit unmittelbar einleuchte, eines Beweises weder bedürftig noch fähig ist und die Basis weiterer Thesen bildet. Man kann auch annehmen, in den Behauptungen diene der indirekte Hinweis auf die Schönheit klassischer griechischer Kunstwerke als „Beweis“ für ein Schaffen aus der Vielfalt der Anlagen heraus. Weil ein Beweis für ein solches Schaffen im Falle der Griechen nicht erbracht wird und auch nicht geleistet werden kann, nimmt Goethe eine petitio principi vor; es wird zum Beweis eines Satzes ein erst noch zu beweisender benutzt. In ähnlicher Weise liest Lessing in der bekannten Beschreibung der Laokoonskulptur das heraus, was Aufklärung und Klassik in der griechischen Kunst zur Selbstbestätigung entdecken wollten. Im zweiten Abschnitt wird der Gedanke einer von der Natur mitgegebenen Aufgabe durch einen ontologischen Scheinbeweis bekräftigt; drei Wenn-Sätze sollen die Voraussetzung für die Dann-Folgerung geben, wobei bereits der zweite und dritte Wenn-Satz jeweils die Folgerung aus dem vorangehenden ziehen. Wenn alle Fähigkeiten des Menschen in seinem Tun zusammenwirken, dann könne er auch die Welt als ein Ganzes fühlen, dann befänden sich Mensch und Natur bzw. Welt miteinander in Harmonie; ein Zustand, der „ein reines freies Entzücken“ gewähre. Diese Lebensfreude sei Ziel des Weltalls, das selbst über diese Freude als das Erreichen ihres Zieles „aufjauchzen“ würde, sofern es Bewusstsein hätte. Die anschließende rhetorische Frage setzt an die Stelle eines Alls, das zunächst gedacht werden kann als eines, das sich aus sich selbst heraus weiterentwickelt, durch das Wort „Aufwand“ einen Schöpfer, der die Welt mit ihr innewohnenden Gesetzen ausgestattet hat22, so dass er nicht einzugreifen braucht, sondern zuschauen kann, wie sich

22 Auch die programmatischen Verse Goethes, „was wär’ ein Gott, der nur von außen stieße, […] entstanden 1812/13 lassen sich pantheistisch verstehen; um dem Vorwurf des Nihilismus zu entgehen, dem der aus dem Harmonieideal resultierende Pantheismus in der

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alles, entsprechend der mitgegebenen Anlage, entwickelt.23 Die rhetorische Frage fasst noch einmal den bereits gelieferten Scheinbeweis zusammen, der den Menschen – gemäß christlicher Lehre, aber mit eigener Begründung – zur Krone der Schöpfung erklärt. In steigernder Aufzählung wird die Vielfalt des Alls beschworen, das als lebloses, unbeseeltes und damit sinnloses einem solchen konfrontiert wird, in dem sich „ein glücklicher Mensch unbewusst seines Daseins erfreut.“ Den Beweis dafür, dass der glückliche Mensch als Ergebnis der entwickelten Anlagen das Ziel der Schöpfung sein müsse, liefert die rhetorische Frage mit der These, ein unbeseeltes All sei sinnlos. Der Nihilismus bleibt vage Andeutung, denn „Aufwand“ setzt einen Schöpfer voraus. Der deistische Gedanke einer göttlichen Gesetzen gehorchenden Welt gibt der Aufforderung an den einzelnen Menschen Nachdruck, seine Kräfte gleichmäßig zur Geltung zu bringen, denn damit erfülle sich erst der Schöpfungssinn: Der Mensch solle aus eigenem Entschluss das leisten, was bei den übrigen Geschöpfen das mitgegebene Gesetz von sich aus vollbringe.

III. Die synthetisch-harmonische Denkfigur im Naturgedicht Das Menschenbild der Klassik kehrt sich vom christlichen ab, denn wenn sich „sämtliche Eigenschaften gleichmäßig“ vereinigen, hat der Mensch das Selbstregulierungsprinzip, das ihn zum Herrn über die eigene Natur macht. Triebe müssen nicht mehr durch die Vernunft unterdrückt werden. Damit wird eine Ethik der Weltverneinung eines theologischen Dualismus abgelehnt, denn Gott und Welt, Gott und Mensch werden einander nähergebracht; indem dieser (unbewusst) aus der Harmonie seiner Fähigkeiten heraus wirkt, erfüllt er den Schöpfungsauftrag und setzt damit schöpferische Kräfte frei, die ihn gottähnlich machen. In seiner engen Bindung an die Natur garantiert er die Harmonie von Natur und Kultur. Dornburg, September 1828 – Johann Wolfgang Goethe24 Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten Nebelschleiern sich enthüllen, Und dem sehnlichsten Erwarten Blumenkelche bunt sich füllen, Wenn der Äther, Wolken tragend, Mit dem klaren Tage streitet, Und ein Ostwind, sie verjagend, Blaue Sonnenbahn bereitet, aufklärerischen Diskussion ausgesetzt war, wurde das pantheistische in ein panentheistisches Modell umgestaltet. 23 Den gleichen Gedanken formuliert Goethe für seine Idee der „Urpflanze.“ 24 J. W. v. Goethe, Werke, HA, Bd. 1, S. 591.

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Dankst du dann, am Blick dich weidend, Reiner Brust der Großen, Holden, Wird die Sonne, rötlich scheidend, Rings den Horizont vergolden.25

Die drei Strophen bilden einen einzigen, gleichsam aus begeistertem Naturerleben gesprochenen Satz, dessen Spannungsbogen durch den Wenn-Satz der ersten Strophe entsteht, im Wenn-Satz der zweiten weitergeführt und auf den dritten Konditionalsatz in der dritten Strophe hinlenkt, deren letzte beiden Verse erst durch den Hauptsatz die Auflösung bilden. Das Naturgeschehen wirkt beseelt durch die Personifizierung andeutenden Verben („enthüllen“, „streiten“, „verjagen“) und die eng auf die Natur bezogenen Wünsche des lyrischen Ich („dem sehnlichsten Erwarten“, „dankst du dann“, „reiner Brust“) verbinden Mensch und Natur. Die Wünsche mögen Selbstaussprache sein, wenn sie auf ein individuelles Erleben – an einem bestimmten Herbstmorgen beim Blick von einer Burg ins Tal herab – bezogen werden, doch der Dank an die Sonne bzw. die Natur als Vorbedingung für ein zukünftiges Erleben, nämlich den Sonnenuntergang, weist auf ein Allgemeines, so dass die Anrede an jeden gerichtet ist: Der einzelne Tag steht für das ganze Leben. Wer die Schönheit der Natur intensiv wahrnimmt und im Einklang mit ihr lebt, wird sein Leben nicht verfehlen und es rückblickend als ein stimmiges, geglücktes Ganzes erkennen. Wie der Tag vom Morgen über den Mittag mit dem Abend endet und seine Ordnung hat, so fügt sich der Mensch in die von Werden und Vergehen ein. Die Natur ist normgebende Instanz, der Mensch ein Teil von ihr, wobei jedes selbständig für sich und dabei auf das Ganze bezogen ist, das aber doch mehr ist als nur ihre Summe, denn es wirkt auf das Einzelne zurück. Aufgrund der engen Beziehung von Teil und Ganzem kann das Einzelne für ein Allgemeines stehen. So wird das Einzelne Symbol des Ganzen. Das Erleben des Herbsttages wird im vorliegenden Gedicht zum Symbol des ganzen Lebens. „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.“26

Diese Symbolauffassung steht für die harmonisch-synthetische Denkfigur. Ihr entspricht auch die angestrebte Übereinstimmung von Inhalt und Form im Gedicht.27 Im Lehrgedicht „Der Tanz“28 stellt Schiller eine umfassende Harmonie der menschlichen Gesellschaft und derjenigen zwischen Mensch und Natur dar; der Ge25

Erstveröffentlichung: Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1833. Goethe, Maximen und Reflexionen, HA, Bd. 12, S. 470, Nr. 749. 27 In Sinne der Entsprechung von Form und Inhalt bzw. deren gegenseitige Bestätigung gilt Goethes „Ein Gleiches“ als vollkommenes Gedicht, HA, Bd. 1, S. 142; entstanden 1780. 28 Friedrich Schiller, die hier vorliegende Fassung wahrscheinlich von 1800; die Erstfassung stammt von 1795, sie erschien im Musen-Almanach für das Jahr 1796. 26

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sellschaftstanz bilde das Ideal gegenseitiger Rücksichtnahme, wie er in einem Brief erklärt.29 Der beobachtete Tanz eines Paares wird zum Gleichnis der in allen Kulturen geltenden „Goldenen Regel“. Er ist es auch für die „Schöpfung“, denn Entstehen und Vergehen stehen unter dem umfassenden Gesetz des Wandels. Ein auf den ersten Blick die Ordnung durchbrechender Tanz, der diese dann doch bestätigt, lehrt, man brauche nur dem eigenen Gesetz zu gehorchen, das an dem orientiert ist, was für alle als „Wohllaut“ wahrgenommen werde. Dieser ähnelt der Nemesis, die bei Herder als Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit, der Ordnung und des Maßes auch als innere Stimme sprechen kann. Da die Erfahrungswirklichkeit dieser Idealwelt nicht entspricht, ist es für Schiller die Erziehungsaufgabe des Künstlers, dem Einzelnen den „Wohllaut“ vernehmbar zu machen.30 Angestrebt ist „die Verschmelzung des Ästhetischen mit dem Ethischen, des Schönen mit der Idee der Wahrheit, des Erlebnismäßigen mit der Norm, des Individuellen mit dem Sozialen. In ihrer ständigen Verbindung und Auseinandersetzung mit dem höheren Reich der werte sowie mit den die Gesellschaft bewegenden Fragen sollte Kunst nach Möglichkeit objektiviert werden, also objektiven Gehalt und feste Form erlangen. Die individuelle Inspiration, die Phantasie und die elementare Schöpfungskraft des Künstlers sollten in demselben Ausmaß und Sinne gebändigt und zugleich fruchtbar gemacht werden wie es mit der Kanalisierung der Triebe durch Vernunft auf dem Gebiet der Ethik geschah.“31

Die harmonisch-synthetische Denkfigur als enge Verbindung des Menschen mit der umgebenden Natur bleibt auch für Dichter der Romantik weiterhin Thema. Joseph von Eichendorff etwa entdeckt sie in der Erfahrung des Geborgenheitsgefühls in der Weite des Naturraums – der in seinem wohl bekanntesten Gedicht vorstellbar wird.32 Mondnacht Es war, als hätt’ der Himmel Die Erde still geküßt, daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt’ Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, 29

National Ausgabe Bd. 26, S. 216 f. Jochen Golz, „Der Tanz“. In: Gedichte von Friedrich Schiller, hrsg. v. Norbert Oellers, Stuttgart 1996; Philipp Simon, Schillers Gedicht „Der Tanz“. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und Literatur 23 (1909), S. 667 – 679. Matthias Sträßner, Tanz-Meister und Dichter. Literatur-Geschichte(n) im Umkreis von Jean Georges Noverre. Lessing, Wieland, Goethe, Schiller. Berlin 1994. 31 Niedergang, S. 47. 32 Joseph von Eichendorff, Mondnacht, entstanden 1837. 30

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Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.

Es gelingt Eichendorff an anderer Stelle durch eine tiefe Vertrautheit vermittelnde Weite und Raumtiefe der Naturlandschaft sogar das unaufhörliche Klopfen der Hammermühlen zu integrieren, die Zeichen der beginnenden Industrialisierung sind. Die damit verbundene politisch-gesellschaftliche Unruhe trennt dagegen für Theodor Storm im Gedicht „Abseits“ von 1847 von einer vertrauten Natur. Das lyrische Ich sucht sie auf, auch um Abstand von einer im Umbruch befindlichen Welt zu gewinnen. – Naturgedichte sind über das 19. Jhdt. hinaus beliebt, doch schließlich wird die Naturzerstörung durch die technisch-industrielle Welt unübersehbar.

IV. Der bürgerliche Bildungsroman Für das Menschenbild der Moderne schälen sich die Anlagen des Individuums im Lebensvollzug heraus; durch Streben, Lernen aus Irrtümern, Bereicherung durch Begegnungen etc. wird er zu einem wertvollen Glied der Gesellschaft. Diesen Weg der „geprägte[n] Form, die lebend sich entwickelt,“ darzustellen, ist Ziel des bürgerlichen Bildungsromans, dessen Tradition bis ins 20. Jahrhundert reicht. Daimon – J. W. Goethe33 Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Einen indirekten Kommentar dazu gibt Goethes Bemerkung gegenüber Eckermann34 „Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwicklung verdanken wir tausend Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns aneignen, was wir können und was uns gemäß ist. Ich verdanke den Griechen und Franzosen viel, […] Allein damit sind die Quellen meiner Kultur nicht nachgewiesen; es würde ins Grenzenlose gehen und wäre auch nicht nötig. Die Hauptsache ist, dass man eine Seele habe, die das Wahre liebt und die es aufnimmt, wo sie es findet.“

Jeder besitzt vielfältige Anlagen, die keimhaft bereitliegen, die sich aufgrund von Außeneindrücken ausprägen, und so ist der ins Leben tretende Mensch keine tabula rasa, in die durch Einwirkungen von außen etwas eingeschrieben wird. Goethes „Wil33

J. W. v. Goethe, Werke HA, Bd. 1, S. 359. 16. 12. 1828, Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, München 1976 (dtv) S. 300 f. 34

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helm Meister“, Urbild des bürgerlichen Bildungsromans, gestaltet dieses Menschenbild. Mit zunehmender Lebenserfahrung traut sich der jeweilige Romanheld zeitlos gültige Urteile zu. So auch der Ich-Erzähler in Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“, als er am Ende seiner langen Wanderung aus der Fremde nach Hause etwa anmaßendes Verhalten einer Amtsperson gegen eine arme Alte zum Anlass einer Reflexion über das Wesen des Menschen am Beispiel seiner verschiedenen Eitelkeiten nimmt. Zuerst wird das Verhalten des „Kerls“ charakterisiert, dann folgt die Verallgemeinerung: [D]er Rausch der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit ist es, der ihn alle Augenblicke fortreißt und seinem Götzen frönen läßt. Um so genauer sieht er das Laster an seinem Vorgesetzten, dieser an dem seinigen, und so stufenweise fort, indem einer es am andern gar wohl bemerkt, aber nie unterläßt, der eigenen Unart voll Wut den Zügel schießen zu lassen, um nicht zu kurz zu kommen und sich herrlich darzustellen. Alle die tausend vorneinander Abhängigen, die sich gegenseitig so erziehen, streichen ihre grauen Schnurbärte und lassen die Augen rollen, nicht aus Bosheit, sondern aus kindischer Eitelkeit. Sie sind eitel im Befehlen und im Gehorchen, eitel im Stolz und in der Demut; sie lügen aus Eitelkeit und sagen die Wahrheit nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie ihnen für diesmal gut ansteht. Neid, Habsucht, Hartherzigkeit, Verleumdungssucht, Trägheit, alle diese Laster lassen sich bändigen oder einschläfern; nur die Eitelkeit ist immer wach und verstrickt den Menschen unaufhörlich in tausend lügenhafte oder wenigstens unnötige Dinge, Brutalitäten und kleinere oder größere Gefahren, die alle zuletzt ein ganz anderes Wesen aus ihm machen, als er eigentlich zu sein wünscht. Das ist dann die Folge, eine krankhafte Abirrung von seinem Selbst statt der angestrebten Befestigung desselben. Das ist aber nur die gröbere Hälfte, die Schar der Armen im Geiste. Die feinere Hälfte, die Schar der Begabten und Gebildeten irrt nicht von sich ab, die hat einen Zaubersegen, der heißt: Wir wissen es und wollen es sein, nämlich eitel! „Die unschuldige Eitelkeit, sie ist die gutartige Verzierung des Daseins! Das goldene Hausmittelchen der Menschlichkeit und das Gegengift für die grobe, bösartige Eitelkeit! Die schöne Eitelkeit, als die zierliche Vervollkommnung und Ausrundung des eigenen Wesens, bringt alle Keimlein zum Blühen, die uns brauchbar und annehmlich machen für die Welt; sie ist zugleich der feinste Richter und Regulator ihrer selbst und treibt uns an, das Gute und Wahre, das sonst verborgen bliebe, in edler Gestalt an den Tag zu bringen. Selbst Christus war ein bißchen eitel, denn er hielt Haar und Bart gelockt und ließ sich die Füße salben!“ So klingt dieses schöne Lied, und diese Eitelkeit ist erst der wahre Moloch, dessen gelindes Feuer Menschen und Kieselsteine frißt. Er bleibt stets er selbst, der Moloch, und fürchtet sich nicht und lächelt sein ehernes Lächeln, während sein heißhungriger Bauch glüht. An ihm versengen sich Freundschaft, Liebe, Freiheit und Vaterland und alle guten Dinge, und wenn er nichts mehr zu fressen hat, wird er ein kalter Ofen voll Asche. […]35

Der Ich-Erzähler richtet sich an der Forderung eines als feste Substanz verstandenes Selbst aus, um sein Handeln nicht außengelenkt durch Eitelkeit bestimmen zu lassen; er möchte den als richtig erkannten, verinnerlichten Prinzipien folgen. Eitelkeit, die sich in der Kritik an Menschen äußert, die über mehr Einfluss, Macht, Ansehen verfügen als der Kritisierende, zeigt sich als Spielart von Machstreben, 35

Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, IV. Band, 8. Kapitel, Der wandernde Schädel.

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das Kondylis als grundsätzliches Streben des Menschen als Gemeinschaftswesen versteht, der einen für ihn angemessenen Platz in der Gemeinschaft anstrebt. Der Erzähler beschreibt hier das Doppelgesicht dieses Strebens. Ein in sich gefestigten Selbst verfügt über das Selbstbewusstsein, das sich nicht vom Urteil anderer abhängig macht und sich Ziele setzen kann, die auf ein metaphysisch abgesichertes Weltbild zurückgehen, dessen Werte z. B. „Freundschaft, Liebe“ hier als selbstlos gedacht sind, wie auch die Liebe zu „Freiheit“ und „Vaterland.“ In der Gegenüberstellung von Innenlenkung und Außenlenkung wird eine Lösung gefordert, bei dem das Selbst sich treu bleibt und damit dem Allgemeinwohl dient – im Sinn der synthetisch-harmonischen Denkfigur des bürgerlichen Weltbildes. Eitelkeit gab und gibt es zu allen Zeiten, sie ist in Mangelgesellschaften mit eher vorherrschender Innenlenkung seltener als in Überflussgesellschaften aufgrund ihrer triebbezogenen Konsumverlockungen, etwa wenn teure Konsumartikel der Selbstaufwertung und damit einer besonders schlichten Form von Machtstreben dienen oder dieses außengelenkt auf die Zustimmung des Umfeldes schielt. Metaphysisch gesicherte Werte, wie sie für Platon das Wahre, Gute, Schöne darstellen und die vom Ich-Erzähler andeutend zusammengezogen werden zu „alle guten Dinge,“ bieten eine Innenlenkung des Selbst, das sich seiner Ziele sicher ist. Mit den sich ankündigenden Konsum- und Massengesellschaften zum Ende des 19. Jahrhunderts, wie es die entsprechenden Textbeispiele belegen, lockert sich die metaphysisch Norm- und Wertebindung. In einem solchen selbstlosen Dienst an der Sache findet bei Adalbert Stifter ein junger Mann, typischerweise Arzt wie am Ende auch Wilhelm Meister, durch den Beruf seinen festen Platz in der Welt. „So gedeiht alles. Meine Kranken genesen. […] Ich vermag in die fernsten Gegenden zu wirken – und es wird das frevle Wort immer weniger wahr, das ich einmal niedergeschrieben habe: ,Einsam, wie der vom Taue gerissene Anker im Meer, liegt mir das Herz in der Brust.‘ […] Da das war, dann hatte ich die Bäume, die Wälder, das Firmament und die äußere Welt wieder. Vor der Festigkeit der Pflicht, wie sinkt jedes andere Ding der Erde zu Schanden nieder!“36

Dieses Selbstverständnis geht in der Postmoderne, wie z. B. die Figuren Kafkas zeigen, vollständig verloren.

36 Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters, (1841) Frankfurt/M. 1991 (Insel Taschenbuch 1314), S. 456 u. S. 458.

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V. Von der synthetisch-harmonischen Denkfigur zur analytisch-kombinatorischen des Industriezeitalters und der Postmoderne Mit einer sich abschwächenden Innenlenkung, den eingeübten und akzeptierten Normen, wächst die Außenlenkung, die in der Postmoderne gegenüber der Moderne zugenommen hat. Dieser Einfluss auf das Ich wird nicht selten als Belastung empfunden. Den Autor Max Frisch z. B. führt dieser Außendruck zu einer überzogenen, ja unerfüllbaren Forderung, wenn er verlangt, man dürfe sich kein Bild von seinem Nächsten machen, um ihn nicht einzuschränken. „[…] Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat […] Irgendeine fixe Meinung unserer Freunde, unserer Eltern, unserer Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel […] In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die andern in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der andern; […]“37

Einerseits ist der Mensch als Gesellschaftswesen bereit, sich seiner Umgebung anzupassen, um dazuzugehören. Er lässt sich umso eher von Außeneindrücken lenken, je weniger er auf verinnerlichte Regeln vertrauen kann. Außerdem macht sich jeder in jeglicher Kultur notwendig bewusst und unbewusst vom anderen ein Bild, – wie könnte man einem anderen sonst nahestehen? Durch das Bild übt man auch Einfluss auf den anderen aus, zumal bei wechselseitiger Sympathie. Das ist kein „Verrat“, denn aufgrund des jeweiligen Bildes wird man den Nächsten aufgrund seiner Sichtweise aus Freundschaft auch korrigieren wollen. Extreme Beispiele für Außenlenkung und den Verlust einer festen Substanz gestaltet Franz Kafka. Er stellt beispielhaft Figuren dar, die in Funktionen aufgelöst sind und darum das postmoderne Gegenmodell zu den Persönlichkeiten des Bürgertums bilden. Kondylis könnte Kafkas Figuren als Beispiele für den postmodernen Menschentyp genommen haben: „Da die Person keine feste Substanz besitzt, sondern aus Relationen besteht, wandelt sie sich unablässig je nach dem Charakter und den Peripetien ihrer Beziehungen zu den anderen. […] Schließlich kommt es dazu, daß die Wirklichkeit nur in der Perspektive von Subjekten existiert, die selber nicht wissen, aus welchen Motiven heraus sie die Wirklichkeit so und nicht anders sehen […] Die Auflösung des substanziellen Kerns der Person in veränderliche Funktionen endet bei der Eliminierung der Person als Person.“38

37

Max Frisch, Tagebuch 1946 – 1949, Frankfurt a. M. 1985, S. 27 – 32. Niedergang, S. 83 „Die Reduktion der Person auf eine irrationale Substanz sowie ihre Auflösung bildeten vielleicht den spektakulärsten Akt bei der Zertrümmerung der bürgerlichen Synthese.“ (S. 84) Ergänzend vergleicht Kondylis die Polemik mancher Philosophen gegen den Substanzbegriff im Menschenbild mit dem im modernen Roman entworfenen Bild: „Der Mensch erschien als bloßes Bündel von Sinnesempfindungen, Eindrücken oder Assoziationen, ohne festen substanziellen Kern und ohne bleibende, durch überlegene intellektuelle Kräfte gelenkte Identität.“ (S. 140) 38

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Kafka hat Kennzeichen des postmodernen Menschenbildes hellsichtig und in seiner Zeit eindringlich wie kein anderer dargestellt. In der kurzen Erzählung „Der Steuermann“ von 1920 ist die Erzählfigur ohne festes Selbst, sie wird von außen bestimmt, denn sie ist Resultat der auf sie einwirkenden Kräfte: „Bin ich nicht Steuermann?“ rief ich. „Du?“ fragte ein dunkler hochgewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseite schieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz herumriss. Da aber fasste es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zur Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: „Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!“ Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. „Bin ich der Steuermann?“ fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum, und als er befehlend sagte: „Stört mich nicht“, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch, oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde“39

Der Ich-Erzähler stellt aus Unsicherheit seine Rolle als Steuermann bereits durch einen ihm überlegen erscheinenden Fremden in Frage, was diesen zur Verstärkung der Zweifel provoziert. Die Identität des Steuermannes ist an seine Funktion gebunden, ohne diese ist er verloren. Als sie ihm streitig gemacht wird, will er sie durch die Zustimmung seiner Kameraden zurückgewinnen, doch da sie sich, nicht anders als er selbst, vom entschlossenen Auftreten des Fremden beeindrucken lassen, setzt er sie, und also zugleich sich selbst damit herab. Für ihn ist Innenlenkung40 noch als utopischer Wunsch präsent, die er aber als Außengelenkter nicht mehr erreichen kann. Seine Identität bekommt er in Form einer Rolle zugewiesen41, unabhängig davon gibt es sie nicht, die Atomisierung ist vollständig. Für den Steuermann deutet sich an, was S. Freud zum psychologischen Roman beobachtet: Er „verdankt im ganzen wohl seine Besonderheit der Neigung des modernen Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten, und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens in mehreren Helden zu personifizieren.“42 39

Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt 1977, S. 319. David Riesman kennzeichnet den Menschen des bürgerlichen Zeitalters als innengelenkt, den der nachfolgenden Zeit als außengelenkt; David Riesman, Die einsame Masse, Hamburg 1958. 41 Der Verlust einer festen Identität ist zu Beginn des 20. Jhdts. auch bei anderen bedeutenden Autoren Thema, so erklärt bei Luigi Pirandello eine Erzählfigur in „So ist es – wenn es ihnen so scheint“ (1916) „Ich bin die, für die man mich hält“, dazu auch das Theaterstück „Sechs Personen suchen einen Autor“ oder die Erzählung „Stefano Giogli eins und zwei“. Das Thema erscheint bereits im Titel bei Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“ (ab 1930). 42 Sigmund Freud, Psychoanalytische Studien an Werken der Dichtung und Kunst, Wien/ Leipzig/Zürich 1924, S. 11. Zitiert nach Joseph P. Strelka, Der Paraboliker Franz Kafka, Tübingen 2001, S. 19. Strelka gelingen mit der These, Gestalten bei Kafka seien in Partial-Ichs 40

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Ausgeprägt gestaltet Hermann Hesse in „Steppenwolf“ die gespaltene Persönlichkeit. Dass die literarische Identitätsunsicherheit und -spaltung sich auf Erfahrungswirklichkeit bezieht, zeigt sich z. B. gegenwärtig in dem für Massengesellschaften der Postmoderne bestehenden Interesse an Geschlechtsveränderung. – Der Einzelne erfährt durch die Auseinandersetzung mit der Welt keine persönliche Entfaltung mehr auf eine darin ihre Aufgabe erfüllende Persönlichkeit. Er ist wie ein einzelnes Atom austauschbar und ohne festen Ort – entsprechend der analytisch-kombinatorischen Denkfigur. Die synthetisch-harmonische gründet in der Aufwertung des Menschen durch die Aufklärung, wobei diese Denkfigur in der Deutschen Klassik im Vergleich zu anderen Nationalkulturen eine besondere Ausprägung erfuhr. Für die Literatur des 19. Jahrhunderts galt die Idealisierung noch für den Realismus. Dieser will die durch Industrialisierung entstandene soziale Wirklichkeit erfassen und zugleich in deren scheinbarer Zusammenhanglosigkeit einen überzeitlichen Sinn finden. Für die englische Erzählliteratur gibt Thomas Hardy ein Beispiel dafür, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Glaube, diesen Sinn finden zu können, verlorengeht. Nach Romanen „Far from the Madding Crowd“, „Tess“ u. a.43 mit der Idealisierung ländlicher Kultur ist „Jude the Obscure“ 1895 sein letzter Roman, denn Hardy erkannte, „dass die gegebene Wirklichkeit derart von Zufälligkeiten und Ungerechtigkeiten, von mangelnder Gesetzmäßigkeit also, gekennzeichnet sei, dass ein wirklichkeitsnahes Schreiben nur Sinnlosigkeit ans Licht heben konnte und damit dem Vorgegebenen eben keinen Sinn abzugewinnen in der Lage war.“44 Hardy schuf noch 30 Jahre lang Lyrik, doch hat er keinen Roman mehr geschrieben. Wenn Autoren ethischen oder religiösen Überzeugungen in ihren Werken Gestalt geben konnten, blieben sie auch zu Beginn der Postmoderne der bürgerlichen Idealisierung nahe, wie etwa Sigrid Undset Charaktere einer mittelalterlichen Welt auf Basis ihrer persönlichen Glaubensgewissheiten gestaltet.45 Die Postmoderne setzt sich durch, wobei das idealisierte Menschenbild polemisch herabgesetzt wird. Jede Position entsteht, so Kondylis, als Gegenposition: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch – […] Ihr sprecht von Seele – was ist eure Seele?“46 Die Polemik der Postmoderne zielt auf das Bürgertum, seine Ideologie und Werte. Sie werden so lange angegriffen, wie sich dadurch Skandalisierung erreichen lässt; das geht so lange, bis die bürgerliche Lebensform als Gegner verschwunden ist.47 zersplittert, überzeugende Interpretationen. Freuds Beobachtung wird bestätigt durch die Kondylis-These von der Auflösung des substanziellen Kerns der Person. 43 Beide Romane wurden (in älteren Fassungen) meisterhaft verfilmt. 44 Stephan Kohl, Thomas Hardy: Jude the Obscure, in: Lektüren für das 21. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 83. 45 Sigrid Undset, „Kristin Lavranstochter“; „Olav Audunsohn“. 46 Gottfried Benn, Die Krone der Schöpfung. 47 Ein Opfer bildet nicht zuletzt das Theater als repräsentativer Bildungsort des Bürgertums.

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Der Übergang zur analytisch-kombinatorischen Denkfigur erfolgt allmählich in dem Maße, wie sich eine Massengesellschaft ankündigt, für die diese Denkfigur kennzeichnend ist. Ihr entspricht die Vereinzelung bzw. Atomisierung des Individuums. Diese wird in der Arbeitswelt und im Erlebnis der Großstadt offensichtlich. Eindringlich zeigt sich die Gegensätzlichkeit zwischen festen Bindungen einerseits und deren drohender Auflösung andererseits bei Charles Baudelaire:48 A une Passante La rue assourdissante autour de moi hurlait. Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, Une femme passa, d’une main fastueuse Soulevant, balançant le feston et l’ourlet; Agile et noble, avec sa jambe de statue. Moi, je buvais, crispé comme un extravagant, Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue. Un éclair … puis la nuit! – Fugitive beauté Dont le regard m’a fait soudainement renaître, Ne te verrai-je plus que dans l’éternité? Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais, O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais! An eine, die Vorüberging Betäubend heulte die Straße rings um mich. Hochgewachsen, schlank, in tiefer Trauer, hoheitsvoller Schmerz, ging eine Frau vorüber; üppig hob und wiegte ihre Hand des Kleides wellenhaften Saum; Leicht und edel setzte sie wie eine Statue das Bein. Ich aber trank, im Krampf wie ein Verzückter, aus ihrem Auge, einem fahlen, unwetterschwangeren Himmel, die Süße, die betört, die Lust, die tötet. Ein Blitz .. und dann die Nacht! – Flüchtige Schönheit, von deren Blick ich plötzlich neu geboren war, soll ich dich in der Ewigkeit erst wiedersehen? Anderswo, sehr weit von hier! zu spät! niemals vielleicht! Denn ich weiß nicht, wohin du enteilst, du kennst den Weg nicht, den ich gehe, o du, die ich geliebt hätte, o du, die es wusste! (übertragen von Friedhelm Kemp)49

In der Überschrift wendet sich das lyrische Ich an eine Frau, die es nur flüchtig sah und doch tief von ihr beeindruckt war, weshalb es gegen alle Wahrscheinlichkeit hofft, sie wiederzusehen. Der Kontrast von flüchtiger Begegnung und tiefem Angerührtsein wird ergänzt durch den Gegensatz von öffentlichem, lautem Großstadtge48

Das Gedicht entstand 1860. Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, hrsg. v. F. Kemp/C. Pichois, München 1997, S. 198 f. 49

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triebe und der Privatheit des Schmerzes der Vorübergehenden. Das, was zuerst auffällt, Gestalt, Gang, Bewegung der Hand und Ausdruck des Gesichts bereiten vor und fügen sich zu dem, was den zufälligen Passanten so erfasst. Die Ausstrahlung der Frau auf das Ich ist derart, dass die Einzeleindrücke bei der Begegnung nicht als zufällige erscheinen, sondern sich steigern können. Die Liebe auf den ersten Blick meint im kurzen Moment der Begegnung den Wesenskern des anderen zu erfassen. Von diesem Moment an ist das Sonett Anrede an die Frau, eine in die Zukunft reichende Klage – was dem flüchtigen Erlebnis eine zeitliche Tiefe gibt, während die ersten beiden Quartette auf diesen Augenblick hinführen. Baudelaire hat das hier Beobachtete als sein Kunstprogramm formuliert: „Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.“50 Im Idealfall der Liebe auf den ersten Blick verweist die flüchtige Begegnung auf das Unwiederbringliche eines Erlebnisses, das der Dichter wie der impressionistische Maler in seiner Einmaligkeit festhalten möchte. Dieser Versuch ist individuelle Sinnstiftung, die auch in der Anonymität der Großstadt möglich bleibt, wobei in diesem Beispiel die Trauerkleidung zuerst die Neugier weckte, durch die sich eine Teilnahme mit dem aus der Anonymität herausgehobenen Individuum vorbereitet, weil das Gesicht den Schmerz der Vorübergehenden erkennbar macht. Manche Expressionisten dagegen, die sich auch von Baudelaire beeinflussen ließen, sahen in der Begegnung mit der Masse bzw. der Großstadt vor allem den Sinnzerfall, das Chaos des Unzusammenhängenden. Die beschleunigte Bewegung – durch das neue Verkehrsmittel Eisenbahn – und die Überfülle der Eindrücke in der Großstadt machen für Baudelaire hier den flüchtigen Augenblick gerade nicht wertlos, denn er nimmt ihn als Beispiel für die Überfülle des Seins, dessen man sich gerade im Entschwindenden innewerden kann, wenn es schicksalhafte Bedeutung bekommt. Im Literarischen gehört zur Polemik gegen das bürgerliche Menschenbild die naturalistische Schilderung des von blinden Leidenschaften getriebenen Menschen; das Unterbewusstsein als Macht- und Sexualtrieb hat das Gleichgewicht von Vernunft und Trieb aufgehoben. Dabei wird dieser Verlust nicht als Erniedrigung des freien Individuums wahrgenommen, sondern als Befreiung des „wahren“ Menschen gepriesen.51 Doch die Herrschaft des Instinkts löst das Individuum aus seinem sozialen Zusammenhang, denn die innere Auflösung bedeutet Bindungsverlust und Vereinzelung – mit der Folge, dass sich der Einzelne ohnmächtig, weil undurchschaubaren Mächten ausgeliefert fühlt.52 Denn er kann sich nicht mehr als Mitgestalter eines über ihn hinausreichenden Ganzen sehen, da die vom bürgerlichen Menschen50

Der Maler des modernen Lebens, in: Charles Baudelaire, Der Künstler und das moderne Leben, Essays, „Salons“, intime Tagebücher. Hrsg. v. Henry Schumann, Leipzig 1990, S. 301. 51 Kondylis, Niedergang, S. 80 – Dies thematisieren z. B. Romane von D. H. Lawrence. 52 A. a. O., S. 84 – Exemplarische Beispiele gibt, wie erwähnt, Franz Kafka in Romanen und Erzählungen.

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bild propagierte Kontinuität im Handeln in der veränderten Wahrnehmung mehr oder weniger intuitiv oder zufällig getroffenen Entscheidungen weicht.53 Der Wandel von der bürgerlichen Gesellschaft mit dem für sie kennzeichnenden Substanzdenken geschieht durch ein Denken in Funktionen, das eine massendemokratischen Gesellschaft bzw. die Postmoderne kennzeichnet. Diese bezieht vor allem der Großstadtroman54 ein, wobei James Joyce in „Ulysses“55 die analytisch-kombinatorische Denkfigur im ausufernden Gedankenstrom präsentiert. „[…] Ananasbonbons, Zitronenfüllung, Stangenzucker. Ein klebriges Zuckermädchen schaufelt mit dem Löffel einem Ignorantiner Eis in ein Tütchen. Schülerfraß. Schadet ihren Bäuchlein. Bonbon- und Zuckerbäcker Seiner Majestät des Königs. Gott. Erhalte. Unsern. Sitzt auf seinem Thron und lutscht rote Brustbeerenbonbons weiß. Ein mürrischer junger Ch.J.V. stand in den warmen, süßen Düften aus Graham Lemons Haus Schildwache und reichte Bloom einen jener Zettel, der gleich wieder weggeworfen wird. Herz zum Herzen spricht. Bl – Ich? Nein Blut des Lammes. […]“

Ein unverbundenes Nebeneinander von Ereignissen schließt eine Synthese aus. Verbindungen werden nur in einem wuchernden inneren Monolog assoziativ verknüpft.56 Der Bewusstseinsstrom eines Tagesablaufs dreier Menschen bildet den Schwerpunkt des Romans, wodurch die Assoziationskette langweilig werden könnte. Wohl deshalb greift der Autor zum Kunstgriff, die Assoziationen der Romanfiguren mit den Irrfahrten des Odysseus zu verbinden. Folglich kann der Leser, auch wenn er einen gelehrten Kommentar zu Hilfe nimmt, der fast so umfangreich ist wie der Roman selbst, in einem subjektiven Puzzle eine vermutete Ordnung konstruieren. Diese ist nicht mehr eindeutig vom Erzähler selbst gegeben, sie bleibt dem Leser überlassen, wie der Hörer von Zwölf-Ton-Musik in diese aus der Hörgewohnheit klassischer Musik eine Ordnung und Harmonie hineindeutet, die objektiv nicht vorhanden ist. Der Leser interpretiert aus seiner Perspektive den Bewusstseinsstrom, der kein klares Flussbett besitzt. Deshalb verschwimmt das Ich in diesem Strom,

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A. a. O., S. 85 – Hier ist vor allem an das Stilmittel der Assoziationskette, des Gedankenstroms im Roman zu denken (s. u.). 54 Typisch auch etwa Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910); Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz; James Joyce, Ulysses, 1922. 55 James Yoyce, Ulysses, zuerst Paris 1922; München 1966 (dtv), S. 172. 56 „Der Subjektivismus moderner Kunst hat also eine doppelte Bedeutung: einerseits bedeutet er den Vorrang der Subjektivität als des Bereichs, in dem sich alles in ständigem Fluß befindet und unablässig neue Kombinationen der vorhandenen Elemente oder psychischen Atome zustandekommen; andererseits ist er aber mit dem […] Intellektualismus oder Spiritualismus identisch, und dann bedeutet er die Allmacht des kombinierenden Subjekts.“ Niedergang, S. 70.

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zumal, wenn mehrere Stimmen durcheinandersprechen.57 Weil die Wirklichkeit nur noch Auslöser von Assoziationen ist, verliert sie ihre Selbständigkeit, wie z. B. in der kubistischen Malerei die dargestellten Objekte einer geometrischen Form unterworfen werden, die sie selbst nicht besitzen. Und da Erinnerungsteile scheinbar beliebig miteinander verbunden sind, entsteht keine Hierarchie der Teile. Sie sind wie auf einer Fläche ausgebreitet, wie auch die impressionistische Malerei vielfach die Raumtiefe einschränkte und Objekte analytisch-kombinatorisch beliebig verschiebbar werden und so den Individuen einer arbeitsteiligen Welt gleichen, die austauschbar sind.

VI. Die Postmoderne und ihre wirtschaftlich-gesellschaftlichen Voraussetzungen Die Postmoderne und ihre Ideologie sind an die Überflussgesellschaft gekoppelt, die einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Menschheit bedeutet, denn alle vorangehenden Gesellschaften waren Mangelgesellschaften und verlangten deshalb jedem Individuum eine strenge Disziplinierung ab (Sparsamkeit, Fleiß, Askese, Sublimierung), damit individuelles und soziales Leben gelingen konnten. Diese Disziplinierung hatte den Egoismus entschieden zugunsten des Gemeinwohls einzudämmen; sie steht dem Massenkonsum in Überflussgesellschaften entgegen. Zwar verlangt auch das postmoderne Berufsleben weiterhin diese Tugenden, dem der alltägliche konsumfördernde Hedonismus widerspricht. Dieser ist Ergebnis der Massenproduktion, des Massenkonsums und deren notwendiges Treibmittel. Sie sind Basis der „Massendemokratie“, so der Begriff von Kondylis, denn sie ist abhängig von einer massenhaft produzierenden Wirtschaft, welche die Politik von sich abhängig macht. War in den Mangelgesellschaften die Askese unabdingbar, ist es der Hedonismus in der Überflussgesellschaft. Daraus ergeben sich Konsequenzen für staatliche und gesellschaftliche Strukturen, zumal der Massenkonsum ein dynamisches Moment entfaltet: Weltweit möchten die Menschen an ihm teilhaben, unterentwickelte Volkswirtschaften versorgen aufgrund niedriger Löhne hochentwickelte günstig mit billigen Massenprodukten.58 Die dort wohlhabenden Bevölkerungsschichten wie die „aufsteigende, hochgebildete und urbane […] neue Mittelklasse“ ziehen, um sich von der „Masse“ zu unterscheiden, teure Massenware vor, die als „Entfaltung des Selbst, des Lebensgenusses, der

57 Es kann sich aufspalten, etwa unter dem Einfluss von Drogen, vgl. Herrmann Hesse, „Der Steppenwolf“. 58 Auf die Ungerechtigkeit des ideologisch von A. Smith als gerecht beschriebenen Welthandels macht Kondylis in Bd. I der „Sozialontologie“ unter dem Begriff „Tausch“ aufmerksam. Die auf drei Bände angelegte Sozialontologie sollte all das zusammenfassen, was Kondylis in seinen Arbeiten zur Ideengeschichte an anthropologischen Gesetzmäßigkeiten entdeckte.

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Verwirklichung von Möglichkeiten des Erlebens“ gilt.59 Mit einem bestimmten Sportschuh für 300 Euro z. B. erwerbe der Käufer ein „Symbol für gewünschte Identitätseigenschaften;“60 es handelt sich um Güter, „die mehr als die bloße Befriedigung von Grundbedürfnissen versprechen, indem sie die Kultur und die Psyche, das Erleben, die kognitiven Fertigkeiten, die Emotionen, die Identität und ein gehobenes Interesse an symbolischem Status ansprechen.“61 Die Käufer der billigen und ebenso der teuren Massenware definieren sich durch Konsum. Indem der erste den zweiten nachzuahmen und der zweite sich von jenem abzusetzen versucht, treiben sie außengelenkt die Ressourcenverschwendung an. Gewann man idealerweise seine Identität durch seine auf andere bezogene Pflichten, so in der Postmoderne tendenziell durch Außenlenkung bzw. Konsumvermögen.

59 Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 151. 60 A. a. O., S. 184. 61 A. a. O., S. 150.

Quellennachweise Die abgedruckten Texte sind Originalbeiträge bis auf die folgenden: Kondylis, Panajotis, „Sein und Zeit.“ Eine Sammlung raffinierter und nebuloser Gemeinplätze, übersetzt von Konstantin Verykios in der Sommerausgabe von „Tumult“ 2014, Ersterscheinung auf Griechisch in: Vogma = To Vima (griechische Tageszeitung) vom 21. 12. 1997 Rumpf, Michael, Aufklärung, in: „Zeno“ Heft 3/1981, S. 59 ff. Verykios, Konstantin, Handlungstheorie bei Kondylis, in: „Iablis“, 2017

Personenverzeichnis Abrams, Harlan S. 79 Albrow, Martin 27 Alexy, Robert 61, 67 Amos, Jennifer 65 Arendt, Dieter 168 Arendt, Hannah 13 Aristoteles 124, 155, 172 Arndt, Hans-Joachim 25, 30 Bacon, F. 146 Baez, John 155 Bartelt, Dawid Danilo 74 Barya, John-Jean B. 77 Baudelaire, Charles 190 Baumann, Zygmunt 171 Bayefsky, Anne 79 Beck, Ulrich 27, 41 Bell, David 30 Bendel, Petra 84 Bender, Peter 28 Benhabib, Seyla 66 Benn, Gottfried 24, 189 Berger, Suzanne 86 Bergson, H. 115 Berka, Walter 60 Bertino, Andrea Christian 101 Bezemek, Christoph 60 Bielefeldt, Heiner 65 Binder, Christina 60 Blanke, Hermann-Josef 75 Blouet, Brian W. 46 Bob, Clifford 69 Bonacker, Thorsten 62 Braudel, Fernand 18 Breitenmoser, Stephan 84 Brodocz, André 62 Bruha, Ingo Thomas 75 Brunkhorst, Hauke 27 Brunner, Otto 18 Brzezinski, Zbigniew 28 Burckhardt, Jacob 13, 28, 168

Burger, Rudolf 77, 83, 111 Burgi, Martin 83 Busche, Hubertus 75 Campbell, Tom 67 Carey, Sabine C. 76 Carleton, David 73 Cassee, Andreas 84 Cassirer, Ernst 13 Clausewitz, Carl v. 23 Comte 93 Condorcet, Marquis de 146 Conze, Werner 18 Creveld, Martin van 37 Dante, Alighieri 7 Daskarolis, Anastasia 23 Deeke, Lüder 142 Deleuze 92 Depenheuer, Otto 83 Derrida, Jacques 13 Descartes, Rene 146 Diaw, Moussa Al Hassan 66 Díaz Nafría, José M. 149, 151 Di Fabio, Udo 27 Dilthey, Wilhelm 16, 20, 89, 115 Dimitriou, Fotis 105, 111, 174 Döblin, Alfred 192 Dolinger, Jacob 71 f., 75 Donnelly, Jack 61, 65 f., 70, 72, 74 Dratel, Joshua L. 74 Duncker, Anne 66 Ebke, Thomas 91 Eckel, Jan 68, 71, 74, 79 Ecker, Julia 85 Eckermann, Johann Peter 184 Edinger, Sebastian 24, 34 Eichendorff, Joseph von 183 f. Eisler, Rudolf 170

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Personenverzeichnis

Engbruch, Katharina 70 Engels, Friedrich 24 Fassbender, Bardo 62, 64 Fastenrath, Ulrich 62 f., 70 Fichte, J. G. 145, 176 Fischer-Lescano, Andreas 74 Flasch, Kurt 167 Flügel-Martinsen, Oliver 88 Freedman, Rosa 71, 78 Freud, Sigmund 9, 105 – 109, 115, 135, 188 Fritze, Lothar 85 Fontane, Theodor 178 Fornari, Maria Christina 100 Forsythe, David P. 66, 73 Foucault, Michel 13, 34, 92 Frisch, Max 187 Fukuyama, Francis 8, 25 f., 42 Furth, Peter 100, 170 Gärditz, Klaus Ferdinand 84 Gareis, Sven Bernhard 72 Giddens, Anthony 41 Glasenapp, Helmut von 13 Goethe, J. W. v. 174, 177, 179 – 182, 184 Golz, Jochen 183 Gouldner, A. 111 Grabenwarter, Christoph 83 Grathoff, Annette 151 Greenberg, Karen J. 74 Greiner, Bettina 74 Grella, Erhardt 65 Gribney, Mark 76 Grindheim, Jan Erik 86 Große, Jürgen 52 Grube, Falko 78 Haack, Stefan 36 Habermas, Jürgen 38 Hafner-Burton, Emilie M. 61, 78 Haratsch, Andreas 62 Hardy, Thomas 188 Harth, Dietrich 7, 102 Haruouel, Jean-Louis 85 Hauer, Andreas 85 Hauser, Arnold 13 Hayes, John-Dylan 141 Hegel, G. W. F. 12, 23, 26, 51 f.

Heidegger, Martin 9, 13, 111 f., 115 – 118 Heinz, Wolfgang S. 77 Helvetius, Claude Adrien 91 Hemker, Fabian 77 Hendrich, Geert 66 Hennis, W. 170 Henrich, Dieter 12, 17 Herder, Johann Gottfried 145 f., 183 Heselhaus, Sebastian 75 Hesse, Hermann 188, 193 Hillgruber, Christian 76 Hilpert, Konrad 82 Hobbes, Thomas 20, 23, 51, 53 f. Hobe, Stephan 76 Höffe, Otfried 62 Hofkirchner, Wolfgang 151 Hölderlin, Friedrich 12 Hopgood, Stephen 74 Horkheimer, Max 13 Horst, Falk 7, 87, 98, 161, 164, 167 Horst, Gisela 9, 23, 25, 28, 55, 91, 153 Huemer, Michael 83 Hume, David 14 f., Huntington, Samuel 42, 64 Husserl, Edmund 116 Ibhawoh, Bonny 71 Ignatieff, Michael 62 Irmscher, Tobias H. 71 Isensee Josef 61 f., 75 f., 85 Jaspers, Karl 93, Jellinek, Camilla 13 Joyce, James 192 Jung, Carl Gustav 106 Käfer, Markus 39 Kafka, Franz 186 ff., 191 Kaltenborn, Markus 71 Kämpf, Andrea 72 Kant, Immanuel 90, 92, 164 Kausikan, Bilahari 66 Keil, Rainer 84 Keller, Gottfried 185 Kelsen, Hans 61 Kemp, Friedhelm 190 Kennedy, David 82 Kersting, Wolfgang 69

Personenverzeichnis Kierkegaard, S. 96, 116 Klages, Ludwig 167 Klein, Eckart 62, 69, 83, Klenner, Hermann 65, 68 Klingebiel, Ruth 64 Kneihs, Benjamin 60 Kohl, Stephan 189 Kojève, Alexandre 26 Koller, Peter 61 Kondylis, Panajotis 7 – 21, 23 – 60, 67 f., 79 – 83, 86 – 101, 105 – 109, 111 f., 114 f., 119 f, 132, 136, 145 ff., 150 – 159, 161 – 174, 176, 179, 183, 186 f., 189, 191 f. Kornhuber, Hans Helmut 142 Koselleck, Reinhart 18 f. Kotzur, Markus 83 Koutroulis, Spyros 14, 56 Kraus, Hans-Christof 8, 25, 27, 44 Krause-Landt, Andreas 24, 45, 80, 96 Krshiwoblozki, Lukas von 37 Kuebart, Gerhard 158 Kuhn, Thomas 158

La Mettrie, Julien Offray de 145, 158 f. Lang, Christine 74 Lange, Friedrich Albert 93 Laska, Bernd A. 157 f. Lawrence, D. H. 191 Lebovic, James H. 78 Lee, Eun-Jeung 66 Leibniz, G. W. 146 Lenin, W. I. 24 Lerch, Monika 77 Lessing, G. E. 21, 146, 180 Lessing, Theodor 52 Lichtenberg, Georg Christoph 13 Liebach, Ingo 75 f. Link, Werner 28 Liskofsky, Sidney 68 f. Llanque, Marcus 36 Lochbihler, Barbara 75 Locke, John 145 Lohmann, Georg 61, 71, 78 f. López-Levy, Arturo 79 Lorz, Ralph Alexander 65 Luhmann, Niklas 41 Lukács, Georg 96

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Machiavelli, Niccolò 7, 13 f., 16 f., 19 ff., 23 Mackinder, Halford 45 f. Malaspina, Cecile 150 Malowitz Karsten 75 Mannheim, Karl 16 Manow, Philip 86 Marauhn, Thilo 75 Margalit, Yotam 86 Markl, Florian 72 Marx, Karl 12 f., 17, 21, 23, 93, 96, 115, 134, 152,164 Marx, Reinhard 74 Maschke, Günter 23 Matznetter, Josef 45 f. Maus, Ingeborg 76 Mazower, Mark 67 f. Mengozzi 84 Menke, Christoph 65 Mertus, Julie A. 74 Metz, Martina 71 Meyer, Berthold 77 Meyer, Christine 65 f. Michels, Robert 13 Miller, David 83 Mittelstraß, Jürgen 141 Montesquieu, Ch.-L. 17, 24 Moosdorf, Kathrin 70 Moravcsik, Andrew 73 Morsink, Johannes 62 Mozart, Wolfgang Amadeus 176 f. Muggentaler, Ferdinand 74 Müller, Enrico 93 Münkler, Herfried 36 f., 47 f., 75, 171 Münkler, Marina 171 Murswiek, Dietrich 85 Musil, Robert 188 Mutua, Makau 67 f., 72 Neier, Aryeh 70 Neskovic, Wolfgang 74 Newton, Isaac 146 Nietzsche, Friedrich 9, 13, 23, 52, 87 – 101, 115 Nolte, Georg 73 Nooke, Günter 61 Nowak, Manfred 63 ff., 67, 74 Nuscheler, Franz 77

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Personenverzeichnis

Obermann, Kieran 83 Odysseus 7 Oeter, Stefan 75 O’Neill, Onora 63 Paech, Norman 76 Paulus, Andreas 27 Peksen, Dusen 75 Penrose, Roger 155 Petersohn, Ulrich 76 Pinocet, Augusto 72 Pirandello, Luigi 188 Platon 7, 90, 175 Plessner, Helmuth 99 ff., 112 Poe, Steven C. 76 Pollmann, Arnd 59, 65, 70 Popper, Karl 168 Pöschel, Magdalena 84 Posner, Eric A. 64 f., 67, 69 f., 82, 85 Ranke, Leopold von 48 Rathgeber, Theodor 72 Raulet, Gérard 11 Reckwitz, Andreas 194 Reinhard, Wolfgang 32 Rhodes, Aaron 63, 66 – 69, 73, 79 Riedel, Eibe 70 Riesman, David 173, 188 Rilke, Rainer Maria 192 Roberts, Adam 75 Rodrik, Dani 86 Rösler, Frank 141 Roth, Gerhard 141 Rousseau, Jean-Jacques 145 Roux, Wilhelm 100 Rumpf, Michael 7, 162 Sade, Marquis de 145 Salutati, Coluccio 92 Sandkühler, Hans Jörg 61, 156 Scheler, Max 93 Schelling, Friedrich W. J. 12, 150, 154, 158 Schiller, Friedrich 13, 153, 175, 182 f. Schmitt, Carl 13, 23 ff., 35 f., 45, 48, 80, 100, 165 Schöbener, Burkhard 75 f. Schopenhauer, Arthur 52, 89 Schorlemer, Sabine von 71

Schubbe, Daniel 75 Schuller, Wolfgang 164 Schwarz, Hans-Peter 85 Seneca, L. A. 14 Sennett, Richard 171 Shermer, Michael 164 Shestack, Jerome J. 73 Sigmund, Tomás 151 Simma, Bruno 62 f., 70 Simon, Philipp 183 Singer, Wolf 141 Sinn, Hans-Werner 85 Smith, Adam 175 Smolin, Lee 155 Sofsky, Wolfgang 171 Sombart, Werner 13 Spieker, Manfred 69 Spinoza, Benedictus de 20, 146, 154 Spohr, Maximilian 72 Stern, Klaus 59, 69 Stichweh, Rudolf 41 Stifter, Adalbert 186 Stohl, Michael 73 Storm, Theodor 184 Sträßner, Matthias 183 Strelka, Joseph P. 188 Taylor, Peter J. 46 Terlingen, Yvonne 72 Terpstra, Marin 97, 99 Theunissen, Michael 17, 157 Thukydides 13 f., 23, 39, 52 f., 91 Tibi, Bassam 66 Toepfer, Georg 100 Tommissen, Piet 24 Tomuschat, Christian 62, 64, 66, 78 Topitsch, Erst 82 Treitschke, Heinrich v. 33 Tsutsui, Kiyoteru 61 Tugenthat, Ernst 98 Turgot, A. R. J. 146 Undset, Sigrid 189 Uvin, Peter 71 Vega, Constance de la 72 Verdirame, Guglielmo 74 Verykios, Konstantin 10, 108, 112, 115

Personenverzeichnis

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Voeten, Eric 78 Voigt, Rüdiger 27

Winckelmann, Johann Joachim 179 Wittgenstein, Ludwig 13, 142, 149

Wahlers, Gerhard 61 Walldorf, C. William 73 Walser, Martin 158 f. Walter, Christian 83 f. Walther, Gerrit 24 Watzlawick 161, 169 f., Weber, Max 13 – 17, 21, 23, 127 ff., 132, 134, 136, 162, 169 f. Weinke, Annette 61 Welsch, Wolfgang 171 Whelan, Daniel J. 65 f., 70 White, Frank 165

Xiaomeng, Zhang

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Zeilinger, Doris 151 Zellenberg, Ulrich 9 Zenkert, Georg 80 Zhavoronkov, Alexey 9, 95 Ziegelbecker, Jasmin 85 Zimmermann, Rainer E. 8, 149, 151, 153, 157 ff. Zimmermann, Rolf 63 Zizek, Slavoj 78 Zürn, Michael 27

Über die Autoren Harth, Dietrich, Prof. Dr. (*1934), Literatur- und Kulturwissenschaftler. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, Geschichte der Geschichtsschreibung, Gedächtnisforschung, Kulturanthropologie. Buchpublikationen (Auswahl): Philologie und Praktische Philosophie (1970), Die Erfindung des Gedächtnisses (1991), Gotthold Ephraim Lessing oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis (1993), Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften (1998), Tintenauge und Schattenmund. Victor Hugos Zeichnungen (2008), Die Heidelberger Bücherverbrennung des Jahres 1933 (2011), Rituale im Zwielicht (2014), Kinder- & Jugendrechte und die Vorteile gelebter Demokratie (2105), José Rizals Kampf um Leben und Tod. Facetten einer kolonialismuskritischen Biografie (2021). Horst, Falk, Dr., Aufsätze zu Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Panajotis Kondylis, Hg. aus dem Nachlass von Panajotis Kondylis, Sozialontologie Bd. 1. Horst, Gisela, Dr., Lehramtstudium Mathematik, Biologie, Chemie; Informatik; Master: Geschichte, Literaturwissenschaft, Promotion: Panajotis Kondylis, Leben und Werk – eine Übersicht. Kondylis, Panajotis: Siehe die Übersicht zu Leben und Werk von Dietrich Harth. Kraus, Hans-Christof, Prof. für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Passau; Mitglied zahlreicher Kommissionen; u. a.: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Historische Kommission zu Berlin, Preußische Historische Kommission, International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions. – Veröffentlichungen zur Geschichte Deutschlands und Großbritanniens (18. – 20. Jh.), Bildungsund Wissenschaftsgeschichte, politische Ideengeschichte der Neuzeit, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: Theodor Anton Schmalz (1760 – 1831) – Jurisprudenz, Universitätspolitik und Publizistik im Spannungsfeld von Revolution und Restauration (1999). Bismarck und die preußischen Konservativen (2000). Das Ende des alten Deutschland. Krise und Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 (2006). Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (2008). Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919 – 1933 (2013). Bismarck. Größe – Grenzen – Leistungen (2015) Der Wendepunkt des Philosophen von Sanssouci, (2017). Rumpf, Michael, Dr., Studium der Philosophie, Germanistik und Italianistik in Bonn und Heidelberg, Studiendirektor im Ruhestand, monographische Veröffentlichungen zu Walter Benjamin; Aphoristiker, Essayist (Themen: Aufklärung, Moralistik, Hans Jonas, Ernst Bloch, Carl Schmitt, philosophische Anthropologie), Übersetzungen aus der italienischen Renaissance; Mitherausgeber der seit 1980 erscheinenden Zeitschrift ZENO. Verykios, Konstantin, nach naturwissenschaftlichem Studium in Graz und Berufsarbeit in Griechenland Privatgelehrter mit breitem Arbeitsgebiet (u. a. Sanskrit), publiziert zum Werk von Panajotis Kondylis.

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Über die Autoren

Zhavoronkov, Alexey, Dr. Dr., promovierte im Fach Klassische Philologie an der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau und im Fach Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt. Zu seinen wissenschaftlichen Interessen gehört die Geschichte der deutschen Philosophie des 18. – 19. Jahrhunderts (Kant, Nietzsche) sowie philosophische Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner) und politische Philosophie des 20. Jahrhunderts (Hannah Arendt u. a.). Wichtigste Publikationen: – Nietzsche und Homer: Nihilism and the Crisis of Tradition: Arndt and Contemporay Radical Conservatism (1918). Tradition der klassischen Philologie und philosophischer Kontext. Berlin/Boston: De Gruyter 2021. – Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie. Bd. 7: Nietzsche und die Anthropologie. Hg. von Th. Ebke und A. Zhavoronkov. Berlin/Boston: De Gruyter 2018. Zellenberg, Ulrich E., Dr., Wirtschaftskammer Österreich. Forschungsschwerpunkte: Staatsorganisationsrecht und Selbstverwaltung. Aufsätze zur politischen Ideengeschichte der Neuzeit, zu staats- und verwaltungsrechtlichen Themen sowie Kommentierungen und Bestimmungen des österreichischen Bundesverfassungsrechts. (Mit-)Herausgeber der Sammelbände Konservativismus in Österreich (1999), Konservative Profile (2003) und Kammern in einem sich wandelnden Umfeld (2014). Seit der 12. Lieferung 2016 Mitherausgeber des von Karl Korinek und Michael Holoubek begründeten Großkommentars Österreichisches Bundesverfassungsrecht (Loseblattausgabe). Zimmermann, Rainer E., Prof. i.R. Dr. rer. nat. Dr. phil. (habil.) 1971 – 1975 Studium der Physik und Mathematik (TU and FU Berlin, und als DAAD-Stipendiat am Imperial College London), 1974 Diploma of Imperial College (Mathematical Physics), 1975 Diplom in Theoretischer Physik (FU Berlin), 1977 Promotion in Mathematik (FU Berlin), 1982 – 1988 Studium der Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaften (TU Berlin), 1988 Promotion in Philosophie (TU Berlin), 1995 – 2017 Professor für Philosophie an der Fakultät 13 (SG) der Hochschule München, nunmehr im Ruhestand. Von 2017 bis 2020 Lehrbeauftragter für das Lehrgebiet „Umwelt, Information, Gesellschaft“ am Fachbereich 2 (Informatik) der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin. Kursleiter am Planetarium der Wilhelm-Foerster-Sternwarte Berlin. 1998 Habilitation in Naturphilosophie an der Universität Kassel, bis 2009 Privatdozent dort, 1999 – 2005 Projektleiter der Kasseler Gruppe im Rahmen der INTAS-Kooperation „Human Strategies in Complexity“ (EU-Kommission Brüssel, federführend: TU Wien) innerhalb der IAG Philosophische Grundlagenprobleme, 1999/2000 Visiting Scholar am History and Philosophy of Science Department und Visiting Fellow of Clare Hall, Universität Cambridge (UK), seitdem Life Member of Clare Hall, 2003 Senior Visiting Fellow am Institute of Advanced Studies, University of Bologna, 2006 International Visiting Professor am ict&s, Universität Salzburg, 2010/11 Visiting Professor am Centre of Metropolitan Studies, TU Berlin, 2014 Visiting Professor an der Fakultät für Informatik, TU Wien, 2014 zudem Erasmus Exchange Professor (Staff Mobility) an der Fakultät Erziehungswissenschaften der Universität León (Spanien). Rund 440 Publikationen, darunter etwa 30 Bücher https://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_ E._Zimmermann.