Das Drama in der abstrakten Gesellschaft: Zur Theorie und Struktur des modernen englischen Dramas 9783111635866, 9783484660021


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German Pages 275 [276] Year 1988

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
THEORETISCHER TEIL
1. Ausgangssituation und Fragestellung
2. Der Begriff der abstrakten Gesellschaft
3. Die abstrakte Gesellschaft als Problemansatz des Neuen Englischen Dramas
4. Dramentheoretische Voraussetzungen
5. Das Neue Englische Drama im Verhältnis zum Epischen Theater
6. Das Neue Englische Drama im Verhältnis zum Absurden Theater
7. Das Neue Englische Drama zwischen Epischem und Absurdem Theater
8. Neues Englisches Drama und amerikanisches Drama
INTERPRETATIONSTEIL
1. John Osborne, Look Back in Anger: Die Exposition der Problematik
2. Harold Pinter, The Birthday Party: Abstrakte Gesellschaft als Identitätsproblem
3. Arnold Wesker, The Kitchen: Abstrakte Gesellschaft als ökonomisches Systemproblem
4. John Arden, Serjeant Musgrave’s Dance: Abstrakte Gesellschaft als moralisches Handlungsproblem
5. Tom Stoppard, Rosencrantz and Guildenstern Are Dead: Abstrakte Gesellschaft als Problem der Textualität
6. Edward Bond, Lear. Abstrakte Gesellschaft als politisches Systemproblem
7. Peter Shaffer, Equus: Abstrakte Gesellschaft als subjektives Erfahrungsproblem
8. Die Rolle der abstrakten Gesellschaft bei anderen Autoren des englischen Gegenwartsdramas
9. Schlußbemerkung und Resümee
Literaturverzeichnis
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Das Drama in der abstrakten Gesellschaft: Zur Theorie und Struktur des modernen englischen Dramas
 9783111635866, 9783484660021

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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele

Band 2

Hubert Zapf

Das Drama in der abstrakten Gesellschaft Zur Theorie und Struktur des modernen englischen Dramas

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Gesamthochschule Paderborn gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zapf, Hubert: Das Drama in der abstrakten Gesellschaft : zur Theorie u. Struktur d. modernen engl. Dramas / Hubert Zapf. - Tübingen : Niemeyer 1988 (Theatron ; Bd. 2) Zugl.: Paderborn, Univ., Habil.-Schr., 1987 NE: GT ISBN 3-484-66002-3

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Walter,Tübingen. Druck: Laupp & Göbel,Tübingen 3. Einband: Heinr. Koch, Tübingen.

Inhaltsverzeichnis

THEORETISCHER TEIL

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Ausgangssituation und Fragestellung Der Begriff der abstrakten Gesellschaft Die abstrakte Gesellschaft als Problemansatz des Neuen Englischen Dramas Dramentheoretische Voraussetzungen Das Neue Englische Drama im Verhältnis zum Epischen Theater Das Neue Englische Drama im Verhältnis zum Absurden Theater Das Neue Englische Drama zwischen Epischem und Absurdem Theater . Neues Englisches Drama und amerikanisches Drama

1

3 15 25 30 33 44 49 53

INTERPRETATIONSTEIL

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1. John Osborne, Look Back in Anger: Die Exposition der Problematik . . . 1.1. Positionen der Kritik 1.2. Der amorphe Charakter von Jimmy Porters gesellschaftlichem Gegenspieler 1.3. Die Figur Jimmy Porters: sozialer Identitätsverlust und individuelle Gegenrolle 1.4. Die dramatische Situation als Modell einer vom Gesellschaftssystem abgekoppelten Lebenswelt 1.5. Die Struktur der Interaktionen 1.5.1. Das Zeitungsmotiv als Interaktionsrahmen 1.5.2. Die Asymmetrie der Interaktionsstruktur 1.5.3. Regressive Züge der Interaktionen 1.6. Zusammenfassung 1.7. Ein Blick auf andere Werke Osbornes

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2. Harold Pinter, The Birthday Party: Abstrakte Gesellschaft als Identitätsproblem 2.1. The Birthday Party im Vergleich mit Look Back in Anger 2.2. Rahmenhandlung und Binnenhandlung 2.3. Goldberg und McCann als Agenten der abstrakten Gesellschaft.... 2.4. Der Widerspruch von abstrakter Gesellschaft und konkreter Identität als handlungsbestimmendes Prinzip 2.5. Zusammenfassung 2.6. Ein Blick auf andere Werke Pinters

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V

3. Arnold Wesker, The Kitchen: Abstrakte Gesellschaft als ökonomisches Systemproblem 3.1. Die Großküche als ökonomisches Weltmodell 3.2. Die Küche als verselbständigte Zwischenwelt und Subjekt der dramatischen Handlung 3.3. Die Folgen der abstrakten Zwischenwelt: Entwirklichung und Regression des konkreten Menschen 3.4. Peters Verhalten als ambivalenter Versuch der (Re-)Konkretisierung des Menschlichen 3.5. Zusammenfassung 3.6. Ein Blick auf andere Werke Weskers 4. John Arden, Serjeant Musgrave's Dance: Abstrakte Gesellschaft als moralisches Handlungsproblem 4.1. Entstehungsgeschichte und Problemgrundriß 4.2. Musgraves Revolte als Versuch der moralischen Konkretisierung eines abstrakten Handlungsproblems 4.3. Die undurchschaute Abstraktheit von Musgraves Handlungskonzept 4.4. Die Ausgrenzung der sinnlich-emotionalen Lebensweltssphäre als subjektiver Grund von Musgraves Scheitern 4.5. Die Realität der abstrakten Gesellschaft als objektiver Grund für Musgraves Scheitern 4.6. Zusammenfassung 4.7. Ein Blick auf andere Werke Ardens 5. Tom Stoppard, Rosencrantz and Guildenstern Are Dead: Abstrakte Gesellschaft als Problem der Textualität 5.1. Rosencrantz and Guildenstern Are Dead im Vergleich mit Becketts Waiting for Godot 5.2. Shakespeares Hamlet als Modell verselbständigter Textualität 5.3. Stoppards Hamlet-Rezeption: Innerdramatische Dekonstruktion eines Dramas 5.4. Rosencrantz und Guildenstern außerhalb der Hamlet-Hanähmg ... 5.5. Die Rolle der Tragedians 5.6. Interaktion mit dem Zuschauer und Zusammenfassung 5.7. Ein Blick auf andere Werke Stoppards 6. Edward Bond, Lear: Abstrakte Gesellschaft als politisches Systemproblem 6.1. Die Mauer als Zentralsymbol und Subjekt der dramatischen Handlung 6.2. Die Haupthandlung als Manifestation eines abstrakten politischen Handlungssystems 6.2.1. Moralisch-ideologische Komponente 6.2.2. Militärische Komponente 6.2.3. Administrativ-bürokratische Komponente 6.2.4. Technisch-wissenschaftliche Komponente VI

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6.3. Die Gegenhandlung als Projektion einer konkret-anthropozentrischen Alternative 6.4. Formale Konsequenzen und Zusammenfassung 6.5. Ein Blick auf andere Werke Bonds 7. Peter Shaffer, Equus·. Abstrakte Gesellschaft als subjektives Erfahrungsproblem 7.1. Equus als Dramatisierung eines hermeneutischen Verstehensmodells . 7.2. Dysart und der kulturphilosophische Sinn von >Equus< 7.3. Die Geschichte von Alans Equus-Komplex 7.3.1. Erste Stufe: Die Ersetzung konkreter Primärerfahrung durch kulturelle Sekundärerfahrungen 7.3.2. Zweite Stufe: Die Rückübersetzung der kulturellen Sekundärerfahrungen in konkrete Primärerfahrung 7.3.3 Dritte Stufe: Equus als konkretes Gegenmodell zur abstrakten Gesellschaft 7.3.4. Vierte Stufe: Das Scheitern des Gegenmodells in der Kollision mit der intersubjektiven Wirklichkeit 7.4. Die Struktur der Interaktion zwischen Dysart und Alan 7.5. Zusammenfassung 7.6. Ein Blick auf andere Werke Shaffers

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8. Die Rolle der abstrakten Gesellschaft bei anderen Autoren des englischen Gegenwartsdramas 8.1. Politisches Theater 8.1.1. Trevor Griffiths 8.1.2. Caryl Churchill 8.1.3. Pam Gems 8.1.4. Howard Brenton 8.1.5. David Hare 8.1.6. David Edgar 8.1.7. Stephen Poliakoff 8.2. Spielästhetik des Theaters 8.2.1. Simon Gray 8.2.2. Michael Frayn 8.2.3. Alan Ayckbourn 8.2.4. Christopher Hampton

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9. Schlußbemerkung und Resümee

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LITERATURVERZEICHNIS

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VII

THEORETISCHER TEIL

1. Ausgangssituation und Fragestellung

Das Neue Englische Drama, das mit John Osbornes Look Back in Anger (1956) begann 1 und das seit dieser Zeit eine »führende Stellung« in der zeitgenössischen Weltliteratur einnimmt, 2 stellt sich dem Betrachter als ein zwar historisch und geographisch klar umgrenztes, literaturwissenschaftlich aber nur schwer definierbares Phänomen dar. Es läßt sich nämlich nicht unter ein eindeutig bestimmbares theoretisches Programm subsumieren oder einer bestimmten dramenästhetischen >Schule< zurechnen, sondern ist vielmehr durch eine solche Vielfalt von Formen, Stilen und Tendenzen gekennzeichnet, daß es schwerfällt, überhaupt etwas Gemeinsames in der Fülle des Heterogenen auszumachen, welche eher provisorisch unter dem Titel des New English Drama zusammengefaßt ist. Dementsprechend ist nach anfänglichen, von der Euphorie des Neuen beflügelten Versuchen einer Gesamtschau in der Kritik seither die überwiegende Neigung erkennbar, eher die unterschiedlichen Richtungen und die individuellen Differenzqualitäten der Autoren und Werke zu betonen, die Frage nach übergreifenden Gemeinsamkeiten dagegen weitgehend zu vernachlässigen. 3 Die Folge ist, trotz des beträchtlichen Umfangs der vorliegenden kritischen Literatur, eine sachlich wie methodologisch unbefriedigende Forschungssituation: man operiert mit einem Begriff, der als gängiges Etikett dient und durch rituelle Wiederholung eine Einheit seines Gegenstandes suggeriert, die indessen in den konkreten Forschungsergebnissen kaum geschichtliche und theoretische Substanz gewinnt. 1

Wichtige Einführungen in das Thema sind u.a. John Russell Taylor, Anger and After. A Guide to the New British Drama (London, 1962); Modem British Dramatists, ed. John Russell Brown (Englewood Cliffs, N.J., 1968); J.R. Brown, Theatre Language. Α Study of Arden, Osborne, Pinter and Wesker (London, 1972); Arnold P. Hinchcliffe, British Theatre 1950-70 (Oxford, 1974); John Elsom, Post-War British Theatre (London, 1976); Contemporary English Drama, ed. C.W.E. Bigsby, Stratford-Upon-Avon-Studies 19 (London, 1981); Essays on Contemporary British Drama, eds. Hedwig Bock and Albert Wertheim (München, 1981); weitere Titel vgl. laufenden Text und Bibliographie. Im deutschsprachigen Raum sind vor allem zu nennen: Das zeitgenössische englische Drama, eds. Klaus-Dieter Fehse und Norbert Platz (Frankfurt, 1975); Horst Oppel, Das englische Drama der Gegenwart: Interpretationen (Berlin, 1976); Paul Goetsch, Bauformen des modernen englischen und amerikanischen Dramas (Darmstadt, 1977); »Modernes englisches Drama«, anglistik & englischunterricht 7 (1979); Albert-Rainer Glaap, Das englische Drama seit 1970 (Limburg, 1979); Drama und Theater im England des 20. Jahrhunderts, ed. Heinz Kosok (Düsseldorf, 1980); Christian W. Thomsen, Das englische Theater der Gegenwart (Düsseldorf, 1980); »Modern Drama and Society«, anglistik & englischunterricht, 20 (1983); Englisches Drama von Bekkett bis Bond, ed. Heinrich F. Plett (München, 1982); Das englische Drama nach 1945, ed. Klaus Peter Steiger (Darmstadt, 1983).

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Plett, Englisches Drama von Beckett bis Bond, p.5. Vgl. hierzu Gerd Stratmann, »Der böse Zauber der Verhältnisse. Formen und Funktion der Mythisierung im modernen englischen Drama,« Poetica 9 (1977), 6 2 - 9 7 , bes.62ff.

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3

N u n könnte man darin den Ausdruck eines durchaus respektablen Pragmatismus sehen, der es vermeiden möchte, die bestehende Vielfalt des englischen Gegenwartsdramas durch spekulative Verallgemeinerungen und durch die Konstruktion hypothetischer Gemeinsamkeiten zu reduzieren oder gar gänzlich zuzudecken. Und zweifellos ist es in der Tat richtig, daß es nicht darum gehen kann, diese Vielfalt zu leugnen oder zugunsten eines nivellierenden Einheitskonzepts einfach wegzuabstrahieren. Daraus folgt jedoch nicht, daß man die Suche nach übergeordneten Strukturzügen überhaupt einstellen sollte. Vielmehr ergibt sich umgekehrt die Notwendigkeit einer solchen Suche geradezu als methodische Forderung aus der »Aufsplitterung und Z u sammenhanglosigkeit der kritischen Literatur in diesem Bereich.« 4 D i e Bilanz, die Gerd Stratmann in diesem Sinn im Jahre 1978 zog, hat auch heute noch weitgehend Gültigkeit, obwohl inzwischen eine ganze Reihe neuer Aufsätze, Monographien und Interpretationssammlungen erschienen ist. Zwar ist immerhin in einigen seither publizierten Beiträgen das Bestreben erkennbar, wieder stärker den inneren Zusammenhang und die übergreifenden Charakteristika des Gegenstandsbereichs herauszustellen. Zu erwähnen ist hier vor allem Christian W. T h o m s e n s Gesamtdarstellung des zeitgenössischen englischen Theaters in seinem Buch Das englische genwart

Theater

der

Ge-

(1980), 5 sowie der weit knappere, jedoch ebenfalls höchst kenntnisreiche und

informative Überblick über das New English

Drama

von Heinrich F. Plett in seiner

Einführung zu dem unentbehrlichen Sammelband Englisches

Drama

von Beckett

bis

Bond (1982). 6 Es bleibt indessen festzuhalten, daß es nach wie vor kaum einen Ansatz zu einer >Theorie< des modernen englischen Dramas gibt, mit der diese Werke in einen gemeinsamen geschichtlichen und ästhetischen Kontext gestellt würden. U n d vielleicht kann es eine solche Theorie, im Vollsinn des Wortes, auch gar nicht geben. D o c h bleibt die methodische Forderung bestehen, daß neben die zweifellos wichtigen und notwendigen Einzeluntersuchungen und neben die eher feuilletonistischen Ü b e r blicke eine stärker systematisierende Perspektive treten muß, die bewußt die gemeinsamen Züge und Strukturen herausarbeitet und das New English

Drama

in seiner spe-

zifischen Leistung, seinem Beitrag zur F o r m und Aussage des modernen Dramas und das heißt in seinem Beitrag zur Bewältigung zentraler Gegenwartsprobleme untersucht. Das Drama ist seit Hegel als diejenige literarische Gattung bestimmt, die von ihren eigenen konstitutiven Kategorien her, den Kategorien individuellen Handelns und zwischenmenschlicher Interaktion, in einer besonderen Affinität zur Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit steht, auf die es sich bezieht. 7 Dies wird noch näher auszuführen sein, doch kann hier schon soviel gesagt werden, daß das Drama sich erst 4 5

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4

Stratmann, op.cit., p. 66. Christian W. Thomsen, Das englische Theater der Gegenwart (Düsseldorf, 1980). — Hinzu kommt neuerdings: Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters, ed. Ch. W! Thomsen (Tübingen, 1985), wo in verschiedenen Beiträgen auch auf dramenästhetische Aspekte des englischen Dramas eingegangen wird. H.F. Plett, »Entwicklungen und Tendenzen im englischen Theater der Gegenwart«, Englisches Drama von Beckett his Bond, pp.9—49. Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III. Werke Bd.XV (Frankfurt, 1970), pp.474ff.

dann in seinen ästhetischen Möglichkeiten voll realisiert, wenn es diese Wirklichkeit in ihren wesentlichen Problemen und Widersprüchen in sich aufnimmt und in seiner Thematik und Struktur zum Austrag bringt. Das Drama ist »geschichtsphilosophischen Wesens,« 8 es ist daher nicht so sehr darauf angelegt, eine empirisch-soziologische Welt der Faktizität abzubilden als vielmehr die geschichtliche Struktur einer Gesellschaft zu durchleuchten, und zwar aus der Perspektive eben jener Kategorien individuelle» Handelns und zwischenmenschlicher Interaktion, in denen es sich definiert. Will man daher dem Phänomen des modernen englischen Dramas als einem literarisch-künstlerischen Phänomen näherkommen, so genügt es nicht, äußere Entstehungsbedingungen wie bestimmte theatergeschichtliche Entwicklungen, die Ausbildung eines nichtkommerziellen Theaterwesens, die Abschaffung der staatlichen Zensur, den Einfluß der Massenmedien u. a. m. zusammenzuaddieren, und es genügt auch nicht, die sozialen, politischen und ästhetischen Wirkabsichten der einzelnen Autoren und deren formale Neuerungen zu benennen und einander gegenüberzustellen. Es m u ß vielmehr, jenseits bloß empirischer, intentionaler oder formalästhetischer Faktoren, die Frage nach jener geschichtsphilosophischen Substanz gestellt werden, nach der Art und dem Komplexitätsgrad des zeitgeschichtlichen Problemhorizonts, auf den die Stücke reagieren und von dem sie bis in ihren inneren Zusammenhang von Inhalt und Form hinein geprägt sind. N u n ist allerdings, wenn überhaupt dem New Drama in England etwas Gemeinsames zugeschrieben wird, nahezu unisono von der neuen Wirklichkeits- und Gesellschaftsnähe die Rede, die es auszeichne und von seinen Vorgängern unterscheide. Doch gerade auf dieser Ebene wiederholt sich das Dilemma noch einmal in verschärfter Form. Denn was hierbei unter der >Wirklichkeit< und der >Gesellschaft< zu verstehen sei, bleibt in auffälliger Weise vage und unbestimmt. Die Unscharfe des implizierten Wirklichkeits- und Gesellschaftsbegriffs, mit dem ein Großteil der Kritik operiert, verbirgt sich dabei häufig hinter dessen Umschreibung mit konventionellen Kategorien, die vielfach den Charakter stereotyper Leerformeln annehmen: es gehe um die kritische Darstellung der »Normzwänge der bürgerlichen Gesellschaft,« 9 der »satten materialistischen Konformität des bürgerlichen Lebens,« 10 der "deficiencies of the modern world," 11 der »allgemeinen Krise des Kapitalismus,« 12 des "Weifare State" 13 u . a . m . In den terminologischen Schwierigkeiten der Kritik scheint sich dabei eine prinzipielle Schwierigkeit zu manifestieren, die historisch neuartige Dimension von Gesellschaft begrifflich zu fassen, die in den Werken zum Ausdruck kommt und die sich dem Zugriff jener konventionellen Kategorien entzieht. Um die geschichtsphilosophische Substanz und damit ineins die spezifische dramenästhetische Leistung des Neuen Dramas näher zu bestimmen, stellt sich daher die vordringliche Aufgabe, 8 9 10

Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880-1950) (Frankfurt, 1956, 71970), p. 12. Plett, op.cit., p p . 3 2 - 3 3 . Horst Groene, »Grundtendenzen des zeitgenössischen englischen Dramas«, in »Moderne englischsprachige Dramatik in Hochschule und Schule«, Beiheft zu LWU, 11 (1978), 3 - 1 8 , 12.

11 12 13

Taylor, Anger and After, p.45. Günther Klotz, Britische Dramatiker der Gegenwart (Berlin, 1982), p.24. Stratmann, »Der böse Zauber der Verhältnisse«, insbes. 6 6 - 6 7 .

5

den Gesellschaftsbezug begrifflich zu präzisieren, der den Werken zugrundeliegt und der erst Aufschluß über die innere Logik ihrer dramatischen Konzeption geben kann. Aus diesem Kontext ergeben sich Fragestellung und Zielsetzung der vorliegenden Arbeit. Stratmanns Skizzierung der methodischen Voraussetzungen und des Fragehorizonts, in den die aktuelle Forschung über das moderne englische Drama gestellt ist, besitzt dabei auch für diese Untersuchung Gültigkeit. Die literaturhistorische Wende, wie sie das Neue Drama darstellt, »ist mehr als die Summe einsamer Entschlüsse, durch die sich plötzlich viele junge Theaterleute und Intellektuelle veranlaßt fühlen, es mit dem Verfassen neuartiger Dramen zu versuchen. Sie ist Ausdruck eines >neuen< und, wie ihre Durchsetzungskraft zeigt, repräsentativen Bewußtseins, Antwort auf eine ganz bestimmte sozial- und kulturgeschichtliche Situation, der eine ältere Literatur immer weniger gerecht zu werden scheint.« 14 Ziel muß es daher sein, nach Parallelen zwischen diesem historischen Kontext und den »dramatischen Strukturen und Strategien zu forschen,« was es zugleich erst erlaubt, die »Unterschiede zwischen ihnen angemessen zu verstehen und sie als die literarischen Stilisierungen verschiedener Haltungen bzw. Wirkabsichten gegenüber ein und derselben Situation sinnvoll aufeinander zu beziehen.« 15 Stratmann selbst leistet hierzu in dem zitierten Aufsatz einen konkreten Beitrag, indem er die Stücke im Sinn einer Auseinandersetzung mit dem Weifare State deutet, wie er im England der 50er Jahre zur Ausprägung kam. Diese Auseinandersetzung finde primär in der Form einer Mythisierung statt, die den Weifare State im Mythos der göttlichen Übermutter dramatisch gestalte. Stratmann stellt also damit einen Zusammenhang her zwischen einem ganz spezifischen, historisch-politischen Kontext der Zeit und bestimmten Strategien der dramatisch-psychologischen Verarbeitung, mit denen die Werke darauf reagieren. Obwohl indessen dieser Ansatz, als bewußter Versuch einer historisch-theoretischen Systematisierung des Neuen Dramas, eine gewisse Affinität zu dem hier gewählten aufweist, ist die vorliegende Untersuchung dennoch auf einer anderen, grundsätzlicheren Ebene angesetzt. Die von Stratmann beschriebene Wechselbeziehung soll hier nicht prinzipiell geleugnet werden, doch stellt sie, wie ich meine, nur einen Aspekt in dem größeren Komplex einer übergreifenden, gleichsam kulturanthropologischen Problematik der modernen, westlich-kapitalistischen Industriegesellschaft dar, der mir in den Werken dramatisiert zu sein scheint. Dieser Problemkomplex aber läßt sich, wie ich zeigen möchte, mit dem kulturtheoretischen Konzept der abstrakten Gesellschaft auf den Begriff bringen. Ich glaube, anders als Stratmann, daß nicht die Mythisierung des Weifare State, sondern die Antwort auf diese noch näher zu bestimmende, weitaus grundlegendere >Zivilisationsproblematik< das eigentliche und zentrale Anliegen der Dramatiker darstellt, welches sie mit großem Engagement und mit künstlerischer Radikalität verfolgen. Es wäre nämlich, sofern die Stücke allein oder hauptsächlich aus einer spezifischen historisch-sozialen Situation Englands heraus zu verstehen wären, nicht erklärbar, warum sie, wie es inzwischen communis opinio der Literaturwissenschaft ist, zu den führenden Werken der drama-

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6

Stratmann, op.cit. 67f. Stratmann, ibid.

tischen Weltliteratur gerechnet werden müssen. Es scheint vielmehr, daß die neue Weltgeltung, die das englische Drama sich seit 1956 innerhalb kürzester Zeit erwarb, damit zusammenhängt, daß es sich stärker und bewußter als andere Richtungen und Ausprägungen des modernen Dramas jener fundamentalen Krise des modernen Menschen und seiner Gesellschaft stellt, die mit dem Begriff der abstrakten Gesellschaft umrissen ist. Von hier aus läßt sich nun die These dieser Arbeit formulieren. Ich möchte zeigen, daß die wichtigsten Werke des New English Drama in ihrem spezifischen Gesellschaftsbezug vom Konzept der abstrakten Gesellschaft aus beschreibbar sind und daß damit eine übergeordnete zeitgeschichtliche Problemstruktur benannt ist, die nicht nur die thematisch-inhaltliche Ebene der Stücke prägt, sondern geradezu als deren grundlegendes, charakteristisches Strukturmodell aufweisbar ist. Mit diesem Konzept, das neueren Ansätzen der Kultur- und Gesellschaftstheorie entstammt16 und das unten noch näher zu explizieren sein wird, ist zunächst einmal global gesagt die Tendenz der Strukturen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft bezeichnet, sich gegenüber dem konkreten Lebenshorizont der Menschen zu verselbständigen und deren unmittelbare Erfahrungswelt mit einer Sekundärwelt soziokultureller Abstraktionen zu überziehen — etwa im Bereich der Medien, der Datenspeicherung, des Rechtswesens, der Bürokratie, der Wissenschaft, der Computertechnologie u.a.m. —, die für sie immer mehr zur lebensbestimmenden > Wirklichkeit wird, die sich jedoch gleichzeitig der persönlichen Erfahrbarkeit, der sinnlichen Vorstellbarkeit, der handlungsmäßigen Zugänglichkeit für den einzelnen zunehmend entzieht. Dieser Zug zur Abstraktheit der sozialen Bezugswelt des Menschen geht zwar auf die Entstehung der westlichen Industriegesellschaft selbst zurück, hat aber in diesem Jahrhundert, und insbesondere in der Phase seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, eine solche Dominanz gegenüber anderen Zügen erlangt, daß es gerechtfertigt erscheint, ihn als einen der Schlüsselbegriffe zur Charakterisierung gegenwärtiger Gesellschaftserfahrung anzusetzen. Es ist aber nun klar, daß eine solche Veränderung im Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft tiefgreifende Konsequenzen nicht nur für das Leben und die Beziehungen der Menschen, sondern auch für das Medium des Dramas mit sich bringt. Denn sie bedeutet, daß die konkreten, auf persönliche Identität und zwischenmenschliche Interaktion aufgebauten Handlungs- und Konfliktmuster früherer Gesellschaften, die bis in dieses Jahrhundert herein die menschliche Realität und deren Darstellung im Drama beherrschten, nicht mehr greifen, da sie von den realitätsentscheidenden Gesellschaftsvorgängen zunehmend abgekoppelt und damit gleichsam entwirklicht werden. Wenn nicht länger die Primärwelt unmittelbar-persönlicher Erfahrung und Intersubjektivität, sondern eine vielfach vermittelte, hochgradig indirekte Sekundärwelt gesellschaftlicher Abstraktionen bestimmt, was die >Wirklichkeit< des heutigen Menschen ausmacht, so droht dies nicht nur den einzelnen in eine existentielle Krise 16

Vgl. vor allem Anton C. Zijderveld, The Abstract Sodety. A Cultural Theory of Our Time (New York, 1970), und Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, und Band II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (Frankfurt, 1981). 7

zu stürzen, sondern das Drama seiner eigentlichen Grundlage zu berauben. So wie der moderne Mensch in die paradoxe Lage versetzt ist, sich auf eine soziale Umwelt beziehen zu müssen, die seinem konkreten Leben und Handeln den Boden der Realität entzieht, so ist das Drama, sofern es seinem gattungsimmanenten Auftrag geschichtsphilosophischer Wahrheit gerecht zu werden versucht, in die ähnlich paradoxe Lage versetzt, sich auf eine Wirklichkeit beziehen zu müssen, die ihm die eigene Realitätsgrundkge zu entziehen droht. In dieser paradoxen, zeitgeschichtlich fundierten Problemkonstellation aber liegt, wie ich zeigen möchte, der entscheidende Ansatzpunkt des Neuen Englischen Dramas, in dessen Werken die weitreichenden Implikationen dieses Strukturwandels der Gesellschaft für die Bedingungen menschlicher Existenz wie für die Bedingungen des Dramas selber mit aller Konsequenz realisiert sind. Hierin liegt zugleich auch der wesentliche Unterschied der Neuen Dramatiker zur Generation ihrer Vorgänger. In den poetischen Versdramen von Christopher Fry und T. S. Eliot wie in den well-made plays von William Somerset Maugham, John B. Priestley oder Terence Rattigan leben die konkreten Identitäts- und Aktionsmuster, während sie im realhistorischen Prozeß fortschreitend entwertet und entwirklicht werden, in den künstlich aufrechterhaltenen Formeln der theatralischen Konvention fort. Die letztlich ungebrochene Geltung dieser Muster im englischen Drama vor 1956 formuliert treffend Horst Groene in seinem informativen Essay über das Neue Drama: Vor 1956 waren die Stücke zumeist nach dem Muster des >well-made play< in der an Ibsen und Zola ausgerichteten realistischen Variante konzipiert worden. Es gab einen handlungstragenden Helden, eine logisch-kausale Handlung entwickelte sich über Krisis und Höhepunkt zur Lösung, die Einheiten von Ort und Zeit wurden in akzeptablen Grenzen eingehalten . . . In den Dramen vor 1956 wurden im wesentlichen Charaktere auf der Bühne präsentiert, die als Vernunft- und willensbegabte Wesen in einer überschau- und verstehbaren Welt aktiv tätig waren, relativ normalen Moral- und Wertvorstellungen anhingen und in der Lage waren, ihren Gedanken und Gefühlen für jedermann verständlich Ausdruck zu verleihen.17

Dies hat sich im Drama nach 1956 grundlegend geändert, in welchem der geschichtliche Realitätsverlust konkreter Identitäts- und Handlungsmuster auf den Charakter und die Struktur der Stücke durchschlägt. Die Werke beziehen zwar ihre Dynamik aus dem Impuls, den letztlich humanistisch begründeten Geltungsanspruch der konkreten, anthropozentrischen* Dimension menschlicher Existenz aufrechtzuerhalten; doch bricht sich diese Dynamik an den >anthropofugalen< Kräften der abstrakten Gesellschaft,18 die in verschiedenen Gestalten in den Werken auftreten und, indem sie zunehmend selbst zur handlungsbestimmenden Instanz werden, jenen Geltungsanspruch immer wieder desavouieren. Die Durchbrechung der bis dahin gültigen sprachlichen und theatralischen Normen des well-made play, die häufig als wesentliches Charakteristikum des Neuen Dramas angesehen wird, ist daher, wie mir scheint, 17 18

8

Groene, »Grundtendenzen des englischen Dramas«, 9, 13. Zu dem im folgenden öfter verwendeten Begriffspaar >anthropozentrisch< vs. >anthropofugal< vgl., in anderem Zusammenhang, Lorenz Krüger, »Über das Verhältnis der hermeneutischen Philosophie zu den Wissenschaften«, Hermeneutik und Dialektik / (Tübingen, 1970), 3-30.

nicht einfach eine Rebellion gegen erstarrte Theaterkonventionen und Ausdruck eines innerdramatischen Innovationsbestrebens, sondern hat hier ihren tieferen, geschichtsphilosophischen Aspekt. Die radikale Infragestellung des selbstbestimmt handelnden Charakters, des teleologisch entfalteten, logisch-kausalen Handlungsaufbaus, der werkkonstitutiven Dialektik zwischenmenschlicher Interaktionen führt zu Veränderungen in der Tiefenstruktur der Dramen, die einem Paradigmawechsel im zugrundeliegenden Gesellschafts- und Handlungsmodell gleichkommen. Die zeitgeschichtliche Problemstruktur der abstrakten Gesellschaft greift nicht nur in die thematisch-inhaltliche Ebene der Werke ein, sondern in die Substanz ihrer dramatischen Konzeption. In dem existentiellen Konflikt des modernen Menschen mit den anthropofugalen Kräften der abstrakten Gesellschaft, die seine Humanität zu zerstören drohen, und nicht in einer bestimmten, zeitspezifischen Thematik liegt meines Erachtens der Kern des Gesellschaftsbezugs des New English Drama, und in der inneren Widersprüchlichkeit und paradoxen Struktur dieses Konflikts liegen die Schwierigkeiten begründet, die die Frage nach diesem Gesellschaftsbezug in der Kritik immer wieder aufgeworfen hat. Die Art dieses Gesellschaftsbezugs ist übrigens, entgegen einer verbreiteten Annahme, nicht immer identisch mit den expliziten Äußerungen der Autoren zu diesem Thema. Vielmehr scheint er der eher vorbewußten, in den Werken objektivierten Wahrnehmung einer in besonderem Maß für Gegenwartsprobleme sensibilisierten Dramatikergeneration zu entspringen, scheint also etwas darzustellen, was im Strukturalismus >Epistem< genannt wird, eine zeittypische Denk- und Auffassungsform der Wirklichkeit, die zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt gleichzeitig bei verschiedenen Autoren hervortritt und die in den künstlerischen Objektivationen stärker als in den diskursiven Selbstäußerungen der Dramatiker zum Vorscheint kommt.19 Man muß in diesem Zusammenhang femer festhalten, daß die dramatischen Werke keineswegs nur je >individuell< auf ihre Zeit reagieren, sondern sich gegenseitig beeinflussen und, was die Form ihrer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit anbelangt, in einer ständigen Wechselwirkung untereinander stehen. Dieser Gesichtspunkt der »Intertextualität«20 gilt natürlich allgemein gesprochen zunächst für das Korpus der dramatischen Tradition, das Repertoire an Werken, Stilen und Konventionen, auf das die neuen Dramatiker, auch wenn sie sich kritisch davon absetzen, zumindest implizit sich beziehen. Er gilt aber im Fall des New English Drama in besonderer Weise für die Beziehung und Reaktion der Werke bzw. Dramatiker aufeinander, was über das hier zur Debatte stehende kulturtheoretische Grundmodell hinaus in einzelne Form- und Motivzüge hinein aufweisbar ist — von denen allerdings nur einige in den untenstehenden Dramenanalysen zur Sprache kommen können. In ihrer durch theatersoziologische Gegebenheiten verstärkten Wechselwirkung entfalten die englischen Dramen seit 19

20

Zum Begriff des Epistems (episteme) vgl. Michel Foucault, Les mots et les choses: Une archeologie des sciences humaines (Paris, 1966). Foucault verwendet den Begriff allerdings eher im wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Sinn, so daß er hier nur metaphorisch gebraucht wird. Vgl. zu diesem Konzept Ulrich Broich und Manfred Pfister (Eds.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. (Tübingen, 1985).

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1956 sozusagen eine eigene, neue Tradition der Intertextualität, die zur Herausbildung eines übergreifenden dramatischen Paradigmas und d.h. einer charakteristischen Struktur und Ästhetik des englischen Gegenwartsdramas nicht unwesentlich beitrug. N u n soll selbstverständlich hier nicht behauptet werden, daß mit dem Paradigma der abstrakten Gesellschaft ein in irgendeinem Sinn >erschöpfendes< Beschreibungsmodell des Neuen Dramas gefunden wäre. Wie alle hermeneutischen Beschreibungsmodelle hebt es vielmehr eine Aspektstruktur an seinem Gegenstandsbereich hervor und stellt dadurch notwendigerweise andere zurück. Doch ist dies immerhin, wie ich zu zeigen hoffe, eine Aspektstruktur, die in den Kern der dramatischen Konzeption der besprochenen Werke hineinreicht und die sie, durch ihre Brüche und Widersprüche hindurch, in ihrem ästhetischen Zusammenhang transparenter zu machen vermag. 21 Wenn hier von spezifischen Konsequenzen der genannten Problematik für das Drama die Rede ist, so sei an dieser Stelle darauf verwiesen, daß es natürlich auch im Roman Tendenzen zu einer Verarbeitung dieser Problematik gibt. Frühe Beispiele sind etwa Franz Kafkas Darstellungen identitätsbedrohender bürokratischer Machtapparate, oder im englischen Sprachbereich D . H . Lawrences radikal zivilisationskritisches, gegen eine emotionsfeindliche head culture gerichtetes Romanwerk, mit dem er im übrigen einen beträchtlichen Einfluß auf die neuen Dramatiker ausgeübt hat. 22 Auch Aldous Huxleys Brave New World und George Orwells Nineteen Eighty-Four wären hier zu nennen, die, der eine im Hinblick auf die gentechnologische Produktion eines neuen Menschen, der andere im Hinblick auf die machttechnologische Nutzung der Medien für totalitäre Systeme, in erstaunlicher Klarsicht bereits früh die Gefahren einer >abstrakten< Gesellschaft vorgezeichnet haben. Auch in viele zeitgenössische Romane spielen immer wieder ähnliche Themen hinein. Dies näher zu untersuchen, wäre jedoch eine völlig eigene und letztlich andersgeartete Aufgabenstellung. Dies gilt vor allem deshalb, weil in der vorliegenden Arbeit nicht allein der in21

Die Renaissance des Geschichtsdramas im englischen Theater ist nur ein scheinbarer Widerspruch zu der hier vertretenen These. Denn einmal dokumentiert das Interesse an historischen Stoffen ein Interesse an den Ursachen für den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft. Es ist folgerichtiger Ausdruck der verstärkten Selbstreflexion einer sich problematisch gewordenen kulturellen Bewußtseinsstufe. Zum anderen werden dadurch konkrete Handlungsmodelle noch einmal für das Drama verfügbar, die in der Gegenwart schwerer aufzufinden sind und die sich dennoch zur symbolischen Demonstration aktueller Probleme und Gesellschaftskonflikte heranziehen lassen. Eine nähere Diskussion des Geschichtsdramas ist hier nicht möglich. Hierzu sei auf die diesem Thema gewidmeten Studien von Hildegard Hammerschmidt, Das historische Drama in England (1956—1971): Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen (Wiesbaden und Frankfurt, 1972); von Kurt Tetzeli von Rosador, Das englische Geschichtsdrama seit Shaw, Anglistische Forschungen, 12 (Heidelberg, 1976); und von Gerlinde Schnabl, Historische Stoffe im neueren politischen Drama Großbritanniens (Heidelberg, 1982), verwiesen. — Den Zusammenhang von Vergangenheits- und Gegenwartsbezug zeigt Annegret Maack auf, »Vergangenheitsbewältigung und Zeitkritik als didaktisches Potential im modernen englischen Drama«, LWU, 20, 2 (1987), 321-42.

22

Dies gilt für so gegensätzliche Autoren wie Arnold Wesker, der in seiner Jugend stark von D . H . Lawrence beeinflußt war und dessen Bedeutung für sein dramatisches Schaffen selbst zugibt, und auf der anderen Seite Peter Shaffer, der in seiner Lebensphilosophie ebenfalls unübersehbar dem Werk D. H . Lawrences verpflichtet ist.

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haltliche, sondern insbesondere auch der strukturelle Aspekt interessiert, d.h. die Konsequenzen für das Drama als literarisches Medium, wie sie sich im Neuen Englischen Drama zeigen. Im Roman bezieht eine erzählerische Subjektivität sich auf eine von ihr unbegrenzt gestaltbare erzählte Welt, was bedeutet, daß die Abstraktheit gesellschaftlicher Verhältnisse in der Spiegelung des subjektiven Erzählerbewußtseins ohne grundsätzliche formale Schwierigkeiten sprachlich-gedanklich verarbeitet und in die Romanwelt integriert werden kann. Dies gilt speziell für den zeitgenössischen Roman mit seiner Affinität zum Gedanklichen, zur Reflexion. Zwar dürfte die Problematisierung des Erzählens im modernen und postmodernen Roman, über die erkenntnistheoretischen Gründe hinaus, auch mit dieser veränderten sozialen Wirklichkeit zu tun haben. Indessen läßt sich wohl dennoch formulieren, daß der Roman aufgrund seiner größeren Offenheit, Welthaltigkeit und Subjektgebundenheit davon nicht in dem Maß in seinen formkonstitutiven Kategorien betroffen wird wie das Drama. Dieses ist aufgrund seiner Bestimmung als dargestellte Handlung und unmittelbar präsentierte Intersubjektivität (vgl. dazu 1.4.) stärker festgelegt und eingeschränkt in seinen formalen Möglichkeiten. Als die »konkreteste Form der Darstellung menschlichen Verhaltens und zwischenmenschlicher Beziehungen«23 ist es folglich per definitionem stärker abhängig von der Konkretheit der menschlichen Realität, die es abbildet. Dies bedeutet umgekehrt gesagt, daß die Veränderung seines gesellschaftlichen Substrats stärker und strukturell tiefgreifender in seine Ästhetik und seinen Charakter als Drama selbst hineinwirkt. - Diese kurzen, notwendigerweise höchst allgemeinen Bemerkungen müssen hier genügen. Es kann und soll hier nicht darum gehen, das Verhältnis von Drama und Roman genauer zu diskutieren — was ein eigenes Buch erfordern würde —, sondern nur mögliche weitergehende Implikationen des Themas kurz anzudeuten und zugleich eine Abgrenzung unserer Fragestellung zu geben. Vor diesem Hintergrund läßt sich nun die Zielsetzung der Arbeit genauer spezifizieren, aus der sich gleichzeitig der Gang der Untersuchung ergibt. Es geht zunächst einmal generell gesprochen darum, den Zusammenhang des Neuen Englischen Dramas mit dem soziokulturellen Problemkontext präziser zu bestimmen, in dem es steht und auf den die Werke als komplexe dramatisch-literarische Antworten verstanden werden können. Dazu wird zuerst der Begriff der abstrakten Gesellschaft auf der Grundlage neuerer Kultur- und Gesellschaftstheorie näher zu erläutern sein (I.2.). Über die Fixierung des allgemeinen Begriffsrahmens hinaus geht es ferner darum, nicht nur eine den Stücken gemeinsame, historisch brisante Thematik namhaft zu machen, sondern diese zugleich als Grundriß ihrer dramatischen Struktur zu entziffern. Die Rolle der abstrakten Gesellschaft als Modell der dramatischen (Tiefen-)Struktur wird daher in einem nachfolgenden Abschnitt zu entwickeln und an den hier besprochenen, repräsentativen Werken zunächst überblickshaft zu illustrieren sein (I.3.). Um zu zeigen, daß hierin ein distinktiver Zug des Neuen Englischen Dramas liegt, der dieses von anderen Richtungen des modernen Dramas unterscheidet, wird nach einer kurzen Erläuterung der dramentheoretischen Voraussetzungen (1.4.) der 23

Martin Esslin, Was ist ein Drama? Eine Einführung

(München, 1978), p. 18.

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freilich nur skizzenhafte Versuch unternommen, es von den beiden Hauptrichtungen des modernen Dramas in der deutschen bzw. französischen Literatur, dem Epischen Theater und dem Theater des Absurden (1.5.—1.7.), sowie vom modernen amerikanischen Drama abzugrenzen (1.8.) und auf diese Weise zu einer dramengeschichtlichen und -theoretischen Standortbestimmung des New English Drama beizutragen. Schließlich wird es im Hauptteil der Arbeit, in den Analysen repräsentativer Werke, darauf ankommen, die hermeneutische Triftigkeit der These unter Beweis zu stellen und zu zeigen, daß diese Dramen nicht nur in einem globalen, theoretischen Sinn, sondern bis in Details ihres Inhalts und ihrer Komposition hinein von jener Problemstruktur durchdrungen sind. Dabei ist in jedem der ausgewählten Werke ein anderer Aspekt in den Mittelpunkt gerückt, so daß die Stücke als verschiedene Varianten eines gemeinsamen Grundmodells aufgefaßt werden können. Birgt dabei die hier verfolgte Absicht, übergreifende Züge des modernen englischen Dramas herauszuarbeiten, die Gefahr einer gewissen Schematisierung und methodischen Reduktion des Gegenstandes in sich, so soll dem andererseits durch die Berücksichtigung des ästhetisch-individuellen Eigengewichts eines jeden Werkes entgegengewirkt werden. Hieraus ergibt sich die Anlage des Interpretationsteils, insofern der ausführlichen Analyse einer begrenzten Zahl repräsentativer Dramen der Vorzug vor einem eher summarischen Uberblick gegeben wurde, um nicht in vagen Generalisierungen steckenzubleiben, sondern den ganzen Bogen von der theoretischen Ebene der übergreifenden Fragestellung bis zur ästhetischen Ebene der individuellen Komplexität der Werke selber zu spannen. Bei einem solchen Verfahren stellt sich naturgemäß das Problem der Auswahl. Die Zahl der Autoren und Werke, die zum New English Drama gerechnet werden können, ist mittlerweile ins nahezu Unüberschaubare angewachsen, und allein die bloße Auflistung der als einigermaßen etabliert geltenden Dramatiker und ihrer Stücke würde bereits viele Seiten füllen.24 Dennoch fiel die Auswahl dann doch auch wieder nicht so schwer. Da es mir hier nicht allein um den Nachweis von Parallelen zwischen einem bestimmten zeitgenössischen Gesellschaftskonzept und dem Inhalt der Stücke, sondern zugleich um den Bestimmungsversuch von deren spezifischem Beitrag zum modernen Drama geht, mußte das erste Kriterium sein, diejenigen Autoren zu wählen, die von ihrem künstlerischen Rang her als die führenden Vertreter des Neuen Dramas gelten. Auch dies ist wiederum nicht ganz unumstritten, doch läßt sich immerhin soviel sagen, daß die sieben hier behandelten Dramatiker zweifellos zu dessen herausragenden Repräsentanten gehören: John Osborne, Harold Pinter, Arnold Wesker, John Arden, Tom Stoppard, Edward Bond, Peter Shaffer. Andere Autoren könnten gewiß ebenso das Recht für sich beanspruchen, in einer solchen Untersuchung berücksichtigt zu werden, so Anne Jellicoe, David Storey, Joe Orton, Ν. Ε Simpson, Peter Barnes, oder neuerdings Trevor Griffiths, Caryl Churchill, Howard Brenton, David Hare u.a. Dies soll hier auch gar nicht geleugnet werden. Doch lassen Umfang und Urteil der dem jeweiligen Dramatiker gewidmeten 24

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Vgl. etwa die Liste der »Erstaufführungsdaten zeitgenössischer englischer Dramatik (1956—1980)« von Klaus Dieter Matussek in Englisches Drama von Beckett bis Bond, pp. 3 9 5 - 4 3 0 .

kritischen Literatur immerhin eine Differenzierung in dem Sinn vornehmen, daß die letztgenannten Autoren eher in eine wenn auch beachtliche zweite Reihe gehören, während die erstgenannten »inzwischen den Status von modernen Klassikern« erlangt haben. 25 Es kann und soll im übrigen ja hier keineswegs um eine Gesamtdarstellung des englischen Gegenwartsdramas gehen, sondern um den Aufweis einer charakteristischen Problemstruktur, die einer Reihe der wichtigsten Werke, über die formalästhetischen und politischen Unterschiede der Autoren hinweg, als thematisch-strukturelles Paradigma gemeinsam ist. Um aber die Gültigkeit dieses Paradigmas auch über die ausführlich behandelten Werke hinaus zumindest anzudeuten, wird einerseits am Ende jeder Interpretation ein Uberblick über andere Stücke des jeweiligen Autors unter dem Aspekt unserer Fragestellung gegeben, und andererseits wird am Schluß der Arbeit noch kurz auf einige der genannten jüngeren Autoren eingegangen. Aus der getroffenen Auswahl von Stücken wird im übrigen deutlich, daß ich keinen solch entscheidenden Unterschied zwischen der >ersten< und der >zweiten Welle< des modernen englischen Dramas sehe, wie er von Taylor angesetzt und von anderen übernommen wurde. 2 6 Zwar ging, wie zu Recht immer festgestellt wurde, von der Abschaffung der Theaterzensur und von der Studentenrevolte von 1968 ein deutlicher Impuls zur stärkeren Politisierung des Theaters, zur Herausbildung alternativer Theaterkonzeptionen, und zur Erweiterung der thematischen und sprachlichen Darstellungsregister im Sinn der Durchbrechung vorher noch wirksamer gesellschaftlicher Tabus aus. Doch was sich dabei ändert ist m.E. eher gradueller als prinzipieller Natur. Man könnte im weitesten Sinn von einer inhaltlichen Ausweitung und populistischen* Umsetzung der vorher noch immer auf die Rezeption durch ein traditionelles, bürgerliches Publikum beschränkten neuen Stoffe und Formen des Theaters sprechen; von einer größeren Verfügbarkeit der entwickelten Theaterstile; von einer größeren Selbstverständlichkeit der Durchbrechung etablierter sozialer, moralischer und ästhetischer Normen; von einer größeren Differenzierung der Theaterlandschaft nach Interessen und Gruppenzugehörigkeit; von einer noch stärkeren, direkteren Interaktion mit einem spezifischen Zielpublikum. Zwar mag es sein, daß die erwähnte Tendenz zu unmittelbar-politischen Formen des Theaters, die in den 70er Jahren bei einer Reihe von Autoren hervortrat; die verschiedenen Ausprägungen eines alternativen irOTge-Theaters; oder das in den 80er Jahren zunehmend hervortretende feministische Theater von dem hier gewählten Deutungsansatz aus weniger gut bzw. nicht in so zentralen Aspekten erfaßt werden können. 2 7 Dennoch kann man auch bei den Auto25 26 27

Plett, op.cit., p.5. Vgl. John Russell Tylor, The Second Wave. British Drama of the Sixties (London, 1971). Für einen Überblick über die Fringe-Szene und das alternative und politische Theater vgl. Peter Ansorge, Disrupting the Spectacle. Five Years of Experimental and Fringe Theatre in Britain (London, 1975); J. Elsom, Post-War British Theatre, pp. 141 —60; Dreams and Deconstructions: Alternative Theatre in Britain, ed. Stephen Craig (Ambergate, 1980); Catherine Itzin, Stages in the Revolution: Political Theatre in Britain Since 1968 (London, 1980); David Ian Rabey, British and Irish Political Drama in the Twentieth Century. Implicating the Audience (Basingstoke and London, 1986). - Für einen Überblick über die Tendenzen eines feministischen Theaters vgl. z.B. den Sonderband »Englisches Drama seit 1980« von Englisch Amerikanische Studien 3/4 (Dez. 1986).

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ren und Autorinnen der Second Wave und der Third Wave Parallelen zu der hier behandelten kulturkritischen Problematik ziehen — was unten zumindest ansatzweise gezeigt werden soll (vgl. II. 8.). 28 Andererseits geht es mir, um es noch einmal zu betonen, nicht um eine alle Richtungen abdeckende Überblicksdarstellung, sondern um die Herausarbeitung eines charakteristischen, zeitgeschichtlich fundierten Themaund Strukturmodells, das einer Reihe der >klassischen< Werke des Neuen Dramas gemeinsam ist, und darin um die spezifisch Art der literarischen Bewältigung der Gegenwart, die nicht zuletzt dazu beigetragen hat, das englische Drama zu einem Gipfelpunkt modernen Theaters zu führen. Ein prominenter Name fehlt allerdings in der oben genannten Reihe, dessen überragende künstlerische Statur im zeitgenössischen Drama unbestritten ist: Samuel Bekkett. Er wurde hier bewußt nicht einbezogen, da seine Stücke, wie ich glaube, einer anderen Richtung des modernen Dramas angehören, nicht nur aufgrund des Umstands, daß Beckett sie überwiegend zuerst in französischer Sprache abfaßte, sondern aufgrund ihres letztlich grundsätzlich anderen Problemansatzes. Darauf wird noch zurückzukommen sein (vgl. 1.6.), doch illustriert etwa ein Versuch wie der Η . Ε Pletts in seiner bereits erwähnten, ansonsten sehr überzeugenden Einführung zu Englisches Drama von Beckett bis Bond, Beckett dem modernen englischen Drama zuzuschlagen, die historischen und logischen Schwierigkeiten, in die dies eine auf gemeinsame Züge des New English Drama ausgerichtete Argumentation verstrickt. So muß Plett, dem allgemeinen Konsens folgend, das Neue Drama 1956 mit Osbornes Look Back in Anger beginnen lassen, während Becketts En attendant Godot bereits 1953 in Paris uraufgeführt und in England 1955 als Waiting for Godot auf die Bühne kam. 2 9 So grenzt er auf der einen Seite, von der gemeinsamen bürgerlichen Herkunft her argumentierend, Beckett zusammen mit T.S. Eliot von den Neuen Dramatikern ab, um ihn dann wieder, von der gesellschaftlichen Außenseiterrolle der dramatis personae her argumentierend, mit diesen gegen Eliot abzusetzen. 30 Und wenn als eine der wenigen inhaltlichen Gemeinsamkeiten der englischen Dramatiker deren »Sozialismus« genannt wird und dann auch der »Existentialist Beckett« unter dieses Etikett subsumiert wird, so verliert der eingeführte Oberbegriff jede Kontur und besitzt somit keinerlei Explikationskraft mehr. 31 Die logischen Unstimmigkeiten, die hier zutagetreten, verweisen auf gravierende Unterschiede in der Sache, und der Versuch, diese Unterschiede durch begriffliche Konstruktionen zu überdecken, muß in Leerformeln enden.

28

So z.B. im gebrochenen Verhältnis des engagierten Intellektuellen zur politischen Wirklichkeit in David Mercers After Haggarty (1970) oder in Trevor Griffiths' The Party (1974), in der Darstellung der indirekt-dehumanisierenden Wirkungsmechanismen des Börsenmaklertums in David Hares Knuckle (1974) oder der verselbständigten, medienvermittelten Konsum- und Unterhaltungsindustrie in Stephen Poliakoffs City Sugar (1976) u . a . m . (Vgl. hierzu genauer II.8.)

29

Plett, op.cit., p. 30. Plett, p p . 2 8 - 2 9 , pp.31 - 3 2 . Plett, p. 29.

30 31

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2. Der Begriff der abstrakten Gesellschaft

Die Feststellung, daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft abstrakte Züge trägt, mag zunächst ebenso offensichtlich wie nebensächlich klingen. Eine solche Annahme ist in geläufigen Charakterisierungen wie kapitalistische«, bürokratische«, nationalisiertes >technokratische< Gesellschaft implizit mitenthalten, wobei allerdings die abstrakte Qualität der damit benannten Phänomene als Nebenprodukt anderer, weitaus wesentlicherer Entwicklungen aufgefaßt und nicht als solche problematisiert wird. Darüber hinaus ist, noch grundsätzlicher gefragt, zunächst jede Gesellschaft von ihrem Begriff her abstrakt: sie bezeichnet eine empirisch nicht als solche nachweisbare Größe, die ein hypostasiertes Gesamtsystem der Handlungen und Interaktionen zahlloser Individuen umfaßt. Es ist also zu klären, in welchem Sinn hier von abstrakter Gesellschaft gesprochen werden soll; inwiefern sich diese Gesellschaft in dieser Hinsicht unterscheidet von anderen, früheren Gesellschaftsformen; und inwiefern darin ein distinktives Merkmal der hochentwickelten Industriegesellschaft hervorgehoben wird, das in anderen theoretischen Konzeptionen nicht in einer seiner Bedeutung entsprechenden Weise hervortritt. Was die erste Frage anbetrifft, so ist klar, daß der Begriff nicht auf einer logischen, sondern auf einer historischen Ebene angesetzt ist. Abstrakt ist unsere Gesellschaft etwa im Unterschied zu früheren Gesellschaften nicht >an sichabstrakte Gesellschaft wurde meines Wissens erstmals von Karl R. Popper in seinem Buch The Open Society and Its Enemies verwendet.1 Dies mag zunächst erstaunlich anmuten, da Popper in einer ganz anderen Richtung argumentiert als die Ansätze der Kulturkritik, die diesen Begriff später direkt oder in verschiedenen Abwandlungen aufgegriffen bzw. selbst entwickelt haben. Poppers Buch stellt bekanntlich, gegen organisch-geschlossene Gesellschaftskonzeptionen, gerade ein Plädoyer für die moderne, offene Gesellschaft dar. Der Umstand, daß er gewissermaßen gegen die Tendenz seines Arguments auf eine höchst problematische Kehrseite dieser Gesellschaft stößt, die er ihre Abstraktheit nennt, mag ein Indiz dafür sein, daß es sich hier um eine im Kontext zeitgenössischer Kulturtheorie unabweisbar auftretende Problematik handelt. Obwohl Popper diese Problematik nur exkursartig abhandelt, kommt er dabei doch zu einer scharf umrissenen Begriffsskizze, die als Ausgangspunkt für die nachfolgende Begriffsbestimmung dienen kann. As a consequence of its loss of organic character, an open society may become, by degrees, what I should like to term an abstract society.< It may, to a considerable extent, lose the character of a concrete or real group of men, or of a system of such real groups. This point which has been rarely understood may be explained by way of an exaggeration. We could conceive of a society in which men practically never meet face to face - in which all business is conducted by individuals in isolation who communicate by typed letters or telegrams, and who go about in closed motor-cars. (Artificial insemination would allow even propagation without a personal element.) Such a fictitious society might be called a completely abstract or depersonalized society.< Now the interesting point is that our modern society resembles in many of its aspects such a completely abstract society. Although we do not always drive alone in closed motorcars (but meet face to face thousands of men walking past us in the street) the result is very nearly the same as if we did — we do not establish as a rule any personal relation with our fellow-pedestrians. Similarly, membership in a trade union may mean no more than the possession of a membership card and the payment of a contribution to an unknown secretary. There are many people living in a modern society who have no, or extremely few, intimate personal contacts, who live in anonymity and isolation, and consequently in unhappiness. For although society has become abstract, the biological make-up of man has not changed much; men have social needs which they cannot satisfy in an abstract society.2

1

2

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Karl R. Popper, The Open Society and Its Enemies. Vol. I: Plato (London, 1945, rev. ed. 1966, rpt. 1980). Popper, op. cit., pp. 174f.

Die >Abstraktheit< dieser zeittypischen Gesellschaftserfahrung ist also hier verstanden als Entpersönlichung und Anonymisierung der menschlichen Beziehungen unter dem Einfluß technisierter Kommunikations- und Lebensformen, die gleichsam unsichtbare Trennwände zwischen den Menschen aufrichten und sie nicht nur nach außen hin von ihrer sozialen und natürlichen Umwelt, sondern von ihrer eigenen, inneren N a t u r entfremden. Sie bezeichnet somit ein historisch neuartiges Entfremdungsverhältnis des Menschen z u r Gesellschaft, das mit einer signifikanten Einschränkung seiner konkret-anthropologischen Lebensbedürfnisse verbunden ist. 3 Dieser Denkansatz, den Popper hier zwar prägnant entwirft, aber dann selbst nicht weiterverfolgt, ist erst in neuerer Zeit wieder aufgegriffen und vor allem in A. C. Zijdervelds Buch The Abstract Society (1970) systematisch ausgearbeitet worden. Auch Jürgen H a b e r m a s ' Theorie des kommunikativen Handelns (1981) ist in unserem Zusammenhang von Bedeutung, da sie zwar das Konzept >abstrakte Gesellschaft< nicht ausdrücklich als solches thematisiert, jedoch durchgängig die abstrakten Zusammenhänge des gesellschaftlichen >Systems< untersucht, insofern diese in ein wachsendes Spannungsverhältnis zum Handeln der Menschen in der von diesem System entkoppelten k o m m u n i k a t i v e n Lebenswelt< treten. 4 Beide Bücher gewinnen dadurch eine gewisse Repräsentativität, daß sie ihren jeweiligen Ansatz im Durchgang durch die wichtigsten neueren Kultur- und Gesellschaftstheorien entwickeln. O b w o h l auch diese beiden Theoretiker den Standpunkt moderner, humanistischer Rationalität und einer auf sie aufgebauten Gesellschaftsordnung vertreten, unterscheiden sie sich doch in grundsätzlicher Weise von Popper. Während dieser nämlich die sozialpathologischen Konsequenzen der Moderne, die er mit dem Begriff der >abstract society< u m schreibt, als notwendige Begleiterscheinungen des gesellschaftlichen Fortschritts betrachtet, rücken Zijderveld und Habermas, der eine aus der Sicht des individuellen Bewußtseins, der andere aus der Sicht der kommunikativen Lebenswelt, das abstrakt gewordene Verhältnis des Menschen zu seiner gesellschaftlichen Umwelt in den Mittelpunkt ihrer Theorien und beschreiben es als krisenhaft zugespitztes Entfremdungsproblem, und darin geradezu als eines der Zentralprobleme des modernen Menschen. 5 Zijderveld verschärft dabei den bei Popper nur angedeuteten Widerspruch zwischen der Eigengesetzlichkeit der abstrakten Industriegesellschaft und der biolo3

4

5

Hierin liegt eine überraschende, wenn auch zweifellos nur punktuelle Parallele zu dem >sozialistischen< Dramatiker Edward Bond, wenn dieser etwa sagt: "We evolved in a biosphere but we live in what is more and more becoming a technosphere. We do not fit into it very well and so it activates our biological defences, one of which is aggression." (Preface to Lear, Plays: Two, London, 1978, pp. 4-12, p. 10.) Erinnert ist man durch diese Passage Poppers auch an Konrad Lorenz' biologische Theorie der Entfremdung, ebenso an Günter Anders' These über das Verschwinden des Menschen aus den von ihm geschaffenen Strukturen in Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution (München, 1980). Vgl. insbesondere die »Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt«, Bd.II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, pp. 171—293. Beide gehen allerdings nicht direkt auf Popper ein, sondern entwickeln ihr Konzept aus eigenen theoretischen Überlegungen heraus. 17

gisch-sozialen >Natur< des Menschen, indem er ihn auf eine grundsätzliche, kulturanthropologische Ebene hebt. Durch den Vergleich mit vor- bzw. nichtindustriellen Gesellschaftsformen, den er anstellt, verleiht er dem Begriff der abstrakten Gesellschaft kulturhistorische Tiefenschärfe. Zijderveld übernimmt dazu von Jan Romein die Theorie des Common Human Pattern, das allen bekannten menschlichen Gesellschaften mit Ausnahme der modernen Industriegesellschaft gemeinsam ist.6 Er nennt als Beispiele etwa das antike Griechenland und Rom, das mittelalterliche Europa und Arabien, sowie Teile des gegenwärtigen Asien, Afrika und Südamerika. Kennzeichnend für das Common Human Pattern ist die Einbettung des Menschen in einen überschaubaren, in seinem konkreten Lebenshorizont anschaulich-gegenwärtigen, als sinnhaftes Ganzes geordneten sozialen Zusammenhang, der in einem engen Naturbezug verankert ist und in seinen Strukturen unmittelbar eine kosmische Ordnung abbildet. Das Common Human Pattern weist einen relativ geringen Grad an funktioneller Differenzierung auf, kennt starke, meist personifizierte oder bildhaft repräsentierte Autoritäten und organisch gewachsene, in stabilen Interaktionsmustern reproduzierte Insitutionen, in denen der einzelne eine klar definierte Identität besitzt und in ständigen/dce-fo-yäce-Kommunikationen bestätigt. Da es kaum oder nur sehr langsamen sozialen Wandel gibt, herrscht im Common Human Pattern der Zustand einer Art >prästabilierten HarmoniemodernenNaivität< bedingt war, welche ihm, als es die erstarrten Formeln des well-made play über Bord warf, eine besondere Fähigkeit gab, die zeitgenössische Wirklichkeit nicht aus dem normativen Blickwinkel vorgegebener literarisch-dramatischer Konzeptionen, sondern aus dem pragmatischen Blickwinkel unmittelbarer eigener Erfahrung und Reflexion her12

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Szondi, p. 139: »Kaum ein anderes Werk der modernen Dramatik ist zugleich so kühn im Formalen und von so erschütternder Schlichtheit der Aussage wie Thornton Wilders Our Town (1938).« Vgl. hierzu z.B. Margret Dietrich, Das moderne Drama. Strömungen, Gestalten, Motive (Stuttgart, 31974), pp.34ff. Auch in dieser Gesamtdarstellung des modernen Dramas in Europa und Amerika klafft eine ähnlich auffällige Lücke in der Bedeutung des englischen Dramas zwischen der Zeit Shaws, mit der das Buch einsetzt, und dem im Schlußteil ausführlich besprochenen »englischen Aufbruch seit 1956« (pp. 745ff.). Szondi, op.cit., p. 87.

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aus in ihren neuartigen Problemen und Dimensionen wahrzunehmen und auf die Bühne zu stellen.15 Dennoch findet die Dramatisierung dieser Wirklichkeit auf einem Niveau der Komplexität statt, das unmittelbar auf den dramentheoretischen Reflexionsstand der Moderne beziehbar ist, wie ihn Szondi aus neohegelianischer Sicht umreißt. Dabei ist zunächst in verschiedenen Punkten durchaus eine gewisse Affinität der Problemansätze festzustellen. Die Infragestellung des zwischenmenschlichen Bezugs als des konstituierenden Elements des Dramas durch Vereinzelung und Verdinglichung, durch die »Abstrahierung und Intellektualisierung« von Konflikten, durch die Wandlung des Menschen vom Subjekt zum Objekt seines eigenen Handelns — all dies verweist auf Phänomene, wie sie auch in dem für das Neue Englische Drama angesetzten Konzept der abstrakten Gesellschaft mitenthalten sind. In diesem Zusammenhang sind hier Robert W. Corrigans Gedanken zum Epischen Theater Brechts von besonderem Interesse, da bei ihm die schon bei Szondi erkennbare Verwandtschaft der Problemansätze noch schärfer hervortritt.16 Wie Szondi betrachtet auch Corrigan Brechts Episches Theater als maßgeblichen Ausdruck moderner Entfremdungsproblematik, wobei er in dieser Einschätzung von einem Gesellschaftsbegriff ausgeht, der dem hier zugrundegelegten in manchem erstaunlich nahekommt. Die Situation des heutigen Menschen kennzeichnet sich nach Corrigan durch eine ganz spezifische Form der (Selbst-)Entfremdung, die eine Folge der geschichtlichen Veränderungen im Zug der Herausbildung der kapitalistischen Industriegesellschaft sind. Diese Veränderungen lassen sich im Sinn eines Wandels von einer communal world zu einer collective society auffassen — wobei die communal world, die noch in der Renaissance unbeschränkte Gültigkeit besaß und erst im Gefolge der Industriellen Revolution verdrängt wurde, an Zijdervelds bzw. Romeins Konzept des Common Human Pattern erinnert. Sie bezeichnet eine Welt, in der die Menchen durch »common origins« persönlich aneinandergebunden sind, eine feste, ganzheitliche Identität besitzen und in eine soziale Gruppe eingebunden sind, in der "all the members can communicate directly with one another." 17 Im Gegensatz dazu ist der 15

Dies soll, wie oben schon erwähnt, natürlich nicht heißen, daß die Neuen Dramatiker nicht vielerlei Einflüssen der dramatischen Tradition bzw. auch der Avantgarde ausgesetzt waren - was auch von Kritikern immer wieder aufgezeigt worden ist, so im Hinblick auf den Einfluß der Elisabethaner, insbesondere Shakespeares; auf den Einfluß Shaws und des sozialkritischen Dramas Englands in den 20er und 30er Jahren (den Allardyce Nicholls freilich unverhältnismäßig hoch einstuft, »Somewhat in a New Dimension,« Contemporary Theatre, eds. J . R. Brown and B. Harris [London, 1962], pp. 77—96); im Hinblick auf das amerikanische Drama, das Epische Theater sowie das Theater des Absurden. Was ich hier meine ist jedoch, daß solche Einflüsse nicht prägend waren und etwa im Sinn eines normativen >Programms< übernommen wurden, sondern eher ein dramentechnisches und stoffliches Ideenreservoire darstellten, aus dem die Neuen Dramatiker, ohne sich in die Zwänge bestimmter Konzeptionen zu begeben, schöpfen konnten. So sagt z.B. John Elsom, Post-War British Theatre, p. 82, über die Wirksamkeit des Epischen und Absurden Theaters im Hinblick auf das Jahr 1957: "The temporary enthusiasm from Brecht during 1955—56 seemed to have died away, after Hungary, and such writers as Ionesco, Beckett and Adamov were still only cult enthusiasms."

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Robert W. Corrigan, The Theatre in Search of a Fix (New York, 1973). Corrigan, op. cit., p. 193.

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Mensch in der collective society seiner Identität beraubt, da das Hauptprinzip dieser Gesellschaft, die Arbeitsteilung und Spezialisierung, ihn auf höchst partielle Rollen und Funktionen festschreibt. Das Individuum als das an sich Un-Teilbare wird aufgesplittert, der postindividuellen Gesellschaft entspricht nicht mehr eine personale Identität, sondern der neue Typus der "collective social personality", 18 die in den unpersönlichen Beziehungsmustern dieser Gesellschaft aufgeht. Andererseits verselbständigt sich gesellschaftliche Macht in einem Maß, daß sie sich der Einflußnahme und konkreten Vorstellbarkeit des einzelnen entzieht — und an diesem Punkt stößt Corrigan exakt auf den abstrakten Grundzug der modernen Gesellschaft: "Power, then, is like an iceberg; the largest part is submerged in abstraction, anonymity, and bureaucracy. Government, like modern physics, has lost its physical reality and can be expressed only in statistics and formulae." 19 Gleichzeitig sieht er die Konsequenzen, die eine solche Veränderung der Gesellschaft für die Kunst und speziell für das Theater hat. Diese Konsequenzen betreffen zum einen die Größe der Gesellschaft und die Schwierigkeiten ihrer anschaulichen Repräsentation in der Kunst. "Our world, it would seem, has become almost too big for the playwright, for only what the mind can comprehend and the eye can take in can be made visible in art." 20 Zum zweiten betreffen sie die Figur des dramatischen Helden. "But what are the representatives of a world whose tragic heroes are nameless? After all, a theatre of reports and statistics is a contradiction in terms." 21 Darin liegt insofern ein gattungsspezifisches Problem des Dramas, als nur der Dramatiker gezwungen ist, "to deal exclusively with human beings."22 Zum dritten schließlich betreffen die Konsequenzen die Struktur der dramatischen Handlung. Die aristotelische Idee des Handelns als πράζις setzt die Existenz eines "motivating self" und eine "linear structure of beginning, middle, and end" voraus, doch "in a collective society, of which capitalism is the most highly developed form, there is no beginning, middle, and end, there is only a constantly shifting series of episodes." 23 Auch dies ist vor allem ein gattungsspezifisches Problem des Dramas, da die episodische, prozeßhafte Struktur der modernen Wirklichkeit, die hier angesprochen ist, etwa im Medium des Romans weit problemloser zum Ausdruck gebracht werden kann. Argumentiert also Corrigan bis zu einem gewissen Grad in ähnlichem Sinn wie die vorliegende Arbeit, so zielen seine Überlegungen jedoch, wie diejenigen Szondis, auf eine theoretische Fundierung von Brechts Epischem Theater ab. Nur Brecht, so Corrigan, konfrontiere die gesellschaftliche Entfremdung des modernen Menschen in ihrem ganzen Ausmaß. Das Vor-Brechtsche Theater sei auf die "outmoded premises" eines alten Wirklichkeits- und Gesellschaftsverständnisses gegründet, während erst Brecht die Implikationen der Verwandlung einer community in eine collective society 18 19 20 21 22 23

Corrigan, Corrigan, Corrigan, Corrigan, Corrigan, Corrigan,

p. 207. p. 197. ibid. ibid. p. 206. p. 222.

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konsequent in seinen Stücken umsetze: in der Ersetzung des individuellen Helden durch den Typus der postindividuellen "collective social personality"; in der Ersetzung einer geschlossenen Handlung durch eine offene, locker-episodische, eben >epische< Szenenstruktur; in der Ersetzung der unkritisch-emotionalen Identifikationshaltung des Zuschauers durch rationale Distanz. 2 4 Dies bedeutet nun aber nicht, wie beispielsweise im absurden Theater, die völlige Aufhebung des dramatischen Charakters und Konflikts — und damit der Grundlage des herkömmlichen Theaters —, sondern vielmehr die Ablösung alter Charaktere, alter Konflikte durch neue. Brecht, so Corrigan, gibt nicht nur eine Analyse der Krise des modernen Menschen, sondern eine Perspektive ihrer Überwindung. Der neue Menschentyp, den er im Auge hat, ist auf Veränderung der Gesellschaft hin angelegt: Er ist einer, "who will not let himself be changed by machines but will himself change the machine; and whatever he looks like he will above all look human." 2 5 Hier nun zeigt sich, daß Corrigan zwar den Problemkomplex der abstrakten Gesellschaft streift, im Grunde aber doch auf etwas anderes abzielt. Es geht ihm — wie Brecht — letztlich eben nicht um den abstrakten, sondern um den kollektiven Charakter der modernen Gesellschaft. Brecht nämlich realisiert zwar den Identitätsverlust und die Manipulierbarkeit des Menschen in der kapitalistischen Welt, doch macht er zugleich aus der N o t eine Tugend: Galy Gay etwa, der zum englischen Soldaten umfunktionierte, somit seiner Identität beraubte Ire in Mann ist Mann, der jenen neuen Menschentyp erstmals verkörpert, ist nach Corrigan dadurch charakterisiert, daß er bewußt seine Individualität preisgibt und durch Lügen, Optimismus und eine nahezu unbegrenzte Anpassungsfähigkeit zum wahren Sieger wird, indem er gerade in der Masse stark wird und dadurch überlebt. Auch wenn man diese positive Einschätzung von Galys Wandlung nicht unbedingt teilen muß, so zeigt doch ein Blick etwa auf Mutter Courage

eine ähnliche Anlage, nämlich daß die Titelfigur — die sicher in ge-

wisser Weise auch tragische Züge trägt - doch im Interesse des Überlebens ihre Individualität dem kollektiven System opfert, dessen Teil sie ist und das sie bis zum Ende affirmiert. 26 Die Figuren verlieren ihre private, psychologische Seite, sie werden zu Typen der kollektiven Gesellschaft, die dieses Schicksal akzeptieren und in eine Strategie der Selbstbehauptung umwenden. Individuelles Handeln ist keineswegs in seiner Möglichkeit infragegestellt, es ist allerdings in die Widersprüche zwischen Moral und materiellem Überlebenskampf eingespannt, die das Werk Brechts durchziehen. Der aufhaltsame

Aufstieg des Arturo Ui macht dies in besonders prägnanter

Weise deutlich: Der Titel enthält bereits die These, nämlich daß die Geschichte vom Menschen gemacht wird und es nur an ihm liegt, sie in die Hand zu nehmen. Und die Projektion der Naziherrschaft auf das Gangstermilieu des kapitalistischen Chicago liefert das Modell, das das Phänomen des Nationalsozialismus in einen eingängigen, für den Zuschauer konkret nachvollziehbaren Handlungszusammenhang transponiert.

25

Corrigan, p. 193, pp. 210ff. Bertolt Brecht, in Brecht on Theatre, Corrigan, p.215.

26

Vgl. hierzu Corrigan, op.cit., p.215—16.

24

38

ed. John Wille« (New York, 1964), pp. 1 8 - 1 9 , zit. bei

Der Unterschied im Problemansatz zum N e u e n Englischen Drama, der hier sichtbar wird, sei kurz in einem Vergleich von Brechts Der gute Mensch von Sezuan mit dem unten genauer besprochenen Stück Edward Bonds, Lear, verdeutlicht. 2 7 Zunächst sind einige Parallelen zu erkennen: In beiden Stücken wird das >Gute< im Menschen in symbolischer Personifikation in die Dramenhandlung eingebaut u n d gewissermaßen auf seine Chancen in der sozialen Realität hin getestet. Im einen Fall führt die Suche der drei Götter nach zumindest einem guten Menschen in Sezuan zur Prostituierten Shen Te, die ihnen als einzige Nachtquartier gewährt. Im anderen Fall führt die Flucht Lears vor dem Terrorsystem seiner Töchter zum Sohn des Totengräberjungen, der gleichfalls der einzige, bedingungslos >gute Mensch< im Stück ist und der Lear in ähnlich selbstverständlich-mitmenschlicher Weise bei sich aufnimmt wie Shen Te die Götter. In beiden Werken wird weiterhin das Konkret-Zwischenmenschliche als das Gute, das die beiden Figuren verkörpern, durch die Kollision mit den gesellschaftlichen Umständen zerstört. Auch formal erinnern die Techniken des raschen Szenenwechsels, der plastischen Simplizität und gleichzeitigen Unbestimmtheit der Schauplätze, die Vielzahl der auftretenden, eine Massengesellschaft verkörpernden Personen in Lear an Brechts Stück, auch wenn das Prinzip des Epischen Theaters von Bond nicht explizit, etwa im Verfremdungseffekt, übernommen wird. Doch treten vor dem Hintergrund dieser Parallelen die Unterschiede umso deutlicher hervor. D e n n während bei Brecht die gesellschaftlichen Umstände, an denen die konkrete Zwischenmenschlichkeit zerbricht, ganz wesentlich an den materiellen Lebensbedingungen der Figuren und den Zwängen ihrer Selbstbehauptung im Kontext eines kapitalistisch geprägten sozialdarwinistischen Daseinskampfs festgemacht sind — Shen Te scheitert in ihrem bis z u m Ende aufrechterhaltenen moralischen Anspruch an der existenznotwendigen Verstrickung in diesen korrumpierenden Daseinskampf —, sind die gesellschaftlichen Umstände bei Bond — wie bei den anderen Autoren des New English Drama — gerade zu einem von diesen materiellen Lebensbedingungen weitgehend losgelösten, gegenüber dem einzelnen amorph verselbständigten Systemzusammenhang geworden, wie er im Zentralbild der das Geschehen dominierenden Mauer symbolisiert ist — der Totengräberjunge wird, kaum aufgetreten, von anonymen Funktionären des Mauerbaus erschossen und geistert nur noch als zusehends verfallendes Gespenst durch den Rest des Stückes. 28 Bei Brecht sind die Motive der handelnden Figuren durchaus in deren eigenen Lebensinteressen begründet; sie stehen, trotz aller moralischen Korruption, in einem immerhin pragmatischen Sinnzusammenhang ihres Tuns, nämlich im Kampf ums eigene Überleben. Bei Bond hingegen sind die Motive der Handelnden so weit von deren eigenen Lebensinteressen abgekoppelt, daß sie nicht mehr einen noch so brutalen Kampf ums eigene Überleben führen, sondern sich, nach der immanenten Logik jenes verselbständigten Machtsystems, selber ebenso blind zerstören wie ihre Gegenspieler. 27

28

Bertolt Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Frankfurt, 1955); Edward Bond, Lear, in Plays: Two (London: Methuen, 1978). Bei Bond ist allerdings zwischen diesen früheren Werken und den Dramen der späteren Phase zu unterscheiden, in denen er sich wieder stärker einem >konkreten< Gesellschaftsbegriff annähert (vgl. u. II.6). 39

Die Spaltung der Hauptfigur bei Brecht in ein >gutesschlechteserfolgreich< ins Geschehen einzugreifen. — Die Spaltung Lears andererseits in ein ideales Ich — der ihn überallhin begleitende Geist des Totengräbersohns kann hier als sein symbolisches alter ego gesehen werden - und in ein reales Ich ist hingegen in eine fantastisch-utopische Gegenhandlung verlegt, die an der von der Mauer beherrschten Haupthandlung vorbeiläuft und an den Punkten der Kollision mit ihr sofort zerbricht. Weniger der einzelne Mensch als vielmehr das System >handelt< hier, das Handeln der Menschen wird nicht nur in seiner moralischen Qualität, sondern als solches infragegestellt. Dieser Unterschied wird besonders deutlich, wenn man die Erscheinungsformen der Entfremdung und Dehumanisierung in den beiden Stücken vergleicht. Diese kulminieren bei Brecht in der rücksichtslosen Ausbeutung der Arbeiter in der Tabakfabrik (Szene 8), wobei auch Kinder und Alte mit beispielloser Brutalität behandelt werden. Doch handelt der von Shui Ta angestellte Sun dabei dennoch nach dem Kriterium ökonomischer Effizienz, und in diesem Sinn ist sein Verhalten trotz aller Perversion noch immer auf seine eigenen Interessen und auf das Funktionieren der Fabrik ausgerichtet. In diesem Modell des Herr-Knecht-Verhältnisses, das zugleich die Klassenstruktur der Gesellschaft illustriert, erweist sich Der gute Mensch von Sezuan als auf ein konkretes, sozusagen >anthropozentrisches< Modell sozialer Entfremdung — und der Möglichkeit von deren Überwindung — aufgebaut. Dies macht Brecht selbst deutlich, wenn er in der einleitenden Bemerkung zu dem Stück sagt: »Die Provinz Sezuan der Parabel, die für alle Orte stand, an denen Menschen von Menschen ausgebeutet werden, gehört heute nicht mehr zu diesen Orten.« 2 9 — In Bonds Lear hingegen herrscht, was die zahllosen Akte der Gewalt und Dehumanisierung in dem Stück anbelangt, eine seltsame Verwirrung, Unübersichtlichkeit und Irrationalität, die anzeigt, daß das Geschehen außer Kontrolle geraten ist und jede anthropozentrische Grundlage und Sinngebung verloren hat. Warringtons grausame Folter in Akt 1, Sz.4 durch Lears Töchter — die ihn in der vorausgehenden Szene noch heiraten wollten — ist ein Beispiel für diese Verselbständigung menschlicher (Selbst-)Deformation, ebenso wie etwa Akt 2, Sz.6, wo politische Gefangene in Cordelias neuerrichtetem Revolutionsregime erschossen werden — auch solche, die für das neue System gekämpft hatten. 29

40

Der gute Mensch von Sezuan, p. 6.

Noch ein weiterer Unterschied fällt ins Auge. Brechts Figuren sind nicht psychologisiert, ihre Probleme — auch die Spaltung Shen Tes — bleiben auf einer allegorischsozialen Ebene. Dagegen sind die Figuren bei Bond — und wiederum auch bei den anderen Neuen Dramatikern — gleichzeitig so stark psychologisiert, daß Lear von manchen Kritikern, freilich in unzulässiger Reduktion, als rein psychologisches Drama gelesen wird.30 Die verschiedenen Formen, die Lears Wahnsinn in Bonds Stück annimmt, sind ebenso ein Beleg für diese Psychologisierung wie die abnormen Verhaltensweisen seiner Töchter, die auf schizophrene Symptome und Hysterien verweisen. Indem Bond so die Deformation der menschlichen Psyche unter den Bedingungen der Moderne in seine Gesellschaftsanalyse einbezieht, rückt er das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft in den Mittelpunkt seines Dramas, während Brecht verschiedene Möglichkeiten sozialen Handelns< gegenüberstellt und den Menschen von vornherein als ein gesellschaftliches Wesen ins Auge faßt. Der Mensch bei Brecht ist der homo sociologicus, der Mensch bei Bond — und im Neuen Englischen Drama generell — ist das, was Zijderveld den homo duplex nennt,31 also ein prinzipiell von zwei Seiten her, sowohl in seiner individuellen Psyche wie in seiner sozialen Rolle, zu betrachtendes Wesen. Und es dürfte unmittelbar einleuchten, daß erst aus dieser Perspektive des homo duplex, im Aufeinanderbeziehen der Erfahrung des einzelnen und der sozialen Umstände die Abstraktheit der modernen Gesellschaft voll hervortritt, wie es im New English Drama der Fall ist. Erst aus dieser Perspektive nämlich werden die Begrenztheit und Brüchigkeit, der Realitätsverlust individuellen Denkens und Handelns in aller Schärfe sichtbar, die durch die Einkleidung des Geschehens in rein sozial definierte Konflikt- und Rollenmuster eher zugedeckt bleiben müssen. Die hier deutlich werdene Differenz des Problemansatzes aber hat verschiedene Konsequenzen für das Drama. Was zunächst dessen Form anbelangt, so gibt es im Neuen Englischen Drama nicht länger nur eine Form, die als Ausdruck der Problematik der Moderne alleinige Gültigkeit beanspruchen könnte. Zwar ist ein Einfluß des Epischen Theaters unverkennbar — etwa in den Werken Osbornes, Ardens, Bonds, oder Shaffers —, und auch aus den charakteristischen Inszenierungsstilen des Neuen Dramas ist der Name Brechts nicht wegzudenken.32 Doch ist ebenso klar, daß dieser Einfluß keineswegs durchgängig und schon gar nicht im Sinn einer theoretischen Norm wirksam war, an der diese Stücke sich ausgerichtet hätten.33 Es scheint vielmehr, daß die eher pragmatische, auf das jeweilige Thema ausgerichtete Verwendung und Mischung verschiedener Techniken und Stilrichtungen, die das Neue Drama kennzeichnet, auch in dieser Hinsicht gilt, daß also auch die epische Tendenz vieler Stücke zu einem unter verschiedenen Mitteln geworden ist, die dramatische Gesamtaussage in ebenso zeitgemäßer wie wirkungsvoller Weise dem Zuschauer zu vermitteln. Das epische Moment dient dabei oft, wie das Beispiel John Ardens oder Peter 30

Vgl. z.B. Perry Nodelman, "Beyond Politics in Bond's Lear," Modem Drama, 23 (1980); 2 6 9 - 76.

31

Zijderveld, The Abstract Society, pp. lOff.

32

Vgl. Weise, op.cit.; Hahnloser-Ingold, op.cit. Vgl. Hahnloser-Ingold, p.244, über Arden, der Brecht wohl am nächsten von den Neuen Dramatikern kommt: er setze »keine Dramentheorie in die Praxis um«.

33

41

Shaffers zeigt, nicht einmal mehr allein der Verfremdung und Desillusionierung, sondern der emotionalen Schockierung oder empathisch-kommunikativen Einbeziehung des Zuschauers ins Bühnengeschehen: 34 es stellt nicht mehr, wie noch für Szondi, einen bloßen Gegensatz zum Dramatischen dar, sondern ist selber zum Bestandteil einer weiter gefaßten dramatischen Form geworden. Dies mag u. a. auch mit einer Veränderung des Erwartungshorizonts der Zuschauer zusammenhängen, da der Brechtsche Verfremdungseffekt letztlich eine intakte theatralische Illusionswelt voraussetzt, aus deren Durchbrechung sich dann das angestrebte kritische Reflexionsverhältnis des Zuschauers zum Dargestellten ergibt. Wenn aber der fiktive Spielcharakter des Bühnengeschehens zum stets mitschwingenden und mitunter explizit aufgerufenen Begleitwissen des Zuschauers wird und die Innovation des Metatheaters selbst zur theatralischen Konvention absinkt, so wird die innovative Form gleichsam durch den Inhalt wieder eingeholt: sie wird in anderer Weise semantisiert und in eine andere Pragmatik des Werk-Zuschauer-Verhältnisses eingespannt als dies in Brechts Epischem Theater der Fall ist. Eine weitere, für unsere Fragestellung wichtige Konsequenz jenes unterschiedlichen Problemansatzes ist, daß das »wissenschaftliche Prinzip«, das Brechts Dramenkonzeption zugrundeliegt, 35 im Neuen Englischen Drama nicht länger in dieser Ungebrochenheit verfügbar ist, vielmehr selbst in höchstem Maße problematisch und teilweise geradezu zu einem wesentlichen Grund der Entfremdung geworden ist. 36 Die Erkennbarkeit der Wirklichkeit erscheint demzufolge weitaus weniger gesichert als bei Brecht, das Verhältnis zwischen erkennendem Subjekt und Wirklichkeit hat sich in komplementärer Richtung zugespitzt: das Subjekt verliert seinen festen Halt, indem es auf sein unhintergehbares Reflexionsbewußtsein zurückgeworfen ist; die Wirklichkeit verliert ihre festen Konturen, indem sie sich in die amorphe Ungreifbarkeit der abstrakten Gesellschaft auflöst. Betrachtet man Brechts Stücke aus diesem Blickwinkel heraus, so tritt der Unterschied zum New English Drama noch einmal prägnant hervor. Die Identität der dramatis personae ist bei Brecht, trotz der von Corrigan und Szondi aufgezeigten Entfremdungsthematik, relativ klar, nämlich durch ihre sozialen Rollen definiert, und die Konturen der dargestellten Wirklichkeit sind, als Ausdruck der kapitalistischen Klassenstruktur, vergleichsweise konkret. Die Erkennbarkeit der sozialen Wirklichkeit und ihre Beherrschbarkeit durch den Menschen sind hier vorausgesetzt. Die Entfremdung der Moderne wird eben nicht primär an den abstrakten Tendenzen festgemacht, die Corrigan beschreibt, sondern an ganz bestimmten politisch-ökonomischen Gegebenheiten, deren Veränderung möglich und durchaus im Sinn eines rationalen Fortschrittskonzepts zu bewerkstelligen ist. Mit anderen Worten, die Problematik der abstrakten Gesellschaft, die in einem ganz 34

35 36

42

Hahnloser-Ingold sagt über die Songs bei Arden: »Meist werden sie in bekannten Volksliedweisen vorgetragen, um das Publikum emotionell anzusprechen, gerade im entgegengesetzten Sinne Brechts« (pp.244-45). Szondi, op. cit., p. 115. Vgl. die skrupellosen Menschenexperimente des Gefängnisarztes in Bonds Lear·, des Arztes im Altersheim in Ardens The Happy Havert; die desorientierende Rolle der Wissenschaft bei Stoppard; die paralysierende Wirkung erfahrungsferner Intellektualität bei Shaffer u . a . m .

spezifischen Sinn zu einer Krise des Dramas führt, deutet sich in bestimmten Zügen des Epischen Theaters bereits an. Doch wird sie noch nicht, wie im Neuen Englischen Drama, zur dominierenden Thematik, aus der sich ganz neue Konsequenzen für die Aussage und Struktur der Werke ergeben.

43

6. Das Neue Englische Drama im Verhältnis zum Absurden Theater

Als zweite Hauptrichtung des modernen Dramas, die als exemplarischer Ausdruck der Situation des Menschen in der Gegenwart betrachtet wurde und wird, steht dem Epischen Theater das Theater des Absurden gegenüber. Martin Esslin bezeichnet es in seinem nach wie vor maßgeblichen Buch Das Theater des Absurden als »eine der gültigsten Ausdrucksformen für die gegenwärtige Situation des Menschen im Westen«, deren Geisteshaltung »wahrhaft repräsentativ für unsere Zeit ist«.1 Auch in den Werken dieses hauptsächlich französisch geprägten Theaters schlägt sich eine tief empfundene Entfremdungsthematik nieder, und auch hier besteht ein enger Zusammenhang zwischen dieser Entfremdungsthematik und der Problematisierung des Dramas als Medium. Denn auch das Absurde Theater ist, wie das Epische, »nicht mehr dramatisch im herkömmlichen Sinn«.2 Die Entfremdung und somit auch die Form ihrer dramatischen Umsetzung sind hier jedoch gänzlich anders verstanden als bei Brecht, nämlich nicht auf einer gesellschaftlichen, sondern auf einer philosophisch-existentiellen Ebene. Die Grunderfahrung des Absurden Theaters entspringt nicht objektiven Gegebenheiten der sozialen Realität, sondern liegt — wohl nicht zuletzt im Zeichen der totalen Desillusionierung durch den Zweiten Weltkrieg — im Verlust jeglichen Lebenssinns durch den »Zusammenbruch aller Gewißheiten« und den Geltungsverlust aller bisherigen Glaubens- und Denksysteme des Menschen, sowie im »Gefühl metaphysischer Angst«, das diese Situation hervorruft.3 Der Ansatz Brechts ist hier geradezu umgekehrt: nicht eine quasi->wissenschaftlich< beschreibbare, objektiv-gesellschaftliche Realität, sondern die innere, geistige und psychologische Lage des modernen Menschen ist hier in den Mittelpunkt gestellt, und zwar unter den philosophischen Prämissen des Existentialismus.4 Die Entfremdung des Menschen in dieser Sicht ist total: die condition humaine schlechthin ist es, als Fremder in ein Universum gestellt zu sein, das ihm als prinzipiell unerklärlich und sinnlos, eben als >absurd< gegenübersteht und demgegenüber es einzig noch darum gehen kann, im klaren Bewußtsein dieser Sinnlosigkeit zu leben. Das Absurde Theater ist nun nach Esslin die konsequente Umsetzung dieser Philosophie in dramatische Form — was für das existentialistische Drama im engeren Sinn, also die Stücke von Sartre oder Camus, nicht gilt, da diese zwar einen neuen Inhalt vermitteln, aber die konventionellen Formen des Theaters beibehalten.5 Das Absurde Theater hingegen ist ein Theater der radikalen Desillusionierung, das alle 1 2 3 4 5

44

Martin Esslin, Das Theater des Absurden (Hamburg, 1965), p. 8. Esslin, op.cit., p.3. Esslin, p. 14. Esslin, p. 13f. Esslin, p. 15.

Voraussetzungen negiert, auf denen das Denken und das Zusammenleben der Menschen in der westlichen Zivilisation aufgebaut sind: den Glauben an die rationale Erkennbarkeit der Wirklichkeit; die Vorstellung eines irgendwie gearteten Lebenssinns; die Möglichkeit zwischenmenschlicher Kommunikation; die Idee einer unverwechselbaren Identität des Individuums. Für das Drama bedeutet dies folgerichtig die Demontage seiner traditionellen Kategorien — die Aufgabe eines rational entschlüsselbaren Handlungsablaufs, ja der Kategorie der >Handlung< überhaupt; die Zertrümmerung von Sprache und Dialog bis zur Unverständlichkeit eines bewußt nichtliterarischen, verstärkt auf nonverbale Ausdrucksformen zurückgreifenden Theaters; die Auflösung eines individuellen, einheitlich konzipierten Charakters zugunsten fragmentarisierter Karikaturen; die Ersetzung der Widerspiegelung von >Wirklichkeit< durch die Projektion innerer Seelenzustände. Ja ein Blick auf repräsentative Stücke des Absurden Theaters wie Samuel Becketts Waiting for Godot6 oder Eugene Ionescos Les chaises7 zeigt, daß der Angriff auf jene traditionellen Kategorien des Dramas gerade ein wesentlicher Bestandteil ihrer Intention ist, was sie teilweise zu reinen Meta- oder >Pseudodramen< (Ionesco) werden läßt. Denn nicht nur ist der Kontext der Wirklichkeit, in der Vladimir und Estragon während ihres Wartens auf Godot sich aufhaken, Undefiniert; nicht nur bleibt ihre Identität unklar und steht ihnen keine reale Möglichkeit zum Handeln offen; es werden auch in den Dialogen diese Undefinierbarkeit der Wirklichkeit, die Unbestimmbarkeit der Identität, die Unmöglichkeit sinnvollen Handelns unmittelbar zum Gegenstand fortwährender, wenn auch selber wieder erratisch-zirkulärer Reflexionen.8 — Ebenso werden in Les chaises in der Figur des unerträgliche Klischees faselnden Hausmeisters, der sich in seinem vom Wasser umschlossenen Haus als Sprachrohr der Menschheit schlechthin versteht, nicht nur die Idee persönlicher Größe und die Idee eines >Sinnes< parodiert, der aus dem in dumpfer Banalität abgelaufenen Leben des Alten gewonnen und, wie dieser beabsichtigt, in einer zentralen Botschaft der Mitund Nachwelt überliefert werden könnte; sondern parodiert wird darüber hinaus das ganze Repertoire konventioneller Dramatik. Dies gipfelt am Schluß in der großen, theatralisch-melodramatischen Geste des gemeinsamen Selbstmords des Alten und seiner Frau, eine Szene, deren pseudoheroische Überhöhung in krassem Widerspruch zur Nichtigkeit und Trivialität ihrer Existenz steht. Was in diesem Stück zentral thematisiert und zugleich negiert wird, ist das menschliche Kommunikationsmodell selber: die >BotschaftAdressaten< der Botschaft, das eingeladene Publikum, sind unsichtbar; der >SprecherEntwirklichung< des Wirklichkeitssinnes, die Paralyse subjektiver Erlebnis- und Handlungsfähigkeit, die Desintegration individuellen Denkens, die Hypertrophie selbständig wuchernder Sprachklischees, die Anonymität und Austauschbarkeit der einzelnen, die Zerstörung zwischenmenschlicher Kommunkationsbeziehungen — all dies ist auch in dem >anthropofugalen< Handlungsmodell, das im Problemkomplex der abstrakten Gesellschaft ins englische Gegenwartsdrama hineinwirkt, impliziert. Es scheint also, obwohl der Ansatz des Absurden Theaters ein durchaus individualistischer Ansatz ist, daß auch hier unterirdisch ein Gespür für den abstrakten Charakter unserer Gesellschaft erkennbar ist, daß die Stücke nicht allein Ausdruck eines subjektiven Entfremdungsgefühls und einer ahistorischen condition humaine, sondern einer objektiven Entfremdung der Zeit sind. In der Tat gibt es etwa in Becketts Waiting for Godot gewisse Passagen und Motive, die in dieser Richtung gedeutet werden können. So kann die allesbeherrschende, unbekannte Größe Godot, auf die hin die beiden Landstreicher ihr Leben ausrichten, nicht nur als Chiffre für existentielle Mächte, sondern für unsichtbare Kräfte der Gesellschaft gesehen werden, deren Einflüssen sie ausgesetzt sind, ohne ihrerseits Einfluß auf sie zu haben. Man könnte Godot in diesem Sinn als den fehlenden Handlungskontext der Situation sehen, denn die Abwesenheit einer erst potentiell motivierenden, sinn- und zielsetzenden Handlungsinstanz ist eine wesentliche Bestimmung dieser Situation. Die Lage von Vladimir und Estragon erscheint unter diesem Aspekt geradezu paradigmatisch für jene »konstitutive Nichtanwesenheit dessen, was uns am meisten interessiert, und wozu wir dauernd Stellung nehmen«,9 die Gehlen als typische Lebenssituation des Menschen in der modernen Gesellschaft betrachtet. Und an einer Stelle, wo die beiden über Godot sprechen, wird sogar explizit dessen Rolle als >abstrakte< Handlungsinstanz ins Spiel gebracht. Auf die unbestimmte Bitte, die sie vor ebenso unbestimmter Zeit an ihn gerichtet haben, wird er von Vladimir und Estragon mit den Worten zitiert: ESTRAGON. And what did he reply? VLADIMIR.

That he'd see.

ESTRAGON. VLADIMIR. ESTRAGON. VLADIMIR.

That he couldn't promise anything. That he'd have to think it over. In the quiet of his home. Consult his family.

ESTRAGON.

His friends.

VLADIMIR.

His agents.

ESTRAGON.

His correspondents.

VLADIMIR.

His books.

Arnold Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist (Leipzig, 1931).

46

ESTRAGON. His bank account. VLADIMIR. Before taking a decision. ESTRAGON. It's the normal thing. VLADIMIR.

IS it n o t ?

ESTRAGON.

I t h i n k it is.

VLADIMIR.

I think so too. 10

Auch etwa die Gestalt Luckys, der Karikatur des dressierten, außengeleiteten Menschen, weist in diese Richtung, so in dem zentralen Monolog, in dem er auf Pozzos Geheiß hin >denktTeile< betonen, so in struktureller Hinsicht Dyson, wenn er sagt: "the dramatic context, no less than the central character, embodies the experience of the play" 3 2 ; so in thematischer Hinsicht Franz Norbert Mennemeier, dem es als »Hinweis auf die innere Wahrhaftigkeit und die geschichtliche Aussagekraft des Stückes« erscheint, »daß Osborne die chaotische >öffentliche< Wirklichkeit in der >privaten< spiegelt und unmittelbar an ihr aufweist. Der Verfasser zeigt die oft geleugnete oder verschleierte Identität von Politik und individueller Sphäre, von Allgemeinem und Besonderem«.33 Ich knüpfe in meiner Analyse an diese Auffassung an und mache mir darüber hinaus die oben skizzierte Position IV der Kritik im Sinn einer unaufhebbaren, für das Stück konstitutiven Wechselbeziehung von Form und Inhalt zu eigen. Auch die genannten Versuche einer integrierenden Gesamtsicht von Look Back in Anger leiden indessen oft genug daran, daß den allgemeinen Aussagen nicht eine entsprechend genaue und ausführliche Analyse des Dramas zugrundeliegt.34 Nach wie vor ist die Forderung Dysons aktuell, den "myth," der das Stück umgibt, vom "play" selbst zu trennen.35 Ziel der nachfolgenden Interpretation ist in diesem Sinn eine textnahe Analyse des Dramas, die das Stück sowohl in signifikanten Details untersucht als auch in seiner thematisch-strukturellen Ganzheit im Auge behält. Insofern diese Interpretation in die übergreifende These der vorliegenden Arbeit eingebunden ist, impliziert sie zweifellos ihrerseits eine Vorperspektivierung und damit in gewisser Weise eine Reduktion des Textes. Andererseits gewinnt diese Reduktion in dem Maß hermeneutischen Wert, als sie bis in Einzelzüge hinein einen inneren Zusammenhang des Stükkes aufdecken läßt, der die einander widerstrebenden Strukturtendenzen als Momente seiner dialektischen Gesamtkonzeption begreifbar macht.

1.2 Der amorphe Charakter von Jimmy Porters gesellschaftlichem Gegenspieler Versucht man aus den zunächst diffus und unzusammenhängend wirkenden Aussagen Jimmy Porters zur Gesellschaft deren Hauptzüge festzusetzen, so sind dabei zu31 32 33

34

35

Vgl. Anderson, Anger and Detachment, p. 37. Dyson, LBA Casebook, p. 24. Mennemeier, Das Drama des Auslandes, p. 142. — Vgl. dazu auch Stratmann, »Der böse Zauber der Verhältnisse«, sowie Fritz-Wilhelm Neumann, »Look Back in Anger: Psychoanalyse und sozialer Kontext«, anglistik & englischunterricht, 7, »Modernes englisches Drama«, (1979), 2 7 - 3 8 . Allerdings liegen eine Anzahl nützlicher Einzeluntersuchungen zu bestimmten Aspekten des Stücks vor, so Dieter Schulz, »Ritual und Spiel in Osbornes Look Back in Anger«, Sprachkunst, 9 (1978), 171—82, der das Drama unter den Begriffen Ritual, Spiel, Ritus, Tanz, Theater und Kampf untersucht; oder Dietrich Peinert, »>Bear< und >Squirrel< in John Osbornes Look Back in Anger«, LWU1 (1968), 117-22, der allerdings dieses Motiv m. E. zu harmlos-positiv deutet (vgl. 21ff.). Dyson, LBA Casebook, pp.22f. — Meine im folgenden dargelegte Interpretation ist in einer kürzeren Version bereits erschienen in Forum modernes Theater, 1, No. 1 (1986), 35—55 (»Abstrakte Gesellschaft und modernes englisches Drama: Das Beispiel von John Osbornes Look Back in Anger*).

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nächst die Konturen einer Klassenstruktur erkennbar, die am Gegensatz zwischen working class und middle class festgemacht ist. So wie Jimmy seine eigene Identität aus der Arbeiterklasse herleitet, so leitet er aus dem Gegensatz zur middle class seinen Haß auf Alisons Eltern und deren Kreis als seinen gesellschaftlichen Hauptgegner her. Dieser Klassengegensatz erscheint zunächst als primäres Motiv seines Protests gegen das Establishment, als Grund des Zorns, aus dem Jimmy die Energie für sein durchgängiges provokatives Engagement im Stück bezieht. So verteilt er seine Sympathien oder Antipathien gegenüber auftretenden oder angesprochenen Personen nach der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Klasse, sieht er die von Alisons Eltern, auch von Helena repräsentierte (upper) middle class als für die fortdauernde Ungerechtigkeit der sozialen Verhältnisse verantwortlich an; inszeniert er die Beziehung zu seiner Frau als permanente Herausforderung von deren klassenspezifisch definierter sozialer Identität. Es werden mit anderen Worten also zunächst durchaus die Umrisse eines konkreten Gesellschaftsbildes gezeichnet, das vom Konzept der Klassenstruktur aus einen Erklärungsrahmen für die negativ erfahrene gesellschaftliche Realität verheißt und das diese Realität gleichzeitig in eine psychologisch vorstellbare und emotional erfahrbare Gestalt zu bringen verspricht.36 Und ohne Zweifel liegt darin eine wichtige Bezugsebene des Dramas, die, wie Uwe Böker gezeigt hat, auch dem biographisch-ideologischen Hintergrund Osbornes entspricht37 und die auch hier nicht in ihrer Bedeutung geleugnet werden soll: allerdings glaube ich nicht, daß sie die zentrale Bezugsebene des Stückes darstellt. Denn betrachtet man dieses Konzept genauer, so verliert es zusehends die scharfen Konturen, die Jimmy Porters verbalradikale Freund-Feind-Strategie suggeriert. Die middle class als bevorzugte »Haßchiffre«38 für Jimmys Gegner wird im Stück allenfalls in bestimmten, typisierten Haltungen, nicht aber als konkrete soziologische Gruppe faßbar. Jimmys Angriffe richten sich gar nicht in erster Linie gegen die Bourgeoisie im marxistischen Sinn einer Kapitalismuskritik, also gegen »die herrschende Grundklasse, die im Besitz der Produktionsmittel ist.«39 Sie gelten vielmehr, sofern sie sich überhaupt auf bestimmte gesellschaftliche Instanzen beziehen, allen möglichen Repräsentanten des öffentlichen Lebens (Bischof, Politiker, Militärs, Intellektuelle, Public Schools, Medien u.a.), richten sich also gegen die englische Oberschicht, soweit sie trotz aller scheinbaren Veränderungen nach wie vor die Führungspositionen im Land unter sich aufteilt, gegen das, was man als Establishment oder Ruling Class umschreiben könnte.40 Auch darin mag man die Züge eines konkreten Gesellschaftsbegriffs erkennen, nämlich die traditionellen Sozialstrukturen der englischen Gesellschaft, die sich über den Zweiten Weltkrieg hinweg im Prinzip unverändert in 36 37

38 39

40

66

Vgl. zu einer solchen Sicht Klotz, op.cit. Uwe Böker, »>Look Back in Anger< im Kontext von John Osbornes Dramenkonzeption und Ideologie«, Literatur für Leser, 4, 1 (1982), 3 3 - 4 4 . Mennemeier, op. cit., p. 142. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, ed. Günther Drosdowski (Mannheim et al.: Dudenverlag, 1976), p.421. Vgl. Laurence Kitchin in LBA Casebook, pp. 179—83, der das "Establishment" als ein spezifisch englisches Konzept bezeichnet, das es etwa in den USA nicht in dieser Weise gibt. (p.181)

die Nachkriegsepoche hinein fortgesetzt hätten. Daran ist sicher ebenfalls etwas Richtiges, und eine solche Auffassung ließe sich, trotz des Einflusses der Labour Party auf die Nachkriegspolitik, auch historisch in vieler Hinsicht erhärten. 41 Jimmy Porters Privatfehde mit der Gesellschaft wäre in diesem Sinn tatsächlich jener "charge against the old order," 4 2 von dem er einmal spricht, und dieser >alten Ordnung« wäre es zuzuschreiben, daß die notwendigen Veränderungen ausbleiben, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen könnten. Wiederum indessen zeigt eine genauere Analyse, daß auch dies nicht die entscheidende Bezugsebene von Jimmys Zorn und damit seines Gesellschaftsbildes ist. Erstens nämlich wird sie nur höchst punktuell und gleichzeitig pauschal angesprochen, sie schließt sich zu keinem kohärenten Gesamtbild der Gesellschaft zusammen und bleibt weitgehend auf Andeutungen beschränkt, gewinnt also wiederum keinerlei Konkretheit im Stück. Zum zweiten richtet sich Jimmys Kritik an den Vertretern der alten Ordnung vor allem insofern gegen sie, als sie sich mit einer neuen, keineswegs traditionalen Dimension verbünden — so gegen den Bischof, der ein glühender Verfechter von Atombomben ist (10) ; 4 3 oder gegen Alisons Bruder Nigel, den Prototyp des >außengeleiteten Menschen« (Riesman), der sein gesamtes Leben in den Dienst seiner politischen Karriere stellt, wobei sich seine Persönlichkeit bis zur Nichtexistenz verflüchtigt — er wird "just about as vague as you can get without being actually invisible" (16); oder gegen die öffentlichen Medien, insofern diese ein sensationsorientiert-vordergründiges Bild der Realität zeichnen, das diese eher verschleiert als enthüllt. Die >alte< Ordnung hat sich aber nun unter diesen Einflüssen offenbar so stark gewandelt, daß sie nur noch in äußeren, formalen Aspekten weiterwirkt, inhaltlich aber nicht mehr wiederzuerkennen ist. Ja die Gesellschaft, die Jimmy kritisiert, kennzeichnet sich gerade dadurch, daß sie ihre spezifisch englischen Züge verloren hat. Dieser Untergang des alten England wird vor allem durch die Figur von Alisons Vater in das Stück hineingebracht, der dem kolonialen Glanz der "Edwardian World" nachhängt und den Verlust von deren fraglos-gesicherter Existenzform nicht verkraftet, sich nicht mehr in den Verhältnissen der neuen Zeit zurechtfindet. Jimmy bringt eine eigentümliche Sympathie für diesen Vertreter des alten England auf, dessen anachronistisch wirkende, einmal fixierte Identität merkwürdig fremd in die Gegenwart hineinragt. J a er stellt eine Verbindung her zwischen Colonel Redferns Verlust seiner früheren Welt und seiner, Jimmys, Situation, die sich durch das Fehlen einer solchen eigenen Welt kennzeichnet: " I f you've no world of your own, it's rather pleasant to regret the passing of someone else's." (14) Es ist klar, daß Jimmys Sympathie, die er selbst "sentimental" nennt, sich auf den subjektiven Verlust von Redferns persönlich erlebter Welt und

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42

43

Vgl. z.B. Judith Ryder and Harold Silver, Modem English Society (London 21977), pp. 230ff. Zitiert wird hier und im folgenden aus John Osborne, Look Back in Anger (London: Evans, 1969, rpt.1979). Hier p.42. Für Dyson ist die Wasserstoffbombe ein Hauptthema des Dramas: "one feels throughout its effect upon the moral imagination of a generation, in the limits which it sets both to personal heroism and to 'the future,' as incentives to hope and action." LBA Casebook, p.24. 67

nicht etwa auf den objektiven Verlust der indischen Kolonialwelt bezieht. Es scheint hier jedoch, am Beispiel des ins geschichtliche Abseits geratenen Colonel, etwas ganz Grundsätzliches angesprochen zu sein, das auch die Lage des jüngeren, im Nachkriegsengland aufgewachsenen Jimmy Porter zentral charakterisiert: es ist dies nämlich eine Situation, die sich nicht nur durch existentielle Entwurzelung und durch soziale Heimat- und Beziehungslosigkeit kennzeichnet, sondern dadurch, daß sie den Charakter einer persönlich erfahrbaren Welt überhaupt verloren hat. Das Common Human Pattern als eine um den Menschen und seine Bedürfnisse herum organisierte Sozialstruktur, das in der kolonialen Welt des Colonel Redfern noch eine späte, wenn auch ebenso verfehlte wie illusionäre Ausprägung fand, ist aus Jimmy Porters Wirklichkeit gänzlich verschwunden. Diese erscheint vielmehr insofern als ganze entfremdet, als sie in nichts mehr der mit dem Common Human Pattern verknüpften, fundamentalen Bedürfnislage des Menschen entspricht, die Zijderveld mit den Begriffen meaning, reality und freedom umreißt. 44 Keine eigene Welt mehr zu haben heißt also hier, in einer völlig fremdbestimmten Welt zu leben, und diese Fremdbestimmtheit ist es, die den Kern von Jimmys Lebensproblematik und zugleich den eigentlichen Gegenstand seines Zorns ausmacht. Diese persönliche Entfremdung aber ist gleichzeitig Index einer gesamtgesellschaftlichen Entfremdung. Der Verlust einer >eigenen Welt< bezieht sich auch auf England als Nation, was Jimmy in einen Zusammenhang bringt mit dem "American Age," in dem er und seine Generation leben: "But I say it's pretty dreary living in the American Age - unless you're an American, of course. Perhaps all our children will be Americans." (14) Mit der Chiffre des American Age ist aber nicht unbedingt nur der unmittelbare Einfluß Amerikas auf die englische Politik und Kultur der Nachkriegszeit durch Wirtschaftsverflechtungen, Filmindustrie o.ä. gemeint, denn wiederum wird dieser Einfluß nicht in irgendeiner Weise im Stück näher bestimmt, wird vielmehr nur sporadisch angesprochen, bleibt vage und allgemein. Gemeint scheinen mit der Bezeichnung eher all diejenigen Tendenzen, die die englische Gesellschaft von Grund auf verändern, ohne in diesen ihren Veränderungen schon klar begriffen zu sein. Es läßt sich zusammenfassen: Der scheinbare "charge against the old older," als der Jimmy Porters Protest sich zunächst darstellt, entpuppt sich in Wahrheit als Kampf gegen eine freilich nur unzulänglich begriffene "new order," die sich mit den formalisierten Uberresten jener "old order" tarnt. Die neue Dimension der Gesellschaft, gegen die sich Jimmys Aggression richtet, wird jedoch, wie sich zeigte, nicht mehr konkret greifbar. Der gesellschaftliche Gegner, gegen den Jimmy ankämpft, ist mit den konventionellen Begriffen, zu denen er gelegentlich Zuflucht nimmt, nicht mehr adäquat beschreibbar, weder mit dem der middle class, noch mit dem marxistischen Konzept der Klassenstruktur, noch mit dem des traditionellen Establishments, auch wenn er durchaus Elemente aller drei in sich enthält. Die neue Dimension, um die es im Stück geht, charakterisiert sich indessen gerade dadurch, daß sie solche konkreten, schichten-, klassen- oder nationaltypischen Züge verloren hat. Was Jimmy at44

68

Zijderveld, Abstract Society, pp. 71 ff.

tackiert, ist etwas Ungreifbares, Unbestimmtes, das in und hinter den H a n d l u n g e n und Worten der Menschen wirksam ist und das sich nicht mehr in einem einheitlichen Denk- und Vorstellungszusammenhang integrieren läßt. " O s b o r n e makes J i m m y thrash away at thin air," sagt B a n h a m treffend, "tilting at infuriatingly aloof windm i l l s . " 4 5 Seine L a g e entspricht darin genau der Situation des Menschen in einer abstrakten Gesellschaft, die den einzelnen mit " s t r o n g but strange f o r m s of control" konfrontiert, deren Strukturen aber "vanish in abstract air if he tries to grasp their very forces of c o n t r o l . " 4 6 D i e tour de force, mit der J i m m y seinen gesellschaftlichen G e g n e r dennoch zu konkretisieren versucht, verflüchtigt sich einerseits zur diffusen tour d'horizon,

in deren leerformelhaften Generalisierungen sich gerade der Verlust

inhaltlich-konkreter Bestimmungsmöglichkeiten ausdrückt ("American A g e , " "pusilla n i m o u s , " "Brave-New-nothing-very-much-thank-you"). Andererseits psychologisiert sie sich zur Aggression gegen seine konkreten Interaktionspartner, worin sich aber nur u m s o mehr die Ungreifbarkeit und Unbestimmtheit seines G e g n e r s als eines gesellschaftlichen

Gegners bestätigt. 4 7

1.3. Die Figur J i m m y Porters: sozialer Identitätsverlust und individuelle Gegenrolle Betrachtet man die soziale Identität des Protagonisten, so wird auch auf dieser Ebene deutlich, daß die B e r u f u n g J i m m y s auf die working

class eher ein emotionales Orien-

tierungsmuster als eine reale Identität bezeichnet. E r hat immerhin an einem wenn auch wenig renommierten College studiert, was seinem Charakter einen deutlichen intellektuellen Anstrich, ja mitunter die Z ü g e eines kulturellen Snobs verleiht 4 8 und sich in einer Vielzahl literarischer und philosophischer Anspielungen niederschlägt. Auch hat er, bevor er Mrs. Tanners Süßwarenkiosk übernahm, schon mehrere J o b s hinter sich, an denen sich ebenfalls keine eindeutige soziale Identität festmachen läßt. 45 46 47

48

Banham, Osborne, p. 20. Zijderveld, op.cit., p. 11. Stratmanns Deutung des Dramas als Reaktion auf den Weifare State der 50er Jahre, die oben bereits erwähnt wurde, schließt dabei auch solche >abstrakten< Züge der Gesellschaft ein — etwa die Bürokratisierung, Technisierung u.a. —, doch ist das »mythisierende Deutungsmuster von dämonischem Matriarchat und Entmannung«, das er der Darstellung dieses Weifare State in dem Stück unterlegt sieht, problematisch (»Der böse Zauber der Verhältnisse«, p.81). Die Gesellschaft im Drama wird ebensosehr von männlichen wie von weiblichen Repräsentanten personifiziert (Bischof, Kulturvertreter, Politiker, allen voran Alisons Bruder Nigel, den etwa Banham als "symbol for Jimmys general enemies" sieht: Osborne, p. 20). Ferner ist von einem Wohlfahrtsstaat überhaupt in dem Stück recht wenig zu bemerken, oder gar von einem sozialen Sicherheits- und Versorgungsmilieu, das materiellen »Uberfluß dank Teilzahlung« ermögliche (so Neumann, »Psychoanalyse und sozialer Kontext«, der sich im wesentlichen der Deutung Stratmanns anschließt [p. 27]). Die Dürftigkeit der Wohnverhältnisse und der weder lukrative noch sichere Job, den Jimmy ausübt, deuten vielmehr darauf hin, daß er sich in einer Grauzone außerhalb solcher gesellschaftlicher Fürsorge bewegt, in der gerade eben die Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse gewährleistet ist. Vgl. Taylor, Anger and After, p. 41; Oppel, "Look Back in Anger," p. 324. 69

ALISON. . . . O h , he tried so many things: journalism, advertising, vacuum cleaners for a few weeks. He seems to have been as happy doing this as anything else. (52)

Diese verschiedenen, im übrigen spezifisch >modernen< Jobs konstituieren keine Zugehörigkeit Jimmys zur Arbeiterklasse, sondern sind in ihrem kurzlebigen Wechsel und ihrer nivellierenden Gleichförmigkeit Ausdruck seiner sozialen Bindungs- und Ortlosigkeit. Signifikant erscheint hier auch der frühe Tod seines Vaters, der als traumatisches Kindheitserlebnis noch immer prägend in seinem Bewußtsein nachwirkt und der symbolisch den Eintritt Jimmys in eine vaterlose Massengesellschaft anzeigt. Alexander Mitscherlich hat festgestellt, daß der Verlust von Identifizierungs- und Orientierungsmustern in einer vaterlosen Gesellschaft in Verbindung mit der »Fragmentierung der Arbeitsleistung« ein »Defizit der Anschaulichkeit« zur Folge hat, das für den heranwachsenden Menschen ein »Defizit an Sozialbildung« bedeutet.49 Die latente Dauerkrise von Jimmys Bewußtsein und sein daraus resultierendes, exzentrisch-übersteigertes Verhalten dürften nicht zuletzt in diesem Defizit begründet sein. Er repräsentiert in gewisser Weise selbst den Prototyp des freischwebenden, sozial ort- und heimatlosen Individuums der neuen Zeit, die er kritisiert. Diese Kritik, die er aus der Mitte seiner eigenen Existenz heraus empfindet, birgt also zugleich das Dilemma, über den eigenen Schatten springen zu müssen: Die Widersprüchlichkeit, die sich auf der Ebene des gesellschaftlichen Gegenspielers Jimmys zeigte, kehrt so auf der Ebene seiner Identität wieder. Und derselbe Widerspruch kennzeichnet auch die Strategie persönlicher Selbstbehauptung, die er als Reaktion auf seine gesellschaftliche Umwelt ausgebildet hat. Es ist klar, daß die Erfahrung der Abwertung, ja Entwertung des Individuums in der modernen Gesellschaft Jimmys Protest vorausgeht. Der Verlust der Prägnanz der sozialen Identität führt zu einem Bedürfnis nach persönlicher Überprägnanz, das Jimmy in seiner privaten Lebenswelt ausagiert, wohl ahnend, daß er gerade darin den Bedingungen der gesellschaftlichen Umwelt verhaftet bleibt, auf die er reagiert. Der forcierte Gegenentwurf selbstbewußter Individualität wirkt so, trotz des emphatischen Gestus der Authentizität, selber bis zu einem gewissen Grad >unecht< und simuliert: Jimmy inszeniert sich sozusagen als letztes großes Individuum in einer Zeit, in der es keine solchen Individuen mehr gibt. Er erinnert seine Umwelt abwechselnd aneinen französischen Revolutionär, an einen romantischen Rebellen wie Shelley, aber auch an einen "Renaissance Pope" oder einen "Eminent Victorian" (72), womit er dem Verlust der sozialen Identität den Entwurf einer persönlichen Rolle entgegensetzt. Die Elemente des Demonstrativ-Theatralischen, die sonst gewöhnlich mit der sozialen Seite, der >Außenseite< des Charakters verbunden werden, übertragen sich auf die persönliche Seite, deren Substanz damit infragegestellt ist. "Let's pretend we are human," (12) sagt Jimmy schon früh im Drama. Er verhält sich sozusagen im Rahmen der Fiktion, als ob sein individuelles Verhalten noch etwas konkret bewirken würde, als ob es in einem Zusammenhang stünde, in dem es etwas bewirken könnte. Die soziale Identitätslosigkeit dieser modernen Bühnengestalt hat mithin ihr Gegenstück in einem eigentümlich vergangenheitsverhafteten, ja anachronistischen Zug: 49

70

Zitiert in Neumann, op.cit., pp.31—32.

"He was born out of his time" (72), urteilt Helena über ihn. In der wohl berühmtesten Passage des Stücks formuliert Jimmy den Verlust verbindlicher Handlungsziele ganz prägnant als das Grundproblem seiner Generation: I suppose people of our generation aren't able to die for good causes any longer. We had all that done for us, in the thirties and the forties, when we were still kids. (In his familiar, semiserious mood.) There aren't any good, brave causes left. If the big bang does come, and we all get killed off, it won't be in aid of the old-fashioned, grand design. It'll just be for the Brave-New-nothing-very-much-thank-you. (68)

Der theatralische Zug der Uneigentlichkeit, den Jimmys Verhalten durch diesen Entzug einer konkreten Handlungsgrundlage annimmt (vgl. den nur »halben« Ernst dieser zentralen Stelle), hat ihm in einem Teil der Kritik das Etikett des "actor type" eingetragen, der, nicht zuletzt aus biographischen Gründen, im Figurenrepertoire Osbornes insgesamt eine beherrschende Stellung einnehme.50 Wenn daran indessen auch zweifellos etwas Richtiges ist, so würde doch die Reduktion auf diese Sehweise den Ernst der >Rolle< verkennen, die Jimmy dabei spielt. Denn er ist ja nicht wirklich ein Schauspieler, der etwa auf der privaten Bühne sein histrionisches Talent ausprobiert. Die Rolle des Außenseiters ist von ihm nicht willkürlich gewählt, sondern geht unmittelbar aus seiner realen Lebenssituation hervor. Jimmy läßt sich vielmehr, mit den Begriffen von Hans Mayer, als eine Mischung des >existenziellenintentionellenGeburtstagsparty< (vgl. 40f.). Die Analyse des Verhältnisses von Rahmen- und Binnengeschehen in The Birthday Party zeigt also einen strukturell und handlungsmäßig sich verdichtenden Zusammenhang zwischen den beiden Phasen des Stücks, der für die Hauptfigur Stanley alle Züge soziopsychischer Abstraktheit trägt — im Sinn eines ungreifbar-unentrinnbaren Entfremdungsdrucks, einer seinen persönlichen Wirklichkeitsanspruch dementierenden >UberrealitätVerwaltungsauskunft< über den Handlungskern von The Birthday Party vermittelt, bleiben der Charakter und das Ziel dieses Handlungsplans so unklar wie zuvor.22 22

Arnold P. Hinchcliffe, Harold Pinter (New York, 1967), beschreibt diese Stelle treffend so: "Goldberg refers to his 'job' in a typically Kafka-esque official language which deprives the crime of all sense and reality." (p. 55)

95

Ähnlich ungreifbar wie der Handlungsauftrag ist die Identität der beiden Fremden. Bedingt zwar Goldbergs seltsam leere Machtposition, in der er von McCann geradezu überschwenglich bestätigt wird, seine Überlegenheit in der gegebenen Situation — GOLDBERG. MCCANN. GOLDBERG. MCCANN. GOLDBERG.

Well, I've got a position, I won't deny it. YOU certainly have. I would never deny that I had a position. And what a position. It's not a thing I would deny. (39)

— so ist jedoch klar, daß auch er nur einen Auftrag ausführt, der seinerseits auf höhere Instanzen innerhalb der organization zurückgeht, der die beiden offenbar angehören. (58) Ist dabei McCanns Identität auf seine Rolle als ausführendes Organ in einem blinden, von ihm undurchschauten Handlungszusammenhang geschrumpft, so ist die Identität Goldbergs zum leeren Konglomerat der gesellschaftlichen Normen und Funktionsansprüche expandiert, die sich in diesem Zusammenhang ausspielen.23 Seine Identität ist gleichsam synthetisch, sie ist zusammengesetzt aus den verinnerlichten Fragmenten der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen, die sich in der mysteriösen organization zu mischen scheinen.24 Goldbergs langjähriges öffentliches Auftreten als Redner, von dem er berichtet, bringt ihn dabei in die Nähe eines gesellschaftlichen Ideologen. Er beherrscht souverän die Rhetorik einer Konformitätsideologie, die sich in die privatesten Bereiche erstreckt. Dies erklärt nicht zuletzt, warum er die Gespräche im Stück wie selbstverständlich an sich zieht und ihre Richtung und Thematik bestimmt (ihm werden bei weitem die längsten Dialogpassagen eingeräumt). Seine Redebeiträge sind durch ein für den Zuschauer penetrantes, für die Figuren allerdings unwiderstehliches Blendwerk moralisch-ideologischer Phrasen gekennzeichnet.25 In seiner aufgesetzten Vulgärphilosophie ("How often, in this day and age, do you come across true, real warmth?" [66]), mit der er zu allem und jedem etwas zu sagen hat, ähnelt dieser "hero of repulsive cliches" 26 zugleich einer Art Showmaster der menschlichen Kommunikation, der Sprache und Gefühle als Mittel seiner Selbstinszenierung gebraucht und zur rücksichtslosen Durchsetzung seiner Ziele einsetzt. Sein Sinn für >Show-Effekte< zeigt sich etwa in der wirkungsbewußten Gestaltung der Geburtstagsparty: "Wait a minute, the light's too strong. Let's have proper lighting" (64) — wobei gerade dieser Show-Effekt für Stan bedrohliche, folterartige Züge annimmt: das "proper lighting," das Goldberg anordnet, besteht darin, daß McCann Stan mit einer Taschenlampe ins 25

24

25

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96

Zwar ist er in gewissen Zügen als Jude erkennbar — in jiddischen Sprachwendungen z.B. (diesen Aspekt stellen vor allem Baker/Tabachnick, op.cit., sowie B.F. Dukore, "The World of Harold Pinter," heraus), doch widersprechen dem wieder andere Züge, etwa seine Anrede durch McCann als "true Christian", (p.39) Zimmermann weist auf die charakteristische Identitätsauflösung zentraler Figuren bei Pinter hin, auf die »Fraktionierung ihres Wesens in mehrere soziale Rollen« (op.cit., p.51). "His speeches sometimes seem to parody corporate jargon, at other times overflow with the cliches of middle class conformity" — so B.F. Dukore, Harold Pinter, p.31. Almansi/Henderson, op.cit., p.40.

Gesicht leuchtet und ihn somit blendet. Etwas ähnliches gilt f ü r die fast fernsehgerecht-publikumsselige Geburtstagsrede, die Goldberg der vor Sentimentalität überströmenden Meg entlockt und die doch zum Teil des um Stan sich zusammenschließenden Verhängnisses wird: Well, I could cry because I'm so happy, having him here and not gone away, on his birthday, and there isn't anything I wouldn't do for him, and all you good people here tonight. ... (She sobs)" (65) Trotz der Prominenz, die Goldberg im Geschehen erhält, ist jedoch der Preis, den er f ü r seine alle konkreten Lebensinhalte nivellierende, an die Medienwelt erinnernde Erfolgsrolle zu zahlen hat, die totale innere Fremdbestimmung, das Verschwinden jeder persönlichen Identität. Bezeichnend sind die verschiedenen Vornamen, die er benutzt: Nat, Simey, Benny. Er ist der gesichtslose Funktionär der Macht, der seine Individualität der Karriere innerhalb der organization (d. h. der Gesellschaft) geopfert hat, also genau jenem bedingungslosen Konformismus, den er selbst nun in seinem Reden und Handeln durchzusetzen versucht. That's why I've reached my position, McCann. Because I've always been as fit as a fiddle. All my life I've said the same. Play up, play up, and play the game. Honour thy father and thy mother. All along the line. Follow the line, the line, McCann, and you can't go wrong. What do you think, I'm a self-made man? No! I sat where I was told to sit. I kept my eye on the ball. School? Don't talk to me about school. Top in all subjects. And for why? Because I'm telling you, I'm telling you, follow my line? Follow my mental? Learn by heart. Never write down a thing. And don't go near the water. And you'll find — that what I say is true. Because I believe that the world ... (Vacant)... Because I believe that the world ... (Desperate)... BECAUSE I BELIEVE THAT THE WORLD ... (Lost)... (87- 88) Goldberg benutzt hier zwar erneut Versatzstücke traditioneller Moral ( " H o n o u r thy father and thy mother"), doch zeigt vor allem der Schluß des Zitats, wie sehr er durch die äußere Rolle, auf die er sein Leben aufgebaut hat, den Boden eines eigenen Weltund Selbstverständnisses unter den Füßen verloren hat; zeigt, daß die Krise der Identität, die für Stan im Lauf des Stückes aufbricht, auch den scheinbaren Sicherheiten von Goldbergs sozialer Uberlebensstrategie zugrundeliegt. O b w o h l er diese kurzzeitige Krise rasch in einem neuen Redeschwall auffängt, ist doch die Parallele hier aufschlußreich, da sie zeigt, daß Goldberg seine eigene Identitätsauslöschung gewaltsam an Stanley Webber reproduziert: Auch von Stan verlangt er sich hinzusetzen, und auch hier ist dieses Hinsetzen, als es nach einigem Widerstand erreicht ist, das Zeichen konformistischen Sichfügens. Auch von ihm fragt er das Wissen über die Welt wie ein auswendigzulernendes Schulwissen ab, dessen Beherrschung das Maß an gesellschaftlicher Normalität bzw. der Abweichung von dieser Normalität anzeigt. (61f.) Auch ihn schließlich treibt er durch diese erzwungene Anpassung in den Verlust seiner individuellen Persönlichkeit. Die Reduktion des homo duplex auf seinen manipulierbaren Außenpol, die Goldberg betreibt, wird jedoch verschleiert und in ihr ideologisches Gegenteil verkehrt durch die Rhetorik des Common Human Pattern, deren er sich bedient, durch den anthropozentrischen Schein, den er um sein Verhalten herum erzeugt. Dies wird nicht 97

nur am zentralen Motiv der >Birthday Party< selbst deutlich, sondern gilt bis in Einzelheiten seines Auftretens hinein. Schon zu Anfang gibt er Ratschläge zu gesundem, seiner organischen Grundlagen bewußtem Leben ("The secret is breathing"), erzählt von seinem Familienhintergrund, von einer idealisierten, naturnah-traditionsbezogenen Lebensform. (37) Ähnlich wie er seine rein professionelle Beziehung zu McCann mit dem Anschein des Persönlich-Freundschaftlichen zu umgeben weiß (39), so wertet er den Austausch alltäglicher Begrüßungsfloskeln mit Meg zu einem authentisch-unverwechselbaren Kommunikationsereignis auf. (40) Dies steigert sich mitunter zu einer wahren Schwelgerei in sentimentaler Pseudokommunikation, an die sich die Emotionen der Kommunikationspartner anhängen (z.B. 53f., 69f.). Lulu, die ihn erst seit diesem Abend kennt, versichert ihm: "I trust you" (69), und Meg und McCann, die sich ebenso fremd sind, tauschen Klischees von persönlicher Herkunft und Zugehörigkeit aus: MCCANN. MEG. MCCANN. MEG. MCCANN. MEG.

I know a place. Roscrea. Mother Nolan's. There was a night-light in my room, when I was a little girl. O n e time I stayed there all night with the boys. Singing and drinking all night. And my Nanny used to sit up with me, and sing songs to me. And a plate of fry in the morning. N o w where am I? My little room was pink. I had a pink carpet and pink curtains and I had musical boxes all over my room. And they played me to sleep. And m y father was a very big doctor. That's why I never had any complaints. I was cared for, and I had little sisters and brothers in other rooms, all different colours. MCCANN. Tullamore, where are you ? (70)

Schon die Form dieses Gesprächs, das eine monologisch aneinander vorbeilaufende Wechselrede zweier isolierter, auf sich selbst reagierender Partner ist, straft die anthropozentrische Suggestion Lügen, die von ihm ausgeht. Aber auch in seinem Inhalt verrät sich die anthropofugale Realität, die es zu überdecken versucht. So wie der entwurzelte Funktionär McCann längst mit Irland nichts mehr zu tun hat, so verbirgt Megs verklärende Erinnerung offenbar ihr Aufwachsen in einem Kinderheim (vielleicht einem Waisenhaus?), in dem der Vater durch den "big doctor" und die menschliche Stimme durch "musical boxes" ersetzt sind. Da aber trotz dieses Widerspruchs zur tatsächlichen Situation alle Kommunikationsteilnehmer — mit Ausnahme Stans — auf den Schein des Anthropozentrischen reagieren, wird deutlich, daß das de facto zerstörte Common Human Pattern im Bewußtsein der Figuren noch so stark als Bedürfnis vorhanden ist, daß es den Blick auf die Realität verstellt und in seinen rhetorisch-ideologischen Überresten selbst zum Medium wird, durch das Goldberg/ McCann (und die abstrakte Gesellschaft) ihren Konformitätsanspruch umso erfolgreicher durchsetzen können.

2.4. Der Widerspruch von abstrakter Gesellschaft und konkreter Identität als handlungsbestimmendes Prinzip Die Ausgangsparadoxie der Birthday Party - nämlich daß die dargestellte Lebenswelt auf Prämissen aufbaut, die ihren eigenständigen Wirklichkeitsanspruch negieren — 98

entfaltet sich im Prozeß des Dramas im offen aufbrechenden Konflikt zwischen Stan und den beiden Fremden, in dem die zunächst nur implizite Widersprüchlichkeit der >fremdZuhauseAntwort< auf diese völlige Entwertung seines Ichs besteht nun, da ihm die Brille weggenommen und er zu keiner kohärenten sprachlichen Reaktion mehr in der Lage ist, darin, daß er Goldberg in den Magen schlägt - ein letzter, verzweifelt-aussichtsloser Akt der Gegenwehr, der bereits die Regression seiner Selbstäußerungen auf eine präverbale, primitiv-infantile Ebene anzeigt, d. h. das Zerbrechen seiner personalen Identität (nicht zufällig kommt Meg unmittelbar darauf mit der Kindertrommel herein, dem Geburtstagsgeschenk für den >neuen< Stan). 100

Das mit Stans Hinsetzen beginnende Kreuzverhör als Schlüsselszene und Wendepunkt von The Birthday Party enthält so im Kern den Gesamtvorgang des Stücks. Stan sieht sich nicht mit einem konkreten menschlichen Gegenüber, sondern mit einer abstrakten Sekundärwelt soziokultureller Imperative konfrontiert, die sein Leben mit einem Uberdruck an inkommensurablen Geltungsansprüchen überzieht und so seinen subjektiven Realitätssinn zerstört. Die Widersprüchlichkeit dieses Konflikts für das Bewußtsein des Individuums — nämlich sich an eine Wirklichkeit anpassen zu sollen, die ihm den Boden der eigenen Wirklichkeit entzieht — wird hier als solche zu einer gegen den einzelnen sich richtenden Gewalt, die ihn in eine unlösbare Situation und damit in die Schizophrenie treibt. Diese setzt denn auch am Ende des Kreuzverhörs bereits ein. 28 Wenn in der nachfolgenden Szene nahezu übergangslos die Geburtstagsparty für Stan beginnt und dabei der Schein des Persönlich-Anthropozentrischen, der zuvor radikal zerstört wurde, nun zwischen den Figuren umso intensiver verbreitet wird (63-71), so ist hier dem Zuschauer endgültig die Doppelbödigkeit und Abgründigkeit der Situation bewußt. Stanley selbst, um den es angeblich geht, befolgt von nun an nur noch stumm die Anweisungen Goldbergs (Getränke zu holen, sich wieder hinzusetzen) und spricht während der gesamten Geburtstagsparty kein einziges Wort mehr, ohne daß es irgendjemandem aufzufallen scheint. Das Blindekuhspiel, in das die Party mündet, bildet dabei das Verschwinden der zwischenmenschlichen Dimension unmittelbar in der Interaktion ab: Die Blindheit gegenüber den Mitspielern wird hier zur expliziten Handlungsregel, wobei die Berührung eines Mitspielers diesen seinerseits blind macht. Bezeichnenderweise ist es Meg, die als erste >blind< ist, die Blindheit dann an McCann weitergibt, der seinerseits Stans Brille berührt, sie ihm ein zweites Mal abnimmt und, während Meg Stan die Augen verbindet, zerbricht. (72—73) Als Stan sich auch noch mit dem Fuß in der Trommel, Megs Geburtstagsgeschenk, verfängt, die McCann ihm in den Weg stellt, reagiert er seinerseits in >blinder< Aggression. Er versucht Meg zu erwürgen, wovor Goldberg und McCann sie mit vereinten Kräften retten. Gleichzeitig geschieht etwas Unerwartetes: Es tritt ein vollständiger Blackout ein, der mit einem Schlag alle Beteiligten in die gleiche Situation bringt wie Stan, d. h. sie blind macht. Alle irren plötzlich hilflos im Dunkeln umher, und selbst Goldberg, der zuvor die Situation kontrollierte und nach dessen Anweisungen sich die Spieler im Blindekuhspiel bewegten, verliert jede Orientierung. (74f.) Die Rolle des souveränen Lenkers der Handlung, die er zuvor spielte, erweist sich als Illusion, und es zeigt sich vielmehr, daß keine der Figuren den Gang des Geschehens wirklich im Griff hat. Im nachhinein stellt sich heraus, daß der Blackout aus dem Versagen der Lichtmaschine entstand, die im Haus installiert ist und die durch den Einwurf von Münzen in Gang gehalten werden muß. (82) Der Blackout der Handlung resultiert aus einem Blackout der Technik, die >höheren< Instanzen, von denen die menschlichen Akteure abhängig

28

Vgl. Arlene Sykes, Harold Pinter (Brisbane, 1970): " . . . Goldberg and McCann, in perfect accord, hurl accusations and questions at Stanley, while Stanley disintegrates before our eyes in abject terror and bewilderment." (p. 19)

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sind, sind also hier nicht metaphysischer Natur, sondern verweisen auf die indirekt-situationsbestimmende Rolle einer dem Handeln der Figuren übergeordneten technisch-kapitalistischen Außenwelt. Aus ihrem vorgegebenen Handlungsrahmen gerissen, sind Goldberg und McCann ebenso ziel- und orientierungslos wie alle anderen Akteure. Erst als McCann die Taschenlampe wiederfindet, die er im vorausgehenden Chaos verloren hatte, und als die beiden in Gestalt Stans das Ziel ihres Auftrags wieder vor Augen haben, gewinnen sie ihre Handlungsfähigkeit und die Herrschaft über die Situation zurück. Als McCanns Lampe ihn anstrahlt, ist Stan gerade im Begriff, Lulu zu vergewaltigen. Von Goldberg und McCann wird auch dieses letzte, verwilderte Aufbäumen von Stans Individualität sofort unterbunden und zugleich deren vollständige Auslöschung eingeleitet: He backs against the hatch, giggling. The torch draws closer. His giggle rises and grows as he flattens himself against the wall. Their figures converge against him. (76)

In dem Verlauf der bizarren, anarchisch sich verselbständigenden und doch wie von einem überpersönlichen Agens der Handlung planvoll arrangierten Geburtstagsparty, in der der ursprüngliche, anthropozentrische Sinn dieses kommunikativen Rituals in sein Gegenteil verkehrt wird, schlägt sich also ganz deutlich die entfremdete und reduzierte Statur des Menschen gegenüber den sein Handeln bestimmenden Strukturen nieder. Doch setzt die Verdrängung dieser Erfahrung — die ja letztlich nicht nur für Stan, sondern für alle Figuren gilt — nachfolgend sofort wieder ein. Zu Beginn des 3. Akts sitzt Petey wie am Anfang des Stücks am Frühstückstisch und liest Zeitung, während Meg trotz der Vorfälle des vergangenen Abends ihre problemferne Familienidylle wiederherzustellen versucht. Eine untergründige Verunsicherung ist zwar zu spüren — zu offenkundig sind die Anzeichen der eingetretenen Veränderung, um sie ganz leugnen zu können: die beiden Fremden haben Peteys Frühstück verzehrt; Stans Trommel ist zerbrochen; McCann war während der Nacht auf Stans Zimmer; ein großer schwarzer Wagen ist durch das Fenster zu sehen, der vor dem Haus wartet. Dennoch ist die Tendenz zur Überspielung des Problems bereits wieder übermächtig, so wenn Meg die nächtlichen Gespräche zwischen Stan und McCann auf eine persönliche »Freundschaft« der beiden zurückzuführen sucht: "Do you think they know each other? I think they're old friends. Stanley had a lot of old friends. I know he did." (78) — Diese Annahme wird allerdings noch einmal nachhaltig widerlegt, wenn im folgenden Goldberg und McCann, sichtlich mitgenommen durch die >Behandlung< von Stan, das erste Mal im Stück in Streit geraten. (83ff.) Sie flüchten indessen aus ihrer kurzzeitigen Verunsicherung rasch wieder zurück in die Professionalität ihres Handlungsauftrags und bestätigen ihre neugewonnene Selbstsicherheit zunächst gegenüber Lulu, mit der Goldberg die Nacht verbrachte und die sich von ihm ausgenützt fühlt, die aber ihrerseits zur Schuldigen und >Angeklagten< erklärt wird, wobei McCann unversehens in eine grotesk-bedrohliche Beichtvaterrolle rückt. (90f.) Vollends ist diese Überlegenheit im Verhalten gegenüber Stan zu spüren, der völlig verwandelt von McCann hereingeführt wird, glattrasiert, im dunklen Anzug, die zer102

brochene Brille in der Hand. Goldberg/McCann sind hier ganz in ihre vorherigen Rollen zurückgeschlüpft und nehmen gegenüber dem apathischen Stan zunächst die Beschimpfungstiraden der Kreuzverhörszene wieder auf. (92) Dann aber gehen sie dazu über, dem durch die Geburtstagsfeier >neugeborenen< Stan den Sinn seines neuen Menschseins zu erklären. Dabei konfrontieren sie ihn nun in ebenso aggressiver, willkürlich-inkohärenter Dogmatik mit den Segnungen der Schönen Neuen Welt wie zuvor mit dem Versagen der eigenen Person. Die Rettung aus dem Elend seiner einsamen, verwilderten Subjektivität, die sie ihm in dieser zweiten, >affirmativen< Gehirnwäsche verheißen, besteht in der vollständigen Auslieferung an die Gesellschaft: "From now on, we'll be the hub of your wheel." (92) Goldberg und McCann sind hier in ihrem konkret-persönlichen we unmittelbar mit dem anonymen >Subjekt< der gesellschaftlichen Uberwachungs-, Versorgungs-, Konsum- und Karriereprozesse identifiziert, in denen sie Stans neue Rolle entwerfen. Womit sie ihn konfrontieren, ist wiederum kein kohärenter Erfahrungszusammenhang, sondern ein Sammelsurium verschiedenster Teilbereiche aus Ökonomie ("We'll give you a discount on all inflammable goods"), Religion ("We'll help you kneel on kneeling days"), Verkehr ("We'll provide ... the spare tyre"), Medizin ("The oxygen tent"), Politik ("You'll be ... a statesman" [92—94]): Es ist die Welt der zivilisatorischen Produkte und Systeme, die der Mensch sich zur Steigerung von Sicherheit, Wohlstand und Macht geschaffen hat und hinter deren überdimensional verselbständigten Ansprüchen der einzelne verschwindet. Und gerade daß diese hochgesteigerte zivilisatorische Sekundärwelt in doppelter Weise als zugleich w&erintegrierende und desintegrierende Wirklichkeit auf Stan einströmt, macht ihr Charakteristisches aus. Die Paradoxie des Menschen in einer abstrakten Gesellschaft wird hier am Schluß noch einmal zugespitzt. Mit der Integration in eine entpersönlichte Sekundärwelt wird die Verheißung persönlicher Selbstverwirklichung verbunden: GOLDBERG. MCCANN. GOLDBERG. MCCANN. GOLDBERG. MCCANN. GOLDBERG. MCCANN. GOLDBERG. MCCANN.

You'll You'll You'll You'll You'll You'll You'll You'll You'll You'll

be reorientated. be rich. be adjusted. be our pride and joy. be a mensch. be a success. be integrated. give orders. make decisions. be a magnate.

GOLDBERG. A statesman.

MCCANN.

You'll own yachts.

GOLDBERG.

Animals.

MCCANN.

Animals. ( 9 3 - 9 4 )

Am Schicksal Stans aber zeigt Pinter, daß die verheißene Selbstverwirklichung des Menschen über die Welt seiner zivilisatorischen Hervorbringungen illusionär ist, daß sie umzuschlagen droht in einen Zwang zur Unterwerfung unter deren anthropofugale Eigengesetze, der in der Entmündigung und Desintegration seiner Persönlichkeit endet. Die farcenhaften Züge dieser verzerrten, in der Art von Werbeslogans aneinan103

d e m o n t i e r t e n Zukunftsvision hängen hier wie auch sonst im Stück ganz unmittelbar mit dieser Thematik zusammen und mit der Verkehrung der menschlichen Realität, die sie impliziert. Die Deformation des Menschen unter den skizzierten Bedingungen wird am Zustand Stans am Ende des pervertierten >Initiationsritualseigenen< Meinung zur Umpolung seines Charakters stellen, auf ein bloßes Stammeln reduziert, ist sein Versuch zu sprechen auf die Erzeugung tierähnlicher Laute verkümmert. Das Ineinander von farcenhaften und grotesken Zügen wird hier noch einmal ganz deutlich, das die spezifische, schockartig-beklemmende Wirkung von Pinters Komik bedingt: MCCANN. What's your opinion, sir? Of this prospect, sir? GOLDBERG. Prospect. Sure. Sure it's a prospect. STANLEY'S hands clutching bis glasses begin to tremble. What's your opinion of such a prospect? Eh, Stanley? STANLEY concentrates, his mouth opens, he attempts to speak, fails and emits sounds from his throat. STANLEY Uh-gug ... uh-gug ... eeehhh-gag ... (On the breath.) Caahh ... cahh ... (94) Stans Verlust der Sprache und der Möglichkeit des Selbstausdrucks illustriert die Auflösung seiner Identität, die die Transformation des konkreten in den abstrakten Menschen (Goldberg/McCann) impliziert. Bei Stan ist diese Verwandlung bisher nur äußerlich gelungen, doch ist die entsprechende Verwandlung seines Inneren das Ziel, das bereits anvisiert ist und das der Organisation des mysteriösen Monty vorbehalten bleibt, zu dem er abtransportiert wird. A b e r auch diese unübersehbare Deformation wird am Schluß von der affirmativen Scheinwelt der Normalität vereinnahmt. Peteys zaghafter Protest gegen Stans Abtransport durch die beiden Fremden bricht, als diese auch ihm zu drohen beginnen, sofort zusammen und mündet in der bloß verbalen Aufforderung: "Stan, don't let them tell you what to d o ! " (96), die den im selben Augenblick als haltlos entlarvten Anspruch selbstbestimmten Handelns wahnhaft aufrechterhält. Anschließend kehrt Petey zu seiner Zeitungslektüre zurück, und indem er die von McCann zerrissenen Seiten, die zwischen den Deckblättern herausfallen, ignoriert und sich auf die Lektüre der Titelseite beschränkt, verdrängt er zeichenhaft das Zerstörungsgeschehen, das sich hinter der harmlosen Fassade der abstrakten Zwischenwelt verbirgt, auf der er sein Bewußtsein aufgebaut hat. Tatsächlich verleugnet er im abschließenden Gespräch mit Meg sogar Stans Verschwinden und tut so, als wäre dieser noch auf seinem Zimmer. Und der Triumph der verkehrten Welt, der zwanghaft wiederhergestellten Realitätsblindheit ist vollkommen, als Meg noch einmal vom großartigen Erfolg der >Birthday Party< schwärmt, deren Glanzpunkt sie selber gesetzt habe: 104

MEG. I was the belle of the ball. PETEY Were you? MEG. Oh yes. They all said I was. ΡΕΤΕΪ I bet you were, too. MEG. Oh, it's true. I was. Pause. I know I was. Curtain. (94)

2.5. Zusammenfassung Die Analyse von The Birthday Party zeigte, daß auch Harold Pinters Drama in Form und Aussage ganz wesentlich von dem kulturtheoretischen Paradigma der abstrakten Gesellschaft geprägt ist. Das Besondere von Pinters Methode liegt dabei darin, daß er die anthropozentrischen Sinnbegriffe der Vergangenheit im Grundmodell des Dramas aufruft und sie im Prozeß seiner Entfaltung in ihr Gegenteil verkehrt. Die Welt des Common Human Pattern ist bei Pinter auf den Kopf gestellt und zu einem Zerrbild ihrer selbst entwirklicht. In ihrer Unvermitteltheit mit der tatsächlich gegebenen Situation wird die Rhetorik eines anthropozentrisch-traditionsverhafteten Welt- und Menschenbildes, die in der Figur Goldbergs auf eine parodistische Spitze getrieben ist, im Licht des Verlusts ihres fundamentum in re dramatisiert. Die für Stanley Webber mit viel ideologischem und pseudorituellem Aufwand veranstaltete Geburtstagsfeier, die eine traditionelle Sozialform der kommunikativen Bestätigung persönlicher Identität gleichsam zitathaft aufgreift, ist nicht nur fingiert und wird gegen den Willen des Betroffenen durchgesetzt: Sie wird gerade zum Medium der Zerstörung seiner persönlichen Identität. Das Blendwerk der >Birthday Party< verbirgt dabei für die Figuren den Einbruch der abstrakten Gesellschaft in ihre kommunikative Lebenswelt, den die beiden Fremden Goldberg und McCann personifizieren und der für Stanley Webber — und den Zuschauer — zur schockartigen Entfremdungserfahrung aktualisiert wird. Aus dieser doppelbödigen Gestaltung des Identitätsproblems ergeben sich nicht zuletzt die extreme Brüchigkeit der Welterfahrung und die ins Bedrohliche verzerrte Leere der Kommunikation, das Ineinanderübergehen von innerer und äußerer Wirklichkeit, die traumatische Verdichtung und ironisch-groteske Übersteigerung der dargestellten Welt, die den dramatischen Stil des Autors kennzeichnen. Aus einer solchen Konstellation kann sich keine Dramatik im herkömmlichen Sinn entwickeln. Die Dialoge und Handlungen bilden zwar äußerlich die Interaktion realer Menschen ab und simulieren so den Fortbestand der konkreten Grundlagen des Dramas. Doch demonstrieren sie in ihrer formelhaften Erstarrung, ihrer klischeehaften Ubersteigerung und objektiven Belanglosigkeit selbst das Verschwinden jener realitätsbestimmenden Rolle, die sie als äußeren Schein aufrechterhalten. Auch der zentralen Auseinandersetzung zwischen Stan und den beiden Agenten, der der dramatische Vorgang des Stücks entspringt, liegt kein intersubjektives Konfliktmuster zugrunde. Sie folgt nicht der situativen Dialektik von Aktion und Reaktion, sondern einem über den Köpfen der Beteiligten sich ausspielenden Prozeß, der diesen — den 105

O p f e r n wie den Tätern — den Boden der eigenen Wirklichkeit entzieht. Die äußere Willkür und Zufälligkeit der Ereignisse schlägt u m in eine Schicksalhaftigkeit, die die Selbstentmündigung des Menschen durch die soziokulturellen Strukturen beinhaltet, in denen er sein Leben >organisiert< hat. D u r c h diesen Identitäts- und Handlungsverlust des Menschen, der in The Birthday Party dargestellt ist, kann hier, wie gesagt, keine eigentliche, sondern nur eine uneigentliche, gleichsam ironisch nur simulierte Dramatik sich bilden. Insofern aber andererseits die Restbestände jener Identität u n d Handlungswelt u n d das heißt die »Reminiszenzen der traditionellen Dramenform« 2 9 aufrechterhalten bleiben, schlägt die ironische Simulation immer wieder um in existentiellen Ernst. Die Simulation menschlicher Identität und Kommunikation, die ihren H ö h e p u n k t in der theatralischen Geburtstags->Show< Goldbergs und McCanns findet, hat ihren dramatischen Gegenpol in der Vereinsamung und Deformation, in die sie Stan hineintreibt. Indem Pinter auf diese Weise die inneren Widersprüche einer von der abstrakten Gesellschaft beherrschten Lebensform herausarbeitet, wirkt er der Aufhebung des traditionellen Dramas und des ihm zugrundeliegenden Menschenbildes durch die gesellschaftliche Realität, die er in seinem Stück gestaltet, gleichzeitig mit den Mitteln des Dramas entgegen. The Birthday Party ist darin ein weiteres, eindrucksvolles Beispiel f ü r die paradoxe Leistung des N e u e n Englischen Dramas, aus der drohenden Auflösung seines dramatischen Materials selbst wieder eine neue, der zeitgenössischen Situation des Menschen entsprechende Form der Dramatik zu entwickeln.

2.6. Ein Blick auf andere "Werke Pinters Der Blick auf die wichtigsten anderen Stücke Pinters zeigt, daß es sich bei dem in The Birthday Party aufgezeigten Problemansatz keineswegs um einen Ausnahmefall im Schaffen des Autors handelt. Auch in diesen nämlich geht es u m die Entwurzelung und Entfremdung der Menschen innerhalb ihres privaten Lebensraums, um die untergründige Verwandlung dessen, was f ü r sie ihr >Zuhause< ist, in etwas Fremdes, Anonymes, das sich ins Gegenteil seines ursprünglichen Sinns verkehrt hat. Ich kann hier nicht auf die durchaus verschiedenen Phasen von Pinters Schaffen eingehen, also auf seine Entwicklung von eher >absurdistischen< zu eher >realistischen< Darstellungstechniken, sondern möchte mich darauf beschränken, die Stücke auf unsere Fragestellung hin zu betrachten. Diese Betrachtung zeigt aber, daß auch in den späteren Stücken der realistische Ansatz gleichsam den Boden unter den Füßen verliert bzw. aus sich selbst heraus jene quasi-absurden Effekte, jene Verzerrungen des menschlichen Zusammenlebens hervorbringt, die die Dramen zugleich z u m sozialkritischen Problemstück und zur grotesken Farce werden lassen. In den frühen comedies of menace dürfte aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit die Parallele zu Birthday Party unmittelbar einsichtig sein. Hingewiesen sei hier n u r auf die Bedeutung des Zeitungsmotivs etwa in The Room (1957), w o der Ehemann 29

106

Zimmermann, op.cit., p. 61.

Bert fast die Hälfte des Stücks bis zu seinem Abtritt in einem magazine liest, o h n e ein einziges Wort zu sprechen, während andererseits seine Frau Rose ununterbrochen mit ihm >redetArbeitsscheue< u.a., übernimmt somit in sein Bewußtsein die kollektiven Projektionsmuster der Gesellschaft gegen ihre Randgruppen, von denen er selbst betroffen ist. Dies zeigt sich auch in der Beziehung zu den beiden Brüdern: Seine Aggression richtet sich gerade gegen den Falschen, gegen Aston, der als einziger konkret auf ihn eingeht. Stattdessen verbündet er sich mit Mick, der ihn von vornherein brutal und repressiv behandelt. Der Widersprüchlichkeit seines Verhaltens entspricht sein widersprüchliches Selbstbild. Während einerseits seine konkrete Identität so stark entwirklicht ist, daß er auf Astons Fragen nach H e r k u n f t und Geburtsort n u r mit inkohärentem Stammeln zu antworten vermag (26), setzt er andererseits alle H o f f n u n g auf eine Fahrt nach Sidcup, w o die »Papiere« in Verwahrung sind, die seine >wirkliche< Identität beglaubigen könnten (vgl. 19—20, 51, 65, 78). Es ist eben diese abstrakte, in den papers in Sidcup fixierte Identität, von der sich Davies am E n d e — freilich vergeblich — noch einmal ein Arrangement mit Aston, d. h. eine Lösung seiner Probleme erhofft u n d die nicht zufällig die das Drama beschließende >Leerstelle< bildet: 31 Listen ... if I ... got down ... if I was to ... get my papers ... would you ... would you let ... would you ... if I got down ... and got my Long Silence. Curtain. (78) Auch Aston ist, wie Davies, ein Außenseiter, doch ein Außenseiter ganz anderer Art. Er, der früher an öffentlichen O r t e n wie Cafe oder Fabrik immer wieder persön30 31

Harold Pinter, The Caretaker (London: Methuen, 1960, rev. ed. 1962), vgl. hierzu pp.9f. Esslins existentialistische Deutung dieses Motivs ("Harold Pinter, The Caretaker," p. 151) ist schwer nachzuvollziehen; vielmehr läßt es erst das Konzept einer >abstract society< in einen übergreifenden Bedeutungskontext stellen. 107

liehe Gespräche zu führen, d.h. die Anonymität zu durchbrechen versuchte, geriet dadurch in den Ruf der Anomalität, ja der Geistesgestörtheit. (54f.) Er wurde, noch minderjährig, in eine Anstalt gebracht, wo ihm von einem renommierten Spezialisten — nachdem auch seine Mutter auf einem ihr zugesandten Formular ihre Einwilligung gegeben hatte — eine Elektroschockbehandlung verabreicht wurde, die für ihn, statt ihn zu heilen, zu einer traumatischen Erfahrung wurde und eine schwere Schädigung und Entstellung seiner Individualität hinterließ. (56) Sein Körper ist halb paralysiert, seine Gedanken funktionieren nur noch langsam und stockend, sein kommunikatives Verhalten ist völlig gebrochen: "Anyway, I don't talk to people now . . . I don't talk to, anyone." (57) — Die Parallele zu Stans Schicksal in The Birthday Party ist hier offensichtlich. Die Aufnahme von Davies ist so als Versuch Astons verstehbar, die Kommunikation wieder aufzunehmen, doch das Scheitern dieses Versuchs liegt nicht nur an Davies, sondern an Aston selbst: er ist nach wie vor in seinen Reaktionen extrem langsam und nonkommunikativ, wirkt, trotz seiner Hilfsbereitschaft, innerlich wie gelähmt. Zwei Opfer der abstrakten Gesellschaft stehen sich also hier gegenüber, und die unterschiedliche Art ihrer Deformation ist der Grund, warum ihre Interaktionen aneinander vorbeilaufen. Immerhin bleibt für Aston eine gewisse Hoffnung. Er will etwas Konstruktives tun, nämlich eine Hütte im Garten bauen, um durch diese "simple woodwork" (40) ein Stück konkreter, selbstbestimmter Arbeit zu realisieren. Wie ist nun die Rolle des Dritten, Micks, zu sehen? Er ist deutlich als Gegenfigur zu Aston gezeichnet. Während dieser den Tramp aufnimmt und mit Essen und Kleidung versorgt, wird Davies von Mick, der ihn beim Durchsuchen der Wohnung überrascht, niedergeschlagen, überwältigt und sofort einem Verhör ausgesetzt, das, ähnlich dem Kreuzverhör Stanley Webbers durch Goldberg/McCann, in einen Schwall von Drohungen und eine totale Entwertung von Davies' Persönlichkeit übergeht. (33ff.) Die di/-/>er5owProblemlösungsBotschaftAbstraktheit< von Ronnies Position stärker ausdrücken als diese Komposition des Stückes, in der eine gewisse, wenn auch nur andeutungshafte Parallele zu Becketts Waiting for Godot unverkennbar ist. Auch in anderen Teilen der Trilogie gibt es diesen hintergründigen Realitätsverlust subjektiver Sinnintentionen, diesen über den Köpfen der Figuren sich vollziehenden Zusammenbruch lebensweltlicher Sicherheiten — so z.B. in Ronnies eigener Desillusionierung am Ende von Chicken Soup with Barley (1958), wo er, nach der Erfahrung des Ungarnaufstands von 1956, seine krisenhafte Desorientierung formuliert: Look at me, Mother. Talk to me. Take me by the hand and show me w h o was right and who was wrong. Point me out. D o it for me. I stand here and a thousand different voices are murdering my mind. 5

Und auch hier gibt es Anklänge ans absurde Theater, etwa in der Figur des apathischen, schließlich gelähmten Familienvaters Harry, der keineswegs nur eine komische Randfigur ist, sondern für Ronnie am Schluß die eigenen Ohnmachtsgefühle in einer »vaterlosen Gesellschaft« personifiziert. Modellhaft aber ist die Abstraktheit moderner Gesellschaftserfahrung bereits in The Kitchen (1959) gestaltet, 6 dem dramatischen Erstlingswerk Weskers, das ich hier als Beispieltext für meine These heranziehe. Das Stück, das in starkem Maß auf persönliche Erfahrungen des Autors zurückgeht und von diesem offenbar relativ spontan und ohne übermäßige dramentheoretische Vorkenntnisse verfaßt wurde, gilt der Kritik nach wie vor als "one of his best plays." 7 In ihm ist in höchst komprimierter 5 6

7

Arnold Wesker, Chicken Soup with Barley (London: Evans, 1961), p.56. The Kitchen wurde 1959 in einer kürzeren, 1961 in einer längeren Version aufgeführt. Ich beziehe mich hier auf die Version, die am 27. Juni 1961 von der English Stage Company im Royal Court Theatre auf die Bühne gebracht wurde: Arnold Wesker, The Kitchen, The Four Seasons, Their Very Own and Golden City (Harmondsworth: Penguin, 1976). Die Seitenzahlen zitierter Stellen erscheinen in Klammern im laufenden Text. Hayman, op.cit., p. 15. Vgl. auch Laurence Kitchins Urteil: "Wesker's claim to serious critical attention can very well rest on The Kitchen and Roots" ("Drama with a Message: Arnold Wesker," in Modern British Dramatists, ed. J.R. Brown, pp.72—88). - Eine gute Deutung von Weskers Werk geben K. und V. Lindemann, op.cit. — vgl. zu The Kitchen·, es übe nicht nur, »wie es die DDR-Kritik gerne wahrhaben will«, Kritik am Kapitalismus, sondern hebe vielmehr auf den »die politischen Systeme in Ost und West übergreifenden Prozeß der enthumanisierenden technologischen und industriellen Arbeitswelt« ab. (p.28)

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Form das pathologisch gewordene Spannungsverhältnis des einzelnen zu einem nahezu selbsttätigen, von der Großküche eines Restaurants repräsentierten ökonomischen Funktionssystem dargestellt, und aus diesem Spannungsverhältnis ergibt sich die spezifische Bewegung und Struktur des Stücks.

3.1. Die Großküche als ökonomisches Weltmodell Bereits im Vorwort zu The Kitchen macht Wesker klar, daß die Großküche des Restaurants Tivoli, in der er das Geschehen ansiedelt, eine Metapher für die moderne Welt ist. The world might have been a stage f o r Shakespeare but to me it is a kitchen, where people come and go and cannot stay long enough to understand each other, and friendships, loves and enmities are forgotten as quickly as they are made. (9)

Grundriß und Anlage des Dramas sind von dieser Metapher der >Großküche als Welt< bestimmt. Hauptpersonen sind die fünfzehn Köche des Restaurants, die in einer einleitenden Charakterisierung des Autors nach ihren jeweiligen Funktionen differenziert vorgestellt werden - " F R A N K , Second Chef, Poultry" "ALFREDO, Roast," " H A N S , Fry," "PETER, Boiled Fish," etc. (10-12). Peter, ein 23jähriger Deutscher, der seit drei Jahren in dem Restaurant arbeitet, wird dabei zwar zum wichtigsten Charakter, ist aber dennoch nicht etwa als beherrschende individuelle Mittelpunktsfigur scharf von den anderen abgehoben. Der Eindruck ist vielmehr der eines Massenbetriebes, in dem, durch die einheitliche Kleidung unterstrichen, individuelle Merkmale hinter dem gleichförmigen Funktionieren des Ganzen zurücktreten, die konkreten Charaktere der Menschen hinter den ihnen zugewiesenen Tätigkeiten verschwinden. Die Universalität dieses Modells zeigt sich an der Besetzung des Figurenrepertoires, in dem Männer und Frauen, Menschen aller Altersstufen und Charaktertypen, sowie Angehörige der verschiedensten Nationalitäten zusammenarbeiten — Italiener, Deutsche, Iren, Zyprioten, Juden, Franzosen, Griechen und, eher zufällig, Engländer. "This is the United Nations, eh?" (52) Zwar gestaltet Wesker bewußt und durchaus prägnant die persönlichen und nationaltypischen Eigenheiten der Figuren, wodurch er die naturalistische Milieutreue seiner Darstellung des Vielvölkergemischs der Großküche beglaubigt. Doch bildet diese charakterologische Differenzierung nur eine untergeordnete Schicht des Werkes, die von der Modellhaftigkeit der sozioökonomischen Strukturen überlagert wird, die es dramatisiert, und von der kollektiven Identität der Gruppe, die sich unter ihrem Einfluß ausbildet. The Kitchen ist so, in den Kategorien von Paul Goetsch, »Milieustudie« und »Modelldrama« in einem, oder, wie Meinhard Winkgens sagt, es ist naturalistische »Reproduktion eines spezifischen Segments sozialer Realität« und symbolische Darstellung einer »mechanischtechnologisch organisierten Industriegesellschaft« als ganzer. 8 8

116

Goetschs Kategorien aus Bauformen des modernen englischen und amerikanischen Dramas werden in diesem Sinn verwendet von Meinhard Winkgens, »Struktur und Botschaft bei Arnold Wesker: Eine Deutung der Form-Inhalt-Kohärenz in The Kitchen«, anglistik & englischunterricht 7, »Modernes englisches Drama«, 1979, 39—59, insbes. 4 1 - 4 2 .

Dem Übergewicht der kollektiven Gruppenidentität über den individuellen Charakter entspricht das Ubergewicht der typischen "Actions," die den einzelnen im Küchenbetrieb zugewiesen sind, über ihre persönlichen Interaktionen (vgl. 13—14). Es sind dies spezialisierte, in ihrer immergleichen Wiederholung aber gleichzeitig monotone Tätigkeiten, die — auf der Bühne nur pantomimisch dargestellt — der Zubereitung der den einzelnen Köchen zugeordneten Gerichte dienen und das Prinzip einer extrem arbeitsteiligen Produktion auf die Handlungsebene des Stückes übertragen. Sie bilden einen stets hintergründig präsenten, wie selbsttätigen Aktionsmechanismus, der simultan zu den flüchtig-fragmentarischen Vordergrundsgesprächen und -Interaktionen kontinuierlich weiterläuft und so den Rahmen vorgibt, in dem diese angesiedelt sind. The Kitchen ist damit nach Kenneth Tynan eines der wenigen Dramen, die die Arbeit des modernen Menschen selber auf die Bühne stellen und nicht nur die Pausen zwischen der Arbeit. 9 Wesker führt also das, was etwa bei Osborne aus der dramatischen Situation ausgespart bleibt, dem Zuschauer unmittelbar vor Augen, doch ist das Resultat seiner Analyse ein prinzipiell ähnliches. Denn die Arbeit, die er darstellt ist, ganz im Sinn der einleitenden Definition, abstrakte Arbeit (vgl. I.2.). Der Abstraktionsprozeß gesellschaftlicher Strukturen wird hier im Kernbereich aller Ökonomie, der Form der Nahrungsverwertung, demonstriert. Die Befriedigung eines elementaren Naturbedürfnisses des Menschen ist in The Kitchen in einen sozioökonomischen Mechanismus überführt, in dem der konkrete Zusammenhang sowohl mit der Beschaffung wie mit der Aufnahme der Nahrung verlorengegangen ist. Erstere ist in die Anonymität landwirtschaftlicher Massenproduktion und fabrikartiger Schlachthöfe ausgelagert (vgl. Moniques Alptraum, 63); letztere in die Anonymität einer Massenkundschaft von täglich etwa 2000 Restaurantbesuchern aufgelöst, die für das Küchenpersonal — und für die Zuschauer — ebenfalls unsichtbar bleiben. Das aus jedem naturhaft-konkreten Kontext herausgelöste, gegenüber den einzelnen verselbständigte, in atomisierte Teilfunktionen aufgegliederte Aktionssystem der Großküche stellt daher geradezu paradigmatisch die Wirkungsweise jener abstrakten Arbeit< dar, deren Entfremdungspotential bereits Karl Marx analysierte — ohne freilich den Grad der Verselbständigung vorhersehen zu können, den die ökonomische Rationalisierung in der fortgeschrittenen Moderne annehmen würde. 10 Der Kontext, in dem Wesker die abstrakte Arbeit dramatisiert, ist zunächst, ganz im marxistischen Sinn, als Verdinglichung und Entfremdung des Menschen durch kapitalistische Ausbeutung bestimmt. Die Großküche ist ein kapitalistischer Privatbetrieb, ihr Eigentümer ist der 75jährige Marango, der die Arbeitsbedingungen diktiert und überwacht, die Beschäftigten je nach Bedarf und Effizienz ein- oder ausstellt, freundlich oder herrisch behandelt, und der den Profit aus der Arbeit der anderen zieht. Die Konturen des traditionellen Herr-Knecht-Verhältnisses sind hierin deutlich in das Stück eingezeichnet, und Marango scheint damit eine persönliche Machtrolle zugewiesen, die ihn als Subjekt der Handlung von den anderen als deren Objekten abhebt. 9 10

Zit. bei Hayman, op.cit., p. 16. Vgl. hierzu Habermas, Theorie des kommunikativen

Handelns II, pp. 475ff., 493ff.

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Gerade an der Gestalt Marangos aber — an der erneut der nichtenglische Name, d. h. der supranationale Charakter des Systems auffällt, das er vertritt — zeigt sich, daß Weskers am Großbetrieb der Küche veranschaulichte Konzeption moderner ökonomischer Systeme über dieses, trotz aller Entfremdung noch immer anthropozentrische, Modell hinausgeht. Ahnlich wie am Beispiel der Politik in Edward Bonds Lear (vgl. II.7.) wird nämlich auch bei Wesker deutlich, daß gerade die scheinbar handlungsmächtigste Person im System der Großküche in besonderer Weise deren Gesetzen unterworfen ist, ja daß ihr Bewußtsein und Leben so ausschließlich davon beherrscht sind, daß sie jede Individualität einbüßt und zum bloßen phantomhaften Abbild ihrer eigenen Hervorbringung wird: PETER: . . . He is a man? He is a restaurant! I tell you. He goes to market at five thirty in the morning; returns here, reads the mail, goes up to his office and then comes down here to watch the service. Here he stands, sometimes walks round touching the hot-plate, closing the hot-plate doors, then looking inside this thing and that thing. Till the last customer he stays. Then he has a sleep upstairs in his office. Half an hour after we come back, he is here again — till nine thirty, maybe ten at night. Every day, morning to night. What a kind of life is that, in a kitchen! Is that a life I ask you? Me, I don't care, soon I'm going to get married and then wisht — [Makes movement with his arm to signify 'I'm o f f . ] (28—29).

Es ist Peter, der hier spricht, die kritische Stimme im Ensemble des Küchenpersonals, und der erkennt, daß er das durch diese Gesetze definierte — und deformierte — Leben mit Marango gemeinsam hat. Seine am Ende des Zitats geäußerte Hoffnung, den entfremdenden Einflüssen des Küchensystems durch die Flucht ins Private zu entkommen, entpuppt sich jedoch als Illusion: Sein Verhältnis zu Monique, der flatterhaft-oberflächlichen Serviererin, auf das er seine Hoffnungen setzt, scheitert daran, daß diese Einflüsse eine bis in die innerste Privatsphäre hineinwirkende >Zwischenwelt< bilden, die die Realisierung konkret-menschlicher Beziehungen per se verhindert.

3.2. D i e Küche als verselbständigte Zwischenwelt und Subjekt der dramatischen Handlung Aus der skizzierten Grundkonstellation ergibt sich die Definition menschlicher Wirklichkeit und menschlichen Handelns in The Kitchen, aus der sich wiederum die spezifische Art der Dramatik ableitet, die es entfaltet. Die Großküche, die hier für die Arbeitsverhältnisse der ganzen Gesellschaft steht, stellt sich als eine Art Uberwirklichkeit dar, die die menschliche Lebenswelt beherrscht, obwohl sie aus deren Perspektive heraus fremd, unwirklich und indifferent erscheint. PETER: . . . This — this madhouse it's always here. When you go, when I go, when Dimitri go — this kitchen stays. It'll go on when we die, think about that. We work here — eight hours a day, and yet - it's nothing. We take nothing. Here — the kitchen, here — you. You and the kitchen. And the kitchen don't mean nothing to you and you don't mean to the kitchen nothing. But Dimitri is right, you know - why do you grumble about this one kitchen? What about the offices and factories? (48) 118

Die Schwierigkeiten Peters, die von der Küche ausgehende Entfremdung in Worte zu fassen — er vermag sie, dem restringierten Kode der Küchen-Welt verhaftet, nur mit der leeren Negationsformel nothing zu umschreiben (vgl. auch 61: "But this house is like ... God in heaven, I don't know what it is like.") — zeigen an, daß wie in Look Back in Anger und The Birthday Party auch hier nicht zuletzt das für die einzelnen Unzugängliche, Ungreifbare das Charakteristische dieser neuen Art von Gesellschaftserfahrung ist. Die Küche ist eine anthropofugale Kraft, die zum Subjekt ihres eigenen Handlungssystems geworden ist. The kitchen at once demands and dramatically displays the time and energies of its employees, and the closeness of its confines, creating a theatrically vivid image, overshadows even their few recollections of activity on the margins of days and ways. 11

Von der Speisekarte ausgehend, die täglich neu — wenn auch mit kaum sich unterscheidenden Gerichten — ausgegeben wird, entwickelt sich der Vorgang der Essenszubereitung und Essensausgabe wie ein autonomes Geschehen, in dem Speisen und Geschirr wie selbständig zu zirkulieren scheinen und in dem die Küchenangestellten sich gegenseitig nur noch als austauschbare Instrumente zur Aufrechterhaltung dieses Mechanismus wahrnehmen, von dem sie gleichzeitig fast permanent überfordert sind. MONIQUE: Hettie, Janey's sick again, take over my station will you love? Daphne, give her a hand will you? DAPHNE: I'm on glasses don't forget. MONIQUE: True . . . I forgot. Who's left then? Winnie's on ten. Gwen's on . . . Gwen, what station are you on today? GWEN:

Seven.

MONIQUE: Seven . . . That's your hands full. (21)

Die Allgegenwärtigkeit der Küche bestimmt dabei nicht nur, wie gesehen, vom Figurenrepertoire her, sondern in den verschiedenen Elementen der »szenischen Dramaturgie«, 12 also zeitlich wie räumlich, optisch wie akustisch, von der Dialog- wie von der Handlungsführung her die Komposition des Dramas. Zeitlich gesehen bestimmt sie den Aufbau und Rhythmus des Stückes, das eine »teleskopierte naturalistische Nachahmung der Abläufe eines Arbeitstages« gibt. 13 Teil I stellt den Verlauf des Vormittags vom Anheizen der Öfen über die immer hektischer werdenden Essensvorbereitungen bis hin zum Höhepunkt der mittäglichen Speisenausgabe dar. Das Interlude bringt, wie der langsamere Zwischensatz eines Musikstücks, die relative Ruhe der Nachmittagspause herein, in der die persönliche Dimension sich mehr in den Vordergrund schieben kann. 14 Teil II zeigt das neuerliche Anlaufen des Massenbetriebs, dessen ebenfalls typisches Ablaufsmuster erst am 11 12

13 14

Vgl. Leeming/Trussler, op.cit., p.28. Zum Begriff der szenischen Dramaturgie vgl. Andreas Höfele, Die szenische Dramaturgie Shakespeares (Heidelberg, 1976), insbes. pp. 1 - 5 . Winkgens, op.cit., p.44. Die musikaffinen Tendenzen von Weskers Stück werden etwa von Kitchin gesehen, wenn er Peter als "solo instrument in a concerto" charakterisiert ("Drama with a Message," p. 78), oder von Margery Μ. Morgan, "Arnold Wesker: The Celebratory Instinct," in Essays on Contemporary British Drama, eds. Bock/Wertheim, pp. 3 1 - 4 5 .

119

Schluß durch den explosionsartigen Ausbruch Peters durchbrochen wird. — Räumlich gesehen bildet die Küche eine durchgängig präsente Kulisse des Geschehens, die das gefängnisartige Eingeschlossensein der Figuren in eine anorganische Umwelt von iron, dustbins und black walls (50) signalisiert, die auch >ästhetisch< gesehen den Spielraum menschlicher Wahrnehmung und persönlicher Lebensentwürfe auf ihren Horizont eingrenzt: "Young man in his teens, all the world in front of him," sagt Michael, der 18jährige Jungkoch, ironisch über seine Situation: Look at i t . . . a lovely sight, isn't it? Isn't she beautiful? A bloody great mass of iron and we work it - praise be to God for man's endeavour ... (22)

Hauptmerkmal der Raumgestaltung ist daher die »Aufwertung des Bühnenraums von einem bloßen Hintergrund zum dramatischen Mitspieler, zu einem verdinglichten Antagonisten«.15 — Auch akustisch macht sich die ständige Hintergrundspräsenz der Küche bemerkbar, nämlich im Lärm der Öfen, die zu Beginn angezündet werden und deren Dröhnen einen durchgehenden, störenden >Kontrapunkt< zu den Dialogen bildet: "There will be this continuous battle between the dialogue and the noise of the ovens." (15) Dieses Gegeneinander von menschlicher Stimme und Betriebslärm des Küchensystems schlägt sich, sozusagen auf einer übertragenen Ebene, auch in Sprache und Dialog selbst nieder. Zwar bemüht sich Wesker, seine Charaktere mit einem individuellen Idiom auszustatten, doch ist das Hauptmerkmal der Sprachgestaltung die »Ablösung einer autonomen, durch die dramatische Interaktion von Individuen sich generierenden Sprache durch einen an heteronome Bedingungen und Prinzipien geknüpften Sprachrhythmus.«16 Daraus resultiert eine auffällige Fragmentierung der persönlichen Kommunikationsansätze im Stück, die aus einer einzigen Serie von Mißverständnissen, Unterbrechungen, bloßen Gesprächsfetzen zu bestehen scheinen, ja die teilweise durch geradezu aggressive Nonkommunikation gekennzeichnet sind, wie sie in Gastons Ausruf gegenüber Peter gipfelt: " D O N ' T TALK TO ME." (26) Die solchermaßen entwerteten Dialoge werden mit einem Netz automatisierter Informationsabläufe überzogen: [Queues form in front of first one cook, then another.] M O L L Y [to H A N S ] : TWO veal c u t l e t s .

HANS: TWO veal cutlets. GWEN [to PETER]: Four cod ... do we order cod? PETER: Yes, back in five minutes. WINNIE [to PETER]: Three turbot. PETER: Three turbot. CYNTHIA: [to HANS]: Four veal cutlets. HANS: Four veal cutlets! Oh baby wait a moment! I . . . I . . . I . . . Hast du dir's überlegt? Gehen wir zusammen aus? Ich lade dich ein! Wir gehen ins Kino und nachher tanzen. Willst du? CYNTHIA: NO, I — have - to - go — and - get - my — plaice. [Said as to someone who doesn't understand a word of English.'] (39) 15 16

120

Winkgens, p. 44. Winkgens, p. 43.

Die persönliche Kommunikationsabsicht der Figuren, so wird deutlich, bricht sich immer wieder an der eigengesetzlichen Struktur der Küchenaktivitäten, einer "circular structure ... which creates its own self-contained and infinitely repeatable rhythm." 17 Höhepunkt dieser Struktur ist das Ende von Akt 1, das die Stoßzeit der Essensausgabe darstellt. (39—46) Der zunächst gemäßigte Rhythmus der Küche beschleunigt sich hier in einem Maß, daß die Figuren in ein völliges Durcheinander gestürzt werden. Der Ansturm der sich häufenden Bestellungen erzeugt einen Überdruck auf die einzelnen, der ihren Realitätssinn in der kollektiven Hysterie des außer Rand und Band geratenen Systembetriebs auflöst. Kevins verzweifelt-fassungsloser Ausruf: "Have you all gone barking-raving-bloody-mad" (46) markiert den Punkt, an dem der fast expressionistisch-autonome Rhythmus des Küchensystems seine höchst Intensität erreicht. At this point the waitresses have got into a continuous circle of orders round and round the kitchen, as the volume of the ovens increases and the lights slowly fade to blackout. The calls of orders and for plates and more meat, etc., continue through the blackness until the stage is clear and ready for the interlude. (46)

3.3. Die Folgen der abstrakten Zwischenwelt: Entwirklichung und Regression des konkreten Menschen Der Druck der anthropofugalen Küchenwelt auf die in ihr arbeitenden Menschen erzeugt nun verschiedenartige Gegenreaktionen und Formen der Selbstbehauptung, die jedoch durchwegs pathologische Züge tragen. Die Irrealität konkreter Lebensansprüche führt zu einer spezifischen Form der madness, die alle Beschäftigten im Lauf der Zeit ergreift (vgl. 11). Diese madness — neben work eines der am häufigsten gebrauchten Schlüsselwörter des Stückes —, nimmt, je nach Charakterdisposition, unterschiedliche Ausprägungen an. Sie kann einmal in der Uber-Identifikation mit dem Job bestehen, was dann dazu führt, daß das Selbstwertgefühl allein an der Perfektionierung der systemimmanenten Leistung festgemacht und die Beziehung zu den anderen auf eine rein sachlich-funktionale Ebene reduziert wird, d.h. die von der abstrakten Arbeit ausgehende gegenseitige Isolation und Indifferenz werden ins eigene Lebenskonzept übernommen. Beispiele hierfür sind Alfredo, der 65jährige Äodsi-Koch, der am schnellsten und effizientesten von allen, aber auch in völliger Selbstabschließung arbeitet: "he will help nobody and will accept no help" (11), oder der Küchen-Chef, der ganz in seiner organisatorischen Rolle aufgeht. Ihre Emotionen gelten nicht ihrem eigenen oder dem Lebensschicksal der anderen, sondern dem reibungslosen Funktionieren des Betriebs. In dieser Haltung sind sie dem Eigentümer Marango ähnlich, über dessen gespielte Anteilnahme bei einem Unfall, bei dem ein junger Koch sein Gesicht mit kochendem Wasser verbrennt, der Küchen-Chef sagt: "Much he cares. It interrupts the kitchen so he worries." (33) 17

Leeming/Trussler, op.cit., p.40. 121

Die madness manifestiert sich in The Kitchen jedoch auch bei den Figuren, die sich subjektiv weniger stark mit dem Großbetrieb identifizieren, objektiv aber dennoch dessen übermächtigen Einflüssen ausgesetzt sind. Da indessen bei diesen Personen das Bedürfnis nach einer eigenen Realität außerhalb des Küchensystems stärker ausgeprägt ist, treten bei ihnen die Spannungen und Symptome schärfer hervor, die durch die Unterdrückung dieses Bedürfnisses ausgelöst werden. Was dabei neben dem Versuch, den Problemdruck durch Alkohol zu betäuben (Max, Frank), am stärksten auffällt, ist die geballte Aggressivität, die unter der Oberfläche instrumenteller Kooperation brodelt und immer wieder in offenen Streit ausbricht. So geht dem Tag, an dem das Stück spielt, am Abend zuvor eine lebensbedrohliche Schlägerei mehrerer griechischer Arbeiter mit dem deutschen Koch Peter voraus, dem clownesken Individualisten, der durch seine demonstrative Distanz zur Welt der Küche die Aggressionen der anderen geradezu wie ein Magnet auf sich zieht. Der genannte Vorfall ist jedoch keineswegs eine Ausnahme, sondern typisch für die scheinbar unmotivierten, in ihren Opfern willkürlichen und in ihrem Verlauf kaum mehr kontrollierbaren Ausbrüche von Haß und Streit im Küchenmilieu: A quarrel starts and it goes on for months. When one of them is prepared to apologize so the other doesn't know how to accept — and when someone knows how to accept so the other ... ach! Lunatics!" (26)

Die Unzufriedenheit mit den Arbeitsverhältnissen wird auf die Sphäre des Zwischenmenschlichen projiziert, wo die Aggressionen jedoch, gerade weil sie keinen persönlichen Motiven entspringen, ein unkontrolliertes Eigenleben führen. Das Bedürfnis nach Eindeutigkeit und nach konkreter Identifizierung eines Gegners bzw. Schuldigen führt dabei immer wieder zu solchen Sündenbockbildungen, wie sie gegenüber Peter zutagetrat. Die diffuse Entfremdungserfahrung verfestigt sich zu Vorurteilen, die den Charakter ersatzhafter Feindbilder und Konfliktmuster annehmen, beispielsweise im Vorurteil gegen Ausländer (das im supranationalen Kontext der Küche besonders abwegig erscheint, da die meisten Angestellten >Ausländer< sind); oder in den Haßgefühlen gegen die Kunden des Restaurants, die für das Küchenpersonal den "personal enemy" verkörpern, obwohl die meisten von ihnen sie nie zu Gesicht bekommen; oder in dem unerklärlich heftigen Eintreten für die Todesstrafe, das sich zur dumpfen Tötungsphantasie gegenüber kollektiven Feindgruppen (in diesem Fall den Deutschen) steigert: They should kill 'em off! Kill 'em off! The lot! Boche! I hate them, you know? I don't hate no one like I hate them. And they want to abolish hanging now. You read about it? (37)

Die gesamtgesellschaftlichen Ausmaße dieser Logik von Entfremdung und Haß stellt Paul, der Pasteten-Koch, in seinem langen reflektierenden Monolog im Mittelteil des Stückes heraus. Er erzählt in diesem »zur Parabel sich verselbständigenden Erfahrungsbericht« 18 von einem Wohnungsnachbarn, einem Busfahrer, den er bei einem Streik unterstützt hat, wodurch Paul ihm persönlich nähergekommen zu sein meint. Doch als Paul ihm später von seiner Teilnahme an einem Friedensmarsch berichtet, 18

122

Winkgens, p. 54.

reagiert der Nachbar in unvermittelt-terroristischem, die persönliche Beziehung völlig ignorierendem H a ß : So then he turns round to me and he says. 'You know what? A bomb should have been dropped on the lot of them! It's a pity,' he says, 'that they had children with them cos a bomb should have been dropped on the lot!' And you know what was upsetting him? The march was holding up the traffic, the buses couldn't move so fast! (51) D e r Haß des Busfahrers wird also letztlich durch nichts anderes ausgelöst als durch den Umstand, daß die Demonstration den Fahrplan der Busse durcheinandergebracht hat. Die abstrakte Identifizierung mit dem eigenen Arbeitszusammenhang geht einher mit blinden Vernichtungsphantasien gegen alles, was das Funktionieren dieses Zusammenhangs infragestellt. In der Haltung des Busfahrers aber spiegelt sich eine allgemeinere gesellschaftliche Realität: And the horror is this — that there's a wall, a big wall between me and millions of people like him. And I think - where will it end? What do you do about it? And I look around me, at the kitchen, at the factories, at the enormous bloody buildings going up with all those offices and all those people in them, and I think, Christ! I think, Christ, Christ, Christ! I agree with you Peter - maybe one morning we should wake up and find them all gone. But then I think: I should stop making pastries? The factory worker should stop making trains and cars? The miner should leave the coal where it is? [Pause.] You give me an answer. (52)" D e r regressiven Projektion systembedingter Entfremdung auf die zwischenmenschliche Sphäre (vgl. Pauls Beschreibung des Busfahrers: "And you should have seen the hate in his eyes, as if I'd murdered his child. Like an animal he looked" [51]) entspricht umgekehrt die illusionäre Projektion menschlicher Bedürfnisse auf die gesellschaftliche Zwischenwelt selbst. Die eigene Lebenswirklichkeit wird über eine Sekundärwelt der Medien, die Inhalte der Privatsphäre werden über die Sphäre einer allgegenwärtigen Öffentlichkeit definiert. So projiziert die Bedienung Hettie ihre Gefühle auf einen Schauspieler, den sie am Abend zuvor im Theater (oder Kino?) erlebt hat: PAUL [to same waitress as she passes his section]·. Hettie, did you go last night? H E T T I E [ecstatically]:

Mmm.

PAUL: He's a good actor? HETTIE [even more ecstatically and hugging herself]·. What a man. Oh one night, just one night with him, and then I wash dishes all my life. [Moves off.] (31) Den Realitätsschwund konkret-zwischenmenschlicher Beziehungen, den diese Projektionshaltung impliziert, spricht Raymond an, der zweite Pasteten-Koch, der unter dauernden Spannungen mit seiner Frau leidet — der Zustand praktisch aller Privatbeziehungen im Stück ist, soweit man bruchstückhaft davon erfährt, durch Streit, Krisen und Trennungsängste gekennzeichnet —, und der Hetties Reaktion mit den Worten kommentiert: " S o what chance do we stand? You wonder my wife doesn't make love as she used t o ? " Sein Kollege Paul wiederum begründet hieraus seinen bewußten Rückzug aus der kommunikativen Lebenswelt in eine sekundäre Ersatzwelt, 19

Das Motiv des wall erinnert hier an das Zentralsymbol von Edward Bonds Lear, wo es eine ähnliche, allerdings politisch akzentuierte und weitaus beherrschendere Bedeutung gewinnt (vgl. u. II.6.). 123

womit er freilich den drculus vitiosus menschlicher Selbstentwirklichung nur noch weitertreibt: "And that's why I'm not going to get married. I buy picture books and I'm happy." (31)

3.4. Peters Verhalten als ambivalenter Versuch der (Re-)Konkretisierung des Menschlichen Wenn eine Person unter den Küchenangestellten hervorsticht und bis zu einem gewissen Grad individuelles Profil gewinnt, so ist es Peter, der 23jährige Deutsche, der seit drei Jahren als der für »gekochten Fisch« zuständige Koch arbeitet. Peter, durch den Weltkrieg zum Waisen geworden, hat wie Jimmy Porter und Stanley Webber etwas von einem angry young man, einem Außenseiter, der besonders stark an den Entfremdungen seiner Umwelt leidet und der die anderen zu provozieren und aus ihrer bewußtlosen Konformität zu reißen versucht. Er stellt die Gesetze des Küchenbetriebs infrage, spricht die Kollegen persönlich an, bringt mit seinen stark emotionalen Reaktionen einen Gegenpol zur funktionalen Küchenatmosphäre hinein. Sein Verhalten trägt einen spielerisch-anarchischen Zug, der in seinem charakteristischen, leitmotivischen Lachen, in dem Nonsens-Lied, das er nach der deutschen Allerweltsmelodie »Heidi-Heida« bei jeder Gelegenheit singt (vgl. z.B. 14), in den fast kindlichen Streichen, die er den anderen spielt, in den Grimassen, die er hinter dem Rücken des Chefs schneidet, zum Ausdruck kommt. Sein Auftreten hat darüber hinaus etwas Theatralisch-Demonstratives — auch darin erinnert er an Osbornes Jimmy Porter —, so wenn er den Gesprächspartnern ins Ohr flüstert, als würde er ihnen ein persönliches Geheimnis erzählen — und dadurch nur die Unpersönlichkeit der Gespräche hervorhebt. Er übernimmt so im Kontext der Küchenwelt die Rolle des fool, der eine ironische, teilweise farcenhafte Distanz zu dieser Welt hereinbringt. "There is something vast and Shakespearean in the way P E T E R moves — he is always wanting to play the fool." (43) Mit seiner explosiven Energie und Lebenssehnsucht ("Bloody volcano if you ask me" [53]) versucht er immer wieder, die Indifferenz und die aggressiven Vorurteile zwischen den Personen zu durchbrechen, d. h. die Kommunikation zu konkretisieren. Dies zeigt sich vor allem im Mittelteil des Stücks, wo er den Anstoß dazu gibt, persönliche Träume auszutauschen und Alternativen zur allesbeherrschenden Welt der Küche zu entwickeln. Peter verändert hier symbolisch auch die Kulisse des Geschehens, indem er aus den verschiedensten Küchenutensilien (Mülleimern, Behältern, Kochtöpfen, Besen u.a.) eine bizarre Phantasiekonstruktion errichtet: PAUL: Beautiful, what is it? PETER: It's my arch, and I was... And I was ... [grabbing a long ladle to use as a saluting sword] I was ein grosser Deutscher Ritter! (49)

Der Wunsch des Menschen, ein selbstbestimmtes, handlungsmächtiges Individuum zu sein, d. h. nach anthropozentrischer Konkretheit seiner Welt, tritt hier, spielerisch übersteigert, als Peters zentrales Motiv hervor. In seinem Appell an die kreative Ima124

gination verwandelt er in fast poetischer Eindringlichkeit die ganze Küche im Geist in eine naturhaft-konkrete Umwelt zurück: Pretend! There's no dustbins, that's a big beautiful arch there. Pretend! The walls are skies, yes? The iron, it's rock on a coast; the tables, [thinks] they're rose bushes; and the ovens are the noise of the winds. Look at the lights — stars, Dimitri. (50)

Peters auf konkrete Kommunikation zielendes Verhalten — das mit einer Annäherung an eine simulierte Welt des Common Human Pattern verbunden ist (vgl. auch die Elemente der Folklore, der Musik, des Tanzes, die Wesker im Mittelteil einsetzt) —, setzt sich auch im 2. Akt fort, etwa gegenüber dem Tramp, der in die Küche kommt und um ein Essen bettelt. Als man ihn mit einem Teller ungenießbarer Suppe abspeisen will, greift Peter spontan ein und besorgt dem Tramp, gegen die ungeschriebenen Gesetze der Küche, zwei Koteletts — wodurch er prompt ein weiteres Mal mit dem Chef aneinandergerät. Die Figur des Tramp erinnert hier an Davies in Pinters Caretaker, denn auch er weiß, daß er ohne sein pensions book bzw. seine papers ein soziales >Nichts< ist. TRAMP: 'Scuse me, Chef [touching his knee], war disabled, I don't usually ask for food but I lost me pensions book see? I don't like to ask b u t . . . CHEF: Michael, clean a tin and give him some soup. TRAMP [to KEVIN]: D o n ' t usually do this. Can't do anything till they trace me book. [To HANS] Got it in the desert, 'gainst Rommel. HANS:

Rommel! Aha!

TRAMP: Got papers to prove it, too. Here, look, papers! Always carry these around with me, everyone got to have his papers and I always carry mine. Be daft for the like o' me to leave them anywhere, wouldn't it? Who'd believe me otherwise, see? Papers! (59)

Vom Bemühen, die Beziehung im Sinn selbstbestimmter Gegenseitigkeit zu konkretisieren, ist vor allem auch Peters Verhältnis zu Monique gekennzeichnet. Der gegenwärtige Zustand ist für ihn höchst unbefriedigend, da Monique sich mit der versprochenen Trennung von ihrem Ehemann Zeit läßt und die Unentschiedenheit ihrer Beziehung immer weiter hinauszögert. Während sie ihm aus der Ferne des Urlaubs glühende Liebesbeteuerungen schickt (29), begegnet sie ihm in der täglichen Nähe der Arbeitswelt mit zwanghafter Distanz. Sie flirtet immer wieder mit anderen Männern, insbesondere mit Peters Gegenspieler Gaston, der ihn am Abend zuvor fast umgebracht hätte und der über sie sagt: "You're like a bit of paper — the wind blows you about." (26) Daß Peter sie bei diesen Flirts im Spiegel beobachtet (30), illustriert die Unwirklichkeit ihrer Beziehung ebenso wie Moniques Fixierung auf Äußerlichkeiten — die Aufrechterhaltung einer sozialen Fassade, die häufigen Friseur-, Boutiquenund Diskothekenbesuche, etc. Die mangelnde Wirklichkeitsgrundlage ihrer Beziehung zeigt sich aber vor allem in der nunmehr bereits dritten Abtreibung, die Monique gegen den Willen Peters, des Vaters der drei ungeborenen Kinder, vornehmen lassen will. Die Kommunikationsstruktur zwischen den beiden wird an der Stelle, wo sie über diese Frage sprechen, besonders deutlich, weshalb sie ausführlich zitiert sei. Während um sie herum der Abendessensbetrieb anzulaufen beginnt, hat Monique Peter von einem Alptraum er125

zählt: sie war in einen Schlachthof versetzt, in dem Kühe von blutbesudelten, aber sorgfältig geschminkten Frauen und bedrohlich verzerrten Männergestalten bei lebendigem Leib zerteilt wurden — ein an das theatre of cruelty gemahnendes Bild für die Zerstückelung der organischen Lebensgrundlage, die biologischen >BlutopferYou fool·, stalks off.] (63—64)

Es lohnt sich, diese Stelle etwas genauer zu betrachten, da sie zeigt, daß das kulturkritische Grundmuster des Stücks bis in die Mikrostruktur der Dialoge hinein wirksam ist. — Peters versuchter Affirmation des Lebens "You should have the b-" steht Moniques schroffe Negation gegenüber, welche diesen Versuch abbricht und nicht zufällig gerade das Wort "baby" überdeckt und gleichsam verstümmelt. Seiner Frage nach der Klärung ihres Verhältnisses zu ihrem Mann Monty begegnet Monique mit dem Hinweis auf Marango und die Regeln der Küchenwelt, die Peter verletze. Als dieser ihr seine Liebe erklärt und die Realisierung ihrer gegenseitigen Gefühle einfordert, kommt mit der Bestellung "Two chicken" die Küchenwelt dazwischen und gibt sozusagen selbst die >Antwortpersönliche< Gegner. D u r c h den nicht m e h r zu bewältigenden Andrang gleichzeitiger Bestellungen entnervt, reagiert Peter seine Frustration in brutal-demütigendem Verhalten gegenüber Violet ab, der ältesten und schwächsten der Bedienungen, m i t der er bereits z u v o r aneinandergeraten war. Im verzweifelten Versuch der Selbstbehauptung klammert er sich in fast hysterischer Weise an die Funktion, die er in der Küche innehat: PETER: . . . I'm the cook, yes? And you're the waitress, and in the kitchen I do what I like yes? And in the dining-room you do what you like. VIOLET [taking another plate from the oven]: I won't take orders from you, you know, I . . . PETER : [shouting and smashing the plate from her hand for a second time]: Leave it! Leave it there! I'll serve you. Me! Me! Is my kingdom here. This is the side where I live. This. ( 6 6 - 6 7 ) Als Violet ihn daraufhin als " b l o o d y German b a s t a r d " beschimpft, also die Logik gegenseitiger Identitätsentwertung weiter eskaliert, dreht Peter vollends durch. E r will sich zuerst auf Violet stürzen, erkennt aber, daß " s h e is not the enemy"

(67) und rich-

tet seine Wut stattdessen gegen die Küche selbst, indem er die Gasleitungen der Ö f e n zerschneidet und im Restaurant das Geschirr von den Tischen wirft. Sein Verhalten, das sich einerseits als weiteres S y m p t o m der aggressiven Verzerrung und Verwilderung menschlicher Selbstbehauptung im abstrakten Küchensystem darstellt — Peter schreit und bewegt sich "like a frightened

animal"

( 6 7 ) - , mündet hier also in einen

direkten Akt des Widerstands gegen dieses Systems selbst. Dieser A k t kann allerdings keine realistische, sondern nur eine symbolische A n t w o r t auf die Problematik sein. E r kann keinen wirklichen Ausweg aus der anthropologischen Sackgasse zeigen, in die die Verselbständigung seiner Kulturprodukte den Menschen geführt hat. E r vermag den Verlust konkreter Handlungsmuster nicht rückgängig zu machen, sondern nur eine verzweifelt-widersprüchliche

Demonstration

dieses Verlusts zu geben: D e r Schaden, den Peter angerichtet hat, ist bald repariert, und die einzige Konsequenz aus dem Vorfall wird seine fristlose Entlassung sein. 20

An dieser Stelle wird deutlich, daß die ansonsten überzeugende Interpretation von Winkgens mit ihrer These von einer durchgehaltenen »Form-Inhalt-Kohärenz« in The Kitchen über das Ziel hinausschießt: Peters Ausbruch erscheint ihm als logischer Endpunkt eines sich »Schritt für Schritt verschärfenden dramatischen Konflikts« (op.cit., p.55), was angesichts des Unberechenbaren, Inkohärenten menschlicher Selbstäußerungen im Stück, und angesichts des unvermittelten Aufflackerns des Streits, der zu Peters Amoklauf führt, forciert wirkt (vgl. The Kitchen·, p.66: "The pastrycooks begin to leave, and as they do so, an argument flares up suddenly at PETER'S station"). Und ein dramatischer Konflikt im herkömmlichen Sinn liegt ja, wie ich hier an der doppelbödigen, selbstaufhebenden Struktur der Auseinandersetzung Mensch vs. Küche zu zeigen versuche, gerade nicht vor.

127

Die beiden Seiten von Peters Handeln gehören daher unauflöslich zusammen, und sie geben ihm seine charakteristische Ambivalenz. Sein Ausbruch ist Rebellion gegen das System und Symptom der Systemeinflüsse, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Ausdruck von Humanität und Ausdruck des Untergangs von Humanität in einem. Sieht man näher hin, so zeigt sich, daß diese Ambivalenz auch für die anderen Außerungsformen des Konkret-Menschlichen gilt, die mit Peters Figur verbunden sind. Er ist zwar "good-natured," aber nervös und reizbar. (11) Sein typisches Lachen hat etwas Unechtes, Überdrehtes, es ist ein "forced laugh pronounced 'Hya hya hya,' instead of 'ha ha ha'" und spiegelt so, als Form der spielerisch-individuellen Transzendierung des Küchensystems, zugleich dessen deformierende Wirkung wider: "Somehow its maniacal tone is part of the whole atmosphere of the kitchen." (11) Er fordert zwar die anderen auf, Alternativen zu ihrem von der Küche beherrschten Leben zu entwickeln, hat aber selbst keine anzubieten. (53) Die Ernsthaftigkeit seines Engagements schlägt daher immer wieder um in Unernst, das Pathos ins Pathologische, die potentielle Tragik in zwanghafte Clownerie, die Authentizität des Selbstausdrucks in die Theatralik seiner /oo/-Rolle. Der anarchische Akt am Schluß, der den Versuch darstellt, die Spannungen zwischen Mensch und abstraktem System in direktem Handeln aufzuheben, transformiert diese Ambivalenz in unmittelbare szenische Anschaulichkeit. Im Bild des blutüberströmten Peter, der nach seinem Amoklauf völlig erschöpft und krankenhausreif hinausgeführt wird (übrigens ein weiterer motivischer Anklang an Moniques Alptraum), ist der Don-Quijote-hafte Konkretisierungsversuchs des Konflikts Mensch vs. Küche bis zu einem Punkt gesteigert, an dem die Aussichtslosigkeit dieses Versuchs sinnlich augenfällig wird, an dem die verwilderte Selbstbehauptung umkippt in Selbstzerstörung, die quasi-heroische Größe individuellen Widerstands ins Groteske, das weltverändernde Handeln des einzelnen in madness. Wenn Peters spontane Gegenaktion so auch keine gültige Antwort auf die kulturphilosophische Herausforderung der in The Kitchen aufgeworfenen Problematik geben kann, hebt sie doch diese Herausforderung mit bizarrer Schärfe ins Licht. Sie verfehlt immerhin ihren Eindruck insofern nicht, als sie sowohl das Personal der Küche als auch deren verwirrten Besitzer mit der zwar offen bleibenden, aber zutiefst beunruhigenden Frage nach dem fundamentalen Sinndefizit der Welt zurückläßt, der Marango sich mit Leib und Seele verschrieben hat. MARANGO: ... I don't know what more to give a man. H e works, he eats, I give him money. This is life, isn't it? I haven't made a mistake, have I? I live in the right world, d o n ' t I ? . . . [To the kitchen] Is there something I don't know? . . . [MARANGO is left facing his staff, who stand around, almost accusingly, looking at him. And he asks again - ] What is there more? What is there more? What is there more? ( 6 8 - 6 9 )

3.5. Zusammenfassung Betrachtet man die Ergebnisse der vorstehenden Analyse noch einmal im Zusammenhang, so zeigt sich, daß das Muster der abstrakten Gesellschaft auch in The Kitchen 128

als thematisch-strukturelles Grundmodell eingezeichnet ist: die Wechselbeziehung zwischen der Verselbständigung eines sozioökonomischen Systems, der Entwirklichung des konkreten Menschen, und den regressiven Formen individueller Selbstbehauptung, die sich hieraus entwickeln. Der Bruch zwischen Mensch und System manifestiert sich in verschiedenen Ausprägungen auf sämtlichen Strukturebenen des Stückes: auf der Ebene der raumzeitlichen Komposition in der Ersetzung des natürlichen Tagesablaufs durch den Funktionsablauf der Küche, des anthropozentrischen Handlungsraums durch die anthropofugale >SystemkulisseDramatik des Nichtmehr-Dramatischen< deutlich hervor, aus der auch dieses Stück — wie andere Werke des Neuen Englischen Dramas - seine innere Bewegung und Spannung gewinnt. Die beiden Höhepunkte der Handlung am Ende des 1. bzw. des 2. Akts markieren nämlich zugleich die Extrempunkte des vielfach gebrochenen Spannungsverhältnisses konkreter Mensch vs. abstraktes System, teleologisches vs. zirkuläres Prinzip, das dem Stück zugrundeliegt. Während der erste Höhepunkt, die fast surrealistisch überdrehte Hektik des lunchtime rush, seine Dynamik aus der vollständigen Autonomisierung des anthropofugalen Handlungskreises der Küche, d.h. gerade aus der situativen Aufhebung aller konkret-menschlichen Dramatik bezieht, stellt der zweite Höhepunkt, Peters amoklaufende Rebellion gegen die Küche, umgekehrt den Versuch der Wiedergewinnung solcher Dramatik dar — ein Versuch jedoch, der, wie gesehen, nur noch in zeichenhafter, grotesk-regressiver Reduktionsform möglich ist. Eine wichtige Konsequenz aus dieser Konzeption ist die stil- und gattungsmäßige Ambivalenz der Darstellungsweise, die Weskers Stück, über den gemeinsamen kulturtheoretischen Problemansatz hinaus, den Werken der anderen Autoren des Neuen Dramas annähert. Zwar liegt in The Kitchen, wie in anderen Dramen Weskers, ein naturalistischer Grundansatz vor, und die Konturen seines Stückes sind zunächst deutlich durch seine Absicht definiert, eine möglichst wahrheitsgetreue, bis in Details hinein authentische Wiedergabe sozialer Wirklichkeit zu liefern. Doch treibt gerade der spezifische Charakter dieser Wirklichkeit: die in einem menschlich fundamentalen Sinn gebrochene Wirklichkeitsstruktur, die dabei zum Vorschein kommt, eine seltsam nichtrealistische, mitunter expressionistisch zu nennende Dimension der Darstellung hervor.21 Auch in anderen Richtungen zeigt der vielzitierte >Naturalismus< Weskers Ubergänge zu verschiedenen Stiltendenzen des modernen Dramas. Auf der einen Seite gibt es Elemente, die Brechts Episches Theater in Erinnerung rufen — etwa der

Vgl. Leeming/Trusslcr, op.cit., p.26, nach denen The Kitchen eine Handlung repräsentiert, "that so nearly approaches documentary realism in its details of kitchen routine within a form that verges on the expressionistic . . . "

129

starke Anteil der Pantomime an den Küchenaktivitäten, der von vornherein ein Moment der epischen Verfremdung hereinbringt; oder die »parabolische Struktur« des Brechtschen Lehrstücks,22 dem The Kitchen verpflichtet ist. Auf der anderen Seite sind aber auch Affinitäten zum absurden Theater zu erkennen — etwa in den auffälligen Inkohärenzen von Dialog und Handlung, im Umschlagen menschlicher Sinnäußerungen ins Groteske, in der zyklisch-repetitiven Monotonie des Küchenbetriebs, die in der Kritik explizit mit Beckett verglichen wurde. 23 Obwohl also Wesker von seinem Ansatz her zweifellos als >realistischer< Dramatiker einzustufen ist, bringt doch seine Auseinandersetzung mit der Problemstruktur der abstrakten Gesellschaft, die ja gerade das Realitätsproblem in einer spezifisch für das Drama relevanten Weise aufwirft, eine neuartige Synthese verschiedener Stilrichtungen des modernen Theaters hervor, die eine eindeutige Zuordnung auch dieses Dramatikers zu einer bestimmten Schule unmöglich macht. Auch dies rückt Wesker, ohne ihm sein individuelles Profil zu nehmen, in eine Reihe mit den anderen Vertretern des Neuen Englischen Dramas. Denn auch bei ihm handelt es sich hierbei um keine willkürliche, auf vordergründige Avantgarde-Effekte spekulierende Stil- und Gattungsmischung, sondern um eine innere Konsequenz des gewählten geschichtsphilosophischen Problemansatzes.

3.6. Ein Blick auf andere Werke Weskers Auf Bezüge zur hier diskutierten Thematik in Weskers Hauptwerk, der Chicken Soup Trilogy, wurde einleitend bereits hingewiesen. Solche Bezüge seien nun kurz auch noch an einigen anderen Dramen aufgezeigt.24 In Chips with Everything (1962) geht es um die Ausbildung von Rekruten der RAF, deren Ziel nach den Worten des Geschwaderkommandanten es ist, einen "maximum state of efficiency, discipline and obedience" zu erreichen.25 Da es zunächst immer wieder Schwierigkeiten gibt, die Rekruten in diese Zielvorstellung einzufügen, wünscht sich der Commander ihre baldige Ersetzung durch Automaten: "God give 22 23 24

25

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H . - D . Weise, Die »neuen englischen Dramatiker« in ihrem Verhältnis zu Brecht, pp.94ff. Leeming/Trussler, op.cit., p.40. Dieser Überblick kann hier natürlich, wie bei den anderen Autoren, nicht alle Aspekte von Weskers Dramatik abdecken. Nicht überall spielt z.B. das ökonomische Thema eine so zentrale Rolle wie in The Kitchen oder in der Trilogie - auch Themen wie Militär, Journalismus, Intellektuelle, die Lage der Alten und neuerdings immer mehr auch das Problem des Todes werden in seinen Stücken aufgegriffen. Vor allem in den 70er Jahren vollzieht sich dabei eine teilweise doch recht erstaunliche Annäherung des Sozialisten Wesker an eine existentielle, mitunter ans Religiöse grenzende Thematik, wobei allerdings deren Eingebundenheit in soziokulturelle Zusammenhänge stets wesentlich bleibt - Beispiele dafür sind etwa Love Letters on Blue Paper (1978), das in einer deutlich verhaltenen, fast lyrischen Tonlage das Sterben eines pensionierten Gewerkschaftsfunktionärs behandelt, oder Caritas (1981), das das Schicksal einer jugendlichen Einsiedlerin im 14. Jahrhundert aufgreift, die sich im Versuch religiöser Selbstfindung in eine an die Stadtkirche gebaute Zelle einmauern läßt. Arnold Wesker, Chips with Everything, 1977), p. 22.

The Friends, The Old Ones (London: Methuen,

us automation soon." (33) Insbesondere Pip Thompson, der Sohn eines pensionierten Generals, verhält sich widerspenstig und setzt sich der Reduktion der Menschen auf gesichtslose Marionetten entgegen. Er weckt nicht nur bei seinen Kameraden Widerstandsgeist, sondern verweigert schließlich sogar einen Befehl — nämlich mit einem Bajonett eine Menschenpuppe zu >erstechenFreunde< zumindest für diesen Augenblick jene Wirklichkeit zurück, die ihm zuvor gefehlt hatte. Indem sich alle an diesem Ritual beteiligen, finden sie gleichzeitig zum ersten Mal im Stück zu einem kommunikativen Akt zusammen, der am Schluß von The Friends einen deutlichen Hoffnungsakzent setzt. In The Old Ones (1972) stehen Charaktere zwischen 60 und 70 Jahren im Mittelpunkt, aus deren durch eine untergehende Welt geprägter Sicht hier die Gegenwart erlebt wird. Die in getrennten, aber aneinander angrenzenden Räumen lebenden Brüder Emanuel und Bloomy liegen im ständigen Streit über die Deutung dieser historischen Umbruchssituation, und sie führen einen fortwährenden Krieg mit Zitaten, die sie sich zur Untermauerung ihrer entgegengesetzten Positionen, zum Teil aus den gleichen Büchern, zurufen. Im Medium der Rationalität werden dabei zugleich deren Grenzen bestimmt: statt einer Ordnung der Welt im Kopf, die nicht mehr möglich ist, droht die Gefahr, in "chaos and contradictions" zu versinken.27 Emanuel leidet extrem an diesen Widersprüchen, die nicht nur sein Denken, sondern sein ganzes Leben erfaßt haben — so kampiert er nachts im Freien, schreit sein Elend in die Nacht hinaus und dokumentiert so im Versuch der Konkretisierung seiner Existenz deren psychische >VerwilderungNeue< als irritierend und bedrohlich erlebt wird - etwa in Gestalt des Schwiegersohns von Sarah, der Schwester der beiden, der Sarahs Tochter in Zeitungen und Fernsehen bringen und so ihren Erfolg programmieren will. Der Schwiegersohn ist Wissenschaftler, der, wie Sarah es darstellt, die Erde mikroskopisch untersucht, aber in dessen Haus keine Blumen wachsen. In eine ähnliche Richtung weist Sarahs Erschrecken vor der verfremdeten Stimme ihrer Tochter auf einem automatischen Anrufbeantworter (167), oder die bestürzende menschliche Kälte im Verhalten Jugendlicher, die die alte, hinkende Frau Emanuels nachäffen. - Durch das Anknüpfen an Traditionen der Vergangenheit - so der jüdischen Feier der »Succah« (Akt 2, Sz.9) — versuchen die Alten, einen gemeinsamen Halt wiederzugewinnen und die auseinanderstrebende Familie in der Idee der "unity of differences," die die Succah symbolisiert (181), noch einmal zu einem konkreten Ganzen zusammenzufügen — was allerdings angesichts des nahen Lebensendes und der sich durchsetzenden neuen Zeit nur momenthaft gelingen kann. In The Journalists (1974) greift Wesker ein Thema auf, das etwa auch in Osbornes The World of Paul Slickey und in Stoppards Night and Day zum Ausgangspunkt modellhafter Kulturkritik gemacht wird: den Journalismus. Gezeigt werden die verschiedensten Redaktionen einer großen Wochenzeitung, wobei in einer großen Anzahl rasch aufeinanderfolgender Szenen von einer Redaktion zur anderen geblendet wird. 27

Arnold Wesker, The Old Ones

(Ausgabe wie Fußnote 25), p. 149.

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In den Dialogen wird dadurch eine Vielfalt ganz verschiedener und notwendig fragmentarisch bleibender Gegenwartsthemen aufgeworfen. Wie in The Kitchen der Arbeitsprozeß der Großküche, so bildet hier der Arbeitsprozeß der Zeitungsherstellung — der kollektive Routinebetrieb der Büros, die Hektik der Informationsbeschaffung, das Läuten der Telefone, das Tuckern der Telex-Geräte — einen durchgängigen Hintergrund, vor dem die Aktivitäten der einzelnen sich jeweils als kurzzeitiges Vordergrundsgeschehen konturieren. Das Prinzip der »abstrakten Arbeit< ist hier auf der Ebene der Kopfarbeit illustriert, dem ständigen Geräusch der Öfen in The Kitchen entspricht in The Journalists die Projektion überdimensionaler Pressen auf eine das Bühnengeschehen überragende Leinwand, die sich am Ende des Stücks — an dem der Redaktionsbetrieb sich zu seinem Höhepunkt steigert — zu drehen beginnen. Sie bilden die Industrialisierung der geistigen Produktion auf der Bühne ab, die sich auch im Verhalten der Redakteure niederschlägt. Deren Gespräche und Umgang miteinander sind bis in die Privatsphäre hinein durch die Themen und Interessen ihrer Profession geprägt, durch die öffentlichkeitsbewußt-sensationsorientierten Verkürzungen, Vereinfachungen und Schnellanalysen der Realität, wie sie die möglichst rasche und effiziente Herstellung ihres Produkts erfordert. Der Ablauf des Stücks wird so weitgehend durch stenogrammartig verkürzte Dialoge, verwirrend vielfältige und zugleich willkürlich-abgerissene Informationsabläufe bestimmt, in denen die menschliche Wirklichkeit, über die dabei gehandelt wird, nur noch zum Material eines sich selbst genügenden Verwertungsprozesses wird. Eine gewisse Handlungslinie kommt durch die ebenso kritische wie erfolgreiche Journalistin Mary Mortimer in das Stück hinein. Ihr gelingt es durch engagierten Einsatz und unbeirrbare Nachforschungen, stichhaltiges Beweismaterial für die Korruptheit eines einflußreichen Politikers zu beschaffen. Im letzten Augenblick aber wird sie vom Herausgeber des Blattes an der Veröffentlichung ihres Artikels gehindert — das Interesse an konkreter Aufklärung muß hinter den vielfältigen Rücksichten zurücktreten, die der Editor angesichts der Ambivalenzen politischen Handelns nehmen zu müssen glaubt. In der Schlußszene, in der die um ihre Story gebrachte Mary Mortimer über Telefon Kontakt zum Herausgeber herzustellen versucht, geht ihre Stimme unter im Stimmengewirr der Redaktionen, welches seinerseits mit dem Lärm der sich drehenden Pressen zum abschließenden, wiederum expressionistische Züge annehmenden Höhepunkt des Stückes verschmilzt: MARY. But why isn't he listening? He's not even listening. (Now, as they move off, everyone in all departments talks at once, a babble, a crescendo of voices melting into the full blast of the machines. The sound continues but — the stage darkens — except for the bright image on the screen of the presses turning — turning.)28

Der zielgerichtete Handlungsversuch geht auf im zirkulären Handlungsmodell des verselbständigten Zeitungsbetriebs — das hier in den sich drehenden Pressen verbildlicht ist —, in der Eigendynamik des industrialisierten Geistes, der die Welt von The Journalists bestimmt. 28

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Arnold Wesker, The Journalists (London: Methuen, 1975), p. 112.

4. John Arden, Serjeant Musgrave's Dance: Abstrakte Gesellschaft als moralisches Handlungsproblem

Obwohl John Arden der Literaturkritik mittlerweile als moderner Klassiker gilt, dessen künstlerischer Rang unbestritten ist,1 ist die Resonanz auf seine Werke beim Publikum insgesamt geringer geblieben als etwa im Falle Osbornes, Pinters oder auch Weskers. Dies mag mit einer gewissen Unzugänglicheit seiner Dramen zu tun haben, die aus einer eigentümlichen Spannung zwischen Sozialkritik und hintergründiger Symbolik, naturalistischer Prosa und Verssprache, social drama und poetic

drama

leben, und die Techniken von Brechts Epischem Theater mit den archetypischen Mustern der englisch-schottischen Volksballade verbinden. Zwar ist deutlich ein politisch-soziales Anliegen erkennbar, doch ist dabei — zumindest in den früheren Dramen — keine eindeutige Stellungnahme oder gar Lösung der aufgeworfenen Probleme zu erkennen. Dies ist nun jedoch nicht, wie Hans-Jürgen Diller schließt, ein Indiz dafür, daß Arden die »dramatische Form« wichtiger sei als die »Aussage« seiner Stücke. 2 Eine solche Entgegensetzung wäre Arden fremd, dem es vielmehr darauf ankommt, die Aussagekraft der dramatischen Form im Spannungsfeld zwischen traditionellen und avantgardistischen Momenten für eine möglichst dichte und vielschichtige Darstellung der zeitgenössischen Situation des Menschen zu nutzen. 3 Anders gesagt, die Schwierigkeiten, die Ardens Stücke aufwerfen, sind nicht Ergebnis forma-

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3

Wichtige Studien zu John Arden sind u.a. Ronald Hayman, John Arden (London 21969); Simon Trussler, John Arden (New York and London, 1973); Albert Hunt, John Arden. A Study of His Plays (London, 1974); Michael Anderson, Anger and Detachment, pp. 5 0 - 8 7 ; Frances Gray, John Arden (London and Basingstoke, 1982), Malcolm Page, John Arden (Boston, 1984). — Im deutschsprachigen Raum vgl. neuerdings Michael Göring, Melodrama heute: Die Adaption melodramatischer Elemente und Strukturen im Werk von John Arden und Arden/D'Arcy (München, 1987). Hans-Jürgen Diller, »Arden: Serjeant Musgrave's Dance«, in Das englische Drama II. ed. Dieter Mehl (Düsseldorf, 1970), pp.290-304, p.291. Hierauf werfen mehrere neuere Studien ein für diese Untersuchung interessantes Licht: Helena Forsäs-Scott, "Life and Love and Serjeant Musgrave: An Approach to Arden's Play," Modern Drama, 26, N o . l (1983), 1 — 11, die die Spannung zwischen traditional-kommunalen und modernen Lebens- und Literaturformen in Ardens Werk herausarbeitet; Malcolm Page,/o/w Arden (1984), der das "recurring theme" in Ardens Dramen in "authority and the place of the rare, free, vital, spontaneous man in modern, ordered societies" (p. 140) sieht; Michael Cohen, "The Politics of the Earlier Arden," Modern Drama, 28, No. 2 (1985), 198—210, der die Position des frühen Arden als "non-violent anarchism" umschreibt (199), welcher in Opposition zur "institutionalized society" (201) steht und nicht nur inhaltliche Bedeutung hat, sondern "contributes to the forms of the dramas." (200). — Für unsere Fragestellung relevant sind ferner Paul W. Day, "Individual and Society in the Early Plays of John Arden," Modem Drama, 18 (1975), 2 3 9 - 49, und Wolf-Dietrich Weise, »John Arden: Serjeant Musgrave's Dance. Der Teufelskreis der Gewalt«, Englisches Drama von Beckett bis Bond, pp. 157-75. 135

ler, rein artistisch motivierter Sinnverschlüsselung, sondern Teil bzw. Ausdruck der Problematik selbst, über die in ihnen gehandelt wird. N u n hat sich der Autor in den 70er Jahren, vor allem auch in der Kollaboration mit seiner Frau Margaretta D'Arcy, auf eindeutigere Positionen zubewegt, die sich auch in seinen Werken spiegeln. Im Vordergrund steht dabei das Irlandproblem, das z.B. in der in Richtung politisches Aktionstheater gehenden, 26 Stunden dauernden Non-Stop Connolly Show (1975) an der Person des revolutionären Gewerkschafters James Connolly behandelt wird. O b w o h l etwa Michael Anderson Positives über die Qualität dieser späteren Stücke zu sagen weiß, vor allem über das wiederum um Irland handelnde The Ballygombeen Bequest (1972),4 so geht doch die überwiegende Auffassung der Kritiker dahin, daß der bislang wichtigere Beitrag Ardens zum modernen Theater in seiner früheren Schaffensphase liegt. Serjeant Musgrave's Dance (1959) kommt dabei eine unbestrittene Sonderrolle zu, da es nicht nur den Durchbruch Ardens als Dramatiker brachte, sondern inzwischen zum Kanon zeitgenössischer Meisterwerke zählt: "Arden's third play, Serjeant Musgrave's Dance, is now accepted as a masterpiece: it has become a prescribed text in English Literature examinations." 5 Gerade an diesem Drama aber entzündete sich auch die für die anfängliche Rezeption Ardens kennzeichnende Kontroverse der Kritik. Rechte wie linke Dogmatiker gleichermaßen verwirrend, erschien es den einen als nihilistische Parabel über die Vergeblichkeit politischen Handelns, den anderen als ein zur gewalttätigen Revolution aufrufendes Agitationsstück. 6 In seiner "Introduction" zu dem Stück, in der er auf solche Vorwürfe erwidert, stellt Arden klar, daß Serjeant Musgrave weder das eine noch das andere sei. Es gehe ihm darin um die Frage der Gewalt in der heutigen Welt, um den Versuch, sie durch persönliches Eingreifen zu überwinden, sowie um die Schwierigkeiten, die mit diesem Versuch verbunden sind. 7 Hieran knüpft die folgende Interpretation an. Sie geht davon aus, daß das Drama in erster Linie ein Problem des moralischen Handelns aufwirft, und es wird zu zeigen sein, daß die spezifische Ambivalenz und Widersprüchlichkeit dieses Handelns in einem präzise zu definierenden Sinn mit der übergreifenden Thematik der abstrakten Gesellschaft zusammenhängt.

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Anger and Detachment, pp. 80ff. — Besonderes Augenmerk auf die spätere Phase Ardens legt auch Frances Gray, John Arden (1982), die den Autor stärker im Sinn des politischen Theaters Brecht deutet und demgemäß auch die zweite Phase Ardens positiver als andere Kritiker beurteilt. H u n t , op.cit., p. 18. Vgl. ähnlich auch Hayman, op.cit., p.30, und Robert Skloot, "Spreading the Word: The Meaning of Musgrave's Logic," Educational Theatre Journal, 27 (May, 1975), 208-19, 219. Cohen, op. cit., sieht in dem Stück "one of the most ambiguous and widely debated plays of its period." (198) J o h n Arden, "Introduction" to Serjeant Musgrave's Dance, in Plays: One (London: Methuen, 1977), pp. 11-13. - Die Zitate aus dem Stück beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe.

4.1. Entstehungsgeschichte und Problemgrundriß Nach Angaben des Autors geht die Anregung zu Serjeant Musgrave zurück auf Zeitungsberichte von einem Vorfall in Zypern, damals noch britische Kronkolonie, im Jahre 1958: A soldier's wife was shot in the street by terrorists - and according to newspaper reports — which was all I had to work on at the time — some soldiers ran wild at night and people were killed in the rounding-up. The atrocity which sparks off Musgrave's revolt is roughly similiar.8

Die Konzeption von Serjeant Musgrave erscheint nun auf dieser ersten Ebene als dramatische Umsetzung eines spontanen Handlungsimpulses, als >wunscherfüllendes< Phantasieszenarium eines, der aus der Ferne von solchen schrecklichen Vorfällen hört und angesichts des überall auf der Welt geschehenden Unrechts den überwältigenden Drang verspürt, dieses Unrecht an den Verantwortlichen zu rächen und es so mit der Wurzel auszurotten. In diesem Sinn ist Serjeant Musgrave a story that is partly one of wish-fulfilment. I think that many of us must at some time have felt the overpowering urge to match some particularly outrageous piece of violence with an even greater and more outrageous retaliation. 9

Ardens Konzeption geht aber noch einen Schritt über diesen naturwüchsigen Vergeltungsimpuls hinaus. Indem er Musgrave die Ursachen solcher situationsferner, d.h. im eigenen Lebenshorizont >abstrakt< bleibender Gewalt (vgl. die Zeitungsberichte, auf die Arden sich stützt) nach England zurückverfolgen und den Menschen die Folgen ihres gesellschaftlichen Handelns unmittelbar vor Augen führen und sie dafür zur Rechenschaft ziehen läßt, ist der Problemgrundriß des Dramas als Versuch beschreibbar, die Abstraktheit eines verselbständigten Unrechtsgeschehens durch persönliches Eingreifen zu durchbrechen und in einem Akt moralischer Wiedergutmachung aufzuheben. Es ist der Versuch, die Ethik im >Fernhorizont< der modernen Welt auf die Ethik im >Nahhorizont< der eigenen Lebenswelt zu beziehen,10 die transindividuelle, ja weltumspannende Dimension des Problems in den Handlungskreis und in die Verantwortlichkeit des einzelnen Individuums zurückzuholen und es so lösbar zu machen. Doch das anthropologisch zweifellos tief verwurzelte Bedürfnis nach moralischer Verantwortung und nach persönlichem Eingreifen in die Welt wird, in der Rückprojektion der geopolitischen Dimension auf die Dimension der konkreten Lebenswelt, zu einem Wahn, der die moralische Absicht in ihr Gegenteil verkehrt: im spezifischen Lösungsansatz des Problems, dem sich Musgrave verschreibt, ist also gleichzeitig bereits sein Scheitern vorgezeichnet. Warum aber wählt Arden für sein Drama die historische Einkleidung des späten 19. Jahrhunderts, wenn es ihm doch, wie er selbst erklärt — und wie auch der Untertitel, "An Un-Historical Parable," anzeigt —, nicht um ein historisches Thema, sondern 8

' 10

Zit. aus Diller, op. cit., p. 291. Arden, "Introduction," p. 13. Zu diesen Begriffen vgl. Walter Schulz, Philosophie

in der veränderten

Welt, pp. 781 ff.

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um die dramatische Erhellung der zeitgenössischen Wirklichkeit geht? Ich meine, dies hängt mit den Möglichkeiten einer besseren Veranschaulichung des darzustellenden Problems zusammen, die der historisch verfremdende Rückgang für den Autor bringt. Musgraves Verhalten, das angesichts der unüberschaubar gewordenen Verflechtungen der heutigen Welt kaum nachvollziehbar wäre, wird dadurch in einen Kontext gestellt, in dem die moderne Dimension des Problems zwar bereits erkennbar, aber noch nicht voll ausgeprägt ist und die Verhältnisse zumindest nach außen hin noch konkret genug sind, um Musgraves Vorgehen eine gewisse Plausibilität zu verleihen.

4.2. Musgraves Revolte als Versuch der moralischen Konkretisierung eines abstrakten Handlungsproblems Betrachtet man nun Musgraves Handeln in Ardens Drama genauer, so ist zunächst zwischen dem Ziel dieses Handelns und seiner Durchführung zu unterscheiden, also den Mitteln, mit denen er dieses Ziel zu erreichen sucht. Was das Ziel anbelangt, so wird es relativ früh im Stück deutlich — es geht um die Beendigung von Krieg und Gewalt, so wie Musgrave sie zusammen mit seinen drei Kameraden im Kolonialkrieg am eigenen Leib erfahren hat, darum, "to make a whole town, a whole nation understand the cruelty and greed of armies, what it means, and how to punish it." (37) Aus diesem Grund ist er mit seiner Gruppe von der britischen Kolonialarmee desertiert und hat sich in einer von Arbeitskampf und Streik geschüttelten englischen Bergarbeiterstadt einquartiert. Ist indessen die grundsätzliche Zielrichtung Musgraves einigermaßen klar, so bleibt die Art und Weise, in der er seine Absicht verwirklichen will, lange Zeit im Dunkeln, ja sie wird erst gegen Ende des Stücks in der großen Marktplatzszene enthüllt, dem ungewöhnlich lang hinausgezogenen Höhepunkt des Dramas, der als solcher fast den gesamten 3. Akt in Anspruch nimmt. Hier erst wird der Plan, dem Musgrave durch die Irrungen und Wirrungen des Geschehens mit rigoroser Konsequenz folgte, deutlich. Dieser Plan besteht aus zwei Elementen: einmal einer öffentlichen Demonstration, in der den Bürgern die Folgen des fernen Kolonialkrieges drastisch vorgeführt werden, z u m andern der Absicht, die politisch Verantwortlichen für dieses Unrecht zu identifizieren und es durch ihre Bestrafung zu sühnen: "We're each one guilty of particular blood. We've come to this town to work that guilt back to where it began." (40) Die Absicht der >Konkretisierung< des Problems wird durch dessen räumliche Eingrenzung auf eine — offenbar kleinere — Stadt unterstrichen, die noch dazu durch einen zugefrorenen Fluß — es herrscht winterliche Kälte — vollständig von der Umwelt abgeschnitten ist. Es wird so eine überschaubare Welt wiederhergestellt, es werden also die Bedingungen eines Zustands simuliert, in welchem das H a n deln des einzelnen von potentieller Bedeutung für die Sozietät als ganze ist. U m den Kern von Musgraves Handlungsintention zu verdeutlichen, sei zunächst die zentrale Marktplatzszene genauer betrachtet. Dabei ist vorauszuschicken, daß die Aktion offiziell unter einer ganz anderen, Musgraves Absichten gerade entgegengesetzten Prämisse stattfindet, nämlich aus dem Bemühen der Stadtoberen heraus, Frei138

willige für die Armee zu werben und, durch die Verlockung hoher Geldprämien, die Anführer der streikenden Bergarbeiter aus der Stadt zu entfernen. Für diesen Zweck werden aller Pomp und alle Rhetorik politisch-militärischer Repräsentation aufgeboten — Fahnen und Trompeten, Paradeuniformen und Amtskleider, sowie ein Podium, von dem aus Bürgermeister und Pfarrer als Vertreter des städtischen Establishments Ansprachen halten, mit denen sie an die vaterländische Gesinnung ihres Publikums appellieren und die Kriegsbegeisterung der jungen Männer der Stadt zu entfachen suchen. (82—83) Das Bild des Krieges und der Armee, das dabei entworfen wird, ist durch klischeehafte Abstraktionen gekennzeichnet — "greatness of responsibilities," "all united under one brave flag," "The Empire calls! Greatness is at hand!" (85) Als schließlich Musgrave das Wort ergreift, nimmt er, zunächst fast unmerklich, die Veranstaltung in die Hand und gibt ihr eine andere Richtung. Er beginnt, scheinbar noch im Konsens mit seinen Vorrednern, deren martialische Euphemismen dadurch zu unterminieren, daß er wie nebenbei von den Schikanen des Armee-Alltags berichtet: O' course you'll find there's an RSM here or a Provost-sarnt there what makes you cut the grass wi' nail-scissors or dust the parade-ground with a tooth-brush. (87)

Sodann kommt er auf das eigentliche work der Soldaten zu sprechen, wozu er aus einer der mysteriösen Kisten, die er und seine Kameraden mitgebracht haben, ein Gewehr holt, dessen Funktionsweise er seinen Zuhörern erklärt: This here's the magazine. And this — (he indicates the trigger) — you should know what this is, you should know what it does . . . (87)

Aus der nächsten Kiste produziert er anschließend, als fortgeschrittene Variante des Gewehrs, ein MG, das er in ähnlicher Weise erklärt und von Attercliffe, einem seiner Soldaten, auf dem Podium in Stellung bringen läßt: (his urgency increasing all the time). The point being that here we've got a gun that doesn't shoot like: Bang, rattle-click-up-the-spout-what're-we-waiting-for, bang! But: Bang-bangbang-bang-bang-bang-bang-bang-i>ang — and there's not a man alive in the whole of this market-place. Modern times. Progress. Three hundred and fifty rounds in one minute — flat! (88)

Als Attercliffe das geladene MG mit einem plötzlichen Schwenk auf die Versammlung richtet, nimmt die Vorführung einen bedrohlichen Charakter an. Dabei ist von besonderer Bedeutung, daß die versammelten Bürger während der Aktion nicht auf der Bühne zu sehen sind, sondern gleichsam vom Theaterpublikum verkörpert werden, womit diesem das unbehagliche Gefühl vermittelt wird, daß die gefährliche Demonstration Musgraves unmittelbar auf es selbst bezogen ist: "Attercliffe swivels the gun to face out into the audience." (88) Der Kontrast zwischen der politischen Kriegsideologie und der Realität des Krieges wird schockartig zugespitzt, als Musgrave den Inhalt der dritten Kiste enthüllt: Statt der Flagge, die er ankündigt — dem abstrakten Symbol nationalistischer Kriegsverherrlichung — wird an der Fahnenstange das Skelett eines Soldaten hochgezogen. 139

MUSGRAVE. . . . for eighteen years I fought for one flag only, salute it in the morning, can you haul it down at dark? The Last Post of a living life? Look — I'll show it to you all. And I'll dance for you beneath it — hoist up the flag, boy — up, up, up! ... HURST beats frantically on his drum. The rope is attached to the contents of the box, and these are jerked up to the crossbar and reveal themselves as an articulated skeleton dressed in a soldier's tunic and trousers, the rope noosed round the neck. The PEOPLE draw back in horror. MusGRAVE begins to dance, waving his rifle, his face contorted with demoniac fury. (90)

Dies nun ist der Tanz des Serjeanten Musgrave, der dem Stück den Titel gibt und daher von zentraler Bedeutung für dessen Aussage ist. Er stellt sich von hier aus dar als ein gegen jene "ideological abstractions"11 gerichtetes, konkret-persönliches In-Szene-Setzen der Wirklichkeit des Krieges, die auf makabre Weise sinnlich anschaulich gemacht und durch expressive Mittel erlebnismäßig vergegenwärtigt wird. Zu seinem wilden Tanz singt Musgrave ein Lied, das noch einmal die bewußtlosschuldverstrickte Situation der Stadtbevölkerung — und des Publikums — hervorhebt: "Up he goes and no one knows/ How to bring him downwards" — wobei hier Flagge und Soldatenskelett ironisch-metonymisch miteinander verschmolzen sind. Abrupt bricht der Tanz ab, Musgrave geht zur diskursiven Ebene über, er erklärt der Versammlung die Vorgeschichte und die Absicht seines Auftritts. Er berichtet von einem Vorfall in den Kolonien, bei dem ein britischer Soldat nach einem Besuch im Opernhaus von Partisanen erschossen wurde. Bei der anschließenden Vergeltungsaktion der Briten, an der auch Musgrave und seine Kameraden beteiligt waren, wurden ein ganzes Stadtviertel abgeriegelt, eine große Anzahl unschuldiger Zivilisten verletzt und fünf von ihnen getötet, darunter ein junges Mädchen. Musgrave treibt nun die >Konkretisierung< der abstrakten Kriegsrealität noch einen Schritt weiter, indem er das Skelett des am Fahnenmast aufgezogenen Soldaten als das von Billy Hicks identifiziert, der aus eben dieser Stadt stammt und der das Opfer jenes Partisanen-Hinterhalts gewesen war. Damit werden die scheinbar entlegenen Ereignisse in den Kolonien nun endgültig auf den eigenen Lebenshorizont, den persönlichen Bekanntenund Freundeskreis der Bürger, d.h. auf ihre/»ce-£o-/kce-Beziehungen zurückgeholt, was die beabsichtigte Schockwirkung nicht verfehlt: "BARGEE. 'You've knocked 'em to the root, boy. Oh the white faces!'" (95) Und nun, als die Betroffenheit der Bürger ihren Höhepunkt erreicht hat, geht Musgrave daran, ihnen das Problem zu erklären, das er mit seiner Aktion zu lösen versucht: Es geht um die Verselbständigung und ungesteuerte Eskalation von Gewalt, die er in dem berichteten Vorfall in den Kolonien in typischer Weise am Werke sieht und der er ein für alle Mal Einhalt gebieten will. . . . the people in that city was worked right up to killing soldiers, then more and more soldiers should be sent for them to kill, and the soldiers in turn should kill the people in that city, more and more, always ... and it'll go on, there or elsewhere, and it can't be stopped neither, except there's someone finds out Logic and brings the wheel round. (96) Nach Ardens eigenem Bekunden ist die "fear of ideological abstractions" eines der Hauptmotive seines politisch-literarischen Engagements (vgl. Jan Watson, "Kirbymooreside '63 with a Footnote by John Arden," Encore, N o v . - D e c . , 1963, 20).

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Musgrave setzt also hier der zirkulären Eigengesetzlichkeit eines verselbständigten Gewaltgeschehens die Teleologie persönlichen Handelns entgegen, eben jene "Logic," die er erkannt zu haben meint, und auf deren Grundlage er mit paranoid anmutender Klarheit die >Lösung< des Problems formuliert: In der Racheaktion der Briten wurden für einen Soldaten fünf Zivilisten getötet, was nur durch die Übertragung desselben Verhältnisses von 1:5 auf die dafür Verantwortlichen wiedergutgemacht werden kann. Dies bedeutet, so folgert Musgrave, daß 25 führende Vertreter des städtischen Establishments — das Billy Hicks und andere junge Männer in die Kolonien schickte — zur Vergeltung sterben müssen. Damit wäre in geradezu mathematischem Sinn Gerechtigkeit geübt und der circulus vitiosus der Gewalt gebrochen. In seinem Unterfangen appelliert er an die Solidarität der Arbeiter gegen das Establishment: N o w then, who's with me! Twenty-five to die and the Logic is worked out. Who'll help me? You? (He points to WALSH.) . . . Join along with my madness, friend. I brought it back to England but I've brought the cure too - to turn it on them that sent it out of this country — way-out-ay they sent it, where they hoped that only soldiers could catch it and rave! (98)

Die streikenden Arbeiter sind, trotz der eingestandenen madness Musgraves, und trotz der Skepsis ihres Anführers Walsh, teilweise durchaus von dem Gedanken beeindruckt, insbesondere als Hurst den Bezug zu ihrer eigenen Lage herstellt: "The ones we want to deal with aren't, for a change, you and your mates, but a bit higher up. The ones as never get hurt." (100) Und erst das Eingreifen des Schankmädchens Annie, der einstigen Geliebten Billy Hicks', die von ihm ein totes Kind gebar, läßt die Stimmung zuungunsten von Musgrave umschlagen, indem sie die Menge über den Tod Sparkys in Kenntnis setzt, eines der Mitdeserteure von Musgrave, der bei den Vorbereitungen zu der Aktion ums Leben gekommen war. Diese Nachricht ist es, die Musgraves Vorhaben bereits vereitelt, ehe noch die Ankunft der herbeigerufenen Truppen auch nach außen hin das Scheitern seines Plans besiegelt. Der Zusammenbruch von Musgraves Aktion liegt also, wie sich hier andeutet, nicht bloß in äußeren Zufälligkeiten oder gesellschaftlichen Widerständen begründet, sondern ebensosehr in seinem Handlungskonzept selbst. Aus diesem ist nämlich trotz seines moralischen Anspruchs eben jene konkret-menschliche Wirklichkeit ausgegrenzt, um die es dabei vorgeblich geht. Es nimmt mithin undurchschaut selber >abstrakte< Züge an, womit es seine eigene ursprüngliche Zielsetzung zunichte macht.

4.3. Die undurchschaute Abstraktheit von Musgraves Handlungskonzept Daß die von Musgrave bekämpfte Welt der abstrakten Gesellschaft dergestalt als vis a tergo in seinem eigenen Handeln wirksam ist, wird zunächst in der Motivik von »Buch« und »Wort« signalisiert, deren Funktion Hans-Jürgen Diller so beschreibt: Das »Buch« ist jene überpersönliche Autorität, deren Regeln für Musgrave notwendige Lebensgrundlage sind. Solange das Töten, das für ihn als Soldat zum Handwerk gehörte, durch

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die Vorschriften des Buchs gedeckt war, bestand für ihn kein Anlaß zum Zweifel. Doch "the Queen's book, which eighteen years I've lived, it's turned inside out for me." (96) Man könnte Musgraves ganzes Unternehmen als ein Bemühen charakterisieren, ein neues Buch zu finden, das Buch der Königin durch das Buch Jahwes zu ersetzen.12

Während die anderen Charaktere in ihre Begierden und Interessen verstrickt sind, ist Musgrave ins Studium der Bibel vertieft, des Alten Testaments, aus dem er die >Logik< seiner moralischen Vergeltungsaktion entnimmt.13 Die religiöse Begründung, die Musgrave dadurch seinem Handeln zu geben versucht, wirkt indessen seltsam leer, da sie im Zitathaften, Formelhaften steckenbleibt und in keiner Weise inhaltlich näher bestimmt wird, vielmehr zur Überhöhung der von Musgrave beanspruchten persönlichen Mission dient.14 Das Buchmotiv taucht etwa auch im notebook auf, das Musgrave liest, während ringsum die Menschen trinken und feiern (Akt 2, 44—45), oder in der Alptraumszene, in der er sich an die koloniale Racheaktion erinnert: MUSGRAVE (sitting up and talking very clearly as if it made sense). Burning. Burning. One minute from now, and you carry out your orders - get that one! Get her! Who says she's a child! We've got her in the book, she's old enough to kill! You will carry out your orders. (70)

Das abstrakte Prinzip von Musgraves Handeln hat sich also nicht wirklich geändert, auch wenn sein Inhalt ein anderer geworden ist. Dies erkennt auch Walsh, der Arbeiterführer, der seine ablehnende Haltung gegenüber Musgrave so begründet: "And it comes to this wi' me: he's still in uniform, and he's still got his Book. He is doing his duty." (98) Das Buchmotiv verweist auf Musgraves Flucht vor den Verwirrungen des menschlichen Lebens, auf seine Furcht, es könne ihm jemand »jene Klarheit rauben, die er nur in abstrakten Begriffen wie Pflicht, Gesetz und Ordnung zu finden vermag«.15 Es zeigt ferner an, daß er ins Innerste geprägt ist von dem militärischen Apparat, aus dem er ausbrechen will. Dies wird in seiner Besessenheit von Ordnung und Disziplin ebenso deutlich wie in dem autoritären Befehls-Gehorsam-Verhältnis zu seinen Untergebenen und in seinem ungebrochenen Glauben an militärische Normen und Rangabzeichen ("words and three stripes," wie Annie ihn charakterisiert [57]). Diese strukturelle Ähnlichkeit fällt vor allem in der Marktplatzszene ins Auge, die im Akt der Demaskierung des Militarismus unter der Hand zur Demonstration militärischer Stärke wird und — in dem in die Menge gerichteten MG — selbst die Züge der automatisierten Gewaltmaschinerie annimmt, die sie überwinden will. Mit Musgraves Bestehen auf einem rein logisch-gedanklichen Handlungskalkül geht eine bewußte Ausschaltung aller Emotionen und persönlichen Empfindungen einher, was ihn, seinem humanen Engagement zum Trotz, zu einer Personifikation 12 13 14

15

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Diller, op. cit., pp. 3 0 0 - 3 0 1 . Zu dieser Logik vgl. vor allem Skloot, op. cit., sowie Weise, op. cit. Zur religiösen Thematik von Musgrave vgl. Thomas P. Adler, "Religious Ritual in John Arden's Serjeant Musgrave's Dance," Modem Drama-, 16 (September, 1973), 163—66, wo u. a. die — wiederum sinnverkehrenden — Anspielungen auf die Kreuzigungsszene Christi in Musgraves Marktplatzdemonstration aufgezeigt werden. Diller, op. cit., p. 299.

menschlicher Gefühlskälte und zu einem "archetype of the repressions and rigidities involved in political fanaticism" werden läßt 16 (vgl. das instinktive Zurückschrecken Annies bei ihrer ersten Begegnung mit ihm [32]). Ja sein Vorgehen ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß er die kommunikative Dimension, die »Bedürfnisse lebendiger Menschen und blutvollen Lebens« in ihrer »unabstrahierbaren Komplexität,« 17 die in Serjeant Musgrave mit der leitmotivischen Formel life and love umschrieben sind, gänzlich aus seinem Handeln zu eliminieren sucht. Dies illustriert vor allem der gleichfalls leitmotivisch eingesetzte, dem life-andlove-Motiv kontrastierende stereotype Ausspruch Musgraves, it's not material, den er auf alle nicht in seinen Plan passenden und dessen reibungslose Durchführung störenden Manifestationen des Menschlichen anwendet: er bezieht ihn u. a. auf Hunger und Armut in der Stadt (20), auf den Tod von Billys und Annies Kind (33), auf den Tod Sparkys (75), auf das in der Kolonie getötete Mädchen: ATTERCLIFFE. HOW was I to tell she was only a little kid? MUSGRAVE (bringing it to an end). T H A T ' S N O T M A T E R I A L ! You were told to bring 'em in. If you killed her, you killed her! She was just one, and who cares a damn for that! (93) Indem Musgrave auf diese Weise in seinem Vorgehen die Entwertung des konkreten Menschen reproduziert, wird er bis zu einem gewissen Grad selbst zum Agens der abstrakten Gesellschaft, die er bekämpft; er bricht wie eine fremde, unpersönliche Macht in die kommunikative Lebenswelt der Menschen ein und überzieht sie mit der anthropofugalen Eigengesetzlichkeit eines über die Köpfe der Betroffenen hinweg entworfenen Handlungskalküls: "Numbers and order. According to Logic. I had worked it out for months." (107) Mrs. Hitchcock, die erstaunlich klarsichtige PubWirtin, die den auf seine Hinrichtung wartenden Musgrave im Gefängnis besucht, macht ihn auf diesen entscheidenden Fehler in seinem Denkansatz aufmerksam: MRS. HITCHCOCK. ... Listen: Last evening you told all about this anarchy and where it came from - like, scribble all over with life or love, and that makes anarchy. Right? MUSGRAVE.

G o on.

MRS. HITCHCOCK. Then use your Logic - if you can. Look at it this road: here we are, and we'd got life and love. Then you came in and you did your scribbling where nobody asked you. Aye, it's arsy-versey to what you said, but it's still an anarchy, isn't it? And it's all your work. MUSGRAVE. Don't tell me there was life or love in this town. MRS. HITCHCOCK. There was. There was hungry men, too - fighting for their food. But you brought in a different war. I brought it in to end it. MUSGRAVE. ATTERCLIFFE. To end it by its own rules: no bloody good. She's right, and you're wrong. You can't cure the pox by further whoring. Sparky died of those damned rules. And so did the other one. MUSGRAVE. That's not the truth. (He looks at them both in appeal, but they nod.) That's not the truth. God was with me ... God ... (He makes a strange animal noise of despair, a sort of sob that is choked off suddenly, before it can develop into a full howl.) (108) 16 17

Cohen, op. cit., p. 203. Weise, op. cit., p. 164. 143

Musgraves Denksystem, mit dem er sich als moralisches Individuum gegen eine Welt der verselbständigten Gewalt zu behaupten versucht, bricht hier zusammen, wobei wie bei den anderen Autoren des Neuen Englischen Dramas die drohende Regression des seiner fehlgegangenen Sinnkonstruktionen beraubten, in seiner Identität desintegrierenden Menschen auf eine vorkulturell->animalische< Ebene vor Augen geführt wird.

4.4. Die Ausgrenzung der sinnlich-emotionalen Lebensweltsphäre als subjektiver Grund von Musgraves Scheitern Aus der Einseitigkeit und Selbstwidersprüchlichkeit von Musgraves Handlungskonzept resultiert nun aber, was die Handlungsstruktur des Dramas als ganze angeht, eine Komplizierung, ja eine Verdopplung des Ausgangsproblems. Der Gegenentwurf zum abstrakten Kreislauf der Gewalt, den Musgrave intendiert, erhält in seiner eigenen Verselbständigung noch einmal einen Gegenpol im Stück, nämlich in eben jener Dimension des Konkret-Menschlichen, die er ausgrenzt. Die spezifische Art von Musgraves Vorgehen erzeugt eine gegenläufige Dynamik, durch welche Absicht und Ergebnis seines Handelns immer weiter auseinandertreten. Die beabsichtigte Lösung des Problems führt in eine immer unübersichtlichere Situation und in unentwirrbare Handlungsverstrickungen, aus denen erst ein eleus ex machina, nämlich die einrükkenden Dragoner, herausführt - womit aber zugleich das Problem als solches aufgehoben wird. Personifiziert ist der Gegenpol zu Musgrave in dem Schankmädchen Annie. Auch sie ist, wie dieser, vom Schock des Krieges gezeichnet — sie hat ihr Kind und ihren Geliebten verloren —, auch sie ist von Abscheu gegen das sinnlose Töten erfüllt. Dennoch bildet sie in Charakter und Verhalten einen scharfen Kontrast zu Musgrave. Ist dieser in der Rolle des Täters — in den Kolonien, aber auch in seinem Plan —, so ist sie in der Rolle des Opfers. Der paranoiden Klarheit seines Konzepts steht, als Folge ihres tragisch gescheiterten Lebens, ihre geistige Desorientierung gegenüber, Musgraves disziplinierter Lebensordnung die Unordnung ihrer Verhältnisse, seiner puritanischen Askese ihre liebesbedürftige Promiskuität. In ihrer Verlorenheit und Erniedrigung trägt Annie dabei Züge, die ihr, den Frauenfiguren bei Brecht nicht unähnlich, eine menschlich überlegene Statur verleihen, so wenn sie in poetischer Schönheit ihre Trauer auszudrücken vermag: M y true love is a scarecrow O f rotted rag and bone Ask him: where are the birds, Bill? Where have they all gone? (101)

Musgraves kommunikationsferner Selbstisolation kontrastiert ihre zwischenmenschliche Sensibilität, seiner Blindheit gegenüber seiner Umwelt ihr tieferes Verstehen der eigenen Situation als der Situation aller: "Like, stand in a crowd but every one alone," 144

sagt sie zu Hurst, zu dem sie in der Nacht kommt, um ihre Einsamkeit für kurze Zeit zu überwinden. (64) 18 Im Fortgang dieser Szene, die zu einem Schlüsselereignis im Stück wird, tritt Annies Rolle als fast allegorische Personifikation der sinnlich-emotionalen Lebensweltsphäre, eben des life and love, klar zutage, ebenso wie deren Inkompatibilität mit Musgraves Handlungsprinzip. Das Motiv des life and love im Drama ist, wie Helena Forsäs-Scott gezeigt hat,19 mit den traditionellen Elementen des Mummers' Play verbunden, insbesondere mit der dazugehörigen >WerbezeremonieWerbezeremonie< darstellt, deutlich. Zunächst wirbt Annie um Hurst, der von den drei Mitdeserteuren Musgraves dem traditionellen Ideal aggressiver Männlichkeit am nächsten kommt. Doch Hurst, der sich Musgraves Autorität blind verpflichtet hat, stößt Annie — gegen seinen spontanen inneren Antrieb (vgl. sein anfängliches Eingehen auf sie [64f.]) — zurück: ANNIE. Christ, let me stay with you. He called me life and love, boy, just you think on that a little. HURST (pushes her away with a cry. She falls against ATTERCLIFFE.) (66)

Als sie anschließend auch von Attercliffe, dem schon älteren, zum desillusionierten Pazifisten gewordenen Soldaten zurückgewiesen wird, wird sie in ihrer Verzweiflung von Sparky, dem dritten und geistig anspruchslosesten der Deserteure getröstet, der in Analogie zum typischen Figurenrepertoire des Mummers' Play die Rolle des fool in Ardens Drama einnimmt.21 Aus dieser Begegnung der beiden schwächsten Charaktere im Stück aber entwikkelt sich eine Szene konkreter zwischenmenschlicher Interaktion, die die beiden kurzzeitig über ihre Ohnmacht und Isolation hinausführt. Im Gespräch mit Annie stellt Sparky zum ersten Mal Musgraves allgegenwärtige, Uber-Ich-artig das Geschehen überwachende Autorität infrage, und er gibt, " with a sort of nervous self-realization" (68), erstmals seine Angst vor dem Unternehmen zu, in das er verstrickt ist, ohne es zu durchschauen (68ff., 72). Umgekehrt erzählt Annie ihm ihr persönliches Lebensschicksal, das für Musgrave "not material" war (33), für Sparky hingegen von höchstem Interesse ist. Im Erlebnis der gegenseitigen Öffnung und des wachsenden Verständnisses mit Annie steigert Sparky sich in offene Kritik an Musgrave hinein, die 18

19 20 21

Die besondere Fähigkeit der Frauenfiguren bei Arden zu Einsicht und menschlichem Verständnis sieht auch Cohen, "The Politics of the Earlier Arden," 205. Forsas-Scott, op. cit. Op. cit., 2, 6. Op. cit., 5.

145

in eine explizite Gegenposition zu dessen moralischen Abstraktionen mündet und deren Grundlage gerade die von Musgrave entwertete Sphäre des life and love bildet. SPARKY (following wouldn't

his thought

in great

disturbance

of mind.)

It (I.e., "life and love")

be anarchy, you know; he can't be right there! All it would be, is: you live and /

live — we don't need his duty, we don't need his word — a dead man's a dead man! We could call it all paid for! Your life and my life -

make o u r own road, we don't follow nobody.

(69-70)

Die Mühe und drohende Verwirrung, die Sparky der Schritt von der Fremdbestimmtheit zum eigenen, selbstbestimmten Denken bereitet, sind ihm hier deutlich anzumerken. Doch obwohl Annie den Inhalt seiner wenig kohärenten Äußerungen nicht genau versteht, begreift sie doch deren tieferen Sinn. Sie geht schließlich auf den Vorschlag zur gemeinsamen Flucht ein, in dem dieser Akt der kommunikativen Selbstfindung Sparkys gipfelt. (72 — 73) Es bahnt sich hier also eine Wiederholung der gleichen Handlung an, die Musgrave zuvor beging, eine zweite Desertion Sparkys aus dem nun selbst zum inhumanen Mechanismus verselbständigten Handlungssystem Musgraves. Doch genau an diesem Punkt, an dem im Drama die konkrete Utopie möglicher Liebe und Freiheit aufscheint, zeigt sich, daß sie unter den gegebenen Voraussetzungen nicht realisierbar ist. Der Musgrave ergebene Hurst belauscht die beiden bei ihrem Vorhaben und interveniert, indem er im Halbdunkel Sparkys Hose entfernt; im nachfolgenden Handgemenge, in das auch Annie und der durch den Lärm geweckte Attercliffe verwickelt werden, wird Sparky getötet: ANNIE mixes in, seizing HURST'S wrist and biting it. The bayonet drops to the floor. ATTERCLIFFE snatches it and HURST jumps upon him. Together they fall against SPARKY and all three crash to the floor. SPARKY gives a terrifying, MUSGRAVE leaps up in the bedroom.

Those on the forestage

choking cry. all draw back, appalled,

from

SPARKY'S dead body. (74)

Was an dieser Szene besonders auffällt ist, daß Sparky nicht unmittelbar durch den intentionalen Akt einer Person getötet wird, sondern gleichsam durch einen Unfall, der freilich aus der Absicht Hursts resultiert, Sparkys Flucht zu verhindern. Der Eindruck ist nicht der einer zielstrebigen Handlung, sondern einer blinden Kette von Aktion und Reaktion, eines unentwirrbaren >Handlungsknäuelsüber den Köpfen< der Soldaten, und nicht zufällig wird der konfuse Ausbruchsversuch von Sparky und Annie mit mechanisierten Satzfragmenten aus Musgraves Alpträumen überblendet. (69—70)22 22

146

Diesen Zusammenhang sieht auch Cohen, op.cit., 203.

In solchen Szenen wird, ähnlich wie wir es bei Wesker gesehen haben, auch bei Arden eine Affinität zum absurden Theater sichtbar, in dessen Gestaltungsformen der sozialkritische Ansatz des Autors an dieser wie an anderen Stellen umschlägt. 2 3 Diese Effekte resultieren jedoch, wie bei den anderen englischen Dramatikern, nicht aus einer vorgängigen Philosophie, sondern werden von den Sinnverkehrungen einer aus den Fugen geratenen sozialen Wirklichkeit selbst hervorgerufen. Wird so der konkret-kommunikative Gegenpol, der sich in der Figur Annies und in ihrem Verhältnis zu Sparky zu Musgraves Handlungskonzept ausbildet, zwar in seiner Realisierung gehindert, so bleibt er jedoch, wie schon gesagt, als unterschwellige Gegenkraft wirksam, ja er bildet einen wesentlichen Grund von Musgraves Scheitern. Der Tod Sparkys wird zum entscheidenden Wendepunkt, der die Distanzierung Attercliffes von dem Unternehmen nach sich zieht (79) und der in der Marktplatzszene zum zentralen Argument wird, mit dem Annie die Unterstützung der Arbeiter für Musgrave verhindert. Die innere Widersprüchlichkeit von Musgraves Handeln spielt sich so im Prozeß des Dramas mit zunehmender Macht aus. Der subjektiven Klarheit und Eindeutigkeit seiner moralischen Aktion steht eine objektive Eskalation des Chaos und der moralischen Verwirrung gegenüber.

4.5. Die Realität der abstrakten Gesellschaft als objektiver Grund von Musgraves Scheitern Musgraves Handeln scheitert aber nicht nur in Hinsicht auf die kommunikative Lebenswelt, sondern auch in umgekehrter Richtung, in Hinsicht auf die Realität der abstrakten Gesellschaft, gegen die es intendiert ist. Der Versuch, das System selbst mit den Mitteln direkter Aktion zu treffen, erweist sich als im Ansatz verfehlt und illusionär. Musgrave, der mit seiner kleinen Gruppe gegen den Mechanismus einer Gesellschaft als ganzer kämpft, erscheint von hier aus als paranoides Individuum, das die Handlungsmächtigkeit des einzelnen in der modernen Welt pathologisch überschätzt und zugleich die indirekt sein eigenes Handeln mitbestimmende Rolle dieser Welt verkennt. D a s konkrete Handlungsmuster, mit dem Musgrave seinen Gegner >stellen< will, greift nicht, die Verkleinerung des Maßstabs auf den persönlichen Handlungsbereich erlaubt zwar eine gleichsam ästhetische Demonstration des Problems (vgl. das Element des >TanzesLogik< von Musgraves Revolte geführt hat. (103) Musgrave wird an seinen anonymen Platz im abstrakten Militärsystem zurückgeholt, aus dem er in seiner Rebellion vergeblich ausbrechen wollte: OFFICER ( s e e i n g MUSGRAVE). 2 2 1 2 8 4 8 0 M u s g r a v e , J . MUSGRAVE. M y n a m e .

OFFICER.

We heard word you'd come here. You are under arrest. (104)

Bezeichnend ist hier, daß Musgraves Festnahme unter der tatkräftigen Mithilfe des Bargee geschieht, des im Stück allgegenwärtigen Opportunisten, der das Gewehr, mit dem er vorher gemeinsam mit Musgrave das Volk bedrohte, ihm nun in den Rücken hält. (103) Der Bargee ist der prinzipienlose, allein seinen eigenen Interessen folgende Durchschnittsmensch, der in seiner chamäleonhaften Anpassungsfähigkeit einen krassen Gegensatz zu Musgraves moralischem Rigorismus darstellt.24 Er ist nicht nur Vermittler zwischen dem >Publikum< auf der Bühne und dem Publikum im Theater (vgl. v. a. Akt 3, Sz. 1), sondern auch zwischen der Außenwelt und der Binnenwelt der Stadt: er ist der Fährmann, der Musgraves Gruppe über den Fluß in die Stadt gebracht hat, und er stellt mit seinen Manipulationen immer wieder Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Handlungssträngen her, wodurch diese wechselseitig unterminiert werden. Er unterläuft die Intentionen der handelnden Parteien, indem er sie scheinbar unterstützt — etwa wenn er die streikenden Bergarbeiter zu Musgraves Waffenlager führt und so deren politischen Kampf mitzutragen vorgibt, nur um anschließend Musgrave über den bereits in Gang befindlichen Waffendiebstahl zu unterrichten. Er personifiziert eine hinter dem Rücken der Menschen wirkende Kraft, die ihrem Handeln den Wind aus den Segeln nimmt, dessen Ziele und Sinnanspruch dementiert — und die ja auch Musgrave >hinterrücks< überwältigt. Der Bargee ist es auch, der im Einverständnis mit dem neu in seiner Macht gefestigten Establishment die Masse des Stadtvolkes am Ende aus der moralischen Herausforderung Musgraves in die dumpfe Bewußtlosigkeit einer neuen Pseudoharmonie führt: Free beer. It's still here. No more thinking. Easy drinking. End of a bad bad dream. Gush forth the foaming stream. (106) 24

148

Vgl. Weise, op.cit., der dem Bargee »schleimige, materialistische, menschenverachtende Selbstsucht« (p. 167) bescheinigt. Vgl. ferner Grant Ε. McMillan, "The Bargee in Serjeant Musgrave's Dance,« Educational Theatre Journal, 25 (December, 1973), 5 0 0 - 5 0 3 .

Der Tanz des Volkes um das Bierfaß, der nun folgt — ein ironischer Kontrast zum Tanz des Serjeanten — ist eine Flucht in den kollektiven Rausch, ein Vergessen des neuartigen Konflikts, in den Musgrave die Bürger der Stadt gestürzt hatte.25 Trotz Musgraves faktischem Scheitern aber stellt sich das moralische Handlungsproblem, das er in einer ganz grundsätzlichen Weise aufwirft, am Schluß in der gleichen Schärfe wie zuvor: "We're back where we were. So what do we do?" (105), fragt Walsh in sichtlich betroffener Ratlosigkeit. Die starre Teleologie von Musgraves Lösungsversuch ist zwar verfehlt, doch die dumpfe Zirkelstruktur des Geschehens, die bewußtlose Rückkehr zum Status quo erscheint angesichts der aufgeworfenen Fragen ebenfalls als höchst unbefriedigende Pseudo-Lösung. Was bleibt ist die Hoffnung, daß Musgraves bizarres Unternehmen als Appell weiterwirkt, der den Sinn für die moralische Qualität menschlichen Handelns in einer Welt schärft, in der diese Qualität zunehmend unter den amoralischen Ambivalenzen scheinbar übermächtiger Anpassungszwänge zu verschwinden droht.

4.6. Zusammenfassung Serjeant Musgrave's Dance, das die Problematik der abstrakten Gesellschaft vom spezifischen Blickwinkel individuellen Handelns aus beleuchtet, ist, wie wir gesehen haben, eine hochgradig ambivalente Parabel über den Versuch eines einzelnen, durch persönliches Eingreifen den fatalen Mechanismus eines verselbständigten Unrechtsgeschehens zu durchbrechen. Es liegt ihm mithin von vornherein nicht das zwischenmenschliche Konfliktmodell des traditionellen Dramas zugrunde, sondern das Konfliktmodell konkreter Mensch vs. abstrakte Gesellschaft, das wir auch in den anderen Stücken gesehen haben und das auch hier, in der Dimension individuell-moralischen Handelns, seine innere Widersprüchlichkeit und seine gegenläufige, selbstaufhebende Struktur offenbart. Das konkrete Handlungsmustter, durch das Musgrave seinen Gegner zu bannen versucht, greift letztlich ins Leere, es führt zwar — ähnlich wie Peters Revolte gegen die Küche in Weskers Drama — zu einer symbolischen Demonstration des Problems, nicht aber zu dessen realitätsfähiger Lösung. Die Doppeldeutigkeit von Musgraves Handeln ergibt sich aus der Spannung einerseits zwischen dem psychologischen Bedürfnis, ja dem moralischen Imperativ, die ein solches individuelles Eingreifen geboten erscheinen lassen, und andererseits der objektiven Aussichtslosigkeit und den wahnhaften Voraussetzungen dieses Handelns, die es realitätsblind und damit unverantwortbar erscheinen lassen. Serjeant Musgrave ist ein Lehrstück, das zeigt, wie es nicht geht, wie unter den dargestellten Bedingungen der scheinbare Weg in die Lösung zu einem Weg in die Sackgasse wird. Es ist ein Drama, das den Handlungsansatz, auf dem es aufbaut, selbst wieder zurücknimmt, das die Teleologie, die es aus dem moralischen Engagement des konkreten einzelnen gewinnt, von der Struktur der sozialen Wirklichkeit her widerrufen muß, in der dieses Engagement, diese Teleologie sich definieren. 25

Weise, op.cit., p.171, sieht dabei die »Futilität des ganzen Geschehens« im Endloslied Michael Finnegan ausgedrückt, das die >Musik< zum Tanz um das Bierfaß ist. 149

Dies zeigt sich nicht nur vom Ende des Dramas her, sondern simultan in dem sich entfaltenden Handlungsprozeß selbst. Aus der undurchschauten >Abstraktheit< von Musgraves eigenem Gegenentwurf, seiner Unvermitteltheit mit der konkret gegebenen Situation, entstehen immer neue Brüche und Ungereimtheiten im Ablauf des Stücks. Das Episodisch-Zufällige, die sprunghaften Wechsel und Wendepunkte des Geschehens in Serjeant Musgrave, die selbstaufhebenden Verhaltensmuster und die heillosen Verwirrungen in den intersubjektiven Beziehungen bilden in der Handlungskonzeption des Dramas jene Desintegration, jene Entwertung und Entwirklichung der kommunikativen Lebenswelt ab, an der Musgrave selber mitwirkt. Diese charakteristischen Inkohärenzen in der Handlungswelt des Stücks,26 die Musgraves persönlichen Kohärenzanspruch fortwährend dementieren, spiegeln strukturell die Unfähigkeit des Protagonisten, das zu erreichen, was er anstrebt: die soziale Wirklichkeit, in der er steht, durch sein subjektives Handeln zusammenzuhalten und moralisch zu bewältigen. Sie spiegeln darüber hinaus das ästhetische Problem des Dramas, eine tragfähige Grundlage in einer Kategorie zu finden — nämlich im moralischen Handeln des Individuums —, die ihr geschichtliches fundamentum in re zu verlieren droht. Die Ambivalenz der Handlungskonzeption von Serjeant Musgrave schlägt sich auch hier, wie in anderen Stücken des New English Drama, in einer spezifischen Ambivalenz des Tons nieder. Der moralische Ernst, mit dem Musgrave sein Unternehmen durchführt — und der sich durchaus auch dem Publikum vermittelt —, schlägt in seiner paranoiden Ubersteigerung um in Terror, der Terror ins Groteske und Absurde. Die wahnhaft-realitätsblinde Konsequenz seines Vorgehens läßt das Stück ständig an einem Punkt operieren, an dem die Etablierung eines Wertes und einer Stimmung zugleich mit deren unterschwelliger Negation einhergeht, an dem Ernst und Unernst, Vernunft und Wahnsinn, Moral und Unmenschlichkeit, Pathos und Ironie, Tragik und Satire nahezu ununterscheidbar ineinander übergehen. Darin wiederholt sich noch einmal auf der Ebene des Tons der Realitätsverlust menschlichen Handelns und menschlicher Selbstbestimmung, deren Inhalte sich nicht nur moralisch, sondern auch emotional einer eindeutigen Zuordnung entziehen. Das >Happy End< des Dramas ist folgerichtig zugleich die Parodie eines Happy End, die Erleichterung, die es bringt, verbindet sich unauflöslich mit der Enttäuschung über die Aufhebung des moralischen Engagements, die es impliziert. Die Vielzahl der expressiven Mittel, die Arden in Serjeant Musgrave's Dance einsetzt, die Verwendung von Songs, Lyrik und Tanz tragen wohl nicht unwesentlich zur Intensität der Atmosphäre bei. Sie machen in episierender Weise die Fiktivität, den Spielcharakter des Dramas bewußt; aber sie bewirken auch, im Sinn von Ardens Konzept eines vital theatre, eine sinnliche Vergegenwärtigung und psychologische Intensivierung des Bühnengeschehens, die über den rationalen Verfremdungsansatz Brechts hinausführen. 27 26 27

150

Auf sie weist vor allem auch Diller hin, op.cit., pp. 284,296. Ardens Theaterkonzeption ist vielmehr bewußt auch auf nicht- bzw. vorrationale Faktoren aufgebaut, auf "instinct, spontaneity, passion" (vgl. Cohen, op. cit., 204). In dieser Präferenz einer "natural humanity" gegenüber den berechnenden Machtstrategien der »realpolitik« (Cohen, 203) ähnelt Arden deutlich den anderen Autoren wie Osborne oder Bond, aber etwa auch Shaffer.

In Verbindung mit den Elementen des folk-play und des Balladesken, die eine traditionell->heroische< Handlungswelt aufrufen, 28 und im Zusammenspiel mit der historischen Einkleidung des Geschehens bewirken die expressiven Gestaltungsmittel eine Versinnlichung und Emotionalisierung der Theatererfahrung, die den im Stück vorgeführten Konkretisierungsversuch des Handelns — und dessen Scheitern — unmittelbar für den Zuschauer erlebbar machen. Ist Serjeant Musgrave's Dance in seiner Grundkonzeption als dramatische Auseinandersetzung mit dem Realitätsverlust individuellen Handelns in einer abstrakten Gesellschaft beschreibbar, anders gesagt: als Dramatisierung einer im Verschwinden begriffenen dramatischen Kategorie, so beinhaltet gleichzeitig die Art und Weise, in der Arden dies darstellt, einen Appell an den Zuschauer, der ihm die Brisanz der Problematik, die Musgrave vergeblich zu lösen versucht, nicht bloß rational bewußt macht, sondern mit aller dem Theater zur Verfügung stehenden Eindringlichkeit vor Augen führt.

4.7. Ein Blick auf andere Werke Ardens Auch bei John Arden gilt, daß die an Serjeant Musgrave aufgezeigten Strukturzüge sich in ähnlicher Weise in anderen Werken des Autors wiederfinden, was hier wiederum nur relativ kurz an einigen ausgewählten Stücken demonstriert werden kann. Ardens erstes auf einer professionellen Bühne - dem Royal Court Theatre — aufgeführtes Drama ist The Waters of Babylon (1957), das bereits viele für den Autor typische Merkmale aufweist. Es spielt, anders als Serjeant Musgrave, im London der Gegenwart. Eine Vielfalt von Charakteren treten auf, deren verschiedenartige Herkunft — es agieren Polen, Iren, Engländer, Weiße und Schwarze — die supranationale Dimension des Geschehens hervorhebt. Ähnlich vielfältig sind die aufgeworfenen und in der Handlung sich überschneidenden Themenkreise — Emigration, Terrorismus, Prostitution, Mietwucher, dubiose Geschäftspraktiken, politische Korruption u.a.m. — kurz, fast das ganze schillernde Spektrum des großstädtischen >Gesellschaftsgroße Lotteries die zur öffentlichen Propagierung der Savings-Bank-ldee gedacht ist und die konkurrierenden Handlungsstränge in einer zentralen Höhepunktszene zusammenführt, endet im Fiasko und in der Demontage aller an dem Projekt Beteiligten. Wird so in der Handlungskonzeption des Stücks die Interdependenz der verschiedenen Gesellschaftsbereiche erkennbar, so wird in der Verkehrung der individuell verfolgten Absichten der Handlungsverlust der einzelnen als Implikation dieses übergeordneten Zusammenhangs erkennbar. Die ins Hochkomplizierte gesteigerten Strategien, zu denen die einzelnen zu ihrer Selbstbehauptung gezwungen sind, schlagen um in blindes Zufallsgeschehen (vgl. das zentrale Lotterie-Motiv), das wiederum die Züge eines überpersönlichen >Schicksals< annimmt. Auch Live Like Pigs (1958) ist ein explizit gegenwartsbezogenes Stück, jedoch einfacher strukturiert als Waters of Babylon. Es zeigt den Zusammenprall zweier grundverschiedener Gesellschaftsschichten bzw. Lebensformen, nämlich einer kleinbürgerlich-gesicherten und genormten Existenz — dargestellt an der Familie der Jacksons — und einer zigeunerhaft-ungebundenen Existenz — dargestellt an der Sippe der Sawneys. Die Spannungen ergeben sich daraus, daß die Sawneys im Zug eines öffentlichen Wohnungsbauprojekts aus ihrem schäbigen Straßenbahnwagen in eine moderne Industriestadtsiedlung umgesiedelt werden und mit ihrer ungezügelten, naturhaften Vitalität die dort geltenden — scheinheiligen — Moralregeln völlig durcheinanderbringen. Ardens Sympathie ist deutlich auf Seiten der ursprünglichen, >konkret-kommunalen< Lebensform, die die Zigeuner, wenn auch zweifellos in einer recht schillernden und teilweise durchaus fragwürdigen Weise, verkörpern. Der Konflikt, der also letztlich ein Konflikt zwischen industrieller und vorindustrieller Lebensform ist, spitzt sich auch hier zu einer großen Konfrontation zu, zu einer Massenszene, in der die Sawneys von einer Menge >wildgewordeneranarchische< Typus direkten individuellen Handelns (Armstrong) — der keineswegs romantisierend gezeichnet ist — wird in seinem Untergang gezeigt; während der >diplomatische< Typus hochvermittelten, in vielfältige institutionelle Rücksichten im Sinn der "necessities of state" 33 eingebundenen Handelns (Lindsay) sich durchsetzt, aber zugleich sich von den persönlichen Absichten des Handelnden löst. Daß sich diese beiden Ebenen in der Konzeption des Stückes zentral gegenüberstehen, zeigt auch die ironisch-spannungsvolle Beziehung zwischen Titel und Untertitel des Dramas: Armstrong's Last Goodnight — An Exercise in Diplomacy. Arden verwendet auch hier die für ihn charakteristische Mischung von epischem Theater und englischer Balladentradition, von Song, Vers und Prosa, dazu die mittelalterliche Simultanbühne, auf der die Schauplätze nebeneinander gesetzt und so die räumlichen Entfernungen mühelos überbrückbar sind. Er hat für das Drama einen eigenen, wie er es nennt, »babylonischen« Dialekt entworfen, 34 der an den schottischen Tieflanddialekt erinnert und die Atmosphäre des 16. Jahrhunderts vermitteln, gleich33 34

John Arden, zit. in Hunt, op.cit., p.98. John Arden, "General Notes" zu Armstrong's Last Goodnight, Plays: One, p.239. 155

zeitig aber auch für ein modernes Publikum verständlich sein soll. Auch Armstrong's Last Goodnight zeigt somit, daß Arden mit allen sprachlichen und außersprachlichen Mitteln des Theaters experimentiert, um den Zuschauer in einer der Komplexität der Aussage entsprechenden und dennoch konkret-erlebbaren Weise anzusprechen. Es zeigt die für den Autor zentrale Spannung zwischen dem Konzept eines vital theatre und der hochreflektierten Sozialkritik, die sein dramatisches Schaffen durchzieht und die Struktur seiner Werke auf den verschiedensten Ebenen bestimmt.

156

5. Tom Stoppard, Rosencrantz and Guildenstern Are Dead: Abstrakte Gesellschaft als Problem der Textualität

Tom Stoppard gehört wie Harold Pinter zu jenen englischen Dramatikern, die immer wieder in die Nähe des absurden Theaters gerückt wurden und somit außerhalb der gesellschafts- und kulturkritischen Tendenzen des größeren Teils des New English Drama zu stehen scheinen. Das ist sicher in einem engeren Sinn, d. h. im Sinn einer materialistischen Gesellschaftsanalyse oder gar eines politischen Protesttheaters der Fall. Andererseits ist jedoch unverkennbar, daß Stoppard trotz aller scheinbaren Beliebigkeit und spielerischen Unverbindlichkeit seiner modernen comedies of ideas Themen aufwirft, die durchaus im weiteren Sinn gesellschaftliche Bezüge besitzen, wenn auch zweifellos mehr auf einer intellektuellen oder ideologischen als auf einer direkten politischen Ebene. Beispiele d a f ü r sind etwa Travesties (1974), w o es an den historischen Figuren von Joyce, Lenin u n d des Dadaisten Tzara um grundlegende Geisteshaltungen des 20. Jahrhunderts geht; oder das in Prag handelnde Fernsehspiel Professional Foul (1977), das den Konflikt zwischen individueller Freiheit und totalitärem System gestaltet; oder Night and Day (1978), wo die Rolle des westlichen Journalismus in den Wirren des postkolonialen Afrika dargestellt wird. Es scheint, daß Stoppard zwar von der Thematik der modernen Gesellschaft angezogen wird, sie aber zugleich auf eine so stark vermittelte und komisch-verfremdete Weise behandelt, daß sie in den Augen mancher Kritiker jede ernsthafte Substanz zu verlieren droht. 1 Zu einem solchen Ergebnis, das ja letztlich auch für die Beurteilung des Dramatikers Stoppard von einiger Konsequenz wäre, gelangt man freilich nur, wenn man von einem konventionellen Gesellschaftsbegriff ausgeht. Es mag zwar sein, daß die Balance zwischen Ideendrama u n d Farce, unverbindlicher Komik u n d anspruchsvollem »Theatrum logico-philosophicum« 2 nicht immer ganz überzeugend 1

2

Vgl. z.B. Philip Roberts, "Tom Stoppard: Serious Artist or Siren," Critical Quarterly, 20 (1978), 84-92. Dietrich Schwanitz, "The Method of Madness: Tom Stoppard's Theatrum Logico-Philosophicum," Essays on Contemporary British Drama, eds. Hedwig Bock and Albert Wertheim (München, 1981), pp.131—54. - Wichtige neuere Deutungen von Stoppards Werk sind Ronald Hayman, Tom Stoppard (London, 41982); Thomas R. Whitaker, Tom Stoppard (London, 1983); und vor allem Richard Corballis, Stoppard: The Mystery and the Clockwork (New York, 1984), der in seinem Deutungsansatz dem hier vertretenen in manchen Punkten recht nahekommt. Für ihn ist für Stoppards Dramen folgendes charakteristisch: "There is always a collision between two worlds: a world of 'mystery' and uncertainty, which is the real world, and a world of 'clockwork,' abstraction and artifice, which is an unreal dream world — a world, Stoppard insists, to be avoided." (p. 145) Dies deckt sich weitgehend mit der im folgenden vorgelegten Strukturanalyse; doch ist einschränkend hinzuzufügen, daß die Welt der abstraction, die Corballis richtig als Gegenstand von Stoppards Kritik identifiziert, nicht einfach »vermeidbar« ist, sondern vielmehr eine wirklichkeitsbestimmende Bedeutung in der modernen Kulturwelt besitzt, die Stoppard dramatisiert, und daher ein zwar problematischer, aber notwendiger Bestandteil des Lebens der Figuren - und der Thematik der Dramen — ist. 157

gelingt.3 Mir scheint aber, daß gerade die Schwierigkeit dieser Balance, und das Fehlen einer eindeutigen gattungsmäßigen oder inhaltlichen Klassifikationsmöglichkeit als durchaus repräsentativer Ausdruck eines gegenwartstypischen Dilemmas aufgefaßt werden kann, das in Stoppards Dramen, stärker als irgendwo sonst, auf die Spitze getrieben ist. Ich glaube jedenfalls, daß Stoppard, wie seine wichtigsten Dramatikerkollegen in England, gerade auch in dieser Hinsicht innovativ ist und eine neue Dimension von Gesellschaft — eben eine >abstrakt< gewordene Gesellschaft — auf die Bühne stellt. Wenn es zutrifft, was im folgenden an Rosencrantz and Guildenstern Are Dead (1966) demonstriert werden soll, daß es dem Autor im Gegensatz zum absurden Theater weniger um eine nihilistische Daseinsmetaphysik als vielmehr um einen spezifisch kulturellen Zustand bzw. Notstand des modernen Menschen geht, so bedeutet dies, daß er in dieser Hinsicht den anderen englischen Dramatikern seiner Generation weit ähnlicher ist als es auf den ersten Blick erscheint. 4 Denn umgekehrt sind ja auch deren Werke, wie sich bereits an Osborne, Arden und Wesker zeigte, weitaus weniger unmittelbar-gesellschaftspolitisch und vielmehr grundsätzlich-kulturkritisch inspiriert als dies zunächst der Fall zu sein scheint. Stoppard beleuchtet freilich das Problem aus einem ganz bestimmten, charakteristischen Blickwinkel, durch den er sich deutlich von den anderen Dramatikern unterscheidet, nämlich vom Aspekt der Textualität der modernen Kultur aus, genauer gesagt der unkontrollierten Verselbständigung von Textualität innerhalb dieser Kultur (vgl.o. I.2.). Betrachtet man Stoppards Werke im Überblick, so fällt diese Rolle von Texten als maßgeblichen Bezugswelten seiner Figuren sogleich ins Auge. Ist es in Rosencrantz and Guildenstern Are Dead der Hamlet-Text, der den Protagonisten ihre Denk- und Handlungsmuster vorgibt, so verfaßt in Jumpers (1972) George, der Professor für Moralphilosophie, während des Stücks einen Vortrag für ein Symposium; werden in Travesties nicht nur Originalzitate von Joyce, Lenin und Tzara aneinandermontiert, sondern das Stück wird von den Memoiren der Hauptfigur Carr strukturiert, welche sich zusätzlich noch mit Elementen aus Oscar Wildes The Importance of Being Earnest vermischen; wird Night and Day von dem zu einer eigenen Kommunikations3

4

158

Vgl. z.B. Armin Geraths' Kritik an Travesties in »Geschichte und Geschichtskritik in Tom Stoppards >Ideen-Komödie< Travesties', anglistik & englisch Unterricht 7 (1979), 89—102. — Zum Verhältnis von Komik und Tragik, Ernst und Unernst in Stoppards Werk vgl. Ruby Cohn, "Tom Stoppard: Light Drama and Dirges in Marriage," Contemporary English Drama, ed. C.W.Ε. Bigsby, pp. 109-20. Dies trifft trotz der zweifellos bestehenden ideologischen Unterschiede zu. Wenn nämlich Stoppard sich von Osbornes "social drama with a message" abgrenzt und erklärt, "I burn with no causes" (zit. bei Bernhard Reitz, »Nachwort« zu Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, Stuttgart, 1985, pp. 155—70, p. 156), so wäre dem entgegenzuhalten, daß das Problem von Osbornes Jimmy Porter ja gerade ebenfalls darin besteht, keine verbindlichen Handlungsziele mehr zu besitzen (vgl. oben II.l.) Andererseits hält Stoppard selbst ein undogmatisch verstandenes — soziales und politisches Engagement der Literatur durchaus für angebracht: "I think that art ought to involve itself in contemporary social and political history as much as anything else, but I find it deeply embarrassing when large claims are made for such an involvement . . . " (zit in C.W.E. Bigsby, Tom Stoppard, Harlow, 1976, p. 24).

welt verselbständigten Journalismus geprägt, der in seiner Wechselwirkung mit der Politik sowie in seinen Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen beleuchtet wird. D a r ü b e r hinaus sind Zitate und Umdeutungen bekannter Texte ein allgegenwärtiger Aspekt von Stoppards dramatischer Methode, der seinen Stücken einen charakteristisch zwiespältigen, Bekanntes spielerisch aufgreifenden und es doch zugleich radikal verfremdenden G r u n d z u g verleiht. N u n ist klar, daß es geradezu ein selber schon fast wieder konventionalisierter Bestandteil des modernen Theaterrepertoires ist, die Parodie, Travestie und Umarbeitung vorliegender Texte in die eigene Komposition einzubauen. D o c h es scheint, daß das Uberhandnehmen solcher Tendenzen selbst wieder als Indiz einer bestimmten historischen Situation aufgefaßt werden kann, insofern >unmittelbares< Material f ü r dramatische Gestaltung n u r schwer aufzufinden und die Wirklichkeit des heutigen Menschen eben nur in bereits interpretierter, hochgradig vermittelter Form gegeben ist. Ich glaube nun, daß der Beitrag Stoppards sich nicht auf die bloße Ü b e r n a h m e und brillante Ausgestaltung einer theatralischen M o d e und auf eine rein formal zu sehende, amüsant-unverbindliche Spielhaltung beschränkt. Die Textualität wird f ü r Stoppard nicht nur zum Mittel einer virtuosen Kombination verschiedener Präsentationsweisen des modernen Dramas, sondern wird gleichzeitig als maßgebliche, weil lebensbestimmende Bezugs Wirklichkeit des heutigen Menschen identifiziert. D e r ständigen Spielhaltung gegenüber der Welt haftet selbst etwas Zwanghaftes und U n ausweichliches an, das ihr die Signatur eines bestimmten, zeittypischen Lebensverhältnisses aufprägt. Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, das ich hier als Beispieltext heranziehe, ist wohl Stoppards bekanntestes Stück, und es weist zugleich die stärkste Affinität z u m absurden Theater im CEuvre des Autors auf. Läßt sich also an diesem D r a m a die hier behauptete Differenz im Problemansatz zeigen, so dürfte damit die Einordnung Stoppards als >absurden< Dramatikers endgültig erledigt sein, die ja schon durch die auf Rosencrantz and Guildenstern folgenden Werke stark in Zweifel gezogen werden mußte. 5 Eine solche Interpretation würde zugleich darauf hindeuten, daß in Stoppards Werk eine größere Kontinuität besteht als dies die zunächst freilich augenfälligen Unterschiede zu den späteren Dramen annehmen lassen.

5.1. Rosencrantz and Guildenstern Are Dead im Vergleich mit Becketts Waiting for Godot Einen ersten Einstieg in das Stück, auch im Sinn der Klärung seines Verhältnisses z u m Theater des Absurden, bietet ein Vergleich mit Waiting for Godot, das häufig als Vorbild f ü r Stoppards Drama genannt wird. Die Parallelen sind in der Tat auffallend und Vgl. Rüdiger Imhof, »Realität als Spiel-Material im englischen Drama der Gegenwart«, Drama und Theater im England des 20. Jahrhunderts, ed. Heinz Kosok (Düsseldorf, 1980), pp. 142-57, p. 142, der es als »geradezu töricht« empfindet, für die auf Rosencrantz and Guildenstern folgenden Stücke »an der Klassifizierung festzuhalten«.

159

sind in der Kritik gebührend herausgestellt worden. 6 Beiden Stücken ist vor allem die Grundsituation gemeinsam, die Passivität und Ziellosigkeit der beiden Hauptfiguren, sowie die »Negation etablierter Theaterkonventionen und die Aufhebung traditioneller Zuschauererwartungen.« 7 Hier wie d o r t ist die Identität der Charaktere als selbstbestimmt handelnder Subjekte aufgehoben, erweisen sie sich zu keiner durchgeführten H a n d l u n g fähig. Hier wie dort bleibt ferner die konkrete Lebenswelt, in deren H o r i z o n t sich das Geschehen abspielt, unbestimmt und unbestimmbar, während u m gekehrt ebenfalls in beiden Werken eine aus dem Lebenshorizont der Figuren heraus eigentümlich >unwirklicheabstrakten< Verselbständigung sinnzerstörende Wirkungen entfalten. H i n z u k o m m t ein zweiter, wesentlicher Unterschied, der mit dem genannten eng zusammenhängt. In Waiting for Godot fehlt gänzlich jede erkennbare H a n d l u n g im Sinn einer Entwicklung, einer wirksamen Veränderung der Situation, gar einer Teleologie. D a die mit der Chiffre Godot bezeichnete, potentiell sinnstiftende und handlungsbestimmende Instanz von der gegebenen Lebenssituation der Figuren abwesend ist u n d bleibt, kann kein zusammenhängendes Handlungsgeschehen sich bilden. N i c h t n u r sind die beiden Landstreicher durch Godots Abwesenheit zur fortdauernden Passivität bzw. z u m immer neuen A b b r u c h ihrer arbiträren Handlungsansätze verurteilt; sondern umgekehrt greift auch dieser selbst nicht in irgendeiner definitiven Weise handelnd in die Situation ein. Anders bei Stoppard. Hier stellt sich der HamletText f ü r die Figuren zwar wie Godot als überlegene Wirklichkeit dar, die sich ihrem Verstehen u n d ihrem aktiven Einfluß entzieht, sie als handelnde Subjekte entmündigt. Indessen entsteht hier dennoch eine klar erkennbare dramatische Handlungsabfolge, die durch den in Hamlet festgeschriebenen Geschehensablauf determiniert ist und die sich über die Köpfe der Protagonisten hinweg als deren undurchschautes Lebensschicksal ausspielt. Rosencrantz and Guildenstern "are trapped in a script," sagt William Babula, sie sind "victims of the story-line." 8 D e r Hamlet-Text wird so z u m über6

7 8

160

Vgl. z.B. Anthony Callen, "Stoppard's Godot," New Theatre Magazine, 10 (1969), 22-30; Ruby Cohn, Modern Shakespeare Offshoots (Princeton, 1976); Jill L. Levenson, "'Hamlet' Andante / 'Hamlet' Allegro: Tom Stoppard's Two Versions," Shakespeare Survey, 36 (Cambridge, 1983),pp.21—28. Reitz, op. cit., p. 160. "The Play-Life Metaphor in Shakespeare and Stoppard," Modern Drama, 15 (1972— 73), 279-81, 279.

persönlichen >Subjekt< der dramatischen Handlung von Stoppards Stück, welches durch die scheinbare Verwirrung und Richtungslosigkeit hindurch deren Gang bestimmt. Dadurch ergibt sich bei Stoppard, anders als bei Beckett, ein ständiger, strukturkonstitutiver Wechsel zwischen zirkulären und teleologischen Momenten, zwischen chaotischer Passivität und zwanghaft regulierter Aktivität, zwischen ziellos-reflektierender Subjektivität und fremdbestimmten Handlungsvorgängen, in die diese Subjektivität qua Zugehörigkeit zum vorgegebenen Kontext ihrer Kulturwelt eingespannt ist. Der Handlungskontext, der in Waiting for Godot fehlt, wird in Rosencrantz and Guildenstem Are Dead hineingebracht, doch erscheint er zugleich völlig unvermittelt mit den Lebensinteressen der Menschen, und diese Unvermitteltheit ist das eigentliche Problem des Stücks.

5.2. Shakespeares Hamlet als Modell verselbständigter Textualität Das gebrochene Verhältnis der beiden Hauptfiguren von Stoppards Drama zu ihrer eigenen Wirklichkeit wird strukturell objektiviert im Wechsel bzw. in der Kollision zweier Textebenen innerhalb des Stücks, nämlich des um Rosencrantz' und Guildensterns persönliche Lebensprobleme kreisenden Stoppard-Textes und des vorgegebenen Texts des Hamlet, aus dem immer wieder ganze Passagen zitiert werden, die zugleich ein festgeschriebenes, wie mechanisch angenommenes Rollenverhalten der Protagonisten auslösen. Durch die Interaktion der beiden Ebenen entsteht ein spezifischer Effekt, der modellhaft an der Dimension der Textualität die Symptome dramatisiert, die das Verhältnis des Menschen zu einer abstrakten Gesellschaft kennzeichnen. Die Rolle des Hamlet kann dabei in Analogie zu dem gesehen werden, was Walter Wimmel den kulturellen »Großtext« nennt, der seit der Antike eine immer bestimmendere Bedeutung für das Leben der Menschen gewonnen hat, wobei der heutige Zustand sich von allen früheren dadurch unterscheidet, daß der Großtext das »Merkmal des Totalen« angenommen hat. 9 Was Homer für die Antike, und was die Bibel für die christliche Kulturwelt, 10 ist Hamlet für die Welt von Rosencrantz und Guildenstem, nun aber nicht mehr im Sinn einer geistigen Wertgebungs- und Orientierungsinstanz, sondern eines seines Inhalts beraubten, aber dennoch auf eine rein formale 9

10

Die Kultur holt uns ein, pp. 21ff. Z u m Totalitätscharakter als Merkmal der jüngsten Geschichte vgl. p. 141. Wimmel, op. cit., 23f. Der Großtext ist für Wimmel das Corpus des gesamten Schrifttums einer Kultur. Dieser Großtext wird von einem maßgeblichen, zuerst fixierten Ausgangstext her in seinen wesentlichen Themen, ja in seiner »Einstellung zum Dasein schlechthin« bestimmt. So ist die antik-abendländische Kultur in ganz grundsätzlicher Weise »homerbestimmt« (wobei, von Ilias und Odyssee her kommend, »Krise u n d Krieg die eine Seite, eine klar und schlicht erfaßte Menschlichkeit die andere« dieses Großtextes bezeichnen.) Hinzu kommt später die jüdisch-biblisch-christliche Uberlieferung als neuer, den Großtext verändernder Traditionsstrang. - Analog dazu ist Rosencrantz' und Guildensterns Welt »Hamlet-bestimmu, und zwar nicht nur was ihr Verhalten anbetrifft, sondern in den Kern der eigenen Lebensinterpretation hinein, da die beiden ihr Leben nahezu ausschließlich in der Vermittlung über die in diesem maßgeblichen Text gestellten, freilich ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubten Probleme interpretieren.

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Weise maßgeblichen Denk- und Verhaltensprinzips. So wie in der modernen Kultur »das ganze Gefüge des Zusammenlebens mit seinen teils zweckhaften, teils moralischen Begründungen vom Großtext erfaßt, tausendfach fixiert, dem taedium preisgegeben und damit auf eine Weise >hinterfragbar< geworden ist, in die uns zureichende Einsicht noch fehlt,« 11 so wird auch Rosencrantz' und Guildensterns Leben in seine vielen Verzweigungen, seine Dialoge und Rollenspiele hinein vom Hamlet als Großtext ihrer Welt erfaßt, in eine Unzahl inkohärenter Fragmente zerstückelt und doch zugleich in eine bestimmte, für sie fatale Richtung gelenkt, nämlich in die Richtung ihrer Aufhebung als selbstbestimmter Individuen. Was der für sie undurchschaubare Großtext für sie bedeutet, ist das Prinzip leeren, außengeleiteten Rollenverhaltens als solches: sie haben Rollen zu spielen, die, vor unbestimmter Zeit festgelegt, wie in stillschweigendem Zwang von ihnen übernommen und, trotz ihres Sinnverlusts, wieder und wieder gespielt werden. Dietrich Schwanitz und andere haben dies mit der Theatrum-Mundi-Metapher umschrieben, die im Zentrum des Stückes stehe und die, ausgehend von der im Hamlet fixierten Roilenzuschreibung der Protagonisten, das Rollenverhalten des modernen Menschen generell beleuchte. 12 Der krisenhafte Realitätsschwund der kommunikativen Lebenswelt, der im Stück vorgeführt wird, ist jedoch nicht schon mit dem Rollenverhalten an sich gegeben und mit dem ja auch schon bei Shakespeare selbst häufigen Vergleich von Leben und Theater, sozialem Verhalten und dramatischem Rollenspiel. Vielmehr resultiert er ganz primär aus der Verselbständigung und Universalisierung jenes kulturellen Großtextes, dessen Vordringen in der Moderne in vielfacher Brechung, Verfremdung, Trivialisierung auch »das Proletariat, die Massen, die Gesamtgesellschaft ergreift« 13 und die gewachsenen Strukturen konkreter Lebenswelten auflöst. Die fortschreitende Reduktion des Menschen auf eine bloß noch sekundäre, »mediale Daseinsform,« 14 die damit einhergeht, ist in den Figuren von Rosencrantz und Guildenstern in beispielhafter Weise gestaltet. Die modellhaft vom verfremdeten Hamlet repräsentierte Dimension der Textualität umgreift dabei auch soziale und politische Handlungsbereiche, so wie auch generell kulturtheoretisch die grundlegende Bedeutung der Textualität für die Ermöglichung und das Funktionieren moderner soziopolitischer Systeme festzuhalten ist. Was der Hamlet-Text bei Rosencrantz und Guildenstern bewirkt, entspricht einerseits jener fundamentalen Desorientierung angesichts des Uberdrucks einer verselbständigten, ihrer Realitätsbasis beraubten Textkultur, die Wimmel als »komplexen Notstand« umschreibt; 15 andererseits erinnern die für die Protagonisten undurchschaubaren Handlungsvorgänge und Anpassungszwänge, die er auslöst, an eine »anonyme politische Maschinerie« im Stil totalitärer Gesellschaftssysteme. 16 Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß C. W.E. Bigsby die von Hamlet auf Ro11 12 13 14 15 16

162

Wimmel, op. cit., p. 141. Vgl. Schwanitz, op. cit.; Babula, op. cit. Wimmel, op.cit., p. 115. Wimmel, op. cit., p. 126. Wimmel, op. cit., p. 36. Dieter Mehl, "Stoppard: Rosencrantz and Guildenstern Are Dead," Das englische II, ed. D. Mehl, pp. 3 3 6 - 4 6 , p. 339.

Drama

sencrantz und Guildenstern ausgehende Bedrohung mit der Bedrohung verglichen hat, die in Pinters Birthday Party von der anonymen Organisation, die Goldberg und M c C a n n vertreten, auf Stanley Webber ausgeht. 17 Die Textualität wird so f ü r Stoppard z u m Paradigma eines abstrakten Gesellschaftszustandes, der wie bei Pinter, freilich von einem weit stärker formalisierten und intellektualisierten Ansatz aus, in seinen Implikationen für das konkrete Leben des Menschen beleuchtet wird.

5.3. Stoppards/fdwr/ei-Rezeption: Innerdramatische Dekonstruktion eines Dramas In welcher Form erscheint nun, genauer besehen, der Hamlet-Text in Stoppards Stück, und welcher Charakter wird ihm dadurch zugewiesen? D e r wichtigste Kunstgriff des Autors besteht dabei wohl darin, daß er die Prämissen von Shakespeares D r a m a radikal relativiert, indem er das Geschehen in die Perspektive zweier Nebenfiguren rückt. Dadurch findet eine fundamentale Umwertung der Werte in Shakespeares Stück statt, da das, was dort nur ein unbedeutendes Randproblem ist — das Schicksal der beiden Höflinge Rosencrantz u n d Guildenstern im Spiel der Mächtigen — hier zum Zentralproblem gemacht wird, während umgekehrt die Haupthandlung des Shakespeare-Dramas bei Stoppard zu einem merkwürdig schematisierten, seiner tragischen Substanz beraubten Hintergrundsgeschehen entleert erscheint. 18 D e r Hamlet rückt hier gewissermaßen in eine Perspektive >von untendekon17 18

19

20

Bigsby, op.cit., p. 13. Daß dabei das, was bei Shakespeare auf der Bühne passiert, hinter sie verlegt ist und umgekehrt, hat Manfred Draudt gezeigt: "Two Sides of the Same Coin, or ... The Same Side of Two Coins. An Analysis of Tom Stoppard's Rosencrantz and Guildenstern Are Dead," English Studies, 62 (1981), 348-57. Wolfgang Baumgart, »Hamlet's Excellent Good Friends. Beobachtungen zu Shakespeare und Stoppard«, Englische Dichter der Moderne, eds. R. Sühnel und D. Riesner (Berlin, 1971), pp.588-98, p.590. Günter Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, p. 141. 163

struiertx und im Rezeptionshorizont des modernen Jedermann in neuerWeise konkretisiert. Stoppards Methode ähnelt hier in gewissem Sinn einer theatralischen Variante dessen, was in neuerer Literaturtheorie unter dem Stichwort der Dekonstruktion firmiert. Denn mit dieser Richtung teilt er die Kritik an der unhinterfragten Autorität des einmal fixierten Textes und an dessen vermeintlich ontologischem Status, womit sich die Absicht verbindet, den Text stattdessen im Horizont des Rezipienten jeweils neu zu prozessualisieren und auf seine Bedeutung für die aktuell gegebene geschichtliche Situation bzw. für die Subjektivität des Interpreten zu durchleuchten. 21 Auch im einzelnen wird die //am/et-Rezeption im Stück durch die Perspektive von Rosencrantz und Guildenstern, so wie sie als Instrumente und Opfer im Ränkespiel der Mächtigen die Ereignisse wahrnehmen, geprägt. Ausgewählt werden aus Hamlet nur diejenigen Stellen bzw. Szenen, die auf ihre Rolle im Geschehen bezogen sind, 2 2 während der Rest entweder ausgeblendet bleibt oder in Form teils von übersteigernder Pantomime, teils von parodierenden Zusammenfassungen, teils von stummer Hintergrundshandlung angedeutet wird. Der Effekt ist der einer totalen Verfremdung des Shakespeare-Dramas, das seine Kohärenz einbüßt und in eine arbiträr wirkende Reihe kontextlos-verselbständigter, grotesk mechanisierter Fragmente zerfällt, deren gemeinsamer Nenner einzig darin zu bestehen scheint, daß sie im Tod sämtlicher Mitspieler endet — das Schlußtableau des Hamlet bildet denn auch den Schluß von Stoppards Stück. 2 3 Für Rosencrantz und Guildenstern erscheint das

Hamlet-Ge-

schehen als verwirrende, ihnen unzugänglich bleibende Uberrealität, als labyrinthische Eigenwelt, von der gleichwohl die entscheidenden — und selbstzerstörerischen — Roilenzuschreibungen und Handlungsdirektiven für ihr Leben ausgehen.

21

Vgl. etwa folgende Aspekte der Dekonstruktion, die sich mutatis mutandis auch auf Stoppards Stück übertragen ließen: der »semantische Gravitationskollaps des Textes«, die »rigorose Elimination einer zeichenunabhängigen Empirie«, die Auflösung aller Substantialität in »das endlose »Spiel der Welt< als »differences als Spiel sich strukturierender und destrukturierender Signifikanten, die kein transzendentales Signifikat mehr besitzen und deren einziges >Außen< die »Exteriorität der Schrift im allgemeinem wäre«. (Ulrich Horstmann, »Parakritik und Dekonstruktion. Der amerikanische Post-Strukturalismus«, Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik, 8, Heft 2, 1983, 145-58, 147f.). - Stoppard geht allerdings einen Schritt weiter als die akademische Parakritik: während diese gleichsam die Wirklichkeit in bloße Textualität auflöst, versucht Stoppard gerade die Verselbständigung der Textualität in ihren problematischen Konsequenzen zu beleuchten und so dialektisch auf einen »Wiedergewinn von Wirklichkeit« zu zielen, »jenem am schwersten zu definierenden Faktor zwischen Dasein und Kunst«. (Wimmel, op.cit., p.53).

22

Nicht einmal die allerdings sind, wie Benedict Nightingale bemerkt, zur Gänze wiedergegeben: A Reader's Guide to 50 Modern British Plays (London and Totowa, N.J., 1982), pp. 412-16. Es wird mitunter von Kritikern so argumentiert, als bliebe das Shakespeare-Drama in Stoppards Stück letztlich intakt. Zwar ist es richtig, wie Mehl feststellt, daß das ShakespeareDrama sozusagen gleichzeitig im Hintergrund abläuft, während Rosencrantz und Guildenstern im Vordergrund ihre moderne Problematik inszenieren (Mehl, op.cit., p.338). Doch ist m. E. der Verfremdungseffekt, der durch die Reduktion des Shakespeare-Stücks auf ganz kurze Passagen, deren parodistische Verzerrung, den Kontrast zur Alltagssituation von Rosencrantz und Guildenstern so stark, daß Hamlet vollständig seine tragische Substanz, ja seinen Charakter als Drama überhaupt einbüßt.

23

164

Dies beginnt bereits bei der ersten Hamlet-Szene im Stück, die Shakespeare Akt 2, Sz. 1 aufgreift, wo Ophelia Hamlets seltsames Verhalten, seine beginnende madness, beschreibt. Ihr Bericht wird von Stoppard wörtlich genommen und in eine stumme, parodistisch übersteigerte Handlungssequenz umgesetzt. Hamlet wird nicht als ernstzunehmende tragische Figur eingeführt, sondern als Psychopath, dessen Verhalten in seiner posenhaften Künstlichkeit gänzlich wirklichkeitsfern und geradezu abschreckend erscheint.24 Rosencrantz und Guildenstern sind denn auch schockiert und wollen die Flucht ergreifen. Doch übergangslos sind sie plötzlich selber mitten in das Hamlet-Geschehen versetzt, wodurch sie wie zwangsweise zu Mitspielern einer Handlung werden, deren Zusammenhang sie nicht verstehen, ja die geradezu so eingeführt ist, daß sie ihren persönlichen Lebensvorstellungen diametral widerspricht. (25) Im Spannungsverhältnis zu Sprache und Bewußtsein des Durchschnittsmenschen, den die beiden außerhalb ihrer Shakespeare-Rolle verkörpern, wirkt der nachfolgend direkt zitierte Hamlet^Text gestelzt und artifiziell: CLAUDIUS:

...

Moreover that we did much long to see you, the need we have to use you did provoke our hasty sending. (Ros and GUIL still adjusting their clothing for CLAUDIUS'S presence.) Something have you heard Of Hamlet's transformation, so call it, Sith nor the'exterior nor the inward man Resembles that it was . . . (25)

Der Beginn des Textzitats markiert den Eintritt der Protagonisten in eine künstliche Welt, die sich als realitätsmächtiger erweist als ihre eigenen Empfindungen und Handlungsimpulse. Einmal fixiert, laufen die Dialoge, Gesten, Verhaltensmuster in dieser Welt nach deren immanenten Gesetzen ab, welche zwar den beiden gegenüber indifferent sind, ihnen aber doch ihren >Handlungsauftrag< zuweisen — nämlich nichts geringeres als die Ursachen der ihnen eben vor Augen geführten madness Hamlets zu ergründen. (25ff.) 25 Die Verwirrung der beiden nach ihrer ersten direkten Begegnung mit der Hamlet-Welt ist daher total und verbindet sich mit panikartigen Fluchtgedanken: Ros: GUIL: Ros: GUIL: 24

25

I want to go home. Don't let them confuse you. I'm out of my step here We'll soon be home and high — dry and home — I'll -

Tom Stoppard, Rosencrantz and Guildenstern Are Dead (London: Faber and Faber, 1967), p.25. Nachfolgende Zitatverweise in Klammern im Text. Wovor Rosencrantz und Guildenstern also hier gestellt sind, ist das Kernproblem der Afam/it-Auslegung selbst, d. h. ein Problem, mit dem sich Generationen von Forschern beschäftigt haben. Und in der Tat besteht ein guter Teil ihrer Reaktionen auf die Auftritte Hamlets und der anderen Shakespeare-Figuren in ihrem Versuch, die Aussagen und Verhaltensweisen zu interpretieren, wobei auch typische Muster der Shakespeare-Kritik in ihre Deutungsversuche einfließen. Vgl. hierzu etwa Norman Berlin, "Rosencrantz and Guildenstern Are Dead: Theater of Criticism," Modern Drama, 16 (1973 - 74), 2 6 9 - 77.

165

Ros:

It's all over my depth -

G U I L : — I ' l l hie y o u h o m e and

Ros:

-

- out of my head —

G U I L : - d r y y o u high and —

Ros (cracking, high): - over my step over my head body! — I tell you it's all stopping to a death, it's boding to a depth, stepping to a head, it's all heading to a dead stop - (27)

Der Gegensatz könnte kaum schärfer sein zwischen dem in abstrakter Autonomie ablaufenden Hamlet-Text und der realen Konfusion der beiden Protagonisten. Die Hamlet-Szenerie ist wie ein Spuk, der sie unwiderstehlich in den Bann seiner vorgefertigten Ordnungsmuster zieht, um sie nachher in umso größerem Chaos zurückzulassen. Die Worte, die sie hier gebrauchen, dürften nicht zufällig den Horizont einer anthropozentrischen Bedürfnisebene ins Spiel bringen, deren Werte im Stück auf den Kopf gestellt sind. Das Wort home etwa, das hier mehrfach wiederkehrt, verweist ähnlich wie bei Pinter auf ein Bedürfnis nach persönlicher Herkunft und Zugehörigkeit im Sinn des Common Human Pattern, das in der dargestellten Situation keine Entsprechung mehr besitzt. Während die beiden innerhalb der künstlichen Hamlet-^fleXt ihre festgeschriebenen Rollen spielen, sind sie als konkrete Menschen gerade ohne solches Wissen um ihre Herkunft, ohne Zugehörigkeit und Identität. Ihr Bedürfnis danach wird jedoch, wenn auch noch so verfremdet und rudimentär, immer wieder im Stück artikuliert (vgl. ζ. B. p. 11, wo ebenfalls der Begriff home als verschwundene Größe angesprochen wird; oder p.28, wo Rosencrantz sich an eine Zeit erinnert, in der es statt Fragen nur Antworten gab). Es wird so zu einer durchgängig identifizierbaren Bezugsebene, die im existentiell empfundenen Spannungsverhältnis zu ihrer Umwelt steht. Dabei wird zugleich deutlich, wie weit der Verlust der einen Welt mit der Verabsolutierung der anderen zusammenhängt. Indem sich >Heimat< und >Identität< zur bloßen Rolle und sozialen Position veräußerlichen, verlieren sie ihren Sinn. Sie wirken zwar subjektiv als diffuse Bedürfnisse fort, lösen sich aber objektiv in die Unwirklichkeit inhaltsleerer Worte auf, die die Herrschaft einer verselbständigten, in alle Lebensbereiche vordringenden Textualität bezeugt. Rosencrantz und Guildenstern verfangen sich, auch außerhalb ihrer eigentlichen Hamlet-Rolle, in einem Labyrinth von Worten, die in keinem Bezug zu einer konkret greifbaren Realität mehr stehen. "Words, words. They're all we have to go on," sagt Guildenstern. (30) Ihre Grunderfahrung ähnelt darin der Erfahrung moderner Textualität generell, in der das »Sichauftürmen« einer autonomen Zeichenwelt in scharfem Zwiespalt zur »altertümlichen Natur« des Menschen und zu seinem Bedürfnis nach »Einheit und Ganzheit seiner Welterfahrung« steht.26 Der weitere Verlauf des Stückes zeigt, daß die hier sichtbar werdende Problemstruktur sich in verschiedenen Varianten wiederholt und dabei zunehmend verschärft. Die Szenen aus Hamlet, in deren Sog die Protagonisten geraten sind, folgen, insbesondere im 2. Akt, in immer kürzeren Abständen aufeinander. Sie vermitteln so den Eindruck einer überhandnehmenden Sekundärwelt, von der die beiden zunehmend eingekreist werden und in der sie sich schließlich hoffnungslos verfangen haben. Die 26

166

Wimmel, op. cit., p. 36, p. 67.

komischen Effekte der //^m/et-Dekonstruktion — wie in Rosencrantz' Kommentar zu Hamlets Redeweise: "Half of what he said meant something else, and the other half didn't mean anything at all." (40) — verbinden sich hier mit alptraumhaften Zügen. Als Rosencrantz aus dem undurchschaubaren Zwangsgeschehen ausbrechen will, versperren ihm die Tragedians, die personifizierten Repräsentanten dieser Sekundärwelt, den Weg. (55) Guildenstern faßt ihre Situation in die Worte: As soon as we make a move they'll come pouring in from every side, shouting obscure instructions, confusing us with ridiculous remarks, messing us about from here to breakfast and getting our names wrong. (62)

Im 3. Akt, in dem die beiden mit Hamlet — und den allgegenwärtigen Tragedians — auf einem Schiff nach England unterwegs sind, wird das Ausgeliefertsein der beiden an einen verselbständigten Handlungsablauf noch stärker betont. Zwar tauchen, das Ende des Stückes ausgenommen, keine direkten Zitate aus Hamlet mehr auf, doch ist das Geschehen ganz und gar von daher definiert. Das Boot gibt eine Fahrtund Schicksalsrichtung vor, auf die die Protagonisten keinen Einfluß besitzen, ja der sie sich soweit ausgeliefert haben, daß sie sehenden Auges ihrem Tod entgegengehen — sie haben die Vertauschung des Briefes durch Hamlet, die ihr Todesurteil bedeutet, bemerkt. (88) Hieran wird aber, wie schon der Titel des Dramas verrät, klar, daß der >Tod< der beiden als selbständig denkender und handelnder Menschen bereits in ihrer vorherigen Daseinsform impliziert ist. "We might as well be dead," sagt Rosencrantz. "Do you think death could possibly be a boat?" (78) Dies ist, wie ich glaube, der entscheidende Punkt an der Todesthematik, die im Stück eine so wichtige Rolle spielt. Es geht nicht um den physischen Tod, auch nicht primär um den Tod als existentielles, sondern vielmehr als kulturelles Phänomen, um einen durch spezifische Umstände und Bewußtseinseinstellungen bedingten death-in-life-7,\ist3.nd des Menschen, der auch vor seinem physischen Tod keine Verwirklichung seines Lebens zuläßt. In dem Handlungskalkül, das den Textablauf bestimmt, kommen die beiden als konkrete Individuen nicht vor, und ihr Bedürfnis nach einer verwirklichten menschlichen Existenz bleibt nur als dumpfer Anspruch bestehen, während ihre Daseinsverhältnisse nahezu total durch jene textuelle Sekundärwelt bestimmt sind, die sie in den Prämissen ihrer Unwirklichkeit gefangensetzt.

5.4. Rosencrantz und Guildenstern außerhalb der //^w/ei-Handlung Wir haben bisher hauptsächlich die Rolle der beiden Protagonisten innerhalb der Hamlet-Handlung und im Verhältnis zu ihr betrachtet. Wenden wir uns nun genauer dem anderen Pol des Stückes zu, nämlich ihrer — relativ — eigenständigen Existenz außerhalb des Shakespeare-Dramas. Was sind die wichtigsten Charakteristika dieser ihrer >freischwebenden< Existenz? Als erstes fällt auf, daß sie zu Beginn des Stückes vorherrscht, während sie in dessen Verlauf zunehmend ins Räderwerk des HamletGeschehens gerät. Der Offenheit des Stückanfangs steht die Fixiertheit des HamletTableaus am Stückende gegenüber, die auf eine fortschreitende Erstarrung der Situa167

tion hinweist. Dennoch bleibt diese eigenständige Ebene, in den subjektiven Selbstäußerungen der Protagonisten, bis zum Ende erhalten. Ferner spielt das Geschehen hier in einem raumzeitlichen Vakuum, es gibt keinen Hinweis auf eine identifizierbare geschichtliche oder geographische Realität. Und alle Versuche von Rosencrantz und Guildenstern, sich einer solchen empirischen Realitätsbasis zu vergewissern, laufen ins Leere — so der Versuch, den eigenen Standort über die Himmelsrichtungen zu bestimmen. (41) Wirklichkeit ist hier in ein Feld simultaner Möglichkeiten aufgelöst, die von empirisch unüberprüfbaren Prämissen abhängig sind, d. h. sie ist in das Reßexionsbewußtsein der Figuren aufgelöst. Auf Rosencrantz' Vorschlag, doch einfach nachzusehen, wo die Sonne steht, reagiert Guildenstern so: Ros. Why don't you go and have a look? GUIL. Pragmatism?! — is that all you have to offer? You seem to have no conception of where we stand! (41)

Diese Ablösung des Bewußtseins von empirischer Erfahrung wird an zahllosen Beispielen im Stück deutlich, etwa gegen Ende des 2. Akts an folgendem Dialog, der sich unmittelbar an ein Hamlet-TAtzt anschließt: Ros.

We'll be cold.

GUIL. I t ' s a u t u m n a l .

Ros (examining the ground)·. No leaves. GUIL. Autumnal — nothing to do with leaves. It is to do with a certain brownness at the edges of the day. . . . Brown is creeping up on us, take my word for it Russets and tangerine shades of old gold flushing the very outside edges of the senses ... deep shining achres, burnt umber and parchment of baked earth — reflecting on itself and through itself, filtering the light. At such times, perhaps, coincidentally, the leaves might fall, somewhere, by repute. (68)

Mit dem Verlust konkreter Wirklichkeitserfahrung gehen auch andere, den Menschen konstituierende Fähigkeiten und Eigenschaften verloren — Gedächtnis und Erinnerung (llff.), Gefühle und Empfindungen ("If these eyes could weep!" [46]), die Fähigkeit zur Kommunikation (vgl. die vielen Mißverständnisse, Nonsens-Dialoge, etc.) und zum Handeln ("But we don't know what's going on, or what to do with ourselves. We don't know how to act." [48]). Übriggeblieben ist ein freischwebendes Reflexionsbewußtsein, das in der empiriefernen Unverbindlichkeit seiner eigenen Prämissen lebt und das sich, mangels innerer Orientierungskraft, auf eine bloße Spielhaltung gegenüber der Welt zurückgezogen hat. Diese Spielhaltung zeigt sich gleich zu Anfang des Stücks in dem Münzenwerfen, mit dem sich Rosencrantz und Guildenstern die Zeit vertreiben und bei dem in einer ganz unwahrscheinlichen Serie immer wieder heads nach oben zu liegen kommt. Für Guildenstern stellt sich diese Durchbrechung des Wahrscheinlichkeitsgesetzes als philosophisches Problem dar, das er, freilich wiederum nur spielerisch, mit den verschiedensten logischen und wissenschaftlichen Erklärungsansätzen zu lösen versucht, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. (lOff.) Die Rollen sind hier, wie auch sonst im Stück, deutlich zwischen den beiden Protagonisten aufgeteilt. Während Guildenstern fortwährend ihre Lage zu interpretieren versucht, syllogistische Experimente anstellt, 168

lange monologische Diskurse hält, reagiert Rosencrantz eher spontan und pragmatisch. Auf Guildensterns Frage, was er tun würde, wenn umgekehrt gegen seine Wetten — er setzt stets auf heads und gewinnt — ähnlich häufig tails nach oben zu liegen käme, antwortet er: "I would have a good look at your coins for a start." (9) In der naiven Unmittelbarkeit seiner Reaktion wird er f ü r Guildenstern zum menschlichen Beobachtungs- und Reflexionsgegenstand: "I'm relieved. At least we can count on self-interest as a predictable factor." (9) Guildenstern nimmt damit die überlegene Rolle ein, da Rosencrantz zwar in seinen weit kürzeren Äußerungen oft ganz plausiblen common sense zeigt, sich aber damit nicht durchsetzen kann. Man könnte das Verhältnis der beiden als das Verhältnis zwischen intellektuellem und empirischem Ich beschreiben, in dem zwei Seiten des modernen Menschen — sein wissenschaftlich gepräges Reflexionsbewußtsein, und seine desorientierte, unartikulierte Sinnlichkeit — objektiviert sind. Guildensterns intellektuelles Ich, das die Interaktion der beiden beherrscht, ist nun aber vor allem dadurch gekennzeichnet, daß es in eine hochgradig vermittelte Gedankenwelt verstrickt ist, die sich undurchdringlich zwischen den Menschen und sein eigenes Leben geschoben hat. Die unwahrscheinliche Serie von heads am Anfang des Stücks könnte so ein ironischer Hinweis auf eine aus dem Lot geratene, einseitig gewordene Welt sein, auf ein Überhandnehmen leerer Rationalität im Sinn der Verselbständigung einer modernen head-culture gegenüber dem Bedürfnis nach sinnlicher Unmittelbarkeit und sinnhafter Kohärenz der Welterfahrung. Zugleich verweist dieser Anfangsakzent darauf, daß diese Einseitigkeit mit jener eigentümlichen Haltung zwanghaften Unernstes, jener geradezu obsessiv-unverbindlichen Spielhaltung gegenüber der Welt und sich selbst zusammenhängt, die das Bewußtsein der Protagonisten über weite Strecken des Stücks beherrscht. Ihr (Sprach-)Handeln ist weithin auf diesen Gestus der Uneigentlichkeit, des zwanghaft-ausweglosen Spiels reduziert (vgl. z.B. das rhetorische "play at questions," 30ff., oder auch das Frage-Antwort-Spiel, mit dem sie — vergeblich — das ihnen gestellte Hamlet-Problem lösen wollen, 33ff.). Der Zirkel der Reflexion, in dem sie gefangen sind, ist jedoch nicht prinzipiell unentrinnbar. Wurde bisher gesagt, der Handlungs- und Wirklichkeitsverlust der beiden Protagonisten sei sozusagen systembedingt, so ist hier hinzuzufügen, daß er gleichzeitig auch bewußtseinsbedingt ist: er ist auch die Konsequenz der Unfähigkeit ihres Denkens, sich ernsthaft auf mögliches eigenes Handeln einzulassen. Es gibt nämlich durchaus Stellen im Stück, an denen ein solches Eingreifen, ein Verändern der Situation denkbar wäre. Als die beiden im 3. Akt den Brief an den englischen König öffnen, in dem Hamlets Todesurteil steht, wird die persönliche Verantwortung für ihr Tun — Rosencrantz will impulsiv den langjährigen Freund warnen — von Guildenstern mit der ihm eigenen sophistischen Rationalisierungsfähigkeit abgetan. (79ff.) Stoppard räumt hier interessanterweise den Figuren durchaus soviel Freiheit ein, daß sie sich weigern könnten, ihre Rollen zu spielen. Guildenstern wird sich dessen in seiner Schlußbemerkung bewußt: O u r names shouted in a certain dawn . . . a message ... a s u m m o n s . . . . There must have been a moment, at the beginning, where we could have said — no. But somehow we missed it. (91)

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Gerade also auch der »schlechte ReflexionszustandHöhepunkte< des dramatischen Geschehens in Lear — die Folterung Warringtons, die Zerstörung der ländlichen Idylle am Ende des 1. Akts, die Autopsie Fontanelles, die Blendung Lears u.a.m. —, so zeigt sich, daß dabei nirgends konkrete Interaktionen stattfinden oder zwischenpersönliche Konflikte zum Austrag kommen, sondern ein verselbständigtes, von den Motiven, Bedürfnissen und Lebensinteressen der einzelnen abgelöstes Machthandeln sich manifestiert. Aus der Interaktion wird die bloße, einseitige Aktion, und die Struktur der Haupthandlung ist weitgehend durch die Serie solcher (Gewalt-)Aktionen gekennzeichnet, die sich, bei austauschbaren Akteuren, also ständig wechselnden Gegnern und Verbündeten, Tätern und Opfern, durch das Stück ziehen. Das Geschehen erscheint zu einer blinden Abfolge von Manifestationen institutioneller Gewalt entleert, die mit abrupten, oft übergangslosen und für die Betroffenen ebenso undurchschaubaren wie unabwendbaren Schicksalswechseln verbunden sind (vgl. z.B. 63ff.). Dies nun ist genau die Ebene, auf der Bonds Dramatik eine Nähe zum absurden Theater gewinnt. Doch ist die >Absurdität< hier deutlich gesellschaftlich bedingt, nämlich durch die Verkehrung der Subjekt-Objekt-Relation im Verhältnis des Menschen zu seinen selbsterrichteten Machtsystemen, deren Objekt er in der Welt des Stückes geworden ist.

6.2. Die Haupthandlung als Manifestation eines abstrakten politischen Handlungssystems Das in der Haupthandlung von Lear objektivierte Aktionsmodell läßt sich in verschiedene Komponenten aufgliedern, die trotz ihrer Durchmischung mit archaischen Elementen deutlich die Züge einer abstrakten Gesellschaft erkennen lassen. 184

6.2.1. Moralisch-ideologische Komponente Was die Interpretation des Handelns anbelangt, so nehmen die maßgeblichen Akteure durchwegs einen moralisch-ideologischen Sinn für ihr Tun in Anspruch, der allerdings in charakteristischer Weise unvermittelt mit ihrem faktischen Verhalten bleibt. Die moralische Begründung zeigt sich als rhetorischer Schein, als abstrakte Rechtfertigung, die in keinem Bezug zum tatsächlichen Handeln steht. Dies beginnt, wie gesehen, bei Lears Freiheits- und Friedensideologie, die ihn blind macht für die Widersprüche des Mauerbaus und für die konkreten >MenschenopferExperiment< durch — er operiert Lears Augen heraus, ohne daß sie dabei beschädigt werden —, durch das das System sich eine effiziente Ausschaltung seiner Gegner, der Gefängnisarzt sich verbesserte Karrierechancen erhofft. Die methodisch perfektionierte >Blendung< des Menschen durch eine den Machtinteressen der Politik opportunistisch untergeordnete Wissenschaft, die auch noch als humaner Fortschritt ausgegeben wird — "Understand, this isn't an instrument of torture, but a scientific device" (77) — setzt hier zugleich die Desintegration der organischen Lebensgrundlage und ihre 13

Vgl. Shakespeare, King Lear, Akt 3, Sz. 7. - Näheres zum Vergleich zwischen King Lear und Bonds Lear u. a. bei Horst Oppel und Sandra Christenson, Edward Bond's Lear and Shakespeare's King Lear (Mainz, 1974); Stratman, op. cit., pp. 283ff.; Berger, op. cit., der im übrigen festhält, was auch der hier vorgelegten Deutung zugrundeliegt, nämlich daß Bonds Lear »keine Imitation oder Adaption der Shakespeareschen Tragödie« ist, sondern »eine unabhängige Neugestaltung« (72); Alan Sinfield, "King Lear versus Lear at StratfordCritical Quarterly, 4 (1982), 5—14. - Delia Donahue, Edward Bond, kommentiert hierzu in folgender, für unsere Thematik aufschlußreicher Weise: "In both plays, society is a cage, but because it is more primitive, in the sense of being less self-consciously and technologically designed for destruction, Shakespeare's world seems to allow certain escapes into innocence." (p.71)

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Auflösung in einen verselbständigten, >anorganischen< Verwertungszusammenhang in aller drastischen Anschaulichkeit ins Bild:

{produces a tool). Here's a device I perfected on dogs for removing human eyes ... With this device you extract the eye undamaged and then it can be put to good use ... Note how the eye passes into the lower chamber and is received into a soothing solution of formaldehyde crystals. (77) FOURTH PRISONER

Lear hat keine Möglichkeit der Gegenwehr; die Zwangsjacke, in die er bei der Operation gesteckt wird, und die einer Krone ähnelnde Form des seinen Kopf umschließenden OP-Geräts stellen dabei implizit einen Zusammenhang her zu seiner eigenen früheren Herrschaft: "You've turned me into a king again." (77) Deren Grundstruktur ist sozusagen noch immer erkennbar, wenn auch die Art und Weise ihrer Manifestation sich erheblich gewandelt hat.14

6.3. Die Gegenhandlung als Projektion einer konkretanthropozentrischen Alternative Wir haben gesehen, daß der Hauptstrang der dramatischen Handlung von Lear durch die gleichsam systematische Eliminierung eines konkreten, organisch-anthropozentrischen Lebensprinzips aus den politischen Machtstrukturen charakterisiert ist, die die Welt des Stücks beherrschen. Demgegenüber läßt sich die in Akt 1, Sz. 5 mit Lears Flucht und seiner Begegnung mit dem Totengräberjungen beginnende Gegenhandlung als symbolisch-utopische Projektion der aus der Haupthandlung verbannten anthropozentrischen Dimension auffassen. Zunächst zeigt sich dies in der spontanen Hilfsbereitschaft des Totengräbersohns gegenüber Lear, der ihn mit Brot und Wasser empfängt und trotz eigener Gefährdung bei sich aufnimmt. (31 f.) Er legt damit als bis dahin einzige Figur im Stück ein konkret-menschliches Verhalten an den Tag und bringt so einen scharfen Kontrast zur unmittelbar vorausgehenden Folterszene Warringtons hinein. Nur in diesem Gegenraum, von dem subversive Aktionen gegen den Mauerbau ausgehen (39), und in dem noch Elemente einer naturbezogenen Existenz erkennbar sind (Wald, Brunnen, Holzhaus), findet konkrete Interaktion im Stück statt. Dieser Kontrastraum trägt allerdings deutlich idyllische Züge ("It's so simple and easy here"), was durch Lears Erinnerung an die Kindheit und seinen Versuch, die problematische Vergangenheit zu vergessen ("I must forget it all, throw it away! Yes! — let me live here and work for you" [39]) ebenso unterstrichen wird wie durch die Bezeichnung des — erwachsenen — Totengräbersohns als "Boy." Hingegen bringt dessen Frau Cordelia bereits innerhalb der Gegenhandlung die Spannung zur Realität hinein, denn ihre feindselige Haltung gegen Lear und den entstellten Warrington zeigt prinzipiell dasselbe Muster angstbedingt-aggressiver Fremdausgrenzung und Selbsteinmauerung wie das das Drama beherrschende >Mauersyndromabsurde< Eindruck einer circulus-vitiosus-Struktur des Geschehens, die durch die Parallelität von Anfang und Ende — wo jeweils der Tod eines Menschen durch die Mauer dargestellt ist — verstärkt wird. Die wiederkehrende Urszene der Gefangenschaft der Menschen in einem von ihnen selber errichteten Machtsystem, die durch die allgegenwärtige Käfig-, Kettenund Gefängnismotivik unterstrichen wird, erzeugt dabei den Eindruck einer alptraumhaften Zwangsläufigkeit des Geschehensablaufs, der jedoch durch die Austauschbarkeit der menschlichen Einzelschicksale gleichzeitig vollständig willkürlich erscheint. Die Verknüpfung der Einzelszenen erinnert selber an das Bild einer Handlungs>ketteim Schatten< der von der Mauer bestimmten Haupthandlung entfaltet — nämlich in seinem Innern, in fantastischer Form, in einer idyllisch-utopischen Gegenwelt. 192

Die Figurenkonstellation von Lear ist zunächst durch die Vielzahl der auftretenden Personen gekennzeichnet, von denen wiederum der weitaus größte Teil anonym bleibt (vgl. z.B. 1st, 2nd, 3rd Workmen; Soldiers Α, Β, C, usw.). Dadurch entsteht der Eindruck einer beziehungslosen, gesichtslosen Masse: "In a sense they are one role showing the character of a society."16 Der größten, den Typus des common man repräsentierenden Gruppe von Figuren,17 die zwar in hohem Maß außengeleitet sind, aber doch spontane, wenn auch faktisch unwirksame Ansätze von Humanität zeigen, steht dabei die kleinere Gruppe der unmittelbaren Funktionsträger des Systems gegenüber (Bürokrat, Offizier, Richter, Gefängnisarzt u.a.), die identitätslos in ihrem stromlinienförmigen Opportunismus aufgehen. Die kleinste Gruppe bilden die eigentlichen Machthaber, aus denen sich die Hauptfiguren des Stücks rekrutieren und für die, wie gesehen, die von Bodice exemplarisch formulierte Paradoxie gilt: "Now I have all the power ... and I'm a slave." (63) — In diesem Zusammenhang fällt ferner auf, daß die Privatsphäre in Lear vollständig von der öffentlichen Sphäre durchdrungen ist — vgl. die Aushöhlung des >Familienlebens< durch Staatsinteressen, das Verschwinden der personalen Bindungen aus den engsten Verwandtschaftsbeziehungen. Die natürlichen, emotionalen Bedürfnisse der Menschen schlagen durch ihre fortdauernde Unterdrückung um in Aggression und werden somit pervertiert. Dies zeigt sich etwa in der exorbitanten Grausamkeit der Töchter gegen Warrington, die aber wiederum nicht persönlich-konkret >gemeint< ist, sondern an ihm als zufälligem Opfer dumpfe, lang aufgestaute Haßgefühle abreagiert. — Neue personale Bindungen entstehen demgegenüber nur in der Gegenhandlung in Lears Landkommune, was durch die einfache persönliche Namensgebung der Charaktere — Thomas, Susan, John — betont wird, die im Gegensatz zu den Kunstnamen der politischen Führungsschicht steht. Auch an der Sprache des Dramas schließlich läßt sich der Zusammenhang mit der dargestellten Problematik aufzeigen. Zunächst einmal finden sich auf einer ersten, den unteren Gesellschaftsschichten zugeordneten Ebene starke Elemente der colloquial speech und des Slang, die zwar einerseits Reste von lebensweltlich-kommunikativer Konkretheit enthalten, andererseits aber mit einem extrem restringierten Kode einhergehen, in dem sich das Unverständnis und die Ohnmacht gegenüber den Zusammenhängen ausdrückt, in die die Menschen gestellt sind — vgl. hierzu Cordelias Verhör des gefangenen Soldier I: CORDELIA ( t o SOLDIER I ) . H o w f a r d i d y o u c o m e ?

SOLDIER I. 'Ard t'say. We never come straight an' the maps is US. I was born in the city. These fields are China t'me. (57)

— Eine zweite Ebene stellt die obszöne, zynisch-vulgäre Sprache dar, die insbesondere Lears Töchter in einigen Szenen verwenden. Sie ist das sprachliche Korrelat der verdrängten, ins Bösartige verzerrten menschlichen Bedürfnisse, deren in die Kind16 17

"Preface to Lear" p. 12. Näheres zur Rolle des "common man" bei Bond und Shakespeare bei Sandra Christenson, "The 'common man' in Bond's Lear and Shakespeare's King Lear," in Oppel/Christenson, op.cit., pp.22—42.

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heit zurückreichende Deformation sich in der sadistisch-infantilen Reduktion und Deformation der Sprache spiegelt. Dies zeigen beispielsweise die Äußerungen über ihre Ehemänner (24) oder während der Folter Warringtons, bei der Fontanelle in einen hysterischen Aggressionsrausch verfällt, der durch den situationsfremd durchbrechenden Vaterbezug zugleich in seiner Ersatzhaftigkeit, seinem Projektionscharakter deutlich wird: Kill his hands! Kill his feet! Jump on it - all of it! He can't hit us now. Look at his hands like boiling crabs! Kill it! Kill ail of it! Kill him inside! Make him dead! Father! Father! I want to sit on his lungs! (28)

— Eine dritte Sprachebene des Stücks schließlich ist gekennzeichnet durch starke Klischeehaftigkeit und inhaltsleere Formelhaftigkeit: die Sprache der institutionellen Repräsentanten. Die zweckrationalen Terminologien des Bürokraten (Councillor), des Wissenschaftlers (Gefängnisarzt), des politischen Ideologen (Lear zu Anfang, Cordelia zum Schluß) verbinden sich dabei mit den Uberresten eines moralischen Pathos (Old Councillor: "I've always tried to serve people" [92]) zu einem umfassenden Medium gesellschaftlicher Manipulation, und es ist auf dieser, selbst abstrakt gewordenen Sprachebene, auf der die Aushöhlung und Erstarrung des sozialen Kommunikationssystems im Drama besonders deutlich hervortritt. Wiederum bildet die Gegenhandlung einen Kontrast zu diesen verschiedenen Reduktions- und Korruptionsformen der Sprache. In ihr herrscht durchgängig eine einfache, konkrete Sprache vor. Insbesondere Lears poetisch-bildhafte Sprache ist hier stilbestimmend. In ihr wird sprachlich der Gegenhorizont der Humanität ausgedrückt, den die um ihn versammelte Landkommune im Handeln zur Geltung bringt. Die ihrer humanen Gestalt beraubte Welt wird in poetisch-märchenhafter Weise anthropomorphisiert. LEAR. I see my life, a black tree by a pool. The branches are covered with tears. The tears are shining with light. The wind blows the tears in the sky. And my tears fall down on me. (100)

Die zentrale Spannung zwischen abstrakten und konkreten, anthropofugalen und anthropozentrischen Kräften, die das Drama als ganzes charakterisiert, kehrt so auf der Ebene der sprachlichen Form wieder: Die Anthropomorphisierung der Welt in der Sprache Lears entspricht seinem Versuch im Handeln, die vom Menschen gemachte, ihm außer Kontrolle geratene Welt für ihn selber zurückzugewinnen.

6.5. Ein Blick auf andere Werke Bonds Wie die Analyse von Lear zeigte, lassen sich auch bei einem erklärtermaßen politischen Dramatiker wie Edward Bond deutliche Gemeinsamkeiten mit einem kulturkritischen Grundansatz des Neuen Englischen Dramas aufweisen, der über herkömmliche sozialistisch-progressistische Deutungsmuster der fortgeschrittenen Moderne hinausgeht und vielmehr das einem ungesteuerten sozial- und machttechnolo194

gischen >Fortschrittskonkretisiert< kurzzeitig ihre dumpfen Ohnmachtsgefühle in einer blinden Gewaltaktion, in der sich ein faschistoides Machtgefühl gegenüber dem Schwächeren austobt. Die Aggression der Betroffenen richtet sich — wie auch in Lear — nicht gegen die Ursachen der Entfremdung, son18

Vgl. Heinrich F. Plett, »Edward Bond: The Woman. Mythos und Geschichte einer sozialistischen Rhapsodie«, Englisches Drama von Beckett bis Bond, pp. 3 5 9 - 9 4 , p. 360.

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dem gegen das Menschliche selbst, das das Baby als Inbegriff menschlicher Kreatürlichkeit, Hilfsbedürftigkeit und Zukunftshoffnung im Handlungskontext des Dramas repräsentiert. Die Jugendlichen machen darin in schockierender Überspitzung die generelle Indifferenz gegenüber Kindern, deren "cultural and emotional deprivation" (Bond) 19 in der dargestellten Gesellschaft sichtbar. Dieser allgemeinere Bezug wird vor allem in Sz.4 deutlich, in der die Steinigungsszene aus der lebensweltlichen Alltagssituation heraus vorstrukturiert wird. Während ununterbrochen das Fernsehgerät läuft, schreit im Zimmer nebenan das Baby, ohne daß sich jemand darum kümmert — außer daß der Apparat lauter gestellt wird. Die zuschauenden Pam und Mary, also Mutter und Großmutter des Kindes, sind statt mit diesem in ständiger >Interaktion< mit dem TV-Gerät begriffen: PAM ... switches on the TV set. ... PAM goes to the TV set and adjusts it. ... She goes to the TV set... She switches to another channel. She steps hack to look at the picture. She steps forward to adjust it. She steps back ... She steps forward and adjusts it again ... She steps back and looks at the set. She goes to the couch, sits and watches TV. Pause. ... She goes to the set and adjusts it... M A R Y (goes to the set and re-adjusts it)... She goes back to the couch and sits. She watches silently. Pause. ... L E N eats. M A R Y watches. PAM makes up. H A R R Y is still. The TV is fairly loud. A very long pause. Slowly a baby starts to cry. It goes on crying without a break until the end of the scene. Nothing happens until it has cried a long while. Then M A R Y speaks. Can yer see? LEN. Yeh. MARY. Move yer seat.

LEN.

I can see.20

Gerade der Übergang zum Dialog zeigt hier, daß die Figuren nicht auf das Kind oder aufeinander reagieren, sondern auf die Ersatzwirklichkeit des Fernsehens, wodurch sie umso stärker die Entwirklichung ihrer persönlichen Lebenssphäre betreiben. Die eskalierende Logik dieses fremdbestimmten Lebenszusammenhangs wird im Verlauf dieser Szene besonders betont, denn während das Babygeschrei immer lauter und, von Erstickungsanfällen begleitet, immer angsterfüllter wird, wird gleichzeitig immer stärker die Fixierung der Personen auf das Fernsehen hervorgehoben (vgl. vor allem 47). Hier wird also ganz unverkennbar eine kulturkritische Dimension als Hintergrund der in Saved gezeigten Deformation des Menschen ins Spiel gebracht. Die abschließende Szene dieses vom Autor trotz allem als »optimistisch« bezeichneten Stükkes21 bildet, neben dem vorsichtigen Neubeginn zwischen Len und Pam, auch in dieser Hinsicht einen Gegenpol zum vorausgehenden Geschehen, insofern hier Len mit einer konstruktiven Tätigkeit — der Reparatur eines Stuhls — befaßt ist und insofern vor allem gegenüber der lauten Fernsehszene und dem fortwährenden Austausch von Gedankenlosigkeiten eine auffällige, fast konzentrierte Stille herrscht, in der die Menschen selbst gleichsam wieder sichtbar werden und hinter der lärmend-verselbständigten Welt ihrer Objekte hervortreten. 19 20 21

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"Preface to Saved," p. 311. Edward Bond, Saved, Plays: One, pp. 19-136, hier pp.44-46. "Preface to Saved," p. 309.

Narrow Road to the Deep North (1968) ist eine »Parabel in der Brechtnachfolge«,22 die den Kreislauf der Gewalt und die Rolle des Intellektuellen im Verhältnis zur politischen Macht thematisiert. Auch in diesem Drama geht es um den schockierenden Verlust an Menschlichkeit angesichts gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich aufgrund ihrer wachsenden Größenordnungen immer stärker der Beeinflussung durch den einzelnen entziehen. Die Handlung spielt im Japan des 17. Jahrhunderts, doch wiederum ist hier nicht die Aufarbeitung eines historischen Stoffes, sondern die durch die historische Verfremdung ermöglichte plastisch-konkrete Dramatisierung aktueller Gegenwartsprobleme Bonds Ziel. — Zu Beginn findet der Dichter Basho am Ufer eines Flusses ein von Bauern ausgesetztes Kind, das er jedoch liegen läßt, um dem »schmalen Weg in den tiefen Norden«, d.h. dem Weg zur Erkenntnis zu folgen. Als er nach 30 Jahren von dort zurückkehrt, ist aus der armen Landregion eine straff organisierte, diktatorisch regierte Großstadt, aus dem ausgesetzten Kind deren tyrannischer Machthaber Shogo geworden. Im Gefühl seiner im Norden gewonnenen Einsicht in Recht und Unrecht betreibt Basho nun Shogos Sturz mit dem Ziel, das Kind des von Shogo seinerseits gestürzten früheren Kaisers als rechtmäßigen Herrscher einzusetzen. Hierzu verbündet er sich mit den »Barbaren« des Nordens, welche sich als die mit überlegenen Waffen und der Ideologie des Christentums ausgestatteten Engländer herausstellen. Was folgt, ist ein immer rascher sich vollziehender und für den Zuschauer nachgerade verwirrender Wechsel der Herrschaftssysteme. Zuerst muß Shogo nach einem Blutbad aus der Stadt fliehen. Doch schon bald kehrt er mit einem inzwischen ebenfalls mit modernen Waffen ausgerüsteten Stamm von Eingeborenen aus dem Norden zurück, erobert die Stadt und tötet, zusammen mit vier anderen Kleinkindern, den Sohn des Kaisers. Schließlich nehmen die Engländer mit Basho als ihrem nunmehrigen >Chefideologen< erneut die Stadt ein. Shogo wird gefangengenommen, vor Gericht gestellt und auf furchtbare Weise öffentlich hingerichtet. Auch in Narrow Road, to the Deep North also geht es, ähnlich wie in Lear, um die von einer Kette von Gewalttätigkeiten begleitete Ablösung verschiedener politischer Systeme, wobei auch hier das jeweils neuere System das vorausgehende zwar an ideologischem Fortschrittsbewußtsein und an technisch-institutionellem Organisationsgrad übertrifft, gleichzeitig aber eine Steigerung des Terrors und der menschlichen Selbstentfremdung mit sich bringt. Die spezifisch >moderne< Dimension des am Schluß etablierten Regimes wird in der Gerichtsszene etwa durch den Anachronismus des Mikrophons illustriert, über das der hinter den Kulissen ablaufende Prozeß gegen Shogo für die Menge nach draußen — und in den Zuschauerraum — übertragen wird und dessen metallisch-harter Klang die gesamte Szene überdröhnt. 23 Die Mikrophonstimme des zum Premierminister avancierten Basho überlagert dabei bezeichnenderweise die poetischen Texte seiner Gedichte, aus denen im Vordergrund sein jugendlicher Schüler Kiro zitiert, ehe dieser angesichts der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse Selbstmord durch Harakiri begeht. Auch der Schluß des Stücks ist hier wiederum zeichenhaft: ein Ertrinkender ruft um Hilfe, ohne daß jemand reagiert, und nur mit 22 23

Plett, op.cit., p.360. Edward Bond, Narrow Road to the Deep North, Plays: Two, pp. 171 —226, hier pp.221 ff.

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Mühe kann er sich selbst aus den Fluten des Flusses retten. Der unbekannte Mann "a man" — der nur mit einem Lendenschurz bekleidet aus dem Wasser steigt und inmitten des von der Menge zurückgelassenen Unrats steht, ein Urmensch in der Trümmerlandschaft der Spätkultur, dürfte hier eine archetypische Verbildlichung der Grundsituation des modernen Menschen sein, wie Bond sie sieht. (224f.) In The Sea (1973) rückt stärker als in Saved und in Narrow Road das Verhältnis von Natur und Zivilisation in den Vordergrund. Das Meer wird hier zum Symbol der >natürlichen< menschlichen Existenz mit deren Möglichkeiten und Gefahren zwischen Leben und Tod. Ihm steht die Gesellschaft einer englischen Ostküstenstadt des Jahrhundertanfangs als Inbegriff der Künstlichkeit, sozialen Unterdrückung und Naturentfremdung gegenüber. Das Drama beginnt, wie Narrow Road endet: mit dem ungehörten Hilferuf eines Menschen. Hier jedoch ist es Willy, einer von zwei Freunden, der für den anderen um Hilfe ruft, nachdem die beiden im Sturm mit ihrem Segelboot gekentert sind. Statt von der Küstenwache Hilfe zu erhalten, wird Willy jedoch von dem diensthabenden Hatch ins Meer zurückgetrieben, sein Freund Colin ertrinkt. Das seltsame Verhalten Hatchs >erklärt< sich nachträglich daraus, daß er die Stadt von außerirdischen Wesen bedroht sieht, die er nun in den beiden Fremden leibhaftig verkörpert glaubt. Seine bizarre Konstruktion ist Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen, die er nicht zu begreifen vermag und die ihn, unter kräftiger Mithilfe der die Stadt tyrannisierenden Mrs. Rafi, in den wirtschaftlichen Ruin zu treiben drohen. Indem er seine gesellschaftliche Entfremdungserfahrung in wahnhafte Feindbilder und extraterrestrische Bedrohungsphantasien umsetzt, ist er nicht mehr in der Lage, die konkrete Situation — eben die Lebensgefahr für die beiden Schiffbrüchigen — in angemessenerWeise wahrzunehmen: "What if they are sailors in distress?" fragt ein Kamerad, ohne daß Hatch im geringsten darauf eingeht.24 Die artifizielle Unwirklichkeit der Stadtwelt selbst findet etwa in einer Theaterprobe des weiblichen Establishments und den dabei mobiliserten Pseudo-Gefühlen satirischen Ausdruck — wobei wohl nicht zufällig Orpheus auf dem Programm steht. (Sz.4) Ähnliches gilt für die opernhaft-surreale Beerdigungsszene mit Klavier und Gesang auf den Meeresklippen hoch über der Stadt, bei der die Tragödie von Colins Tod zu einer gesellschaftlichen Farce degradiert wird. (Sz. 7) — Einen Gegenpol zu dieser Welt bildet die Beziehung zwischen Rose, der Geliebten des Ertrunkenen, und dessen überlebendem Freund Willy. Die beiden verlassen am Ende die Stadt mit unbekanntem Ziel, worin immerhin die Andeutung eines möglichen Neubeginns für sie liegt. Zuvor aber treffen sie den alten Einsiedler Evans, der in einer Hütte nahe am Meer lebt und als wise fool höhere Einsicht in die menschlichen Dinge hat. Was er ihnen in seiner Schlußrede warnend als gesellschaftliche Zukunftsvision vor Augen führt, ist nichts anderes als die Abschaffung des Menschen aus den künstlichen Lebensstrukturen, die er sich schafft, die Verwandlung der organisch-natürlichen in eine leblose anorganische Welt ohne Gefühle, ohne Schicksal und Tragik, kurz: die Verwandlung einer konkreten in eine abstrakte Realität, die durch ein blind verselbständigtes Fortschritts- und Rationalisierungsprinzip heraufzuziehen droht: 24

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Edward Bond, The Sea, Plays: Two, pp. 103-170, hier p. 115.

Suffering is a universal language and everything that has a voice is human. We sit here and the world changes. When your life's over everything will be changed or have started to change. Our brains won't be big enough. They'll plug into bigger brains. They'll get rid of this body. It's too liable to get ill and break. They'll transplant the essential things into a better container. An unbreakable glass bottle on steel stilts. Men will look at each other's viscera as they pass in the street. There'll be no more grass. Why? What's it for? There'll be no more tragedy. There's no tragedy without grass for you to play it on. Well, without tragedy no one can laugh, there's only discipline and madness. You see why the draper's afraid. Not of things from space, of us. We're becoming the strange visitors to this world. (168)

Evens bezieht sich also hier explizit auf Hatchs Phantasie der außerirdischen Monstermenschen und deutet sie nicht als bloßes Hirngespinst, sondern reflexiv als Ausdruck realer geschichtlicher Gefahren. Die Welt ohne Menschen, deren Zerrbild er hier zeichnet, ist, so wird mit dem Verschwinden von Tragik und Komik eigens angesprochen, zugleich eine Welt ohne Drama. Doch Evens' Zukunftsbild ist, wie er selbst bemerkt, pessimistisch überzeichnet: er liefert den beiden Jüngeren sozusagen die Erkenntnis, durch die sie erst hindurchmüssen, ehe ein Neuanfang für sie möglich wird. Ähnliches dürfte für das Drama selbst gelten, das durch jene Veränderungen unmittelbar in seiner Substanz betroffen ist. Und es dürfte von daher klar sein, daß die Versuche einer neuen Synthese, eines wieder stärker konkreten und anthropozentrischen Gesellschaftsentwurfs, die in Bonds späteren Stücken wie The Bundle (1978), The Worlds (1979) oder auch in dem in Deutschland besonders vielgespielten und erfolgreichen Summer (1982) erkennbar sind, erst vor dem Hintergrund der vorausgehenden Problemstücke und der Analysen der abstrakten Gesellschaft verständlich sind, die sie dramatisieren.

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7. Peter Shaffer, Equus: Abstrakte Gesellschaft als subjektives Erfahrungsproblem

Obwohl Peter Shaffer bereits in der Anfangszeit des Neuen Englischen Dramas mit Five Finger Exercise (1958) und The Royal Hunt of the Sun (1964) beachtliche Bühnenerfolge erzielen konnte, hat er erst im Lauf der 70er Jahre mit den beiden Welterfolgen Equus (1973) und Amadeus (1979) jene Bekanntheit und Anerkennung erlangt, die ihn in die erste Reihe der englischen Gegenwartsdramatiker aufrücken ließ. Ein unmißverständliches Indiz für diese neugewonnene Prominenz ist die gesteigerte Aufmerksamkeit, die dem Autor in jüngster Zeit nicht nur in den öffentlichen Medien, sondern auch in der wissenschaftlichen Fachliteratur gewidmet wird.1 Die Verfilmung seiner Stücke, insbesondere die mit acht Oscars bedachte .AttWews-Produktion von Milos Foreman, hat hierzu sicherlich beigetragen. Doch ist auch unabhängig davon und teilweise durchaus in kritischer Distanz zu den Verfilmungen das Interesse am Autor als einem Dramatiker von beachtlichem künstlerischem Rang ständig gewachsen.2 Wurden auch früher stets die technische Brillanz und die erstaunliche Vielseitigkeit und Experimentierfreudigkeit seines Schaffens hervorgehoben, jedoch gelegentlich Zweifel an der gehaltlichen Substanz seiner Dramen geäußert,3 so scheint sich neuerdings die Auffassung durchzusetzen, daß der Komplexität der dramatischen Form bei Shaffer — jedenfalls in seinen Hauptwerken — eine ebenso vielgestaltige Komplexität des Inhalt entspricht, deren Aufdeckung wichtige Aufschlüsse über den heutigen Menschen und seine Stellung in der Welt zu geben vermag. Neben formalen Aspekten sind dabei vor allem die Verarbeitung religiöser und mythologischer Themen, die Einflüsse der Psychologie, implizite philosophische Konzeptionen sowie insbesondere auch rezeptionsästhetische Gesichtspunkte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. 4 Die starke Vorliebe für das 1

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Zum ersteren vgl. etwa die Titelgeschichte des Spiegel über Amadeus, Nr. 38 (Sept. 1985), 238-51; zu letzterem vgl. vor allem Dennis A. Klein, Peter Shaffer (Boston, 1979); vol.27 von Modern Drama (Sept. 1984), No.3, in dem drei Aufsätze Shaffer gewidmet sind; Michael Hinden, "Trying to Like Shaffer," Comparative Drama, 19 (1985), 14-29. Zum Verhältnis von Stücken und Verfilmungen vgl. C.J. Gianakaris, "Drama into Film: The Shaffer Situation," Modern Drama, 28, No.l (1985), 83-98. Prononciert sagt dies etwa Jack Kroll, "Mozart and His Nemesis," Newsweek, 29 (Dec. 1980), 58", der die typischen Merkmale eines Shaffer-Stücks sieht in "a large-scale, largevoiced treatment of large themes, whose essential superficiality is masked by a skillful theatricality reinforced by the extraordinary acting, designing and directing resources of Britain's National Theatre." Vgl. zum existentiell-religiösen Interesse z.B. James R. Stacy, "The Sun and the Horse: Peter Shaffer's Search for Worship," Educational Theatre Journal, 28 (March, 1976), 325—337; Gene A. Plunka, "The Existential Ritual: Peter Shaffer's Equus," Kansas Quarterly, 12 (1980), 87—97,93; J. Dean Ebner, "The Double Crisis of Sexuality and Worship in Shaffer's Equus," Christianity and Literature, 31 (Winter, 1982), 29-47; Daniel R. Jones, "Peter Shaffer's Continued Quest for God in Amadeus," Comparative Drama, 21, 2 (Summer, 1987),

episch-analytische Enthüllungsdrama, die sich mit einer ungewöhnlichen emotionalen Intensivierung der Theatererfahrung verbindet und den kommunikativen Austausch mit dem Publikum unmittelbar zum Kompositionselement der Stücke macht, tritt dabei zunehmend als kennzeichnendes Merkmal von Shaffers Dramenästhetik hervor. Getragen aber wird diese Ästhetik, werden Shaffers Experimente mit der dramatischen Form und mit den Möglichkeiten der Publikumsansprache, wie. auch bei den anderen hier diskutierten Vertretern des New English Drama, von einem spezifisch kulturkritischen Impuls, der zwar ebenfalls in einem Teil der Kritik in seiner Bedeutung gesehen wurde, 5 dennoch aber, wie ich meine, einer genaueren Klärung bedarf. Wiederum meine ich hier zeigen zu können, daß das Theorem der abstrakten Gesellschaft als heuristisches Modell dienen kann, das für eine solche Klärung hilfreich ist. Shaffer gestaltet freilich diese Problematik, und damit hebt er sich deutlich von den anderen, insbesondere den politisch engagierten Autoren ab, aus einer stark subjektiven, gleichsam kulturpsychologischen Perspektive heraus, nämlich aus dem Verlust sinnlich-sinnhafter Erfahrbarkeit von Wirklichkeit — und damit der Möglichkeit konkreter Selbsterfahrung —, den eine abstrakte Gesellschaft mit sich bringt. Zwar spielen etwa auch erkenntnistheoretische Fragen oder Kommunikationsprobleme zwischen den Figuren stets bei Shaffer eine wichtige Rolle, und keine Interpretation seiner Dramen kann an diesen Fragen vorbeigehen; doch scheinen sie mir in ihrer Bedeutung noch übertroffen zu werden vom Thema des Erfahrungsverlusts des modernen Menschen sowie der verschiedenen, oft pathologischen Reaktionen, die er hierauf ausgebildet hat. Beispielhaft ausgeprägt ist dieser Problemansatz in Equus, das wohl nicht nur als idealtypischer Ausdruck Shafferscher Dramatik und Lebensphilosophie, sondern — neben Amadeus — als sein künstlerisch stärkstes Stück bezeichnet werden darf.

7.1. Equus als Dramatisierung eines hermeneutischen Verstehensmodells Vordergründig betrachtet geht es in Equus um den Fall eines offensichtlich psychisch gestörten 17jährigen Jungen, der eine ebenso schreckliche wie unverständliche Ge-

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145—55. Zu den psychologischen Einflüssen vgl. etwa die Ausgabe des International Journal of Psychoanalytical Psychotherapy, 5 (1976), die mehrere Beiträge zu Shaffer enthält. Mehr in philosophische Richtung geht Doyle W. Walls, "Equus: Shaffer, Nietzsche, and the Neuroses of Health," Modern Drama, 27, No. 3 (Sept. 1984), 314—23. Rezeptions- und kommunikationstheoretische Aspekte stehen bei Una Chaudhuri, "The Spectator in Drama/Drama in the Spectator," Modem Drama, 27 (1984), 281-98, sowie bei Werner Huber und Hubert Zapf, "On the Structure of Peter Shaffer's AmadeusModern Drama, 27 (1984), 299-313, im Mittelpunkt des Interesses. Dies gilt vor allem für Rainer Lengeier, »Peter Shaffer: Equus. Der Mythos vom ursprünglichen Leben«, Englisches Drama von Beckett bis Bond, pp.272—94, der die von D . H . Lawrences Vitalismus inspirierte »Sehnsucht nach Ursprünglichkeit« (273) als übergreifendes thematisches Interesse Shaffers ansieht und in der Werkinterpretation entwickelt. — Auch Manfred Beyer sieht neben den psychologischen auch die soziokulturellen Bedeutungsaspekte des Stückes: »Peter Shaffers Equus und die Paradoxie vom gesunden Kranken und kranken Gesunden«, Forum modernes Theater, 2, 2 (1987), 154—69. 201

walttat begangen hat: er hat in einem nächtlichen Amoklauf sechs Pferden die Augen ausgestochen. — Dies ist, wie Shaffer in seinem Vorwort darlegt, der reale Kern der Bühnenhandlung, während alles andere frei erfunden ist. Mit dem fiktiven Handlungsentwurf von Equus versucht der Autor nach eigenem Bekunden ein mögliches Erklärungsmodell für die Tat zu liefern: "I had to create a mental world in which the deed could be made comprehensible." 6 Er versucht damit das zunächst Unbegreifliche und Abartige der Untat in den Rahmen des Menschlich-Verständlichen zurückzuholen, in dem scheinbar Sinnlosen einen wenn auch noch so entstellten subjektiven >Sinn< aufzusuchen. In dieser Hinsicht ähnelt sein Vorgehen dem der modernen Sozialpsychologie, die ja ebenfalls die Verhaltensweisen psychisch Gestörter und Schizophrener nicht länger als unabänderliche Abirrung der menschlichen Natur, sondern als in bestimmten sozialen Situationen verankerte und in deren Rahmen durchaus >sinnvolleEquusBühne auf der Bühne< herum gruppiert und treten auf und ab, je nachdem ob sie über den jeweils aufgeworfenen Teilaspekt des vergangenen Geschehens Aufschluß geben können oder nicht. Insofern folgt die Anlage von Equus auf einer ersten Ebene dem rationalen Verstehensmodell der Psychologie, das auf die Aufdeckung der Ursachen bzw. Motive eines Fehlverhaltens und dadurch zugleich auf eine Therapie zielt. Letzteres ist auch bei Alan der Fall. Indem Dysart ihn dazu bringt, Schlüsselszenen der Equus-Geschichte noch einmal in ihrer traumhaft-alptraumhaften Intensität durchzuspielen und durchzuerleben (vgl. vor allem Sz.21 und Sz.34), hat er gleichzeitig die Heilung des Jungen vor Augen. Hierzu wendet er verschiedene Methoden an, die zum typischen Repertoire moderner Psychotherapie gehören — wobei es im übrigen für die Aussage des Stückes unerheblich ist, ob diese Methoden im einzelnen völlig authentisch wiedergegeben sind. 9 Auch wichtige thematische Elemente — die gestörte Eltern-Kind-Beziehung, der ödipale Schuldkomplex, das Verhältnis von Triebnatur und Gesellschaft, von >normalem< und >abnormem< Verhalten und die damit verflochtene Symbolik von Es und Uberich (dargestellt vor allem im Symbol des Pferdes bzw. des Auges) — machen den Einfluß der Psychologie auf die Komposition des Dramas unübersehbar. Betrachtet man Equus allein auf dieser Ebene, so erscheint es als eine Art psychotherapeutisches Theater, das mit zweifellos großem bühnentechnischem Geschick eine komplizierte pathologische Fallstudie vorführt und in eindringlichen Bildern szenisch veranschaulicht. Hierbei stellt sich allerdings die Frage, was dann der künstlerische Eigenwert des Stückes wäre, da es in diesem Fall nur eine wenn auch effektvolle dramatische Illustration bereits bekannter wissenschaftlicher Erkenntnisse liefern würde. Nun zeigt aber bereits ein halbwegs genauerer Blick auf das Drama, daß für Shaffer an diesem Punkt die Problematik erst anfängt. In dem skizzierten Verstehensprozeß werden nämlich zwar eine Vielzahl potentieller Einflußfaktoren aufgedeckt, nicht aber eine eindeutige Kausalkette hergestellt, die eine wissenschaftliche >Erklärung< für Alans Verhalten liefern würde. Shaffers Verfahren ähnelt vielmehr auch in dem Sinn einem hermeneutischen, als es die menschliche Realität, die es zu bestimmen versucht, nicht als empirisch-objektive Faktizität, sondern als geschichtlich-intersubjektiven Prozeß begreift.10 Was rekonstruiert wird, sind persönliche Erinnerungen, lebensgeschichtliche Schlüsselszenen, die Sinnintentionen der Beteiligten. Deren subjektive Deutungen werden ganz dezidiert in den übergreifenden Interpretationsvorgang einbezogen und von ihrem jeweiligen Standpunkt her bis zu einem gewissen Grad verständlich — wenn auch keineswegs immer akzeptabel — gemacht. Was sich aus dieser polyperspektivischen Methode ergibt, ist folglich kein objektiv fixierbares Psychogramm Alan Strangs, sondern ein interpretierender Nachvollzug der Entstehungsgeschichte seines >EquusEquus< Hier nun sind wir bei der kulturphilosophischen Dimension des Dramas angelangt, durch die das rationale Welt- und Menschenbild, das Dysart in seiner gesellschaftlichen Rolle als Psychiater offiziell vertritt, fundamental infragegestellt wird. Der bis an seine Grenzen geführte Verstehensversuch von Alan Falls — von >Equus< — treibt ein Element des Prä- bzw. Transrationalen hervor, das sich einer wissenschaftlichen Erklärung letztendlich verweigert. Dysart wird sich hierüber im Monolog zu Beginn des 2. Aktes bewußt, also unmittelbar nachdem er Alan zum nochmaligen Durchspielen seines nächtlichen Ausritts auf Equus gebracht hat: A child is born into a world of phenomena all equal in their power to enslave. It sniffs — it sucks - it strokes its eyes over the whole uncomfortable range. Suddenly one strikes. Why? Moments snap together like magnets, forging a chain of shackles. Why? I can trace them. I can even, with time, pull them apart again. But why at the start they were ever magnetized at all — just those particular moments of experience and no others - I don't know. And nor does anyone else. Yet if I don't know - If I can never know that - then what am I doing here? I don't mean clinically doing or socially doing - I mean fundamentally! These questions, these Whys, are fundamental — yet they have no place in a consulting room. So then, do I? . . . This is the feeling more and more with me - N o Place. Displacement... 'Account for me,' says staring Equus. 'First account for Me! . . . ' I fancy this is more than menopause. (76)

Dysarts Rede ist hier deutlich von der Betroffenheit geprägt, in die ihn die Begegnung mit dem Jungen, mit Equus gestürzt hat. Er fühlt sich durch seine soziale Rolle, die er mehr und mehr als Zwang empfindet, abgeschnitten von einem Wesentlichen, einer elementaren Lebensdimension. >Equus< erscheint somit aus der Sicht Dysarts zunächst generell gesehen als Inbegriff all dessen, was wissenschaftlichen Erklärungsversuchen unzugänglich bleibt und aus dem Handlungssystem der rationalisierten Gesellschaft ausgeblendet ist, was aber für die authentische Bestimmung der menschlichen Realität von grundlegender Bedeutung ist. Im Lauf des Stücks vollzieht sich damit eine signifikante Umwertung der Voraussetzungen, wie sie zu Anfang gegeben sind. Was sich zuerst als abstoßend-unverständliches Fehlverhalten eines hochgradig gestörten Außenseiters darstellt, wird zum wenn auch verzerrten Ausdruck einer elementaren geistig-psychischen Realität, die für Dysart zur Herausforderung seiner ganzen Existenz wird. Aus der Begegnung mit Equus resultiert für ihn ein wachsender innerer Zwiespalt, eine fast schon selber schizophren anmutende Spaltung zwischen seinem äußeren Handeln, d. h. der Therapie Alans und dessen Reintegration in die gesellschaftliche Normalwelt, und seinen persönlichen Reflexionen, d.h. dem radikalen Zweifel an eben den Implikationen dieser >Normalisierung< von Alans Persönlichkeit. Die identitätsbedrohende Abspaltung des homo extemus vom homo internus, die Zijderveld als symptomatisch für die Lage des Menschen in der abstrakten Gesell204

schaft sieht, 11 wird also in Equus spiegelbildlich an beiden Hauptfiguren dramatisiert: während Alan sich mit der Ausbildung seines verabsolutierten Privatmythos in traumatischer Weise von der gesellschaftlichen Außenwelt abgeschnitten hat, fühlt Dysart sich durch die Festlegung auf seine Rolle in dieser Außenwelt in nicht minder traumatischer Weise von seinem eigenen Inneren, von den geistig-psychischen Wurzeln seines eigenen Lebens abgeschnitten. D e m unkontrollierten Wuchern von Alans E q u u s - M y t h o s entspricht bei Dysart das Wuchern seiner privaten Reflexionen, die sein gesellschaftliches Handeln permanent desavouieren. Auf beiden Ebenen des Dramas, der Ebene der Lebensgeschichte Alans u n d der Ebene von deren reflexiver Aufarbeitung in der Therapie des Psychiaters, wird also ein anthropologisches Defizit der gesellschaftlichen Welt sichtbar, deren Gesetzen die beiden Protagonisten in verschiedener Weise unterworfen sind. Und es ist dieses Defizit, das in Equus symbolisch aktualisierte Gestalt gewinnt. D o c h Equus ist f ü r Dysart nicht n u r Indiz eines zivilisatorischen Mangels, sondern erhält eine positive Bedeutung und wird in gewisser Hinsicht geradezu zu einer sinnhaften Alternative, z u m Gegenentwurf, der der gesellschaftlichen Normalwelt den Spiegel ihrer eigenen Unwirklichkeit vorhält. Equus steht f ü r ihn mehr u n d mehr f ü r jene ursprünglich-freiheitliche Selbstverwirklichung, nach der er sich schon zu Anfang sehnt: The thing is, I'm desperate. You see, I'm wearing that horse's head myself. That's the feeling. All reigned up in old language and old assumptions, straining to jump clean-hoofed on to a whole new track of being I only suspect is there. (18) Die Pferde- bzw. Zentaurenmetaphorik, die hierin enthalten ist und ja auch das Stück als ganzes dominiert, 1 2 verweist auf ein anarchisch-libidinöses u n d gleichzeitig mythisch-transzendentes Sinn- und Freiheitsprinzip, wie Dysart es in den Lebensformen des klassischen Griechenland ausgedrückt sieht. Er beschäftigt sich in seiner Freizeit in nachgerade obsessiver Weise mit griechischer Mythologie, insbesondere der Zentaurenmythologie, in der er jene ganzheitliche, animalische u n d zugleich spirituelle Lebensdimension verkörpert sieht, die in den zweckhaften Reglementierungen der rationalisierten Welt z u m Absterben verurteilt ist. Was ihn n u n an Alans >EquusEquus< hier gerade Dysart in den Mund gelegt sind, der das vergangene Geschehen mit Alan nachspielt — er nämlich ahnt einerseits, aufgrund seiner eigenen inneren Zerrissenheit, intuitiv die Gefühle Alans, andererseits aber ist er selbst ein Repräsentant der übermächtigen gesellschaftlichen Autoritätsansprüche, die sich hier in Form des außer Kontrolle geratenen Equus-Mythos über Alans Kopf zusammenballen. Die anschließend noch einmal durchlebte Horrorszene der Blendung der Pferde, die im Sinn von Shaffers Konzept eines total theatre unter dem multimedialen Einsatz aller theatralischen Mittel gestaltet ist, entfaltet ein Crescendo des Schreckens, ein Umschlagen der versuchten Sinnstiftung in zerstörerisches Chaos, welches dem Identifikationserlebnis am Ende des 1. Akts kontrapunktisch entgegengesetzt ist. 19 Alans Verzweiflungstat stellt sich von hier aus — vergleichbar mit Peters Rebellion gegen die Küche bei Wesker oder mit Musgraves Rebellion gegen die Gewalt bei Arden — als Versuch der >konkreten< Beseitigung eines abstrakten Problemdrucks dar, und er erweist sich in seiner grauenhaft-fehlgerichteten Konsequenz, wie diese, als PseudoKonkretisierung, die die Selbsttäuschung, die in seinem Lösungsversuch impliziert war, schockartig offenbar werden läßt.

7.4. Die Struktur der Interaktion zwischen Dysart und Alan Wenden wir uns nun von der Vergangenheits- der Gegenwartsebene des Dramas zu, also dem Prozeß der Therapie Alans durch Dysart und deren Interaktionen, die ja 19

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Shaffer erläutert seine Vorstellung eines total theatre im Vorwort zu The Royal Hunt of the Sun (Harmondsworth: Penguin, 1981) p.8: "My hope was always to realize on stage a kind of 'total' theatre, involving not only words but rites, mimes, masks and magics."

den eigentlichen Vorgang des Dramas bestimmen. Dieser ist somit von vornherein unter die übergreifende Zielsetzung der Therapie gestellt, d. h. er ist auf die Aufhebung von Alans Equus-Komplex ausgerichtet. Die Beziehung der beiden Protagonisten ist auf dem Rollenverhältnis zwischen Psychiater und Patient aufgebaut, womit der eine sich in der überlegenen, mit institutioneller Autorität ausgestatteten, der andere in der unterlegenen, auf seinen psychischen Komplex reduzierten Position befindet. Die Struktur ihrer Interaktionen ist daher nicht gegenseitig, sondern einseitig, nicht symmetrisch, sondern komplementär. 20 Und es gibt daher zwar Spannungen, Mißverständnisse und auch Streit zwischen den Protagonisten, aber keinen wirklichen Konflikt im Sinn gegensätzlicher Intentionen und Sinnvorstellungen, die auf derselben Ebene um ihre Durchsetzung kämpfen würden. Vielmehr treffen hier wiederum zwei verschiedene Ebenen aufeinander, von denen die eine — die gesellschaftliche >Systemebene< — die Metaebene der anderen — der kommunikativen >Lebensweltebene< — darstellt. Es ist also nicht nur Alans vergangene Erfahrung in bloß noch simulierter Weise gegeben, sondern auch sein gegenwärtiges, je spontanes Verhalten gegenüber Dysart ist noch einmal in dessen übergeordneter Perspektive gebrochen und auf die vorgegebene Teleologie seines gesellschaftlichen Therapieauftrags hingeordnet. Nun ist dieses therapeutische Interesse, angesichts der schweren Verirrung Alans und des extremen Leidensdrucks, unter dem er steht, in sich durchaus sinnvoll. Und Dysart setzt denn auch alle Kompetenz und Energie, alles Verständnis und Engagement ein, um der Therapie zum Erfolg zu verhelfen. Hierin wird er von Hesther Salomon bestärkt, der Friedensrichterin, die ihm Alans Fall übertragen hat und die die einzige Person ist, mit der er sich über seine Krise austauschen kann. Doch beschränkt sich auch die Beziehung zu ihr weitgehend auf den professionellen Bereich, auf den Fortgang der Therapie und die — in Hesthers Augen ungerechtfertigten — Selbstzweifel Dysarts als Psychiater. Auf sein Bedürfnis nach tieferer, persönlicher Kommunikation, das er ihr gegenüber einmal zum Ausdruck bringt, vermag auch sie nicht einzugehen, vielmehr zieht sie sich auf ihre Arbeitsbelastung zurück ("I've got an Everest of papers to get through before bed." [62]) Wie sieht nun der Interaktionsprozeß zwischen Dysart und Alan näher aus? Zu Anfang ist er durch Alans Verdrängung des Equus-Komplexes sowie durch die Versuche Dysarts gekennzeichnet, diese Verdrängung rückgängig zu machen und Alan, gegen seinen inneren Widerstand, zur Aufarbeitung seines Komplexes zu bringen. Bei seinem ersten Auftreten ähnelt der Junge dem pubertären Nachfahren eines angry young man, der sich den normalen Verhaltens- und Kommunikationsmustern demonstrativ verweigert — eine typische Figur des New English Drama also, die wir in verschiedenen Varianten schon etwa bei Osborne, Pinter oder Wesker gesehen haben.21 Auf die Fragen des Psychiaters >antwortet< Alan — wie auf alle anderen Gesprächspartner — mit dem Singen vonTV-Commercials. Seine provokative Negationshaltung 20

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Zu diesen Begriffen vgl. Paul Watzlawick et al., Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien (Bern, 61982), pp. 68ff. Vgl. in diesem Zusammenhang Barry B. Witham, "The Anger in Equus," Modem Drama, 22 (1979), 61-66.

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ist dabei nicht ohne hintergründige Ironie: sie demonstriert nicht nur den Kommunikationsverlust, sondern zugleich dessen Gründe. Alan hält seiner Umwelt den Spiegel der Ersatzerfahrungen vor, mit denen die kommerzialisierte Welt das Leben der einzelnen überzieht: "Double your pleasure, double your fun, with Doublemint, Doublemint, Doublemint gum." (22), und reduziert sein Verhalten gleichsam auf die Bedingungen, an denen er gescheitert ist. Der leere Gestus des Protests ist indessen auch Anzeichen der Flucht vor sich selbst und vor dem Trauma von Equus, das unbewältigt in seinem Unterbewußtsein weiterwirkt. Vor den nächtlichen Alpträumen, in denen sich dies äußert (vgl. 26, 35), versucht er sich ganz in die Anonymität der ihn umgebenden Massenkultur zu retten, sich geradezu als Person in sie aufzulösen: das Singen der Commercials ist vor allem Ausdruck der Tatsache, daß er seine Freizeit außerhalb der Therapiesitzungen bis spät in die Nacht hinein mit nichts anderem als mit Fernsehen verbringt. (84) Was nun Dysarts Reaktion auf Alans Verhalten betrifft, so ist zwischen seiner professionellen und seiner privaten Reaktion zu unterscheiden. Professionell gesehen gibt er sich gelassen und unbeeindruckt, geht auf Alans Werbesongs ein, versucht so seinen Widerstand aufzuweichen. (22) Persönlich jedoch ist er von Alan irritiert, ja fasziniert — was er aber in der direkten Interaktion mit ihm natürlich gerade nicht zeigen kann. Alan bricht in Dysarts Behandlungszimmer ein wie das Elementarphänomen des Lebens selbst, mit seinem intensiven Blick ("the strangest stare I ever met" [26]) nimmt er für Dysart ähnliche Züge an wie sie Equus für Alan besaß. Schon nach ihrer ersten Begegnung hat Dysart einen Traum, der das Dilemma zeigt, in das er geraten ist: Er sieht sich als Hohepriester im homerischen Griechenland, der in einem grausamen Opferritual eine große Zahl von Kindern tötet, die alle Alans Züge tragen, wobei das medizinische Geschick, mit dem er die Eingeweide der Kinder heraustrennt, in deutlicher Parallele zu dem therapeutischen Geschick steht, mit dem er seine jugendlichen Patienten in der psychiatrischen Klinik behandelt. (24—25) — Doch nicht nur psychologisch, sondern in der Interaktion selbst wird Alan zum Anlaß für Dysart, über sich Rechenschaft zu geben. Wiederholt besteht Alan auf gleichberechtigter Kommunikation, durchbricht er die Asymmetrie des Verhältnisses von Psychiater und Patient und stellt seinerseits Dysart beunruhigende Fragen, die diesem die Defizite seines eigenen Lebens in aller Deutlichkeit bewußt machen — so wenn Alan ihn kritisch über die Beziehung zu seiner Frau ausfragt und Dysart, der sich im Nerv getroffen fühlt, daraufhin gegenüber Hesther seinen Anteil an der ehelichen Entfremdung eingesteht. (59ff.) Trotz seiner Selbstzweifel aber führt Dysart die Behandlung Alans mit aller Konsequenz fort. Sein Vorgehen nimmt dabei unvermeidlich, trotz der persönlichen Gesprächsatmosphäre, die er zu schaffen versteht, immer wieder den unpersönlichen Charakter der Institution an, die er vertritt und deren Apparat er sich bedient — in der Akte zu Beginn, in der er von vornherein Alans persönliche Daten verfügbar hat (21 f.); im Personal der Klinik, das seine Anweisungen fraglos ausführt; in den verschiedenen Methoden und Medien, die er benutzt, um Alans Widerstand zu brechen. Beispielsweise verwendet er ein Tonbandgerät, auf das Alan, ohne sich vor Dysart schämen zu müssen, seine Erinnerungen sprechen kann. Das Ergebnis ist 216

zwar ein leichteres Reden Alans über die Vergangenheit, aber doch auch ein Entfremdungseffekt — die anschließende >Begegnung< zwischen Dysart und Alan findet nicht face to face, sondern über das von Alan besprochene Tonband statt, das Dysart, Notizen machend, allein abhört. (48f.) Ein weiteres Beispiel ist die Hypnose, durch die Dysart die psychodramatische Aktualisierung von Alans Equus-Kult am Höhepunkt des 1. Akts gelingt: wieder erscheint ihre Anwendung durch den Erfolg gerechtfertigt, und doch steht sie andererseits in ihrer unpersönlichen Mechanik in scharfem Widerspruch zum vitalen Charakter der erinnerten Erfahrung: ALAN nods. DYSART taps his pen on the wooden rail. ALAN shuts his eyes. DYSART taps again. ALAN opens them. The taps are evenly spaced. After four of them the sound cuts out, and is replaced by a louder, metallic sound, on tape. DYSART talks through this, to the audience — the light changes to cold - while the hoy sits in front of htm, staring at the wall, opening and shutting his eyes. (64—65)

Es ist nun interessant zu sehen, welche Entwicklung Alan in dieser Behandlung durchmacht. Während er zunächst den Anweisungen Dysarts nur widerwillig und unter Druck nachkommt, schwenkt er im weiteren Verlauf immer mehr auf dessen Methoden ein, bis er am Schluß selbst die Anwendung einer — freilich nur eingebildeten — »Wahrheitsdroge« vorschlägt, die ihm die endgültige Abreaktion seines EquusTraumas ermöglicht. Es vollzieht sich geradezu eine Wandlung Alans von der Opposition zur Identifikation mit Dysart, in dem er eine Art zweite Vaterfigur und einen Weg sucht, seiner Verwirrung zu entfliehen. (83) Die Entwicklung der beiden Protagonisten verläuft also umgekehrt: Während Dysart sich innerlich zunehmend von seinem Tun distanziert, nähert Alan sich diesem zunehmend an. Und während Alan sich fortschreitend aus seiner Identifikation mit Equus löst, nähert Dysart sich immer stärker, ja bis zur eigenen Identifikation, an Equus an — vgl. den Schluß des Dramas: "There is now, in my mouth, this sharp chain. And it never comes out. [A long pause. D Y S A R T sits staring.]" ( 1 0 9 ) 2 2 Im Unterschied zu Alan aber, der diesen Konflikt weitgehend unbewußt durchlebt, wird er für Dysart zum Bestandteil seines Bewußtseins. Sein Dilemma ist am Ende auf die Spitze getrieben. Indem er Alans Therapie mit letzter Anstrengung zum Erfolg führt, zerstört er endgültig die persönliche Gegenwelt, die Alan sich mit Equus geschaffen hat. Er befreit ihn zwar von seinem Leiden, beraubt ihn aber damit zugleich seiner individuellen Persönlichkeit. Dysart zeichnet in seinem Schlußmonolog, den er voll zynisch-verzweifelter Selbstanklage ins Publikum spricht, die Zukunft des >normal< gewordenen Alan als satirische Vision einer abstrakten Gesellschaft, in der die symbolischen Überreste einer selbstbestimmten, organisch-konkreten Erfahrungswelt, für die Alans Equus-Mythos stand, vollständig im rationalisierten Verwertungszusammenhang einer anorganischen Konsum- und Ersatzwelt aufgegangen sind: [He steps out of the square and walks round the upstage end of it, storming at the audience.] I'll heal the rash on his body. I'll erase the welts cut into his mind by flying manes. When that's done, I'll set him on a nice mini-scooter and send him puttering off into the Normal 22

In dieser symmetrischen Gegenläufigkeit des Interaktionsverlaufs liegt eine weitere Parallele zu Amadeus — vgl. Huber/Zapf, " O n the Structure of Shaffer's Amadeus," 308.

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world where animals are treated properly, made extinct, or put into servitude, or tethered all their lives in dim light, just to feed it! I'll give him the good Normal world where we're tethered beside them - blinking our nights away in a non-stop drench of cathode-ray over our shrivelling heads! I'll take away his Field of Ha Ha, and give him Normal places for his ecstasy — multi-lane highways driven through the guts of cities, extinguishing Place altogether, even the idea of Placel He'll trot on his metal pony tamely through the concrete evening — and one thing I promise you: he will never touch hide again! With any luck his private parts will come to feel as plastic to him as the products of the factory to which he will almost certainly be sent. Who knows? He may even come to find sex funny. Smirky funny. Bit of grunt funny. Trampled and furtive and entirely in control. Hopefully, he'll feel nothing at his fork but Approved Flesh. I doubt, however, with much passion!... Passion, you see, can be destroyed by a doctor. It cannot be created. (108) Indem aber Dysart in seinem Handeln zum unfreiwilligen Agens jener abstrakten Gesellschaft wird, die er in seinen Reflexionen so fundamental kritisiert, ist sein innerer Widerspruch am Schluß vollkommen, und er verleiht ihm in der Radikalität seiner Wahrheitssuche, der Intensität seines Leidens, und der moralischen Unaufhebbarkeit seines inneren Konflikts geradezu tragische Züge in einer Welt, die im Begriff ist, den Sinn f ü r menschliches Leiden und damit die Grundlagen des Tragischen selbst abzuschaffen. 2 3

7.5. Zusammenfassung Wie bei den anderen hier diskutierten Autoren des New English Drama zeigt also auch eine Analyse von Peter Shaffers Equus, daß das gemeinsame kulturkritische Paradigma, das in dieser Arbeit herausgearbeitet wurde, nicht nur die Rolle einer globalen Hintergrundsannahme hat, sondern bis in die explizite Textebene hinein als bestimmende G r ö ß e der Bedeutungskonstitution des Dramas aufweisbar ist. Und auch hier w u r d e deutlich, daß dieser Problemansatz, der von Shaffer aus einem spezifischen, stark subjektiv-psychologisch eingefärbten Blickwinkel gestaltet wird, sich in maßgeblicher Weise in seiner dramatischen Methode niederschlägt. Dies gilt vor allem f ü r den episch-analytischen Grundaufbau, f ü r die hermeneutische Verstehensstruktur des rekonstruierenden Nachvollzugs der Equus-Geschichte, die die Thematik der modernen Subjektivität u n d ihres gebrochenen Erfahrungsbezugs unmittelbar in der Form des Dramas spiegeln. Es gilt aber auch f ü r die Anlage des Grundkonflikts konkreter Mensch vs. abstrakte Gesellschaft selbst, der hier auf beiden Ebenen des Dramas wirksam ist: auf der primären Ebene von Alans Equus-Mythos, den er als konkretes Gegenmodell sinnhafter subjektiver Erfahrung entwickelt, der sich aber durch seine illusionäre Abspaltung von jeder InterSubjektivität am Ende selbst zerstört; u n d auf der sekundären Ebene von Dysarts Reflexion, in der er sich seinerseits diesem M y t h o s annähert, die jedoch folgenlos für die Handlungswelt der abstrakten Gesellschaft bleibt, der er selbst an maßgeblicher Stelle zugehört. Rückt also Shaffer durch dieses in sich widerspruchsvolle und letztlich selbstaufhebende Dramenmodell 23

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Zum Problem der Tragik in Equus vgl. Klein, op. cit., pp. 135f. und Neil Timm, "Equus as a Modern Tragedy," West Virginia University Papers, 25 (1979), 128-34.

in eine größere Nähe zu einer Reihe anderer Autoren des New English Drama, von denen er sich auf den ersten Blick beträchtlich unterscheidet, so tritt andererseits durch den spezifischen Schwerpunkt, den er setzt, und durch die formalen Mittel, in denen sich dieser niederschlägt, deutlich die individuelle Signatur seiner Werke hervor. Hierzu gehört auch, daß der vielfach vermittelte und gebrochene Grundkonflikt zwischen abstrakten und konkreten Kräften, intellektuellen und emotionalen Bewußtseinsschichten, der die thematische Grundspannung von Equus abgibt, auch in rezeptionspsychologischer Hinsicht eine besondere Zuspitzung erfährt und durch den Einsatz verschiedener Dramentechniken und Bühneneffekte wirkungsvoll verstärkt wird. Dem mehrdimensionalen Akt der >EquusChor< der Pferde, der den mit der jeweiligen Stimmung wechselnden Equus Noise erzeugt, Ähnlichkeiten zum japanischen No-Theater aufweist und das ferner in der bewußt die Sinne und Emotionen ansprechenden, archetypische Bewußtseinsschichten mobilisierenden Surrealität einiger Szenen an Antonin Artauds Theaterkonzeption erinnert. 24 Versucht Shaffer somit in der Kommunikation mit dem Zuschauer dem Erfahrungsverlust entgegenzuwirken, den er in seinem Stück als zentrales Defizit unserer Zeit diagnostiziert, so ist doch, wie gesehen, die epische Gebrochenheit seines Themas ein unaufhebbarer Bestandteil seiner dramatischen Methode, d.h. die vermittelte Erfahrung wird stets zugleich als Meta-Erfahrung, die Kommunikation zugleich als Meta-Kommunikation bewußt gehalten. 25 Die dargestellte Wirklichkeit erscheint stets gleichsam nur in Anführungszeichen, unter der transparenten Prämisse des AisOb. Die Kommunikation zwischen Bühne und Publikum bleibt damit, durch die sinnliche Konkretisierung der Theatererfahrung hindurch, auf die abstrakte gesellschaftliche Umwelt bezogen, in der sie sich konstituiert. Es ist wohl vor allem diese ebenso wirkungsvolle wie vielschichtige Dramatisierung von gebrochener Erfahrung

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Der Einfluß Artauds auf Shaffer zeigt sich noch unmittelbarer in The Royal Hunt of the Sun, das Bettina L. Knapp als "a virtual transposition of Artaud's metaphysical drama The Conquest of Mexico" bezeichnet: Antonin Artaud: Man of Vision (New York, 1969), p. 202. Wenn also Una Chaudhuri, "The Spectator in Drama," Equus als Beispiel für eine Bewegung des modernen Dramas weg vom Intellektualismus sieht, "or, more precisely, through and beyond intellectualism, towards experience" (296), so ist dies im Prinzip zutreffend, ist jedoch dahingehend zu modifizieren, daß die so vermittelte Erfahrung des Zuschauers stets auf ihren impliziten Reflexionscharakter bezogen bleibt.

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und Meta-Kommunikation als typischen Lebens- und Ausdrucksformen des heutigen Menschen, die Shaffers spezifischen Beitrag zum modernen englischen Drama ausmacht.

7.6. Ein Blick auf andere Werke Shaffers Vergleich man Equus mit anderen Dramen Shaffers, so zeigen sich trotz der Verschiedenartigkeit der Themen und Formen einige übergreifende Parallelen in der Grundkonzeption. Dies gilt etwa für The Royal Hunt of the Sun (1964), in dem bereits die Merkmale des charakteristischen Shaffer-Stückes vorgeprägt sind: die episierende Kompositionsweise, die 2-Akt-Struktur mit einem Höhepunkt am Ende des jeweiligen Akts, der multimediale Einsatz der theatralischen Mittel, die Konzentration der Thematik auf die Auseinandersetzung zweier repräsentativer, wie alter egos aufeinander bezogener Protagonisten. Das Drama geht weit in die Geschichte zurück, es handelt von der Expedition Pizarros nach Peru in den Jahren 1529—33. Das Geschehen baut zwar auf historischen Quellen auf, gewinnt jedoch durch Shaffers Gestaltungsweise symbolische Allgemeinheit und Aktualität. Im Mittelpunkt steht letztlich nicht die Suche Pizarros nach dem sagenhaften Gold der Inkas — die allerdings das Hauptmotiv seiner Begleiter ist —, sondern die Begegnung des weißen Eroberers mit dem Inka-König Atahuallpa. Die beiden sind Vertreter zweier grundverschiedener Kulturwelten — der sich ausbildenden europäisch-materialistischen Gesellschaft der Neuzeit, die nur noch dem Namen nach eine christliche ist, und der in einer mythischen Naturreligion verankerten, dem Common Human Pattern-Muster nahestehenden Kultur der Inkas. Die faktische Überlegenheit der weißen Zivilisation durch die skrupellos-zweckrationale, durch keine inneren Wertbindungen gebremste Verfolgung ihrer Interessen — die moralisch gesehen im Massaker an Tausenden in einen Hinterhalt gelockten Indianern, ästhetisch gesehen im Einschmelzen der unschätzbaren Kunstwerke der Inka-Kultur zu gleichförmigen Goldbarren ihre verheerende Konsequenz zeigt —, ist verbunden mit einer abgründigen Desillusionierung, die von ihr auch auf diejenigen ausgeht, die ihr angehören. Dies zeigt sich in Pizarros kaltem Zynismus zu Anfang des Stücks, und es wiederholt sich noch einmal im epischen Rahmen in der Erzählerfigur seines Pagen Martin Ruiz, der die Geschehnisse im Rückblick dem Zuschauer vermittelt und dabei unverkennbar seine Enttäuschung über das rücksichtslose Vorgehen des einst glühend verehrten Eroberers einfließen läßt. Pizarro selbst aber macht in der Begegnung mit Atahuallpa — ähnlich wie Dysart in der Beziehung zu Alan — eine Entwicklung durch, die für ihn eine lebensentscheidende Wende herbeiführt. Er sieht den gefangenen Inka bald nicht mehr als auszuschaltenden Gegner, sondern entdeckt in seiner inneren Zuversicht und seinem trotz der aussichtslosen Lage unerschütterlichen Lebensglauben eine faszinierende Alternative zur desillusionierten Todesbesessenheit seines eigenen Bewußtseins. Zwar bleibt er auch in der sich entwickelnden persönlichen Freundschaft zu Atahuallpa an 220

die Gesetze der einmal in Gang gesetzten Handlungskette gebunden, die er mit seiner Expedition ausgelöst hat, und muß am Ende gegen seinen Willen und unter dem Bruch seines gegebenen Worts den Inka töten. Seine, wie Dysarts, Tragik liegt also darin, daß er zerstören muß, was für ihn die einzig sinnvolle Erfahrung seines Lebens bedeutet, anders gesagt, daß sein persönliches Empfinden im völligen Widerspruch zu den Gesetzen gesellschaftlichen Handelns steht, denen er unterworfen ist. Doch in der Freundschaft zu Atahuallpa entsteht immerhin kurzzeitig die Utopie konkreter menschlicher Kommunikation im Drama, die durch das Heraustreten der beiden Protagonisten aus ihren kulturspezifischen Vor-Urteilen ermöglicht wird und die trotz ihres schließlichen Scheiterns ein Zeichen der Humanität in einer inhumanen Welt setzt. Von den stärker der Komödie zugehörenden Stücken Shaffers sei hier Black Comedy (1965) kurz diskutiert. Das Stück arbeitet mit einem originellen Effekt, nämlich mit der Vertauschung von Licht und Dunkel im Verhältnis zwischen Bühne und Publikum: ist es in der fiktiven Welt des Dramas dunkel, so ist es für den Zuschauer hell und umgekehrt. Für den Zuschauer ist damit die Normalwelt auf den Kopf gestellt, denn durch das ebenso unkontrollierte wie unbefangene Verhalten der Figuren in der vermeintlichen Dunkelheit, in der sie jedoch für das Publikum sichtbar sind, wird die tiefere Realität ihrer Beziehungen >ans Licht< gebracht, die deren gewohnte Alltagsbeleuchtung verbirgt. Ähnlich wie in Pinters Birthday Party ist es ein Blackout der Elektrizität, der die Teilnehmer an einer von dem jungen Künstler Brindsley veranstalteten Abendparty die meiste Zeit im Dunkel tappen läßt und der in farcenhafter Überzeichnung — die Figuren stolpern gegen- und übereinander, verfangen sich in Telefonschnüren und Leitungskabeln — ihre Abhängigkeit von der Welt ihrer Objekte deutlich macht. In den abenteuerlichen Wirren des Geschehens werden die Pläne, die Brindsley mit der Einladung zur Party verbunden hatte — nämlich einflußreiche Mäzene für seine künstlerische Karriere zu gewinnen und, in der gleichen Absicht, eine reiche Offizierstochter zu heiraten —, zunichte. Das entstandene Chaos eröffnet aber immerhin auch eine produktive Chance: es gibt Clea, Brindsleys tatkräftig-emanzipierter Freundin, die Möglichkeit, diesem seinen Irrweg in die mit Entmündigung erkaufte Künstlerkarriere bewußt zu machen und ihn, gemeinsam mit ihr, zu einer selbstbestimmten Existenz zurückzuführen. Übergriffen aber wird auch dieser private Lösungsansatz von der >höheren Wirklichkeit des technisch-bürokratischen Zivilisationsapparats, von dem das Leben der Figuren beherrscht wird. Schuppanzigh, der Mann von der Electricity Board, der am Schluß wie ein deus ex machina erscheint und, indem er den Schaden repariert, das entstandene Chaos auflöst und die Normalität wiederherstellt, wird ironisch mit einer gottgleichen Allmacht ausgestattet, das Einschalten des Lichts wird als satirische Parodie der Welterschaffung inszeniert: SCHUPPANZIGH : So! There's now an end to your troubles! Like Jehovah in the Sacred Testament, I give you the most miraculous gift of the Creation! Light! ... [Clapping his hands] Attend all of you. God said: 'Let there be light!' And there was, good people, suddenly! — astoundingly! — instantaneously - inconceivably — inexhaustibly — inextinguishably and eternally - LIGHT! 2 6 26

Peter Shaffer, Black Comedy, in Four Plays (Harmondsworth: Penguin, 1981), p.206.

221

Die Pointe aber ist, daß nun für den Zuschauer das Licht ausgeht·, die Blindheit gegenüber der gesellschaftlichen Normalwelt, die in der verkehrten Welt des Stücks suspendiert war, setzt nun gleichsam wieder ein. In der hier implizierten Ersetzung des früheren Gottes durch die sich selbst vergötzende, ihre eigene Blindheit feiernde technische Superstruktur der modernen Welt liegt ein deutlich provokativer, unmittelbar an den Zuschauer gerichteter Schlußakzent dieser brillanten und beziehungsreichen >schwarzen KomödiekomponiertAmadeusSieg< über Mozart nur ein äußerlicher ist, daß seine eigenen Kompositionen, in die er allen Ehrgeiz seines Lebens gesteckt hat, in den künstlichen Formeln und Konventionen seiner Zeit erstarrt sind, während Mozarts Musik unvergänglich fortleben wird, gerade weil ihre schöpferische Kraft in einem dezidiert realitätsbewußten, auf Emotionen und vitale Humanität gegründeten Prinzip wurzelt. Shaffer läßt Mozart dieses Prinzip explizit aussprechen, als ihm von den Hofbeamten anläßlich der Uraufführung der Hochzeit des Figaro eine politisch verdächtige und sozial wie erotisch geschmacklose Themenstellung vorgeworfen wird. MOZART: . . . I want to do a piece about real people, Baron! And I want to set it in a real place! A boudoirl . . . Look at us! Four gaping mouths. What a perfect quartet! I'd love to write it — just this second of time, this now, as you are! ... That's why opera is important, Baron. Because it's realerthan any play! A dramatic poet would have to put all those thoughts down one after another to represent this second of time. The composer can put them all down at once — and still make us hear each one of them. . . . That's our job! That's our job, we composers: to combine the inner minds of him and him and him, and her and her — the thoughts of chambermaids and Court composers — and turn the audience into God. 3 0

Indem es Shaffer in Amadeus versteht, den Geist dieser Musik und ihre Verankerung in der lebendigen Persönlichkeit ihres Schöpfers im Medium des Dramas zu aktualisieren und auf den verschiedensten Ebenen für den heutigen Zuschauer in neuer Weise bedeutsam zu machen, schlägt er sozusagen die Brücke zurück von der falschen, rein ästhetischen Verselbständigung der Mozartschen Musik — die über lange Zeit deren Rezeptionsgeschichte kennzeichnete — zur konkreten Wirklichkeit menschlicher Existenz, auf die sie allererst bezogen ist. In dieser komplexen Selbstvermittlung seines Dramas mit dem Geist von Mozarts Musik, und in der wirkungsvol-

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Großbritannien«, in Studien zur Ästhetik des Gegenwartstheaters·, ed. Ch.W. Thomsen, p p . 2 0 9 - 2 2 4 , hervorhebt, doch meine ich, daß das Stück als ganzes doch ein positives, auf den Zusammenhang von vitalem Lebensprinzip und künstlerischer Kreativität gegründetes Mozart-Bild entwirft. — Andererseits ist jedoch Bergers Versuch, über den Vergleich dreier Stücke von Bond (Bingo), Stoppard (Travesties) und Shaffer (Amadeus) Gemeinsamkeiten in der Theater- und Dramenästhetik dieser Autoren aufzusuchen, interessant. Berger nähert sich dieser Aufgabe sozusagen von einer anderen Seite als ich: während die vorliegende Arbeit von einem neuartigen Gesellschaftsbezug der Werke ausgeht und dessen Implikationen f ü r die Dramenästhetik untersucht, geht Berger von einem neuartigen Selbstverständnis der Autoren im Verhältnis zu ihrer Kunst aus und kommt von daher zur Hypothese einer >postmodernen< Dramenästhetik, in welcher die Dekonstruktion überlieferter Sinn- und Fiktionsmodelle, die Etablierung von Metatheater und dramatischer Selbstreflexivität, die wachsende Bedeutung des »Spielerischen, evident am Einsatz von Farce, Karikatur, Parodie« (p.222) charakteristisch sind. Wie wir gesehen haben, werden ähnliche Tendenzen, wenn auch mit anderer Akzentuierung und in anderem Kontext, auch in der hier angelegten kulturkritischen Perspektive greifbar. Peter Shaffer, Amadeus (Harmondsworth: Penguin, 1981), pp. 68 - 70.

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len Integration des Stücks zu einem zeitgenössischen >Gesamtkunstwerk< macht Peter Shaffer sich ganz dezidiert jenen Auftrag und jene Möglichkeit der Kunst zu eigen, wie sie sich in verschiedener Weise an allen in dieser Arbeit behandelten englischen Dramatikern zeigten: die drohende Entwirklichung und Dehumanisierung des Menschen in einer abstrakten Gesellschaft radikal aufzudecken und ihr zugleich mit den ganzheitlichen Mitteln der Ästhetik entgegenzuwirken.

224

8. Die Rolle der abstrakten Gesellschaft bei anderen Autoren des englischen Gegenwartsdramas

Um n u n die Geltung des in dieser Arbeit aufgestellten Dramenmodells über die ausführlich behandelten Autoren hinaus aufzuzeigen, sei im folgenden auf einige andere, vor allem auf jüngere Dramatiker eingegangen und so der Bogen von 1956 bis zur Gegenwart gespannt. Damit soll, wie eingangs schon gesagt, nicht behauptet werden, in den 70er u n d 80er Jahren habe sich nichts gegenüber der ersten Generation des N e u e n Englischen Dramas verändert. Zum einen sind, was den Gesellschaftsbezug anbelangt, die Stücke im Zuge der Politisierung des Theaters in ihrer Thematik und ihrem gedanklichen Zugang deutlich konkreter u n d realitätsnäher geworden — was f ü r die vom Sozialismus beeinflußten Autoren ebenso gilt wie für die neuerdings immer stärker u n d erfolgreicher hervortretenden Exponentinnen eines feministischen Theaters«. Z u m anderen haben sich bestimmte Stile, Techniken und Kompositionsmuster gewissermaßen von ihren einstigen Realitätsbezügen gelöst u n d sind zum verfügbaren Repertoire eines eher komödienhaft-spielerischen, wieder stärker seinen Unterhaltungscharakter betonenden (Meta-)Theaters geworden. Dennoch möchte ich im folgenden zeigen, daß die hier in den Mittelpunkt gestellte Problemstruktur der 'abstract society' in vielen dieser Stücke weiterhin wirksam ist, auch wenn sie vielleicht nicht immer die zentrale und strukturbestimmende Rolle spielt wie bei den im Hauptteil der Arbeit behandelten Dramatikern. Es ist hier nicht möglich, einen repräsentativen Uberblick über die aktuelle Dramenproduktion in England zu geben, 1 doch sollen zumindest einige wichtigere Vert r e t e r i n n e n ) und Beispielstücke aus den 70er und 80er Jahren im Hinblick auf unsere Fragestellung kurz beleuchtet werden. Will man innerhalb der zweiten und dritten Welle des N e u e n Englischen Dramas eine grobe Einteilung versuchen, so läßt sich diese im Sinn des oben Ausgeführten zwischen der politischen Dramatik auf der einen Seite — die wohl im ganzen gesehen auch die dominierende Richtung darstellt 2 — und zwischen dem, was eine Ästhetik des Spiels und des >postmodernen Dramas« 3 genannt wurde, auf der anderen Seite vornehmen. Es sei zunächst auf die erste G r u p p e eingegangen, zu der auch das feministische Theater gerechnet wird. 4 1

2

3

4

Vgl. hierzu den Sonderband »Englisches Drama seit 1980« von Englisch Amerikanische Studien, 3/4 (Dez., 1986), der mehrere Überblicksaufsätze über das Drama der 80er Jahre enthält. Vgl. hierzu etwa John Bull, New Political Dramatists: Howard Brenton, David Hare, Trevor Griffiths and David Edgar (London, 1984). Rodney Simard, Postmodern Drama. — Vgl hierzu auch Dieter A. Berger, »Ästhetik des Spiels im zeitgenössischen britischen Drama«, Gastvortrag im Sommersemester 1986 in Paderborn. Ähnliche Aspekte kommen in seinem o.g. Aufsatz zu »Künstlerdethronisierung als dramatisches Prinzip« zur Sprache. Vgl. hierzu etwa Helene Keyssar, Feminist Theatre: An Introduction to Plays of Contemporary British and American Women (London, 1984) und Elizabeth J. Natalie, Feminist The225

8.1. Politisches Theater 8.1.1. Trevor Griffiths Einer der profiliertesten Vertreter des politischen Theaters in England, der in den 70er Jahren hervortrat, ist Trevor Griffiths. Seine Karriere begann 1971 mit Occupations, das die Besetzung norditalienischer Fabriken durch Arbeiter im Gefolge der Russischen Revolution darstellt. Es folgte Sam Sam (1972), ein von Charles Marowitz am "Open Space" in London inszeniertes Stück über Arbeitermilieu und Industriegesellschaft und über die Fragwürdigkeit eines mechanistischen Fortschrittsglaubens. Am bekanntesten ist wohl Comedians (1975), in dem Griffiths am Beispiel typischer Ausbildungs- und Karrieremuster von Berufskomikern in England eine Ortsbestimmung der Komik allgemein in der Gegenwart vornimmt.5 Der durch die Medien verbreiteten und von den Agenten geförderten Klamauk-Komik, die von unterschwelliger Aggression und von der Reproduktion gesellschaftlicher Vorurteile lebt, wird dabei die Idee einer humanistisch-aufklärerischen Komik entgegengesetzt, die allerdings in der realitätsbewußten Umsetzung in der Gegenwart ins Problematisch-Groteske umzuschlagen, also ihre Komik zu verlieren droht. Dies führt auf drastische Weise der talentierte Nachwuchskandidat Price vor Augen, wenn er die Interaktion mit Menschen durch die Interaktion mit Puppen ersetzt,6 die wiederum eine ironische Objektivierung des Publikums auf der Bühne sind. Explizit politisch orientiert ist The Party (1973), das hier etwas näher betrachtet werden soll. Es geht um die Reaktion der linken Intelligenz Englands auf die Pariser Studentenrevolte von 1968. Sympathisanten der Szene haben sich im Haus des Fernsehproduzenten Joe Shawcross versammelt, um über das richtige Verhalten angesichts der entstandenen revolutionären Situation zu diskutieren. Der direkte politische Bezug ist jedoch von vornherein darstellungsmäßig gebrochen: das Stück wird mit einer Groucho Marx-Nummer als Prolog eröffnet, in der die Thematik in Form des Entertainments eingeführt wird — womit Griffiths nicht nur an das von Osbornes The Entertainer vorgegebene Muster anknüpft, sondern auch den Ansatz seines eigenen Comedians vorwegnimmt. Joe Shawcross, der Gastgeber des Abends, ist selbst an prominenter Stelle im Showbusineß tätig und, wie sich am Schluß des Stückes zeigt, gerade im Begriff, eine eigene Firma aufzumachen. Da auch die meisten anderen Teilnehmer in ähnlichen Berufen tätig und gutsituiert sind, nehmen die Versammlung und das sozialistische Engagement, das ihr dem Anspruch nach zugrundeliegt, selbst den Charakter der Show, des bloßen Gesellschaftsspiels an.

5

6

226

atre: Α Study in Perspective (Metuchen, N.J., 1985). — In diesem Zusammenhang relevant sind ferner die beiden Bücher von Michelene Wandor, Carry on. Understudies. Theatre and Sexual Politics (London, 1986), und Look Back in Gender. The FamUy and Sexuality in PostWar British Drama (London, 1986). Eine differenzierte Deutung dieses Stücks gibt Manfred Pfister, "Trevor Griffiths: Comedians," in Englisches Drama von Beckett bis Bond, pp.313-332. Trevor Griffiths, Comedians (London: Faber and Faber, 1979), pp.49ff.

Griffiths macht sich hier die Doppelbedeutung von "Party" zunutze — einmal eines gesellschaftlichen Unterhaltungsabends, und einmal einer politischen Organisation. Deren Repräsentant im Stück ist der leitende Funktionär der trotzkistischen "Revolutionary Socialist Party" Englands, John Tagg. Er vertritt in der Diskussion sozusagen die politische Praxis, während der Soziologieprofessor Andrew Ford die Theorie verkörpert. Beide legen in langen Monologen ihre Standpunkte dar: Ford die spätkapitalistische Entfremdungstheorie Marcuses, u n d Tagg die Lehre Trotzkis von der permanenten Revolution. D e r Widerspruch wird noch verschärft dadurch, daß man wie selbstverständlich vom Luxus der Bourgoisie umgeben ist, während gleichzeitig der Fernsehapparat läuft u n d die Bilder von der sich zuspitzenden K o n f r o n t a tion zwischen Studenten und der Polizei in Paris übermittelt. Die >Abstraktheit< des Wirklichkeitsbezugs der Charaktere, die hier t r o t z ihres politischen Engagements deutlich wird, zeigt sich ebensosehr auch in ihrem Verhältnis untereinander. Das menschliche Chaos, das unter der Oberfläche des ideologischen Anspruchs herrscht, und die Beziehungslosigkeit der Party-Teilnehmer untereinander, die durch deren Einbindung in ihre je verschiedenen Jobs und Karriereinteressen bedingt ist, gilt in besonderem M a ß auch für Joe Shawcross' eigene Familie. Seine Kommunikation mit seiner Frau Angie ist ebenso abgebrochen wie die mit seiner Mutter u n d seinem kleinen Sohn Charlie, der eher als Störfaktor e m p f u n d e n u n d von einem O r t z u m anderen verfrachtet wird. Und der alkoholsüchtige Schriftsteller Sloman, der als eine Mischung aus Hausfreund und Schmarotzer bei Shawcross lebt und von dem dieser in Kürze ein neu zu produzierendes Theaterskript erwartet, zeigt in seinem degenerierten, chaotischen, alle sozialen Umgangsformen negierenden Verhalten die dehumanisierte Kehrseite der Gesellschafts->Party< auf, den menschlichen Abgrund, über dem sie ihre optimistische Fortschrittsideologie zelebriert. D u r c h diese fast >absurd< konzipierte Schriftstellerfigur, die wohl als verzerrte Personifizierung des Dramatikers Griffiths selbst gesehen werden kann, wird jede didaktisch-unmittelbare Form der Dramatik ebenso unterlaufen wie durch die Inkonsequenz und das Leerlaufen der H a n d l u n g . Wenn Griffiths also zweifellos mit der politischen Linken sympathisiert, so scheut er doch in seinen Stücken nicht vor einer radikalen Problematisierung ihrer Theorien u n d Handlungsansätze im größeren Kontext einer abstrakten Gesellschaft zurück.

8.1.2. Caryl Churchill In die Kategorie politischer Dramatik gehört auch Caryl Churchill, die neben Louise Page u n d Pam Gems zugleich eine der bekanntesten und erfolgreichsten Vertreterinnen eines feministischen Theaters in England ist, 7 deren Werk aber auch von sozialistischen Ideen beeinflußt ist. Diese kommen etwa in Light Shining in Buckingham7

Vgl. z.B. Helene Keyssar, "Hauntings: Gender and Drama in Contemporary English Theatre," Englisch Amerikanische Studien, 3/4 (Dez., 1986), 449-68. - Zur Interpretation von Top Girls vgl. Joseph Marohl, "De-realized Women: Performance and Identity in Top Girls," Modern Drama, 3 (Sept. 1987), 376-88. 227

shire (1976) z u m Ausdruck, während das feministische Thema besonders in Vinegar Tom (1976) formuliert wird, wo am Beispiel der Hexenverfolgungen in drastischer Uberzeichnung die fortbestehende Diskriminierung der Frau dargestellt ist. Dennoch ist auch hier die Gestaltungsweise weit komplexer und formal vielgestaltiger, als es eine plakative Charakterisierung des Inhalts ausdrücken könnte. Darüber hinaus wirkt auch in Churchills Dramatik unübersehbar jene eigentümliche Logik selbstentfremdeten Handelns, jene Paralyse zwischenmenschlicher Interaktionen hinein, die die Präsenz der abstrakten Gesellschaft in ihrem Werk anzeigen. Dies sei exemplarisch an einem ihrer wichtigsten neueren Stücke herausgestellt, an Top Girls (1982). Im ersten Akt treten hier in einer längeren, sehr wirkungsvollen Szene repräsentative Frauenfiguren aus den verschiedensten Epochen und Kulturen auf, die von ihrer modernen, emanzipierten Nachfahrin Marlene als Gäste in ein Restaurant geladen sind — die Päpstin Johanna, eine japanische Kurtisane und spätere Nonne, die treue Griselda aus Chaucers Canterbury Tales, die tolle Gret aus dem gleichnamigen Bild von Pieter Brueghel d.A. und eine reiselustige Viktorianerin. Diese >Top Girls< der Kulturgeschichte tauschen dabei weniger ihre Erfahrungen aus als daß jede von ihnen aus ihrem eigenen Horizont heraus über ihr Leben berichtet. Die Verständigung erweist sich als schwierig, insbesondere erscheint die Kluft zwischen der rigiden Rollendefinition der Frau in traditionellen Kulturen und dem emanzipierten Selbstverständnis der Frau in der modernen Welt unüberbrückbar, wie es die Hauptfigur Marlene personifiziert — zumal sich diese historischen Figuren, vor allem Griselda und Lady Nijo, trotz des für ein heutiges Verständnis äußerst repressiven Charakters ihrer Rollen ungebrochen mit ihnen identifizieren. Werden also in dieser ersten Szene das Schicksal und die Rolle der Frau in der Vergangenheit als abschreckend gezeichnet und der >moderne< Bewußtseinszustand Marlenes positiv dagegen abgehoben, so setzt in Akt 1, Sz.2 eine Gegenbewegung ein. Gezeigt wird die Berufswelt Marlenes, eine Agentur für die Vermittlung weiblicher Arbeitskräfte. Der Kontrast zu den vorher berichteten Erfahrungen könnte nicht größer sein, und es ist exakt der Gegensatz zwischen konkreten und abstrakten Erfahrungen, der hier innerhalb des I. Akts eine grundlegende Transformation der Gesellschaft signalisiert. Unabhängig von jeder Wertung läßt sich die Differenz der beiden Szenen in diesem Sinn beschreiben: Statt der realen, und oft genug brutalen, Erlebnisse der historischen Frauengestalten finden hier Interviews mit heutigen Frauen statt, die neue Arbeitsplätze suchen, mehr Verdienst wollen, differenzierte Funktionen innerhalb der arbeitsteiligen Gesellschaft übernehmen. Marlene ist soeben zur Direktorin des Agenturbüros aufgestiegen, und sie verkörpert in gewissem Sinn den Typus des weiblichen Yuppie, dessen Persönlichkeit ganz auf die Gesetze der eigenen Karriere in dieser Arbeitswelt aufgebaut ist. Scheinbar beziehungslos wird der Büroszene eine ländliche Welt mit spielenden Kindern gegenübergestellt (Akt 1, Sz.3), das Haus von Marlenes Schwester Joyce, die zugunsten der Kindererziehung und der Betreuung der alten Eltern auf eine Karriere verzichtet hat. Doch wie sich sofort zeigt, ist auch diese scheinbare Gegenwelt korrumpiert und zutiefst entfremdet: die Kinder spielen im Gerümpel, sie reden, teils in vulgärer Erwachsenensprache, über Sex- und Gewaltfilme, sie fühlen sich überflüssig 228

und abgeschoben, insbesondere ist die 16jährige Angie voll von dumpfen, bis zu Tötungsphantasien gehenden Aggressionen gegen ihre Mutter.8 Erst nachträglich wird dem Zuschauer die innere Verbindung zwischen den Szenen klar — als sich nämlich herausstellt, daß Angie in Wahrheit nicht die Tochter von Joyce ist, sondern ihrer vermeintlichen Tante Marlene, die sie einst, um Karriere machen zu können, ihrer Schwester zur Erziehung übergab. Angie aber weiß hiervon bis zum Schluß nichts, und die Verwirrung und krisenhafte Orientierungslosigkeit ihres Bewußtseins erklären sich aus diesem Täuschungszusammenhang, von dem ihr persönliches Leben geprägt ist. Die scheinbar überlegene und kulturell >fortgeschrittene< Welt der Gegenwart entfaltet hier ihren eigenen, subtileren Schrecken, der sich von einer äußeren, physischen auf eine innere, psychologische Ebene verlagert hat. Die zentrale Rolle der abstrakten Gesellschaft in dieser unsichtbar gewordenen Deformation des Menschen wird in Top Girls vor allem am traumatischen Realitätsverlust der MutterTochter-Beziehung demonstriert und in der Interaktionsstruktur des zweiten Akts dramatisch umgesetzt. Angie reißt von ihrem — vermeintlichen — >Zuhause< aus und besucht ihre — vermeintliche — >Tante< Marlene, die sie aufgrund ihres weltläufigen, selbstbewußten Auftretens vergöttert, in deren Londoner Agenturbüro. Die Irrealität der Beziehung der beiden wird an ihrer Begegnung offensichtlich — Marlene erkennt ihre eigene Tochter, die sie nur alle paar Jahre sieht, zunächst nicht: Main office MARLENE and ANGIE

ANGIE.

arrives.

ANGIE.

Hello.

MARLENE. Have you an appointment? ANGIE.

It's me. I've c o m e .

MARLENE. What? It's not Angie? ANGIE. It was hard to find this place. I got lost. MARLENE. HOW did you get past the receptionist? The girl on the desk, didn't she try to stop you? ANGIE. What desk? MARLENE.

Nevermind.

ANGIE.

I just walked in. I was looking for you. (53)

Der Weg Angies zu ihrer Mutter führt in die anonyme Zwischenwelt des Büros, die die beiden gerade voneinander trennt. Marlene hat keine Zeit und ist weder willens noch in der Lage, auf ihre Tochter einzugehen. Statt einer Begegnung zwischen den beiden setzt sich die verselbständigte Aktivität des Bürobetriebs fort (54ff.), ja diese ist es, die zur neuen Definitionsebene der pervertierten >Mutter-Tochter-Beziehung< wird: Angie bewundert Marlene für die professionelle, kühl-aggressive Art, mit der sie die Frau eines von ihr ausgebooteten Konkurrenten abfertigt, und sie sitzt schließlich, da Marlene keine Zeit für sie hat, selbst an einem Büroschreibtisch und ist glücklich darüber: 8

Caryl Churchill, Top Girls (London: Methuen, 1982), pp.33ff.

229

ANGIE. I think you were wonderful. MARLENE. I've got to go and do some work now. ANGIE. YOU told her to piss off.

MARLENE. ANGIE. MARLENE. ANGIE. MARLENE. ANGIE.

Will you come back later? Can't I stay here? Don't you want to go sightseeing? I'd rather stay here. YOU can stay here I suppose, if it's not boring. It's where I most want to be in the world.

MARLENE. I'll see you later then. MARLENE, goes. A N G I E . sits at W I N ' S desk.

(59-60)

Die abstrakte Gesellschaft wird hier deutlich zum Strukturelement des Dramas: Marlene reagiert nicht auf ihre Tochter, sondern auf die Zwischenwelt des Büros, deren Eigengesetzlichkeit sie unfähig zur Kommunikation mit Angie macht. Angie umgekehrt reagiert mit blinder Identifikation, die Bürowelt wird ihr gleichsam zum Ersatz f ü r die fehlende Mutter, die sie — u n b e w u ß t — gesucht hat. Die letzte Szene, eine Rückblende auf den Besuch Marlenes ein Jahr zuvor bei Angie und Joyce, zeigt, daß Marlene f ü r alle persönlichen Beziehungen völlig desensibilisiert ist. In der Begegnung mit ihrer Schwester wird ihre anfangs aufgebaute überlegene Position vollends demontiert. Daß Joyce aufgrund ihrer Verantwortung für Angie ihr eigenes Kind verlor, hat Marlene ebenso vergessen (81) wie sie sich von allen anderen lebensgeschichtlichen Bindungen abgeschnitten hat: von ihrer Tochter, ihren Eltern, ihren Wurzeln in der working class (übrigens eine deutliche Parallele zu Joe Shawcross in Griffiths' The Party). Stattdessen befindet sie sich in einem wahren sozialen Aufstiegsrausch — "I think I ' m going up up up." (83) —, in dem sie sich gleichzeitig mit den politischen Zielen des Thatcherismus identifiziert. Der Ansatz der Frauenemanzipation endet hier in neokonservativer Ideologie. Den Schlußakzent des Stücks aber bildet noch einmal die Mutter-Tochter-Beziehung: Angie wacht aus einem Alptraum auf u n d sucht nach ihrer Mutter, begegnet stattdessen "Aunty Marlene" und weiß ihre diffuse Angst n u r in dem einen Wort "frightening" zu artikulieren, mit dem das Stück schließt. (87) Es bezeichnet signalhaft noch einmal die menschliche Katastrophe, die diese Beziehung für Angie bedeutet und die in ihrer Unwirklichkeit und Unpersönlichkeit, eben in ihrer >Abstraktheit< begründet liegt.

8.1.3. Pam G e m s Als feministische Dramatikerin ist auch Pam Gems hervorgetreten, die nach Auffassung von G ü n t h e r Klotz eine ähnliche Entwickung durchgemacht hat, wie sie Michael Anderson f ü r J o h n Osborne diagnostizierte, nämlich " f r o m anger to detachm e n t , " 9 von engagierter Literatur zur distanzierten Gesellschafts- und Bewußtseinsanalyse. 10 N a c h N o r b e r t Platz' Unterscheidung dreier Typen des politischen Theaters '

10

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Vgl. Anderson, From Anger to Detachment. Günther Klotz, »Zwischen enttäuschenden Erfolgen und Zerreißproben kultureller Traditionen«, Englisch Amerikanische Studien, 3/4 (Dez., 1986), 388-401, insbesondere 395f.

in den 70er Jahren — Agitprop, gesellschaftsanalytisches und bewußtseinsanalytisches Theater11 — würden Pam Gems' Stücke wohl als Mischformen der beiden letztgenannten Typen zu bezeichnen sein. Ich greife hier das Stück Dead Fish heraus, 1976 beim Edinburgh Festival uraufgeführt und später unter dem Titel Dusa, Fish, Stas and Vi publiziert,12 um zumindest anzudeuten, daß auch bei Pam Gems, wie bei Caryl Churchill, Probleme der abstrakten Gesellschaft das Emanzipationsthema überlagern. Dargestellt wird hier die Situation von vier Frauen, die sich in unterschiedlichen Lebenslagen befinden und in einer lockeren Wohngemeinschaft zusammenleben. Allen gemeinsam ist wiederum, daß sie sich aus ihrem früheren sozialen und familiären Hintergrund gelöst haben — Dusa und Fish kommen aus der upper class, Stas vom Land und Vi aus der working class — und sozusagen eine freischwebende Existenz in London führen. Die Ausgangssituation ist also die — in den 70er Jahren neuartige — alternative Lebensform einer Wohngemeinschaft, mithin vom Ansatz her ein Emanzipationsentwurf. Darüber hinaus vertreten die vier Figuren ganz verschiedene Aspekte einer >modernen< Frauenrolle — Dusa ist Mutter von zwei Kindern, Fish politische Aktivistin nach dem Vorbild von Rosa Luxemburg, Stas ist Physiotherapeutin und Vi eine jugendlich-flippige Punkerin. Alle vier allerdings stecken in verschiedenen, bis zur Schizophrenie gehenden Widersprüchen: Dusa, die von ihrem Mann verlassen wurde und mit dem Konflikt zwischen ihrer Mutterrolle und ihrem Wunsch nach Partizipation am öffentlichen Leben nicht zurechtkommt, kann sich nur durch Psychopharmaka aufrechterhalten. Fish muß umgekehrt aufgrund ihrer politischen Aktivität auf Liebe und Kinder verzichten — ein Problem, das sie das ganze Stück über verdrängt, bis es ihr über den Kopf wächst und am Ende, ausgerechnet nach der Feier ihres Geburtstags, zu ihrem für alle unerwarteten Selbstmord führt (ein Motiv, in dem hier deutlich die Desintegration der Identität im Sinn von Pinters Birthday Party anklingt). Stas, die tagsüber im Krankenhaus mit behinderten Kindern arbeitet, verdient nachts große Summen als Edelprostituierte. Im Gegensatz zu Fish, die vergeblich einer persönlichen Liebesbeziehung nachjagt, hat Stas also ihr Privatleben ganz auf die Austauschbarkeit von Beziehungen und auf materielle Werte aufgebaut, wobei sie die anderen mit ihrer modisch-luxuriösen Kleidung durchaus zu beeindrucken vermag. Vi schließlich, die viel von Emanzipation und Unabhängigkeit redet, ist hochgradig magersüchtig (d.h. im selbstzerstörerischen Zwiespalt mit ihrer weiblichen Identität), hat eine Abtreibung hinter sich und nimmt fortgesetzt Tabletten. Es ist also offensichtlich, daß hier zwar klassische feministische Themen aufgeworfen werden, daß aber unter deren Oberfläche höchst pathologische Zustände und Krisensymptome aufgedeckt werden, die aus der mangelnden Realisierungsmöglichkeit menschlicher Grundbedürfnisse und aus der Fragmentierung einer einheitlichen Identität in der arbeitsteiligen, pluralistisch-bindungslosen Gesellschaft resultieren. Diese Fremdbestimmtheit wird auch in der Struktur des Stückes deutlich: die vier Fi11

12

Norbert Platz, »Das politische Drama in England während der siebziger Jahre«, Vortrag bei der Tagung »Beckett und die Literatur der Gegenwart« vom 23.—26.4.1986 in Kassel. Plays By Women, ed. Michelene Wandor (London, 1982).

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guren reagieren relativ wenig und oft nur flüchtig aufeinander, während sie, oft über Telefon, in einem ständigen Interaktionsverhältnis mit der nicht dargestellten Außenwelt stehen, von der her ihre Probleme und Pathologien sich bestimmen. Der hektischfragmentarische Darstellungsstil wird dabei von Pam Gems als bewußte dramentechnische Entsprechung der heutigen, durch den Einfluß der Medien veränderten Wahrnehmungsweise des Publikums eingesetzt. "I wanted to try a contemporary play, and to try to write in Stakes,' since I felt that most of us, being reared on film and television, responded in a synaptic way to material nowadays." 13 In dieser Weise reagieren auch die Figuren aufeinander, und der Umstand, daß niemand (außer ansatzweise Dusa) die tiefe Depression von Fish bemerkt, die zu ihrem Selbstmord führt, zeigt den Mangel an kommunikativem Austausch, der in dieser Gruppe isolierter, in ihre eigenen Probleme eingesperrter Individuen herrscht. Der Versuch, öffentliches und privates Leben miteinander zu verbinden, führt den Bruch zwischen beiden Sphären vor Augen, ein Bruch, der durch das Bewußtsein der einzelnen hindurchgeht und der dieses — so dürfte das Ende des Dramas zu verstehen sein — oft genug überfordert.

8.1.4. Howard Brenton Als einer der führenden Vertreter des politischen Theaters in der neueren englischen Dramatik ist Howard Brenton hervorgetreten. Er versucht, durch Mittel der epischen Publikumsansprache und durch bewußte Aggressivität der Darstellung den Zuschauer zu schockieren, wobei er in relativ starkem Maß auf konkrete historisch-gesellschaftliche Themen Bezug nimmt. Doch schon in Revenge (1969) wird, im anachronistischen Kampf des Gangster Hepple gegen den Polizeipräsidenten MacLeish, die Unwirksamkeit konkreter Konfliktmuster in einer sich verändernden, ungreifbarer gewordenen Gesellschaft thematisiert. Aber auch das >Revolutionsrevolutionäres< Konfliktmodell gesellschaftlicher Kräfte. Was aber macht Brenton aus 13

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Pam Gems, Preface to Dusa, Fish, Sias and Vi, in Plays By Women, pp.71-73, p.71.

diesem Stoff? Er überlagert zunächst die gegenwärtige Handlungsebene mit einer historisch-allgemeinen Ebene, indem er den einstigen tschechischen Minister Joseph Frank auftreten läßt, der 1952 ein Opfer des stalinistischen Terrors wurde. In der Interaktion mit dieser halb mitleiderregenden, halb gespenstischen death-in-life-Figm (ähnlich dem Geist des Totengräberjungen in Bonds Lear) wird der Widerstand der von sozialistischen Ideen beeinflußten Arbeiter transparent auf die Geschichte — und die Schrecken — früherer Revolutionen. Brenton bringt so gerade jenes Geschichtsbewußtsein in das Drama hinein, das die Streikenden, die von der energischen, sich als Trotzkistin verstehenden Janice angeführt werden, entschieden zurückweisen. "Don't care about history," sagt Janice, "Wipe it out." 14 — während Frank von der Geschichte gezeichnet und, durch das Wissen um den menschlichen Preis revolutionären Handelns, handlungsunfähig geworden ist: "There is too much lost, too much blood. Can't you understand?" (36) Und wenn auch Franks Verhaftetsein in der Vergangenheit Paralyse bedeutet, so hat doch umgekehrt der geschichtslose Gegenwartsbezug der neuen Generation nicht nur eine regressiv-hedonistische Seite: "Now is what I want... Lovely sexy here and now" (58), sondern eine potentiell terroristische, antihumanistische Seite, wie sie im Stalinismus zum System erstarrt war. Das Verhalten der Jugendlichen zeigt teilweise durchaus solche Ansätze zum Terror. So wird deren maskierter Uberfall auf den Fabrikbesitzer Makepeace zu Beginn des Stücks (lOf.) parallelisiert mit dem überfallartigen Abtransport Franks durch sowjetische Sicherheitsbeamte in Moskau. (31) Doch ist dieser Terror, wie Frank immer wieder hervorhebt, innerhalb des westlich-spätkapitalistischen Systems letztlich nur ein Spiel der Revolution, die keine Aussicht auf gesellschaftliche Realisierung hat. "We liberated the machines. The machines are free now" (69) sagj Janice, sehr doppeldeutig, während Frank ihr entgegenhält: "And how do you run the factory?" (70) Die industrielle Gesellschaft wird hier als verselbständigte Macht erkennbar, die unabhängig von den Intentionen der Arbeiter wirksam ist und deren Ansatz zu selbstbestimmtem Handeln unterläuft. In ihrer emphatischen >Befreiung< der Maschinen entspricht ihr Interesse ironischerweise genau dem des Kapitalisten Makepeace, wenn er sie auffordert: "Whatever you do, don't hurt the machines." (49) Durch seine Argumente bewegt Frank schließlich die Gruppe dazu, die Aktion abzubrechen und die von der Polizei umstellte Fabrik durch die Kanalisation zu verlassen. Brenton sympathisiert — wie Joseph Frank — durchaus mit den Streikenden, aber er zeigt, daß ihr Versuch zur spontan-aktivistischen Weltveränderung illusionär ist. Andererseits droht die politisch durchorganisierte Form sozialistischer Weltveränderung zum Terrorsystem im Sinn des Stalinismus (und anderer totalitärer Systeme) zu führen. Während dessen Darstellung in Weapons of Happiness an die Verhörszenen bei Pinter und an die Gefängnisszenen bei Bond erinnert, nimmt die Darstellung des westlichen Systems, dessen Quintessenz Frank einmal, im Gegensatz zur handfesten Tyrannei Stalins, als "sweet nothing" charakterisiert (73), Züge der Farce und des Absurden an. Sind die "weapons of happiness" auf der einen Seite buchstäblich die Waffen der Unterdrückung, mit denen das Glück einer neuen Gesellschaftsordnung 14

Howard Brenton, "Weapons of Happiness (London: Methuen, 1976), p.58. 233

durchgesetzt wrden soll, so sind sie auf der anderen Seite die des Konsums: die Waffen der Streikenden, mit denen sie auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen ihre Gegner bombardieren, sind Säcke von Kartoffeln und von Chips, die in der Fabrik hergestellt werden (Akt 1, Sz. 11). Der farcenhafte Effekt wird noch verstärkt durch die Reaktion des Fabrikbesitzers Makepeace. Weit davon entfernt, Herr der Lage zu sein, steht dieser dekadente, poetisierende Spätkapitalist aufgrund von Fehlkalkulationen und von unvorhergesehenen Veränderungen des Marktes vor dem Ruin. Er betrachtet den ganzen Vorfall wie ein (Schau-)Spiel, zu dem er Sekt trinkt und mit seiner Frau über seine Geliebte streitet (Akt 2, Sz.2). Statt den Konflikt auszutragen, betreibt er geradezu eine Strategie der Konfliktvermeidung und unterbindet so lange die Versuche der Polizei, die Ordnung wiederherzustellen, bis diese sich selbst Whisky beschafft und zurückzieht. (63) Der aufgebaute Konflikt wird also von beiden Seiten her wieder zurückgenommen, da die Akteure sich einer Situation gegenübersehen, die durch irgendeine Form >konkreter< Interaktion nicht gelöst werden könnte. Die anthropozentrische Zielsetzung (die "happiness") wird durch das anthropofugale Handlungssystem desavouiert, in das die einzelnen eingebunden sind. Der Mensch zwischen den Systemen, den Frank verkörpert, ist zum Gespenst der Geschichte geworden, er lebt in einer "empty world . . . Like a room from which all human beings have fled." (32) Brenton vertritt damit keineswegs einen blanken Pessimismus; aber er zeigt, wie andere britische Gegenwartsdramatiker, in aller Schärfe die Gefahren auf, denen sich der Mensch in der gegenwärtigen Gesellschaft — im Osten und im Westen — ausgesetzt sieht und deren sich jedes politische Handeln bewußt sein muß, wenn es nicht seine humanistische Substanz verlieren will.

8.1.5. David Hare David Hare wird meist in einem Atemzug mit Howard Brenton genannt, wird doch auch er den >radikalen< englischen Gegenwartsdramatikern zugerechnet und hat darüberhinaus mit Brassneck (1973) und mit Pravda (1985), auf das unten noch eingegangen wird, zwei gemeinsam mit Brenton verfaßte Stücke vorgelegt. Zunächst sei Knuckle (1974) auf unsere Fragestellung hin betrachtet, mit dem Hare der Schritt vom Fringe zum etablierten Theater (dem Oxford Playhouse) gelang. Auch hier ist, wie bei Brenton, gegenüber früheren Stücken des englischen Dramas der Versuch einer Konkretisierung der sozialen Problemstellung zu erkennen: dargestellt werden die Geschäftspraktiken des Börsen- und Finanzzentrums in der Londoner City. Diese werden personifiziert von dem Bankier Patrick Delafield, einem hochkultivierten, aber völlig amoralischen und empfindungslosen Kapitalisten. Gegen dessen persönliche Unzugänglichkeit rebellieren seine beiden Kinder Curly und Sarah auf entgegengesetzte Weise. Der Sohn Curly übernimmt das amoralische Verhaltensprinzip des Vaters und übersteigert es zu provokativer Direktheit, indem er die eigene Verworfenheit zu seiner gegen alle Anständigkeit gerichteten Lebensrolle stilisiert und sich als internationaler Waffenhändler betätigt: "The noisiest profession 234

I could find." 15 Er hat hierin, wie viele Protagonisten des New English Drama, Ähnlichkeit mit Osbornes Jimmy Porter, nur daß bei Hare die Protestrolle selbst bereits von Grund auf korrumpiert ist. Die entgegengesetzte Reaktion verkörpert die Tochter Sarah, die freilich im ganzen Stück nicht auftritt, vielmehr bis kurz vor dessen Ende für tot gehalten wird. Curly ist aus der Fremde >nach Hause< gekommen — hier wieder das Beispiel eines völlig pervertierten Sinnes von >home< —, um die Hintergründe ihres Verschwindens aufzudecken. In den Berichten der Bekannten und Verwandten Sarahs stellt diese sich als eine Persönlichkeit von unerbittlichen moralischen Maßstäben und von einem exzessiven, geradezu selbstaufopfernden Bedürfnis nach menschlicher Zuwendung dar ("She would have covered herself in kerosene and set light to it. To win your affection" [24]). Doch während Curly von vornherein alle Moral preisgibt, bleibt auch Sarahs konkret-soziale Moral in der gegebenen Realität wirkungslos — ihre durchgängige Abwesenheit aus der Handlung dürfte hier bezeichnend sein. Was diese Handlung selbst anbelangt, so läßt sich ihre Konzeption als Parodie eines Kriminalstücks beschreiben. Parodistisch ist dabei bereits die Rolle Curlys als eine Art selbsternannter >Privatdetektivabstraktere< Verwicklungen, in denen sie gleichsam stekkenbleiben. Was aufgedeckt wird, ist nicht ein konkretes Verbrechen, sondern eine dubiose kapitalistische Transaktion, an der sowohl der Vater Patrick als auch der Börsenmakler Malloy und der linke Journalist Max beteiligt sind. Gegenstand der Transaktion ist das Haus von Malloys Mutter, die dieser, um das Geschäft zu ermöglichen, in ein Sanatorium bringen läßt (wieder das Motiv des zerstörten >homepersönlichen< Reaktionen seiner Gegenspieler bereits, von ihnen undurchschaut, von Le Roux manipuliert worden sind. 17 Am Ende wird die Nivellierung der Standards dadurch pointiert, daß der gefeuerte und von Le Roux unter demütigenden Umständen wieder in Gnade aufgenommene frühere Herausgeber des anspruchsvollen Blattes Victory zum Herausgeber des stupiden Massenblattes The Tide wird, während der den Sensationsjournalismus verkörpernde bisherige Herausgeber von Tide zum neuen Herausgeber von Victory wird — womit gleichzeitig jeder Anspruch auf Trennung von Wahrheit und Lüge, Information und Suggestion, Meinung und Tatsachen über Bord geworfen wird. Dies entspricht auch der Philosophie von Le Roux, der eine Art degenerierter (post-)moderner Ubermensch ä la Nietzsche ist mit einem geradezu pathologisch16 17

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Howard Brenton/David Hare, Pravda (London: Methuen, 1985), p.90. Hier liegt eine gewisse Parallele zum zweiten Akt von Pinters The Hothouse, wo ebenfalls der Aufstand der Patienten gegen die Anstaltsleitung von dem machtsüchtigen Funktionär Gibbs zugunsten seiner Karriere manipuliert worden ist.

primitive Züge annehmenden >Willen zur Macht< (80ff.) und der die desillusionierte Durchsetzung seiner Interessen zu seiner einzigen >Moral< gemacht hat. (103) Insofern aber ihm die anderen hierin folgen, wird er zur Personifikation eines postmodernen, amoralischen Zeitgeistes, der das von seinen Werten, Traditionen und seiner kulturellen Identität zunehmend entfremdete England als ganzes erfaßt hat. 8.1.6. David Edgar Auch David Edgar gehört zur Gruppe der engagierten politischen Dramatiker, die sich mit konkreten Mißständen der englischen Gesellschaft auseinandersetzen. Vor allem in seiner frühen Phase schrieb er für das Theaterkollektiv »General Will« eine Reihe von Agitprop-Stücken, denen eine didaktische Absicht zugrundelag, obwohl auch hier bereits die starke Vorliebe des Autors für Parodie und Persiflage erkennbar ist. Edgars erster größerer Erfolg, Destiny (1976), behandelt den Aufstieg der National Front in den 60er und 70er Jahren, der als Symptom der allgemeinen Situation Englands genommen wird. Diese ist gekennzeichnet durch das Auseinanderfallen des Empire nach dem Zweiten Weltkrieg — das Stück beginnt mit dem Abzug der Engländer aus Indien 1947 —, durch die nachfolgende Einwanderungswelle aus Asien und Afrika, durch die Ablösung nationaler Betriebe durch multinationale Konzerne, die kleine Betriebe zugrunderichten u. a. m. Es ist diese Transformation Englands, die diffuse Angst- und Haßgefühle bei der Bevölkerung auslöst, welche von der National Front — im Stück heißt sie "Nation Forward" — in dem Sinn kanalisiert werden, daß sie diese — ihrer Natur nach vielfältig verflochtenen und komplexen — Zusammenhänge auf eindeutige >Erklärungsformeln< bringt und zu einer rassistischen Verschwörungstheorie simplifiziert. Damit liefert sie nicht nur ein klares Feindbild — nämlich die Ausländer —, sondern verheißt zugleich einen Weg zur konkreten Veränderung: "There is a small, growing party, which knows what is happening and is determined to reverse it." 18 Die Antriebskraft dieser zur nationalen Ideologie verdichteten Vorurteile sind also durchaus reale soziale und ökonomische Probleme, doch die Reaktion der Betroffenen beruht auf einer gefährlichen Selbsttäuschung, die den wahren Charakter dieser Probleme verkennt. David Edgar führt dies am Fall des einstigen Koloniesoldaten Turner vor, der inzwischen ein kleines Antiquitätengeschäft aufgebaut hat. Eines Tages taucht in Turners Geschäft ein ihm unbekannter Mann namens Monty auf, der sich als Vertreter des "Metropolitan Investment Trust" entpuppt und Turner eröffnet, daß sein Geschäft von dem Trust aufgekauft — und damit ruiniert - werde. Monty, der auf Turners Widerspruch hin mit Gewalt droht, scheint hier eine dramatische Realisierung jenes Monty in Pinters Birthday Party zu sein, der dort die mysteriöse »Organisation« leitet. Turner schließt sich in seiner Verbitterung der "Nation Forward" an und kandidiert für sie in einer Bye-Election, nur um am Schluß zu erfahren, daß die Geldgeber für diese Partei aus eben der Organisation Montys, dem multinationalen "Me18

David Edgar, Destiny (London: Methuen, 1976), p.47.

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tropolitan Investment Trust" kommen, der zuvor seine wirtschaftliche Existenz zerstört hat. Wenngleich dieses Stück deutlichen politischen Appellcharakter hat und am Schluß im Stil von Brechts Art uro Ui vor dem Wiedererstehen des Faschismus warnt, ist doch auch die Anspielung auf Pinter und auf die Unsicherheit und abstrakte Ungreifbarkeit der Welt in seinen Dramen bezeichnend. Im weiteren Verlauf seiner Karriere hat Edgar selbst seine Entwicklung von den frühen Agitprop-Stücken zu "more complex theatrical forms" — die allerdings auch volkstümliche Mittel wie Music Hall-Elemente und Folk Musik nutzen sollen — damit erläutert, daß es ihm nicht um >objektive< Wirklichkeitsdarstellung, sondern um das Wechselverhältnis zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit gehe, das mit den Techniken des Agitprop-Theaters nicht dargestellt werden könne.19 Er vollzieht damit eine ähnliche Entwicklung wie eine Reihe anderer, führender Dramatiker Englands, die aus der Frmge-Szene kamen und sich durch den Erfolg ihrer Aufführungen im mainstream theatre etablieren konnten. Günther Klotz — und in ähnlicher Weise John Bull — haben dies zum Anlaß genommen, im englischen Drama der 80er Jahre gerade bei Autoren wie Edgar, Brenton, Hare oder Pam Gems gegenüber dem Drama der 70er Jahre eine Entwicklung von >links< nach >rechts< zu beklagen, vom alternativen zum kommerziellen, vom politischen zum tendenziell apolitischen Theater.20 Den dargestellten Konflikten werde zunehmend der Boden entzogen und die früher aufgezeigten sozialistischen Alternativen würden bei dieser »antiideologischen Welle der entwurzelten Radikalen« dem liberalen Individualismus zum Opfer fallen, dem diese Autoren sich zugewandt hätten.21 Nun trifft es, wie gesagt, sicher zu, daß hier eine gewisse Akzentverschiebung im großen — und eine vielleicht noch tiefergehende Veränderung in den Karrieren einzelner Dramatiker — stattgefunden hat von einem öffentlich demonstrierten politischen Engagement zu stärkerer Reflexivität, von einem mit Agitprop-Elementen arbeitenden Provokationstheater zu einem bewußt die Unterhaltungsdimension einbeziehenden kulturkritischen Problemtheater.22 Klotz nimmt als Beispiele für seine These u. a. David Edgars Maydays von 1983 und Brenton/Hares Pravda. Doch wenn er in Maydays in der Gestaltung der Ost-West-Thematik deutliche Wertakzente vermißt und kritisch vermerkt, »daß links und rechts gar nicht so verschieden seien, wie auch die beiden unterschiedlichen Gesellschaftssysteme nach Edgar gleiche Erscheinungen hervorbrächten«, und wenn er ferner bemängelt, daß es im 3. Akt in dem Interview des westlichen Protagonisten Glass mit dem Exilrussen Lermontov »in dem Stück schon gar nicht mehr um Positionen und Entwicklungen, sondern um ihren medialen, letztlich textualen Charakter« geht,23 so ist hier seine Analyse durchaus zutreffend. Doch übersieht er dabei, daß bereits die früheren Stücke, wenn auch teil-

19 20

21 22

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David Edgar, "Ten Years of Political Theatre, 1968-78," Theatre Quarterly, 8 (1979), 29. Klotz, op. cit.; John Bull, "Left to Right: English Theatre in the 1980's," Englisch Amerikanische Studien, 3/4, (Dez., 1986), 401-10. Klotz, 389ff. Vgl. Programmheft des National Theatre, zit. bei Klotz, 393: "We both dreamt of a kind of play we enjoy seeing when we go to the theatre . . . " Klotz, 391.

weise weniger explizit, von ähnlichen Tendenzen geprägt waren. Ebensowenig kann in Pravda, wo ja — ähnlich übrigens wie in Stephen Poliakoffs Coming in to Land (1986) — ebenfalls die doppelseitige Kritik der Gesellschaftssysteme in O s t u n d West impliziert ist, vom Rückfall in einen »alten liberalen Individualismus« die Rede sein. 24 Allerdings wird auch hier, wie im gesamten modernen englischen Drama, die zeitgenössische Wirklichkeit nicht aus einem Systeminteresse, sondern aus dem Lebensinteresse des konkreten einzelnen heraus betrachtet (das in Pravda keineswegs, wie Klotz anzudeuten scheint, von dem grotesk übersteigerten >Individualisten< Le Roux verkörpert wird). Es ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß die Kritik am Sozialismus mitnichten ein völlig neuer Zug des englischen Dramas ist. Auch die früheren D r a m e n der politisch engagierten Autoren zeigen eine an Schärfe kaum zu überbietende Kritik an totalitären Formen des Sozialismus, die als alptraumhaft-dehumanisierte Varianten der abstrakten Gesellschaft dargestellt sind. Bonds Lear, Brentons Weapons of Happiness oder David Mercers After Haggarty stehen darin in nichts etwa Tom Stoppards Every Good Boy Deserves Favour nach. Zum anderen zeigen die hier vorgelegten Analysen, daß die Problematisierung und Entwirklichung konkreter Handlungs- und Konfliktmuster — die Klotz bei den neueren Stücken der genannten Dramatiker kritisiert — einen generellen Strukturzug des modernen englischen Dramas ausmacht, von dem, entgegen dem ersten Anschein, auch viele Werke der >radikalen< Autoren geprägt sind. Man sollte sich hier von falschen Erwartungen hinsichtlich der Funktion u n d Leistungsfähigkeit des Dramas freimachen. Das D r a m a ist ein Medium von Widersprüchen, nicht der Verkündigung einer ideologischen >Wahrheit< oder eines optimistischen Fortschrittsgeistes. Genauer gesagt, es ist ein Medium der Aufdeckung typischer Konflikte und Widersprüche einer Zeit in der Sphäre menschlicher Interaktion. Ein solcher zentraler Widerspruch unserer Zeit aber ist mit dem gebrochenen Verhältnis zwischen kommunikativer Lebenswelt u n d abstrakter Gesellschaft bezeichnet, u n d es bedeutet keine innerdramatische konservative >Tendenzwendelinks< und >rechts< erscheint hier die Feststellung von Jürgen Wolter: »Der Trend zu einem weniger agitatorischen, politischen Theater und, man möchte fast sagen, zurück zu dem mehr literarischen Drama der ersten Welle ist seit kurzem zu verzeichnen.« »Anger als dramatischer Impuls«, in Drama und Theater im England des 20. Jahrhunderts, ed. Heinz Kosok (Düsseldorf, 1980), pp. 128—41, p. 140. 239

In City Sugar (1976) wird am Sendestudio einer lokalen Rundfunkstation die Wirkungsweise der modernen Unterhaltungsindustrie vorgeführt, die die Lebenszusammenhänge der Figuren völlig beherrscht. In diesem "nerve centre of the City", 2 5 das zugleich das Aktionszentrum des Dramas ist, agiert der Disk-Jockey Leonard Brazil, der die typische Non-Stop-Mischung von Pop-Musik, Commercials und Kurznachrichten, gewürzt mit eigenen, großspurig-nichtssagenden Kommentaren über den Äther bringt. Brazil, der einst mit der Studentenbewegung sympathisierte, die Degeneration der Rockmusik seit deren Blütezeit in den 60er Jahren beklagt und die bewußtseinsbetäubende Dauerberieselung des Publikums innerlich ablehnt, ist jedoch in die Wettbewerbsgesetze seines Jobs eingebunden und versucht daher die optimale >Leistung< als Disk-Jockey zu bringen - womit er seinen persönlichen Überzeugungen permanent zuwiderhandelt. Räumlicher Gegenpol des Studios ist ein Supermarkt, in dem die Mädchen Nicola und Susan in der Abteilung für tiefgefrorene Lebensmittel arbeiten und aus dessen Lautsprecheranlagen sie fortwährend Brazils Sendungen hören. Die Begegnung zwischen der >SenderEmpfängerMonstermenschen< ins Studio gebracht werden, ein grotesk-grandioser Höhepunkt des Stückes. (27f.) Auch als Nicola sich für die Endrunde qualifiziert und ins Studio eingeladen wird, kann von einer persönlichen Interaktion mit Brazil nicht die Rede sein. Vielmehr läuft alles nach den von ihr kaum durchschauten Studiogesetzen ab und sie wird einer erniedrigenden Prozedur von Fragen und Aufgaben unterzogen, in der sie schließlich gegenüber ihrer Konkurrentin den kürzeren zieht. Brazils Versuch, ihr nach der Sendung die Absurdität des ganzen Vorgangs deutlich zu machen, bleibt immerhin insofern nicht ganz wirkungslos, als sie ihre blinde Idealisierung der Pop-Stars aufzugeben scheint. Für Brazil jedoch wird sich der Widerspruch, in dem er lebt, noch verschärfen: er geht nach London zu einer landesweiten Rundfunkstation und strebt einer offenbar unaufhaltsamen Karriere als Disk-Jockey der Nation entgegen. Auch in Coming in to Land (1986) ist die Dauerpräsenz der Medien ein zentrales Thema, doch ist es hier mit einem stärker politischen Akzent versehen. Es geht, auf einer ersten Ebene, um das Problem von Asylbewerbern in Großbritannien, dargestellt am Fall der ca. 50jährigen Polin Haiina. Um sie ins Land zu bringen, wird von dem in Menschenrechtsdingen engagierten Rechtsanwalt Andrew eine Scheinheirat mit seinem stromlinienförmigen Kollegen Neville arrangiert. Haiina, die unter völlig 25

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Stephen Poliakoff, City Sugar (London: French, 1976), p. 13.

undramatischen Umständen nach England gelangte, kündigt jedoch dieses Arrangement unverhofft auf und versucht mit einer fingierten Sensationsstory von einer angeblichen Entführung und Folter in Polen über die Medien auf ihren Fall aufmerksam zu machen und so auf eigene Faust ihren Asylantrag durchzusetzen. Sie stilisiert dabei ihr Leben >mediengerecht< um, nach dem Erwartungshorizont der fremden Kultur, den sie aufgrund ihrer Kenntnis englischer TV-Sendungen — "I'm full of English trivia" 26 - so sehr zu treffen vermag, daß ihre Geschichte durch Rundfunk, Fernsehen und Presse geht. Um sich finanziell über Wasser zu halten, arbeitet sie illegal in einem Hi-Fi-Geschäft, wo sie mit ihrem eigenen, vervielfältigten und überdimensionalen Spiegelbild konfrontiert wird: Auf der Bühne wird hier eine große Videolandschaft aufgebaut, in der aus zahllosen Bildschirmen ihr Gesicht blickt, die medientechnologische Reproduktion ihrer selbst, die ihr fremd vorkommt "like a creation from another planet" und durch die sie doch als konkrete Person überschattet wird: "HALINA stops at edge of stage, dwarfed by her own image, staring down at her ..." (259) Der zweite wichtige Aspekt der englischen Gesellschaft neben dem eines medienbeherrschten Realitätsbildes wird durch die Einwanderungsbehörde verkörpert, gegen deren bürokratischen Apparat Halina und Neville lange Zeit vergeblich ankämpfen. Die Szenen im Büro des Beamten Peirce und seines Gehilfen Booth mit einem Schreibtisch "smothered in paper and files" (10) erinnern dabei deutlich an Kafka, zumal als durch ein Fenster die Gesichter noch nicht zugelassener Einwanderungswilliger ins Büro starren, während der als juristischer Ratgeber Haiinas auftretende Neville unversehens selbst in eine kafkaeske (oder pintereske) Verhörsituation gerät, in der er sich in seiner ganzen Existenz rechtfertigen muß. (73ff.) Am Ende bricht Haiinas Story zusammen, und ihr Bild in den Medien verändert sich schlagartig. (89f.) Sie wird als Ost-Spionin verdächtigt und in ein Auslieferungslager gebracht. In dieser "world at the detention centre" (93) mit seinem internationalen Stimmengewirr wird nicht nur Haiinas Schicksal zwischen den Systemen veranschaulicht, sondern auch der Existenzform des Engländers Neville ein Spiegel vorgehalten. Sie entspricht der "stale claustrophobia" (98), in der er lebt, und die ihn psychologisch in einer ähnlichen Lage befindlich erweist wie "all these other caged people, feeling like me, beating on the walls," von denen Halina spricht. (99) Als Neville sie in diesem gefängnisartigen Lager aufsucht und sich die beiden nach langem Hin und Her doch noch zur Heirat entschließen, bedeutet dies mithin kein ungebrochenes Happy End, sondern die Realisierung einer gemeinsamen, systemübergreifenden Situation des Fremdbestimmtseins, der sie durch ihren — höchst ungesicherten — Neuansatz zu begegnen versuchen.

8.2. Spielästhetik des Theaters Eine zweite Haupttendenz des zeitgenössischen englischen Theaters ist mit dem Begriff einer »Ästhetik des Spiels< umrissen, den Dieter A. Berger geprägt hat. 27 In 26 27

Stephen Poliakoff, Coming in to Land (London: Methuen, 1986), p.46. Berger, op. cit.

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diesen Umkreis gehören Autoren, die stärker die Unterhaltungsfunktion des Theaters betonen und die demgemäß eher dem Genre der Komödie und des Boulevardstücks nahestehen. Hierzu zählen neben den oben bereits behandelten Tom Stoppard und — mit Einschränkungen — Peter Shaffer etwa Alan Ayckbourn, Michael Frayn, Simon Gray, Christopher Hampton und andere. Charakteristisch ist hier ein »entgrenztes Spiel«28 nicht nur mit den Themen und Inhalten, sondern mit den Mitteln des Theaters selbst, so daß eine Nähe zur Farce und zum Metatheater ein durchgängiges Kennzeichen dieser Dramen ist, die in manchen Zügen dem von Rodney Simard bestimmten Typus eines postmodern drama zuzuordnen sind.29 Der sozialkritische Impuls wird jedoch dadurch nicht notwendigerweise aufgegeben, wenn er auch sicher in anderen Kontexten steht und weniger scharf ausgeprägt ist als bei den politischen Autoren. Bereits an Tom Stoppard wurde deutlich, daß auch die Ästhetik des Spiels durchaus zwar indirekte, aber dennoch starke Bezüge zur zeitgenössischen Situation aufweisen kann. Die zum allgemeinen Lebenshabitus gewordene Haltung des Spiels und der Ironie, und die zwanghaft-reflektierende Distanz zu allen verbindlichen Inhalten spiegelt selbst jenen soziokulturellen Wirklichkeitsverlust des Menschen und seiner konkreten Lebenswelt, den eine abstrakte Gesellschaft mit sich bringt. Es ist interessant zu beobachten, daß in den beiden Grundrichtungen des englischen Gegenwartsdramas hier zwei gegenläufige Tendenzen erkennbar sind: Zum einen spielt auch in den Stücken des zweiten, spielästhetischen Dramentyps die kulturkritische Entfremdungsthematik eine wichtige, wenn auch von Autor zu Autor unterschiedliche Rolle. Zum anderen gewinnt in den Stücken des ersten, politischen Dramentyps das Element des Spiels eine auffällige Bedeutung im Zusammenhang mit der Gesellschaftsdarstellung. Wir sehen dies, um nur einige Beispiele zu nennen, in Howard Brentons Weapons of Happiness, wo das Cricketspiel der jugendlichen Arbeiter zur Illustration des >Revolutionsspiels< dient, in das ihre Rebellion im Licht der objektiven Gegebenheiten sich auflöst. Wir sehen es ähnlich in Griffiths' The Party, wo das moralisch-politische Engagement der Beteiligten sich in die Unverbindlichkeit bloßer "games" aufgelöst hat (der gegenseitige Vorwurf, nur ein "game" zu treiben, ist eines der wiederkehrenden Motive im Stück). In Poliakoffs City Sugar findet das Geschehen seinen Höhepunkt in der "Competition of the Century," einem degenerierten Spiel, das gerade den Verlust alles Selbstbestimmt-Kreativen beinhaltet, welches das philosophisch-humanistische Konzept des Humo Ludens einst bedeutete. In dieser Tendenz zur Verwendung des Spiels als Mittel der Gesellschaftsdiagnose — eines Spiels freilich, das als anthropozentrische Kategorie ad absurdum geführt wird —, manifestiert sich auch in den politischen Dramen der Verlust der Handlungsrelevanz, der ein entscheidender Grund für die widersprüchliche, oft selbstaufhebendzirkuläre Struktur dieser Stücke ist. Andererseits sind aber auch, wie im folgenden kurz gezeigt sei, die einer bewußten Spielästhetik zuzuordnenden Komödien — wenn auch in unterschiedlichem Maß 28 29

242

Ibid. Simard, op.cit.

— von der Problematik der abstrakten Gesellschaft durchsetzt. Als Vorläufer dieser Richtung können neben der Tradition der well-made plays, die von den Autoren o f t parodistisch aufgegriffen u n d weiterentwickelt wird, und neben dem philosophischen Meta-Theater Tom Stoppards auch die »anarchischen Farcen« von Joe O r t o n angesehen werden. 3 0 D e n n in dessen Stücken ist das Element des »entgrenzten Spiels« (Berger) in einem Maß zugespitzt, daß es, freilich in weit konkreteren Milieus angesetzt u n d ungleich aggressiver als etwa bei Stoppard, zur Charakterisierung einer außer Rand und Band geratenen Gesellschaft dient. O r t o n s Welten zeigen ein pervertiertes, auf den Kopf gestelltes Common Human Pattern, und die farcenhaften Effekte entstehen sehr stark aus der verselbständigten Wirksamkeit von Klischeevorstellungen, nach denen die Figuren ohne Rücksicht auf die Realität ihr Verhalten ausrichten. Dies ist bereits bei Entertaining Mr. Sloane (1964) und Loot (1965) der Fall, es gilt jedoch in besonderem Maß f ü r What the Butler Saw (1968), w o die psychiatrische Institution zum Modell der Herrschaft kultureller Klischees wird, die jeden Realitätssinn der Akteure zerstören und im parodistisch sich übersteigernden Spiel mit den verschiedensten sozialen, psychologischen u n d dramatologischen Bezugsebenen den Prozeß des Stückes bestimmen. 3 1

8.2.1. Simon Gray Relativ stark ausgeprägt ist die Entfremdungsthematik, trotz der komödienhaften Anlage seiner Stücke, auch bei Simon Gray. In Otherwise Engaged (1975) werden die distanzierte Spielhaltung des Intellektuellen gegenüber der Welt und seine Indifferenz gegenüber allen zwischenmenschlichen Vorgängen zwar immer wieder zum Auslöser komischer Effekte, werden jedoch in schärfster Weise mit den verheerenden Konsequenzen seines Mangels an humaner Sensibilität konfrontiert. Die Komödie wird einerseits hochgesteigert zur Farce, insofern sie die Egozentrik und Idiosynkrasie des im Mittelpunkt stehenden Verlegers u n d Erfolgsmenschen Simon auf die Spitze treibt. Andererseits schlägt sie u m ins Tragische und Groteske, insofern sie die menschlichen Zerstörungen aufzeigt, die damit einhergehen. Der Umstand etwa, daß Simon jedes persönliche Erinnerungsvermögen verloren hat, wirkt zwar zunächst durchaus in einem vordergründigen Sinn >komischLebens< steht — innerhalb der gesellschaftlich vorgegebenen Ordnungsmuster — die für den Aspekt der >Institutionen< stehen. Die Spielästhetik des Theaters wird hier nicht nur auf der Ebene der Charaktere und ihrer Interaktionen zu abenteuerlichen Verwicklungen und Verwirrungen getrieben, sondern erstreckt sich auch auf die Ebene des Theaters selbst und auf das Verhältnis zwischen Bühne und Publikum, was in besonderem Maß etwa für Noises Off (1982) gilt. 34 Obwohl hierbei die tragischen Untertöne stark zurücktreten, ist doch im Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen und ihrer stets infragegestellten Identität innerhalb der Rollen und Institutionen, auf die sie bezogen sind, die Entfremdungsthematik der abstrakten Gesellschaft zumindest ansatzweise erkennbar. 32

33 34

244

Simon Gray, Otherwise Engaged and Other Plays (London: Methuen, 1975), p. 59. Vgl. Bigsby, Joe Orton. Vgl. hierzu Ruby Cohn, "Theater in Recent English Theater," Modem Drama, 30,1 (March, 1987), 1 - 1 3 , insbes. l l f .

Dies zeigt sich etwa in Alphabetical Order (1975), wo allein der Handlungsort — die Bibliothek der nordenglischen Zeitung — die >Abstraktheit< der modernen Realitätsbezüge aufruft und mit den Lebensproblemen der Figuren kontrastiert. Während die ein weltumspannendes Informationssystem spiegelnde, alphabetisch geordnete Sammlung von Zeitungsartikeln aber im ersten Akt noch durch ein — höchst sympathisch gezeichnetes — menschliches Chaos in der Verwaltung und im Redaktionsteam kontrapunktiert wird, hat im zweiten Akt, ausgelöst durch die neu eingestellte Bibliothekarin Leslie, ein >Rationalisierungsschub< stattgefunden, eine systematische Neuorganisation der Bestände und der Benutzungsregeln, wodurch die frühere locker-kommunikative, wenn auch ineffektive Arbeitsatmosphäre sich grundlegend geändert hat. Als eines Tages unverhofft die Schließung der Zeitung droht, da diese von ihrem Besitzer verkauft werden soll, wird die neue »alphabetische Ordnung« von den Redakteuren in einem anarchischen Akt der symbolischen Selbstbefreiung völlig durcheinandergebracht — ehe sie von Leslie auf die Idee gebracht werden, die Zeitung zu übernehmen und auf selbständiger Basis weiterzuarbeiten: die Fremdbestimmtheit ihrer Situation, die die drohende Schließung der Zeitung andeutete, wird also hier in optimistischem Zukunftsgeist überwunden, die Herausforderung der abstrakten Gesellschaft wird in der Manier eines komödienhaft-utopischen Happy End auf den konkreten Horizont persönlicher Handlungsmöglichkeiten zurückgeholt. Obwohl also in Alphabetical Order — wie in Stoppards Night and Day, in Weskers The journalists oder in Breiiton/Hares Pravda — der Zeitungsbetrieb zum Ausgangspunkt des Dramas genommen wird, bleibt doch Frayns farcenhafte Komik an kulturkritischer Schärfe und an problembewußter Radikalität deutlich hinter den Stücken der genannten Autoren zurück.

8.2.3. Alan Ayckbourn Etwas ähnliches gilt für Alan Ayckbourn, in dessen handwerklich perfekt gemachten, der Boulevardkomödie nahestehenden Stücken ebenfalls das Spiel mit den verschiedensten Theaterkonventionen charakteristisch ist. Die optimale Nutzung des Bühnenraums, das raffinierte Wechselspiel zwischen onstage und offstage, die Situationskomik, kurz: die publikumswirksame Potenzierung der Theatereffekte dominieren hier sehr stark die Struktur der Stücke. Thematisch kreisen sie meist um die Schwierigkeiten menschlicher Intimbeziehungen, und hier kommt mit der Einsamkeit und den Kommunikationsproblemen der Partner doch eine Dimension zum Vorschein, die eine ernstere Absicht hinter der scheinbar problemfernen Leichtigkeit des Tons ahnen läßt. Der Verlust der Kommunikationsfähigkeit und dessen Zusammenhang mit sozialen Gegebenheiten zeigt bereits Absurd Person Singular (1972), wo die Weihnachtsfeier dreier Paare deren Isolation und finanzielle Abhängigkeiten untereinander offenbart. Die farcenhaften Effekte gewinnen hier durchaus etwas Abgründiges, etwa wenn der wiederholte Selbstmordversuch der tablettensüchtigen Architektenfrau nur 245

dadurch immer wieder scheitert, daß die anderen ihr Verhalten völlig mißverstehen.35 In Absent Fnends (1974) wird die >Entwirklichung< konkreter Beziehungen dadurch illustriert, daß das Verhältnis des Protagonisten Colin zu seiner toten Verlobten immer intensiver wird und eine stärkere Realität gewinnt als zu deren Lebzeiten, während die drei Paare, die ihn eigentlich trösten wollen, stattdessen immer mehr den Substanzverlust ihrer eigenen Beziehungen erkennen müssen. In Joking Apart (1979) wird über zwölf Jahre hinweg in verschiedenen Stationen das Verhältnis befreundeter Paare verfolgt, die sich in dieser Zeit weder näherkommen noch voneinander entfernen, sondern in ihren einmal eingenommenen Rollen gleichsam erstarren, so daß gerade der Wiederholungscharakter der Szenen etwas Groteskes annimmt. In Taking Steps (1979) ist die Oberflächlichkeit und Unübersichtlichkeit der Partnerbeziehungen besonders stark ausgeprägt. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, ein halbherziges Verlassen der Partner und ein ebenso halbherziges Zurückkehren. Die geradezu labyrinthischen Verwirrungen im Raum, die nicht zuletzt durch die Aufteilung in drei simultane Spielorte entstehen, entsprechen den Verwirrungen des Geschehens und den Verwechslungen der Personen, deren Handlungsansätze immer wieder ins Leere laufen oder ins Gegenteil dessen umschlagen, was sie beabsichtigen. Im Mittelpunkt steht dabei der beabsichtigte Hauskauf des reichen Eimerfabrikanten Roland, der aus seinem ökonomischen Erfolg einen persönlichen Glücksanspruch ableiten zu können glaubt und damit scheitert. Auch bei Alan Ayckbourn, wie bei Michael Frayn, läßt sich also sagen, daß der komödienhafte Ansatz, der-zwischen den Konventionen des well-made play und der Farce einzuordnen ist, sich in gewissen Zügen mit einer Diagnose der Gegenwartskultur im Sinn unserer Fragestellung verbindet. Gleichzeitig ist jedoch klar, daß diese Stücke nicht die ästhetisch-philosophische Konsequenz besitzen — und auch nicht den Anspruch erheben —, substantielle Stellungnahmen zur modernen Gesellschaft zu sein.

8.2.4. Christopher Hampton Eine Mittelstellung zwischen politischem Theater und einem >spielästhetischen< Theater nehmen die Stücke von Christopher Hampton ein, der einerseits in der OsborneNachfolge gesehen wird und mit durchaus kritisch-ernsthaftem Unterton die »Impotenz der Intellektuellen« darstellt,36 andererseits mit dem Wortwitz und der formalen Experimentierfreudigkeit seiner Konversationsstücke an Simon Gray oder Tom Stoppard erinnert. Sein wohl bekanntestes Stück, The Philanthropist (1970), ist nach dem Untertitel des Autors "A Bourgois Comedy," die auf der textuellen Vorlage von Molieres Le Misanthrope beruht und diese umkehrt. Nicht mehr eine menschenfeindliche Haltung, 35

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Eine Analyse und didaktische Aufbereitung von Absurd Person Singular gibt Albert-Reiner Glaap, Das englische Drama seit 1970 (Limburg, 1979), pp. 39-49. »Die Impotenz der Intellektuellen«, Interview mit Christopher Hampton, Theater Heute, 5 (1983), 28-29.

sondern ein abgehobener, zu irgendwelchen Handlungsentscheidungen unfähiger H u m a n i s m u s führt hier ironischerweise zu einer ähnlichen Isolation und Außenseiterstellung des Protagonisten wie bei Moliere. 3 7 Das Spiel mit dem Theater wird dabei gleich zu Beginn eröffnet, als ein junger Dramatiker zwei College-Professoren das Ende seines neuen Stückes vorführt, in dem ein junger Mann Selbstmord begeht — wobei versehentlich die Pistole losgeht und den Dramatiker tötet. A m Schluß von H a m p t o n s Stück wird dieses Motiv in umgekehrter Form wieder aufgenommen, als der Philologe Philip — der »Philanthrop«, der statt der Menschen die Wörter liebt und in sämtlichen menschlichen Beziehungen scheitert — eine Pistole auf sich richtet, aber damit n u r ein Feuerzeug betätigt, mit dem er sich eine Zigarette anzündet: die distanzierte Spielhaltung gegenüber der Wirklichkeit ist für diesen Intellektuellen, wie in Grays Otherwise Engaged, zur zweiten N a t u r geworden — was auf witzige Weise durch sein exzessives Spiel mit Anagrammen unterstrichen wird. Seine Tragik ist daher Pseudo-Tragik, so wie die Dramatik der dargestellten Ereignisse PseudoDramatik ist. Selbst die Horrornachricht von einem blutigen Terroranschlag auf die Tory-Regierung, die dem Attentäter zu >links< geworden ist, kann dem Geschehen im Kontext des Stückes nur "a kind of rudimentary dramatic flair" verleihen. 3 8 Philips abstraktem Bewußtseinszustand entspricht seine "emotional incompetence" (33), seine völlige Beziehungsunfähigkeit, die daran liegt, daß er alle Dialoge sofort sprachlich analysiert, während er sie f ü h r t , daß er also auf seine Partner ständig auf einer Metaebene reagiert. Philip, der sich für "structural linguistics" (18) begeistert, hat sozusagen nur einen Blick f ü r den syntaktischen, strukturellen Aspekt der Sprache, während ihm jeder Sinn für deren Pragmatik, d.h. f ü r die eigentliche Dimension kommunikativen Handelns, abgeht. Stärker politisch sind H a m p t o n s spätere Stücke wie Savages (1973), in dem es um die Ausrottung der Indianer in Brasilien und um die Zerstörung ihrer Kultur durch die internationalen Interessenverflechtungen des Großkapitals geht. H a m p t o n stellt hier sowohl die direkte Unterdrückung durch die brasilianische Diktatur als auch die Degeneration der Indianer in der Folge ihrer >Integration< in eine ihnen fremde Kultur dar. In diese epische (Anti-)Komödie verwoben ist die pantomimische Darstellung der untergehenden Indianerwelt, deren M y t h e n zusätzlich in Monologen rezitiert werden und so eine Welt des Common Human Pattern noch einmal aufrufen, die unter dem übermächtigen Einfluß der westlich-kapitalistischen Industriegesellschaft verschwindet. — Unmittelbar an J o h n O s b o r n e s Look Back in Anger angelehnt ist Treats (1976), das eine ähnliche Paralyse privater Lebensbezüge u n d eine ersatzhafte Dramatisierung von Pseudo-Kommunikation auf die Bühne stellt u n d , im Spannungsverhältnis zu einer fremdbestimmten Außenwelt der Medien u n d wirtschaftlichen Abhängigkeiten, z u m Ansatzpunkt einer Gegenwartsdiagnose wird. In einer stärker erotischen Richtung wird dies in Les Liaisons Dangereuses (1986) versucht, das an Choderlos de Laclos' gleichnamigem Roman modelliert ist und an der E m o tionslosigkeit und Perversion sexueller Beziehungen die Deformation menschlicher 37 38

Einen Vergleich der Texte skizziert Glaap, op.cit., pp. 64—80. Christopher Hampton, The Philanthropist. A Bourgois Comedy (London: French, 1970), p. 13. 247

Kommunikationsbezüge generell illustriert. Hierin stellt Hamptons Stück übrigens eine interessante Parallele zu Heiner Müllers Quartett dar, das ebenfalls auf Liaisons Dangereuses zurückgeht und beim Stuttgarter »Theater der Welt« 1987 unter der Regie von Robert Wilson aufgeführt wurde. 39

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Ein diagonal über die Bühne gezogener durchsichtiger Vorhang symbolisierte dabei die >Zwischenwelt< der Entfremdung, die die agierenden Personen voneinander trennt.

9. Schlußbemerkung und Resümee

Der vorstehende Überblick sollte zeigen, daß das Paradigma der abstrakten Gesellschaft, das hier als Interpretationsmodell für das moderne englische Drama angesetzt wurde; über die ausführlich besprochenen >klassischen< Autoren hinaus anwendbar ist. Es bezeichnet, so läßt sich resümieren, eine neuartige Dimension des Gesellschaftsbezugs, die auch in den Dramen der jüngeren Autoren in freilich unterschiedlicher Weise wirksam ist. An den beiden Polen des skizzierten Spannungsfeldes — dem Pol einer unmittelbar-politischen Ästhetik und dem Pol einer apolitischen Spielästhetik des Dramas — gibt es Übergänge zu anderen Konzeptionen des Theaters: einmal zur konkreten Darstellung und Anprangerung sozialer Mißstände im Sinn eines didaktischen Agitproptheaters, zum anderen zum Rückzug auf die Unterhaltungsfunktion des Theaters und auf die Vermittlung privater Lebensprobleme. Hier werden, wie bei den vielfältigen Formen eines alternativen irjnge-Theaters und bei den in den 80er Jahren sich herausbildenden Richtungen eines feministischen Theaters,1 die Randzonen des Geltungsbereichs dieses Deutungsmodells sichtbar, was allerdings m.E. nichts Grundsätzliches an seiner Relevanz für den weitaus überwiegenden Teil der modernen englischen Dramatik bis in deren aktuelle Ausprägungsformen hinein ändert. Die abstrakte Gesellschaft, so läßt sich resümieren, hat für das moderne englische Drama eine thematische, eine strukturelle und eine intertextuelle Bedeutung. Thematisch gesehen wirft sie Grundfragen menschlicher Existenz angesichts einer geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung auf, aus der der Mensch selbst als bestimmender Faktor zu verschwinden droht und die durch eine Verselbständigung der Probleme einer technologischen Zivilisationswelt gegenüber den konkreten Lebensinteressen der einzelnen gekennzeichnet ist. Der Abbau an Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit und unproblematischer Zugänglichkeit der Realität, ihre »Verbegrifflichung und Entsinnlichung«,2 die mit dieser Entwicklung einhergeht, betrifft zugleich auch das M a terial· des Dramas. Die abstrakte Ungreifbarkeit und Unzugänglichkeit der gesellschaftlichen Sekundärwelt steht in einem ständigen Spannungsverhältnis zu den Bedürfnissen und Erfordernissen der primären, kommunikativen Lebenswelt, aber damit auch zu den Prinzipien des Dramatischen selbst, insofern dieses auf die Darstellung konkreten Handelns und zwischenmenschlicher Interaktion angewiesen ist. Der geschichtliche Realitätsverlust dieser konkreten intersubjektiven Handlungsdi1

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Michelene Wandor unterscheidet drei Richtungen des feministischen Theaters in den 80er Jahren, "radical feminism," "bourgeois feminism and bourgois radical femimism," und "socialist feminism." — "Culture, Politics and Values in Plays by women in the 1980s," Englisch Amerikanische Studien, 3/4 (Dez., 1986), 441-48. Α. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, p.25.

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mension schlägt sich daher auf die Struktur der Stücke von Osbornes Look Back in Anger bis zu Shaffers Equus und den Dramen der jüngeren Autoren nieder. Die Konflikte finden nicht mehr primär zwischen den handelnden Personen statt, sondern zwischen zwei verschiedenen Realitätsebenen, die sich gegenseitig in ihrem Wirklichkeitsanspruch dementieren, oder in der hier verwendeten Begrifflichkeit gesagt, zwischen einem anthropozentrischen und einem anthropofugalen Handlungsmodell. Die spezifische Form der Dramatik, die sich hieraus entfaltet, ist notwendigerweise gebrochen. Sie konstituiert sich im Spannungsverhältnis zu einer ihrer Natur nach undramatisch, eben abstrakt gewordenen gesellschaftlichen Bezugswelt, und sie bezieht ihr innovatives Potential auf paradoxe Weise gerade aus dieser Krise ihres Realitätszugangs, aus der Infragestellung ihrer eigenen Möglichkeit. Das charakteristische Strukturmodell des Neuen Englischen Dramas läßt sich von hier aus zusammenfassend in folgenden Aspekten beschreiben, die in freilich unterschiedlicher Akzentuierung an den herangezogenen Dramenbeispielen aufweisbar sind: (1) Es ist gekennzeichnet durch die situationsbestimmende Rolle einer unpersönlichen, gegenüber den einzelnen verselbständigten Handlungsinstanz (die etwa in Gestalt ideologischer oder wissenschaftlich-technologischer Instanzen, in Gestalt ökonomischer, politischer oder bürokratischer Apparate, in Gestalt von >Textualität< im weitesten Sinn, von Medien und Informationstechnologien u. a. m. in Erscheinung tritt), welche als abstrakte Sekundärwelt die primäre Erfahrungswelt der Menschen überlagert und ihr Handeln und ihre Subjektivität implizit entwertet und entwirklicht. Die teleologischen Handlungsentwürfe der Menschen prallen an den zirkulären Handlungsmustern dieser Sekundärwelt ab, womit der Akzent von den Inhalten menschlichen Handelns auf die Frage nach dessen Möglichkeit verlagert wird, menschliches Handeln wird als solches zum Problem. (2) Hiermit zusammen hängt eine fundamentale Identitätskrise der Figuren, für die sich die Paradoxie der beschriebenen Grundsituation — nämlich eine subjektiv als unwirklich erlebte Realität zugleich als objektiv übermächtig zu erfahren — tendentiell zur schizophrenen Selbstentfremdung steigert. Die >Helden< der Stücke als die fiktionalen Repräsentanten des gegenwärtigen Menschen sind zutiefst gespalten, da sie dem Imperativischen Anpassungszwang einer Welt ausgesetzt sind, die gerade ihren persönlichen Identitätsanspruch negiert bzw. ignoriert. 3 Damit wird auch hier der Akzent von den inhaltlichen Identitätsbestimmungen der Charaktere auf die Frage nach der Möglichkeit von Identität verlagert, der anthropozentrische, mit sich selbst identische Charakter wird als solcher zum Problem. (3) Dies führt weiterhin zu einer grundsätzlichen Krise der menschlichen Kommunikation, die gleichfalls >schizophrene< Züge annimmt, da sie nur noch unter der Fiktion

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Den Zusammenhang zwischen der Entwirklichung der Welterfahrung und schizophrenen Tendenzen der modernen Subjektivität zeigt auch Dietrich Schwanitz in dem bereits o.g. Buch Die Inszenierung der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Inszenierung auf und identifiziert darin einen Grundzug des modernen Dramas generell, der im englischen Drama, wie ich hier zu zeigen versuchte, eine ganz spezifische, um das Phänomen der 'abstract society' zentrierte Ausprägung gewinnt. Schwanitz' Buch deutet damit jedoch die prinzipielle Anschließbarkeit der hier vorgelegten Strukturanalyse des englischen Dramas an die Diskussion des modernen Dramas allgemein an.

konkreter Zwischenmenschlichkeit stattfindet, insofern die Identität der Kommunikationspartner selbst in ihrer persönlichen Substanz von Grund auf infragegestellt ist. Die abstrakte Sekundärwelt der Gesellschaft greift in einer Weise in die Beziehungen der Menschen ein, daß sie diese voneinander isoliert, Indifferenz und Aggression zwischen ihnen erzeugt, zu existentiellen Verständigungskrisen führt. Erneut läßt sich auch hier eine Akzentverlagerung von den Inhalten zur Frage nach der Möglichkeit konkreter Kommunikation selbst erkennen; zwischenmenschliche Kommunikation, die die soziokulturelle Grundlage des Dramas ist, wird als solche zum Problem. (4) Der beschriebene Paradigmawechsel im Gesellschafts- und Handlungsbegriff des Dramas hat somit, wie hier noch einmal deutlich wird, gleichzeitig eine Krise des Dramas als Medium zur Folge, das sich in der Thematisierung der modernen Gesellschaft implizit ständig selbst thematisch wird. Der im englischen Gegenwartstheater vorherrschende Dramentyp verbindet daher Drama und Metadrama, ernsthafte Auseinandersetzung und spielerische Simulation, Analyse der Entfremdung und die symbolische Uberwindung der Entfremdung durch deren konkretisierende Darstellung auf der Bühne, d.h. durch die Kommunikation mit dem Publikum. Für die Ästhetik dieses Dramentyps ist demnach kein eindeutig bestimmbarer Stil charakteristisch, sondern eine — jeweils verschieden gewichtete, aber doch durchgängig erkennbare — Mischung modernistischer Dramenstile, die auf der Basis einer im weitesten Sinn realistischer Zielsetzung die vor allem im Epischen und im Absurden Theater entwikkelten Mittel zur Darstellung der kulturellen Entfremdungsthematik kombiniert und zu einer neuen Synthese führt. Werden so die Techniken des modernistischen Theaters auf neue Weise verfügbar und für die Kommunikation mit dem Zuschauer eingesetzt, so bedeutet dies jedoch nicht, daß das englische Drama — in seiner Grundtendenz — die postmodernistische Wende zum völligen Subjektivismus und Relativismus seiner Inhalte und zur reinen Selbstreferentialität seiner Struktur mitmacht. Vielmehr sollten die hier vorgelegten Analysen zeigen, daß für das englische Gegenwartsdrama ein wie auch immer vermittelter und gebrochener Wirklichkeitsbezug grundlegend ist und daß es seine Spannung und Dynamik gerade aus der kritischen Auseinandersetzung mit einer wertindifferenten, sich als >postmodern< oder >posthumanistisch< verstehenden Welt gewinnt. Daß das Neue Englische Drama von hier aus auch als intertextuelles Phänomen beschreibbar wird, zeigen die vielen Parallelen zwischen den verschiedenen Stücken und Autoren, die gezogen werden konnten. Es ist offensichtlich, daß die englischen Gegenwartsdramatiker nicht nur auf die literarische Tradition, sondern sehr stark auch aufeinander reagieren. Eine detaillierte Darstellung dieser Wechselbeziehungen würde ein eigenes Buch erfordern. Von den Ergebnissen der hier vorgelegten Analysen her scheint es jedoch, daß dem Problemkomplex der abstrakten Gesellschaft in der Bestimmung dieser übergreifenden Intertextualität des modernen englischen Dramas eine zentrale Rolle zukommt.

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Literaturverzeichnis

Vorbemerkung·. Was folgt, ist eine Liste der für diese Arbeit verwendeten Literatur. Für weitere bibliographische Hinweise zum modernen englischen Drama vgl. Karl-Heinz Stoll, The New British Drama: A Bibliography with Particular Reference to Arden, Bond, Osbome, Pinter, Wesker (Bern/Frankfurt, 1975); Kimball King, Twenty Modem British Playwrights: A Bibliography 1956 to 1976 (New York, 1977); E.H. Mikhail, Contemporary British Drama 1950-1976: An Annotated Critical Bibliography (London/Basingstoke, 1976); Theatrefacts: International Theatre Reference (London, 1974ff.); Theater Research International (Oxford, 1958ff.); Ch. A. Carpenter (Ed.), Modern Drama Scholarship and Criticism 1966—1980 (Toronto, 1985); verwiesen sei ferner insbesondere auf die "Annual Bibliography" der Zeitschrift Modem Drama, in der die wichtigsten Arbeiten zu dem Themenkreis erfaßt sind.

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