Max Webers Theorie des modernen Staates: Herkunft, Struktur und Bedeutung [3 ed.] 9783428543663, 9783428143665

Diese vielbeachtete Studie unternimmt eine umfassende Darstellung und Interpretation der Weberschen Staatstheorie. Sie r

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Max Webers Theorie des modernen Staates: Herkunft, Struktur und Bedeutung [3 ed.]
 9783428543663, 9783428143665

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 82

Max Webers Theorie des modernen Staates Herkunft, Struktur und Bedeutung

Von Andreas Anter

Dritte, aktualisierte und überarbeitete Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

ANDREAS ANTER

Max Webers Theorie des modernen Staates

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 82

Max Webers Theorie des modernen Staates Herkunft, Struktur und Bedeutung

Von Andreas Anter

Dritte, aktualisierte und überarbeitete Auflage

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 1995 2. Auflage 1996 Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-14366-5 (Print) ISBN 978-3-428-54366-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84366-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort zur 3. Auflage In diesem Buch geht es nicht darum, Max Webers ungeschriebene Staatssoziologie nachträglich zu einem guten Ende zu bringen, sondern vielmehr die staatstheoretischen Fragmente im Kontext des Werks wie auch der politischen Ideengeschichte zu analysieren. Dabei tritt eine charakteristische Ambivalenz seines politischen Denkens zutage: das Schwanken zwischen einer etatistischen Haltung, die sich an der Staatsräson orientiert, und einer individualistischen Haltung, die nach der Persönlichkeit des Einzelnen im Konflikt mit den Lebensordnungen fragt. Max Webers Fragestellungen sind unvermindert aktuell; sie berühren staatstheoretische Kernprobleme, zu denen insbesondere die Fragen der staatlichen Legitimität und die der Konflikte zwischen Freiheit und Ordnung gehören. Nach der Veröffentlichung dieser Studie fand mein Vorhaben eine freundliche Aufnahme.* Die erste Auflage war rasch vergriffen. Sie war meine Dissertation, mit der ich an der Universität Hamburg promoviert hatte. Während die zweite Auflage weitgehend unverändert blieb, ist die vorliegende dritte Auflage jetzt vollständig überarbeitet und aktualisiert. Dabei wurde die zwischenzeitlich 1

——————— * Vgl. die Rezensionen von Furio Ferraresi, in: Filosofia Politica 9 (1995), S. 489-490; Stefan Breuer, Halb preußisch, halb englisch. Max Webers Staatstheorie: Andreas Anter erschließt ein weites, unbekanntes Land, in: FAZ vom 16. Mai 1995, S. 43; Giuseppe Balistreri, in: Informazione Filosofica 26 (1995), S. 50; Constans Seyfarth, in: Soziologische Revue 18 (1995), S. 605; Claas Thomsen, Gewaltmonopol als Maßstab. Auf der Suche nach dem Staat, in: Bonner General-Anzeiger vom 27. September 1995, S. 23; Martin Gralher, Suche nach dem Politischen, in: Das Parlament, 2. Februar 1996, S. 14; Gregor Schöllgen, in: HZ 262 (1996), S. 141; Dietmar Willoweit, in: ZNR 18 (1996), S. 333-335; Wolfgang Reinhard, in: Der Staat 35 (1996), S. 482-483; Otfried Höffe, in: ZPF 1996, S. 522; A. Braeckman, in: Tijdschrift voor Filosofie 58 (1996), S. 770-771; E. Bolsinger, Max Weber’s Sociology of the State, in: Telos 109 (1996), S. 182-185; Reinhard Mehring, in: Jahrbuch Politisches Denken (1997), S. 181-184; Claus Leggewie, Im Gehäuse der Hörigkeit, in: Süddeutsche Zeitung vom 1. März 1997, S. VI; Friedhelm Kröll, in: Das Argument 39 (1997), S. 432-433; Stephan Ganglbauer, Über die politische Wissenschaft eines homo politicus, in: SWS-Rundschau 37 (1997), S. 489-491; Jörg Luther, in: AöR 122 (1997), S. 658-659; Pier Paolo Portinaro, Weberiana, in: Teoria Politica 13 (1997), S. 185-187; Paul-Ludwig Weinacht, in: Historisches Jahrbuch 118 (1998), S. 374-376; Nolberto A. Espinosa, in: Filosofía 12 (1998), S. 44-45; Gianfranco Poggi, Recent Work on Weber, in: Political Theory 26 (1998), S. 588-590; Agostino Carrino, in: Diritto e cultura (1999), S. 195-196; Hartmann Tyrell, Physische Gewalt, gewaltsamer Konflikt und ‚der Staat‘, in: Berliner Journal für Soziologie 9 (1999), S. 282-285; Bernd Wunder, in: Zeitschrift für Historische Forschung 26 (1999), S. 420-421; Sven Eliaeson, in: ZfP 47 (2000), S. 97-98.

6

Vorwort zur 3. Auflage

erschienene Literatur eingearbeitet; erledigte Debatten wurden aussortiert; Einwände aus der Kritik wurden, soweit berechtigt, berücksichtigt. Die Webertexte sind nunmehr nach der inzwischen fast vollständigen Max-Weber-Gesamtausgabe zitiert. Zur besseren Orientierung sind in Klammern zusätzlich jeweils die Seiten der alten Winckelmann-Editionen angegeben. Die ersten Anregungen zur Beschäftigung mit Webers Werk verdanke ich Wilhelm Hennis, in dessen Freiburger Lehrveranstaltungen mein Interesse geweckt wurde. In späteren Jahren, während meiner Lehrtätigkeit in Hamburg und in Leipzig, waren es nicht zuletzt sein freundschaftlicher Zuspruch und seine Webertexte, die mein Interesse stets lebendig hielten, gelegentlich war es auch seine Kritik. Er liebte den Disput. Sein Motto war, natürlich, von Weber: „Bitte polemisieren Sie so scharf wie möglich gegen meine Ansichten an den Punkten, wo wir differieren.“ In seinen letzten Lebensjahren war er milder gestimmt. Ich denke mit Dankbarkeit an ihn zurück. Die Entscheidung für eine vollständig überarbeitete Neuauflage wurde durch einen Aufenthalt als Fellow am Hanse Wissenschaftskolleg im Jahr 2011/2012 sehr erleichtert. Für bibliographische Recherchen und redaktionelle Mithilfe bei der Überarbeitung bin ich Hannah Bethke, Verena Frick und Armin Gliem verbunden. Christoph Enders danke ich für das staatstheoretische Gespräch und die gemeinsamen verfassungsrechtlich-politologischen Kolloquien während meiner Lehrtätigkeit an der Universität Leipzig. Meiner Frau Maja Anter bin ich für die Lektüre und Kritik des Manuskripts dankbar, und nicht weniger für ihre Unterstützung. – Meinen Eltern ist dieses Buch gewidmet. Erfurt, im Dezember 2013

Andreas Anter

Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................................................................................

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs ......................................................................... 1. Der idealtypische Charakter des Staatsbegriffs .............................................. 2. Der Staat ohne Eigenschaften? Die Staatszweckfrage ................................... 3. Das Gewaltmonopol ....................................................................................... 4. Der Staat als Anstalt ....................................................................................... 5. Das Kriterium des Politischen ........................................................................

19 22 25 36 48 52

II. Staat und Herrschaft ........................................................................................ 1. Staat und Legitimität ...................................................................................... 2. Schwindelfrei über dem Abgrund: Die Legitimität der Legalität .................. 3. Charismatische Herrschaft im modernen Staat? ............................................. 4. Von persönlicher zu unpersönlicher Herrschaft ............................................ 5. Demokratie und Bürokratie im modernen Staat ............................................

59 65 71 76 80 85

III. Hermeneutik des Staates ................................................................................ 1. Die handlungstheoretische Staatsauffassung ................................................ 2. Der Begriff der Chance ................................................................................. 3. Erkenntnis des Staates ...................................................................................

95 95 103 110

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre ............................................................... 1. Der Gesichtspunkt der Staatsräson ............................................................... 2. Der Wert der Nation ..................................................................................... a) Der Begriff der Nation ............................................................................. b) Staat und Nation ...................................................................................... 3. Der Machtstaat ............................................................................................. 4. Staat und Ethik ............................................................................................. 5. Der Staat und der Kampf der Werte ............................................................. 6. Max Webers Ambivalenz .............................................................................

117 120 126 130 133 140 150 156 163

V. Archäologie des modernen Staates ................................................................. 1. Die Entstehung des modernen Staates ........................................................... 2. Die Geschichte des Staates als Geschichte der Bürokratie ...........................

166 169 175

8

Inhaltsverzeichnis

3. Max Webers Fragestellungen ........................................................................ 4. Staat und Recht .............................................................................................. a) Rationales Recht, rationaler Staat ............................................................. b) Der Sieg des Rechtspositivismus .............................................................. 5. Die Rationalisierung des Staates ...................................................................

188 192 199 205 208

VI. Der Staat als Maschine ................................................................................... 1. Die Metapher der Staatsmaschine ................................................................ 2. Der Staat als Betrieb ..................................................................................... 3. Max Webers Ambivalenz .............................................................................

215 216 222 227

Schlußbemerkung ..................................................................................................

237

Literaturverzeichnis ..............................................................................................

240

Personenregister .....................................................................................................

265

Abkürzungsverzeichnis ABG

Archiv für Begriffsgeschichte

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

ASSP

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik

ASSR

Archives de sciences sociales des religions

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

FS

Festschrift

GASS

Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924

GASW

Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1924

HStR

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Josef Isensee und Paul Kirchhof

HZ

Historische Zeitschrift

JCS

Journal of Classical Sociology

JB

Max Weber, Jugendbriefe, hg. v. Marianne Weber, Tübingen 1936

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart

JZ

Juristenzeitung

KJ

Kritische Justiz

KZfSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie

MWG

Max Weber Gesamtausgabe

ND

Neudruck

NPL

Neue Politische Literatur

PS

Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, hg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1988

PVS

Politische Vierteljahresschrift

RJ

Rechtshistorisches Journal

10

Abkürzungsverzeichnis

RS

Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde, Tübingen 1920-1921

SchmJb

Schmollers Jahrbuch

SZ

Süddeutsche Zeitung

VerwArch Verwaltungsarchiv VfS

Verein für Socialpolitik

VfZ

Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte

WG

Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, hg. v. S. Hellmann u. M. Palyi, München 1923

WL

Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, 6. Aufl. Tübingen 1985

WuG

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1985

ZfP

Zeitschrift für Politik

ZHF

Zeitschrift für Historische Forschung

ZNR

Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte

ZPF

Zeitschrift für philosophische Forschung

ZPol

Zeitschrift für Politikwissenschaft

Einleitung Das politische Denken der Moderne wird von kaum einem anderen Bezugspunkt so beherrscht wie von dem des Staates. Auch Max Weber stellt den Staat über alle anderen Gegenstände seines Werks, wenn er ihn als den „wichtigsten konstitutiven“ Bestandteil jedes Kulturlebens bezeichnet.1 Zu den Aufgaben seiner Wissenschaft zählt er in erster Linie die Analyse der „politischen Handlungen und Gebilde“, zu denen er wiederum vor allem den Staat rechnet.2 Die Frage „Was ist: ein Staat?“ bildet den Auftakt seiner Rede Politik als Beruf,3 und am Schluß der Soziologischen Grundbegriffe steht die Staatsdefinition.4 Die prominente Rolle, die der Staat bei Weber spielt, schlägt sich auch in einer Vielzahl staatstheoretischer Reflexionen nieder. Gleichwohl geht er staatstheoretischen Fragen nirgends in größerem Zusammenhang nach. Eine systematische Staatslehre, Staatstheorie oder Staatssoziologie hat Weber bekanntlich nicht entwickelt, sondern sich stets nur en passant mit dem Staat auseinandergesetzt, und auch diese Exkurse gehen selten über wenige Sätze hinaus. Sie sind über sein ganzes Werk verstreut und finden sich in den unterschiedlichsten Zusammenhängen: in den agrarpolitischen Arbeiten des Frühwerks, in den wissenschaftstheoretischen Aufsätzen, in den einzelnen Soziologien und in den politischen Schriften. Weber, der sich in seinen späten Jahren verstärkt mit staatstheoretischen Themen beschäftigte, die auch einen Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit der letzten Semester bildeten,5 plante zwar die Ausarbeitung einer Staatssoziologie, die am Schluß der Herrschaftssoziologie stehen sollte, aber dieses Vorhaben blieb unausgeführt. Die Staatssoziologie ist jedoch nicht seine „Unvollendete“. An-

——————— 1

Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: WL, S. 166. 2 Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917), in: WL, S. 538. 3 Weber, Politik als Beruf (1919), in: MWG I/17, S. 158 (PS 505). 4 Weber, WuG, S. 29. 5 Vgl. Weber, Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie). MWG III/7, S. 65-117; sowie Stefan Breuer, Von der sozialen Staatslehre zur Staatssoziologie. Georg Jellinek und Max Weber, in: Andreas Anter (Hg.), Die normative Kraft des Faktischen, Baden-Baden 2004, S. 89-112 (97ff.); ders., Max Webers Staatssoziologie, in: KZfSS 45 (1993), S. 199-219 (215ff.); Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, 3. Aufl. Tübingen 2004, S. XIX; Gangolf Hübinger, Einleitung, in: MWG III/7, S. 1ff.

12

Einleitung

ders als etwa bei Mahlers 10. Sinfonie oder Kafkas Schloß fehlt nicht nur der Schluß. Der Versuch Johannes Winckelmanns, das Projekt zu vollenden und aus einzelnen Abschnitten der späten politischen Schriften eine Staatssoziologie zu montieren,6 muß jedenfalls als fragwürdiges Unternehmen gewertet werden. Er bedient sich des unhaltbaren Verfahrens, die Passagen der zeitbezogenen Schriften aus ihrem Zusammenhang zu reißen, das Zeitbezogene dabei auszugrenzen, die Texte durch z.T. rigide Eingriffe zu zergliedern und schließlich, wie er selbst sagt, „reine Werturteile“ zu eliminieren.7 Ein solches Vorgehen wird weder den Texten noch dem Selbstverständnis Webers gerecht, und es bleibt schleierhaft, welchem „didaktischen Interesse“ oder „Forschungsinteresse“8 dieses Projekt dienlich sein soll. Mit Recht stieß der Versuch auf Kritik, vor allem aufgrund der Methode, eine solche Staatssoziologie mosaikartig aus den politischen Schriften zusammenzusetzen.9 Wilhelm Hennis wertet das ganze Unternehmen als „Mißgriff“, da er Webers „vielen Ankündigungen der Staatssoziologie“ keinen Glauben schenken mag und keine Bedeutung beimessen will: Nicht Webers früher Tod, sondern „die Begrenzungen seiner Frageabsichten“ hätten eine Staatssoziologie verhindert, und daher sei „hier nichts mehr zu erwarten gewesen“.10 Die Frage, ob hier noch etwas zu erwarten war oder nicht, gehört naturgemäß in den Bereich der Spekulation. Zieht man jedoch den Stoffplan der Münchner Staatssoziologievorlesung heran,11 dann zeigt sich rasch, daß sie thematisch weitgehend mit der Herrschaftssoziologie überschneidet. Die Wahrscheinlichkeit, daß die „Staatssoziologie“ etwas prinzipiell Neues enthalten hätte, ist demnach also eher gering. Ebenso wenig wie eine ausgearbeitete Staatssoziologie existiert auch eine geschlossene Staatslehre Max Webers. Er schreibt am 23. Januar 1913 zwar an seinen Verleger Paul Siebeck, sein eigener Beitrag zum Grundriß der Sozialökonomik enthalte „eigentlich eine vollständige soziologische Staatslehre im Grundriß“, und er kündigt dem Verleger elf Monate später „eine umfassende soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre“ an,12 aber hinsichtlich dieser Aussagen ist durchaus eine Hennis’sche Skepsis angebracht. Welche Motive auch immer Weber zu diesen brieflichen Ankündigungen bewogen haben mögen –

——————— 6

Vgl. Weber, Staatssoziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, 3. Aufl. Berlin 2011. Winckelmann, Vorwort zur 4. Aufl. von WuG, S. XXIX. 8 Ebd. 9 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. XIX. 10 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 110. 11 Weber, Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie). MWG III/7, S. 66. 12 Weber, Briefe an Paul Siebeck vom 23. Januar 1913 und vom 30. Dezember 1913, in: ders., Briefe 1913-1914. MWG II/8, S. 53 u. 450. 7

Einleitung

13

ein Blick in die betreffenden Abschnitte von Wirtschaft und Gesellschaft zeigt, daß es sich hier wohl kaum um eine „umfassende soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre“ handelt.13 Die staatstheoretischen Fragmente Webers sind zudem über das ganze Werk verstreut und lassen sich nur durch eine systematische Bestandsaufnahme aller staatstheoretischen Aspekte erschließen. Dabei korrespondiert die Vielzahl dieser Aspekte mit einer Pluralität von Dimensionen. Der Staat, der in den Soziologischen Grundbegriffen als „politischer Anstaltsbetrieb“ definiert wird, welcher über das „Monopol legitimen physischen Zwanges“ verfügt,14 erscheint in anderen Zusammenhängen als „Herrschaftsverhältnis“, als „Komplex eines spezifischen Zusammenhandelns von Menschen“, als „Maschine“, als „Knäuel von Wertideen“, als Rechtsordnung oder als bürokratischer Apparat. In den folgenden Kapiteln werden die herrschaftssoziologischen, handlungstheoretischen, historischen, juristischen, ethischen, erkenntnistheoretischen und werturteilstheoretischen Perspektiven erstens erschlossen, strukturiert und vergleichend untersucht; zweitens wird die jeweilige theoriegeschichtliche Herkunft der Positionen gezeigt, und drittens deren Bedeutung für die heutige Staatslehre und Politikwissenschaft geprüft. Der Aufbau der Studie ist daran orientiert, jene Dimensionen schrittweise zu entfalten und eine Struktur der Weberschen Staatstheorie hervortreten zu lassen. Der Staatsdefinition kommt eine axiomatische Bedeutung zu, da dort bereits zentrale Aspekte seines Staatsdenkens verankert sind: die Kriterien des Gewaltmonopols, des Anstaltscharakters, des Politischen, der Legitimität und der Ordnung (Kap. I). Anschließend werden zunächst die herrschaftssoziologischen Perspektiven und der grundlegende Zusammenhang von Staat und Legitimität untersucht (Kap. II). Daran knüpft sich die Analyse seiner Dechiffrierung des Staates, die eng mit einer erkenntnistheoretischen Fundierung verflochten ist (Kap. III). Diese bildet die Grundlage für die Erschließung der werturteilstheoretischen Dimension seines Staatsdenkens; der Klärung des Verhältnisses sowohl von Staat und Nation als auch von Ethik und Staatsräson (Kap. IV). Der elementare Zusammenhang von Staat und Recht, Bürokratisierung und Rationalisierung wird im Rahmen seiner Positionen zur Entstehung des modernen Staates betrachtet (Kap. V). Im Kontext seines Verständnisses des Staates als Bestandteil des okzidentalen Rationalisierungsprozesses steht schließlich die Interpretation seiner Sicht des Staates als Maschine (Kap. VI). Eine Auseinandersetzung mit Webers Staatstheorie erschien umso lohnender, als sie in der Weberforschung oft als Desiderat formuliert wurde. Schon in den sechziger Jahren forderte Karl Loewenstein eine „zusammenfassende Darstel-

——————— 13 14

Vgl. Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, Wiesbaden 2011, S. 3ff. Weber, WuG, S. 29.

14

Einleitung

lung seiner Staatslehre“,15 aber noch Anfang der neunziger Jahre kam Stefan Breuer zu dem Schluß, eine überzeugende Darstellung der Weberschen Staatstheorie sei nach wie vor ein Desiderat.16 Diese Lücke zu schließen, war für mich einer der Gründe, die vorliegende Studie in Angriff zu nehmen. Inzwischen liegt eine Anzahl weiterer Untersuchungen vor, die jeweils einzelne Aspekte der Weberschen Staatstheorie vertiefen, vor allem ihre juristische,17 historische18 und ideengeschichtlich-werkgenetische19 Dimension. Webers Staatstheorie kann nicht ohne den theoriegeschichtlichen Hintergrund der staatswissenschaftlichen Diskussion der Jahrhundertwende beurteilt werden. Wie jeder Denker, ist Weber historisch zu lesen und zu verstehen, da man seinen Positionen und Begriffen nur von ihrem Bezugsrahmen und ihren Denkvoraussetzungen her gerecht werden kann. Die Frage nach diesem Bezugs-

——————— 15 Karl Loewenstein, Max Webers Beitrag zur Staatslehre in der Sicht unserer Zeit, in: Karl Engisch u.a. (Hg.), Max Weber. Gedächtnisschrift, Berlin 1966, S. 131-146 (132). 16 Breuer, Neue Max Weber-Literatur, in: NPL 35 (1990), S. 14. – Michael Zängles Buch Max Webers Staatstheorie im Kontext seines Werkes (Berlin 1988) handelt überwiegend von Dingen, die mit Webers Staatstheorie nichts zu tun haben (so bereits Breuer, Neue Max Weber-Literatur, S. 14). Zudem ist das Buch offenbar in Unkenntnis weiter Teile des Weberschen Werks geschrieben worden. Die wichtigsten Aspekte von Webers Staatstheorie bleiben unberücksichtigt. Nicht zuletzt weisen die Ausführungen haarsträubende Mißverständnisse auf, etwa daß Webers Legitimitätstheorie eine „Manipulationstheorie“ sei (S. 82), „sozialdarwinistische“ Ursprünge habe und „von vornherein Legitimation als Täuschung“ impliziere (S. 69). 17 François Chazel, Communauté politique, État et droit dans la sociologie Wébérienne, in: L’Année sociologique 59 (2009), S. 275-301; Michel Coutu/Guy Rocher (Hg.), La légitimité de l’État et du droit. Autour de Max Weber, Québec/Paris 2006; Realino Marra, La religione dei diritti. Durkheim - Jellinek - Weber, Torino 2006, S. 138ff.; Furio Ferraresi, Il fantasma della comunità: Concetti politici e scienza sociale in Max Weber, Milano 2003, S. 22ff.; Andreas Anter, Charisma und Anstaltsordnung: Max Weber und das Staatskirchenrecht seiner Zeit, in: Hartmut Lehmann/Jean Martin Ouédraogo (Hg.), Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, Göttingen 2003, S. 29-49; Stephen P. Turner/Regis Factor, Max Weber: The Lawyer as Social Thinker, London/New York 1994, S. 93ff. 18 Breuer, Wege zum Staat, in: Andreas Anter/Stefan Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie, Baden-Baden 2007, S. 57-77; Siegfried Hermes, Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft. Max Webers verstehende historische Soziologie am Beispiel des Patrimonialismus, Berlin 2003; Andreas Anter, Von der politischen Gemeinschaft zum Anstaltsstaat, in: Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 2001, S. 121-138; Patrice Mann, La genèse de l’État moderne: Max Weber revisité, in: Revue française de sociologie 41 (2000), S. 331-344; Breuer u. a., Entstehungsbedingungen des modernen Anstaltsstaates, in: ders./Hubert Treiber (Hg.), Entstehung und Strukturwandel des Staates, Opladen 1982, S. 75ff. 19 Hübinger, Einleitung, in: MWG III/7; Duncan Kelly, The State of the Political: Conceptions of Politics and the State in the Thought of Max Weber, Carl Schmitt and Franz Neumann, 2. Aufl. Oxford 2008, S. 73ff.; Andreas Anter, Max Webers Staatssoziologie im zeitgenössischen Kontext, in: ders./Stefan Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie, S. 13-37; Siegfried Hermes, Der Staat als „Anstalt“, in: Klaus Lichtblau (Hg.), Max Webers ‚Grundbegriffe’, Wiesbaden 2006, S. 184-216; Ferraresi, Il fantasma della comunità, S. 190ff.; Breuer, Max Webers Staatssoziologie.

Einleitung

15

rahmen birgt jedoch Probleme, auf die bereits Wilhelm Hennis hingewiesen hat: „Webers Werk bereitet der Interpretation so große Schwierigkeiten, weil fast jeder seiner Texte in nicht deutlich gemachten Zusammenhängen steht, die den Zeitgenossen in aller Regel ohne besondere Erläuterung geläufig waren.“20 Auch Wolfgang J. Mommsen beklagt, daß sich nur wenige „eindeutige Spuren zeitgeschichtlicher Auffassungen“ finden lassen, „die man als Anhaltspunkte benutzen könnte, um Webers Werk einer bestimmten geistesgeschichtlichen Position zuzuordnen“.21 In der Tat hat Weber nur äußerst selten seine Quellen offengelegt, weshalb die Suche nach diesen Bezügen einer detektivischen Aufgabe gleicht. Wenn er mit jugendlicher Autorität über Livius sagt, es sei „schwierig festzustellen“, „wie er seine Quellen benutzt hat und was für welche er benutzt hat“,22 dann gilt gleiches auch für ihn selbst. Er nimmt fast nirgends Bezug auf theoriegeschichtliche Positionen und legt kaum Verweisspuren, die es ermöglichen könnten, ihn ohne weiteres in spezifische Traditionslinien zu stellen. Ja es scheint vielmehr, als sei er darum bemüht gewesen, solche Verweisspuren zu vermeiden, wenn nicht gar zu verwischen. Da Weber uns über seine Quellen weitgehend im Dunkeln läßt, müssen wir uns auf die Spurensuche begeben. Er hat zwar selbst keine Fährten gelegt, aber unbeabsichtigt eine Strategie für ein solches Vorhaben vorgegeben: Wenn er sagt, bei der Gewinnung von Einsicht „in die politische ‚Eigenart‘ eines Staates“ müsse man „gerade so verfahren wie ein Faust-Interpret“,23 kann man sich dies auch für die Erkenntnis seiner Staatslehre zu eigen machen. Das Geschäft der politischen Theoriegeschichte ist zu einem nicht geringen Teil ein philologisches Geschäft. Diese Studie verfolgt mithin das Ziel, den theoriegeschichtlichen Bezugsrahmen seiner Staatstheorie zu zeigen. Dabei geht es weniger darum, nach „Vorläufern“ seiner Gedanken zu suchen, sondern danach zu fragen, in welchen Zusammenhängen er zu sehen ist, welche Positionen er übernommen und wie er sie verarbeitet hat. Von entscheidender Relevanz ist hier die deutsche Staatslehre seiner Zeit, vor allem die Allgemeine Staatslehre Georg Jellineks, dessen Einfluß auf Weber an zentralen Punkten überprüft und nachgewiesen wird. Weber selbst sagte in seiner Gedenkrede auf Jellinek – einem Dokument der Verehrung und Freund-

——————— 20 Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1996, S. 155. 21 Mommsen, Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1982, S. 98. 22 Weber, Brief an seinen Vetter Fritz Baumgarten vom 9. September 1878, in: JB, S. 11. 23 Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), in: WL, S. 263.

16

Einleitung

schaft –, er habe „wesentlichste Anregungen ... aus seinen großen Arbeiten“ erhalten.24 So wurde bereits seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts vielfach darauf hingewiesen, daß eine genauere Bestimmung ihres Verhältnisses wünschenswert sei.25 Wilhelm Hennis hielt ein solches Unterfangen für obsolet und glaubte, meine Darstellung erliege einer „Überschätzung von Webers Respekt“, da Webers „Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung Jellineks“ sich in Grenzen gehalten habe.26 Die Quellen indes sprechen eine andere Sprache. Nicht nur Webers Gedenkrede auf Jellinek und der umfangreiche Briefwechsel lassen den Einfluß erkennen; am deutlichsten zeigt er sich auf dem Gebiet der Staatstheorie. Duncan Kelly betont sehr zu Recht Jellineks „profound impact on Weber’s concept of the state“.27 Der zweite wichtige Autor ist Nietzsche, dessen Bedeutung für Webers Staatstheorie in diesem Buch ebenfalls nachgewiesen wird. Daß es Berührungspunkte gibt, ist bereits im Blick auf sein politisches Denken festgestellt worden,28 aber weder in staatstheoretischer Hinsicht noch anhand einer genaueren

——————— 24

Weber, Gedenkrede auf Georg Jellinek bei der Hochzeit von dessen Tochter am 21. März 1911, in: René König/Johannes Winckelmann (Hg.), Max Weber zum Gedächtnis, Köln/Opladen 1963, S. 13-17 (15). 25 Vgl. etwa Breuer, Max Webers Staatssoziologie, S. 210; Ernst Vollrath, Max Weber: Sozialwissenschaft zwischen Staatsrechtslehre und Kulturkritik, in: PVS 31 (1990), S. 102108 (102); Wolfgang Schluchter Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979, S. 122. 26 Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, S. 61. 27 Kelly, The State of the Political, S. 9. – Zum Verhältnis Weber/Jellinek vgl. ebd., S. 97ff.; Peter Ghosh, Max Weber and Georg Jellinek: two divergent conceptions of law, in: Saeculum 59 (2008), S. 299-347; Hans Joas, Max Weber and the Origin of Human Rights, in: Charles Camic u. a. (Hg.), Max Weber’s Economy and Society, Stanford 2005, S. 366-382; Marra, La religione dei diritti, S. 50ff.; Breuer, Von der sozialen Staatslehre zur Staatssoziologie, S. 89ff.; Jean Martin Ouédraogo, Georg Jellinek, Max Weber, le politique et la tâche de la sociologie des religions, in: ASSR 127 (2004), S. 105-137; Ferraresi, Il fantasma della comunità, S. 333ff.; Andreas Anter, Max Weber und Georg Jellinek. Wissenschaftliche Beziehung, Affinitäten und Divergenzen, in: Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hg.) Georg Jellinek, Tübingen 2000, S. 67-86; Stefan Breuer, Georg Jellinek und Max Weber, BadenBaden 1999; Giorgio Rebuffa, Nel crepuscolo della democrazia: Max Weber tra sociologia del diritto e sociologia dello stato, Bologna 1991, S. 28ff.; Gangolf Hübinger, Staatstheorie und Politik als Wissenschaft im Kaiserreich: Georg Jellinek, Otto Hintze, Max Weber, in: Hans Maier u. a. (Hg.), Politik, Philosophie, Praxis. FS für Wilhelm Hennis zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1988, S. 148f., 157f., 160f. 28 Vgl. Laurent Fleury, Nietzsche, Weber et le politique, in: Hinnerk Bruhns/Patrice Duran (Hg.), Max Weber et le politique, Paris 2009, S. 163-180; Franz Graf zu Solms-Laubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology, Berlin/New York 2007, S. 13ff., 77ff.; Ralph Schroeder, Nietzsche and Weber. Two ‘Prophets’ of the Modern World, in: Sam Whimster/Scott Lash (Hg.), Max Weber, Rationality and Modernity, 2. Aufl. London 2006, S. 207-221; Eugène Fleischmann, De Weber à Nietzsche, in: European Journal of Sociology 42 (2001), S. 243-292 (Reprint); Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 167ff.; Robert Eden, Political Leadership and Nihilism: A Study of Weber and Nietzsche, Tampa 1983, S. 49ff., 205ff.

Einleitung

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Textanalyse wurde bisher ein genauerer Vergleich vorgenommen. Gleiches gilt auch für Friedrich Gottl, Hugo Preuß, Heinrich von Treitschke, Paul Laband und Walther Rathenau. Die weitreichenden Affinitäten, aber auch die punktuellen Abgrenzungen Webers zu jenen Zeitgenossen werde ich im einzelnen zu demonstrieren versuchen. In dieser Studie soll nicht nur gezeigt werden, in welcher Tradition Weber steht, sondern auch, welchen Stellenwert er für heutige politologische Fragestellungen der hat. Er ist zweifellos einer der wichtigsten Wegbereiter der Politikwissenschaft, und viele seiner Positionen, etwa zu Macht und Herrschaft oder Parlament und Bürokratie, zählen zum festen Erkenntnisbesitz des Fachs. Eine Betrachtung des politologischen Gehalts seiner Staatstheorie erscheint umso lohnender, als Weber heute zu den wichtigsten Referenzautoren in der internationalen Staatstheorie gehört.29 Überdies rückt der Gegenstand selbst in den Mittelpunkt. Nachdem speziell die deutsche Staatslehre in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts oft in Kategorien der „Krisis“ beschrieben wurde30 und auch in der Nachkriegszeit der Staatsbegriff gelegentlich in der Defensive schien,31 ist seit mehr als zwei Jahrzehnten international ein steigendes Interesse am Staat zu verzeichnen.32

——————— 29 Vgl. Paul du Gay/Alan Scott, State Transformation or Regime Shift?, in: Sociologica 2 (2010), S. 1-23; Arthur Benz, Der moderne Staat. Grundlagen der politologischen Analyse, 2. Aufl. München/Wien 2008, S. 80f. u. 157f.; Colin Hay/Michael Lister, Theories of the State, in: Colin Hay u. a. (Hg.), The State. Theories and Issues, London 2006, S. 1-20 (7f.); Francis Fukuyama, State Building, London 2005, S. 19f.; Walter C. Opello/Stephen J. Rosow, The Nation-State and Global Order, London 2004, S. 140ff.; Catherine Colliot-Thélène, La fin du monopole de la violence légitime?, in: Revue d’études comparatives Est-Ouest 34 (2003), S. 5-31; Gunnar Folke Schuppert, Staatswissenschaft, Baden-Baden 2003, S. 78f.; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 3. Aufl. München 2003, S. 125ff.; Gianfranco Poggi, Forms of Power, Cambridge 2001, S. 12ff.; Stefan Breuer, Der Staat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbek bei Hamburg 1998; Christopher Morris, An Essay on the Modern State, Cambridge 1998, S. 43f. 30 Vgl. Hermann Heller, Die Krisis der Staatslehre, in: ASSP 55 (1926), S. 289ff.; Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. Berlin 1968, S. 121ff. 31 So etwa Emil Guilleaume, Die Entstaatlichung des öffentlichen Lebens, in: DÖV 10 (1957), S. 701-707 (701). 32 Vgl. Andreas Anter/Wilhelm Bleek, Staatskonzepte, Frankfurt/New York 2013; Gianfranco Poggi, The State. Its Nature, Development and Prospects, 4. Aufl. Cambridge 2010; Gunnar Folke Schuppert, Staat als Prozess. Eine staatstheoretische Skizze in sieben Aufzügen, Frankfurt/New York 2010; Petra Dobner, Bald Phönix – bald Asche. Ambivalenzen des Staates, Berlin 2010; Martin Loughlin, In Defence of Staatslehre, in: Der Staat 48 (2009), S. 1-27; Rüdiger Voigt, Den Staat denken, 2. Aufl. Baden-Baden 2009; Benz, Der moderne Staat; Hay/Lister, Theories of the State, S. 1ff.; Peter J. Steinberger, The Idea of the State, Cambridge 2006; Fukuyama, State Building; Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR, Bd. II, 3. Aufl. Heidelberg 2004, S. 3-106; Klaus Roth, Genealogie des Staates, Berlin 2003; Breuer, Der Staat, S. 272ff. – Programmatisch bereits Peter B. Evans u. a. (Hg.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985.

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Einleitung

Inzwischen hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß die heutige Staatslehre im Bemühen um eine analytische Erfassung der staatlichen Wirklichkeit nicht auf die Aufarbeitung theoriegeschichtlicher Grundlagen verzichten kann.33 An einigen zentralen Punkten soll gezeigt werden, daß Max Weber entscheidende Grundlagen für die heutige Staatstheorie gelegt hat. Schon vor drei Jahrzehnten wurde prognostiziert, man werde sich künftig an einer „Weberian view of the state“ orientieren.34 Diese Prognose scheint sich zu bewahrheiten.

——————— 33 Vgl. Helmuth Schulze-Fielitz, Konturen einer zeitgenössischen Staatssoziologie, in: Andreas Voßkuhle u. a. (Hg.), Verabschiedung und Wiederentdeckung des Staates im Spannungsfeld der Disziplinen, Berlin 2013, S. 11-36 (zu Weber bes. 11ff.); Hay/Lister, Theories of the State, S. 1ff.; Steinberger, The Idea of the State, S. 39ff.; Benz, Der moderne Staat, S. 11ff. 34 Skocpol, Bringing the State Back In, S. 8.

Es wäre eine wichtige Untersuchung, den Einfluß unklarer Terminologie auf die Geschichte menschlichen Denkens und Handelns einmal im Zusammenhang nachzuweisen. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre

I. Die Aspekte des Staatsbegriffs Eine Theorie des Staates setzt einen Begriff des Staates voraus. Die Bildung eines Staatsbegriffs steht allerdings gewissen Schwierigkeiten gegenüber, die im Wesen des Gegenstandes begründet liegen. Jeder Versuch, den Staat zu definieren, steht vor der Frage, ob dieses abstrakte und komplexe Gebilde überhaupt auf einen Begriff gebracht werden kann. Wenn Max Weber sagt, „die Frage der logischen Struktur des Staatsbegriffes“ markiere den „weitaus kompliziertesten und interessantesten“ Fall des Problems der Begriffsbildung,1 berührt er ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Staatsdenkens der Moderne zieht. Herder meint, der Staat sei „ein Abstract, das man weder siehet noch höret“;2 für Kant entzieht sich der Staat „unmittelbarer Anschauung“;3 für Joseph von Held ist der Staat ein „Abstractum“;4 auch für Fichte ist er nichts „als ein abstrakter Begriff“.5 Adam Müller rauft sich die Haare darüber, daß mit dem „todten Begriffe ‚Staat‘ zugleich tausend Unwesentlichkeiten in die Wissenschaft kommen“, da „der Begriff sich nicht schütteln, die Unwesentlichkeiten nicht von sich abstreifen kann“.6 Und Constantin Frantz spottet nicht nur über „die bunte Verschiedenheit der Definitionen vom Staate“, sondern auch darüber, daß „man immer noch die wahre Definition sucht, und niemals finden wird“.7 Dies ist noch der Stand der Dinge zur Zeit Max Webers. Man beschäftigt sich in elaborierter Form mit dem Problem, das historisch-empirische Material

——————— 1 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: WL, S. 200. 2 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Ludwig Suphan, Bd. XIII, Berlin 1887, S. 453. 3 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Darmstadt 1963, S. 460. 4 Joseph von Held, Grundzüge des Allgemeinen Staatsrechts, Leipzig 1868, S. 82. 5 Johann Gottlieb Fichte, Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812, hg. v. Richard Schottky, Hamburg 1980, S. 159. 6 Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, 1. Bd., Berlin 1809, S. 44. 7 Constantin Frantz, Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft, Leipzig 1870, S. 68.

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

zu gliedern, welches für die Bildung eines Staatsbegriffs notwendig ist. Aber man weiß zugleich, daß die Begriffsschärfe umso geringer wird, je mehr Material man heranzieht.8 Noch die heutige Staatstheorie steht dem Problem gegenüber, daß der Staat „ein in seiner Komplexität unerschöpfliches“ Gebilde ist9 und für den Betrachter stets ein abstrakter Gegenstand bleibt.10 Schon die Staatslehre der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts sah den Staatsbegriff verschwimmen;11 später meinten ihn einige aus dem Blickfeld der Politikwissenschaft entschwinden zu sehen;12 andere sahen ihn als verstaubten und altmodischen Begriff.13 Das Verschwinden des Staatsbegriffs war allerdings nur eine optische Täuschung, schließlich stand der Staat meist im Mittelpunkt der rechts- und politikwissenschaftlichen Theorie.14 Entsprechend wird er heute in beiden Disziplinen von ganz unterschiedlichen Autoren für unverzichtbar erklärt.15 In früheren Jahrzehnten indes blickte mancher Autor resignierend auf die staatstheoretischen Bemühungen. Helmut Quaritsch konstatierte, die begriffliche Erfassung des Staates sei zwar „schon oft versucht worden“, aufgrund der „Komplexität des Gegenstandes“ aber „ebenso oft gescheitert“.16 Niklas Luhmann sah trotz der mehr als zweihundertjährigen Diskussion den Staatsbegriff als ungeklärt, da man immer „zu viel Komplexität und Heterogenität auf den Bildschirm“ bekommen habe. Er mochte auch künftigen Versuchen keinen Erfolg in Aussicht stellen: Sie würden „nur Buchseiten“ füllen, aber nicht weiterhelfen.17

——————— 8 Dazu besonders Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates, in: Handbuch der Politik, 1. Bd., Berlin/Leipzig 1912, S. 35f. 9 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. Stuttgart 2003, S. 1. 10 Colin Hay/Michael Lister, Theories of the State, in: Colin Hay et al. (Hg.), The State, London 2006, S. 1-20 (4): „conceptual abstraction“. 11 Hermann Heller, Die Krisis der Staatslehre, in: ASSP 55 (1926), S. 289-316 (312). 12 Vgl. Karl Rohe, Politik. Begriffe und Wirklichkeiten, 2. Aufl. Stuttgart 1994, S. 115-120 (118); Alexander Passerin d’Entrèves, The Notion of the State: An Introduction to Political Theory, Oxford 1967, S. 59ff. 13 Dazu Theda Skocpol, Bringing the State Back In, in: Peter B. Evans u. a. (Hg.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985, S. 4: „the state was considered to be an old-fashioned concept, associated with dry and dusty legal-formalist studies“. 14 Dazu Andreas Anter/Wilhelm Bleek, Staatskonzepte. Die Theorien der bundesdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt/New York 2013. 15 Vgl. Petra Dobner, Bald Phönix – bald Asche. Ambivalenzen des Staates, Berlin 2010, S. 80f.; Martin Loughlin, In Defence of Staatslehre, in: Der Staat 48 (2009), S. 1-27; Arthur Benz, Der moderne Staat, 2. Aufl. München 2008, S. 6; Christoph Gusy, Brauchen wir eine juristische Staatslehre?, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 55 (2007), S. 41-71 (71); Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR, hg. v. Isensee/Kirchhof, Bd. II, 3. Aufl. Heidelberg 2004, S. 3-106. 16 Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1970, S. 37. 17 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1987, S. 626f.

I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

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Ist demnach auch Max Webers Staatsbegriff gescheitert? Hätten die skeptischen Stimmen Recht, könnten wir uns gleich dem nächsten Kapitel zuwenden. Im folgenden soll jedoch gezeigt werden, daß gerade Weber das Problem der Komplexität und Heterogenität ins Visier nimmt, daß er einen entscheidenden Beitrag zu der zweihundertjährigen Diskussion leistet und daß die heutigen Bemühungen der Begriffsbildung notwendig an Weber anknüpfen müssen. Daß man den Staatsbegriff nicht zu den Akten legen kann, belegt die neuere Staatsdiskussion, die um die begriffliche Erfassung des Staates kreist und zudem seine Unverzichtbarkeit deutlich macht.18 Sowohl die Politikwissenschaft als auch die Staatsrechtslehre können in dieser Hinsicht bei Weber eine begrifflichtheoretische Grundlage finden. Wenn seine Staatstheorie eines nicht ist, dann eine Staatstheorie ohne Staatsbegriff.19 Die staatstheoretischen Fragmente seines Werks sind vielmehr in einem hohen Maße, wenn nicht sogar primär auf begriffliche Aspekte gerichtet. Weber, der sich „der Bildung scharfer Begriffe“ verschrieben hat,20 ja „ein geradezu besessener Benenner und Definierer“ ist,21 setzt den Staatsbegriff an den Schluß seiner Soziologischen Grundbegriffe. Dort wird der Staat bekanntlich als „politischer Anstaltsbetrieb“ definiert, dessen „Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“.22 Anders als gängige Verkürzungen meinen, erschöpft sich der Staatsbegriff keineswegs im Gewaltmonopol, sondern enthält eine Reihe weiterer Kriterien, zu denen das Politische, der Anstalts- und Betriebscharakter, der Verwaltungsstab, die Legitimität und das Ordnungsmoment zählen. Weber selbst weist ausdrücklich darauf hin, daß das Gewaltmonopol nicht das einzige Definitionsmerkmal sei: Der rationale Anstalts- und kontinuierliche Betriebscharakter sei „ein ebenso wesentliches Merkmal“ wie der „Monopolcharakter“; für den „heutigen Staat formal charakteristisch“ sei nicht

——————— 18 Vgl. Anter, Der Staat als Beobachtungsobjekt der Sozialwissenschaften. Das Trugbild vom verschwindenden Staat und die Normativität des Gegenstandes, in: ZfP, Sonderband 5 (2013), S. 17-27; Gianfranco Poggi, The State. Its Nature, Development and Prospects, 4. Aufl. Cambridge 2010; Gunnar Folke Schuppert, Staat als Prozess. Eine staatstheoretische Skizze in sieben Aufzügen, Frankfurt/New York 2010; Rüdiger Voigt, Den Staat denken, 2. Aufl. Baden-Baden 2009; Benz, Der moderne Staat, S. 1; Hay/Lister, Theories of the State, S. 1ff.; Peter J. Steinberger, The Idea of the State, Cambridge 2006, S. 39ff.; Isensee, Staat und Verfassung, S. 3ff.; Stefan Breuer, Der Staat, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 14ff. 19 Im Rückblick auf die letzten zweihundert Jahre kann Niklas Luhmann nur „Staatstheorien ohne Staatsbegriff“ erkennen (Luhmann, Soziale Systeme, S. 627). Er spielt hier auf Hellers berühmte Formel an, die sich gegen Kelsen richtete. 20 Weber, Die „Objektivität“, S. 146. 21 Dolf Sternberger, Das Wort „Politik“ und der Begriff des Politischen, in: PVS 24 (1983), S. 6-14 (6). 22 Weber, WuG, S. 29.

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

nur das Gewaltmonopol, sondern auch „eine Verwaltungs- und Rechtsordnung“.23 Gleichwohl ist das Gewaltmonopol fraglos das hervorstechende Kriterium seines Staatsbegriffs, dessen Aspekte im folgenden aufgefächert werden sollen.

1. Der idealtypische Charakter des Staatsbegriffs Vor der Betrachtung der einzelnen Elemente des Staatsbegriffs sind zunächst die methodischen Aspekte zu klären, die in Webers Ausführungen eine wichtige Rolle spielen. Er definiert den Staat „unter Abstraktion von ... wandelbaren inhaltlichen Zwecken“, ja er hält es gar nicht für möglich, ihn durch Angabe eines Zwecks zu erfassen, da es keinen Zweck gebe, den alle Staaten verfolgt hätten. Vielmehr müsse man ihn durch das Mittel definieren, die Gewaltsamkeit, die allen Staaten gemeinsam sei.24 Für die Wahl dieses Kriteriums sind also primär methodische Gesichtspunkte ausschlaggebend. Während Zwecke ständigen historischen Wandlungen unterliegen und daher für die Definition des Staates untauglich sind, bleibt das Mittel zur Erreichung der Zwecke konstant. Für Weber sind daher die Inhalte staatlichen Handelns begrifflich „gleichgültig“, da sie „vom ‚Raubstaat‘ zum ‚Wohlfahrtsstaat‘, ‚Rechtsstaat‘ und ‚Kulturstaat‘ unendlich verschieden“ seien.25 Weber bedient sich hier einer historischen Argumentation. Es geht ihm nicht nur darum, den Staat seiner Gegenwart begrifflich zu erfassen, sondern alle staatlichen Formationen. Er bemüht sich um einen Idealtypus des modernen Staates. Dies belegt eine Stelle im Objektivitätsaufsatz, wo Weber die Bildung von Idealtypen bezeichnenderweise anhand der Konstruktion des wissenschaftlichen Staatsbegriffs illustriert und feststellt, der Staat könne „nur durch Orientierung an idealtypischen Begriffen zur Anschauung gebracht werden“.26 Der Staatsbegriff ist also einerseits das Ergebnis einer historisch-empirischen Ana-

——————— 23

Ebd., S. 30. Ebd. 25 Weber, Gemeinschaften. MWG I/22-1, S. 205 (WuG 514). 26 Weber, Die „Objektivität“, S. 201. Zu Webers Konzeption siehe Hans Henrik Bruun, Science, Values and Politics in Max Weber’s Methodology, 2. Aufl. Aldershot 2007, S. 207ff.; Gert Albert, Idealtypen und das Ziel der Soziologie, in: Berliner Journal für Soziologie 17 (2007), S. 51-75; Bernhard K. Quensel, Max Webers Konstruktionslogik, Baden-Baden 2007, S. 129ff.; Sven Eliaeson, Max Weber’s Methodologies, Cambridge 2002, S. 46ff.; Fritz Ringer, Max Weber’s Methodology, 2. Aufl. Cambridge 2000, S. 110ff.; Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1991, S. 52ff. – Nach wie vor erhellend: Dieter Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952, S. 83ff. 24

1. Der idealtypische Charakter des Staatsbegriffs

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lyse, die in einem typisierenden Verfahren aus dem heterogenen Material das Wesentliche destilliert, und andererseits ein heuristisches Instrument zur begrifflichen Erfassung der empirisch-historischen Wirklichkeit. Die Tatsache, daß Weber das Idealtypus-Konzept ausgerechnet anhand des Staatsbegriffs demonstriert, ist insofern signifikant, als es eine Verweisspur auf den ungenannten theoriegeschichtlichen Ursprung der Konzeption legt. Es entspricht weitgehend und teilweise fast wörtlich dem „empirischen Typus“ Georg Jellineks. Angesichts der methodischen „Verwirrung“27 der Staatslehre seiner Zeit hatte Jellinek eine Methode der Typenbildung entwickelt, die darauf zielte, aus den heterogenen staatlichen Erscheinungen die konstanten Elemente zu isolieren, um auf diese Weise die Phänomene zu klassifizieren und staatstheoretische Begriffe zu bilden.28 Dabei unterschied er zwei Typen: den „idealen Typus“, der ein „Seinsollendes“ ist und für die Vorstellung von einem „besten Staat“ steht, und den „empirischen Typus“, den der Forscher durch eine vergleichende historisch-empirische Untersuchung gewinnt, indem er aus der „Mannigfaltigkeit der Erscheinungen“ das „Gemeinsame in ihnen logisch heraushebt“.29 Um diesen Typus ging es Jellinek. Er verpflichtete sogar die Staatslehre darauf, die „empirischen Typen staatlicher Verhältnisse zu finden“ – eine prinzipiell unabschließbare Aufgabe, da sich mit den Verhältnissen auch die empirischen Typen ständig wandeln.30 Webers Idealtypus ist unverkennbar an Georg Jellineks „empirischen Typus“ angelehnt, sowohl in der empirisch-historischen als auch in der erkenntnistheoretischen Ausrichtung. Er macht diese Adaption nicht kenntlich und setzt ganz offensichtlich voraus, daß sie für das wissenschaftliche Publikum seiner Zeit evident ist. Lediglich in einem Brief an Heinrich Rickert vom 16. Juni 1904 schreibt er, daß er seinen Begriff des Idealtypus nach dem benannt habe, „was Jellinek (Allgemeine Staatslehre) ‚Idealtypus‘ nennt“.31 Diese Aussage gibt allerdings Anlaß zu der Vermutung, daß bei seiner Adaption möglicherweise eine Begriffsverwechselung im Spiel war, da Jellineks „idealer Typus“ ja etwas vollkommen anderes meint als Webers „Idealtypus“. Es ist Jellinek selbst, der in der zweiten Auflage seiner Allgemeinen Staatslehre auf Verwandtschaft und Unterschiede zwischen seiner und Webers Konzeption aufmerksam macht, und zwar in durchaus generöser Weise, die frei von jeder Originalitätssucht ist.32

——————— 27

Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900), 3. Aufl. Darmstadt 1960, S. 25f. Ebd., S. 33ff. 29 Ebd., S. 34f. und 36. 30 Ebd., S. 37 und 38f. 31 Mitgeteilt bei Wolfgang J. Mommsen, Max Weber, Frankfurt a. M. 1982, S. 279. 32 Jellinek Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. Berlin 1905, S. 38 (gleichlautend in der 3. Auflage, nach der weiterhin im folgenden zitiert wird, S. 40). Wesentlich unbarmherziger dage28

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

Max Webers Aneignung – vorausgesetzt, ihr liegt keine Begriffsverwechselung zugrunde – vollzieht sich in Form einer Modifikation und Weiterentwicklung. Er greift zu einem terminologischen Schachzug und erklärt auf dem Wege einer Begriffsrochade den „empirischen Typus“ zum „Idealtypus“. Darüber hinaus macht er Jellineks staatstheoretisches Verfahren für eine sozialwissenschaftliche Methodik fruchtbar. Man kann aber auch den umgekehrten Weg einschlagen und diese Methodik wieder auf die staatstheoretischen Fragen zurückprojizieren, denen sie entsprungen ist. Webers Strategie bietet den Ansatzpunkt zur Klärung eines alten Problems, das nach wie vor aktuell ist. Mit Hilfe seiner idealtypischen Begriffsbildung gelingt es ihm, eine Kernfrage der Staatstheorie zu lösen und das komplexe, abstrakte, in heterogenen Formen auftretende und historischen Wandlungen unterworfene Gebilde Staat begrifflich zu erfassen. Aus jenen komplexen und heterogenen historischen und gegenwärtigen Erscheinungsformen scheidet er die wandelbaren Aspekte aus, hebt die konstanten und allen Staaten gemeinsamen heraus – und bildet so den empirischen Typus Staat. Seine Erläuterungen in den Soziologischen Grundbegriffen und im Objektivitätsaufsatz zeigen, daß er sich – neuhochbielefelderisch gesprochen – um Reduktion von Komplexität bemüht. Damit umgeht Max Weber von vornherein jene Fallstricke, die in der Tat ein Grund für das Scheitern fast aller Staatsbegriffe der letzten zweihundert Jahre waren. Unter der unübersehbaren Anzahl der Versuche, von denen die meisten ohnehin zu Recht in Vergessenheit geraten sind, befindet sich keiner, der sich hätte durchsetzen können. Das gilt auch für den Staatsbegriff von Webers methodischem Mentor Georg Jellinek, welcher der Komplexität des Gegenstandes gerecht zu werden versuchte, indem er gleich zwei Staatsbegriffe aufstellte, den sozialen und den juristischen,33 ein Verfahren, das in der staatswissenschaftlichen Literatur überwiegend abgelehnt wurde.34 Es ist Max Weber, der den alten

——————— gen stellt Hermann Heller die Methode Webers als bloßes Plagiat hin. Seine harsche Kritik steht allerdings unter dem Vorzeichen, daß er ohnehin nichts von Max Webers Konzeption hält, deren „Unbrauchbarkeit“ für den Staatsrechtler angeblich „völlig klar“ sei (Heller, Staatslehre, hg. v. Gerhart Niemeyer, Leiden 1934, S. 61f.). Eine plausible Begründung bleibt er freilich schuldig. – Zu Webers Adaption vgl. Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000, S. 131ff.; Andreas Anter, Max Weber und Georg Jellinek. Wissenschaftliche Beziehung, Affinitäten und Divergenzen, in: Stanley L. Paulson, Martin Schulte (Hg.), Georg Jellinek, Tübingen 2000, S. 67-86 (77ff.). 33 Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, insbes. S. 174ff. 34 Am vehementesten von Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, 2. Aufl., Tübingen 1928, S. 127ff. Vgl. Oliver Lepsius, Die Zwei-Seiten-Lehre des Staates, in: Andreas Anter (Hg.), Die normative Kraft des Faktischen, Baden-Baden 2004, S. 63-88; Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, S. 145ff.; Andreas Anter, Georg Jellineks wissenschaftliche Politik, in: PVS 39 (1998), S. 503-526 (515ff.).

2. Der Staat ohne Eigenschaften?

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Gordischen Knoten der Staatstheorie durchschlägt und einen Staatsbegriff entwickelt, der, wie zu zeigen sein wird, noch heute Gültigkeit beanspruchen kann.

2. Der Staat ohne Eigenschaften? Die Staatszweckfrage Max Webers Methode ist ebenso einfach wie wirkungsvoll: Er abstrahiert von inhaltlichen Dimensionen und verzichtet auf eine Definition des Staates durch einen Staatszweck. Das bedeutet jedoch nicht, daß er, wie ihm ein halbes Jahrhundert lang vorgeworfen wurde, die Existenz von Staatszwecken bestreiten würde. Er stellt vielmehr ausdrücklich klar, daß alle Staaten Zwecke verfolgt haben und verfolgen, und nennt insbesondere soziale, kulturelle und ordnungspolitische.35 Nur: Keiner der bisher von einem Staat verfolgten Zwecke ist geeignet, als Merkmal eines idealtypischen Staatsbegriffs zu dienen. Wenn Max Weber statt eines Zwecks ein Mittel als Definitionselement heranzieht, enthält diese Wahl eine stillschweigende Prämisse, setzt doch die Postulierung eines Mittels einen Zweck voraus. Schon allein aus der Tatsache, daß der Staat durch ein Mittel bestimmt wird, geht hervor, daß es einen Zweck oder mehrere Zwecke geben muß.36 Die Zweck-Mittel-Relation läßt sich auch von einer anderen Seite her beleuchten, da nicht nur das Mittel einen Zweck voraussetzt, sondern auch der Zweck ein Mittel.37 Max Weber erläutert zwar die Zweck-Mittel-Relation nicht näher, aber seine Anmerkungen zur Gewaltsamkeit lassen bereits eine Relativierung dieses Mittels erkennen, wenn er sagt, es sei weder das normale noch das einzige, sondern nur die „ultima ratio“.38 Er ist also keineswegs der Fetischist der Gewaltsamkeit, als der er stets gehandelt wurde. Ebenso abwegig aber wäre es, ihn als Staatszwecktheoretiker zu vereinnahmen und ihm auf-

——————— 35

Weber, WuG, S. 30. „Die Definition des Mittels ergibt sich durch eine Umkehrung der Definition des Zwecks. Ein Mittel ist daher irgendetwas ..., das zur Verwirklichung einer Zweckvorstellung verwendet wird. Nichts ist ein Mittel ausser im Moment, wo es dazu beansprucht wird.“ (Hans Hug, Die Theorien vom Staatszweck, Winterthur 1954, S. 6) Diese allgemeine Bemerkung Hans Hugs kann man auch als Kommentar zu Webers Staatsbegriff lesen. 37 In ähnlichem Sinne belehrt Goethe in einem Brief vom 11. September 1797 seinen Großherzog Carl August, der „Hauptsinn einer Verfassung“ bestehe darin, „die Mittel zum Zwecke recht fest und gewiß zu halten“ (Briefwechsel des Großherzogs Carl August von SachsenWeimar-Eisenach mit Goethe in den Jahren 1775 bis 1828, Bd. 1, Weimar 1863, S. 231). 38 Weber, WuG, S. 29. Vgl. auch ders., Politik als Beruf, in: MWG I/17, S. 158f. 36

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

grund einer Bemerkung im Weltkrieg, Deutschland habe die Pflicht, seine Kultur gegen andere Länder zu verteidigen, eine „Theorie vom Schutzzweck“ unterzuschieben.39 Aus jener Äußerung in einer antipazifistischen Schrift40 läßt sich beim besten Willen keine Staatszweckvorstellung herauslesen, und erst recht läßt sie sich nicht als „Theorie“ klassifizieren. Weber hat, angefangen von seinen ersten Arbeiten bis zu den späten Schriften, immer wieder Forderungen an den Staat seiner Gegenwart gestellt, aber keine dieser Forderungen beanspruchte, als Staatszweck verstanden zu werden, sondern sie richteten sich auf aktuelle, vor allem sozialpolitische und nationale Aufgaben und Ziele. Obwohl Weber in der Staatsdefinition von einem Zweck ausdrücklich abstrahiert, ist zumindest der Ansatz einer Staatszweckvorstellung zu erkennen: Da der Verwaltungsstab das Gewaltmonopol „für die Durchführungen der Ordnungen in Anspruch nimmt“,41 besteht eine spezifische Zielrichtung staatlichen Handelns, nämlich die Gewährleistung jener „Ordnungen“. Kann man daraus auf einen Staatszweck schließen? In Webers Definition bleiben zwei wesentliche Fragen offen. Die „Durchführung der Ordnungen“ wird zwar eindeutig als Funktionsmerkmal des Staates bestimmt, aber was unter jenen Ordnungen zu verstehen ist, bleibt ungeklärt. Überhaupt wird der Begriff der Ordnung an keiner Stelle seines Werks präzisiert.42 Immerhin verweist die Verankerung des Ordnungsaspekts im Staatsbegriff auf den elementaren Zusammenhang von Staat und Ordnung. Es ist das „Interesse an Ordnung“43, das maßgeblich zur Herausbildung jener Zentralinstanz geführt hat, die die Gewalt monopolisiert, Rechtssicherheit, Schutz und inneren Frieden garantiert. Zugleich spiegelt sich dieses Interesse in den großen neuzeitlichen Staatskonstruktionen, vor allem bei Hobbes. So wie das Ordnungsinteresse ein zentraler Motor, ist die geschaffene Ordnung ein entscheidendes Produkt des modernen Staates. Wohl am nachdrücklichsten hebt Hegel in seiner Rechtsphilosophie die Bedeutung der Ord-

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Hug, Die Theorien vom Staatszweck, S. 18. Weber, Zwischen zwei Gesetzen (1916), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 96 (PS 143). 41 Weber, WuG, S. 29. 42 Zu Webers Ordnungsbegriff siehe Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, 2. Aufl. Tübingen 2007, S. 86ff.; Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 103ff.; Karl-Siegbert Rehberg, Kulturwissenschaft und Handlungsbegrifflichkeit, in: Wagner/Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt a. M. 1994, S. 602-661 (644ff.); Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, Frankfurt a. M. 1993, S. 480ff. 43 Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“, in: ZHF 14 (1987), S. 265-302 (267). Vgl. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, Neuaufl. München 2009, S. 93ff.; Peter Blickle, Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008, S. 229ff.; Anter, Die Macht der Ordnung, S. 207ff.; Marc Raeff, The Well-Ordered Police State, New Haven/London 1983; Julien Freund, Der Begriff der Ordnung, in: Der Staat 19 (1980), S. 325-339. 40

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nung hervor: „Durch die Gewalt, meint die Vorstellung oft, hänge der Staat zusammen, aber das Haltende ist allein das Grundgefühl der Ordnung, das Alle haben.“44 Auch wenn Weber den Aspekt der Gewalt ungleich stärker in den Vordergrund stellt als das Element der Ordnung, spielt dieses in seinem Staatsverständnis eine wichtige Rolle. Er interpretiert und bewertet die Entstehung des modernen Staates als Prozeß der Zentralisierung, Monopolisierung und „Verstaatlichung“45 von Ordnungsfunktionen, die zuvor von verschiedenen Instanzen ausgeübt wurden. Die Herrscher des bürokratischen Fürstenstaats der Neuzeit verfolgen ein Interesse, das Weber auf eine prägnante Formel bringt: „Der Fürst will ‚Ordnung‘.“46 Diese Aussage läßt sich auch verallgemeinern, da der Staat das gleiche Interesse hat: Der Staat will Ordnung. In Webers Staatsbegriff kommt dies zum Ausdruck, wenn er dem Staat die Funktion der Durchführung der Ordnungen zuschreibt. Hier bleibt jedoch nicht nur der Begriff der Ordnung ungeklärt, sondern auch die Frage offen, was unter der „Durchführung“ der Ordnungen zu verstehen ist. Nach Webers Auffassung zeichnet der moderne Staat sich zwar durch eine Monopolisierung der Ordnungsfunktionen aus, aber kein Staat kann autoritär alle Ordnungen kontrollieren oder setzen. Entscheidend ist, daß er den Plural wählt und von Ordnungen statt von Ordnung spricht. Dahinter steht ein Verständnis, nach welchem der Staat eben nicht aus einer – womöglich monistischen – Ordnung besteht, sondern aus einer Vielzahl heterogener, konkurrierender Ordnungen. Max Webers Plural führt uns zum Kernproblem der Staatszweckfrage, die maßgeblich „durch das Vorhandensein mehrerer in einem Staat rivalisierender Ordnungsvorstellungen gekennzeichnet“ ist.47 Jede Ansicht über einen bestimmten Staatszweck korrespondiert mit einer bestimmten Ordnungsvorstellung und mit einer bestimmten Werthaltung. Wenn Weber sagt, daß sich Staatsinteressen nicht „objektiv“, das heißt: nicht ohne das Fällen eines Werturteils festlegen lassen,48 gilt dies auch für Staatszwecke. Daß er auf sie in seinem Staatsbegriff verzichtet, bedeutet aber nicht, daß er diesen gewissermaßen wertfrei halten möchte, geht doch aus seinen Erläuterungen klar hervor, daß seine Abstinenz das Resultat seiner Bemühungen um die Bildung eines Idealtypus ist. Die Vermutung, seine Überzeugung von „der Pluralität unvereinbarer

——————— 44 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Stuttgart 1970, S. 402 (§ 268). 45 Weber, Gemeinschaften, S. 208 (WuG 516). 46 Weber, Recht. MWG I/22-3, S. 569 (WuG 488). 47 Klaus Hespe, Zur Entwicklung der Staatszwecklehre in der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Köln/Berlin 1964, S. 74. 48 Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland. MWG I/10, S. 128 (PS 42).

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Werte“ erlaube es ihm nicht, „den Staat durch die Angabe eines integrierenden ‚Zweckes‘“ zu definieren,49 geht in die richtige Richtung: Weber sieht eine solche Fülle von Staatszwecken und Werten, daß sie sich nicht auf einen für alle Staaten geltenden Nenner bringen lassen. Dies ist insbesondere für den pluralistischen Staat charakteristisch, an den von verschiedenen Seiten unterschiedliche Erwartungen gestellt werden, einen Staat, in welchem sich heterogene Interessen und Werthaltungen gegenüberstehen. In dem Moment, in dem man nicht mehr eine homogene, von allen geteilte Ordnungsvorstellung voraussetzen kann, muß man zugleich der Pluralität und Heterogenität von Staatszweckvorstellungen Rechnung tragen. Max Weber verzichtet auf die Verankerung eines Staatszwecks im Staatsbegriff, da sich das Zweckmoment nicht für eine idealtypische Definition eignet. Dieser Verzicht ist zugleich entscheidend durch das historische Bewußtsein jener Pluralität, Relativität und Wandelbarkeit von Staatszwecken motiviert. Darin steht Weber in einer kontinuierlichen Entwicklungslinie des deutschen Staatsdenkens. Schon August Ludwig Schlözer stellt fest, kein Staatszweck sei „auf immer“ oder „für die Ewigkeit“, da sich stets „neue Kräfte im Stat“ äußern und sich „Conjuncturen“ ereignen, die zum Umdenken zwingen.50 Robert von Mohl betont, „daß es nicht blos Einen solchen richtigen Staatszweck gebe, sondern so viele verschiedene, an und für sich gleich richtige, als es verschiedene Staatsgattungen giebt“.51 Im 19. Jahrhundert wird die Staatszweckfrage zum Gegenstand heftiger Kontroversen in der deutschen Staatslehre,52 so daß Franz von Holtzendorff zu dem Schluß kommt, „dass der Staatszwek gleich anderen Aufgaben des speculativen Denkens im Zustande einer ungelösten Streitfrage“ verharre.53 Sowohl dieser Streit als auch Max Webers Positionen müssen vor dem Hintergrund des sprunghaften Anstiegs der Zahl der Zwecke gesehen werden, die sich die Staaten im 19. Jahrhundert zu eigen machen. Wie Wilhelm Roscher

——————— 49 Gerhard Hufnagel Kritik als Beruf. Der kritische Gehalt im Werk Max Webers, Frankfurt a. M. 1971, S. 181. 50 Johann Josef Haigold (i.e. August Ludwig Schlözer), Neuveraendertes Rußland oder Leben Catharinae der Zweyten/Kayserinn von Rußland, Bd. 1, Mietau/Leipzig 1767, Vorrede o. S. 51 Robert von Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Bd. 1, Tübingen 1832, S. 5. 52 Dazu immer noch grundlegend Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 230ff. – Vgl. auch Thorsten Moos, Staatszweck und Staatsaufgaben in den protestantischen Ethiken des 19. Jahrhunderts, Münster 2005, S. 45ff.; sowie bereits Hans von Frisch, Die Aufgaben des Staates in geistesgeschichtlicher Entwickelung, in: Handbuch der Politik, 1. Bd., Berlin/Leipzig 1912, S. 46ff. 53 Franz von Holtzendorff, Die Principien der Politik. Einleitung in die staatswissenschaftliche Betrachtung der Gegenwart, 2. Aufl. Berlin 1879, S. 62.

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konstatiert, erweitere sich überall „das Gebiet der Staatszwecke“, da der Staat nicht mehr nur für die äußere Sicherheit, sondern zunehmend „auch für die innere Rechtssicherheit“ und „den Wohlstand, die Bildung, ja die Bequemlichkeit des Volkes“ sorge.54 Wandel und Ausdehnung von Staatsaufgaben gehören zu den prominenten Reflexionsgegenständen der Nationalökonomie jener Zeit und werden wohl am deutlichsten von Adolph Wagner beschrieben,55 der als „Ergebniss empirischer Beobachtungen“ sein „Gesetz der wachsenden Ausdehnung der Staatsthätigkeiten“ aufstellt.56 Weber hat dieses Gesetz mit Sicherheit gekannt. Seine These, der Staat verfolge eine solche Fülle von Zwecken, daß sie idealtypisch nicht mehr erfaßt werden können, ist vor dem Hintergrund nicht nur der Positionen Roschers und Wagners zu sehen, sondern auch der sprunghaft beschleunigten Intensivierung und Extensivierung der Staatstätigkeiten57 wie auch der Inflationierung von proklamierten Staatszwecken. In der deutschen Staatslehre streitet man sich nicht nur darüber, welcher Staatszweck der richtige sei, sondern auch darum, ob der Staat überhaupt einen Zweck habe. Eine kategorische Staatszweck-Feindschaft herrscht vor allem bei Autoren wie Adam Müller58 oder Georg Waitz59, die das Dogma vom Staat als „Selbstzweck“ vertreten. Carl Ludwig von Haller spottet darüber, „wie die neueren Philosophen über die Bestimmung ihres Staatszweks wanken und schwanken“, und hält ihnen seine „Wahrheit“ entgegen, der Staat habe „gar keinen“ Zweck.60 Auch Adolf Lasson hält nichts von den „endlosen Erörterungen über den Staatszweck“ und meint, es sei besser, „von einem Staatszwecke überhaupt nicht mehr zu sprechen“, da der Staat von einem Zweck „gar nichts“ wisse.61 Mit diesen Selbstzwecktheoretikern hat Max Weber allerdings keine innere Verwandtschaft. Er sagt nur, es sei nicht möglich, den Zweck als Element des Staatsbegriffs heranzuziehen, will aber nicht die Existenz von Staats-

——————— 54 Wilhelm Roscher, System der Volkswirthschaft, 1. Bd.: Die Grundlagen der Nationalökonomie, 6. Aufl. Stuttgart 1866, S. 156. 55 „Der Umfang und der Inhalt der Staatsthätigkeit hat sich gegen jede frühere geschichtliche Periode unserer Culturvölker ausserordentlich erweitert und verändert und diese Bewegung dauert fort. ... Die Entwicklung des modernen Gesellschaftslebens, ... der Technik, des Communicationswesens stellt ... neue Anforderungen ... an die Function des Staates“ (Wagner, Finanzwissenschaft, Erster Theil, Leipzig/Heidelberg 1877, S. 25f.). 56 Ebd., S. 68. 57 Tibor Süle hat diese Entwicklung ebenso detailliert wie anschaulich belegt (Süle, Preußische Bürokratietradition. Zur Entwicklung von Verwaltung und Beamtenschaft in Deutschland 1871-1918, Göttingen 1988, S. 25ff.). 58 Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, Bd. 1, Berlin 1809, S. 66f. 59 Georg Waitz, Grundzüge der Politik, Kiel 1862, S. 11. 60 Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft, Bd. 1, Winterthur 1820, S. 467 u. 470. 61 Adolf Lasson, System der Rechtsphilosophie, Berlin/Leipzig 1882, S. 312, 313 u. 289.

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zwecken in Abrede stellen oder den Staat von jeglicher Bindung an Zwecke freisprechen. Um seine Haltung angemessen beurteilen zu können, muß man sie im Kontext der deutschen Staatslehre seiner Zeit betrachten, deren geistesgeschichtliche Lage vom Niedergang der Staatszwecklehre im 19. Jahrhundert geprägt ist. Max Weber steht nicht in der Tradition der konservativ-organologischen Selbstzwecktheoretiker und Staatszweckfeinde, sondern vertritt bis ins Detail die Position von Hugo Preuß. Dieser hält den Zweck für ein „völlig unbrauchbares Moment“ der Konstruktion des Staatsbegriffs und behauptet, der „Geist der modernen Wissenschaft“ verbiete „die Aufnahme des Zwecks in den Staatsbegriff“.62 Preuß verrät zwar nicht, was unter jenem „Geist“ zu verstehen ist, und bleibt daher eine stichhaltige Begründung für seine These schuldig, aber er formuliert bereits genau den Standpunkt, auf den sich Weber stellt. Dieser liefert die Begründung für Preuß’ These gewissermaßen nach: eine empirischhistorische, die sich auf die Pluralität, Relativität und Historizität von Staatszwecken bezieht. Hinsichtlich genau dieser drei Aspekte kann Weber sich auf Georg Jellinek stützen, der als erster die Staatszwecke unter dem Aspekt ihres historischen Gewordenseins untersucht. In einer historisch-empirischen Betrachtung demonstriert er den „Zweckwandel“ von Staaten und entwickelt eine Typologie, die zwischen universalen, objektiven und relativen Staatszwecken unterscheidet.63 Erst Jellineks historisch-empirisches Verständnis, das Max Weber teilt, ebnet den Weg zu einer pragmatischen Sicht, die statt der Proklamierung von Staatszwecken sich ihrer empirischen Analyse zuwendet.64 Die staatstheoretische Diskussion der Zeit, in der Weber seine Positionen und Begriffe entwickelt, ist geprägt von der herrschenden Meinung, es gebe „mannigfaltige Lösungen“ der Staatszweckfrage, da jede gesellschaftliche Gruppe und jede politische Partei andere Zwecke für richtig halte und die Frage folglich „nicht absolut zu beantworten“ sei.65 Am weitesten ging Hans Kelsen

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Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, S. 80. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 230. Universale Staatszwecke verweist er in das „Reich willkürlicher und haltloser Einfälle“; die Frage nach objektiven Staatszwecken ist für ihn eine „müßige“ (S. 231). – Dazu Stefan Korioth, Die Staatszwecklehre Georg Jellineks, in: Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hg.), Georg Jellinek, Tübingen 2000, S. 117-132; Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, S. 131ff.; Anter, Max Weber und Georg Jellinek, S. 74ff.; ders., Georg Jellineks wissenschaftliche Politik, S. 509ff. 64 Die Autoren des frühen 20. Jahrhunderts wurden nicht müde, Jellineks Leistung zu preisen: er habe „aus der seit Jahrhunderten herrschenden Unklarheit heraus den Weg zu klarer Erörterung des Problems gezeigt“ (Frisch, Die Aufgaben des Staates, S. 47) und die Fülle disparater Staatszwecke „in mustergültiger Gruppierung“ vorgeführt (Adolf Menzel, Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, Wien/Leipzig 1929, S. 65). 65 Frisch, Die Aufgaben des Staates, S. 46. Die Skepsis gegenüber absoluten Staatszwekken beherrscht auch die amerikanische Politikwissenschaft jener Zeit. So empfiehlt etwa 63

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mit der rechtspositivistischen Position, zum Wesen des Staats gehöre „gar kein spezifischer Zweck“.66 Betrachtet man die zeitgenössischen Standpunkte, so sind immer wieder drei Aspekte zu erkennen, die für das Staatszweckverständnis konstitutiv sind: Pluralität, Relativität und Historizität. Da genau diese auch für Webers Ausgrenzung des Zwecks aus der Staatsdefinition ausschlaggebend sind, entspricht seine Position der herrschenden Meinung seiner Zeit. Er vollzieht also keineswegs eine Abkehr von Traditionen, sondern entwickelt seinen Staatsbegriff auf der Basis des Mainstreams der Staatslehre. Daher können die scharfen Polemiken, die sich seit den zwanziger Jahren gegen ihn richten, bestenfalls als Nachhutgefechte bewertet werden. Rudolf Smend hält Webers Ansatz für vollkommen „verfehlt“, da der Staat zur Verwirklichung von Zwecken existiere, wirft ihm nicht nur „Agnostizismus“ vor, sondern auch, daß er von „Wesen und Substanz des Staates“ nichts verstehe.67 Hermann Heller meint, Webers „Agnostizismus“ in der Staatszweckfrage ende „bei der trostlosen Meinung“, den Staat durch das Mittel zu definieren.68 Gefühle der Trostlosigkeit beherrschen sowohl die Weimarer Weberkritik als auch die der Nachkriegszeit. Die Weberkritik wurde nachgerade konstitutiv für die philosophisch-normative Richtung der Politischen Wissenschaft, die im Rückgriff auf antike Vorstellungen wieder das zu etablieren suchte, was Staatslehre und Sozialwissenschaft längst verabschiedet hatten: eine Lehre vom besten Staat und vom richtigen Staatszweck. Den Nestoren dieser Bemühungen, Leo Strauss und Eric Voegelin, war Webers Haltung ein Dorn im Auge. Sie waren, wie Wolfgang Welz treffend sagt, „von vornherein ganz darauf ausgerichtet, ihn als ‚Feindbild‘ aufzubauen“, ein Feindbild, das von den jüngeren Vertretern dieser Richtung weitgehend übernommen wurde.69 In der Tradition von Smend, Strauss und Voegelin verurteilt der junge Wilhelm Hennis die Staatsauffassung Webers scharf als „ein Bild absoluten Subjektivismus“ und „sinn- und wertloser Leere“; er attackiert die zweckfreie Staatsdefinition, da „jedes Telos der Herr-

——————— Charles H. Cooley, dogmatischen Theorien über den richtigen Staatszweck mißtrauisch zu begegnen; er geht davon aus, daß Staatszwecke relativ seien (Cooley, Social Organization, New York 1909, S. 403). Edward Alsworth Ross betrachtet es als müßiges Unterfangen, Staatszwecke definitiv festzulegen (Ross, The Principles of Sociology, New York 1920, S. 624). 66 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 40. 67 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. Berlin 1968, S. 119-276 (222, 123 und 184). 68 Heller, Staatslehre, S. 203. 69 Gangolf Hübinger/Jürgen Osterhammel/Wolfgang Welz, Max Weber und die Wissenschaftliche Politik nach 1945. Aspekte einer theoriegeschichtlichen Nicht-Rezeption, in: ZfP 37 (1990), S. 181-204 (187 und 189). Die entscheidende Rolle, die speziell Max Webers Staatsdenken in der Rezeption der philosophisch-normativen Richtung spielt, bleibt in Wolfgang Welz’ ansonsten ausgezeichneter Studie (ebd., S. 183ff.) bedauerlicherweise unbelichtet.

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schaft“ aufgegeben werde, die „eine sinnlose Sache geworden“ sei und „in den Dienst jedes beliebigen Zwecks gestellt werden“ könne.70 Zwischen der Entwicklung in der Staatszweckfrage und der Weber-Rezeption besteht ein Zusammenhang. Alle Versuche, die „unmodern“ gewordene Staatszweckfrage wieder ins Bewußtsein zu heben, mußten sich notwendig gegen Max Weber richten, der auf diese Weise zu einer negativen Identifikationsfigur wurde. Aber weder jenen Versuchen noch der Anti-Weber-Haltung war ein dauerhafter Erfolg beschieden, da spätestens Ende der sechziger Jahre diese ebenso unmodern wurde, wie es jene schon seit der Jahrhundertwende war. Heute gibt es „keine ernstzunehmende Theorie der Staatszwecke mehr“.71 Die Staatszweckfrage liegt seit langem „außerhalb der wissenschaftlichen Diskussion“.72 In der Staatsrechtslehre wie auch in den Sozialwissenschaften herrscht seit langem ein bemerkenswerter Konsens darüber, daß die Frage nach dem Zweck des Staates nicht abstrakt zu beantworten sei.73 Der Abschied von der Frage nach Sinn und Zweck sozialer Phänomene bedeutet für Friedrich Jonas eine „Abwendung von unentscheidbaren, höheren Problemlagen“; er feiert die „Neutralisierung der Sinnfrage“ als Voraussetzung

——————— 70 Wilhelm Hennis, Zum Problem der deutschen Staatsanschauung, in: VfZ 7 (1959), S. 123 (20f. u. 22). Diese Haltung bestimmt noch die Weberkritik in seiner Habilitationsschrift (Hennis, Politik und praktische Philosophie (1963), in: ders., Politikwissenschaft und politisches Denken, Tübingen 2000, S. 73) und eines programmatischen Aufsatzes von 1965 (Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre, in: ders., Regieren im modernen Staat, Tübingen 1999, S. 154). In den achtziger Jahren hat Hennis allerdings eine Revision vorgenommen, die sein Weberbild vom Kopf auf die Füße stellt. Er bekennt, schon damals kein „gutes Gewissen“ gehabt zu haben, und er hofft, „Weber jetzt besser verstanden zu haben“ (Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, S. III). Weber erscheint nun in einem ganz anderen Licht, ja als „Autorität, die der politischen Wissenschaft anzuraten scheint, ihre alte Kernfrage nach der besten politischen Ordnung als unlösbar auf sich beruhen zu lassen“ (ebd., S. 97). Diese späte Wende des ehedem scharfen Weber-Kritikers dokumentiert zugleich den eigenen Abschied von den Fragen nach dem richtigen Staatszweck und nach dem besten Staat. – Zur Einordnung vgl. Lawrence A. Scaff, Wilhelm Hennis, Max Weber, and the Charisma of Political Thinking, in: Andreas Anter (Hg.), Wilhelm Hennis’ Politische Wissenschaft, Tübingen 2013, S. 307-325; Hinnerk Bruhns, Wilhelm Hennis, Max Weber und die Wissenschaft vom Menschen, ebd. S. 171-291. 71 Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1998, S. 92. 72 Hespe, Zur Entwicklung der Staatszwecklehre, S. 9. 73 Vgl. Christoph Möllers, Staat als Argument, 2. Aufl. Tübingen 2011, S. 196f.; Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. München 2010, S. 110f.; Roman Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: HStR, hg. v. Josef Isensee/Paul Kirchhof, Bd. IV, 3. Aufl. Heidelberg 2006, S. 81-116 (90); Michael Stolleis, Staatszweck, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 80-84 (83f.); Hans Peter Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, Kronberg/Ts. 1977, S. 30f.; Niklas Luhmann, Zweck - Herrschaft - System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, in: Renate Mayntz (Hg.), Bürokratische Organisation, Köln/Berlin 1968, S. 36-55 (37ff.).

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für eine empirische „moderne Wissenschaft“ und hält diejenigen, „die noch nach Sinn und Zweck fragen“, für hoffnungslos „anachronistisch“.74 Wie bei Hugo Preuß ist auch hier „modern“ das Zauberwort, das zugleich den Rang eines Arguments beansprucht, mit dem die Sinn- und Zweckfrage ad absurdum geführt werden soll. Max Weber erscheint in dieser Hinsicht offenbar als Vertreter des Fortschritts: „So fragt etwa Adam Smith nicht mehr – wie Steuart – nach Sinn und Zweck von Wirtschaft, fragt Durkheim nicht mehr – wie Marx – nach Sinn und Zweck von Gesellschaft, fragt Max Weber nicht mehr – wie Hegel – nach Sinn und Zweck des Staates.“75 Auch Niklas Luhmann lobt, Weber trage der Tatsache Rechnung, politische Systeme seien nicht auf spezifische Zwecke festgelegt, und ihre theoretische Erfassung habe daher bei ihrem Mittel anzusetzen.76 Max Webers Verfahren der Ausklammerung von Zwecken aus dem Staatsbegriff scheint in der neueren Staatslehre unangefochtener denn je zu sein. Nach herrschender Meinung können Staaten nicht generell und abstrakt auf bestimmte Zwecke festgeschrieben werden. Die Begründungen sind dabei vollkommen verschieden. Sie reichen von dem pragmatischen Argument, die Zwecksetzung sei „der einzelstaatlichen Kompetenz längst entwachsen“,77 über die kategorische Haltung, eine Zweckbindung des Staates sei „obsolet“,78 bis hin zu der dezisionistischen Position, der Staat könne nicht abstrakt auf bestimmte Zwecke festgelegt werden da er „sich nach den Erfordernissen der jeweiligen Lage jeden Zweck setzen darf“, ja mit einer „Blankovollmacht“ ausgestattet sein müsse.79 Diese letztere Argumentation kann sich wohl auf Carl Schmitt berufen, dem sie unverkennbar verpflichtet ist, nicht aber auf Max Weber, der dem Staat keineswegs eine Blankovollmacht ausstellen will. Seine Perspektive ist eine historisch-empirische, die aus methodischen Gründen den Zweck aus der Staatsdefinition ausgrenzt. Hat die Geschichte Weber Recht gegeben? Haben nicht gerade die Staaten des 20. Jahrhunderts sich alle nur denkbaren Zwecke gesetzt, bis hin zur planvollen Vernichtung von Millionen von Menschen bzw. Liquidierung ganzer Klassen? Hans Peter Bull meint, die Staaten hätten „schon so vieles zu ihren

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Friedrich Jonas, Die Institutionenlehre Arnold Gehlens, Tübingen 1966, S. 31f. Ebd., S. 31. 76 Luhmann, Zweck - Herrschaft - System, S. 37. Es geht ihm hier zwar um die Frage der Rationalität von Herrschaft, aber seine Ausführungen lassen sich auch auf Max Webers Staatsbegriff münzen. Luhmanns Position, man könne das Wesen eines Systems nicht vom Zweckmoment her begreifen (ebd., S. 39), ist in nuce bereits in Webers Staatsbegriff enthalten. 77 Stolleis, Staatszweck, Sp. 83. 78 Möllers, Staat als Argument, S. 196. 79 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 760. 75

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Aufgaben erklärt“ und „schon so total auf das Leben der Bürger eingewirkt, wie man es sich nur denken kann ... ‚Der‘ Staat ist zu allem fähig ... Es ist ‚alles schon dagewesen‘.“80 Bull will hier seine Position untermauern, man könne den Staat nicht auf Zwecke festlegen. Es ist jedoch kritisch zu fragen, ob die totalen Systeme, von denen er hier spricht, überhaupt „Staaten“ waren. Geht man von Webers Staatsverständnis aus, dann ist diese Frage zu verneinen, denn in beiden totalitären Systemen wurden die Elemente der Staatlichkeit planvoll eliminiert.81 Überdies stellt sich hier die Frage der normativen Bestimmbarkeit des Staatshandelns. Der Staat der Bundesrepublik Deutschland ist zwar durch eine stabile Verfassungs- und Institutionenordnung weit davon entfernt, „zu allem fähig“ zu sein, so daß die Frage für die deutsche Staatsrechtslehre gegenwärtig nicht virulent ist. Aber die Allgemeine Staatslehre und die Politikwissenschaft, die ja nicht nur mit dem konkreten Staat, sondern mit generellen Fragen zu tun haben, müssen sich zwangsläufig mit dieser Frage beschäftigen. In dieser Hinsicht ist es durchaus möglich, an Max Weber anzuknüpfen. Er nimmt eine terminologische Umorientierung vor, wenn er einen ganzen Katalog zwar nicht von Staatszwecken, aber von Staatsfunktionen aufstellt und die „Grundfunktionen des Staats“ auflistet: „die Setzung des Rechts (Legislative), den Schutz der persönlichen Sicherheit und öffentlichen Ordnung (Polizei), den Schutz der erworbenen Rechte (Justiz), die Pflege von hygienischen, pädagogischen, sozialpolitischen und anderen Kulturinteressen (die verschiedenen Zweige der Verwaltung), endlich und namentlich auch den organisierten gewaltsamen Schutz nach außen (Militärverwaltung)“.82 Diesen Kanon von Grundfunktionen könnte auch die heutige Staatslehre ohne zu zögern unterschreiben. Entscheidend ist, daß Weber hier nicht von Zwecken, sondern von Funktionen redet und damit eine spätere begriffliche Entwicklung in den Rechts- und Sozialwissenschaften vorwegnimmt. Die Differenzierung zwischen Staatszwecken und Staatsfunktionen, die sich bereits bei Jellinek andeutet,83 hat sich in der neueren Staatslehre durchgesetzt, obwohl eine exakte Begrifflichkeit nach wie vor fehlt und Staatsaufgaben, Staatsziele, Staatszwecke und Staatsfunktionen in der Literatur oft immer noch als Synonyme erscheinen.84

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Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 33. Dazu unten Kap. I.3. 82 Weber, Gemeinschaften, S. 208 (WuG 516). 83 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 230ff. 84 Dazu instruktiv Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR, Bd. IV, 3. Aufl. Heidelberg 2006, S. 117-160 (6ff. und 25ff.). Vgl. auch Benz, Der moderne Staat, 2, S. 122ff. und 216ff.; Christof Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, Berlin 2001, S. 50ff.; KarlPeter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997; Dieter Grimm, Staatsaufgaben, Frankfurt a. M. 1996; Walter Michael Hebeisen, Staatszweck, Staatsziele, Staatsaufgaben, Chur/Zürich 1996, S. 105ff. 81

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Der Abschied von der Frage nach Sinn und Zweck des Staates ermöglicht eine Hinwendung zu der nach seinen Funktionen und Aufgaben. Diese Frage gehört zu den elementaren der Politikwissenschaft, sowohl aus der empirischen Perspektive der Funktionen, die der Staat ausübt, als auch in der normativen Dimension der Funktionen, die der Staat ausüben sollte. Eine normative Fragestellung schließt eine Orientierung an Weber keineswegs aus; sie würde nur voraussetzen, sich der Differenz von Sein und Sollen bewußt zu sein und jede Aussage über ein Sollen als solche kenntlich zu machen. Nichts anderes ist der Kern seines Werturteilspostulats.85 Angesichts des ständigen Wandels von Strukturformen und Funktionsweisen des Staates bietet Webers formaler Staatsbegriff den Vorzug, diese erst einer vergleichenden Analyse zugänglich zu machen. Der formale Charakter schließt es keineswegs aus, ihn als Grundlage einer normativen Untersuchung heranzuziehen, Der Begriff selbst muß nicht notwendig normativ gefüllt sein. Eine vergleichende Analyse, die etwa darauf zielt, demokratische Staaten von diktatorischen abzugrenzen, kann ja den formalen Begriff Staat durch weitere Attribute ergänzen, um den spezifischen Charakter des Staates zu präzisieren und normativ zu bewerten. In diesem Sinne plädiert auch Martin Kriele für einen abstrakten Staatsbegriff, der zwar nichts über die Qualität des Staates besage, welche aber durch Attribute wie ‚demokratisch‘ oder ‚diktatorisch‘ genau bestimmt werden könne.86 Vertraut man seinem Urteil, gibt es sogar weltpolitisch-völkerrechtliche Gründe für einen abstrakt-formalen Staatsbegriff: Da nur ein Staat völkerrechtlich anerkannt und in die UN aufgenommen werden kann, spreche „viel dafür, den Begriff des Staates nicht inhaltlich aufzufüllen, sondern ihn auf einer Abstraktionsebene zu halten, die es erlaubt, ... alle Mitglieder der Vereinten Nationen als Staaten zu bezeichnen“.87 Kriele sieht die „Entleerung des Staatsbegriffs von Inhalten“ sogar als „eine Voraussetzung für die Sicherung des Weltfriedens“, der wesentlich „von der universalen Geltung des Völkerrechts“ abhänge: Da das Völkerrecht nur für anerkannte Staaten gelte, werde seine Geltung „grundsätzlich in Frage gestellt“, solange „man ein politisches Gebilde nicht als Staat anerkennt“.88 Es ist sicherlich übertrieben, einen abstrakten Staatsbegriff als „Voraussetzung für die Sicherung des Weltfriedens“ zu überhöhen, eine Logik, die unverkennbar der entspannungspolitischen UN-Räson der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts verpflichtet ist. Sie stellt Max Webers methodische Argumente für eine formale Staatsdefinition sogar noch

——————— 85

Zur werturteilstheoretischen Dimension seines Staatsdenkens vgl. unten Kap. IV. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 54. 87 Ebd., S. 53. 88 Ebd., S. 54. 86

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weit in den Schatten. Folgt man Martin Krieles ‚Idee zu einem abstrakt-formalen Staatsbegriff in weltpolitischer Absicht‘, dann hätte Max Weber sich mit seiner Staatsdefinition bereits um die universale Geltung des Völkerrechts und sogar um die Erhaltung des Weltfriedens verdient gemacht – eine erheiternde Vorstellung. Eine zweihundertjährige theoretische Diskussion hat gezeigt, daß mit einem inhaltlichen Staatsbegriff nicht viel gewonnen ist. Erst ein abstrakt-formaler Staatsbegriff schafft die Voraussetzung für eine Erfassung der historisch-empirischen staatlichen Wirklichkeit und ermöglicht eine vergleichende Analyse der Staaten der Gegenwart und der Vergangenheit. Daher muß man heute notwendig an Weber anknüpfen. Weber erhebt allerdings nicht den Anspruch, einen für immer gültigen Staatsbegriff aufzustellen, sondern verweist ausdrücklich auf dessen historische Gebundenheit und bezieht sich an einer Stelle sogar auf den Staat seiner Gegenwart.89 Die Tatsache, daß der Staat in einem ständigen Wandlungsprozeß steht, berührt selbst die Konstruktion eines idealtypischen, von wandelbaren Aspekten abstrahierenden Staatsbegriffs: Weber betrachtet dessen Bildung als prinzipiell unabschließbare Aufgabe, da in dem Maße, in welchem der Staat sich wandelt, auch dessen Idealtypus auf der Basis neuen empirischen Materials neu formuliert werden muß. Nach seinem Verständnis führt der „ewig fortschreitende Fluß“ des empirischen Geschehens der Wissenschaft „stets neue Problemstellungen“ zu und läßt damit „die Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen“ entstehen.90

3. Das Gewaltmonopol Das entscheidende Kriterium, das den Staat vor allen anderen Herrschaftsverbänden der Geschichte auszeichnet, ist für Max Weber die erfolgreiche Monopolisierung der Gewalt. Da für den Staat konstitutiv sei, „daß es ‚legitime‘ Gewaltsamkeit heute nur noch insoweit gibt, als die staatliche Ordnung sie zuläßt oder vorschreibt“, könne man ihn nur durch das Mittel definieren, das ihm „spezifisch und für sein Wesen unentbehrlich ist: die Gewaltsamkeit“.91 Wenn Weber betont, diese sei dem „heutigen Staat formal charakteristisch“, handelt es sich um ein rein formales Kriterium, das über die Inhalte staatlichen Handelns nichts aussagt. Er nimmt in seinen Anmerkungen zum Staatsbegriff, wie bereits deutlich wurde, eine Reihe weiterer Einschränkungen vor, die klar-

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Weber, WuG, S. 30. Weber, Die „Objektivität“, S. 206. 91 Weber, WuG, S. 30. 90

3. Das Gewaltmonopol

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stellen, daß erstens die Gewaltsamkeit weder das einzige noch das normale Mittel sei, zweitens das Wesen des Staates sich keineswegs in der Gewaltsamkeit erschöpfe und daß drittens ihre Anwendung nur die „ultima ratio“ sei, „wenn andre Mittel versagen“.92 Weber hat zwar seinen Gewaltbegriff nirgends näher präzisiert, spricht aber in seiner Staatsdefinition von einer spezifischen Art von Gewalt: der legitimen physischen Gewalt. Diese beiden Attribute markieren eine wichtige Präzisierung. Es geht ihm erstens um physische, also offene, direkte und auf den menschlichen Körper gerichtete Gewalt,93 und zweitens um legitime Gewalt, so daß nicht nur die Kategorie der Legitimität im Staatsbegriff verankert ist, sondern auch das Gewaltmonopol an Legitimität gekoppelt wird. Die Konsequenzen dieses Gesichtspunkts, auf die wir zurückkommen, finden in seinen Erläuterungen zum Staatsbegriff keine Beachtung, da der Legitimitätsaspekt ausgeblendet wird und nur noch von bloßer Gewaltsamkeit die Rede ist. Ohne sie würde, wie es in Politik als Beruf heißt, „der Begriff ‚Staat‘ fortgefallen sein“ und „Anarchie“ herrschen.94 Hier wird Gewaltsamkeit zur conditio sine qua non erhoben. Folgt man Webers Argumentation, muß jede Bejahung von Staatlichkeit eine Bejahung der Gewaltsamkeit sein, und er läßt an seiner eigenen Bejahung nicht den geringsten Zweifel. Seine Position läßt sich in einer Formel zusammenfassen: Ohne Gewalt kein Staat. Weber ist aber kein Apologet der Gewalt, sondern kommt aufgrund seiner historischen Studien zur Erkenntnis ihrer konstitutiven Rolle. Diese historische Perspektive zeigt sich am deutlichsten in seiner Betrachtung des Wesens der politischen Verbände, die zwar nach seinem eigenen Verständnis eigentlich historisch dem Staat vorgelagert sind, aber in diesem Kontext als Synonym für den Staat erscheinen, da sie mit der Eigenschaft des Gewaltmonopols ausgestattet werden.95 Alle politischen Gebilde sind nach seinem Urteil, das er anhand von Beispielen der europäischen Geschichte belegt, „Gewaltgebilde“, die sich nur nach „Art und Maß der Anwendung und Androhung von Gewalt“ unterscheiden.96 Trotz gradueller Differenzen weisen alle politischen Verbände dieses gemeinsame Merkmal auf; jede Gemeinschaft habe zur physischen Ge-

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Weber, WuG, S. 29. Constantin Frantz stellte schon 1870 klar, die Gewalt sei „eine physische Kategorie“ (Frantz, Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft, Leipzig 1870, S. 60). Aber noch über hundert Jahre später mußte Rudolf Wassermann „angesichts der babylonischen Sprachverwirrung, die um den Gewaltbegriff entstanden ist“, betonen, das Gewaltmonopol beziehe sich allein auf die physische Gewalt (Wassermann, Politisch motivierte Gewalt in der modernen Gesellschaft, Hannover 1989, S. 20f.). 94 Weber, Politik als Beruf, S. 158 (PS 506). 95 Weber, Gemeinschaften, S. 208 (WuG 516). 96 Ebd., S. 223f. (WuG 520). 93

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

walt gegriffen, um ihre Interessen zu wahren.97 Weber faßt hier zwei Perspektiven ins Auge, sowohl die Gewalt nach außen als auch die nach innen, wobei die letztere die entscheidende ist, da „die der Gewaltsamkeit ... Ausgesetzten“ sich „in erster Linie unter den Zwangsbeteiligten“ befinden.98 Er interessiert sich primär für die gewissermaßen innenpolitische Dimension der Gewalt. Auch sein Staatsbegriff bezieht sich auf die Gewaltsamkeit im Innern, da das Monopolmoment nur für die innerstaatliche Gewalt relevant ist. Hinsichtlich beider Perspektiven diagnostiziert er signifikante historische Prozesse, wenn er die Gewalt nach außen durch zunehmende imperialistische Expansion99 und die im Innern durch die Monopolisierung bei einer Zentralinstanz gekennzeichnet sieht. Als „Entwicklungsprodukt“ bewertet er hier „nur die Monopolisierung der legitimen Gewaltsamkeit durch den politischen Gebietsverband“,100 wobei das „nur“ ganz entscheidend ist, da die Gewaltsamkeit nach wie vor besteht und sich nur an der Kompetenz ihrer Ausübung etwas geändert hat. Die Gewaltsamkeit selbst erscheint bei Weber nahezu als anthropologische Konstante; sie ist für ihn „selbstverständlich an sich etwas schlechthin Urwüchsiges“.101 Die Monopolisierung der Gewalt bei einer Zentralinstanz ist das Ergebnis eines komplexen Prozesses, in welchem die lokalen Inhaber von Gewaltbefugnissen sukzessive enteignet wurden. Da die verschiedenen Stadien dieses Prozesses sich nur schwer voneinander trennen lassen und sich regional verschiedenzeitlich vollzogen, ist es kaum möglich, eine Geburtsstunde des Gewaltmonopols zu benennen, die, folgt man Webers Staatsdefinition, zugleich die Geburtsstunde des Staates gewesen wäre. In der heutigen Literatur ist strittig, wo das Datum anzusetzen ist. Nach herrschender Meinung ist die Durchsetzung des Gewaltmonopols auf das 16. Jahrhundert anzusetzen,102 wobei sich die Datierung unschwer noch um Jahrhunderte verschieben ließe, wenn man berücksichtigt, daß die Polizeigewalt und die Gerichtsbarkeit etwa in Ostelbien bis ins 19. Jahrhundert hinein von den Gutsherrn ausgeübt wurde.103 Weber enthält sich jeder Aussage über eine Datierung, betont aber, im Mittelalter habe es je-

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Ebd., S. 208f. (WuG 516). Ebd., S. 208 (WuG 515). 99 Ebd., S. 228ff. (WuG 524ff.). 100 Ebd., S. 209 (WuG 516). 101 Ebd., S. 208 (WuG 516). 102 Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 3. Aufl. München 2003, S. 125ff.; Dietmar Willoweit, Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates, in: Albrecht Randelzhofer/Werner Süß (Hg.), Konsens und Konflikt. 35 Jahre Grundgesetz, Berlin/New York 1986, S. 320. 103 Vgl. Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1987, S. 674 und 547. 98

3. Das Gewaltmonopol

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denfalls noch kein Gewaltmonopol gegeben: „Das, was wir heute als Inhalt der einheitlichen ‚Staatsgewalt‘ anzusehen gewohnt sind, fiel dabei in ein Bündel von Einzelberechtigungen in verschiedenen Händen auseinander. Von einem ‚Staat‘ im modernen Sinn war da überhaupt noch keine Rede.“104 Der Prozeß der Monopolisierung beschränkt sich nicht nur auf die Gewalt, sondern vollzog sich auch in Verwaltung, Rechtssetzung, Rechtsprechung und anderen Sektoren der staatlichen Sphäre. Weber interpretiert die Entstehung des modernen Staates als umfassenden Prozeß der Monopolisierung, Verstaatlichung und Zentralisierung von Herrschaft.105 Darin steht er in der Tradition Alexis de Tocquevilles, des ersten großen Analytikers der Zentralisierung,106 und mehr noch in der Tradition seines akademischen Lehrers Rudolph Sohm. Der Kirchenrechtler, der auch Webers Charisma-Konzept inspirierte, zeigte in seinen staatstheoretischen Schriften, wie der entstehende Staat ab dem 16. Jahrhundert die lokalen Gewalten unterwarf und alle anderen Herrschaftsinstanzen zum Verschwinden brachte.107 Weber indes hat die institutionelle Entstehung des Gewaltmonopols nirgends eingehender beleuchtet; es bleibt bei wenigen verstreuten Bemerkungen in seinem Werk. Die Herausbildung des Gewaltmonopols ist untrennbar verknüpft mit der Herausbildung der Souveränität, die Max Weber „als wesentliches Attribut der heutigen Staatsanstalt“ bezeichnet.108 Gewaltmonopol und Souveränität, die er nicht begrifflich voneinander abgrenzt,109 sind zwei Seiten derselben Medaille.

——————— 104 Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 367 (PS 264). 105 Staatliche Herrschaft bedeutet für Heinrich Popitz die „Veralltäglichung zentrierter Herrschaft“: „Wir erfahren morgens mit dem Blick auf die Uhr die zentral festgelegte Zeit, verbrauchen zentral geliefertes Wasser, Licht und Wärme zu (hoffentlich) zentral kontrollierten Preisen, treffen uns zu grimmiger Runde am Frühstückstisch – im Rahmen des Ehe- und Familienrechts –, fädeln uns, das Haus verlassend, in die Kanäle der Straßenverkehrsordnung ein, und dürfen noch nicht einmal zur Selbsthilfe greifen, wenn jemand vor unserer Garage parkt.“ (Popitz, Phänomene der Macht, 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 259f.) 106 Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 1976, bes. S. 793ff. u. 799ff.; ders., Der alte Staat und die Revolution, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 39ff. u. 58ff. Zum Thema Zentralisierung bei Tocqueville siehe die ausgezeichnete Studie von Roger Boesche, The Strange Liberalism of Alexis de Tocqueville, Ithaca/ London 1987, S. 123ff., 129ff. u. 133ff. 107 Vgl. Rudolph Sohm, Die Entwicklungsgeschichte des modernen Staates, in: Cosmopolis 5 (1892), S. 853-872 (861). 108 Weber, Recht, S. 312f. (WuG 400). 109 Auch in der Literatur werden sie häufig als Synonyme gebraucht, etwa bei Detlef Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, Tübingen 1975, S. 32f. Die bisherigen Bemühungen haben sich vor allem darauf gerichtet, Souveränität und Staatsgewalt voneinander abzugrenzen. Dazu grundlegend Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 408ff. Vgl. auch Albrecht Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: HStR, hg. v. Josef Isensee/Paul Kirchhof, Bd. II, 3. Aufl. Heidelberg 2004, S. 143-162; Diethelm Klippel, Staat und Souveränität (VI-VIII), in:

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

Das Gewaltmonopol richtet sich primär auf den innerstaatlichen Prozeß, während die Souveränität die innere Perspektive mit der äußeren vereint. Der Unterschied zwischen beiden liegt auf der Hand, wenn man daran denkt, daß es sehr wohl Souveränitätsabtretungen geben kann, etwa im Rahmen von Wirtschaftsund Militärgemeinschaften, nicht aber Abtretungen vom Gewaltmonopol, ohne daß der Staat in seiner Existenz gefährdet würde. Daher ist das Gewaltmonopol das fundamentale Merkmal des Staates – und die Souveränität ein eher sekundäres Kriterium. Weber ist wörtlich zu nehmen. Wenn er sagt, die Souveränität sei ein „wesentliches Attribut“, bleibt der Superlativ dem Gewaltmonopol vorbehalten, welches eben das „wesentlichste“ Element des Staates ist. Überhaupt spielt die Kategorie der Souveränität weder in seinem Staatsdenken noch sonst in seinem Werk eine nennenswerte Rolle. In diesem Punkt unterscheidet Weber sich von der vorherrschenden staatstheoretischen Tradition der letzten vierhundert Jahre. Seit Jean Bodin110 ist die Souveränität im politischen Denken der europäischen Neuzeit zumeist als entscheidendes Merkmal des Staates gesehen worden. Staat und Souveränität werden in der Literatur oft so eng aneinandergerückt, daß die Souveränität „in der heutigen Vorstellung häufig geradezu als Kriterium für die Staatlichkeit“ erscheint.111 Sie ist daher ein Schlüsselbegriff der Staatslehre, wenngleich ein sehr umstrittener Begriff.112 Bei Weber indes findet sich die Identifizierung von Staat und Souveränität nirgends. Insofern schert er an diesem Punkt aus der staatstheoretischen Tradition aus. Gleichwohl ist seine Staatsdefinition theoriegeschichtlich keineswegs voraussetzungslos. Die Frage des Verhältnisses von Staat und Gewalt ist eine der zentralen Fragen des neuzeitlichen politischen Denkens und findet ihren wohl konsequentesten ersten Ausdruck in Hobbes’ Figur des Leviathan, der aus der Furcht vor Gewalt geboren wird, die potentiell mörderische Gewalt aller gegen

——————— Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner u. a., Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 98-128. – In der Literatur wird unter „Souveränität“ zumeist das verstanden, was Weber als Herrschaft bezeichnet. 110 Jean Bodin hat bekanntlich in seinen Six Livres (1576) nicht nur folgenreich die Figur der Souveränität in das Staatsdenken eingeführt sondern damit auch den modernen Staat erstmals theoretisch begründet. Vgl. Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat, hg. v. Peter C. Mayer-Tasch, Bd. 1, München 1981, S. 98. 111 Klippel, Staat und Souveränität, S. 98. 112 Vgl. Dieter Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin 2009, S. 35ff.; Ulrich Haltern, Was bedeutet Souveränität?, Tübingen 2007; James J. Sheehan, The Problem of Sovereignty in European History, in: American Historical Review 111 (2006), S. 1-17; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 41ff.; Christian Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, in: JZ 57 (2002), S. 1072-1080; Stephen D. Krasner (Hg.), Problematic Sovereignty. Contested Rules and Political Possibilities, New York 2001; Andreas Osiander, Sovereignty, International Relations, and the Westphalian Myth, in: International Relations 55 (2001), S. 251-287.

3. Das Gewaltmonopol

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alle beendet und Schutz, Rechtssicherheit und inneren Frieden garantiert, indem sich die Menschen seiner Zwangsgewalt unterwerfen.113 Hobbes und Weber denken den Staat im Angesicht von Gewalt, aber historisch bedingt aus verschiedenen Perspektiven. Während Hobbes noch zu begründen sucht, warum Gewalt zu domestizieren sei, stellt sich für Weber nicht mehr die Frage der theoretischen Begründung des Staates. Für ihn und seine Zeitgenossen ist es eine Selbstverständlichkeit, daß innerer Frieden und Rechtssicherheit nur durch eine zentrale Zwangsgewalt gewährleistet werden können. Die Vorstellung des Gewaltmonopols, die implizit bereits bei Hobbes, Bodin, Kant114 und Schopenhauer115 zu erkennen ist, wird expressis verbis nicht erst von Max Weber, sondern schon von Rudolph Sohm und Rudolf von Jhering formuliert. Sohm formulierte als erster den Rechtszwang als das „Monopol des Staates“, da „alle Gewaltausübung innerhalb des Staates lediglich auf Auftrag, Delegation von seiten der Staatsgewalt beruhen kann“.116 Nicht weniger deutlich deklarierte von Jhering die Zwangsgewalt als „das absolute Monopol des Staats“.117 Dieses Verständnis wird im späten 19. Jahrhundert zu einem Gemeinplatz in der staatswissenschaftlichen Literatur. Für Adolf Lasson etwa zeichnet sich der Staat dadurch aus, daß er „eine organisirte höchste Gewalt besitzt“ und über das Monopol der „physischen Gewalt“ verfügt.118 Dieses Kriterium hält er für „völlig ausreichend, um den Staat von allem, was man mit ihm verwechseln könnte, sicher zu unterscheiden“.119

——————— 113 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1984, S. 131. 114 Kant sieht die Macht des Staates als „unwiderstehlich“ und betont, es existiere kein Staat „ohne eine solche Gewalt, die allen innern Widerstand niederschlägt“ (Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1964, S. 125172, 156). 115 Schopenhauer läßt den Fürsten sprechen: „Ich herrsche über euch durch Gewalt, dafür aber schließt meine Gewalt jede andere aus; denn ich werde keine andere neben der meinigen dulden“ (Schopenhauer, Zur Rechtslehre und Politik, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. V, hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Frankfurt a. M. 1986, S. 284-315, 294). 116 Rudolph Sohm, Die Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung (1871), 2. Aufl. München/Leipzig 1911, S. XIV. Zum Verhältnis Weber/Sohm in staatstheoretischer Perspektive Andreas Anter, Charisma und Anstaltsordnung. Max Weber und das Staatskirchenrecht seiner Zeit, in: Hartmut Lehmann/Jean Martin Ouédraogo (Hg.), Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, Göttingen 2003, S. 29-49. 117 Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1 (1877), 4. Aufl. Leipzig 1904, S. 247. Zum Verhältnis Weber/Jhering vgl. Stephen P. Turner/Regis A. Factor, Decisionism and Politics: Weber as Constitutional Theorist, in: Sam Whimster/Scott Lash (Hg.), Max Weber, Rationality and Modernity, 2. Aufl. London 2006, S. 334-354 (336ff.); dies., Max Weber: The Lawyer as Social Thinker, London/New York 1994, S. 22ff., 46ff., 103ff. 118 Lasson, System der Rechtsphilosophie, S. 283 u. 293. 119 Ebd., S. 285.

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

Webers Staatsbegriff ist also fast wörtlich an Positionen deutscher Staatsdenker des Wilhelminismus angelehnt und daher ein konsequenter Ausdruck der Staatsauffassung seiner Zeit. Es ist begriffs- und zeitgeschichtlich interessant, daß sich die ausdrückliche Formulierung eines Monopols erst nach einer markanten historischen Zäsur, nämlich nach der deutschen Reichsgründung nachweisen läßt. Das Wort Monopol fällt bei keinem der deutschen Staatsdenker vor 1871. Dieses zeitgeschichtliche Ereignis, das auch von Max Weber als Zäsur hervorgehoben wird,120 hatte offenbar zugleich einen heuristischen Effekt, indem es den Blick der deutschen Staatsdenker für das Wesen des Monopols schärfte. Gleichzeitig nimmt Weber selbst in der Entwicklung des deutschen Staatsdenkens eine wichtige Position ein. Niemand hat klarer als er das Gewaltmonopol als elementares Kriterium des Staates formuliert. Es kommt sicher nicht von ungefähr, daß er als der Theoretiker des Gewaltmonopols gilt und man sich stets auf ihn beruft, wenn vom Gewaltmonopol die Rede ist. Die Rezeption war gleichwohl starken Schwankungen unterworfen. Über ein halbes Jahrhundert hinweg war Webers Staatsbegriff der wohl umstrittenste in den Rechts- und Sozialwissenschaften. Hermann Heller hielt nichts davon, den Staat ausschließlich durch die Gewaltsamkeit zu definieren;121 Wilhelm Hennis empfahl in den sechziger Jahren markig, „mit dem autoritären Wahn aufzuräumen“, den Staat vom Gewaltmonopol her zu verstehen;122 Roman Herzog lehnte Anfang der siebziger Jahre Webers Staatsdefinition entschieden ab;123 in den frühen neunziger Jahren glaubte Helmut Willke, die „Begründung des Staates als Monopol legitimer physischer Gewaltausübung“ sei „nicht nur defizitär, sondern auch irreführend“.124 Die Kritik war so starr auf die Gewaltsamkeit fixiert wie das Kaninchen auf die Schlange, und dieser starre Blick verhinderte eine wirkliche Auseinandersetzung. Die Rezeption des Weberschen Staatsbegriffs ist ideengeschichtlich interessant, da sie einen verläßlichen Spiegel der rechts- und sozialwissenschaftlichen Diskussion der letzten hundert Jahre bietet. Jede Richtung, jede Schule hat ihr Selbstverständnis durch Abgrenzung gegenüber oder Anlehnung an ihn zu gewinnen versucht. Dabei ist die Weber-Probe immer aufschlußreich: Sage mir,

——————— 120 Vgl. Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895), in: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. MWG I/4, S. 568ff. (PS 20ff.). 121 Hermann Heller, Staatslehre, Leiden, 1934, S. 203. 122 Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre, S. 154. 123 Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt a. M. 1971, S. 155f. 124 Helmut Willke, Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 221. Seine Meinung beruht auf systemtheoretischer Dogmatik.

3. Das Gewaltmonopol

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was du von ihm hältst, und ich sage dir, wer du bist. So steht die Kritik seit vielen Jahrzehnten einer dezidierten Zustimmung gegenüber. Norbert Elias bestätigte Webers Position, indem er in seiner Studie Über den Prozeß der Zivilisation das Gewaltmonopol als Existenzbedingung des Staates demonstrierte.125 Niklas Luhmann meinte, kein Staat könne ohne das Gewaltmonopol existieren, welches Weber mit Recht als „unerläßliche Voraussetzung der Bildung des modernen Staates“ definiert habe.126 Heinrich Popitz sah mit Weber das Spezifische der staatlichen Herrschaft „in den außerordentlichen Monopolisierungserfolgen zentralisierter Gebietsherrschaft“.127 In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts konnte man noch resümieren, das Monopol sei unter den Staatstheoretikern „unangefochtener denn je etabliert“ und werde „nicht nur als Faktum, sondern auch als sinnvolles, vitalste Lebensinteressen der Gesellschaft schützendes Machtinstrument“ begriffen.128 Webers Formel ist bis heute die bei weitem verbreitetste Staatsdefinition in den internationalen Sozialwissenschaften.129 Sie ist „quite simply the most commonly used working definition found in contemporary historical and political writing“.130 Allerdings steht die Präsenz der Monopolformel in einem deutlichen Kontrast zu den gegenwärtigen Gefährdungen des Gewaltmonopols. Seit den achtziger Jahren ist in den Rechts- und Sozialwissenschaften vielfach die Brüchigkeit des Monopols diagnostiziert worden. Dabei richten sich die Analysen nicht nur auf die auf die aktuellen Gefahrenlagen, sondern auch auf die prinzipielle Bedeutung des Gewaltmonopols für die Sicherung von Rechtsstaat und Demokratie sowie die Frage, inwieweit das Monopol durch die zunehmende Privatisierung der Gefahrenabwehr unterminiert wird.131 Bereits vor drei Jahrzehnten

——————— 125 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen, 2. Bd., 8. Aufl. Frankfurt a. M. 1981, S. 142ff. 126 Niklas Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München/Wien 1981, S. 82. – Auch für Ulrich Matz geben Webers Feststellungen zum Verhältnis von Staat und Gewalt „die klarste Auskunft“ (Matz, Politik und Gewalt. Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaates und der Revolution, Freiburg/München 1975, S. 157). 127 Popitz, Phänomene der Macht, S. 258. 128 Willoweit, Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols, S. 316. 129 Vgl. Paul du Gay/Alan Scott, State Transformation or Regime Shift?, in: Sociologica 2 (2010), S. 1-23; Benz, Der moderne Staat, S. 80f. u. 157f.; Colin Hay/Michael Lister, Theories of the State, in: Colin Hay u. a. (Hg.), The State. Theories and Issues, London 2006, S. 1-20 (7f.); Walter C. Opello/Stephen J. Rosow, The Nation-State and Global Order, London 2004, S. 140ff.; Catherine Colliot-Thélène, La fin du monopole de la violence légitime?, in: Revue d’études comparatives Est-Ouest 34 (2003), S. 5-31; Gunnar Folke Schuppert, Staatswissenschaft, Baden-Baden 2003, S. 78f.; Gianfranco Poggi, Forms of Power, Cambridge 2001, S. 12ff. 130 Duncan Kelly, The State of the Political, 2. Aufl. Oxford 2008, S. 4. 131 Vgl. Thomas Gutmann/Bodo Pieroth (Hg.), Die Zukunft des staatlichen Gewaltmonopols, Baden-Baden 2011; Manfred Baldus, Staatliche Gewaltmonopole in: Veith Mehde u. a.

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

wertete Claus Offe die Tatsache, daß linksradikale Kräfte „erfolgreich Lücken in das System des staatlichen Gewaltmonopols gerissen“ hätten, als Symptom „einer Dekomposition von Staatlichkeit“.132 Aus amerikanischer Perspektive kam Sheldon Wolin zur gleichen Zeit angesichts des internationalen Terrorismus zu dem Schluß, das Gewaltmonopol sei sehr zerbrechlich – und Webers Staatsbegriff daher obsolet geworden: „It has become evident in recent decades that, whatever the ‚uniqueness‘ of the modern state may be, it does not consist in a monopoly of the means of violence.“133 Inzwischen ist es en vogue, vom Staat nur noch in der Vergangenheitsform zu sprechen. Wolfgang Reinhard glaubt, daß Staat gar nicht mehr existiere.134 Ist das aber tatsächlich der Fall? Es kann sicherlich kein Zweifel darüber bestehen, daß das Gewaltmonopol auch heute in vielen Staaten Lücken aufweist. Das aber ist keineswegs ein Phänomen, das erst in der Gegenwart auftreten würde. Die Lücken sind vielmehr dem modernen Staat von Beginn an eingeschrieben und in jeder historischen Phase zu verzeichnen, angefangen von den Bauernkriegen, über die Streiks der Arbeiterbewegung135 und die gewaltsamen Proteste der siebziger Jahre bis hin zu den terroristischen Anschlägen der Gegenwart.136 Max Weber war selbst Zeitzeuge von Vorgängen, die das staatliche

——————— (Hg.), Staat, Verwaltung, Organisation, Berlin 2011, S. 3-16; Jörn Axel Kämmerer, Der lange Abschied vom staatlichen Gewaltmonopol, in: Andreas Peilert u. a. (Hg.), Aktuelle sicherheitsrechtliche Fragen zwischen staatlicher und privater Aufgabenerfüllung, Köln 2010, S. 3958; Hannes Wimmer, Gewalt und das Gewaltmonopol des Staates, Wien/Berlin 2009; Freia Anders/Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols, Frankfurt/New York 2006, S. 18ff.; Colliot-Thélène, La fin du monopole de la violence légitime?, S. 5ff.; Stefan Breuer, Der Staat, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 295ff.; Trutz von Trotha, Ordnungsformen der Gewalt oder Aussichten auf das Ende des staatlichen Gewaltmonopols, in: Birgitta Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen im Wandel, Opladen 1995, S. 129ff.; Rolf-Peter Callies, Das staatliche Gewaltmonopol in der gegenwärtigen Diskussion, in: Recht und Politik 23 (1987), S. 184-187; Ulrich K. Preuß, Zivilisation und Gewaltmonopol, in: Freibeuter 25 (1985), S. 3-13. 132 Claus Offe, Die Staatstheorie auf der Suche nach ihrem Gegenstand, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1 (1987), S. 309-320 (314f.). Er beobachtete, daß jene Gefährdungen „diejenigen nicht ernst zu nehmen scheinen, welche die Dekomposition der Staatlichkeit evolutionsergeben registrieren, mit postmoderner Heiterkeit quittieren oder mit anarchischen Geräuschen untermalen“ (ebd., S. 315). 133 Sheldon Wolin, Postmodern Politics and the Absence of Myth, in: Social Research 52 (1985), S. 217-239 (226). 134 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 535. – Zu dieser optischen Täuschung Anter, Der Staat als Beobachtungsobjekt der Sozialwissenschaften, S. 17ff. 135 Walter Benjamin meint, bei den Streiks der Arbeiterschaft fürchte „der Staat mehr als alles andere“ die „Funktion der Gewalt“ (Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/1, Frankfurt a. M. 1977, S. 179-203, 185). 136 Vgl. Walter Laqueur, A History of Terrorism, 7. Aufl. New Brunswick 2012; Martha Crenshaw (Hg.), Terrorism in Context, 4. Aufl. University Park 2007; Bruce Hoffman, Inside Terrorism, 2. Aufl. New York 2006; Ulrich Schneckener, Transnationaler Terrorismus. Cha-

3. Das Gewaltmonopol

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Gewaltmonopol erschütterten, und es ist kaum anzunehmen, daß er sich des fragilen Charakters nicht bewußt war. Allerdings findet dieses Thema in seinem Werk keinen Niederschlag, obwohl es sich um ein Kernproblem jedes Staates und jeder Staatstheorie handelt und nicht zuletzt die Frage der Gültigkeit seines Staatsbegriffs berührt. Die Erörterung der Frage, inwieweit man tatsächlich von einem Gewaltmonopol sprechen kann, muß beim Begriff des Monopols ansetzen, den man in diesem Kontext nicht im gleichen Sinne verstehen darf wie etwa bei der Herstellung von Streichhölzern. Während wirtschaftliche Monopole relativ leicht kontrollierbar und durchsetzbar sind, läßt sich solches für das Monopol der Gewaltsamkeit nicht behaupten, da es niemals ein absolutes sein kann. Kein Staat, auch kein totaler Staat, kann alle Gewalt, die nicht von ihm ausgeht, unterbinden.137 Die Monopolisierung bleibt immer unvollkommen. Das hat mit dem Wesen der Gewalt zu tun, die, geht man von Max Webers Verständnis aus, eine Form menschlichen Handelns ist, die latent oder manifest immer präsent ist. Seit Kains Brudermord hat es sie immer gegeben. Eine gewaltfreie Gesellschaft mag zwar ein erstrebenswertes Ziel sein, aber sie ist ein bisher nie verwirklichtes utopisches Ziel, und auch das staatliche Gewaltmonopol führt keine „gewaltfreie Gesellschaft“138 herbei. Die zwangsläufige Unvollkommenheit des Monopols zwingt zu einer Präzisierung und Neuformulierung dessen, worum es sich beim staatlichen Gewaltmonopol genau handelt. Sowohl seine begrifflich-theoretischen als auch seine praktisch-politischen Probleme liegen darin begründet, daß es nur Annäherungen an ein echtes Monopol geben kann. Das Gewaltmonopol darf nicht in einem absoluten, sondern muß in einem graduellen und teleologischen Sinne verstanden werden. Es ist ein ständig zu erneuernder, geltend zu machender und durchzusetzender Anspruch. Die Chance dieser Durchsetzung beruht auf zwei elementaren Voraussetzungen: erstens einer Institutionalisierung der Gewaltmittel beim Staat und zweitens einer Legitimitätsgrundlage, die das Befolgen des Anspruchs gewährleistet. Versteht man das Monopol in diesem graduellprozeßhaften Sinne, ergeben sich daraus drei Konsequenzen: Erstens kann der Staat nur auf das Verbot der nichtstaatlichen Gewalt zielen, da das Gewaltver-

——————— rakter und Hintergründe des „neuen“ Terrorismus, Frankfurt a. M. 2006; Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, 2. Aufl. Hamburg 2005; Josef Isensee (Hg.), Der Terror, der Staat und das Recht, Berlin 2004. 137 Das Problem stellt sich gerade für freiheitliche Staaten und kaum für totalitäre: „Sich irgendeines Menschen in einem freien Staat zu bemächtigen, ihn zu entführen, zu foltern und zu töten, ist so ziemlich das Leichteste, was eine Clique von Terroristen zustande bringen kann... In diktatorischen und vor allem totalitären Ländern kommt es fast überhaupt nicht zu jenen Attentaten“ (Manès Sperber, Über die Gewalt von unten, in: Merkur 25 (1971), S. 205221, 216). 138 So jedoch Ulrich Matz, Politik und Gewalt, S. 101.

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

bot nicht als unmittelbarer Rechtsbefehl existiert. Zweitens darf nur der Staat im Besitz der Mittel sein, um diesen Anspruch durchzusetzen. Drittens muß der Staat im äußersten Fall in der Lage sein, die stets von neuem entstehende Gewalt zu unterbinden.139 Darüber hinaus kann das Gewaltmonopol nur wirksam sein, wenn die staatliche Herrschaftsordnung über eine Legitimitätsgeltung verfügt, so wie umgekehrt jede legitime staatliche Ordnung des Gewaltmonopols bedarf. Diese Interdependenz ist in Max Webers Staatsbegriff angelegt, wo vom Monopol der legitimen Gewaltsamkeit die Rede ist. Der Staat muß wie jede andere Herrschaft auf Legitimität gegründet sein, um die Chance auf dauerhaften Bestand zu haben, und die legitime Ausübung staatlicher Herrschaft ist auf das Monopol angewiesen, da es die Durchsetzung legitimierter Entscheidungen garantiert. Max Weber stellt zwar die Gewaltsamkeit pointiert und einseitig in den Vordergrund, aber sein Staatsbegriff beinhaltet die zwingende Konsequenz, daß der Wesenskern staatlicher Herrschaft nur in der legitimen Verfügung über das Mittel der Gewaltsamkeit liegt. Die Implikationen seines Staatsbegriffs berühren auch und gerade den heutigen demokratischen Rechtsstaat, der nur Bestand haben kann, wenn die Staatsgewalt in der Lage ist, das Recht auch zu garantieren und durchzusetzen, ein Umstand, der in der heutigen staatsrechtlichen Dogmatik communis opinio ist.140 Max Weber betont zwar in seiner Rechtssoziologie den Zusammenhang von Gewaltmonopol und Rechtsordnung, aber der Besonderheit des Monopols im demokratischen Rechtsstaat schenkt er keine Beachtung. Dabei kommt hier dem Monopol eine essentielle Bedeutung zu, da es der Garant dafür ist, „die jeweils demokratisch legitimierte Politik durchzusetzen“.141 Da das Recht seine Verbindlichkeit ohne Gewaltmonopol nicht behaupten kann, das wiederum ohne Rechtsbindung Willkür wäre, sind Rechtsstaat und Gewaltmonopol ohne einander nicht zu denken. Die Tatsache, daß die Gewalt – in dem hier umrissenen Sinne – beim Staat monopolisiert ist, bedeutet nicht, daß das Problem der Gewalt ein für allemal gelöst wäre. Es bildet sich zwangsläufig immer wieder von neuem, da es durch die Monopolisierung erstens nicht aus der Welt geschafft wird und zweitens sich auf eine neue Stufe verlagert, da der Staat selbst Gewalt androhen oder

——————— 139 Hier berührt sich dies an Weber anknüpfende Verständnis mit Carl Schmitts berühmter Formel: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ (Schmitt, Politische Theologie, München/Leipzig 1922, S. 11) 140 Vgl. nur Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. München 2010, S. 45f. Immer noch grundlegend hierzu: Detlef Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, Tübingen 1975. 141 Willoweit, Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols, S. 321.

3. Das Gewaltmonopol

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anwenden muß, um den Monopolanspruch durchsetzen zu können. Jeder Staat steht im Angesicht einer Paradoxie: Das Versprechen, die unkontrollierte Gewalt aller gegen alle zu unterbinden, gibt es nur um den Preis, daß der Staat selbst gewaltfähig und potentiell gewalttätig sein muß.142 Die ganze Tragweite des Gewaltproblems ist in Webers Werk stets nur gleichsam unterirdisch präsent und tritt nur an wenigen Stellen ans Licht, am deutlichsten an einer Stelle in der Religionssoziologie, wo er auf die Eigendynamik der Gewalt verweist: „Gewalt und Bedrohung mit Gewalt gebiert aber nach einem unentrinnbaren Pragma alles Handelns unvermeidlich stets erneut Gewaltsamkeit. Die Staatsräson folgt dabei, nach außen wie nach innen, ihren Eigengesetzlichkeiten.“143 Hier kommt eine fatalistische Sicht zum Ausdruck, die sich in seinen Lieblingsvokabeln der Unentrinnbarkeit und Unvermeidlichkeit niederschlägt und einen circulus vitiosus transparent macht: Jede Gewalt ruft neue Gewalt hervor. Das gilt sowohl für innerstaatliche als auch für zwischenstaatliche Gewalt. Das Gewaltproblem gewinnt für Max Weber gerade im Weltkrieg und in der darauffolgenden Zeit Bedeutung. Dies zeigen die politischen Schriften jener Zeit, in der er sich verstärkt mit dem Verhältnis von Staat, Krieg und Gewalt auseinandersetzt. Zwischen innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Gewalt besteht ein prekärer Zusammenhang. Die staatliche Gewalt, die den inneren Frieden wahrt, ist zugleich diejenige, welche die größtmögliche Gewalt, die Kriegsgewalt, zu entfesseln vermag. Max Weber ist von der Vorstellung der Möglichkeit von Gewaltfreiheit weit entfernt; er bejaht die Gewalt nach innen wie die nach außen. Aber er steht erkennbar in einer Spannung zwischen der martialischen Haltung, die er in seinen antipazifistischen Schriften einnimmt, und der Kritik der Gewalt, die er in seiner Bemerkung zur Eigenlogik der Gewalt leistet. Er nimmt in nuce bereits Aspekte der „Kritik der Gewalt“ Walter Benjamins vorweg. Wie Weber hält auch Benjamin die „Monopolisierung der Gewalt“ für das Merkmal des Staates144 und die Gewaltfreiheit für eine Illusion. Er will „das Bewußtsein von der latenten Anwesenheit der Gewalt“ im Staat schärfen.145 Genau darum geht es bereits Max Weber. Seine Feststellung aus dem Jahre 1919, daß „die Beziehung des Staates zur Gewaltsamkeit besonders intim“ sei,146 hat an Aktualität nichts verloren. Sowohl die wissenschaftlichen

——————— 142 Für Heinrich Popitz ist Gewalt eine „notwendige Bedingung“ zur Aufrechterhaltung einer Ordnung, da diese sich, „wenn Gewalt droht, mit Gewalt schützen können“ muß, will sie „sich nicht von vornherein selbst aufgeben“ (Popitz, Phänomene der Macht, S. 63). Auch Alexander Passerin d’Entrèves betont, die Existenz des Staates sei an Gewalt gebunden: „The State ‚exists‘ in far as a force exists which bears its name.“ (The Notion of the State, S. 2) 143 Weber, RS I, S. 547. 144 Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, S. 183. 145 Ebd., S. 190. 146 Weber, Politik als Beruf, S. 158 (PS 506).

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

als auch die politischen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Staat und Gewalt zeigen, daß diese Intimität nach wie vor besteht. Im frühen 21. Jahrhundert mehren sich die Stimmen jener, die für eine Ausweitung des innerstaatlichen Gewaltmonopols zu einem überstaatlichen Weltgewaltmonopol plädieren, einem erdumfassenden Monopol der legitimen Kriegsgewalt. Aber auch ein solches Weltgewaltmonopol würde keine Garantie für einen „Ewigen Frieden“ bieten, die Sehnsucht Kants, oder für einen „endgültig pazifizierten Erdball“, die Schreckensvision Carl Schmitts.147 Daß ein Weltgewaltmonopol das Ende aller Kriege bedeuten würde, ist kaum zu erwarten. Aber die Schaffung von Institutionen zur effektiveren Etablierung eines solchen Monopols gehört sicherlich zu den zentralen politischen Aufgaben der Gegenwart.148 Es ist eine Ironie der Geschichte, daß sich die ersten fragilen Ansätze eines Weltgewaltmonopols in einer Zeit abzeichnen, in der das innerstaatliche Monopol zunehmenden Gefährdungen ausgesetzt ist. Dessen endgültiger Zerfall würde auch einen Zerfall des Staates nach sich ziehen. Gleichwohl besteht kein Anlaß, einen Schwanengesang auf den Staat anzustimmen. Jeder Blick in die Geschichte zeigt, daß fast alle Staaten in verschiedenen historischen Phasen um die Aufrechterhaltung des Monopols kämpfen mußten. Bisher jedenfalls hat der moderne Staat die Krisen, denen er ausgesetzt war, stets überstanden.

4. Der Staat als Anstalt Ein wichtiger Aspekt der Konstanz und Stabilität des Staates ist dessen soziologische Natur als Anstaltsbetrieb.149 In den Soziologischen Grundbegriffen fällt der Staat in die Kategorie der „Anstalt“. Welche staatstheoretische Bedeutung aber hat diese Kategorie? Als eine Anstalt definiert Weber einen Verband, „dessen gesatzte Ordnungen innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden“.150 Im Anschluß an diese (relativ) umständliche Definition hebt er in seinen Erläuterungen drei Kriterien hervor, die zugleich auch für sein Staatsverständnis von entscheidender Relevanz sind: Eine Anstalt ist erstens ein

——————— 147

Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1963, S. 35. Prononciert Karl Otto Hondrich, Freie und gebundene Gewalt, in: Hans Vorländer (Hg.), Gewalt und die Suche nach weltpolitischer Ordnung, Baden-Baden 2004, S. 14-24; ablehnend Erhard Denninger, Recht, Gewalt und Moral – ihr Verhältnis in nachwestfälischer Zeit, in: KJ 38 (2005), S. 359-369. 149 Weber, WuG, S. 29. Zum Begriff des Betriebes siehe unten Kap. VI. 2. 150 Weber, WuG, S. 28. 148

4. Der Staat als Anstalt

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Verband mit „rational“ gesatzten Ordnungen, die zweitens „für jeden“ innerhalb der Anstalt gelten und drittens „in einem ganz spezifischen Sinn oktroyierte Ordnungen“ sind.151 Das erste Kriterium ist hinsichtlich des Staates insofern bedeutsam, als dieser damit indirekt mit dem Merkmal der Rationalität ausgestattet wird: Wenn „Anstalt“ stets rationale Anstalt ist, ist auch der Staat stets rationale Staatsanstalt.152 Das zweite Kriterium zieht die Konsequenz nach sich, daß niemand sich den Forderungen der staatlichen Lebensordnung entziehen kann. Die Bedeutung des dritten Kriteriums erschließt sich vor dem Hintergrund einer Bemerkung im Kategorien-Aufsatz, wo Weber die Entstehung von Anstaltssatzungen durch Oktroyierung von denen durch Vereinbarung abgrenzt153 und klarstellt, daß „Vereinbarung“ bei der Entstehung von Anstaltssatzungen kaum eine Rolle spiele. Er verzichtet hier auf historische Beispiele oder Belege und führt vielmehr eine dogmatische Argumentation, die zu dem Schluß kommt, fast alle Anstaltssatzungen seien „nicht vereinbart, sondern oktroyiert“.154 Diese herrschaftssoziologische Position steht in Einklang zu seiner Skepsis gegenüber der Vorstellung einer auf Vereinbarung gegründeten staatlichen Herrschaft. Er geht hier mit keinem Wort auf die Vertragstheorien der politischen Ideengeschichte ein, denen er in anderem Zusammenhang eine klare Absage erteilt, wenn er die „Hypostasierung der ‚regulativen Idee‘ vom ‚Staatsvertrag‘“ für eine „reine Fiktion“ hält.155 Wilhelm Hennis sagt mit Recht, man könne in Webers Herrschaftssoziologie nirgends „die leisesten positiven Bezugnahmen auf das moderne Vertragsdenken entdecken“.156 Da sich auch außerhalb der Herrschaftssoziologie keine solche findet, kann man dieses Urteil getrost auf das Gesamtwerk ausweiten. In seinem Antikontraktualismus, der sein Verständnis des modernen Staates maßgeblich mitbestimmt, steht Max Weber in der Tradition David Humes, der gegen die Vertragsvorstellungen seiner Zeit, der Staat beruhe auf „Zustim-

——————— 151

Ebd. Zu diesem Aspekt siehe unten Kap. V. 5. 153 Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), in: WL, S. 468. 154 Ebd., S. 469. 155 Weber, R. Stammlers „Ueberwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung (1907), in: WL, S. 335. – Allerdings wird die Vorstellung des Staatsvertrags auch von ihren Vertretern nicht unbedingt als eine historische Tatsache verstanden, sondern eher als eine heuristische Hypothese. So bedeutet der Vertrag etwa für Thomas Hobbes nicht, daß er tatsächlich geschlossen wurde, sondern nur, daß er als eine notwendige Fiktion den Gehorsam gegenüber der staatlichen Ordnung zwingend begründen soll. – Ein „ursprünglicher Kontrakt“ ist für Kant „keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig“ und auch „gar nicht möglich“, sondern „eine bloße Idee der Vernunft“ (Kant, Über den Gemeinspruch, S. 153). 156 Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 214. 152

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

mung“ oder „Einverständnis“, das historische Argument setzt, Staaten seien vielmehr durch herrschaftliche Oktroyierung und durch Gewalt entstanden.157 Ein wesentlicher Aspekt von Webers Anstaltsverständnis ist darüber hinaus bereits bei Hegel zu erkennen, welcher der Idee vom „Staat als Vertrag“ entgegenhält, es liege „nicht in der Willkür der Individuen, sich vom Staate zu trennen“.158 Aber in welcher Tradition steht Weber hinsichtlich seiner Definition des Staates als Anstalt? Er bemerkt zwar an einer Stelle seiner Rechtssoziologie, der Anstaltsbegriff stamme aus dem spätrömischen Kirchenrecht und sei „erst von der modernen Theorie“ entwickelt worden,159 aber das läßt die Frage nach dessen staatstheoretischer Dimension völlig offen. Dabei ist die Sicht des Staates als Anstalt in der deutschen Staatslehre des 19. Jahrhunderts bereits etabliert. So definiert schon Johann Gottlieb Fichte den absoluten Staat als „Anstalt“ und bindet daran die beiden Momente des Zwangs und der Unfreiwilligkeit: Kriterien, die später auch für Webers Anstaltsstaatsverständnis ausschlaggebend werden. Da die Individuen nach Fichte unfreiwillig im Staat leben, verstehe es sich von selbst, „daß diese Anstalt eine Zwangsanstalt“ sei.160 Während Fichte das Zwangsmoment in den Vordergrund stellt, akzentuiert Friedrich Julius Stahl, der die Lehre vom Staat als Anstalt programmatisch vertritt, den Aspekt des Unpersönlichen und schließt aus der Tatsache, daß der Staat eine „Anstalt“ sei, es handele sich bei ihm um keine „unmittelbar persönliche oder private Herrschaft“.161 Für Treitschke, der den Staat „als eine Anstalt zum Schutze der Ordnung“ sieht,162 und für Constantin Frantz, der den Staat in

——————— 157 David Hume, Über den ursprünglichen Vertrag, in: ders., Politische und ökonomische Essays, hg. v. Udo Bermbach, Hamburg 1988, S. 301-324 (304 u. 306f.). Zu Humes Antikontraktualismus siehe die instruktiven Hinweise von Udo Bermbach, Einleitung, ebd., S. VIIXLV (XVIf.). 158 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Stuttgart 1970, S. 170f. (§ 75, Zusatz). 159 Weber, Recht. MWG I/22-3, S. 397 (WuG 429). – Zur kirchenrechtlichen Dimension vgl. Anter, Charisma und Anstaltsordnung, S. 40ff. Zu Webers Anstaltsbegriff allgemein siehe Siegfried Hermes, Der Staat als „Anstalt“. Max Webers soziologische Begriffsbildung im Kontext der Rechts- und Staatswissenschaften, in: Klaus Lichtblau (Hg.), Max Webers ‚Grundbegriffe’, Wiesbaden 2006, S. 184-216; ders., Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft. Max Webers verstehende historische Soziologie am Beispiel des Patrimonialismus, Berlin 2003, S. 83ff. 160 Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806), Hamburg 1978, S. 150. 161 Friedrich Julius Stahl, Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung. Zweite Abtheilung. Die Lehre vom Staate und die Principien des deutschen Staatsrechts, Heidelberg 1846, S. 109f. „Der Fürst hat die Gewalt nicht als in seiner Person, sondern als im Wesen der Anstalt entsprungen, daher auch nicht nach seinem Privatwillen und zu seinem Privatzweck, sondern begränzt und bestimmt durch den Zweck und nach dem Gesetze der Anstalt.“ (ebd., S. 110) 162 Heinrich von Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft, Leipzig 1859, S. 10.

4. Der Staat als Anstalt

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gleicher Weise als Anstalt begreift,163 ist diese Lehre bereits herrschende Meinung. Aber über einen präzisen Anstaltsbegriff verfügt weder die Staatslehre des 19. Jahrhunderts noch die zur Zeit Max Webers. So beklagt Georg Jellinek eine vollkommen „unterentwickelte Lehre vom Staate als Anstalt“; für ihn gehört der „Anstaltsbegriff zu den verworrensten der ganzen Jurisprudenz“.164 Max Weber hat sich offenbar diese Klage zu Herzen genommen. Er hat den Anstaltsbegriff, ein Desiderat der Staatslehre seiner Zeit, in den Soziologischen Grundbegriffen präzise definiert und damit eine begrifflich-theoretische Grundlage für die Dechiffrierung des Staates als Anstalt geliefert. Die theoriegeschichtliche Bedeutung dieser Leistung kann erst vor dem Hintergrund der verworrenen Lage bewertet werden. Wie hoch man diese Leistung schon in den zwanziger Jahren bewertete, zeigt das Lob Otto Hintzes, „scharfe Köpfe“ hätten die „nüchterne juristische Kategorie“ der Anstalt geprägt, die erst durch die Leistung „eines Meisters wie Max Weber“ zur begrifflichen Klarheit gebracht worden sei.165 Wenn Hintze allerdings meint, erst seit Weber sei „kein Grund mehr vorhanden, den nackten Tatbestand ideologisch zu verhüllen, daß der Staat bei uns im Grunde nichts anderes ist als ein mit Zwangsgewalt ausgerüsteter Anstaltsbetrieb“,166 dann übersieht er, daß dieser „Tatbestand“ bereits seit über hundert Jahren in der deutschen Staatslehre enthüllt war. Max Weber ist keineswegs der große Entzauberer und Erleuchter, als der er hier erscheint. Er gewinnt sogar fast messianische Züge, wenn Hintze „keinen Anlaß“ mehr sieht, sich „das Licht der neuen Sachlichkeit trüben zu lassen, das über uns hereingebrochen ist“ und den Staat als „Anstaltsbetrieb“ entzaubert habe.167 Dieses „Licht der neuen Sachlichkeit“ wurde rasch wieder verdunkelt, da die Anstaltskategorie danach ein halbes Jahrhundert lang in der Staatslehre keine Rolle mehr spielte.168 Erst Wilhelm Hennis hat ihre Bedeutung wieder ins Bewußtsein gerufen, wenn er Webers Interpretation des modernen Staates als Anstalt respektvoll als „eine der scharfsinnigsten und frühesten Dechiffrierungen

——————— 163

Frantz, Die Naturlehre des Staates, S. 54. Jellinek, Allgemeine Staatslehre S. 165. Eine Ausnahme sieht er nur bei Gierke, der mit seinen „aufklärenden“ Untersuchungen etwas Klarheit geschaffen habe (ebd.). Stefan Breuer sieht Webers Anstaltsverständnis durch Gierke beeinflußt (Breuer, Max Webers Staatssoziologie, S. 202f.). Zum Anstaltsbegriff allgemein Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, Frankfurt a. M. 1997, bes. S. 342ff. 165 Otto Hintze, Der Staat als Betrieb und die Verfassungsreform (1927), in: ders., Soziologie und Geschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 3. Aufl. Göttingen 1982, S. 205-209 (206). 166 Ebd. 167 Ebd., S. 207. 168 Eine Ausnahme bildet die – nationalsozialistisch geprägte – Studie von Heinrich Muth, Der Staat als Anstalt. Eine Untersuchung zur deutschen Behörden- und Beamtengeschichte, in: Reich · Volksordnung · Lebensraum 3 (1942), S. 142-291; und Bd. 4 (1943), S. 201-241. 164

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

des inneren Entwicklungsgesetzes des modernen Staates“ bezeichnet.169 Seine Empfehlung, bei der Erfassung des Charakters des modernen Staates als Anstalt von Weber auszugehen,170 beginnt die Staatslehre inzwischen zu beherzigen. Hennis stellt mit Recht fest, in Webers Anstaltskonzeption spiegele sich ein „Kapitel spezifisch deutscher Staatsanschauung“. Seine These indes, ihr habe „Preußen-Deutschland Modell“ gestanden,171 wird der Konzeption jedoch nicht gerecht, da sie idealtypischen Charakters ist. Sie bildet keineswegs bloß den wilhelminischen Staat ab, sondern ist Teil der idealtypischen Erfassung des modernen Staates.

5. Das Kriterium des Politischen Das Definitionselement des Politischen dient in Webers Staatsbegriff primär dazu, den Staat von hierokratischen Anstaltsbetrieben abzugrenzen. Es weist aber zugleich weit über diese Funktion hinaus und wirft nicht nur die Frage nach seinem Begriff des Politischen auf, sondern auch die nach dem Verhältnis von Staat und Politik. Letztere ist um so zwingender, als Webers Definition von Politik ihrerseits auf den Staat bezogen ist, wenn er sie als „die Leitung oder die Beeinflussung der Leitung ... eines Staates“, ja als „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates“ definiert.172 Wir geraten hier ganz offensichtlich in einen Zirkel: Wenn wir den Begriff des Staates betrachten, stoßen wir auf das Kriterium des Politischen, und wenn wir nach dem Begriff des Politischen fragen, werden wir wieder auf den Staat verwiesen. Dieser Zirkel unterstreicht die Interdependenz beider Begriffe, die so eng aufeinander bezogen sind, daß sie sich gegenseitig definieren. Webers Verständnis des Politischen entspricht weitgehend dem seiner Zeit und fast wörtlich dem Albert Schäffles, der den Begriff des Politischen „auf den Kreis der staatlichen Erscheinungen, auf das Handeln am Staat und durch den Staat einschränken“ will.173 Jellinek radikalisiert diese Interdependenz noch, indem er beide

——————— 169 Hennis, Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1976), in: ders., Politikwissenschaft und politisches Denken, Tübingen 2000, S. 250-289 (262). Hier kündigt sich bereits seine Wende in der Bewertung Max Webers an. 170 Hennis, Vom gewaltenteilenden Rechtsstaat zum teleokratischen Programmstaat (1977), in: ders., Politik und praktische Philosophie, S. 243-274 (263). 171 Hennis, Legitimität, S. 262. 172 Weber, Politik als Beruf, S. 159 (PS 505f.). 173 Albert Schäffle, Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 53 (1897), S. 580. Schon Gustav Rümelin definierte die Politik als

5. Das Kriterium des Politischen

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Begriffe vollends identifiziert: „‚Politisch‘ heißt ‚staatlich‘; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Staates gedacht.“174 Eine solche Gleichung wird man bei Max Weber zwar vergeblich suchen, aber seine Definitionen des Staates und des Politischen sind zweifellos eng an Jellinek und Schäffle angelehnt, denen er darüber hinaus in der Prioritätsverteilung zwischen beiden Begriffen folgt. Schäffle formuliert die Rangordnung am klarsten, wenn er sagt, bevor man bestimmen könne, was „Politik sei, muss man wissen, was der Staat ist“.175 Eben dieses Verständnis zeigt sich bei Weber allein schon darin, daß er dort, wo er Politik definiert, zuvor eine Bestimmung des Staates vornimmt.176 Dieses Verfahren ändert aber nichts daran, daß beide Begriffe stets nur aufeinander verweisen, ein Umstand, der weder von Jellinek noch von Weber auch nur andeutungsweise thematisiert wird. Es ist Carl Schmitt, der diesen Zirkel als erster erkennt und die begriffssoziologische Lage seiner Zeit auf den Punkt bringt: Der Staat erscheine „als etwas Politisches“, das Politische wiederum „als etwas Staatliches“ – in der Tat „ein unbefriedigender Zirkel“.177 Vor eben diesem Hintergrund kann man die berühmte Ouvertüre seines staatstheoretischen Paradestücks178 nur als Antithese zu Jellinek und Weber verstehen, da erst mit ihr die Bahn frei wird für Schmitts Begriff des Politischen, der nicht mehr auf den Staat gestützt ist und „die Gleichung Staatlich = Politisch“179 zu überwinden versucht. Ob dieser Versuch einer Entstaatlichung des Begriffs allerdings erfolgreich war, ist zu bezweifeln, da erstens seine taciteische Formel der „Unterscheidung von Freund und Feind“180 kein überzeugendes Kriterium des Politischen ist und zweitens das Politische ohne einen Bezug auf den Staat nicht erfaßt werden kann. Daß beide Begriffe nicht isoliert voneinander gesehen werden können, sondern vielmehr untrennbar miteinander verknüpft sind, wird mit Recht von Hermann Heller, Ulrich Scheuner und Niklas Luhmann, also denkbar unterschiedlichen Autoren,

——————— „die freie Leitung des Staatsganzen“ (Rümelin, Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral (1874), in: ders., Reden und Aufsätze, Freiburg/Tübingen 1875, S. 144). 174 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 180. 175 Schäffle, Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik, S. 586. 176 Weber, WuG, S. 29; ders., Politik als Beruf, MWG I/17, S. 158 (PS 506). 177 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 21. 178 „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“ (ebd., S. 20) 179 Ebd., S. 24. 180 Ebd., S. 26. Sie ist fast wörtlich bei dem spanischen Gelehrten Baltasar Álamos de Barrientos entlehnt: „lo politico es la distinción entre amigo e enemigo“ (Tácito español ilustrado con aforismos, Madrid 1614, mitgeteilt bei Günter Maschke, Der Tod des Carl Schmitt. Apologie und Polemik, Wien 1987, S. 80). – Zu literarischen Aspekten des Feind-Motivs siehe auch Andreas Anter, Das Lachen Carl Schmitts. Philologisch-ästhetische Aspekte seiner Schriften, in: Literaturmagazin 33 (1994), S. 158f.

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

betont.181 Max Webers Verknüpfung der beiden Begriffe ist daher kaum als überwunden zu bezeichnen, sondern repräsentiert vielmehr nach wie vor die herrschende Meinung. Man muß seine Position mit der exakten Umkehrung der Formel Carl Schmitts Formel beschreiben: Der Begriff des Politischen setzt den Begriff des Staates voraus. Weber vertritt allerdings nicht nur einen Begriff des Politischen, sondern im Grunde genommen drei. Einerseits versteht er unter Politik mal die Leitung eines Staates,182 mal die Beeinflussung der Machtverteilung im Staat,183 andererseits sind seine politischen Schriften leitmotivisch von der ebenso pointierten wie schlichten Formel durchzogen, daß Politik immer „Kampf“ bedeute.184 Zwischen diesen Momenten besteht zwar eine semantische Verwandtschaft, aber sie sind keineswegs identisch, und diese begriffliche Inkonsistenz ist bei einem so leidenschaftlichen Nominalisten überraschend. Sie läßt nur den Schluß zu, daß er sich für einen analytischen Begriff des Politischen nicht sonderlich interessiert hat. Bezeichnenderweise stützt er sich, anders als bei allen anderen Definitionen, auf den „Sprachgebrauch“, wenn er feststellt, politische Fragen seien Machtfragen und Politik zu treiben heiße nach Macht zu streben.185 Auch in diesem Punkt besteht eine Affinität zu Jellinek, der Politik als „Streben nach Machterwerb und Machtbehauptung“ im Staat und durch den Staat definiert.186 Sowohl der Rekurs auf den Sprachgebrauch als auch die begrifflichen Inkonsistenzen sind Ausdruck einer Verlegenheit gegenüber einer wissenschaftlichen Bestimmung des Politischen, einer Verlegenheit, die nicht nur bei Max Weber,

——————— 181 Heller meint, nur durch die Beziehung des Politischen auf den Staat könne „ein klarer Grundbegriff gefaßt werden“ (Heller, Staatslehre, S. 204). Scheuner will beide Begriffe „unlöslich aufeinander bezogen wissen“ und meint, das Politische müsse vom Staat her bestimmt werden (Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre, in: Konrad Hesse u. a. (Hg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung. Festgabe für Rudolf Smend, Tübingen 1962, S. 226 u. 253). Luhmann sieht zwar „die Begriffe Staat und Politik in einer Gemengelage, die schwer zu entwirren ist“, aber er erkennt in diesem Gewirr zumindest soviel, daß das Politische „einen Bezug auf den Staat angenommen“ habe (Luhmann, Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische Theoriengeschichte, Opladen 1984, S. 102). 182 Weber, Politik als Beruf, S. 157 (PS 505). 183 Ebd., S. 159 (PS 506). 184 „Politik ist: Kampf“ (PS 329); „das Wesen aller Politik ist, wie noch oft zu betonen sein wird: Kampf“ (PS 347); „Politik zu treiben“ heiße „immer: Kampf“ (PS 351). – Auf diese Auffassung läuft letztlich auch Carl Schmitts Begriff des Politischen hinaus: Da zum Begriff des Feindes der Kampf gehöre, und die „reale Möglichkeit des Kampfes ... immer vorhanden sein muß, damit von Politik gesprochen werden kann“ (Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 32f.), steht hinter seiner Freund-Feind-These nichts anderes als die Webersche Sicht der Politik als Kampf. 185 Weber, Politik als Beruf, S. 159 (PS 506). 186 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 17.

5. Das Kriterium des Politischen

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sondern auch bei seinen Zeitgenossen zu beobachten ist. So resümiert Albert Schäffle die Klage vieler denkender „Männer der Praxis“, „dass sie die Frage sozialwissenschaftlich nicht beantwortet finden und dass man auch in staatswissenschaftlichen Werken nach einer scharfen Begriffsbestimmung und Auseinandersetzung des Wesens der Politik fast vergeblich suche und Uebereinstimmung darüber nirgends anzutreffen sei“. Das liegt seiner Meinung nach daran, daß „nicht bloss im gemeinen Sprachgebrauch, sondern auch in der Wissenschaft die Politik ein höchst schwankender Begriff ist, ein vielgestaltiger Proteus, welcher jedes Versuches einer festen Anpassung zu spotten scheint, ein gummiartiges Ding, welches sich beliebig dehnen und zusammenziehen lässt“.187 Was er hier metaphernreich beschreibt, erfaßt den Diskussionsstand der Zeit Max Webers und läßt darüber hinaus eine der Ursachen für die Unbestimmbarkeit des Politischen anklingen: Ein Konsens über das Wesen des Politischen läßt sich kaum herstellen, da die individuellen Erfahrungen des Politischen immer heterogen sind und das Politische in jeder historischen Situation neue Formen annimmt, neu begriffen und bestimmt werden muß. Darüber ist Max Weber sich als Wissenschaftler und auch als einer der Männer der Praxis im klaren. Daß er nicht eine zeitlos gültige Definition aufstellen will, geht daraus hervor, daß er sich auf „heute“ bezieht188 – die Lage von 1919. Nirgends behauptet er, eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Politik zu geben. Das ist von der Weber-Kritik stets übersehen worden. So betont Wilhelm Hennis zwar zu Recht die „historische Relativität“ der Identifikation von Politik und Macht, der „ganz offenkundig die Orientierung an der Weltpolitik im Zeitalter des Imperialismus“ zugrunde liege,189 dieses Argument aber kritisch gegen Weber zu wenden, hieße offene Türen einzurennen, da Weber selbst ausdrücklich die Zeitbezogenheit herausstellt. Trotz dieser Zeitbezogenheit blieb Webers Auffassung über ein halbes Jahrhundert eine der einflußreichsten und verbreitetsten Anschauungen des Politischen, und das hatte unmittelbare Folgen für das Selbstverständnis der Politikwissenschaft, die, würde man der Identifizierung von Politik und Macht folgen, eine Machtwissenschaft wäre. Genau dieses Verständnis wurde sowohl in der angloamerikanischen190 als auch in der deutschen191 Politikwissenschaft so do-

——————— 187

Schäffle, Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik, S. 579. Weber, Politik als Beruf, S. 157 (PS 505). 189 Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 10. 190 Harold D. Lasswell und Abraham Kaplan begreifen die Politikwissenschaft als „the study of shaping and sharing of power“ (Lasswell/Kaplan, Power and Society: A Framework for Political Inquiry, London/New Haven 1951, S. XIV). Für Hans J. Morgenthau ist Politik „a struggle for power“ und Macht daher der zentrale Gegenstand der Politischen Wissenschaft (Morgenthau, Politics Among Nations: The Struggle for Power and Peace, New York 1961, S. 27). Vgl. zu Morgenthau William E. Scheuerman, Morgenthau: Realism and Beyond, Cam188

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

minant, daß in den sechziger Jahren als „herrschende Meinung“ gelten konnte, „daß politische Wissenschaft sich mit den Fragen des Erwerbs, der Verteilung, des Gebrauchs und der Kontrolle von Macht befasse“, daß politische Phänomene „Machtphänomene“ seien und Macht „das Spezifikum des Politischen“ sei.192 Für diese ihm verhaßte herrschende Meinung machte Sontheimer Max Weber mitverantwortlich – nicht ganz zu Unrecht, da es gerade die Autorität Webers ist, die, wie Hennis verärgert feststellte, „dieser Auffassung einen fast klassischen Rang“ gibt.193 So kommt es nicht von ungefähr, daß Webers Begriff des Politischen in den sechziger Jahren zu einem Dauerbrenner in der Debatte um das Selbstverständnis der deutschen Politikwissenschaft wurde. Vor allem für die Vertreter der philosophisch-normativen Richtung gehörte die Verabscheuung einer machtfixierten Politikwissenschaft zur Pflicht – und die Feinderklärung an Max Weber zur Kür.194 Die vehemente und polemische Kritik an

——————— bridge 2009; Christian Hacke u. a. (Hg.), The Heritage, Challenge, and Future of Realism, Göttingen 2005. 191 Ossip K. Flechtheim definiert die Politische Wissenschaft als Disziplin, die „den Staat unter seinem Machtaspekt“ untersucht (Flechtheim, Grundlegung der politischen Wissenschaft, Meisenheim 1958, S. 70). Vor allem Vertreter der Realistischen Schule erhoben die Macht zum fundamentalen Begriff der Politikwissenschaft. Dazu Gottfried-Karl Kindermann, Philosophische Grundlagen und Methodik der Realistischen Schule von der Politik, in: Dieter Oberndörfer (Hg.), Wissenschaftliche Politik, 2. Aufl. Freiburg 1966, S. 251-296. 192 Kurt Sontheimer, Zum Begriff der Macht als Grundkategorie der politischen Wissenschaft, ebd., S. 198 u. 197. 193 Hennis, Politik und praktische Philosophie, S. 7. 194 Wilhelm Hennis forderte, es müsse „jener Entleerung unseres Faches Einhalt geboten werden“, die durch die Gleichung Politik = Macht entstünde (Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre, S. 154). Arnold Bergstraesser, Mentor der Freiburger Schule, lehnte eine am Machtaspekt orientierte Politikwissenschaft entschieden ab (Bergstraesser, Politik in Wissenschaft und Bildung, Freiburg 1961, bes. S. 63ff.). Sein Schüler Manfred Hättich bemühte sich um einen – gegen Weber gerichteten und auf Bergstraesser gestützten – „offenen politik-soziologischen Begriff des Politischen“, der allerdings ziemlich diffus bleibt (Hättich, Der Begriff des Politischen bei Max Weber, in: PVS 8 (1967), S. 49). Bergstraesser-Schüler Kurt Sontheimer meinte, eine Politikwissenschaft, „die sich als Wissenschaft von der Macht versteht“, verfehle das Politische (Sontheimer, Zum Begriff der Macht, S. 208). Sein gegen Weber gerichtetes Argument, Macht könne „schon darum nicht zur Grundkategorie für das Verständnis des Politischen gemacht werden, weil alle menschlichen Gruppen und Organisationen Machtbeziehungen entwickeln“ und eine Gangsterbande ja „ebensogut Machtbeziehungen wie der moderne Staat“ enthalte (S. 202), geht vollkommen an Weber vorbei, da dieser ja nicht von der Macht irgendwelcher „Gruppen“, geschweige denn der einer „Gangsterbande“ redet, sondern ausschließlich von staatlicher Macht. Sontheimers Mißverständnis ist symptomatischer Ausdruck eines Verfahrens, Webers Positionen zu widerlegen, ohne sie überhaupt genau zu kennen. Nur so läßt sich die theoriegeschichtlich bemerkenswerte (Nicht)Rezeption Webers in der Nachkriegszeit erklären, die sich als eine Kette unendlicher Mißverständnisse darstellt. Gerade die Autoren der philosophisch-normativen Richtung waren, wie Wolfgang Welz treffend urteilt, an einer Interpretation der Schriften Webers überhaupt nicht interessiert, sondern nahmen sie „immer nur selektiv“ wahr und rezipierten sie „bewußt einseitig“ (Hübinger/Osterhammel/Welz, Aufgaben einer modernen Regierungslehre, S. 189).

5. Das Kriterium des Politischen

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seinem Begriff des Politischen reißt allerdings Ende der sechziger Jahre ab, und nur noch sehr sporadisch finden sich in der Literatur kritische Anmerkungen wie die von Ulrich Matz, „daß Macht das Letzte ist, was man einer empirischen Wissenschaft als Bezugspunkt empfehlen möchte“.195 Für das Verschwinden der Kritik sehe ich drei Gründe: Erstens ist die Weber-Kritik der frühen sechziger Jahre ein Ausdruck der Suche nach dem Selbstverständnis der Politischen Wissenschaft, die, je nach Couleur, Demokratiewissenschaft oder Kritische Wissenschaft sein wollte und sich daher von Max Weber distanzieren zu müssen meinte; nach dem Abschluß dieser Phase und der Etablierung des Fachs war es offenbar nicht mehr notwendig, sich von Weber abzugrenzen. Zweitens bewirkte die einsetzende Weber-Renaissance, daß alte kritische Positionen geräumt und, wenn man so sagen kann, unmodern wurden. Drittens ist bei solchen großen Streitfragen wie denen nach dem Wesen des Politischen oder nach dem Zweck des Staates zu beobachten, daß sie einfach nicht mehr gestellt werden: Die professionalisierte Politikwissenschaft, so der „Forschungsstand“196 von 1987, habe sich pragmatisch dafür entschieden, „die Diskussion über die Definition von P[olitik] zu umgehen“, um damit den Tatsachen Rechnung zu tragen, „daß es keine eindeutige Begriffsdefinition“ gebe und Konsens lediglich darüber herrsche, daß Politik „ein komplexes Phänomen“ sei.197 Im Jahr 1987 befand man sich also immer noch auf dem Stand von 1897. Man hätte den Diskussionsstand mit den Worten Schäffles resümieren können, daß „die Frage sozialwissenschaftlich nicht beantwortet“ sei, man vergeblich nach „einer scharfen Begriffsbestimmung“ suche, „Uebereinstimmung darüber nirgends“ herrsche, Politik ein „schwankender Begriff“ und „vielgestaltiger Proteus“ sei. Dieser Proteus hat offenbar ein zähes Leben und verspottet nach wie vor jeden politikwissenschaftlichen Menelaos. Die Frage „Was ist Politik?“ gleicht der Pilatusfrage, und man steht ihr mit achselzuckender Ratlosigkeit gegenüber. Eine entscheidende Ursache für die ausweglos scheinenden Schwierigkeiten ist darin zu sehen, daß das „Beziehungsfeld des Politischen“198 sich fortwährend ändert und daher jede neue Zeit einen neuen Begriff des Politischen benötigt – so wie jede neue Zeit einer „neuen politischen Wissenschaft“ bedarf.199 Heute wird man Politik zwangsläufig anders als Max Weber bestimmen müssen, jedenfalls nicht mehr als Machtstre-

——————— 195 Ulrich Matz, Über die Unbestimmbarkeit von Macht, in: Hans Maier u. a. (Hg.), Politik, Philosophie, Praxis. FS für Wilhelm Hennis zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1988, S. 248. 196 Ulrich Druwe, Art. Politik, in: Handbuch Politikwissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 396. 197 Ebd., S. 395 u. 393. 198 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 9. 199 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 9.

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I. Die Aspekte des Staatsbegriffs

ben erklären können, da sich erstens das Beziehungsfeld des Politischen verschoben hat und zweitens Politik ein komplexer Prozeß von Strukturen und Handlungen ist, die nicht auf den Nenner des Machtstrebens gebracht werden können. Es kann aber ebenso wenig ein Zweifel darüber bestehen, daß Politik – daran hat sich seit Max Weber nichts geändert – sehr viel mit Macht zu tun hat, wie allein die uferlose Literatur zu Machtfragen von politischen Systemen, internationalen Beziehungen und politischen Theorien zeigt. Man wird Webers Definition also heute nicht mehr unbesehen übernehmen können, aber notwendig an sie anknüpfen müssen. Das gilt nicht nur für den Aspekt der Macht, sondern auch für den Bezug auf den Staat, ohne den das Politische nicht gedacht und bestimmt werden kann. Der Versuch einer staatsfreien oder entstaatlichten Definition führt entweder in die Aporien schillernder Formeln wie der Carl Schmitts, die vorgibt einen poststaatlichen Begriff zu entwickeln, oder zu dem sogenannten „Forschungsstand“, die Frage für unbeantwortbar zu erklären und einfach zu umgehen. Es ist sicher kein Zufall, daß dieser Stand der Dinge exakt mit gleichlautenden Ansichten über den Begriff des Staates übereinstimmt, den man als „ungeklärt“ zu den Akten legt, da Diskussionen über ihn angeblich sinnlos seien.200 Wenn in dem Moment, wo man sich vom Begriff des Staates verabschiedet, auch die Frage nach dem Begriff des Politischen für obsolet erklärt wird, erweist sich erneut und diesmal ex negativo, daß der Begriff des Politischen den Begriff des Staates voraussetzt. Bisher ist es der Politikwissenschaft jedenfalls noch nicht gelungen, das Verhältnis von Staat und Politik befriedigend zu klären. Jede Bemühung um einen Begriff des Politischen bleibt mit der Aufgabe verbunden, sich zugleich dem Begriff des Staates zuzuwenden. Dabei wird man an Max Weber nicht vorbeigehen können.

——————— 200

Luhmann, Soziale Systeme, S. 626f.

In Arkadien wurd’ auch ich geboren. Auch ich habe mal auf Freiheit geschworen ... Aber zum Schlimmen Führt der Masse sich selbst Bestimmen, Und das Klügste, das Beste, Bequemste, Das auch freien Seelen weitaus Genehmste Heißt doch schließlich, ich hab’s nicht Hehl: Festes Gesetz und fester Befehl. Theodor Fontane, Fester Befehl

II. Staat und Herrschaft Max Weber wurde nicht in Arkadien geboren. Fast alle Zusammenhänge, in denen er sich mit dem Staat auseinandersetzt, werden leitmotivisch von dem Gesichtspunkt durchzogen, daß der Staat in erster Linie ein „Herrschaftsverhältnis“ sei.1 Ein solches zeichnet sich durch eine Struktur von Befehl und Gehorsam aus und kann nur Bestand haben, wenn sich die Beherrschten der Herrschaft fügen. Weber reduziert zwar nirgends den Staat auf den Herrschaftscharakter, betont aber oft genug, man könne den Staat nicht ohne diesen Aspekt begreifen. Das gilt nicht nur für den Staat, sondern auch für jede soziale Beziehung, jedes soziale Gebilde und für jedes soziale Handeln. Nach Webers Verständnis sind „alle Gebiete des Gemeinschaftshandelns“ durch Herrschaft geprägt,2 die demnach ein universelles Element menschlichen Daseins ist und zu den elementaren Bedingungen der Verfestigung sozialer Beziehungen gehört. Sie läßt „aus einem amorphen Gemeinschaftshandeln erst eine rationale Vergesellschaftung erstehen“.3 Herrschaft, das zentrale „Phänomen alles Sozialen“,4 ist ein grundlegender Begriff Max Webers. Seine Herrschaftssoziologie, in der man seine „Politologie“ gesehen hat,5 ist ein Kernstück seines Werks.6 Seine Fragestellung gilt der

——————— 1

Weber, Politik als Beruf, in: MWG I/17, S. 160 (PS 507). Weber, Herrschaft. MWG I/22-4, S. 127 (WuG 541). 3 Ebd. 4 Weber, Gemeinschaften. MWG I/22-1, S. 270 (WuG 539). 5 Dolf Sternberger, Das Wort „Politik“ und der Begriff des Politischen, in: PVS 24 (1983), S. 6-14 (7f.). 6 Dazu grundlegend Stefan Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, Wiesbaden 2011. – In der ersten Auflage des Buchs hatte er die Herrschaftssoziologie noch als ein „Stiefkind Webers“ bezeichnet, ein „halbfertiges Gebäude“, dessen Statik „zu berechtigten Befürchtungen“ Anlaß gebe (ders., Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt/New York 1991, S. 31). Er hat dieses Urteil in der Neufassung des Buchs im Jahr 2011 zum Glück revidiert (S. VIII). – Zu Webers Herrschaftssoziologie vgl. ferner Gianfranco Poggi, Incontro con 2

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Entstehung, den Funktionsweisen, den Strukturformen und der Legitimität von Herrschaft, eine Fragestellung, die zu den klassischen des neuzeitlichen politischen Denkens gehört.7 Dabei entspricht Max Webers Verständnis weitgehend dem Georg Simmels, der die „Tatsache der Herrschaft“8 als konstante soziale Erscheinung wertet: Jede Befreiung von Herrschaft erweise „sich fast immer zugleich als der Gewinn irgendeiner Herrschaft“,9 da „ein immer gleicher soziologischer Kern“ stets aufs neue zu einer Gruppierung nach „Befehlenden und Gehorchenden“ führe.10 Diese Struktur sei auch für den modernen Staat ausschlaggebend.11 Wie für Georg Simmel, so ist auch für Max Weber Herrschaftsfreiheit nicht in Sicht, weder im Blick zurück noch im Blick nach vorn. Wenn Max Weber den Staat als Herrschaftsverhältnis begreift und Herrschaft wiederum als die Chance versteht, „für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“,12 dann zeichnet sich der Staat durch eine Struktur von Befehl und Gehorsam aus. Und da Weber Herrschaft gelegentlich mit „Autorität“ umstandslos gleichsetzt,13 ja mit „autoritärer Befehlsgewalt“ schlechthin identifiziert,14 ist der Staat für ihn nicht nur ein Herrschafts-, sondern auch ein Autoritätsverhältnis. Darin besteht eine deutliche Affinität zu der Position Robert Pilotys, der Autorität als Chance begreift, Gehorsam für einen Herrscherbefehl zu finden, und die „Vollziehung der Herrscherbefehle“ als essentielles „Merkmal der Staatsgewalt“ definiert.15 Daß der

——————— Max Weber, Bologna 2004, S. 105ff.; Furio Ferraresi, Il fantasma della comunità. Concetti politici e scienza sociale in Max Weber, Milano 2003, S. 377ff.; Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 2001; Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 220ff. 7 Besonders klar kommt sie am Anfang von Rousseaus Contrat Social zum Ausdruck. Weber ist jedoch weit vom Erstaunen eines David Hume entfernt, dem nichts überraschender scheint als die Leichtigkeit, mit der die Vielen von den Wenigen regiert werden und die bedingungslose Unterwerfung, mit der die Menschen ihre eigenen Ansichten und Leidenschaften denen ihrer Herrscher unterordnen: „Nothing appears more surprizing to those, who consider human affairs with a philosophical eye, than the easiness with which the many are governed by the few; and the implicit submission, with which men resign their own sentiments and passions to those of their rulers.“ (David Hume, Of the First Principles of Government, in: ders., Essays Moral, Political, and Literary, hg. v. Thomas H. Green/Thomas H. Grose, Bd. I, London 1882, S. 109f.) 8 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Frankfurt a. M.1992, S. 270. 9 Ebd., S. 252. 10 Ebd., S. 245f. 11 Ebd., S. 246. 12 Weber, WuG, S. 28. 13 Ebd., S. 122. 14 Weber, Herrschaft, S. 135 (WuG 544). 15 Robert Piloty, Autorität und Staatsgewalt, in: Jb. der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswiss. und Volkswirtschaftslehre 6/7 (1904), S. 551-576 (552f.).

II. Staat und Herrschaft

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Begriff der Autorität bei Weber nicht definiert wird und nur vage auf Befehl und Gehorsam zurückverweist, ist Ausdruck der geistesgeschichtlichen Lage. Die alte Frage ‚Was ist Autorität?‘ bleibt in der gesamten Literatur seiner Zeit unbeantwortet. Das gilt sowohl für Autoritätsverächter wie Michail Bakunin16 als auch für Autoritätsapologeten wie Ludwig Stein.17 Die Auffassung des Staates als Herrschaftsverhältnis von Befehl und Gehorsam ist das Paradigma des Staatsdenkens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Für Nietzsche ist der Staat „ein Herrschafts-Gebilde“, eine Institution, die „befehlen kann“,18 nach Constantin Frantz macht erst Herrschaft „den Staat zum Staate“,19 und Carl Friedrich von Gerber versteht unter der Staatsgewalt die „Macht zu herrschen“ und „Herrschen“ daher „als einen specifisch dem Staatsrechte angehörenden Begriff“.20 Mit dieser programmatischen Formulierung wird der Doyen der rechtspositivistischen Staatsrechtslehre zum Begründer der Lehre vom Herrschen als dem primären Merkmal der Staatsgewalt.21 Diese Lehre wird von Paul Laband, dem einflußreichsten Staatsrechtslehrer des Wilhelminismus, bekräftigt und präzisiert: Er definiert „Herrschen“ als das Recht, Handlungen „zu befehlen“ und reserviert dieses Recht dem Staat, da „dies sein specifisches Vorrecht“ sei, „das er mit Niemandem theilt“.22 Über alle Fächergrenzen hinweg teilten die denkbar verschiedensten Autoren diese Herrschaftsfixierung, und nur eine kleine Minderheit stellte sich gegen die herrschende Meinung.23

——————— 16 Michail Bakunin verabscheute als Anarchist die Autorität „aus vollem Herzen“, wußte aber auf die entscheidende Frage „Was ist die Autorität?“ keine Antwort (Bakunin, Gott und der Staat (1871), in: ders., Philosophie der Tat. Auswahl aus seinem Werk, hg. v. Rainer Beer, Köln 1968, S. 125). 17 Ludwig Stein kommt in seiner Abhandlung über Autorität nicht über die Gemeinplätze hinaus, Autorität sei der positive „Pol aller Gesellschaftsgebilde“, „die Seele der Disciplin“, „die unerläßliche Voraussetzung aller Kultur“ sei. Stein, Autorität. Ihr Ursprung, ihre Begründung und ihre Grenzen, in: SchmJb 26 (1902), S. 899-928 (899, 909 u. 911). 18 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, 9. Aufl. München 1982, Bd. II, S. 761-900 (827). 19 Constantin Frantz, Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft, Leipzig 1870, S. 168. 20 Carl Friedrich von Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 2. Aufl. Leipzig 1869, S. 3. 21 Daß von Gerber hier tatsächlich eine neue Tradition begründete, ist seit Georg Jellinek unstrittig. Vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900), 3. Aufl. Darmstadt 1960, S. 429. In der neueren Literatur siehe Olivier Jouanjan, Die Belle époche des Verwaltungsrechts, in: Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. IV, Heidelberg 2011, S. 425-458 (430); Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 335f. 22 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches I, 2. Aufl. Freiburg 1888, S. 64f. 23 Vgl. Otto von Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien (1874), Tübingen 1915, S. 119f.; Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, S. 174ff.

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II. Staat und Herrschaft

Wie Gerber und Laband, die beiden führenden Protagonisten des staatsrechtlichen Positivismus, sieht auch Max Weber das Herrschen als essentielles Kriterium des Staates. Er unterscheidet sich aber grundsätzlich von ihrer Dogmatik eines Herrschaftsmonopols des Staates, ist Herrschaft für ihn doch ein „Phänomen alles Sozialen“ und nicht auf den Staat beschränkt. Daher ist die Meinung, Webers Herrschaftsbegriff sei „auf den Staat zugeschnitten“, ebenso unhaltbar wie die These, der „Ursprung“ von Webers Herrschaftsbegriff liege im staatsrechtlichen Positivismus und entspreche dem Paul Labands.24 Weber vollzieht vielmehr eine Abkehr von der rechtspositivistischen Reservierung der Herrschaft für den Staat. Die geistesgeschichtliche Einordnung hat den Interpreten der staatstheoretischen Begriffe Webers von Anfang an Schwierigkeiten bereitet. So sieht bereits Otto Hintze zwar treffend das Herrschaftsmoment als „höchst charakteristisch“ und „grundlegend für seinen Staatsbegriff“, aber wenn er jenes als Reaktion „gegen die naturrechtlich-idealistische Staatsmetaphysik“ deutet und meint, mit „hartem, entschlossenem Realismus“ werde „hier der Schleier einer romantischgemütvollen Staatsideologie zerrissen“,25 baut er potemkinsche Dörfer auf. Hier gab es keinen Schleier mehr zu zerreißen, da der „Traum des Naturrechts“ längst „ausgeträumt“ war.26 Überdies war die romantisch-naturrechtlich-idealistische Staatsanschauung längst durch den Rechtspositivismus destruiert worden. Max Webers Position ist vielmehr ein Ausdruck der zeitgenössischen herrschaftsbezogenen Staatsauffassung, die er zugleich entscheidend modifiziert, wenn er dem Staat das Herrschaftsmonopol entwindet. In diesem Punkt unterscheidet er sich grundsätzlich auch von Georg Jellinek, der wie Gerber und Laband „Herrschen“ als Fähigkeit versteht, die „nur der Staat“ habe.27 Jellinek modifiziert allerdings selbst bereits die Gerber-Labandsche Dogmatik und schafft eine wichtige Ausgangsbasis für Max Weber, wenn er ausdrücklich verneint, daß „im Herrschen das Wesen des Staates sich erschöpft“,28 da es nicht nur herrschaftliche, sondern auch „soziale“ Staatsfunktionen gebe.29 Das Erscheinungsjahr seiner Allgemeinen Staatslehre, 1900, hat

——————— 24 Heino Speer, Herrschaft und Legitimität, Berlin 1978, S. 21 u. 40. – Dies mindert nicht den Wert seiner wichtigen und außerordentlich gehaltvollen Studie. 25 Otto Hintze, Max Webers Soziologie (1926), in: ders., Soziologie und Geschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 3. Aufl. Göttingen 1982, S. 135-147 (142). 26 So die schöne Formulierung von Bernhard Windscheid, Recht und Rechtswissenschaft. Greifswalder Universitäts-Festrede (1854), in: ders., Gesammelte Reden und Abhandlungen, hg. v. Paul Oertmann, Leipzig 1904, S. 9. 27 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 180. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 400. Dies ist der Kern seiner Zwei-Seiten-Lehre. – Dazu Oliver Lepsius, Die Zwei-Seiten-Lehre des Staates, in: Andreas Anter (Hg.), Die normative Kraft des Faktischen, Baden-Baden 2004, S. 63-88; Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre,

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nachgerade symbolischen Charakter. Hier ist der Wendepunkt anzusetzen von der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, die von Gerber und Laband beherrscht wird, zu der des 20. Jahrhunderts, die mit Max Weber denken muß. Die gleichwohl vorhandene Kontinuitätslinie besteht darin, daß Jellinek – wie Gerber/ Laband vor und Weber nach ihm – daran festhält, „daß ohne Herrschaftsverhältnisse ein Staat nicht gedacht werden kann“.30 Herrschen heißt für Jellinek „unbedingt befehlen“ zu können.31 Er kennt darüber hinaus noch einen zweiten Herrschaftsbegriff, der ohne Befehl und Gehorsam auskommt, nämlich die Fähigkeit, „seinen Willen gegen andern Willen unbedingt durchsetzen zu können“.32 Diese Definition finden wir fast wörtlich bei Max Weber wieder, allerdings unter dem Stichwort „Macht“, die er als die Chance versteht, „den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“.33 Hier nutzt Weber die Jellineksche Terminologie erneut als Steinbruch, indem er sie sich – wie beim Idealtypus – in Form einer Begriffsrochade aneignet und dabei zugleich präzisiert. Denn für ihn liegt ohne eine Struktur von Befehl und Gehorsam eben keine Herrschaft vor, sondern nur eine Form der Macht, und mit bloßer Macht ist nach seinem Verständnis sozusagen kein Staat zu machen. In der Entwicklung des deutschen Staatsdenkens nimmt Max Weber eine zentrale Position ein. Er befreit den Herrschaftsbegriff, der im 19. Jahrhundert von der Staatsrechtslehre als Monopol des Staates requiriert worden war, wieder aus dem Arcanum des Staates und führt ihn als allgemeine soziologische Kategorie ein. In der Staatslehre ist kein Versuch gemacht worden, diese Enteignung wieder rückgängig zu machen. Was man jedoch in der auf Weber fol-

——————— Tübingen 2000, S. 145ff.; Andreas Anter, Georg Jellineks wissenschaftliche Politik, in: PVS 39 (1998), S. 503-526 (515ff.). 30 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 180. 31 Ebd., S. 429. – Zur Beziehung Weber/Jellinek siehe Duncan Kelly, The State of the Political, 2. Aufl. Oxford 2008, S. 97ff.; Peter Ghosh, Max Weber and Georg Jellinek: two divergent conceptions of law, in: Saeculum 59 (2008), S. 299-347; Hans Joas, Max Weber and the Origin of Human Rights, in: Charles Camic u. a. (Hg.), Max Weber’s Economy and Society, Stanford 2005, S. 366-382; Realino Marra, La religione dei diritti. Durkheim – Jellinek – Weber, Torino 2006, S. 50ff.; Stefan Breuer, Von der sozialen Staatslehre zur Staatssoziologie: Georg Jellinek und Max Weber, in: Andreas Anter (Hg.), Die normative Kraft des Faktischen, S. 89-112; Jean Martin Ouédraogo, Georg Jellinek, Max Weber, le politique et la tâche de la sociologie des religions, in: ASSR 127 (2004), S. 105-137; Andreas Anter, Max Weber und Georg Jellinek, in: Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hg.) Georg Jellinek, Tübingen 2000, S. 67-86; Stefan Breuer, Georg Jellinek und Max Weber, Baden-Baden 1999; Gangolf Hübinger, Staatstheorie und Politik als Wissenschaft im Kaiserreich, in: Hans Maier u. a. (Hg.), Politik, Philosophie, Praxis. Festschrift für Wilhelm Hennis zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1988, S. 143-161 (148f., 157f., 160f.). 32 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 180. 33 Weber, WuG, S. 28.

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II. Staat und Herrschaft

genden Rechts- und Sozialwissenschaft beobachten kann, ist eine Infragestellung der Herrschaft selbst. So diagnostiziert Heinz O. Ziegler eine Erschütterung der alten „Idee der ‚Herrschaft‘“ und einen „kontinuierlichen Abbau des Prestiges aller herrschaftlichen Faktoren“.34 Hans Freyer stellt 1933 fest, Herrschaft sei „der besttabuierte Begriff des gegenwärtigen Denkens“.35 Für Niklas Luhmann ist Herrschaft schließlich nur noch „ein blasses, begrifflich unscharfes“ Konzept, das „fast nur noch als Feindbild“ diene.36 Vertraute man diesem Urteil, dann müßte man Webers herrschaftsbezogene Staatsauffassung ins Museum überholter Theorien stellen. Ein Blick auf den Diskussionsverlauf der letzten hundert Jahre zeigt jedoch, daß die Kategorie der Herrschaft bei der Beschreibung des Staates unvermindert präsent geblieben ist. Für Hermann Heller ist der Staat eine Herrschaftsordnung;37 für Wilhelm Hennis gehört zum Staat notwendig „Herrschaftsdurchsetzung“;38 Roman Herzog sieht Herrschaft als Charakteristikum des Staates;39 für Maurizio Bach ist ein Gebilde wie die Europäischen Union gar nicht ohne die Herrschaftskategorie zu erfassen.40 Stefan Breuer schließlich resümiert, es sei naiv, an ein Verschwinden der Herrschaft zu glauben.41 Herrschaft ist also nach wie vor eine elementare Kategorie der Staatslehre und der Sozialwissenschaften. Der Diskurs der Herrschaftsfreiheit blieb demgegenüber nur ein kurzlebiges Intermezzo. Herrschaftsfreiheit ist jedenfalls, nach Lage der Dinge, ebenso wenig in Sicht wie Freiheit vom Staat. Allerdings ist in der heutigen Literatur von Befehl und Gehorsam kaum noch die Rede; statt dessen steht um so klarer eine Kategorie im Vordergrund, die seit Weber unauflöslich mit Herrschaft verknüpft ist: Legitimität.

——————— 34 Heinz O. Ziegler, Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931, S. 277. 35 Hans Freyer, Herrschaft und Planung. Zwei Grundbegriffe der politischen Ethik, Hamburg 1933, S. 23. 36 Niklas Luhmann, Politische Steuerung: Ein Diskussionsbeitrag in: Hans-Hermann Hartwich (Hg.), Macht und Ohnmacht politischer Institutionen. 17. Wissenschaftlicher Kongreß der DVPW, Opladen 1989, S. 12-16 (12). 37 Hermann Heller, Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, Berlin/Leipzig 1927, S. 91. 38 Wilhelm Hennis, Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Politikwissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, S. 250-289 (254). 39 Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt a. M. 1971, S. 102. 40 Maurizio Bach, Europa als bürokratische Herrschaft. Verwaltungsstrukturen und bürokratische Politik in der Europäischen Union, in: Gunnar Folke Schuppert u. a. (Hg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 575-607. Vgl. Ulrich Beck/Edgar Grande, Empire Europa: Politische Herrschaft jenseits von Bundesstaat und Staatenbund, in: ZfP 52 (2005), S. 397-420. 41 Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, S. 240.

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1. Staat und Legitimität Im Unterschied zur rechtspositivistisch beherrschten Staatslehre seiner Zeit bleibt Max Weber nicht bei der Beschreibung des Staates als Herrschaftsverband stehen, sondern bringt eine Kategorie ins Spiel, ohne die das Verhältnis von Staat und Herrschaft nicht gedacht werden kann: Legitimität. Sie ist der archimedische Punkt seiner Herrschaftssoziologie. Keine Herrschaft kann nach seinem Verständnis dauerhaften Bestand haben, wenn sie nicht über eine Legitimitätsgrundlage verfügt. Ihre Geltung beruht auf der „Chance“, daß das Handeln der Beherrschten sich „an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientiert“.42 Der Begriff der Chance ist, wie bei der Deutung fast aller soziologischen Phänomene, auch hier vorgeschaltet: Herrschaft ist nur die Chance von Herrschaft; Geltung ist nur die Chance von Geltung; und die Legitimität darf „natürlich auch nur als Chance ... angesehen werden“.43 Herrschaft ohne Legitimität ist für Weber im Grunde keine Herrschaft, sondern nur eine Stufe bloßer Machtausübung, die wenig Aussicht auf dauerhaften Bestand hätte. So bedarf auch der Staat einer Legitimitätsgrundlage, die seiner Ordnung Geltung verschafft. Die Frage nach der Legitimität eines Staates ist aus Webers Perspektive die Frage, wann, wie und warum eine staatliche Herrschaftsordnung von den Beherrschten anerkannt und befolgt wird. Auf bloße Gewalt kann jedenfalls ihre Existenz nicht gegründet sein: Man kann mit Bajonetten alles machen, nur nicht darauf sitzen, wie Talleyrand gesagt haben soll,44 der als Erfinder des Wortes „Legitimität“ gilt.45 Er sah sie als „ein notwendiges Element“ und als „die einzige solide Bürgschaft“ der Stabilität des Staates.46 Auch Carl von Rotteck meinte, staatliche Herrschaft könne sich mit bloßer Gewalt nicht behaupten, sondern bedürfe vielmehr der Zustimmung, weshalb nur einer rechtmäßigen Regierung „das Prädicat ‚legitim‘“ zu erteilen sei.47 Max Weber ist also nicht der erste, der mit dieser Kategorie denkt und arbeitet. Aber er ist derjenige, der sie zu einer elementaren analytischen Kategorie der Erfassung des Wesens staatlicher Herrschaft gemacht und die entscheidenden Grundlagen für das heutige Verständnis von Legitimität geschaffen hat. Die

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Weber, WuG, S. 16. Weber, WuG, S. 123. Zum Begriff der Chance siehe unten Kap. III. 2. 44 „On peut tout faire avec des baïonnettes sauf s’asseoir dessus.“ Das Zitat wird auch Émile de Girardin zugeschrieben; vgl. Othon Guerlac, Les Citations françaises, Paris 1957, S. 325. – Für diesen Hinweis bin ich Dr. Rüdiger Hillmer dankbar. 45 So bereits Carl von Rotteck, Legitimität, in: Staats-Lexikon, hg. v. Rotteck/Welcker, 8. Bd., Altona 1847, S. 467-481 (477). 46 Talleyrand, Memoiren, hg. v. Herzog von Broglie, 2. Bd., Köln/Leipzig 1891, S. 111. 47 Rotteck, Legitimität, S. 476. 43

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Legitimitätskategorie spielt im politischen Denken vor Weber keine wirklich tragende Rolle und bleibt vor allem in der gesamten positivistischen Staatslehre seiner Zeit vollkommen ausgeklammert.48 Auch Georg Jellinek, der in seiner gesamten Allgemeinen Staatslehre ohne diese Kategorie auskommt,49 macht hier keine Ausnahme. Allerdings enthält eine Bemerkung bereits einen wesentlichen Aspekt von Webers Legitimitätsverständnis: Fehle die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit der Herrschaft, dann könne „die faktische Ordnung nur durch äußere Machtmittel aufrechterhalten werden, was auf die Dauer unmöglich ist“; sei die Ordnung aber einmal anerkannt, würden „selbst noch so unbillig dünkende Zustände als rechtmäßig empfunden“.50 Erst bei Max Weber treten Staat, Herrschaft und Legitimität in einen unauflöslichen Zusammenhang. Wer „Staat und Herrschaft“ sagt, muß spätestens seit Weber auch Legitimität sagen. Jede heutige Staatstheorie hat sich mit den Fragen auseinanderzusetzen, aus welchen Motiven eine staatliche Ordnung befolgt wird und auf welchen Geltungsgrundlagen sie beruht. In der heutigen Staatslehre und Politikwissenschaft ist Legitimität eine zentrale Kategorie. Sie bietet einerseits „den Schlüssel zum Verständnis fast aller Probleme der Staatslehre“,51 ist aber andererseits selbst „ein Grundproblem der Staatsphilosophie“,52 ja sogar „die schwierigste aller staatstheoretischen Fragen“.53 Bezeichnenderweise knüpfen fast alle Untersuchungen zu dieser Frage, genannt oder verschwiegen, zustimmend oder ablehnend, an Weber an: „Wo immer die Kategorie der Legitimität in der modernen Sozialwissenschaft auftaucht, steht sie im Bannkreis Max Webers.“54 Diese bannende Wirkung, die Wilhelm Hennis kritisch diagnostiziert, ist offenbar so lähmend, „daß man in der politischen

——————— 48 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 6. Aufl. Stuttgart 2003, S. 14ff. 49 Es bleibt bei einer belanglosen dogmengeschichtlichen Anmerkung zur traditionellen „Legitimitätstheorie“ (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 344). 50 Ebd., S. 342. Diese Bemerkung steht in unmittelbarem Kontext seiner zwar berühmten, aber meistens trivialisierten Konzeption der „normativen Kraft des Faktischen“ (ebd., S. 338): der Vorstellung, daß der Befehl staatlicher Autorität, wenn er nur oft genug wiederholt und befolgt wird, „eine schlechthin zu befolgende, also sittliche Norm sei“ (ebd., S. 339). Dazu ausführlich Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000, S. 367ff.; Peter Landau, Rechtsgeltung bei Georg Jellinek, in: Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hg.), Georg Jellinek, Tübingen 2000, S. 299-307 (302ff.); Andreas Anter, Georg Jellineks wissenschaftliche Politik. Positionen, Kontexte, Wirkungslinien, in: PVS 39 (1998), S. 503526 (520ff.). 51 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 8. 52 Richard Schottky, Die staatsphilosophische Vertragstheorie als Theorie der Legitimation des Staates, in: Peter Graf Kielmansegg (Hg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, Opladen 1976, S. 81-107 (81). 53 Hennis, Legitimität, S. 254. 54 Ebd., S. 262.

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Wissenschaft noch nicht viel über die Theorie Max Webers von der Legitimität hinausgekommen ist“, wie Ulrich Scheuner behauptet.55 Die Prominenz und Schlagkraft dieser Kategorie, die überdies ein Schlüsselbegriff seiner Herrschafts- und Staatstheorie ist, stehen in einem seltsamen Kontrast zu der Tatsache, daß der Begriff in seinem Werk undefiniert bleibt. Das ist umso erstaunlicher, als er sonst kaum einen Begriff undefiniert läßt. Man findet eine Definition weder in der Kategorienlehre noch an einer anderen Stelle des Werks. Webers nominalistische Akribie setzt bei dieser Kategorie aus.56 In dieser Hinsicht gelingt es ihm nicht, ein altes Manko zu beheben, klagt doch Carl von Rotteck schon 1847 über die „Unbestimmtheit des Begriffes“, die eine „jeweils beliebige Anwendung“ zur Folge habe.57 Nun, ganz so unbestimmt ist Webers Legitimitätsverständnis allerdings nicht – und auch nicht beliebig in der Anwendung. Da wir aber bei dessen Untersuchung nicht bei einer klaren Definition ansetzen können, müssen wir uns dem Zusammenhang von Staat und Legitimität gewissermaßen durch die Hintertür nähern. Legitimität ist die Zwillingsschwester des modernen Staates. Wenn eine staatliche Ordnung nur so lange bestehen kann, wie sie als legitim angesehen wird, besteht ein intimes Verhältnis zwischen Staat und Legitimität, das nicht immer offen sichtbar sein muß, aber um so deutlicher in Situationen hervortritt, in denen die Ordnung erschüttert wird. Solche Ausnahmezustände offenbaren das Wesen der Legitimität am klarsten. Weber selbst ist sowohl Zeitzeuge als auch engagierter wissenschaftlich-publizistischer Beobachter eines solchen Moments und hat ihn mit seinen herrschaftssoziologischen Kategorien analysiert: „Die Geschichte des Zusammenbruchs der bis 1918 (in Deutschland) legitimen Herrschaft zeigte: wie die Sprengung der Traditionsgebundenheit

——————— 55 Ulrich Scheuner, Die Legitimationsgrundlage des modernen Staates, in: Norbert Achterberg/Werner Krawietz (Hg.), Legitimation des modernen Staates, Wiesbaden 1981, S. 1-14 (4). Der Staatsrechtslehrer wollte damit in erster Linie der Politikwissenschaft ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Man sollte allerdings vor einer solchen Schelte wissen, worüber man spricht. Das ist bei Scheuner offensichtlich nicht der Fall: Bei der „Chance des Gehorsams“, die er für Webers Legitimitätsbegriff hält (ebd., S. 9), handelt es sich um Webers Herrschaftsbegriff. 56 Zu Webers Legitimitätskonzept vgl. Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, passim; Patrice Duran, Légitimité, droit et action publique, in: L’Année sociologique 59 (2009), S. 303-344; Oliver W. Lembcke, The Dynamics of Legitimacy: A Critical Reconstruction of Max Weber’s Concept, in: Liesbeth Huppes-Cluysenaer u. a. (Hg.), Legality, Legitimacy and Modernity, S. 33-46; Breuer, Legitime Herrschaft, in: ders., Max Webers tragische Soziologie, Tübingen 2006, S. 63-79; Michel Coutu/Guy Rocher (Hg.), La légitimité de l’État et du droit. Autour de Max Weber, Saint-Nicolas 2005; Siegfried Hermes, Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft, Berlin 2003, S. 74ff.; Peter Lassman, The rule of man over man: politics, power and legitimation, in: Stephen Turner (Hg.), The Cambridge Companion to Weber, Cambridge 2000, S. 83-98. 57 Rotteck, Legitimität, S. 476.

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durch den Krieg einerseits und der Prestigeverlust durch die Niederlage andererseits ... die Fügsamkeit ... erschütterten und so den Umsturz der Herrschaft vorbereiteten.“58 Die politische und wissenschaftliche Frage der Legitimität stellt sich ihm gerade in der Zeit des Untergangs des Kaiserreichs, und sein Urteil über das Schicksal der deutschen Monarchie, als deren Anhänger er sich oft genug bekannt hat, ist ebenso lakonisch wie eindeutig: „Die ‚historische‘ Legitimität ist dahin.“59 Die Konsequenzen, die er aus diesem Urteil zieht, belegen ein weiteres Mal die entscheidende Relevanz des Gesichtspunkts der Legitimität, wenn er es für notwendig hält, daß eine „legitime“ Regierungsform entstehe, die unter den gegebenen Verhältnissen nur eine demokratische sein könne.60 Gerade die Zusammenbrüche von staatlichen Ordnungen machen das Legitimitätsproblem transparent, das stets in Krisenzeiten aktuell und virulent wird. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, daß durch eine Erschütterung des Legitimitätsglaubens das Gefüge staatlicher Herrschaftsordnungen ins Wanken gerät, wie 1956 in Ungarn und 1968 in Paris, wenn nicht gar zusammenbricht, wie 1918 in Deutschland, 1979 in Teheran oder 1989/90 in den Ostblock-Staaten. Es hat allerdings auch Stürme im Wasserglas gegeben. So beruhte die erbitterte Kontroverse um „Legitimationsprobleme“, die Mitte der siebziger Jahre die Sozialwissenschaft heimsuchte und Politologentage erschütterte,61 sicherlich weniger auf einer tatsächlichen Legitimationskrise des politischen Systems, sondern vielmehr auf ideologischen Grabenkämpfen im Wissenschaftssystem.62 Die Debatte wurde, wie Niklas Luhmann rückblickend resümiert, vor allem „unter ideologischen und ‚ideologiekritischen‘ Vorzeichen geführt“.63 So konnte einer der Kombattanten, Wilhelm Hennis, sich schon damals nur über die „grotesken Spiegelfechtereien“ dieser Kontroverse wundern – und auch darüber, daß man Legitimationsprobleme ausgerechnet in einer Zeit heraufbeschwört, in der „die prinzipiellen und rechtlichen Grundla-

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Weber, WuG, S. 155. Weber, Deutschlands künftige Staatsform (1918), in: Zur Neuordnung Deutschlands. MWG I/16, S. 103 (PS 451). 60 Ebd., S. 105 (PS 452). 61 Teilnehmer des Duisburger Politologentages im Jahr 1975 berichten von heftigen und polemischen Auseinandersetzungen. Vgl. die Referate der beiden Hauptkontrahenten Wilhelm Hennis und Jürgen Habermas, in: Kielmansegg (Hg.), Legitimationsprobleme politischer Systeme, S. 9ff. u. 39ff. 62 Zum Thema Legitimationskrise siehe auch Charles Taylor, Legitimationskrise?, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 235ff.; Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973. 63 Niklas Luhmann, Selbstlegitimation des Staates, in: Achterberg/Krawietz (Hg.), Legitimation des modernen Staates, S. 65-82 (65). 59

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gen der staatlichen Ordnung“ so unstrittig wie nie in der jüngeren deutschen Geschichte waren.64 So eindeutig wie Weber den Zusammenhang zwischen der Erschütterung von Legitimität und dem Zusammenbruch einer Ordnung beschreibt, so vage bleibt er im Bezug auf die Entstehung von Legitimität. Seine Bemerkung, jede Herrschaft suche „den Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen“,65 ist kaum ausreichend, um den Prozeß der Legitimitätsbildung befriedigend zu erklären. Er interessiert sich im Grunde nur für die Perspektive der Vertikalen. Herrschende stellen ihren Anspruch nach unten, und Beherrschte adressieren ihren Legitimationsglauben nach oben. Eine Legitimitätsgeltung muß aber schon in der Horizontalen vorhanden sein, bevor sie ihre Wirkung in der Vertikalen erreicht, und jene horizontale Perspektive bleibt bei Weber unterbelichtet. Darüber hinaus ist zu beobachten, daß er die Wirkungssphäre, in der sich Legitimitätsprozesse abspielen, sehr eng eingrenzt, nämlich auf die „Legitimitätsbeziehung zwischen Herrn und Verwaltungsstab“.66 Demnach wäre nicht das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten für die Legitimität ausschlaggebend, sondern vielmehr das von Herrschenden und ihren Stäben. Für die Legitimität staatlicher Herrschaft wäre somit primär der Legitimitätsglaube der Mitglieder staatlicher Organe und Institutionen relevant, in welchen sich die entscheidenden Prozesse der Entstehung und des Verfalls von Legitimität abspielen würden. Das ist mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts durchaus nicht ohne Evidenz, da Erschütterungen und Untergängen staatlicher Ordnungen stets vorausging, daß die Herrschenden nicht mehr auf die „Fügsamkeit“ und den „Gehorsam“ der Stäbe zählen konnten. Weber akzentuiert also mit Recht die elementare Rolle der Verwaltungsstäbe in Prozessen der Legitimierung und Delegitimierung. Seiner Sicht liegen seine beiden grundlegenden herrschaftssoziologischen Apriori zugrunde: Erstens funktioniert jede Herrschaft als Verwaltung,67 und zweitens bedarf jede Verwaltung einer herrschaftlichen Struktur, da für ihr Funktionieren die Existenz von „Befehlsgewalten“ notwendig ist.68 Bei staatlicher Herrschaft ist diese Interdependenz noch enger geknüpft, ja nimmt die Form einer Identität an: Staatliche Herrschaft ist Verwaltung. Daher wäre der Begriff des „Verwaltungsstaates“, den Carl

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Hennis, Legitimität, S. 254 u. 250. Weber, WuG, S. 122. 66 Ebd., S. 123. 67 Weber, Herrschaft, S. 139 (WuG 545). – Dazu anschaulich Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000; Thomas Ellwein, Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, Bd. 1, Opladen 1993. 68 Weber, Herrschaft, S. 139 (WuG 545). 65

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Schmitt wirkungsvoll in die staatstheoretische Diskussion des 20. Jahrhunderts geworfen hat,69 für Max Weber strenggenommen eine Tautologie. Obwohl Weber mit seiner Konzeption einen beherrschenden Einfluß auf die heutige Staatstheorie ausübt, hat er die Frage, wie Legitimität entsteht, nach Meinung der „Mehrzahl der Interpreten“ nicht „befriedigend beantwortet“.70 So knüpft sich an seinen schemenhaft gebliebenen Legitimitätsbegriff eine uferlose Anzahl von Versuchen, die sich um Deutung und Kritik bemühen.71 Dabei beflügelte die Konzeption auch die metaphorische Phantasie mancher Autoren. So versteht Rainer Prewo die Legitimität als „ein besonderes soziokulturelles Öl, mit dem die von Ordnungen straff gespannten Herrschaftsbeziehungen bestrichen werden und das die ineinander verzahnten Handlungen ... glattläufiger macht, das ganze Aggregat aus einzelnen Beziehungen und Handlungsprozessen gegen eindringende Fremdkörper schützt (wie Maschinenöl zugleich einfallende Schmutzteile absorbiert) und es – schließlich – fürs Betrachten angenehmer macht, indem es dem ganzen Aggregat eine goldglänzende Einfärbung zuteil werden läßt“.72 Lange Zeit waren der metaphorischen Phantasie in der Weberliteratur keine Grenzen gesetzt. Die Leidenschaft der Deutung beruht nicht zuletzt darauf, daß der Begriff der Legitimität bei Max Weber undeutlich geblieben ist. Dabei kommt die fehlende Präzisierung vielleicht nicht von ungefähr. Es geht Weber weniger um die Legitimität an sich, als vielmehr um die Typisierung der verschiedenen empirischen Legitimitätsvorstellungen. Dieses Interesse hat sich in

——————— 69 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München/Leipzig 1932, S. 9. Die Meinung Carl Hermann Ules, Schmitt verwende den Begriff als erster in Deutschland (Ule, Über das Verhältnis von Verwaltungsstaat und Rechtsstaat, in: Staats- und Verwaltungswissenschaftliche Beiträge, Stuttgart 1957, S. 127), ist unhaltbar, da Rathenau schon 1912 feststellt, der „Verwaltungsstaat“ sei das „Ideal des staatlichen Aufbaus“ (Rathenau, Zur Kritik der Zeit, Berlin 1912, S. 126). 70 Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, S. 222. 71 Vgl. Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, S. 202ff.; Chris Thornhill/ Samantha Ashenden (Hg.), Legality and Legitimacy, Baden-Baden 2010; Duran, Légitimité, droit et action publique; Lembcke, The Dynamics of Legitimacy; Coutu/Rocher (Hg.), La légitimité de l’État et du droit; J. G. Merquior, Rousseau and Weber: Two Studies in the Theory of Legitimacy, 2. Aufl. London 2006, S. 89ff.; Hermes, Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft, S. 74ff.; Lassman, The rule of man over man, S. 86ff.; Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität. Sinnverstehen und Institutionenanalyse bei Max Weber und seinen Kritikern, Tübingen 1991, S. 9ff. 72 Rainer Prewo, Max Webers Wissenschaftsprogramm. Versuch einer methodischen Neuerschließung, Frankfurt a. M. 1979, S. 548. – Neben literarischen Annäherungen waren auch grobe Entstellungen zu verzeichnen. So ist es schwer begreiflich, wie man behaupten kann, Webers Konzeption sei eine „Manipulationstheorie“ und impliziere „von vornherein Legitimation als Täuschung“ (Zängle, Max Webers Staatstheorie im Kontext seines Werkes, Berlin 1988, S. 82 u. 69), eine abwegige Deutung, die in der Weberliteratur zum Glück singulär geblieben ist.

2. Schwindelfrei über dem Abgrund

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der Aufstellung der drei Typen legitimer Herrschaft niedergeschlagen. Da der moderne Staat eine Form legaler Herrschaft ist,73 kann die Frage nach seiner Legitimität nur die nach der Legalität sein.

2. Schwindelfrei über dem Abgrund Die Legitimität der Legalität Webers Ausführungen zur legalen Herrschaft zeigen, worauf die Legitimität des modernen Staates beruht: „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen“.74 Die staatliche Herrschaft ist eine „Herrschaft kraft ‚Legalität‘, kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen ‚Kompetenz‘“.75 Sie beruht darauf, daß beliebiges Recht rational gesatzt wird76 und „daß die Legitimität der Herrschaft zur Legalität der generellen, zweckvoll erdachten, formell korrekt gesatzten und verkündeten Regel wird“.77 Da Herrschaft auf Befehl und Gehorsam beruht, liegt bei der staatlichen Herrschaft ein spezifischer Typus des Gehorchens vor: gehorcht wird dem Recht, einer „unpersönlichen Ordnung“, der auch die Staatsorgane unterworfen sind.78 Wenn legale Herrschaft auf der Grundvorstellung basiert, daß durch formal korrekte Satzung „beliebiges Recht geschaffen“ und das bestehende beliebig abgeändert werden kann,79 und wenn das Recht den Charakter eines „jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats“ hat,80 besteht nach Fritz Loos „kein Zweifel daran, daß der von Weber beschriebene Legalitätsglaube ein spezifisch rechtspositivistischer ist“.81 Ist diese Deutung, die nach wie vor die herrschende Meinung in der Literatur repräsentiert, richtig? Es ist in der Tat eine wesentliche Prämisse des Rechtspositivismus, daß das positive Recht „aus sich selbst heraus verpflichtet“82 und nicht die Geltung höherer

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Weber, Herrschaft, S. 726 (WL 476). Weber, WuG, S. 124. 75 Weber, Politik als Beruf, S. 160 (PS 507). 76 Weber, WuG, S. 125. 77 Weber, Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: RS I, S. 273. 78 Weber, WuG, S. 125. 79 Weber, Herrschaft, S. 726 (WL 475). 80 Weber, Recht. MWG I/22-3, S. 639 (WuG 513). 81 Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 124. Auch Heino Speer meint, das Konzept der legalen Herrschaft beruhe auf rechtspositivistischer Grundlage (Speer, Herrschaft und Legitimität, S. 76f.). 82 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 14. 74

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Prinzipien in Anspruch nimmt.83 Aber das heißt noch lange nicht, daß Weber selbst Rechtspositivist wäre, unterscheidet ihn doch bereits seine Frage nach der Legitimität grundsätzlich vom Rechtspositivismus.84 Vor welchem theoretischen Hintergrund ist also Webers Konzeption der Legitimität kraft Legalität zu sehen? Bisher ist kein Versuch unternommen worden, sie theoriegeschichtlich zu verorten. Dabei läßt sie sich fast wörtlich bei Joseph von Held nachweisen. Der Würzburger Staatsrechtler setzt staatliche Legitimität mit „Rechtsgemässheit“ gleich, ja stellt sogar fest, Legitimität sei „identisch mit Legalität“.85 Diese Position vertritt, freilich in differenzierterer Form, auch Max Weber. Ist aber seine These, der Glaube an formell korrekt gesatztes Recht sei eine ausreichende Legitimitätsgrundlage sei, richtig? Kann bloß formelle Legalität den Glauben an die Legitimität wecken? Das ist immer wieder bezweifelt und bestritten worden. Und so ist die Rezeptionsgeschichte dieser These eine Geschichte der Kritik. Carl Schmitt eröffnet den Reigen, indem er demonstriert, das Legalitätssystem ende in einem inhaltslosen „Formalismus“, welcher „der Legalität jede Überzeugungskraft“ nehme.86 Für Reinhard Bendix ist Max Webers Konzeption fragwürdig, da sie auf einem „Zirkelschluß“ beruhe.87 Wilhelm Hennis vermißt „eine qualitative, kritisch-normative Abgrenzung von Legitimität und Illegitimität“.88 Richard Münch meint, der Glaube an die Legitimität der Legalität sei „weit davon ent-

——————— 83 Die „Verwandlung des Rechts in Legalität ist eine Konsequenz des Rechtspositivismus“ (Carl Schmitt, Das Problem der Legalität (1952), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, S. 447). 84 Zu Webers Verhältnis zum Rechtspositivismus siehe unten Kap. V. 4. 85 Joseph von Held, Grundzüge des Allgemeinen Staatsrechts oder Institutionen des öffentlichen Rechts, Leipzig 1868, S. 215f. Er nimmt nicht nur Webers Diagnose vorweg, sondern auch Carl Schmitts Kritik, wenn er von „einer blossen Legalität im Gegensatz zur Legitimität“ spricht (ebd., S. 217). Vgl. auch ders., Über Legitimität, Legitimitätsprincip, Würzburg 1859. Schon Carl von Rotteck setzt „Legitimität“ mit „Gesetzmäßigkeit“ gleich und versteht darunter „nichts Anderes als überhaupt die durch ein Gesetz statuirte oder anerkannte Rechtsgültigkeit oder Rechtsmäßigkeit“ einer „auf politische Verhältnisse“ bezogenen Legitimität (von Rotteck, Legitimität, S. 476). 86 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München/Leipzig 1932, S. 32. Zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn auch aus der linken Perspektive, kommt im selben Jahr bereits sein Schüler Otto Kirchheimer in einem gleichnamigen Aufsatz (Kirchheimer, Legalität und Legitimität, in: Die Gesellschaft, 2. Jg. 1932, Nr. 7, S. 1-19), auf den sich Carl Schmitt stützt (Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 14). Schmitt gebührt allerdings der Rang, die ganze Tragweite der Problematik der Legalität erstmals offengelegt zu haben, und das in einer virulenten zeitgeschichtlichen Lage einer Republik, die ein halbes Jahr später auf ‚legale‘ Weise abgeschafft werden konnte, was er bereits prognostiziert. 87 „Recht ist legitim, wenn es gesatzt ist; und die Satzung ist legitim, wenn sie in Übereinstimmung mit den dafür vorgeschriebenen Verfahrensregeln festgelegt worden ist.“ (Reinhard Bendix, Max Weber – Das Werk, München 1964, S. 318) 88 Hennis, Legitimität, S. 263.

2. Schwindelfrei über dem Abgrund

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fernt“, ihre faktische Geltung zu erklären, sondern sei „vielmehr selbst der zu erklärende Tatbestand“.89 Jürgen Habermas kommt zu dem Schluß, Max Webers Annahme einer „dem Recht als solchen“ innewohnenden Rationalität als „Grund für die legitimierende Kraft der Legalität“ habe „sich nicht bestätigt“.90 David Beetham hält die Legalität für unzureichend, um Legitimität zu sichern.91 Wenn Stefan Breuer in seinem Resümee sagt, Weber habe die Frage der Legitimität der Legalität nach Meinung der meisten Interpreten nicht „befriedigend beantwortet“,92 handelt es sich fast um eine Untertreibung. Kritik und Ablehnung sind fast einhellig. Auch Weyma Lübbe kann nur feststellen, die Legalitätskonzeption sei „ein ungelöstes Problem der Weberhermeneutik“ und habe sich in der Rechts- und Sozialwissenschaft nicht durchgesetzt.93 Die einmütige Kritik steht allerdings in einem paradoxen Verhältnis zu der Tatsache, daß Webers Konzeption nach wie vor der beherrschende Orientierungspunkt fast aller theoretischen wie empirischen Untersuchungen zur staatlichen Legitimität ist. Sie übt offenbar immer noch eine bannende Wirkung aus. Robert Grafstein hat auf diese seltsame Konstellation hingewiesen: „Max Weber’s concept of legitimacy occupies a paradoxical position in modern political science. On the one hand, it has proved to be the dominant model for empirical investigations of legitimacy. On the other hand, it has met with almost universal criticism by those political philosophers who have evaluated it.“94 Das Unbehagen an der Konzeption steht zudem in auffälligem Kontrast zu dem Lob, sie sei sowohl „realistisch“95 als auch „richtig“.96 Zudem ist sie durch die Geschichte – wenn auch auf unheilvolle Weise – bestätigt worden. Gerade die legale nationalsozialistische Machtergreifung97 hat gezeigt, daß die Fügungsbereitschaft der

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Richard Münch, Legitimität und politische Macht, Opladen 1976, S. 65. Habermas, Wie ist Legitimität durch Legalität möglich? in: KJ 20 (1987), S. 11f. – Vgl. schon ders., Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 131ff.; ders., Legitimationsprobleme im modernen Staat, S. 39ff.; ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981, S. 478f. 91 David Beetham, Max Weber and the Theory of Modern Politics, 2. Aufl. Cambridge 1991, S. 17 („legal validity is insufficient to secure legitimacy“). 92 Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, S. 222 (mit weiteren Belegen). 93 Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 16 u. 10f. (mit weiteren Belegen). 94 Robert Grafstein, The Failure of Weber’s Conception of Legitimacy: Its Causes and Implications, in: British Journal of Politics 43 (1981), S. 456-472 (456). 95 Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, S. 210. 96 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 23. Auch Carl Schmitt lobt, Max Weber habe „die Diagnose und mit ihr auch die Prognose richtig gestellt“ (Schmitt, Das Problem der Legalität, S. 447). Im Grunde revidiert er hier seine kritische Position von 1932. 97 Das instrumentelle Legalitätsverständnis der nationalsozialistischen Staatsrechtslehrer kommt besonders klar bei Ernst Forsthoff zum Ausdruck: „Die Revolution ist nur noch als Machtübernahme, das heißt in legalen Formen, möglich. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist 90

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II. Staat und Herrschaft

Beherrschten wie der Stäbe außerordentlich groß ist und eine neue Ordnung auf eine hohe Wahrscheinlichkeit ihrer Durchsetzung rechnen kann, wenn sie legal und formal korrekt geschaffen wird. Das hat sicherlich weniger damit zu tun, daß die Deutschen, wie Rudolf Smend sagt, ein „rührend legalitätsbedürftiges Volk“ sind,98 sondern vielmehr mit allgemeinen soziologischen Tatbeständen, auf die Stefan Breuer hinweist: „Spätestens die Studien über den autoritären Charakter und das Milgram-Experiment haben gezeigt, wie realistisch (und keineswegs bloß auf typisch deutsche Eigenschaften beschränkt) Webers Diagnose ist.“99 Neben dieser negativen Evidenz spricht auch eine positive Evidenz für Webers These, nämlich die breite Akzeptanz, die die legale Legitimität des modernen Staates gefunden hat. Ungeachtet aller Friktionen, auf die später noch zurückzukommen sein wird, ist die Geschichte des modernen Staates eine Erfolgsgeschichte. Seine Strukturformen und Funktionsweisen sind gewissermaßen durch den Modus der Legalität codiert.100 Dies gilt insbesondere für den Rechtsstaat, jenen Staatstypus, der sich in Theorie und Praxis seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Webers Prinzipien der legalen Herrschaft sind im Kern zugleich die Prinzipien des Rechtsstaates, wo die Verwaltung an Gesetze und der Gesetzgeber an die Verfassung gebunden ist. Wenn Max Webers Beschreibung des Verhältnisses von Staat, Herrschaft und Legitimität also in empirisch-historischer Hinsicht Plausibilität beanspruchen kann, vermag sie dennoch keine normativ-inhaltliche Legitimitätstheorie zu leisten. Dies ist auch gar nicht ihre Absicht. Daher blieb Johannes Winckelmanns Versuch, in Webers Konzept auf ziemlich gewaltsame Weise eine normative Dimension hineinzulesen und es so vom Stigma des Formalismus rein-

——————— die nationalsozialistische Revolution als eine legale begreiflich.“ (Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart/Berlin 1938, S. 9) 98 Das Zitat ist bisher stets Carl Schmitt zugeschrieben worden, bei dem es sich in seinem Legalitätsaufsatz findet (Schmitt, Das Problem der Legalität, S. 446). In Wahrheit aber stammt das Zitat von Rudolf Smend, wie Schmitt in einem Brief an Wilhelm Hennis bekennt. Er schreibt ihm: „Vergessen Sie nicht den von mir oft zitierten Satz Ihres Lehrers Rudolf Smend, daß die Deutschen ein ‚rührend legalitätsbedürftiges Volk’ sind“ (Carl Schmitt, Brief an Wilhelm Hennis vom 5. Dezember 1968, mitgeteilt in: Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926-1974), hg. v. Dorothee Mußgnug, Reinhard Mußgnug und Angela Reinthal, Berlin 2007, S. 495). 99 Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, S. 210. 100 „The principle of legality is closely bound up with the modern conception of the State“ (Alexander Passerin d’Entrèves, The Notion of the State, S. 144). – Zum Rechtsstaat vgl. Gustavo Gozzi, Rechtsstaat and Individual Rights in German Constitutional History, in: Pietro Costa/Danilo Zolo (Hg.), The Rule of Law, Dordrecht 2007, S. 237-259; Philip Kunig, Der Rechtsstaat, in: Peter Badura, Horst Dreier (Hg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen 2001, S. 421-444; Olivier Jouanjan, Figures de l’État de droit, Straßburg 2001; Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, Tübingen 1997, S. 263ff.

2. Schwindelfrei über dem Abgrund

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zuwaschen,101 ein mißlungenes Unternehmen, das auch auf einhellige Ablehnung stieß.102 Eine normative Legitimitätstheorie kann man höchstens in Abgrenzung zu Weber entwickeln.103 Dabei ist der vielgescholtene Formalismus ja keineswegs a priori etwas Negatives. Max Weber jedenfalls wertet ihn positiv, wenn er die Form als „die Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“ sieht.104 Sein Legitimitätsverständnis hat Generationen von Staatsrechtlern, Soziologen und Politologen beschäftigt und wird es auch weiterhin tun, ist doch die Frage des Verhältnisses von Staat, Legitimität und Legalität ein erstrangiges staatstheoretisches Problem, das sich in jeder historischen Situation stets erneut stellt. Die anhaltende Diskussion zeugt nach dem Urteil Stefan Breuers davon, „daß Weber mit seinem Begriff ein Zentralproblem der Moderne getroffen hat“.105 Die Probleme, die seine Konzeption birgt, sind auch die Probleme, denen die Staatslehre und Politikwissenschaft gegenüberstehen. Die Theorie des demokratischen Verfassungsstaates bewegt sich insofern über einem Abgrund, als sie zwar höhere Rechtsprinzipien wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit postuliert, aber zugleich darauf verzichtet, den Staat auf höhere Werte und Prinzipien zu gründen.106 Muß man aber im Angesicht dieses Abgrunds Schwindelgefühle bekommen? Wenn Weber von einzelnen höheren Rechtsprinzipien spricht und seine Werthaltungen stets selbstbewußt vertritt, aber ebenso bewußt davon Abstand nimmt, die staatliche Legitimität mittels inhaltlicher Kategorien zu bestimmen, hat er bereits über diesem Abgrund Posten bezogen, und zwar schwindelfrei.

——————— 101 Johannes Winckelmann, Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 1952. 102 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, 3. Aufl. Tübingen 2004, S. 478ff.; Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 12; Prewo, Max Webers Wissenschaftsprogramm, S. 559ff.; Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 136f. 103 Eine solche Strategie schlägt Fritz Loos ein, der einerseits meint, der Glaube an die Legitimität des formalen Rechts sei „kein Glaube an die formale Legitimität als solche, sondern an die durch sie gesicherten materialen Werte der Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger“, aber andererseits betont, man werde eben diese materialen Werte in Max Webers Herrschaftssoziologie sicherlich „vergeblich suchen“ (Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, S. 129). 104 Weber, Diskussionsbeitrag zum Soziologentag 1910, in: GASS, S. 480. Er zitiert hier das geflügelte Wort Rudolf von Jherings. Vgl. Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. 2, 3. Aufl. Leipzig 1887, S. 471. 105 Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 20. 106 Dies ist bekanntlich der Inhalt des Böckenförde-Diktums. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang des Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 92-114 (112f.). – Vgl. auch Matthias Herdegen, Staat und Rationalität. Zwölf Thesen, Paderborn 2010, S. 33.

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II. Staat und Herrschaft

3. Charismatische Herrschaft im modernen Staat? Max Weber setzt, anders als die meisten seiner Kritiker meinen, Legitimität und Legalität nicht absolut gleich. Er weist ausdrücklich darauf hin, der Legitimitätsglaube sei bei der legalen Herrschaft „nie rein legal“, sondern sowohl traditionsbedingt, da er eingelebt sei, als auch „charismatisch in dem negativen Sinn: daß hartnäckige eklatante Mißerfolge jeder Regierung zum Verderben gereichen, ihr Prestige brechen und die Zeit für charismatische Revolutionen reifen lassen“.107 Wie jeder andere Idealtypus tritt auch die legale Herrschaft nie in reiner Form, sondern stets in Mischformen auf. So erschöpft sich auch die Legitimität des modernen Staates nicht allein in Legalität. Wenn die Frage der Legitimität gerade in Krisenzeiten virulent wird und in diesen Zeiten das Charisma eine außerordentliche Wirkung entfalten kann, müssen wir uns der Frage des Charisma im modernen Staat zuwenden. Nach allem, was bisher über Begriff, Wesen und Struktur des modernen Staates gesagt wurde, kann die charismatische Legitimität hier eigentlich nur eine marginale Relevanz haben – in einem Gebilde, das sich durch die Kriterien des Rationalen, Anstaltsmäßigen und Unpersönlichen auszeichnet, also Momente, die mit charismatischer Herrschaft kaum kompatibel sind. Diese beruht „auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“.108 Sie ist „spezifisch labil“, da sie stets in der Gefahr der Veralltäglichung durch Traditionalisierung, Legalisierung oder Rationalisierung steht, womit sie wieder auf einen der beiden anderen Typen zurückfallen würde.109 Kein Staat kann auf einer solcherart instabilen und labilen Herr-

——————— 107

Weber, WuG, S. 154. Weber, WuG, S. 124. Zu Webers Charisma-Konzept siehe Joshua Derman, Max Weber and Charisma: A Transatlantic Affair, in: New German Critique 38 (2011), S. 51-88; Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, S. 25ff.; Jeffrey Edward Green, Max Weber and the Reinvention of Popular Power, in: Max Weber Studies 8 (2008), S. 187-224; Hans-Ulrich Wehler, Das analytische Potential des Charisma-Konzepts. Hitlers charismatische Herrschaft, in: Andreas Anter/Stefan Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie, Baden-Baden 2007, S. 175-189; Christopher Adair-Toteff, Max Weber’s Charisma, in: JCS 5 (2005), S. 189-204; Stephen P. Turner, Charisma reconsidered, in: JCS 3 (2003), S. 5-26; Stephen P. Turner/Regis A. Factor, Max Weber: The Lawyer as Social Thinker, London/New York 1994, S. 113ff.; Andreas Anter, Charisma und Anstaltsordnung. Max Weber und das Staatskirchenrecht seiner Zeit, in: Hartmut Lehmann/ Jean Martin Ouédraogo (Hg.), Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, Göttingen 2003, S. 29-49 (45ff.); Martin Riesebrodt, Charisma, in: Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt (Hg.), Max Webers „Religionssystematik“, Tübingen 2001, S. 151-166; Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung. Bd. 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 535ff. 109 Weber, Herrschaft, S. 460; ders., WuG, S. 142. Zur Veralltäglichung des Charisma vgl. die Systematisierung bei Dirk Käsler, Revolution und Veralltäglichung. Eine Theorie post108

3. Charismatische Herrschaft im modernen Staat?

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schaftsform beruhen. Die Eigenschaften der Konstanz, Stabilität und Rationalität, die den Staat auszeichnen, sind jedenfalls nicht die Eigenschaften, die Max Weber der charismatischen Herrschaft ins Stammbuch schreibt. Er erörtert die Frage der Kompatibilität nirgends, aber seine Ausführungen zur „Umbildung“ und „Versachlichung“ des Charisma110 bieten eine Möglichkeit, einer Antwort näher zu kommen. Die charismatische Herrschaft ist stets das Kind ungewöhnlicher Situationen und entsteht aus einer „Erregung“, einer „Hingabe an das Heroentum“. Wenn sie wieder in die „Bahnen des Alltags“ zurückflutet, wird sie „regelmäßig gebrochen, ins ‚Institutionelle‘ transponiert und umgebogen“.111 Ein solcher Vorgang ist mit einem herrschaftssoziologischen Wandlungsprozeß verbunden, der mit Blick auf den modernen Staat signifikant ist. Im Laufe der Umbildung und Versachlichung charismatischer Autorität tritt an die Stelle „persönlichen Offenbarungs- und Heldenglaubens“ die Herrschaft unpersönlicher Dauergebilde, in denen das Charisma nicht mehr der Person, sondern der Position gilt und etwa zum „Amtscharisma“ werden kann.112 Da diese Form unverkennbare Affinitäten zur Strukturform und Funktionsweise staatlicher Herrschaft zeigt, ist charismatische Herrschaft also durchaus im modernen Staat möglich: einerseits temporär in Form charismatischer Revolutionen113 und andererseits dauerhaft in Form des umgebildeten, versachlichten, institutionalisierten und entpersonalisierten Charisma. Kann man aber wirklich noch von charismatischer Autorität sprechen, wenn sie „gebrochen“, „umgebogen“114 und entpersonalisiert ist? Liegt dann nicht vielmehr ein ganz anderer Herrschaftstypus, nämlich der legale oder traditionale vor? Ist charismatische Herrschaft nicht per definitionem außeralltäglich und an die „Qualität einer Persönlichkeit“115 gebunden? Für unsere Fragestellung, ob es dauerhafte charismatische Herrschaft im modernen Staat geben kann, sind diese Fragen, die bei Weber offen bleiben, entscheidend. Das versachlichte Amtscharisma, so muß man mit Weber gegen Weber argumentieren, kann man schwerlich als eigentliches Charisma bezeichnen. Selbst wenn man am Begriff des Charisma festhält, ist klar, daß die charismatische Herrschaft im modernen Staat nur noch auf einer Schwundstufe existieren kann. So räumt Weber denn

——————— revolutionärer Prozesse, München 1977, S. 161ff.). Zum Schicksal des traditionalisierten und legalisierten Charisma vgl. Breuer „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, S. 216ff.; Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, S. 538ff. 110 Weber, Herrschaft, S. 489ff. (WuG 661ff.). 111 Ebd., S. 489 (WuG 661). 112 Ebd., S. 526f. (WuG 674f.). 113 Weber, WuG, S. 154. 114 Weber, Herrschaft, S. 489 (WuG 661). 115 Weber, WuG, S. 140.

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II. Staat und Herrschaft

auch ein, das veralltäglichte Charisma sei nur noch in kurzlebigen „Massenemotionen bei Wahlen und ähnlichen Gelegenheiten“ wirksam. Das Schicksal des Charisma gewinnt hier nachgerade tragische Züge, da das „genuine Charisma“, welches auf persönlichem Heldentum beruht, im Grunde nur noch als Instrument fremder Interessen dient, wenn es nach seiner Veralltäglichung zur Legitimitätsquelle der Nachfolger des charismatischen Helden herabsinkt.116 Das Schicksal des Charisma ähnelt dem des Helden in einer klassischen Tragödie, dessen Schicksal besiegelt ist, noch ehe er antritt. Er ist nicht nur von vornherein zum Scheitern verurteilt, sondern auch der unfreiwillige Helfer seiner eigenen Feinde. Max Weber illustriert die Veralltäglichung des Charisma an einem aufschlußreichen Beispiel, dem des Königs in einer konstitutionellen Monarchie: „Der parlamentarische König wird trotz seiner Machtlosigkeit konserviert, vor allem, weil er durch seine bloße Existenz und dadurch, daß die Gewalt ‚in seinem Namen‘ ausgeübt wird, die Legitimität der bestehenden sozialen und Besitz-Ordnung kraft seines Charisma garantiert und alle ihre Interessenten die Erschütterung des Glaubens an die ‚Rechtmäßigkeit‘ dieser Ordnung als Folge seiner Beseitigung fürchten müssen.“117 Das Los des parlamentarischen Königs ist ein besonders deutlicher Fall der Rolle des Charisma im modernen Staat. Die charismatische Autorität des Monarchen dient lediglich dazu, die Legitimität eines politischen Systems zu festigen, das sie sich nur als Aushängeschild hält. Der König selbst ist machtlos. Er hat nur noch repräsentative Funktionen, und die sogenannten Richtlinien der Politik werden, wie heute in Großbritannien, Schweden, Spanien oder Holland, von anderen bestimmt. Webers nüchterne herrschaftssoziologische Bestandsaufnahme steht in einem eigenwilligen Kontrast zu seiner Werthaltung gegenüber der Monarchie, deren Vorzüge er 1904 in einen Vortrag in St. Louis preist.118 Noch im Oktober 1918 bekennt er sich als „aufrichtiger Anhänger monarchischer – wenn auch parlamentarisch beschränkter – Institutionen und der deutschen Dynastie insbesondere“.119 Er ist, „auf die deutsche Staatlichkeit blickend, Monarchist“, wie Theodor Heuss aus persönlicher Kenntnis urteilt,120 ja „von Haus aus überzeugter Anhänger der Monarchie“, wie Webers Schüler Karl Loewenstein bestä-

——————— 116

Weber, Herrschaft, S. 559 (WuG 679f.). Ebd., S. 561f. (WuG 680). 118 Vgl. Peter Ghosh, Max Weber on ‘The Rural Community’: A critical edition of the English text, in: History of European Ideas 31 (2005), S. 327-366 (334). 119 Weber, Brief an Gerhart von Schulze-Gaevernitz vom 11. Oktober 1918, in: Briefe 1918–1920. MWG II/10, S. 260. 120 Theodor Heuss, Max Weber in seiner Gegenwart, in: Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl. Tübingen 1971, S. XIV. 117

3. Charismatische Herrschaft im modernen Staat?

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tigt.121 Für seine positive Werthaltung zur Monarchie spielen nicht nur Gefühle eine erhebliche Rolle (auch wenn er sie oft genug weit von sich weist), sondern auch pragmatische Gesichtspunkte, die er stets in den Vordergrund zu rücken bemüht ist: Wie keine andere Staatsform sei die Monarchie in der Lage, den Glauben an die Legitimität der staatlichen Ordnung zu wecken und zu stärken, zudem habe sie den unschätzbaren Vorteil, daß „die höchste Stelle im Staate ein- für allemal besetzt“ sei, so daß Machtkämpfe um diese gar nicht erst entstehen müßten.122 Diese beiden Aspekte zählen seit jeher zu den Lieblingsargumenten der Monarchisten und finden sich bei so unterschiedlichen Denkern wie Talleyrand,123 Richard Wagner124 oder Treitschke.125 Beruht aber die Tatsache, daß Weber „die Monarchie als Rest einer charismatischen Legitimitätsquelle erhalten sehen“ will, darauf, daß er „die Legitimierung einer Herrschaft kraft geglaubter Legalität für ungleich schwächer hielt als eine solche durch charismatische oder traditionale Legitimitätsformen“, wie Mommsen meint? „Im Grunde“, so seine These, „besaß für ihn nur die charismatische Form wirklich legitimierende Kraft; allein die wertsetzende Persönlichkeit, nicht abstrakte Satzung, vermochte für sein Empfinden einer wie immer beschaffenen staatlichen Ordnung wirkliche innere Zustimmung zu wekken.“126 Das ist zu bezweifeln. Max Webers Ausführungen zum Wesen der charismatischen Herrschaft machen immer wieder klar, daß gerade sie eine „spezifisch labile“ Herrschaftsform ist, die „regelmäßig gebrochen“ und „umgebogen“, traditionalisiert oder legalisiert wird. Man muß daher Wolfgang J. Mommsens Urteil genau umkehren. Es ist die charismatische Herrschaft, die „ungleich schwächer“ als die beiden anderen Formen ist; es ist die legal-rationale Herrschaft, die sich als die ungleich stärkere erwiesen und sich im modernen Staat durchgesetzt hat. Daher ist auch die

——————— 121 Karl Loewenstein, Max Webers Beitrag zur Staatslehre in der Sicht unserer Zeit, in: Karl Engisch u.a. (Hg.), Max Weber. Gedächtnisschrift, Berlin 1966, S. 132. 122 Weber, Herrschaft. MWG I/22-4, S. 562 (WuG 681). 123 Talleyrand lobt in seiner Gegenüberstellung monarchischer und republikanischer Legitimität „die Vortrefflichkeit der monarchischen Regierungsform“, die „mehr als irgend eine andere“ die „Dauer der Staaten verbürgt“ (Talleyrand, Memoiren, 2. Bd., S. 112). 124 Für Richard Wagner ist die Monarchie die funktionale Staatsform, da es erstens keinen Kampf um die Staatsspitze gebe und zweitens der Monarch das „Grundgesetz“ der „Stabilität“ verkörpere, die „die eigentliche Tendenz des Staates“ sei (Wagner, Über Staat und Religion, in: ders., Dichtungen und Schriften, hg. v. Dieter Borchmeyer, Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1983, S. 223f.). 125 Heinrich von Treitschke sieht es als großen Vorzug der Monarchie, daß sie nicht nur „wie keine andere Staatsform die politische Macht und die Einheit des Volkes sinnlich darzustellen vermag“, sondern auch, daß „die Frage: wer soll Herrscher sein? von vornherein entschieden“ sei (Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, Bd. 2, Leipzig 1898, S. 53 u. 67). 126 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 313.

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II. Staat und Herrschaft

Behauptung, es gebe im modernen Staat eine „Priorität des Charisma gegenüber dem Legalitätsglauben“,127 abwegig. Weber läßt überhaupt keinen Zweifel daran, daß der Legalitätsglaube den modernen Staat in erster Linie legitimiert. Die in der Literatur verbreitete Auffassung, er mache die legitimitätsstiftende Wirkung der legalen Herrschaft im Vergleich zu der der beiden anderen Typen nicht hinreichend plausibel, hat Stefan Breuer überzeugend widerlegt. Nicht weniger überzeugend hat er gezeigt, daß Weber „für die rationale Herrschaft sehr exakt die Bedingungen ihrer Wirksamkeit“ benennt, „während sie im Hinblick auf die beiden anderen Typen eher vage bleibt“.128 Ebenso selbstverständlich wie der Primat des Legalitätsglaubens im modernen Staat ist für Weber die Tatsache der Existenz charismatischer Elemente: entweder in Form charismatischer Revolutionen oder in Form des versachlichten, veralltäglichten und legalisierten Charisma. Die legal-rationale Herrschaft bedeutet für ihn allerdings nicht das Ende der Geschichte. Auch sie ist spezifischen Bedrohungen und Krisen ausgesetzt, die „die Zeit für charismatische Revolutionen reifen lassen“.129 Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist reich an Ereignissen, die seine Diagnose und Prognose bestätigen. Wenn Weber ausdrücklich klarstellt, daß „die drei Grundtypen der Herrschaftsstruktur nicht einfach hintereinander in eine Entwicklungslinie eingestellt werden können, sondern miteinander in der mannigfachsten Art kombiniert auftreten“,130 verbietet sich von vornherein eines der Lieblingsspiele der Weber-Exegeten, in die Herrschaftstypen eine evolutionäre Folge hineinzulesen131 und aus ihnen eine Geschichtsteleologie zu basteln. Man muß entweder seine Klarstellung bewußt ignorieren oder kann keine Kenntnis von ihr haben, wenn man Weber zum Geschichtsphilosophen machen will.

4. Von persönlicher zu unpersönlicher Herrschaft Ostelbien und der moderne Staat Die Herrschaftsstruktur des modernen Staates zeichnet sich durch eine Eigenschaft aus, die Max Weber zwar stets nur en passant nennt, aber ein erstrangiges Wesensmerkmal ist: die des unpersönlichen Charakters der Herrschaft.

——————— 127

Zängle, Max Webers Staatstheorie, S. 47. Breuer, Rationale Herrschaft, S. 16. 129 Weber, WuG, S. 154. 130 Weber, Herrschaft, S. 513 (WuG 669f.). 131 Stefan Breuer betont mit Recht, es sei ein grundlegendes Mißverständnis, die Herrschaftstypologie als unilineares Entwicklungsschema zu deuten (Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, S. 26). 128

4. Von persönlicher zu unpersönlicher Herrschaft

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Im Staat gehorcht man einer „legal gesatzten sachlichen unpersönlichen Ordnung“, ein Aspekt, der untrennbar mit dem der Legalität verknüpft ist, da man „dem Recht“ unterworfen ist.132 Gesetzesherrschaft und unpersönliche Herrschaft sind zwei Seiten derselben Medaille. Es herrschen Gesetze und nicht Personen. Wenn Weber andererseits vom Staat als einem „Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“ redet,133 also doch von einer durchaus persönlichen Struktur, scheint eine gewisse Inkonsistenz vorzuliegen. Vollkommen unpersönlich kann Herrschaft im modernen Staat jedenfalls nicht sein, wie der unorthodoxe Constantin Frantz betont, der die Figur der Gesetzesherrschaft rundweg ablehnt: „Nur Menschen können herrschen. Daß das Gesetz herrschen soll, wie man oft sagen hört, ist entweder ein ungenauer Ausdruck oder eine sinnlose Phrase.“134 Dieser ungenaue Ausdruck läßt sich allerdings präzisieren und damit der bei Weber scheinbar bestehende Widerspruch insoweit auflösen, als die Herrschaft des Gesetzes immer auch Herrschaft von Menschen über Menschen spiegelt bzw. nach sich zieht. Gesetzesherrschaft bringt bestehende Herrschaftsstrukturen ja nicht zum Verschwinden, sondern bedeutet nur, daß Herrschaft in einer spezifischen Weise ausgeübt wird: Wer Herrschaft ausübt, handelt aufgrund von Gesetzen oder im Namen des Gesetzes.135 Dieses Prinzip der unpersönlichen Gesetzesherrschaft, das Weber dem modernen Staat attestiert, hat als normative Forderung oder als empirische Feststellung das politische Denken seit der Antike beschäftigt und ist, wie Norberto Bobbio sagt, „one of the most significant and fascinating chapters in the evolution of political philosophy“.136 Platon preist in seinen Nomoi die Herrschaft unpersönlicher Gesetze,137 bei Hobbes erscheint die unpersönliche Gesetzesherrschaft als ‚Funktionsmodus‘ des Leviathan,138 und für Rousseau ist die Republik, die „rechtmäßige Regierung“, ein von Gesetzen regierter Staat.139

——————— 132

Weber, WuG, S. 124f. Weber, Politik als Beruf, S. 160 (PS 507). 134 Frantz, Die Naturlehre des Staates, S.185. 135 In diesem Sinne bereits Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 613. 136 Norberto Bobbio, The Future of Democracy, Cambridge 1987, S. 138. 137 Platon, Nomoi IV/7. Unter Webers Zeitgenossen weisen Georg Simmel, Soziologie, S. 230, Hugo Krabbe, Die moderne Staatsidee, Haag 1919, S. 15, und Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 613, auf die Bedeutung Platons hin. Jellinek meint, selbst die moderne Rechtsstaatstheorie eines Robert von Mohl, Friedrich Julius Stahl oder Rudolf Gneist habe Platons Lehre „kein neues Merkmal hinzugefügt“ (ebd.). 138 Das hat besonders eindringlich Carl Schmitt gezeigt (Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938, S. 99ff.). 139 Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1958, S. 66. Zum Verhältnis Weber/Rousseau vgl. J. G. Merquior, Rousseau and Weber: Two Studies in the Theory of Legitimacy, London 2006. 133

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II. Staat und Herrschaft

Zur Zeit Max Webers findet das Prinzip, daß der moderne Staat nur den „Gehorsam gegen die bestehenden Gesetze“ kenne,140 seinen engagiertesten Verfechter in dem holländischen Staatsrechtslehrer Hugo Krabbe, für den die moderne Staatsidee darin besteht, daß wir „jetzt nicht mehr unter der Herrschaft von Personen“ leben, „sondern unter der Herrschaft von Normen“.141 Die „Autorität des Staates“ und die „Autorität des Rechtes“ sind für ihn identisch, so daß „die Grundlage der Herrschaft des Staates mit der bindenden Kraft des Rechtes zusammenfällt“.142 Ein nicht minder engagierter Vertreter des Prinzips der unpersönlichen Herrschaft ist Georg Simmel, der „die Unterordnung unter ein Gesetz, das von unpersönlichen, unbeeinflußbaren Mächten exekutiert wird“, als konstitutives Merkmal der Moderne interpretiert.143 In der unpersönlichen Herrschaft erblickt er vor allem einen großen Freiheitsgewinn.144 Wie aber wertet Max Weber die unpersönliche Herrschaft? Den Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage bietet seine Ausarbeitung des ostelbischen Teils der vom Verein für Socialpolitik erhobenen Landarbeiterenquete, deren Resümee, in welchem er den Zerfallsprozeß der patriarchalischen Struktur Ostelbiens diagnostiziert, sich als herrschaftssoziologische Studie des Übergangs von persönlicher zu unpersönlicher Herrschaft lesen läßt.145 Ostelbien ist eine ‚verspätete Region‘, in welcher sich bis ins späte 19. Jahrhundert die patriarchalische Herrschaft der Junker erhalten hatte. Deren Machtstellung beruhte sowohl auf ihrer ökonomischen als auch auf ihrer politischen Macht, da sie die Funktion des Statthalters des Staates und Trägers der Staatsgewalt ausübten. Sie waren diejenigen, „in deren Hände der Staat die Handhabung der politischen Herrschaft, die Vertretung der militärischen und politischen Gewalt zu legen gewohnt war“.146 Weber spricht hier vom Staat, aber strenggenommen liegt in Ostelbien eine vorstaatliche Form politischer Herrschaft vor. Geht man von Webers Verständnis aus, kann hier nur schwerlich von einer abgeschlossenen Monopolisierung und Zentralisierung der Gewalt gesprochen werden, sondern

——————— 140 Joseph von Held, Grundzüge des Allgemeinen Staatsrechts, Leipzig 1868, S. 78. Er ist damit wohl der erste, der dieses Prinzip in der deutschen Staatslehre formuliert. 141 Krabbe, Die moderne Staatsidee, S. 9. 142 Ebd., S. 2. Krabbe hat allerdings Grund zu der Klage, daß sich dies „moderne“ Staatsverständnis noch nicht durchgesetzt habe: „Die Staatslehre hat von alledem nicht Notiz genommen; sie hat sich dauernd an die alte Obrigkeitsidee festgeklammert. ... Es fällt eben schwer, sich von dem durch eine Tradition von Jahrhunderten getragenen Begriff der persönlichen Gewalt und von der zu diesem Begriff passenden Terminologie zu befreien.“ (ebd., S. 10) 143 Simmel, Soziologie, S. 229. 144 Ebd., S. 210. 145 Weber, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland 1892. MWG I/3. 146 Weber, Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, in: GASW, S. 471.

4. Von persönlicher zu unpersönlicher Herrschaft

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lediglich von einem Gewaltoligopol, welches die Großgrundbesitzer gewissermaßen in Konzession ausübten. Der staatssoziologische Blick Max Webers richtet sich einerseits auf diese Verknüpfung von wirtschaftlicher Struktur und politischer Herrschaft, wenn er die ostelbische Agrarverfassung als „Abbild und Grundlage“ der „staatlichen Organisation“ wertet,147 und andererseits auf die mentalen Folgen der patriarchalisch-autoritären Herrschaft. Sie war „der Boden, auf welchem die psychologischen Voraussetzungen der militärischen Disciplin erwuchsen. Der militärische Gehorsam war dem an patriarchalische Leitung gewöhnten Bauernsohn und Landarbeiter des Ostens etwas Selbstverständliches, er gehörte zu seiner Lebenslust auch außerhalb der Kaserne“. Es sei eine alltägliche Erfahrung gewesen, „daß der Herr, wenn er befiehlt, im gemeinsamen Interesse aller, auch der Gehorchenden, kommandiert“.148 Ordnet man den hier vorliegenden Gehorsamstypus in Webers Herrschaftstypologie ein, wird nicht einer „sachlichen unpersönlichen Ordnung“149 gehorcht, sondern vielmehr dem persönlichen Befehl des Herrn. Die Legitimität dieser Ordnung beruht nicht auf dem Glauben an die Legalität der Ordnung, sondern auf dem Glauben an den Gemeinwohl-Charakter des Befehls. Weber schreibt über jene Ordnung im Imperfekt. Das Herrschaftsmodell, das er in Ostelbien beobachtet hat, ist in Auflösung begriffen: „Diese Organisation nähert sich, nachdem die feste Klammer das gemeinwirtschaftliche150 Interesse, welche sie zusammenhielt, gesprengt ist, dem Zerfall.“151 Die entscheidende Bedeutung des Legitimitätsmoments zeigt sich daran, daß die Ordnung zerfällt, nachdem jene feste Klammer einmal gesprengt ist. Weber redet hier zwar – noch – nicht von Legitimität, aber was er hier beschreibt, ist zweifellos als Zusammenbruch ihrer Geltung zu verstehen. Dies zieht zwangsläufig den Zerfall der Herrschaftsordnung nach sich. Damit wird auch die Rolle der Junker als Stellvertreter des sterblichen Gottes auf ostelbischen Erden hinfällig. Der Staat kann sich, wie Weber 1894 auf der Tagung des Evangelisch-sozialen Kongresses sagt, nicht „politisch dauernd auf einen Stand stützen, der selbst der staatlichen Stütze bedarf“.152

——————— 147

Weber, Die Lage der Landarbeiter, S. 915. Ebd., S. 915f. 149 Weber, WuG, S. 124. 150 So der Wortlaut in der Originalfassung. In der MWG-Edition (Weber, Die Lage der Landarbeiter, S. 916) heißt es fälschlicherweise „gemeinschaftliche“. 151 Weber, Die Lage der Landarbeiter, S. 916. – Paul-Ludwig Weinacht hat zu Recht moniert, daß Ostelbien in der 1. Aufl. meines Buchs noch historisch schief als „Auslaufmodell des modernen Staates“ bezeichnet wird (Weinacht, in: Histor. Jahrbuch 118 (1998), S. 374f.). 152 Weber, Die deutschen Landarbeiter (1894), in: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. MWG I/4, S. 342. 148

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II. Staat und Herrschaft

Statt der Kategorie der Legitimität, die der junge Weber noch nicht verwendet, akzentuiert er zwei andere Gesichtspunkte des Zerfalls der ehedem festgefügten ostelbischen Ordnung. Zum einen betrachtet er in ökonomischer Hinsicht das Vordringen des Kapitalismus, der die überkommene agrarische Produktionsweise und Großgrundbesitzstruktur beiseite fegt und damit nicht nur das einst festgeknüpfte Herrschaftsverhältnis zwischen Großgrundbesitzern und Landarbeitern auflöst, sondern auch zur Folge hat, daß die Löhne fallen, die Landarbeiterschaft verelendet, billige polnische Arbeitskräfte die einheimischen verdrängen und Klassenkämpfe unausweichlich werden.153 Zum anderen sieht er eine „psychologische“ Ursache für die Auflösung der alten Struktur, und dieser Gesichtspunkt berührt unmittelbar unser Thema der unpersönlichen Herrschaft. Als „ausgeprägteste Tendenz“ der Landarbeiter wertet er den Willen zur „Loslösung aus der patriarchalischen Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft um jeden Preis“: die Tendenz zur „Unabhängigkeit von dem persönlichen Herrschaftsverhältnis“, eine Entwicklung, der „ein scharf individualistischer Zug zu Grunde liegt“.154 Hier berührt Weber zum ersten Mal das Thema der Entwicklung von persönlicher zu unpersönlicher Herrschaft. Dieses Thema, das aus seinen frühen agrarpolitischen Studien erwächst, spiegelt sich auch in seinen frühen betriebssoziologischen Betrachtungen, wenn er als „Charakteristikum der modernen Entwicklung“ in der Großindustrie den „Wegfall der persönlichen Herrschaftsverhältnisse“ sieht, an deren Stelle die „unpersönliche Herrschaft“ trete.155 Diesen Gesichtspunkt macht er später in allgemeiner herrschafts- und staatssoziologischer Perspektive fruchtbar. Ostelbien bietet als verspätete Region, in der sich bis ins späte 19. Jahrhundert patriarchalisch-autoritäre Strukturen erhalten hatten, eine Gelegenheit, den Wandel von persönlicher zu unpersönlicher Herrschaft exemplarisch zu studieren. Max Weber steht diesem Prozeß – damit kommen wir auf unsere Fragestellung zurück – unverhohlen skeptisch gegenüber. Im Willen zur Unabhängigkeit von persönlicher Herrschaft komme nur „der gewaltige und rein psychologische Zauber der ‚Freiheit‘“ zum Ausdruck, bei der „es sich um eine grandiose Illusion“ handele.156 „Freiheit“ kann sich der junge Weber nur in Anführungszeichen denken. Um so mehr ist hier ein Ordnungsdenken zu spüren, welches fast melancholisch den unabwendbaren Zerfall einer alten Ordnung diagnostiziert, an deren Stelle keine bessere neue Ordnung tritt. Weder hier noch an irgendeiner anderen Stelle seines Werks kann man eine positive Bewertung unpersönlicher Herrschaft erkennen. Vielmehr hat es den Anschein, als ob

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Weber, Die Lage der Landarbeiter, S. 914. Ebd., S. 919. 155 Weber, Was heißt Christlich-Sozial? (1894), in: MWG I/4, S. 356. 156 Weber, Die Lage der Landarbeiter, S. 920. 154

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er die persönliche Herrschaft eher idealisiert: Das „Steuer des Reiches“ habe, wie er auf Bismarck anspielt, „fast ein Menschenalter lang in der Hand eines gewaltigen Großgrundbesitzers“ gelegen, und „alle glänzenden Eigenschaften, welche die ererbte Kunst des Herrschens über Land und Leute zeitigt, vereinigen sich in dieser Persönlichkeit“.157 Daß Max Weber auch von dem „Schatten“ dieser Persönlichkeit redet, kann den Tenor seines Loblieds auf die „Kunst des Herrschens“, die immer die Kunst des persönlichen Herrschens ist, nicht beeinträchtigen.

5. Demokratie und Bürokratie im modernen Staat Penthesilea wäre nie geschrieben, wenn darüber abgestimmt worden wäre; Strindberg, Nietzsche, Greco nie erschienen. Gottfried Benn

Vor dem Hintergrund der herrschaftsbezogenen Staatsauffassung Max Webers ist auch seine Bewertung einer Frage zu sehen, der sich jede moderne Staatstheorie zu stellen hat: der Frage des Verhältnisses von Staat und Demokratie. Diese Beziehung kann für Weber nur eine spannungsgeladene sein, ist für ihn doch der Staat ein „Herrschaftsverhältnis“, die Demokratie hingegen eine „Minimisierung der Herrschaftsgewalt“.158 Daß zwischen seinem Demokratie- und seinem Staatsbegriff eine potentielle Spannung besteht, hat Richard Thoma zwar schon in den neunzehnhundertzwanziger Jahren erkannt,159 aber bisher hat niemand die Frage des Verhältnisses von Staat und Demokratie bei Weber befriedigend beantwortet, obwohl sein Demokratieverständnis oft untersucht wurde.160 Daher wird drei Fragen im folgenden nachzugehen sein:

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Ebd., S. 928. Weber, Herrschaft, S. 204 (WuG 568). Analog versteht er Demokratisierung als „Minimisierung der ‚Herrschaft’“; ebd., S. 196 (WuG 565). 159 Richard Thoma, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: Melchior Palyi (Hg.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. II, München/Leipzig 1923, S. 37-64. Seine Feststellung, Staatslehre und Soziologie hätten es bei der Analyse der Staatlichkeit „nahezu ausschließlich mit ‚Demokratien‘ zu tun“, was eine Klärung des Demokratiebegriffs notwendig mache (ebd., S. 39), ist nach wie vor zutreffend: „Es gibt heute kaum noch einen Staat auf der Welt, der sich nicht als Demokratie bezeichnen wollte.“ (Karl D. Bracher, Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 51) Nach den osteuropäischen Revolutionen von 1989/1990 gilt dies mehr denn je. 160 Besonders eindringlich und nach wie vor grundlegend von Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 418ff. und 447ff. – Vgl. ferner Jean-Marie Vincent, Max 158

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Wie ist die Anatomie dieser Spannung beschaffen? Welche Bedeutung hat Webers Staatsauffassung für sein Demokratieverständnis? Und: Welche Rolle spielt die Demokratie in seiner Staatstheorie? Eine ausformulierte Demokratietheorie gibt es bei Weber ebenso wenig wie eine ausgearbeitete Staatstheorie. Seine Bemerkungen zur Demokratie sind bekanntlich alles andere als euphorisch. Er hält Demokratie in ihrem Wortsinn als Herrschaft des Volkes für eine Illusion; „der Demos im Sinn einer ungegliederten Masse ‚verwaltet‘ in größeren Verbänden nie selbst, sondern wird verwaltet und wechselt nur die Art der Auslese der herrschenden Verwaltungsleiter und das Maß von Beeinflussung“.161 Das Volk herrsche in einem großen Staat nie selbst, sondern werde beherrscht und habe nur die Chance, den Modus des Herrschens zu bestimmen und die Regierenden auszuwechseln. Eine „echte Demokratie“ sei nur „in den kleinen Staaten“ möglich, „wo die Mehrzahl der Bürger einander noch kennt oder kennenlernen kann“ und wo „wenigstens die Verwaltung so von jedem übersehen werden kann, wie in einer mittelgroßen Stadt“. Im „Massenstaat“ hingegen, wo die Verwaltung eine anonyme Maschine sei, wandele sich dies „bis zur Unkenntlichkeit“ – hier herrsche nur noch die Bürokratie.162 Diese skeptische Position ist sicherlich nicht nur als allgemeine staatssoziologische Diagnose, sondern auch als Beschreibung des Staates seiner Gegenwart zu verstehen. Max Weber führt nicht nur die Figur der Herrschaft des Volkes ad absurdum, sondern geht noch einen Schritt weiter, wenn er auch den Willen des Volkes zu einer Illusion erklärt. Dies kommt in einem Brief an Robert Michels zum Ausdruck: „Solche Begriffe wie ‚Wille des Volkes‘, ‚wahrer Wille des Volkes‘ u.s.w. existieren für mich schon lange nicht mehr. Sie sind Fiktionen.“163 Der Urteilskraft jener Masse, die zwar nicht herrscht, aber immerhin den Modus des

——————— Weber ou la démocratie inachevée, Paris 2009; Christoph Schönberger, Max Webers Demokratie, in: Anter/Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie, S. 157-173; Andreas Anter, Max Weber und die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, in: Karl-Ludwig Ay/Knut Borchardt (Hg.), Das Faszinosum Max Weber, Konstanz 2006, S. 353-373; Ferraresi, Il fantasma della comunità, S. 418ff.; Steven Pfaff, Nationalism, Charisma, and Plebiscitary Leadership: The Problem of Democratization in Max Weber’s Political Sociology, in: Sociological Inquiry 72 (2002), S. 81-107; Alan Scott, Capitalism, Weber and Democracy, in: Max Weber Studies 1 (2000), S. 33-55; Stefan Breuer, The Concept of Democracy in Weber’s Political Sociology, in: Ralph Schroeder (Hg.), Max Weber, Democracy and Modernization, New York 1998, S. 1-13; Sven Eliaeson, Max Weber and Plebiscitary Democracy, in: Schroeder (Hg.), Max Weber, S. 47-60; Peter Breiner, Max Weber & Democratic Politics, Ithaca, NY 1996, S. 158ff. 161 Weber, Herrschaft, S. 203 (WuG 568). 162 Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1916), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 191 (PS 175f.). 163 Weber, Brief an Robert Michels, 4. August 1908, in: Briefe 1906-1908. MWG II/5, S. 615.

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Beherrschtseins bestimmt, stellt er kein günstiges Zeugnis aus: „Die ‚Masse‘ als solche ... ‚denkt nur bis übermorgen‘. Denn sie ist, wie jede Erfahrung lehrt, stets der aktuellen rein emotionalen und irrationalen Beeinflussung ausgesetzt.“164 Die Standpunkte, die er hier bezieht, knüpfen an klassische demokratie-skeptische Argumente an: Daß es kaum etwas „Schwankenderes als den Ocean des Volkswillens“ gebe,165 ist ein verbreiteter Topos in der zeitgenössischen Staatslehre, die schließlich „an die Realität einer volonté générale nicht mehr zu glauben“ vermag.166 Wie Weber kann auch Rathenau nur zu dem Schluß kommen, die Demokratie sei „als reiner Begriff unmöglich“, da das Volk niemals Herrschaft ausüben, sondern sie nur delegieren könne.167 Die contradictio in adjecto, die dem Begriff der Demokratie innewohne, formuliert Treitschke wohl am klarsten: „Herrschen bedeutet doch, daß Beherrschte da sind“, argumentiert er sophistisch, „wenn aber alle herrschen sollen, wo sind da die Beherrschten?“168 Für Max Weber ist selbstverständlich, „daß gerade die großen Entscheidungen der Politik, auch und gerade in der Demokratie, von Einzelnen gemacht werden“.169 Diese Position läßt zweifellos Züge eines aristokratischen Politikverständnisses erkennen, wie es vor allem bei Nietzsche hervortritt, der Webers Staatsdenken, wie wir weiterhin sehen werden, erheblich beeinflußt hat. Aber hinsichtlich der Demokratie besteht nur eine geringe Affinität zwischen den beiden großen heroischen Realisten. Vergeblich würde man bei Weber die Polemik eines Nietzsche suchen, der die „demokratische Idiosynkrasie gegen alles, was herrscht und herrschen will“, für eine ausgemachte Dummheit hält,170 die moderne Demokratie als „die historische Form vom Verfall des Staates“ verachtet,171 die demokratische Bewegung als bloße „Vermittelmäßigung“ verspottet172 und gegen „Rousseaus leidenschaftliche Torheiten und Halblügen“ sein „Écrasez l’infâme!“ ruft.173 In einem entscheidenden Punkt steht Weber vielmehr dem großen Vordenker der modernen Demokratie wesentlich näher als dessen schärfstem Kritiker,

——————— 164 Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 549 (PS 404). 165 Frantz, Die Naturlehre des Staates, S. IX. 166 Heller, Die Souveränität, S. 64. 167 Walther Rathenau, Von kommenden Dingen, Berlin 1917, S. 296. 168 Treitschke, Politik, Bd. 2, S. 15. 169 Weber, Parlament und Regierung, S. 540 (PS 395). 170 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 819. 171 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, 9. Aufl. München 1982, Bd. I, S. 682. 172 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), ebd., Bd. II, S. 661. 173 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 677.

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macht er sich doch genau die relativierende Position zu eigen, die Rousseau bereits vertritt: daß es im strengen Wortsinn „noch nie eine wahre Demokratie gegeben“ habe, „es auch nie geben“ werde, und wenn, dann nur in kleinen Staaten.174 Dieser quantitative Gesichtspunkt spielt auch bei Weber eine entscheidende Rolle. Je größer der Staat, desto geringer die Chancen für Demokratie; so könnte man seine Haltung zusammenfassen, die keineswegs, wie es etwa Carl Schmitt mustergültig vorgeführt hat, das Ideal gegen die Wirklichkeit ausspielt. Weber wird durch seine Skepsis gegenüber dem Willen des Volkes, die ihn allerdings grundsätzlich von Rousseau unterscheidet, nicht zu einer antidemokratischen Position geführt, sondern zu einem Versuch, einen angemessenen Demokratiebegriff zu entwickeln, der den Bedingungen des Staates im 20. Jahrhundert gerecht wird und elementaren herrschaftssoziologischen Tatbeständen Rechnung trägt. Sein Denken von Staat und Demokratie ist Denken im Angesicht von Herrschaft. Das, was er über den Staat sagt, gilt nicht minder für die Demokratie: Sie ist für ihn ein Herrschaftsverhältnis. Damit leistet Max Weber einen Beitrag dazu, ein altes Problem zu entparadoxieren. Darüber hinaus nimmt er bereits neuere Positionen vorweg. So ist die Demokratie für Niklas Luhmann eben nicht „Herrschaft des Volkes über das Volk“, also „kurzgeschlossene Selbstreferenz der Herrschaft“, geschweige denn „Aufhebung von Herrschaft“.175 Darüber ist Weber sich bereits im klaren. Er legt einen theoriegeschichtlichen Meilenstein auf dem Weg zu einem herrschaftssoziologisch fundierten und realistischen Demokratiebegriff und ist zugleich einer der Wegbereiter des heutigen Demokratieverständnisses. Er hat unverkennbar die Definition Joseph A. Schumpeters beeinflußt, die Demokratie bedeute nicht, daß das Volk selbst Herrschaft ausübt, sondern „nur, daß das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen“.176 Fast gleichlautend und noch lakonischer definiert Karl Popper die Demokratie als die Staats-

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Rousseau, Contrat Social, III/4 (in der dt. Ausgabe, Der Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1958, S. 105). Genau diese Haltung vertritt auch Montesquieu, der die Herrschaft des Volkes für „impossible dans les grandes États“ hält (Montesquieu, De l’Esprit des Lois, XI/6, Paris 1956, S. 116). 175 Niklas Luhmann, Die Zukunft der Demokratie, in: Der Traum der Vernunft. Vom Elend der Aufklärung. Eine Veranstaltungsreihe der Akademie der Künste Berlin. Zweite Folge, Darmstadt/Neuwied 1986, S. 208. 176 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946, S. 452. Er hat seinerseits die demokratietheoretische Diskussion der Nachkriegszeit nachhaltig geprägt. Sein Originalitätsanspruch, eine neue Demokratietheorie entwickelt zu haben (ebd., S. 427ff.), die er gegen das ‚klassische‘ Demokratiemodell wendet, welches der politischen Realität der Massendemokratie nicht mehr gerecht werde, muß allerdings angesichts der Weberschen Positionen relativiert werden.

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form, in der es möglich ist, die Regierung loszuwerden.177 Wie für Weber, so hat auch für den großen Kritischen Rationalisten der Wortsinn der Volksherrschaft nicht viel zu bedeuten, da nirgends das Volk herrsche – aber dafür überall die Bürokratie.178 Max Webers Verhältnisbestimmung von Staat und Demokratie, die als Rüstzeug so emphatischer Demokraten wie Josef Schumpeter oder Karl Popper dient, kann sicherlich auch als herrschende Meinung in der heutigen Staatslehre und politischen Publizistik eingestuft werden.179 Max Weber ist allerdings „ein Demokrat ganz besonderer Art“.180 Er ist einer der engagierten Streiter für den parlamentarischen Verfassungsstaat und einer der geistigen Mentoren der deutschen Demokratie, er zählt die Demokratie zu seinen „politischen Werten“181 und bekennt sich nach der Novemberrevolution dazu, „die demokratischen Errungenschaften dauernd sichern helfen“ zu wollen.182 Wie Tocqueville183 ist er ein zögernder Demokrat, der sich erst spät vom überzeugten Monarchisten zum Demokraten wandelt, aber dabei die Demokratie nicht im emphatischen Sinne liebt. Max Weber liebt nicht die Demokratie, sondern Marianne, Mina und Else. Und natürlich seine Nation. Er bekennt, ihm sei die Demokratie „niemals Selbstzweck gewesen“, ihn interessiere allein die „Möglichkeit einer sachlichen nationalen Politik“,184 „die deutsche Nation“ stehe für ihn „turmhoch über allen Fragen der Staatsform“,185 ja ihm sei die

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Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, Bern 1957, S. 174. Popper, Zur Theorie der Demokratie, in: Der Spiegel, 3. Aug. 1987, S. 54f. 179 Auch Politiker wollen hier nicht abseits stehen. Inwieweit die Macht der Theoretiker Einfluß auf die praktische Politik nimmt, ist naturgemäß schwer festzustellen. Helmut Schmidt jedenfalls bewunderte während seiner Amtszeit Max Weber als einen „der wichtigsten politikwissenschaftlichen Lehrer“ und als einen „der ersten Vertreter einer demokratischen Staatsphilosophie in Deutschland“ (Schmidt, Gesinnung und Verantwortung in politischer Sicht (1978), in: ders., Politik mit Augenmaß, Bonn o. J., S. 7f.). In Popper hatte er seinen Lieblingsphilosophen gefunden. An die Folgen dieser Verehrung erinnert sich ein Parteivorstandsmitglied: „Ich sage nur: Popper. Wissen Sie noch, wie er seinerzeit Popper entdeckt hat? Drei Monate lang mußten wir uns das anhören. The Poverty of Historicism, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Und nicht nur das! Ich erinnere mich noch genau, wie er das ganze Kabinett mit dem Unvollständigkeits-Theorem gepeinigt hat. Bei uns hat er, mitten in der Sitzung, es ging um Personalfragen, plötzlich behauptet, Wehners Einwand sei unsinnig, weil nicht falsifizierbar. Wehner war so verblüfft, daß ihm die Pfeife ausging.“ (Hans Magnus Enzensberger, Unregierbarkeit. Notizen aus dem Kanzleramt, in: ders., Politische Brosamen, Frankfurt a. M. 1985, S. 110) 180 Edward Shils, Max Weber und die Welt seit 1920, in: Mommsen/Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen/Zürich 1988, S. 765. 181 Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten, S. 191 (PS 175). 182 Weber, Deutschlands künftige Staatsform, S. 145 (PS 482). 183 Dazu instruktiv Pierre Manent, Tocqueville et la nature de la démocratie, Paris 2006. 184 Weber, Das preußische Wahlrecht (1917), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 234. 185 Weber, Parlament und Regierung, S. 591 (PS 439). 178

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Staatsform „völlig Wurst“, da Staatsformen für ihn nur „Techniken wie jede andere Maschinerie“ seien.186 Seine Bekenntnisse zur Demokratie stehen meistens unter dem Primat pragmatischer Prämissen. Wenn er sich für die Demokratie stark macht, sind dafür entweder nationale Werte oder staatstechnische Motive ausschlaggebend.187 Seine wegwerfende Gebärde gegenüber der alt-ehrwürdigen Frage der Staatsform könnte sich auf den berühmten Vers Alexander Popes berufen: „For Forms of Government let fools contest; Whate’er is best adminster’d is best.“188 Dieser Vers, der in der Staatslehre und politischen Philosophie seit zweihundert Jahren präsent ist189 und den Max Weber mit Sicherheit kannte, könnte als Motto über seinen Erörterungen zur Frage der Staatsform stehen. Auch er läßt über Staatsformen lieber Narren streiten und hält die Staatsform für die beste, die die beste Verwaltung hat. Trotz der spöttischen Kritik, der die Staatsformenlehre bereits im 18. Jahrhundert ausgesetzt ist, bleibt diese allerdings noch in den folgenden zweihundert Jahren ein Lieblingskind der Staatslehre und Politischen Wissenschaft. So will Arthur F. Bentley 1908 eine „tote Politische Wissenschaft“ wiederbeleben, die sich in der Staatsformenlehre erschöpfe und es liebe, die Staaten nach zufälligen Merkmalen einzuteilen, um sie schließlich doch nicht anders klassifizieren zu können, als Aristoteles’ Modell abzukupfern.190 Der Bruch Max Webers mit der gängigen Staatsformenlehre wird also zur gleichen Zeit auch in der amerikanischen Politikwissenschaft vollzogen, und seine technische Beurteilung der Frage der Staatsform findet ihr Pendant in der Auffassung Arthur F. Bentleys, daß die Unterschiede zwischen den Staatsformen lediglich rein technischer Art seien.191

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Weber, Brief an Hans Ehrenberg, 16. Juli 1917, in: MWG II/9, S. 709. Etwa Weber, Deutschlands künftige Staatsform, S. 99f. (PS 449). Zum Verhältnis von Nation und Demokratie siehe unten Kap. IV. 2. 188 The Works of Alexander Pope, Bd. II, London 1764, S. 79. In der deutschen Übersetzung von 1783: „Laß um Regierungsformen Thoren streiten,/ Die, welche recht verwaltet wird, ist recht“ (Pope, Versuch über den Menschen, Hamburg 1783, S. 46). 189 Joseph von Sonnenfels, Gesammelte Schriften, Bd. VII, Wien 1785, S. 91, stimmt Popes Vers zu. David Hume dagegen steht ihm eher skeptisch gegenüber (Hume, Daß Politik sich auf eine Wissenschaft reduzieren lasse, in: ders., Politische und ökonomische Essays, hg. v. Udo Bermbach, Hamburg 1988, S. 7). Kant, der sich allerdings auf die etwas irreführende Version Mallet du Pans bezieht, hält ihn sogar für „grundfalsch“ (Kant, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. VI, S. 208). Für Karl Heinzen ist der Spruch vollends „eine politische Lüge“ (Die Preußische Büreaukratie, Darmstadt 1845, S. 67). 190 Arthur F. Bentley, The Process of Government. A Study of Social Pressures, Chicago 1908, S. 162: „we have a dead political science... It loves to classify governments by incidental attributes, and when all is said and done it cannot classify them much better now than by lifting up bodily Aristotle’s monarcies, aristocracies, and democracies“. 191 Ebd., S. 320: „the differences between governments are ... strictly differences of technique“. 187

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Max Webers herrschaftsbezogenes Verständnis der Demokratie ist untrennbar mit einer weiteren staatssoziologischen Größe verbunden: der Bürokratie. Wenn er von Demokratie spricht, erscheint die Bürokratie stets als ihr fast unvermeidlicher Schatten, als ihre Zwillingsschwester und Antagonistin zugleich. Da im modernen Staat die „wirkliche Herrschaft“ in den Händen der Bürokratie liege,192 und damit dem ‚Willen des Volkes‘ entzogen ist, müssen Demokratie und Bürokratie, zumindest begrifflich, eigentlich zwangsläufig Feindinnen sein. Tatsächlich aber ist historisch-empirisch das Gegenteil der Fall: daß nämlich die Bürokratie die „unvermeidliche Begleiterscheinung der modernen Massendemokratie“ ist.193 Sie entstehen gemeinsam und bedingen sich gegenseitig. Da der Prozeß der Demokratisierung und der Durchsetzung von Sozialstaatlichkeit die Ansprüche an die staatliche Verwaltung steigert und damit eine Vergrößerung und Differenzierung des Verwaltungsapparats erforderlich macht, wird zwangsläufig die Bürokratisierung gefördert und die Herrschaft der Bürokratie gefestigt. So ist für Weber vollkommen klar, daß die Bürokratisierung des Staates „überall der unentrinnbare Schatten der vorschreitenden ‚Massendemokratie‘ ist“.194 Hier ist erneut der Aspekt des Quantitativen von ausschlaggebender Bedeutung: „Die moderne Demokratie wird überall, wo sie Großstaatdemokratie ist, eine bureaukratisierte Demokratie.“195 Er wird nicht müde, auf das Spannungsverhältnis zu verweisen, „daß die ‚Demokratie‘ als solche trotz und wegen ihrer unvermeidlichen, aber ungewollten Förderung der Bürokratisierung Gegnerin der ‚Herrschaft‘ der Bürokratie ist und als solche unter Umständen sehr fühlbare Durchbrechungen und Hemmungen der bürokratischen Organisation schafft“.196 Welche „Umstände“ aber sind das? Und welche „Durchbrechungen und Hemmungen“ sind hier möglich? Es sind, prüft man das Werk Max Webers daraufhin, sehr wenige: „Gegenüber der nivellierenden unentrinnbaren Herrschaft der Bürokratie ... ist das Machtmittel des Wahlzettels nun einmal das einzige, was den ihr Unterworfenen ein Minimum von Mitbestimmungsrecht über die Angelegenheiten jener Gemeinschaft ... überhaupt an die Hand geben kann.“197 Aufschlußreich sind in dieser Hinsicht zwei Fragestellungen Max Webers, die unmittelbar das Verhältnis von Staat, Demokratie und Bürokratie berühren. Die erste lautet: Wie kann man die „ungeheure Übermacht“ der Bürokratie „in

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Weber, Parlament und Regierung, S. 450 (PS 320). Weber, Herrschaft, S. 201 (WuG 567). 194 Weber, WuG, S. 130. 195 Weber, Der Sozialismus (1918), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 606. 196 Weber, Herrschaft, S. 213 (WuG 572). 197 Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 213 (PS 268). 193

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Schranken halten und wirksam kontrollieren“? Und die zweite: Wie ist Demokratie „überhaupt möglich“?198 Im Licht dieser Fragestellungen ist sein Plädoyer für die „plebiszitäre Führerdemokratie“ zu sehen, in der er das Instrument erblickt, einerseits die machthungrige Bürokratie zu kontrollieren und andererseits die Auslese politischer Führer zu institutionalisieren.199 Mit dieser Konzeption schlägt er gewissermaßen drei Fliegen mit einer Klappe. Sie soll erstens die Demokratie stärken, zweitens die Bürokratie in Schach halten und drittens sowohl Führungskraft garantieren als auch Führerauslese sichern. Das dritte Motiv hat zweifellos eine polemische Stoßrichtung gegen die wilhelminischen Verhältnisse, gilt doch Webers Kritik am ‚persönlichen Regiment‘ Kaiser Wilhelms II. insbesondere dessen Führungsunfähigkeit. Daher ist das Konzept der plebiszitären Führerdemokratie eben nicht nur ein Gegenentwurf zur führerlosen Demokratie, sondern mehr noch ein Gegenentwurf zur führerlosen Monarchie.200 Max Weber steht mit seiner Kritik nicht allein, sondern in der Gefährtenschaft zweier Denker, mit denen ihn nicht nur in dieser Angelegenheit eine Affinität verbindet. Walther Rathenau beklagt die Abwesenheit von „Richtkraft“ und „das Fehlen führender Menschen“ im postbismarckschen „soldatisch überkräftigen Machtstaat“.201 Auch Hugo Preuß diagnostiziert, es gebe „in unserm öffentlichen Leben vielleicht nur einen Punkt, über den eine vollkommene Einstimmigkeit herrscht“, und das sei „der verblüffende Mangel an politischen Führern großen Stils in Deutschland“.202 Vertraut man diesem Urteil, dann befände sich auch Max Weber in seltener ‚vollkommener Einstimmigkeit‘ mit der öffentlichen Meinung seiner Zeit. Auf der Suche nach einem positiven Gegenentwurf zur Führerlosigkeit richtet sich sein Blick nach Westen: auf sein Vorbild und Ideal der englischen De-

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Weber, Parlament und Regierung, S. 465 (PS 333). Ebd., S. 547ff. (PS 401ff.). Zur plebiszitären Führerdemokratie siehe Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 198ff., 416ff.; Andreas Anter, Die westdeutsche MaxWeber-Diskussion und die Begründung der parlamentarischen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Christoph Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie, Berlin 2010, S. 257-273 (262ff.); Jeffrey Edward Green, Max Weber and the Reinvention of Popular Power, in: Max Weber Studies 8 (2008), S. 187-224; Ferraresi, Il fantasma della comunità, S. 418ff.; Pfaff, Nationalism, Charisma, and Plebiscitary Leadership, S. 81-107; Eliaeson, Max Weber and Plebiscitary Democracy, S. 47-60; David Beetham, Max Weber and the Theory of Modern Politics, 2. Aufl. Cambridge 1991, S. 226ff. 200 Es ist schwer begreiflich, wie man zu der Behauptung kommen kann, Webers Konzept der plebiszitären Führerdemokratie beruhe auf einer „in spezifischem Sinn unpolitischen Wahrnehmung“. So aber Ernst Vollrath, Max Weber: Sozialwissenschaft zwischen Staatsrechtslehre und Kulturkritik, in: PVS 31 (1990), S. 102-108 (105f.). 201 Walter Rathenau, Von kommenden Dingen, Berlin 1917, S. 323. Er empfiehlt sich hier unüberhörbar selbst als einen solchen ‚führenden Menschen‘, der er auch zweifellos war. 202 Hugo Preuß, Zum sechzigsten Geburtstag Theodor Barths (1909), in: ders., Staat, Recht und Freiheit, Tübingen 1926, S. 550-554 (551). 199

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mokratie, die nicht nur große politische Führerpersonen hervorgebracht habe, sondern auch die Grundlage für Englands erfolgreiche Weltpolitik sei.203 Sein Plädoyer für parlamentarische Führerauslese als Grundlage effektiver und machtvoller Weltpolitik ist sicherlich auch als Versuch zu lesen, Teile des konservativ-nationalen Bürgertums für die parlamentarische Demokratie zu gewinnen, ein Versuch, der jedoch kaum auf große Gegenliebe hoffen durfte, nicht nur aufgrund der antidemokratischen Konstitution jener Teile des Bürgertums, sondern auch aufgrund der Tatsache, daß es 1918 mit einer machtvollen deutschen Weltpolitik, der eine Führerauslese hätte dienen können, – vorerst – vorbei war. Das englische Vorbild ließ sich nur bedingt auf die deutschen Verhältnisse übertragen, und die erste deutsche Demokratie blieb eine ungeliebte Demokratie, der auch nur eine kurze Lebensdauer beschieden war. Darüber hinaus hat die Konstruktion der „plebiszitären Führerdemokratie“ Schwachstellen: Das Problem, daß ein Führer auf Zeit sich zum Führer auf Dauer machen und die demokratischen Spielregeln außer Kraft setzen kann, wird von Weber nur mit der Bemerkung thematisiert, das Parlament müsse den Führer kontrollieren und ihn gegebenenfalls abberufen, „wenn er das Massen-Vertrauen verloren hat“.204 Auch wenn man in Rechnung stellt, daß Weber keine ausgefeilte verfassungsrechtliche Konstruktion entwickeln will und seine Aussagen fragmentarisch und skizzenhaft bleiben, kann seine Konzeption nicht überzeugen.205

——————— 203 Ein schönes literarisches Zeugnis dieser Verehrung überliefert Berta Lasks autobiographischer Roman Stille und Sturm (Halle 1955), wo Max Weber verschlüsselt als Max Wormann auftritt und auf einer Silvesterfeier des Jahres 1900 im Haus seines Freundes Reichwaldt (alias Heinrich Rickert) von der englischen Demokratie schwärmt, gegen seinen Lieblingsfeind Kaiser Wilhelm II. polemisiert, sich an der Spitze der Nation die Führerpersönlichkeit eines „großen Demokraten“ wünscht (Bd. 1, S. 243) und 1914 eine Vision der „Demokratisierung Deutschlands nach englischem Muster“ entwirft (Bd. 1, S. 535). Dazu Andreas Anter, Männer mit Eigenschaften. Max Weber, Emil Lask und Georg Simmel als literarische Figuren in Berta Lasks Roman „Stille und Sturm“, in: Literaturmagazin 30 (1992), S. 156-169. 204 Weber, Parlament und Regierung, S. 540 (PS 395). 205 Die Frage, ob die Konzeption eine Wegbereiterin des Führerstaates bzw. zu wenig resistent gegenüber einer totalitären Umdeutung war, sorgte Anfang der sechziger Jahre, aufgeworfen durch die Thesen in Wolfgang J. Mommsens Dissertation, für heftigen Streit. Vgl. Karl Loewenstein, Max Weber als „Ahnherr“ des plebiszitären Führerstaats, in: KZfSS 13 (1961), S. 275ff.; Ernst Nolte, Max Weber vor dem Faschismus, in: Der Staat 2 (1963), S. 1ff.; und die Repliken von Mommsen, Zum Begriff der ‚plebiszitären Führerdemokratie‘ bei Max Weber, in: KZfSS 15 (1963), S. 295ff., sowie ders. Max Weber und die deutsche Politik, S. 442ff. – Max Weber auch nur in die Nähe eines Wegbereiters des Führerstaates zu bringen ist aus zwei Gründen absurd: Erstens gibt es keine Entwicklungslinie von Weber zu nationalsozialistischen Theoretikern; keiner von ihnen beruft sich auf ihn; die Weber-Rezeption reißt 1933 in Deutschland ab. Auch der Verweis auf Carl Schmitt, der in der Kontroverse oft genug laut wurde, geht ins Leere, da die plebiszitäre Führerdemokratie bei Schmitt weder vor noch nach 1933 irgendeine Rolle spielt und seine Wende zum Nationalsozialisten auch eine Wende gegen Weber nach sich zieht. Zweitens ist Webers Konzeption generell mit nationalsozialistischer Idee und Praxis inkompatibel, handelt es sich bei ihr doch um eine demokratische Konzeption, und mit Demokratie hatten die Nationalsozialisten bekanntlich nichts im Sinn.

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II. Staat und Herrschaft

Wollte man Max Webers Verhältnisbestimmung von Staat, Demokratie und Bürokratie auf eine Formel bringen, so ist die Demokratie für ihn ein Problem, die Bürokratie hingegen das Schicksal des modernen Staates.206 Er hat mit seinen Positionen zur Beziehung von Demokratie und Bürokratie die entscheidenden theoretischen Grundlagen gelegt, die auch heute noch die Diskussion zu dieser Beziehung prägen.207 Mit Weber resümierte bereits Norberto Bobbio: „All states which have become more democratic, have simultaneously become more bureaucratic, because the process of bureaucratization is to a great extend the consequence of the process of democratization“ – ein Prozeß, den Max Weber klar vorhergesehen habe.208 Die Gefährdungen der Demokratie bestehen nach wie vor.209 Und der Tenor der heutigen Literatur ist immer noch der Max Webers: Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.

——————— 206 In diesem Sinne argumentiert Pier Paolo Portinaro, Max Weber. La democrazia come problema e la burocrazia come destino, Milano 1987, bes. S. 53ff. 207 Vgl. Enrico Peuker, Bürokratie und Demokratie in Europa, Tübingen 2011; Eva Etzioni-Halevy, Bureaucracy and Democracy: A Political Dilemma, 2. Aufl. London 2009; William T. Gormley/Steven J. Balla, Bureaucracy and Democracy: Accountability and Performance, 2. Aufl. Washington 2008; Schönberger, Max Webers Demokratie, S. 157-173; Kenneth J. Meier/Laurence J. O’Toole, Bureaucracy in a Democratic State: A Governance Perspective, Baltimore 2006, S. 21ff., 45ff.; Michael Reed, Beyond the Iron Cage? Bureaucracy and Democracy in the Knowledge Economy and Society, in: Paul du Gay (Hg.), The Values of Bureaucracy, Oxford 2005, S. 115-140; Bobbio, The Future of Democracy, S. 38ff. 208 Bobbio, The Future of Democracy, S. 38. 209 „Alle Zukunft gibt Anlaß zu Besorgnis. Das ist ihr Sinn, und das gilt natürlich auch für die Zukunft der Demokratie. Je mehr in der Zukunft möglich ist, desto größer wird die Besorgnis; und das gilt in besonderem Maße für Demokratie, denn Demokratie ist, wenn irgend etwas Besonderes, ein ungewöhnliches Offenhalten von Möglichkeiten zukünftiger Wahl.“ (Luhmann, Die Zukunft der Demokratie, S. 207)

III. Hermeneutik des Staates 1. Die handlungstheoretische Staatsauffassung Wenn Max Weber die Soziologie als eine Wissenschaft definiert, die „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“,1 ist danach zu fragen, wie der Staat in der handlungstheoretischen Perspektive der verstehenden Soziologie beschrieben werden kann. Die in den Soziologischen Grundbegriffen virtuos aufgefächerte Kategorie des Handelns ist eine Schlüsselkategorie, mit der die sozialen Phänomene erfaßt, definiert und erklärt werden. Das gilt auch für die Phänomene von Macht und Herrschaft, Staat und Politik: Hier löst sich für Weber alles in „Handeln“ auf. Bei der programmatischen Formulierung seiner Konzeption geht er von der Prämisse aus, es gebe „Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens ... stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen“, da für „die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie“ nur einzelne Menschen „verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sind“.2 Aus dieser Axiomatik erwachsen auch Konsequenzen für die Betrachtungsweise sozialer Gebilde wie dem des Staates. Dabei ist Weber sich darüber im klaren, daß sich eingeschliffene und tradierte Denkgewohnheiten gegen seinen Ansatz sperren. Da es in der Eigenart unserer Sprache und unseres Denkens liege, soziale Gebilde wie den Staat in Form einer „dinghaften“ oder „personenhaften“ Erscheinung aufzufassen, was „auch und gerade in der Soziologie“ vorherrschend sei,3 sieht er es als seine Mission, jene verdinglichende Vorstellungsweise zu bekämpfen. Eine mühevolle Aufgabe, angesichts des hartnäckigen Beharrungsvermögens eingelebter Denkgewohnheiten. Wie sehr Weber sich als soziologischer Aufklärer fühlt, kommt in einem Brief an den Freiburger Nationalökonomen Robert Liefmann zum Ausdruck: „wenn ich jetzt nun einmal

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Weber, WuG, S. 1. Ebd., S. 6. 3 Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), in: WL, S. 439. Dazu Stephen P. Turner/Regis A. Factor, Max Weber. The Lawyer as Social Thinker, London/New York 1994, S. 13ff. – Zum Zusammenhang von Handeln und Herrschaft bei Weber Siegfried Hermes, Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft. Max Webers verstehende historische Soziologie am Beispiel des Patrimonialismus, Berlin 2003, S. 53ff. 2

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III. Hermeneutik des Staates

Soziologe geworden bin (laut meiner Anstellungsurkunde!), dann wesentlich deshalb, um dem immer noch spukenden Betrieb, der mit Kollektivbegriffen arbeitet, ein Ende zu machen ... Soziologie kann nur durch Ausgehen vom Handeln des ... Einzelnen, strikt ‚individualistisch‘ in der Methode also, betrieben werden. Über den ‚Staat‘ sprechen Sie z.B. noch ganz altväterliche Ansichten aus. Der Staat ist im Sinn der Soziologie nichts als die Chance, daß bestimmte Arten spezifischen Handelns stattfinden, Handelns bestimmter einzelner Menschen. Sonst gar nichts.“4 In Webers projektierter Revolutionierung des sozialwissenschaftlichen Denkens spielt der Staat eine wichtige Rolle, schon allein weil dieser das zentrale Demonstrationsobjekt der Kontrastierung alten und neuen Denkens ist. Weber entwickelt seine soziologische Methode auf dem Weg einer strengen Abgrenzung von der juristischen Betrachtungsweise, die „den ‚Staat‘ ebenso als ‚Rechtspersönlichkeit‘ wie einen Einzelmenschen“ behandele, während für die Soziologie „hinter dem Worte ‚Staat‘ ... nur ein Ablauf von menschlichem Handeln besonderer Art“ stehe.5 Er räumt zwar ein, es könne für juristische Erkenntniszwecke unvermeidlich sein, Gebilde wie den Staat als „Person“ zu begreifen, schließt solches aber für seinen Ansatz kategorisch aus: „Für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie sind dagegen diese Gebilde lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sind.“6 Nach einer ganzen Kaskade wahrhaft scholastischer Anstrengungen kommt Weber schließlich zu dem Fazit, der Staat „als Komplex eines spezifischen Zusammenhandelns von Menschen“ bestehe, „weil bestimmte Menschen ihr Handeln an der Vorstellung orientieren, daß er bestehe oder so bestehen solle“.7 Er geht noch einen Schritt weiter, wenn er vor die Kategorie des Handelns noch die Kategorie der Chance schaltet: Wie jedes soziale Gebilde bestehe auch der Staat „ausschließlich und lediglich in der Chance, daß ein seinem Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, stattfindet und stattfinden wird. Dies ist immer festzuhalten, um eine ‚substanzielle‘ Auffassung dieser Begriffe zu vermeiden. Ein ‚Staat‘ hört z.B. soziologisch zu ‚existieren‘ dann auf, sobald die Chance, daß bestimmte Arten von sinnhaft orientiertem sozialem Handeln ablaufen, geschwunden ist.“8

——————— 4 Weber, Brief an Robert Liefmann, 9. März 1920, in: Briefe 1918-1920. MWG II/10, S. 946f. 5 Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 439f. 6 Weber, WuG, S. 6. 7 Ebd., S. 7. 8 Ebd., S. 13.

1. Die handlungstheoretische Staatsauffassung

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Mit seiner Dechiffrierung des Staates als eines Komplexes der Chance von Handlungen entzaubert Max Weber die – oft heute noch vorherrschende – Sicht des Staates als eines dinghaften, monolithischen und substanzhaften Gebildes, indem er es gewissermaßen chirurgisch in Prozesse bestimmter Handlungsfolgen zerlegt. Damit eröffnet er den Weg zu einem differenzierten, dynamischen und prozessualen Staatsverständnis.9 Zugleich wird damit die Frage aufgeworfen, ob man überhaupt von dem Staat sprechen kann, der als Komplex von Handlungen ja ein polyzentrisches Gebilde ist. Wenn angesichts der „erstaunlichen Unschuld“, mit der man in der Staatslehre und der Politikwissenschaft „von dem Staat als einem vermeintlich monolithischen Akteur“ spricht, schon vor langer Zeit „simple Differenzierungsprozesse“ gefordert wurden,10 kann Webers Ansatz eine solche Differenzierung leisten.11 Max Weber seziert – um weiterhin metaphorisch zu sprechen – mit seinem handlungstheoretischen Operationsbesteck die Bedingung der Möglichkeit des Staates, welcher nicht auf einer vorgegebenen Ordnung beruht, sondern darauf, daß die Menschen ihr Handeln an der Vorstellung orientieren, daß die Ordnung des Staates bestehen und gelten solle. An diesem Punkt kann man bereits die handlungstheoretische und die herrschaftssoziologische Dimension seiner Staatstheorie miteinander verknüpfen: So wie eine staatliche Ordnung erschüttert wird, wenn sie ihre Legitimitätsgeltung verliert, steht auch die staatliche Existenz auf dem Spiel, wenn sich das Handeln nicht mehr an der Vorstellung vom Gelten der Ordnung ausrichtet. Weber wird allerdings seinem rigiden Anspruch selbst nicht immer gerecht, da der Staat in seinem Werk nur selten in der handlungstheoretischen Perspektive erscheint und manchmal sogar durchaus substanzialistisch begriffen wird. Die programmatischen Ausführungen in den Soziologischen Grundbegriffen und im Kategorien-Aufsatz haben daher eher den Charakter einer staatssoziologischen regulativen Idee. Darüber hinaus sind Webers Thesen nicht ganz so originell und revolutionär, wie er glauben machen will. Sie sind eng an die Positionen des unorthodoxen

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Eine staatliche Ordnung kann demnach nicht statisch sein, sondern sie wird durch jeweils neue Handlungsorientierungen entweder modifiziert oder revolutioniert. Es hängt von Grad und Umfang der Veränderung ab, ob man von einer Modifikation des ‚alten‘ oder von einem „neuen“ Gebilde sprechen muß (Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 449). 10 Joachim Jens Hesse, Aufgaben einer Staatslehre heute, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1 (1987), S. 61. – Vgl. auch Mark Bevir/R.A.W. Rhodes, The State as Cultural Practice, Oxford 2010, S. 81ff. 11 Unfreiwillig komisch ist daher die Forderung Helmut Willkes, den Staat unter einer „Perspektive zu betrachten, die Max Weber möglicherweise etwas fern lag: der Perspektive der Entzauberung auch noch des Staates selbst“ (Willke, Entzauberung des Staates, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1 (1987), S. 287). Schließlich ist doch Weber derjenige, der diese Entzauberung vornimmt.

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III. Hermeneutik des Staates

Nationalökonomen Friedrich Gottl angelehnt, der in seinem Werk Die Herrschaft des Wortes in eigenwilliger Weise die „Welt des Handelns“ untersucht.12 Er definiert die Nationalökonomie als eine „Wissenschaft von den menschlichen Handlungen“ und versteht „zuständliche Gebilde“ wie den Staat als Komplex von Handlungen.13 Zwar würde unser Denken diese Handlungen „zu einem schlichten Gebilde“ zusammenballen, man brauche aber nur „schärfer hinzublicken“, und schon stelle sich alles staatliche Geschehen „als ein Handeln dar“ und falle „zu lauter Handlungen auseinander“.14 Wie Weber macht schon Gottl das juristische Denken für die Verdinglichung des Staates verantwortlich: „Solange wir uns von dem juristischen Denken nicht frei machen, verzeichnet sich uns die Welt des Handelns... Vor dem juristischen Blick fällt die ganze Welt des Handelns in Starrkrampf.“15 Er ist sich bereits bewußt, wie schwer es ist, die „Macht des juristischen Denkens“ zu brechen, da „jedes Wort in seiner Art ein kleiner Jurist“ sei.16 Max Webers handlungstheoretisches Staatsverständnis ist unverkennbar durch die Positionen in Friedrich Gottls Herrschaft des Wortes beeinflußt, einem gänzlich unsystematischen, über weite Strecken nahezu unlesbaren und in ebenso blumigem wie glänzend ironischem Stil geschriebenen Werk. Wie intensiv Weber das Buch studiert hat, geht aus einem Brief an Friedrich Gottl hervor, wo er – nicht ohne leise Ironie – dessen „außerordentlich verfeinerte“ und durch „gefühlte ... Wendungen bereicherte Sprache“ lobt und sich gleichzeitig über die in der Tat mühevolle Lektüre beklagt: „Ich habe Ihre ‚Herrschaft des Wortes‘ 4 Mal lesen müssen, um am Schluß den Anfang noch nicht vergessen zu haben und um die sehr gewichtigen Gedanken ... zu erfassen... Nach der ersten Lektüre war ich aber einfach ‚wütend‘ und hatte den, ganz irrigen, Eindruck, daß hinter der mir undurchsichtigen Sprache sich bei Ihnen unvollendete Gedanken verbergen müßten.“17 Max Weber hat sich einige dieser Gedanken angeeignet und sie – in einer weitaus durchsichtigeren Sprache – für die Staatssoziologie fruchtbar gemacht. Er erfindet also nicht eine neue Staatsanschauung, sondern greift

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Friedrich Gottl, Die Herrschaft des Wortes. Untersuchungen zur Kritik des nationalökonomischen Denkens, Jena 1901, S. 110ff. 13 Ebd., S. 37 u. 112. 14 Ebd., S. 112f. 15 Ebd., S. 117. 16 Ebd. 17 Weber, Brief an Friedrich Gottl, 8. April 1906, in: Briefe 1906-1908. MWG II/5, S. 70. Das Buch gehört darüber hinaus zu den wenigen Literaturangaben, die den Soziologischen Grundbegriffen vorangestellt sind (Weber, WuG, S. 1). Weber war sowohl wissenschaftlich als auch persönlich von Gottl, der sich bei ihm habilitieren wollte, beeindruckt und hielt Die Herrschaft des Wortes „für den tiefgründigsten Versuch, der Eigenart des ‚Alltags‘-Denkens gerecht zu werden“ (Weber, Brief an Richard Graf Du Moulin-Eckart, 4. Mai 1907, in: Briefe 1906-1908. MWG II/5, S. 293).

1. Die handlungstheoretische Staatsauffassung

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Positionen der zeitgenössischen Literatur auf und baut sie in die Konzeption seiner verstehenden Wissenschaft vom menschlichen Handeln ein. Weber kann sich in seinem Kampf gegen den ‚spukenden Betrieb‘ der Kollektivbegriffe nicht nur auf Gottl, sondern auch auf Georg Jellinek stützen, der es schlicht für „unklares Denken“ hält, „den Staat als ein neben oder über den Menschen stehendes natürliches Gebilde“ zu begreifen: „Die Substantive dürfen uns nicht verleiten, in ihnen objektive reale Mächte zu sehen“,18 belehrt er seine Leser mit einer staatstheoretischen Variante der Humboldtschen These, daß die Sprache das Denken bestimme. Die verbreitete Auffassung des Staates als etwas Substanzhaftem lehnt er kategorisch ab und sieht vielmehr die menschlichen Handlungen als die „letzten nachweisbaren Tatbestände des staatlichen Lebens“.19 Sein prägender Einfluß auf Max Webers Staatsdenken besteht also auch hinsichtlich der handlungsbezogenen und antisubstantialistischen Ausrichtung; diese Aspekte sind bei beiden Staatsdenkern miteinander verknüpft. Die Vorstellung des Staates als eines Handlungskomplexes gehört zur Zeit Max Webers bereits zum Bestand der sozialwissenschaftlichen Theorie und wird sowohl von Othmar Spann20 als auch von Arthur F. Bentley vertreten, der in seinem heute vergessenen politikwissenschaftlichen Pionierwerk den Staat „in the form of purposive action, valued in terms of other purposive action“ begreift.21 Die ideengeschichtlichen Ursprünge dieser Sichtweise liegen jedoch nicht im frühen 20. Jahrhundert, sondern reichen bis in die griechische Antike zurück, deren Staatsdenker nicht von einem abstrakten Staat sprachen, „sondern immer von den sichtbaren Beziehungen zwischen den handelnden Menschen“; weshalb es ihnen fernlag, „eine besondere Staatspersönlichkeit hinter den Bürgern anzunehmen“.22 Wenn also schon in der Antike die handlungsbezogene Staatsanschauung mit einem nicht-substantiellen Staatsverständnis korrespondiete, knüpft Weber an eine ebenso alte wie ehrwürdige Tradition an. Man muß allerdings nicht bis in die Antike zurückgehen, um zu erkennen, daß Weber sich in seinen Bemühungen auf bereits ausformulierte Ansätze stüt-

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Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900), 3. Aufl. Darmstadt 1960, S. 175. Ebd., S. 174. 20 Othmar Spann, Kurzgefaßtes System der Gesellschaftslehre, Leipzig 1914. Er sieht Handeln als elementare soziologische Kategorie (ebd., S. 20) und entwickelt eine Typologie des Handelns (ebd., S. 98ff.), hat aber keinen Einfluß auf Weber ausgeübt, da dessen Kategorienaufsatz während der Drucklegung von Spanns Gesellschaftslehre erschien. 21 Arthur F. Bentley, The Process of Government, Chicago 1908, S. 62. Er entwickelt diese Sichtweise in einer Exegese von Jherings Der Zweck im Recht, ein Werk, das in der damaligen amerikanischen Politikwissenschaft lebhaft rezipiert wurde. Da Weber, angeregt durch Jellinek, die Literatur der amerikanischen Politikwissenschaft intensiv studiert hat, ist es sehr wahrscheinlich, daß er auch Arthur F. Bentleys Studie kannte. 22 Ulrich Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, Tübingen 1959, S. 6. 19

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III. Hermeneutik des Staates

zen kann, wie insbesondere die Positionen Gottls, Jellineks und Bentleys belegen. Er führt diese Ansätze im Rahmen seiner verstehenden Wissenschaft vom Handeln zu einer Konzeption zusammen, die auf eine Hermeneutik des Staates gerichtet ist und als Versuch einer handlungstheoretischen Fundierung der Staatstheorie gelesen werden kann. Dieser Versuch ist jedoch nur skizzenhaft geblieben und wird nirgends systematisch entfaltet. Die Verflechtung von Staats- und Handlungstheorie läßt sich auch aus dem Aufbau der Soziologischen Grundbegriffe erschließen, die, liest man sie von hinten nach vorn, eine aufschlußreiche Anordnung erkennen lassen: Der Staatsbegriff fußt auf dem Anstaltsbegriff, dieser auf dem Verbandsbegriff, dieser auf dem Begriff der sozialen Beziehung23 und dieser wiederum auf dem Begriff des sozialen Handelns, so daß der Staatsbegriff gewissermaßen genetisch auf der Kategorie des Handelns beruht. Der begriffliche Stammbaum der Soziologischen Grundbegriffe kann in dieser Perspektive als eine Genealogie des Staates gelesen werden, in welcher bei jedem Schritt vom Handeln zum Staat jeweils neue Elemente von Herrschaft hinzutreten. Da der Staat auch aus dem Begriff der sozialen Beziehung heraus entwickelt wird, bestehen deutliche Affinitäten einerseits zu Georg Simmel, der makroskopische Einheiten wie etwa den Staat auf mikroskopisch-molekulare Vorgänge menschlicher „Beziehungsformen“ zurückführt,24 und andererseits einmal mehr zu Georg Jellinek, der die Phänomene „sozialer Beziehungen zwischen Menschen“ als „letzte objektive Elemente des Staates“ ortet.25 Damit formuliert er das, was bei Weber nur implizit angelegt ist: Der Staat besteht aus sozialen Beziehungen. Bei beiden Denkern liegt dem Begriff der sozialen Beziehung der Begriff des sozialen Handelns als unterste begriffliche Einheit zugrunde, so daß eine nahtlose Kategorienkette vom Handeln zum Staat entsteht. Wenn Jellinek darüber hinaus eine Stufenleiter der Verbände zum Staat konstruiert, in der sich die Herrschaftsintensität vom privaten zum öffentlichen Verband steigert und ihren höchsten Grad beim Staat erreicht,26 zeigt sich erneut, daß ohne seine Konzeption die Webersche Staatslehre kaum denkbar ist. In Webers Bemerkungen zum Staat als Komplex des Zusammenhandelns bleibt allerdings die Frage offen, welcher Art die Handlungen sind, aus denen sich der Staat zusammensetzt, bzw. welcher Handlungstypus ihn konstituiert. Diese Frage stellt sich vor allem angesichts der Tatsache, daß der Staat durch

——————— 23 Dazu die aufschlußreiche graphische Darstellung bei Stefan Breuer, Max Webers Staatssoziologie, in: KZfSS 45 (1993), S. 213. 24 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Frankfurt a. M. 1992, S. 33f. 25 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 174. 26 Ebd., S. 179.

1. Die handlungstheoretische Staatsauffassung

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Strukturen der Herrschaft und des Zwangs gekennzeichnet ist, was nicht ohne Folge für das Handeln innerhalb solcher Strukturen bleiben kann. Um welches Handeln geht es also im Staat? Und in welchem Verhältnis steht die handlungsbezogene Konzeption zum Verständnis des Staates als einem Herrschaftsverhältnis und Anstaltsbetrieb mit dem Monopol legitimen physischen Zwanges? Daß Max Webers Konzeption Anlaß zu Mißverständnissen geben kann, zeigt die Position eines frühen Kritikers, der in ihr eine „rein psychologische Lösung“ des „Existenzproblems des Staates“ sah und „wesentliche Bedenken“ gegen die „Auflösung“ des Staates in Handlungen anmeldete, da nur ein Bruchteil von diesen, etwa das Handeln der Verwaltung oder das der Bürger bei Wahlen, zum Staat gehöre.27 Dieser Kritik liegt zwar ein überraschend naives Verständnis von Handeln zugrunde, aber sie zielt geradewegs auf eine Frage, die jede Auseinandersetzung mit Webers Konzeption zu beantworten hat: Um welches Handeln geht es eigentlich im Staat? Quentin Skinner fragt: „Whose actions properly count as actions of this agency?“28 Schon in den siebziger Jahren sahen sich die Autoren einer Einführung in die Gesellschaftslehre genötigt darauf hinzuweisen, daß Weber nicht aktuelles Verwaltungshandeln im Auge habe, würde doch sonst der Staat „nach Büroschluß aufhören zu existieren“.29 Aber um welches Handeln es Weber ging, konnten auch sie nicht sagen. Den entscheidenden Ansatzpunkt zu einer Klärung dieser Frage sehe ich in Webers Ausführungen zum Gesellschaftshandeln im Kategorienaufsatz. Dieser Typus des Handelns ist an Erwartungen orientiert, die aufgrund von Ordnungen zweckrationaler Satzung gehegt werden,30 wobei die Gesellschaftshandelnden sich darauf verlassen, daß sich alle „der Vereinbarung gemäß verhalten“ und im Fall der Ordnungsverletzung die Ausübung physischen Zwangs angedroht wird.31 Da dieser Typus des Handelns an die beiden Momente der Ordnung und des physischen Zwangs gekoppelt ist, die zugleich zwei elementare Kriterien des Staates sind, kann das den Staat konstituierende Handeln nur das Gesellschaftshandeln sein. Die Kategorie der Vereinbarung spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Wenn das an Vereinbarung orientierte Gesellschaftshandeln als das Handeln der Organe und das darauf bezogene Handeln definiert wird,32 geht es in jenem Komplex eines spezifischen Zusammenhan-

——————— 27 Leopold Franke, Das Daseinsproblem des Staates, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 7 (1932/33), S. 270 u. 272. 28 Quentin Skinner, What is the State? Vortrag, Cambridge University, 15. September 2010. 29 Veit-Michael Bader u. a., Einführung in die Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1976, S. 423. 30 Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 442. 31 Ebd., S. 447f. 32 Ebd.

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III. Hermeneutik des Staates

delns, von dem Weber spricht, um das Handeln der Staatsorgane und das darauf bezogene Handeln. Und mehr noch: Aus den Ausführungen zum Gesellschaftshandeln geht auch hervor, daß die maßgebliche Ordnung, an der sich das Handeln orientiert, die Rechtsordnung ist. Diese Verbindungslinie zwischen Handlungskonzeption und Rechtsordnung hat bereits Hans Kelsen in seiner polemischen Weberkritik gezogen, allerdings in Form einer recht gewaltsamen Interpretation. Er wirft ihm zunächst eine „irreführende Terminologie“ und „unzulässige Begriffsverschiebung“ vor, da nicht die Handlungen, sondern ihr „Sinngehalt“ den Staat konstituiere,33 um schließlich den Ansatz als verkappte Rechtswissenschaft zu enthüllen. Seine These, daß Weber den Staat zur „Verwirklichung des Rechts“ bestimme, da „nur die Rechtsordnung als Sinngehalt jener Handlungen angegeben werden“ könne,34 ist jedoch vollkommen unhaltbar, da es in seinem Werk nicht den geringsten Anhaltspunkt für die – in der deutschen Staatslehre dominante – Vorstellung des Staatszwecks der Rechtsverwirklichung gibt. Neben der Kategorie der Vereinbarung spielt auch der Begriff der Ordnung in den Ausführungen zum Gemeinschaftshandeln und Gesellschaftshandeln eine wichtige Rolle. Dieser Begriff wird jedoch weder hier noch an einer anderen Stelle präzisiert.35 Im Grunde muß hier von Ordnungen statt von Ordnung gesprochen werden, da es nach Webers Verständnis im modernen Staat nicht eine homogene und umfassende Ordnung gibt, sondern eine Pluralität von Ordnungen. Demnach ist auch das Handeln nicht an nur einer Ordnung orientiert, sondern steht im Spannungsfeld einer Vielzahl konkurrierender Ordnungen. Dieser Umstand spiegelt sich in Webers Betrachtungen zum Verhältnis von Persönlichkeit und Lebensordnungen,36 wo er nicht von ungefähr den Plural wählt.

——————— 33 Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht (1922), 2. Aufl. Tübingen 1928, S. 158f. 34 Ebd., S. 160. 35 Zu Webers Ordnungsverständnis vgl. Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, 2. Aufl. Tübingen 2007, S. 89ff.; Barbara Thériault, Ordres légitimes et légitimité des ordres chez Max Weber, in: Michel Coutu/Guy Rocher (Hg.), La légitimité de l’État et du droit, Quebec/Paris 2006, S. 175-186; Stephen Kalberg, Einführung in die historisch-vergleichende Soziologie Max Webers, Wiesbaden 2001, S. 52ff.; Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt a. M. 1998, S. 103ff.; ders., Religion und Lebensführung. Bd. 1: Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 73ff., 145ff.; Karl-Siegbert Rehberg, Kulturwissenschaft und Handlungsbegrifflichkeit. Anthropologische Überlegungen zum Zusammenhang von Handlung und Ordnung in der Soziologie Max Webers, in: Gerhard Wagner/Heinz Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt a. M. 1994, S. 602-661 (644ff.); Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, Frankfurt a. M. 1993, S. 480ff. 36 Dazu Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 59ff.

2. Der Begriff der Chance

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Sie zeigt sich auch in seinen Reflexionen über die Spannungen im „Kosmos des politischen Handelns“.37 Wenn man mit Weber Handlungen als elementare Einheiten des Staates begreift, ist, wie Luhmann sagt, „die Folgerung unvermeidlich, daß konkrete Personen nie ganz in einem Sozialsystem aufgehen, sondern stets nur mit einzelnen Handlungen in bestimmte Sozialsysteme verstrickt sind“.38 Es gibt also strenggenommen nicht den Handlungskomplex Staat, sondern eine Vielzahl von Handlungskomplexen. Wenn Weber gleichwohl von der staatlichen Ordnung meistens im Singular spricht, handelt es sich um eine pragmatische Vereinfachung – derer man sich guten Gewissens bedienen kann und darf, soweit man sich ihrer bewußt ist. Erst vor dem Hintergrund der Ausführungen zum Gesellschaftshandeln ist es möglich, jenes spezifische Handeln, das für die Existenz des Staates ausschlaggebend ist, zu präzisieren: Es ist das herrschaftlich strukturierte, auf die Staatsorgane bezogene und an der Rechtsordnung orientierte Gesellschaftshandeln. Auf bloßem Handeln kann also der Staat nicht beruhen. Die staatliche Ordnung ist keineswegs kontingent, sondern übt ihrerseits einen Zwang zu bestimmten Handlungsorientierungen aus, da sie eine Herrschaftsordnung ist, über das Monopol legitimen physischen Zwangs verfügt und wie jede andere Herrschaft auf die Aufrechterhaltung ihrer Ordnung gerichtet ist. Das aber ist nur eine Seite der Weberschen Konzeption. Die andere, noch stärker akzentuierte und durch sein Legitimitätsverständnis geprägte Seite besagt, daß jeder Staat zu existieren aufhört, sobald sich das Handeln nicht mehr an der Vorstellung vom Geltensollen der Ordnung orientiert, und daß mit bloßem Zwang sich kein Staat behaupten kann. Darin liegt ein, wenn man so will, dialektisches Moment seiner handlungsbezogenen Staatsauffassung, die dem Gebäude seiner fragmentarischen Staatstheorie ein handlungstheoretisches Fundament gibt.

2. Der Begriff der Chance Wenn der Staat nur in der Chance eines spezifischen Handelns besteht, ja zu existieren aufhört, sobald diese Chance „geschwunden“ ist,39 wird die „Chance“ zur Bedingung der Möglichkeit des Staates. Der Begriff der Chance spielt in Webers Werk eine zentrale Rolle. Mit diesem Terminus werden Macht und Herrschaft, Ordnungsgeltung und Verfassung, Legitimität und Klassenlage40

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Weber, Religiöse Gemeinschaften. MWG I/22-2, S. 384 (WuG 355). Niklas Luhmann, Zweck - Herrschaft - System, in: Renate Mayntz (Hg.), Bürokratische Organisation, Köln/Berlin 1968, S. 50. 39 Weber, WuG, S. 13. 40 Ebd., S. 28, 16, 27, 123 u. 177. 38

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III. Hermeneutik des Staates

definiert. Sowohl in den Soziologischen Grundbegriffen als auch in den Teilsoziologien ist er stets präsent. Seine essentielle Bedeutung bei der Begriffsbildung und der geradezu inflationäre Wortgebrauch stehen jedoch in auffälligem Kontrast dazu, daß er nirgends definiert und sogar in recht unterschiedlichem Sinn verwendet wird. Obwohl er zu den elementaren Begriffen Webers gehört und aufgrund seiner Vieldeutigkeit zu untersuchen lohnend wäre, wurde er jahrzehntelang nicht systematisch analysiert.41 Ralf Dahrendorf konnte „nur mit Überraschung notieren, wie wenig Aufmerksamkeit der Begriff in der Weberliteratur gefunden hat, und mehr noch, wie naiv, nämlich unreflektiert selbstverständlich Weber selbst einen Begriff verwendet hat, der den Schlüssel sowohl zu seiner Methode als auch zur Substanz seines Denkens liefert“.42 Nun, Aufmerksamkeit wurde diesem Begriff sehr wohl geschenkt, wenn auch nur in Form von Randbemerkungen. Die Liste der Autoren, die sich wie ein Who is Who der Rechts- und Sozialwissenschaft liest, reicht von Hermann Kantorowicz,43 Hans Kelsen,44 Adolf Menzel,45 Hans Freyer,46 Carl Schmitt,47 Talcott Parsons,48 Othmar Spann49 bis Georg Lukács.50 Zwar finden sich auch

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Der über Jahrzehnte einzige Versuch war eine studentische Seminararbeit, die in einer Tübinger Studentenzeitschrift veröffentlicht wurde (Hartmut Schellhoss, Der Begriff der ‚Chance‘ bei Max Weber, in: Studien und Berichte aus dem Soziologischen Seminar der Universität Tübingen 1 (1963), S. 57-63). Das einzig Interessante an diesem Aufsatz ist seine bibliographische „Rezeption“. Mit der falschen bibliographischen Angabe einer Zeitschrift versehen, die überhaupt nicht existiert, ist er in der Max Weber Bibliographie von Seyfarth/ Schmidt (Stuttgart 1977) verzeichnet. Mit eben dieser falschen Angabe versehen, erscheint der Aufsatz seither in schöner Regelmäßigkeit in den Fußnoten und Literaturverzeichnissen der Weberliteratur. In Wahrheit hat ihn also vermutlich nie jemand gelesen. 42 Ralf Dahrendorf, Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1979, S. 93. Sein Versuch stellt die erste instruktive Auseinandersetzung mit Webers Begriff der Chance dar (ebd., S. 93ff.). – Vgl. ferner Kari Palonen, The State as a ‚Chance’ Concept, in: Max Weber Studies 11 (2011), S. 99-117; Thomas Schwinn, Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus, Berlin 1993, S. 111ff.; Weyma Lübbe, Der Normgeltungsbegriff als probabilistischer Begriff, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44 (1990), S. 583-602 (593ff.); Johannes Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie, München 1975, S. 88ff.; Johannes Winckelmann, Art. Chance, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 1, Basel/Stuttgart 1971, Sp. 979-980; Gerhard Hufnagel, Kritik als Beruf. Der kritische Gehalt im Werk Max Webers, Frankfurt a. M./Berlin/ Wien 1971, S. 182f. 43 Hermann Kantorowicz, Staatsauffassungen (1925), in: ders., Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, hg. v. Thomas Würtenberger, Karlsruhe 1962, S. 75. 44 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 159. 45 Adolf Menzel, Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, Wien/Leipzig 1929, S. 574. 46 Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig 1930, S. 177. 47 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München/Leipzig 1932, S. 30. 48 Talcott Parsons, The Structure of Social Action (1937), New York 1967, S. 629f.

2. Der Begriff der Chance

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in der neueren Literatur noch einige verstreute Anmerkungen, die aber gegenüber dem Begriff im Grunde ratlos bleiben. An der Stelle, an der Weber den Staat als die Chance spezifischen Handelns definiert, sagt er zwar nicht, was er unter dem Begriff versteht, aber ausdrücklich, warum er mit dem Begriff operiert, nämlich „um eine ‚substanzielle’ Auffassung“ des Staates zu vermeiden. Aus diesem Zusammenhang geht immerhin hervor, daß der Begriff erstens methodologischen Status hat und an die Kategorie des Handelns gebunden ist. Zweitens ist er erkenntnistheoretisch ausgerichtet, da der Staat nur die Chance von Staat ist. Drittens hat er eine empirischquantitative Dimension, da die Chance „eine sehr große oder eine verschwindend geringe sein“ kann.51 Diese drei Aspekte markieren die Ansatzpunkte, um die Bedeutung des Begriffs für Webers Staatstheorie zu erschließen. Da das Zustandekommen des Handlungsgefüges Staat keine Glückssache ist, kann mit Chance selbstverständlich nicht „Zufall“ gemeint sein, sondern etwas, das eher mit „Wahrscheinlichkeit“ umschrieben werden muß. Um zu prüfen, ob dies zutrifft, ist es erforderlich, zunächst die Facetten des Konzepts in Webers Werk aufzuspüren und anschließend nach den Konsequenzen zu fragen, die sich daraus für den Staat ergeben. Der Begriff der Chance gehört zum methodologischen Instrumentarium der hermeneutischen Wissenschaft Max Webers und macht fundamentale Prämissen seiner wissenschaftstheoretischen Konzeption transparent. Das gilt sowohl für die Fragen der Kausalität und der Hypothesenbildung als auch für das Verhältnis von Erklären und Verstehen. Die Deutungen sozialen Handelns, die der Soziologe vornimmt, sind für Weber nur dann „brauchbare Hypothesen“, wenn die Chance bestehe, daß tatsächlich „‚sinnhafte‘ Motivationsverkettungen vorliegen“.52 Eine richtige kausale Erklärung liege dann vor, wenn „der Beweis für das Bestehen einer ... Chance erbracht wird, daß das Handeln“ seinen „Verlauf tatsächlich mit angebbarer Häufigkeit“ nimmt.53 Der Begriff der Chance ist ein konsequenter Ausdruck des Weberschen Wissenschaftsverständnisses. Denn für die verstehende Soziologie kann es keine naturwissenschaftliche Kausalität geben, sondern lediglich empirische Grade von Wahrscheinlichkeit. Zugleich werden mit dieser Kategorie grundlegende Begriffe definiert. So ist das Gemeinschaftshandeln „an den Erwartungen eines bestimmten Verhaltens anderer und den darnach für den Erfolg des eigenen Handelns (subjektiv) geschätzten

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Othmar Spann, Gesellschaftslehre, 4. Aufl. Graz 1969, S. 47f. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Bd. 3. Irrationalismus und Soziologie, 3. Aufl. Darmstadt/Neuwied 1984, S. 64f. 51 Weber, WuG, S. 13. 52 Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 437. 53 Weber, WuG, S. 5f. 50

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III. Hermeneutik des Staates

Chancen“ orientiert, wobei ein „wichtiger Erklärungsgrund“ des Handelns „das objektive Bestehen dieser Chancen“ sei: die „zu einem ‚objektiven Möglichkeitsurteil‘ ausdrückbare Wahrscheinlichkeit, daß diese Erwartungen mit Recht gehegt werden“.54 Hier wird Chance im Sinn von Wahrscheinlichkeit verwandt. So ist denn auch der Begriff bei vielen Autoren umstandslos mit Wahrscheinlichkeit gleichgesetzt worden, etwa bei Talcott Parsons,55 Ralf Dahrendorf,56 Johannes Weiß57 oder Hermann Kantorowicz.58 Carl Schmitt dagegen ließ sich gar nicht erst auf den Versuch einer Umschreibung ein und empfahl, das Wort „besser unverändert“ zu lassen, damit der Stempel der „geistigen Herkunft sichtbar bleibt“.59 Damit trug er zwar der Originalität des Begriffs Rechnung, entzog sich aber geschickt dem Dilemma der Auseinandersetzung mit einem vieldeutigen und undefinierten Begriff. Bei dem Versuch, Licht in dieses Dunkel zu bringen, empfindet man in der Tat zunächst das unmittelbare Bedürfnis, sich vor diesem Durcheinander zu retten. Man mag sich oft an Webers pedantischem Nominalismus stören, hier aber wünschte man sich eine Definition à la „Chance soll heißen ...“. Ein solches Empfinden klingt auch bei Dahrendorf an, der den „Chancensalat“, den Max Weber angerichtet habe, als „gemischt“ und „verwirrend“ einstuft und beklagt, Weber habe trotz seiner Liebe zu dem Wort nie „den Versuch einer systematischen Begriffsbestimmung“ unternommen,60 ja nicht einmal einen „einheitlichen, durchgängigen Begriff der Chance“ verwandt.61 Ähnlich wie die meisten Interpreten versteht auch Dahrendorf unter Chance „strukturell begründete Wahrscheinlichkeiten des Eintretens von bestimmten Ereignissen“.62 „Die im Begriff der Chance postulierte Wahrscheinlichkeit von Verhaltensabläufen ist für Weber nicht bloß beobachtete und insofern berechenbare Wahrschein-

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Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 441. Parsons übersetzte Chance mit „probability“ (Parsons, The Structure of Social Action, S. 629). Seine Übersetzung, die das angelsächsische Weberverständnis nachhaltig prägte, reduziert das breite semantische Spektrum des Begriffs auf bloße Wahrscheinlichkeit. Vielleicht hat Parsons das englische Wort chance nicht gewählt, weil er die mit diesem Wort verbundene Konnotation von Zufall, Glücksfall oder Schicksal vermeiden wollte. Dies wäre mit Webers Begriff in der Tat inkommensurabel. Allerdings bedeutet das englische chance zugleich ‚Wahrscheinlichkeit‘ oder ‚Möglichkeit‘, also durchaus das, was Weber meint. 56 Dahrendorf, Lebenschancen, S. 98. 57 Für Johannes Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie, S. 90, ist Chance „identisch mit Wahrscheinlichkeit“. 58 Hermann Kantorowicz, Staatsauffassungen, S. 75, stellt sogar die mathematische Gleichung „‚Chance‘ = ‚Wahrscheinlichkeit‘“ auf. 59 Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 30. 60 Dahrendorf, Lebenschancen, S. 104. 61 Ebd., S. 97. 62 Ebd., S. 98. 55

2. Der Begriff der Chance

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lichkeit, sondern stets in angebbaren strukturellen Bedingungen begründete Wahrscheinlichkeit. Chance bedeutet also Wahrscheinlichkeit auf Grund von kausalen Zurechnungsmöglichkeiten, strukturell bestimmte Wahrscheinlichkeit.“63 Da er diesen Gedanken mit erstaunlicher Redundanz seitenlang immer wieder umformuliert, steht auch er dem Begriff im Grunde nur mit eloquenter Ratlosigkeit gegenüber, wenn auch in einer erfrischend angelsächsischen Art und Weise. Ralf Dahrendorf verlegt sich darauf, in den Begriff eine liberale und marktwirtschaftliche Weltanschauung hineinzuinterpretieren: „Max Weber liebte den Begriff der Chance, weil er wußte, daß es Freiheit gibt, und das nicht nur in der statistischen Theorie, sondern als realen Spielraum... Er liebte den Begriff der Chance aber auch, weil er meinte, daß es in menschlichen Gesellschaften vornehmlich darum geht, Räume zu öffnen, für Erwerbschancen, Tauschchancen, Versorgungschancen, für Herrenchancen, Vorzugschancen, Zukunftschancen, für Lebenschancen.“64 Weber mag all dies tatsächlich gemeint oder gewußt haben, aber für seine Verwendung des Begriffs war das sicherlich unerheblich. Dahrendorf deutet den Begriff als einen Wert, und genau das ist der Begriff für Weber nicht. So läßt sich Wilhelm Hennis’ beiläufige – und offen gelassene – Frage, ob Webers Begriff der Chance ein Wert sei oder eine „bloß heuristische“ Kategorie,65 eindeutig beantworten: Der Begriff ist ‚bloß‘ eine methodologische, erkenntnistheoretische und empirische Kategorie. Gleichwohl haben viele Autoren immer wieder hinter dem Begriff der Chance eine Weltanschauung sehen wollen. Während Ralf Dahrendorf ein Loblied auf Max Weber als liberalen Marktwirtschaftler anstimmt, intoniert Georg Lukács einen Haßgesang auf Weber als kapitalistischen Neukantianer, dessen Chance-Kategorien „nichts anderes ergeben als die abstrakt formulierte Psychologie des kalkulierenden individuellen Agenten des Kapitalismus“.66 Für den auf Objektivität pochenden Materialisten ist es ein klarer Fall, daß Weber mit seiner Kategorie der Chance „die ganze objektive gesellschaftliche Wirklichkeit subjektivistisch“ auflöst und „die objektiven Formen ... des gesellschaftlichen Lebens in ein Gewirr von ... ‚Erwartungen‘, seine Gesetzmäßigkeiten in mehr oder weniger wahrscheinliche ‚Chancen‘ der Erfüllung solcher Erwartungen“ verwandelt.67 Daß Webers Methode keineswegs nur im Schußfeld der Marxisten, sondern auch im Schußfeld der Konservativen stand, zeigt die haarsträubende Polemik

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Ebd., S. 96. Ebd., S. 93. 65 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, S. 213. 66 Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, S. 64. 67 Ebd., S. 64f. 64

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III. Hermeneutik des Staates

Othmar Spanns, Max Weber habe scheitern müssen, „da er einerseits im geschichtlichen Materialismus Marxens verstrickt blieb“, andererseits mit seinem Begriff der Chance „im induktiv-naturwissenschaftlichen Verfahren festgehalten“ und „in eine atomistische, individualistische Stellung gedrängt“ wurde, wobei er „über eine laienhafte Vermischung von Empirismus und WindelbandRickertscher Logik nicht hinaus“ gekommen sei.68 Demnach muß Max Weber ein wahres Wunderkind der Wissenschaft gewesen sein: ein materialistisch-individualistischer, empiristisch-neukantianischer, naturwissenschaftlicher Theoretiker, dem es gelang, die denkbar größten Gegensätze in sich zu vereinen. Daß der Phantasie der Etikettierungen keine Grenzen gesetzt sind, demonstriert auch die Bemerkung Hans Freyers, dem Begriff der Chance sei ein „positivistischer, ja phänomenalistischer Zug“ eigen, der nicht nur „deutlich naturalistisch infiziert“ sei, sondern bei dem auch „der methodische Individualismus wider Willen in inhaltlichen Individualismus“ umschlage.69 Das Charakteristische all dieser Klassifikationen ist, daß ihre Phantasie einer fehlenden Auseinandersetzung mit dem Begriff gegenübersteht. Man greift tief in das unerschöpfliche Arsenal polemischer Schlagworte, mit denen man Weber als wissenschaftlichen und politischen Gegner erledigen zu können glaubt, Schlagworte, die seiner Konzeption freilich kaum gerecht werden. Die bunte Vielfalt der Etiketten kommt jedoch insofern nicht von ungefähr, als Max Weber mit seinem Begriff der Chance drei verschiedene, jedoch nicht konkurrierende Intentionen verfolgt: die methodologisch-handlungstheoretische, die erkenntnistheoretische und die empirisch-quantitative. Mit Recht bemerkt Johannes Weiß, das „primäre und ganz explizite Motiv Webers“ bestehe darin, „jede Hypostasierung sozialer Gebilde zu Entitäten höherer Ordnung zu vermeiden“ und darüber hinaus „die Soziologie als empirische Wissenschaft zu begründen“.70 Auch Kurt Lenk sieht bei Max Weber „eine kritische Wendung gegen alle substanzhaften Konstruktionen, die im Staat eine überindividuelle, vom menschlichen Handeln abgelöste Realität, einen Fetisch, sehen wollen“; durch die Bindung an die Kategorie der Chance werde der Staat „auf einem Wahrscheinlichkeitswert aufgebaut“.71 Vor allem Gerhard Hufnagel ist sehr darum bemüht, den „kritischen Gehalt“ des Konzepts hervorzuheben, mit dem sich Max Weber nicht nur „die Freiheit zur kritischen Distanzierung“ gegenüber der „Macht des Staates“ bewahre, sondern auch die „Chance zur kritischen Relativierung eines absoluten staatlichen Verfügungsanspruches“,72 „die kriti-

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Spann, Gesellschaftslehre, S. 47f. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 177. 70 Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie, S. 88. 71 Kurt Lenk, Staatsgewalt und Gesellschaftstheorie, München 1980, S. 162. 72 Hufnagel, Kritik als Beruf, S. 182. 69

2. Der Begriff der Chance

109

sche Wendung gegen die metaphysische Zementierung herrschender Mächte“, ja gar „den Raum kritischer Selbstabgrenzung gegenüber der Macht der herrschenden Institutionen und Gewalthaber“.73 Auch hier ist zu erkennen, daß der Phantasie bei der Bewertung des Konzepts offenbar keine Grenzen gesetzt sind. Es kann zwar kein Zweifel darüber bestehen, daß es einen kritischen und, wenn man so will, antietatistischen Impuls enthält, aber die Stilisierung Max Webers zum großen Kritiker der Macht und Verfügungsgewalt des Staates läßt außer acht, daß gerade er sich rückhaltlos zur Staatsräson, zum deutschen Nationalstaat und dessen Macht über Leben und Tod bekennt.74 Angesichts dessen mutet es kurios an, ihn zum Verfechter einer „kritischen Distanzierung“ gegenüber der Macht des Staates, einer „kritischen Relativierung“ staatlicher Ansprüche und einer „kritischen Selbstabgrenzung“ gegenüber staatlichen Institutionen zu stilisieren. Man kommt zu solchen unhaltbaren Bewertungen, wenn man das Konzept isoliert von Webers Staatsdenken betrachtet und sich nicht darüber im klaren ist, daß es Weber primär um eine handlungstheoretische, antisubstantialistische und empirische Fundierung der Staatstheorie geht. Die staatstheoretische Dimension des Konzepts hat eine empirische Pointe. Wenn der Staat in einer Chance besteht und diese Chance quantifizierbar ist, liegt der Schluß nahe, daß es auch verschiedene Grade von ‚Staat‘ geben muß, die darüber hinaus empirisch meßbar sein könnten, etwa in einer Skala von Existenz bis Nichtexistenz. Ein solches graduelles Staatsverständnis, das sich zwingend aus Webers Konzept ergibt, korrespondiert nicht nur mit dem graduellen Charakter des Gewaltmonopols, sondern auch mit der graduellen Geltung von Ordnungen. Danach beruht eine Ordnung auf der Chance, daß das Handeln „an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientiert“ wird, wobei zwischen „Geltung und Nichtgeltung“ keine „absolute Alternative“ bestehe, da es vielmehr „flüssige Uebergänge zwischen beiden Fällen“ gebe; entscheidend sei das Maß, in welchem sich das Handeln an der Ordnung ausrichtet.75 Anders als für Hamlet ist für Weber Sein oder Nichtsein hier nicht die Frage. Ihm kommt es auf den Grad des Seins oder Nichtseins an. Schon Hans Kelsen hat – in kritischer Absicht – auf eine solche Implikation hingewiesen: „Da diese Chance verschiedene Grade haben kann, müßte konsequenterweise auch die soziologische Existenz des Staates gradueller Differenzierung fähig sein.“76 Aber da es für ihn offenbar eine absurde Vorstellung war,

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Ebd., S. 184. Zu Webers Werthaltung gegenüber Staatsräson und Nationalstaat unten Kap. IV. 75 Weber, WuG, S. 16f. 76 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 20. 74

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III. Hermeneutik des Staates

es könne „verschiedene Grade von Staatlichkeit“ geben,77 pochte er auf „die logische Unhaltbarkeit dieser ganzen Konstruktion“, ohne allerdings sein Urteil begründen zu können. Adolf Menzel dagegen betonte mit Recht, daß die Staatswissenschaft mit dem Gradbegriff arbeiten müsse, und skizzierte auch anhand historischer Beispiele, daß es verschiedene „Grade von Staatlichkeit“ gebe.78 Sein rudimentärer Versuch, Webers Konzept staatstheoretisch fruchtbar zu machen, blieb jedoch in der Staatslehre singulär. Die Rezeption des durchaus revolutionären Ansatzes, dessen Originalität und Bedeutung Menzel noch klar vor Augen stand, riß Ende der zwanziger Jahre ab und ist bis heute nicht wieder aufgenommen worden. Für die historische Erforschung der Genese des modernen Staates aber ist ein graduelles Verständnis unerläßlich. Der Staat fällt nicht vom Himmel, sondern bildet sich, wie das Gewaltmonopol, in einem komplexen Prozeß erst sukzessive heraus. Auch für die Analyse der Gegenwart ist ein graduelles Staatsverständnis fruchtbar, da es verschiedene Grade der Geltung der staatlichen Ordnung geben kann: der Legitimitätsgeltung, mit der sie steht und fällt. Weber weist zwar darauf hin, daß es keine „absolute Alternative“ zwischen „Geltung und Nichtgeltung“ einer Ordnung gebe, aber zugleich ist klar, daß die Existenz einer staatlichen Ordnung schon bei einem graduellen Geltungsverlust auf dem Spiel steht. Für sie gilt im Grunde ein binärer Code: Sie kann nur gelten oder nicht gelten. Die Konzeption birgt also zwar theoretische Inkonsistenzen, hat aber großen heuristischen Wert mit Blick auf die Bedeutung von Grenzsituationen staatlicher Existenz. Anhand historischer Beispiele läßt sich ersehen, wie sich manchmal in kürzester Zeit Prozesse vollziehen, die über Sein oder Nichtsein einer staatlichen Ordnung entscheiden, wie etwa 1979 in Teheran oder 1989 in Ostberlin. Hier bestanden tatsächlich fließende Übergänge zwischen Geltung und Nichtgeltung, und es entschied sich innerhalb eines kurzen Zeitraums, ob „ein bestimmter ‚Staat‘ noch oder nicht mehr ‚existiere‘“.79

3. Erkenntnis des Staates Webers Position, der Staat sei nur die Chance von Staat, erfährt in einer beiläufigen Bemerkung in den Soziologischen Grundbegriffen noch eine Zuspit-

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Ebd., S. 21. Menzel, Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, S. 574f. 79 Weber, WuG, S. 13. Der Zusammenbruch der DDR ist ein anschauliches Beispiel für Webers These. In diesem Staat hörten die Menschen tatsächlich auf, ihr Handeln an der Vorstellung zu orientieren, daß dieser Staat bestehen soll, und binnen Jahresfrist hörte er zu existieren auf. 78

3. Erkenntnis des Staates

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zung. Daß „ein ‚Staat‘ besteht oder bestand“, bedeutet für ihn „ausschließlich und allein: wir (die Betrachtenden) urteilen, daß eine Chance vorliegt oder vorlag..., und sonst gar nichts“.80 Demnach verhält es sich mit dem Staat ebenso wie mit der Kunst: Er entsteht im Auge des Betrachters. Diese erkenntnistheoretische Pointe seiner Konzeption beruht auf einer neukantianisch geprägten Sichtweise, nach welcher der Staat nur die Vorstellung von Staat ist und selbst die Chance nur die Vorstellung von Chance. Angesichts der zwar nur beiläufigen, aber um so wichtigeren Bemerkung Webers muß die Frage gestellt werden, in welchem Verhältnis Staatstheorie und Erkenntnistheorie in seinem Werk stehen. Dieser Frage ist auch in Anbetracht der Tatsache nachzugehen, daß bereits einige Verbindungslinien zwischen beiden Bereichen deutlich geworden sind, wie etwa bei seinem Staatsbegriff, bei der Konzeption des Idealtypus oder bei der handlungstheoretischen Staatsauffassung. Webers Staatstheorie steht mehr als die irgendeines anderen Staatsdenkers seiner Zeit im Kontext eines Werks, welches zugleich eine ausformulierte Wissenschaftstheorie enthält. Die allgemeinen erkenntnistheoretischen Positionen, die er in seinen programmatischen Aufsätzen entfaltet, lassen auch Rückschlüsse auf sein Staatsverständnis zu. Die Erkenntnisfrage, die nach seinem Verständnis für jeden Untersuchungsgegenstand entscheidende Bedeutung hat, muß auch im Bezug auf den Staat gestellt werden. Ebenso wie es „keine schlechthin ‚objektive‘ wissenschaftliche Analyse“ sozialer Erscheinungen gibt,81 ist für Weber auch keine objektive Betrachtung des Staates möglich. Weil vielmehr jede Erkenntnis der Wirklichkeit „an ‚subjektive‘ Voraussetzungen gebunden“, also „stets eine Erkenntnis unter spezifisch besonderten Gesichtspunkten“ ist,82 kann auch die des Staates nur eine subjektive sein. Sie hängt vom Gesichtspunkt des Betrachters ab. Dieser Befund zeigt bereits, daß Weber keine „objektive“ Erkenntnis des Staates anstreben kann und will. Da der Wissenschaftler sich nach seinem Verständnis „nur um diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit kümmert“, denen er „Kulturbedeutung“ beilegt,83 ist klar, daß es sich bei den Fragmenten seiner Staatstheorie um diejenigen Aspekte der staatlichen Wirklichkeit handelt, denen er solche Kulturbedeutung beimißt. Einen direkten Zusammenhang von Staats- und Erkenntnistheorie stellt Max Weber zwar nur selten her, aber dafür um so nachdrücklicher. An einer Stelle des Objektivitätsaufsatzes, wo er „die Frage der logischen Struktur des Staatsbegriffes“ als den „weitaus kompliziertesten und interessantesten“ Fall der Be-

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Weber, WuG, S. 14. Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: WL, S. 170. 82 Ebd., S. 181f. 83 Ebd., S. 182. 81

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III. Hermeneutik des Staates

deutung der Begriffsbildung für die Erkenntnis der Wirklichkeit bezeichnet, will er eine „eingehende Erörterung“ zwar „beiseite lassen“, umreißt aber doch die ganze Tragweite der Frage: „Wenn wir fragen, was in der empirischen Wirklichkeit dem Gedanken ‚Staat‘ entspricht, so finden wir eine Unendlichkeit diffuser und diskreter menschlicher Handlungen und Duldungen, faktischer und rechtlich geordneter Beziehungen, teils einmaligen, teils regelmäßig wiederkehrenden Charakters, zusammengehalten durch eine Idee, den Glauben an tatsächlich geltende oder gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen. Dieser Glaube ist teils gedanklich entwickelter geistiger Besitz, teils dunkel empfunden, teils passiv hingenommen und auf das mannigfaltigste abschattiert in den Köpfen der Einzelnen vorhanden, welche, wenn sie die ‚Idee‘ wirklich selbst klar als solche dächten, ja nicht erst der ‚allgemeinen Staatslehre‘ bedürften, die sie entwickeln will.“84 Daß Max Weber in diesen beiden beeindruckenden Sätzen, die das Substrat seiner Staatstheorie enthalten, vom Staatsbewußtsein „in den Köpfen der Einzelnen“ redet, ist Ausdruck seines individualistischen Ansatzes, der immer wieder auf die Ebene des Einzelnen zurückgeht. Das Bewußtsein vom Staat kann nur das Bewußtsein des Einzelnen sein und das Verstehen des Staates nur das Verstehen des Einzelnen. Daher erteilt er dem Deutungsmonopol der Allgemeinen Staatslehre eine eindeutige Absage und hebt statt dessen die Bedeutung der individuellen – mit Michail M. Bachtin zu reden – „Hermeneutik des Alltags“85 hervor. Daß Weber hier alles andere als obskurantistisch argumentiert, zeigt seine anschließende Forderung, eben jenes Staatsbewußtsein zum Untersuchungsgegenstand der Allgemeinen Staatslehre zu machen: Der „wissenschaftliche Staatsbegriff“ sei „natürlich stets eine Synthese, die wir zu bestimmten Erkenntniszwecken vornehmen“, „andererseits auch abstrahiert aus den unklaren Synthesen, welche in den Köpfen der historischen Menschen vorgefunden werden“. Es unterliege „nicht dem mindesten Zweifel, daß die Art, wie jene Synthesen, in logisch stets unvollendeter Form, von den Zeitgenossen vollzogen werden, der ‚Ideen‘, die sie sich vom Staat machen, ... von eminenter praktischer Bedeutung ist“.86 Damit skizziert er das Programm einer ideengeschichtlich fundierten Staatstheorie, die nach seinem Verständnis zur Unfruchtbarkeit verurteilt wäre, wenn sie nicht jene Ideen vom Staat berücksichtigen würde, die oftmals großen Einfluß auf das staatliche Handeln ausgeübt haben. Dieses Programm hat er allerdings selbst nicht eingelöst, da er fast überhaupt keinen Bezug auf ideenge-

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Ebd., S. 200. Michail M. Bachtin, Das Wort im Roman (1934), in: ders., Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, Frankfurt a. M. 1979, S. 154-300 (226). 86 Weber, Die „Objektivität“, S. 200f. 85

3. Erkenntnis des Staates

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schichtliche Positionen nimmt und die Geschichte der Staatstheorien fast gänzlich aus seinen staatstheoretischen Fragmenten ausblendet. Und nicht zuletzt relativiert er die Verstehensleistung der Einzelnen, wenn er die Synthesen in ihren Köpfen als ‚unklar‘ und ‚logisch unvollkommen‘ bezeichnet. Das Entscheidende aber ist, daß er den Ideen – also auch den Staatsideen – eine große Bedeutung einräumt. Wenn er von den Ideen vom Staat redet, spricht er ausdrücklich von Staatstheorien und nennt insbesondere die deutsche Staatsmetaphysik.87 Damit erscheinen die Staatstheorien hier als eine geronnene Form des Staatsbewußtseins, die den – keineswegs immer eingelösten – Anspruch auf klare und logisch vollkommene Synthesen erhebt. Max Webers erkenntnistheoretische Reflexion des Staates läßt sich im wissenschaftlichen Kontext seiner Zeit exakt verorten. Sie findet sich fast wörtlich bei Georg Jellinek, der den Staat als „Synthese“ im Bewußtsein der Menschen begreift und darüber hinaus auch die Subjektivität der Staatserkenntnis betont: „Aus der ungeheuren Zahl der menschlichen gesellschaftlichen Handlungen wird ein Teil ausgeschieden und auf Grund bestimmter, eine Synthese fordernder Erscheinungen zu einer Einheit in dem Bewußtsein sowohl des staatlich Handelnden als auch des Forschers und Beurteilers zusammengefaßt.“ Die wissenschaftliche Erkenntnis des Staates könne daher, so seine Folgerung, nur eine „subjektive“ sein; empirische Sinneseindrücke würden vom individuellen Bewußtsein wahrgenommen und zur Synthese „Staat“ verarbeitet, so daß dieser nicht unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existieren könne.88 An diese neukantianisch inspirierte Sichtweise Georg Jellineks ist Max Webers Auffassung unübersehbar angelehnt. Da für beide Denker der Staat eine Synthese im Bewußtsein der Betrachter ist, kann für beide auch der Staat nur die Vorstellung von Staat sein. Auf eine solche Anschauung reagierte die philosophisch unmusikalische Staatslehre des frühen 20. Jahrhunderts allerdings ebenso polemisch wie verständnislos. Edgar Loening entrüstete sich entgeistert über Jellineks Ansatz,89 und Adolf Menzel lehnte Webers Auffassung, „derzufolge der Staat nur eine gedankliche Synthese von Handlungen“ sei, kategorisch ab, da der Staat somit von den jeweils verschiedenen Vorstellungen der Menschen abhänge, was „dem Wesen des Staates nicht gerecht“ werde.90 Auch Hermann Heller stand einer

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Ebd., S 201. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 137. 89 „Und der Staat soll nur eine Vorstellung sein?“ Edgar Loening, Art. Der Staat, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaft, Bd. 7, Jena 1911, S. 701. Jellinek galt zwar als Autorität, aber an diesem Punkt versagten ihm selbst Anhänger die Gefolgschaft. 90 Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates, in: Handbuch der Politik, 1. Bd., Berlin/ Leipzig 1912, S. 42. Menzels Kritik ist insofern ideengeschichtlich interessant, als sie die erste Auseinandersetzung mit einer staatstheoretischen Position Webers überhaupt ist, wenn 88

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III. Hermeneutik des Staates

Infragestellung der Realität fassungslos gegenüber und plädierte für die Rückkehr zum Glauben an eine „objektive“ Wirklichkeit. Der „anarchische Subjektivismus“91 Webers war ihm entsprechend zuwider. Er glaubte, Weber begreife den Staat nur als eine „subjektive gedankliche Synthese“ und nicht als „objektive Wirklichkeitsstruktur“, weshalb er „den Ansprüchen der Staatslehre nicht genügen“ könne.92 Es wäre indes unfair, sich heute über Hellers burschikosen und hemdsärmeligen Realismus zu erheben, schließlich hatte er sich der Aufgabe verschrieben, den Konstruktivismus zu bekämpfen, eine Theorie, die in der Tat den realen politischen Problemen bis heute meistens hilflos gegenübersteht. Wenn seine Anti-Weber-Polemik gleichwohl ins Leere ging, dann weil Weber gar keine konstruktivistische Position vertrat, sondern seinen Ansatz vielmehr als „Wirklichkeitswissenschaft“ konzipierte.93 Max Weber enthält sich jeder Aussage über das Verhältnis von Sein und Bewußtsein. Aber seine Position zu der alten Kontroverse um jenes Begriffspaar läßt sich gleichwohl im Bezug auf deren große Protagonisten bestimmen. Während Hegel, für den der Staat ein Erkenntnisproblem ersten Ranges ist, die Bedeutung der „Anschauungen über den Staat“ hervorhebt,94 kann Marx nur darüber spotten, „daß Hegel, der so großen Respekt vor dem ... Staatsbewußtsein hat“, dieses „unkritisch für die wirkliche Existenz“ des Staates halte.95 Weber stellt niemanden vom Kopf auf die Füße, aber er steht in seiner Hervorhebung der Rolle des Staatsbewußtseins sicherlich Hegel näher als Marx. Seine Sicht des Verhältnisses von staatlichem Sein und Staatsbewußtsein läßt sich mit Hilfe seiner berühmten Formulierung aus der Religionssoziologie erschließen: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“96

——————— auch nur in Form einer Anmerkung. Sie zeigt überdies, wie stark die Rezeption von Anfang an von grundlegenden Mißverständnissen begleitet ist: Weber wird ausgerechnet der juristischen Staatsauffassung zugeordnet, von der er sich ja stets abgrenzt. 91 Ebd. 92 Hermann Heller, Staatslehre, hg. v. Gerhart Niemeyer, Leiden 1934, S. 62. 93 Weber, Die „Objektivität“, S. 170. Aber auch an Webers „Wirklichkeitswissenschaft“ hatte Heller etwas auszusetzen, obwohl er das Konzept selbst von Weber übernommen hatte. Vgl. ausführlich Andreas Anter, Hermann Heller und Max Weber, in: Marcus Llanque (Hg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden 2010, S. 119-136. 94 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Stuttgart 1970, S. 423 (§ 272). 95 Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 263. 96 Weber, Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: RS I, S. 252.

3. Erkenntnis des Staates

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Bezieht man diesen längst klassisch gewordenen Satz auf die Frage der Staatsideen, so muß man zu dem Schluß kommen, daß Weber das Verhältnis von Staatsideen und staatlichem Sein als eines der Interdependenz begreift. Zugleich vermag eine staatstheoretische Lesart dieses Satzes die Bedeutung des Staats-Denkens zu unterstreichen, und man muß nicht Neukantianer sein, um Webers Sichtweise zu teilen. Der Staat ist, wie Theodor Litt sagt, „weitgehend davon abhängig, in welchem Lichte ihn die durch ihn zusammengefaßten Menschen sehen“, da die Vorstellungen, die sie sich vom Staat machen, für ihr Handeln „in hohem Grade mitbestimmend sind“.97 Auch für Michael Stolleis beruht der Staat auf jenen Vorstellungen, die wir uns von ihm machen, ja er existiere erst „kraft dieser Vorstellung“.98 Auf einer systemtheoretischen Ebene begegnet uns diese Sichtweise bei Niklas Luhmann, dessen Definition des Staates als „Formel für die Selbstbeschreibung des politischen Systems“,99 die sich seiner Theorie selbstreferentieller Systeme verdankt, auch als Radikalisierung Webers gelesen werden kann.100 Angesichts der Tatsache, daß Max Weber über eine elaborierte Wissenschaftstheorie verfügt, ist es einerseits überraschend, wie spärlich seine erkenntnistheoretische Reflexion des Staates geblieben ist, andererseits aber ist es erfrischend, daß er seine Staatstheorie nicht mit Methodologie überfrachtet. Diese Enthaltsamkeit beruht auf einer lobenswerten Abneigung gegenüber einer „Ueberschätzung der Bedeutung methodologischer Studien“: An der „Lösung sachlicher Probleme“ seien „noch niemals“, wie Weber klarstellt, „rein erkenntnistheoretische oder methodologische Erwägungen entscheidend beteiligt gewesen“.101 Noch deutlicher wird er im Kategorien-Kolleg seines letzten Semesters: „Methode ist das Sterilste was es gibt ... Mit Methode allein ist noch nie etwas geschaffen worden.“102 Man wünschte, die Sozialwissenschaftler des

——————— 97

Theodor Litt, Die Freiheit des Menschen und der Staat, Berlin 1953, S. 5f. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 4, München 2012, S. 22. 99 Niklas Luhmann, Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: Udo Bermbach (Hg.), Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft, Opladen 1984, S. 102. 100 Luhmann selbst nimmt Bezug auf Weber, allerdings in Form einer Abgrenzung, wenn er betont, der Staat habe „seine Realität mithin nicht, wie bei Max Weber im Bewußtsein des Einzelmenschen, der den Sinn seines Handelns am Staat orientiert; sondern ein politisches System beschreibt sich selbst als Staat“ (ebd., S. 103). Diese Position ist allerdings nur innerhalb der systemtheoretischen Dogmatik plausibel und verläßt genau die Ebene, auf die Weber immer wieder zurückgeht: die Ebene des Handelns des Einzelnen. 101 Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), in: WL, S. 217. 102 Aus dem Nachlaß, mitgeteilt bei Wilhelm Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1996, S. 163. Hennis demonstriert überzeugend, „wie herablassend sich Weber durchweg über die Bedeutung methodologischer Erörterung äußert“ (ebd., S. 161). 98

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III. Hermeneutik des Staates

20. Jahrhunderts hätten diese Worte in ihren Herzen bewegt, statt sich unermüdlich durch den Dschungel der Erkenntnistheorie und Methodologie zu bahnen. Und so beruhten denn auch die großen sozialwissenschaftlichen Kontroversen nur allzu oft auf rein erkenntnistheoretischen Streitfragen, wie die verschiedenen Auflagen des Positivismusstreits gezeigt haben. Die Überschätzung der Methodologie, über die Max Weber klagt, ist sicherlich als Reaktion auf den Positivismus des 19. Jahrhunderts zu werten, der sich erkenntnistheoretischen Fragen elegant (oder ignorant) entzog. Das Credo des zu seiner Zeit vorherrschenden Neukantianismus, die Wahl der Methode bestimme auch die Erkenntnis des Gegenstands, spiegelt sich in Georg Jellineks legendärer Zwei-Seiten-Theorie, nach der es zwei verschiedene Erkenntnisgegenstände Staat und daher auch zwei verschiedene Staatsbegriffe gibt: den sozialen und den juristischen. Auch Weber grenzt die soziologische und die juristische Erkenntnis scharf voneinander ab, geht aber nicht so weit, zwei verschiedene Staatsbegriffe aufzustellen, sondern hält pragmatisch und konsequent an einem Staatsbegriff fest. Damit hat er Jellineks Zwei-Seiten-Theorie, an der sich noch eine ganze Generation von Staatstheoretikern abgearbeitet hat, im Kern bereits überwunden.103 Er vermeidet es, in ressortpatriotischer Manier eine bestimmte Betrachtungsweise des Staates zur allein gültigen zu erheben, sondern denkt vielmehr in diesem Punkt sozusagen wissenschaftspluralistisch, indem er die verschiedenen Betrachtungsweisen als gleichberechtigte gelten läßt, ihre jeweiligen Reichweiten und Grenzen aufzeigt und auf diese Weise der Heterogenität des Gegenstandes Rechnung trägt.

——————— 103 Man würde offene Türen einrennen, wenn man heute noch auf die Unhaltbarkeit der Jellinekschen Zwei-Seiten-Lehre pochen würde. Es ist klar, daß zur Rechtswissenschaft kein anderer Staatsbegriff als zur Sozialwissenschaft gehören kann. Dazu hat Ulrich Scheuner schon Anfang der sechziger Jahre das Notwendige gesagt. Vgl. Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre, in: Konrad Hesse u. a. (Hg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung, Tübingen 1962, S. 248. – Vgl. Oliver Lepsius, Die Zwei-Seiten-Lehre des Staates, in: Andreas Anter (Hg.), Die normative Kraft des Faktischen, Baden-Baden 2004, S. 63-88; Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000, S. 145ff.; Andreas Anter, Georg Jellineks wissenschaftliche Politik, in: PVS 39 (1998), S. 503-526 (515ff.).

Nun, reden kann man natürlich auch hier von „Wert“; wo denn nicht! Mit der Geschmeidigkeit dieses Wortes lässt sich ja Kautschuk kaum mehr vergleichen ... „Wert“, das ist so recht das Wort der Worte, der Retter aus tausend Nöten unseres Denkens, der Liebling aller tönenden Rede. Friedrich Gottl, Die Herrschaft des Wortes Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt. Goethe, Faust I

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre Der Logos-Aufsatz, in dem Max Weber noch einmal programmatisch die Grundzüge seiner Werturteilslehre formuliert, endet in einer virtuosen staatstheoretischen Apotheose. Weber schreibt hier über das „Prestige“ des Staates und dessen „Macht über Leben, Tod und Freiheit“, die Rolle des Staates als größter Wirtschaftsunternehmer und mächtigster „Tributherr der Bürger“, seine beispiellosen Leistungen aufgrund seiner modernen rationalen Organisationsform. „Es konnte kaum ausbleiben, daß daraus die Folgerung gezogen wurde: er müsse auch ... der letzte ‚Wert‘ sein, an dessen Daseinsinteressen alles gesellschaftliche Handeln letztlich zu messen sei“, wie Weber resümiert.1 Schon im Objektivitätsaufsatz bezeichnet er den Staat als „Deckadresse für ein in sich höchst verschlungenes Knäuel von Wertideen“2 und betont die Wertgebundenheit jeder Staatsanschauung, auch die seiner eigenen. Wenn er an diesen beiden Stellen sein Wertverständnis und seine Staatsauffassung in einen unmittelbaren Zusammenhang rückt, ist nach der systematischen Verknüpfung von Werturteilslehre und Staatstheorie in seinem Werk zu fragen und die Wertdimension seiner Staatslehre zu erschließen. Bevor wir uns dieser Untersuchung zuwenden, sind einige Klarstellungen zu seiner Werturteilslehre notwendig. In ebenso verbreiteten wie vulgarisierenden Darstellungen erscheint Webers Werturteilslehre als blanke ‚Theorie der Wertfreiheit‘, welche die Werturteile aus der Wissenschaft verbannen wolle. Nach seinem Verständnis aber ist jede Wisenschaft, und daher auch jede Staatslehre, vielmehr notwendig wertgebunden. So wie jedes Handeln „eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet“, liegen jeder wissenschaftlichen Arbeit „Wertmaßstäbe“ zugrunde,

——————— 1 Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917), in: WL, S. 539. 2 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: WL, S. 211.

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

die zwangsläufig die „wissenschaftliche Argumentation“ prägen.3 Die Erkenntnis der Wertgebundenheit jeder Wissenschaft führt ihn erst zu der wissenschaftsethischen Maxime, es komme darauf an, die Wertmaßstäbe offenzulegen, „an denen die Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgeleitet wird“.4 Für Weber gibt es, anders als viele Autoren heute noch annehmen, „keine schlechthin ‚objektive‘ wissenschaftliche Analyse“ sozialer Phänomene,5 also auch keine objektive Analyse des Staates. Wissenschaftliche Erkenntnis sei, wie er nachdrücklich betont, vielmehr „an ‚subjektive‘ Voraussetzungen gebunden“.6 Da Wissenschaft nach seinem Verständnis gleichwohl auf Intersubjektivität gerichtet zu sein hat, ein Ziel, das sie „jedenfalls erstreben muß“,7 ist Objektivität bei Weber als eine Art regulativer Idee zu verstehen. Schon Weber selbst klagt darüber, „unendliches Mißverständnis“ und „gänzlich steriler Streit“ knüpfe sich an das Wort Werturteil.8 Dieses Mißverständnis hat sich in den verschiedenen Neuauflagen des Werturteilsstreits9 stets wiederholt. Da die wissenschaftsethische Dimension seiner Konzeption zumeist schlicht übersehen und die Werturteilslehre nur allzu oft auf z.T. groteske Weise entstellt wurde, trat sie in der Kritik zumeist als das genaue Gegenteil ihres tatsächlichen Gehalts in Erscheinung. Es waren die Worte „Objektivität“ und „Wertfreiheit“ in den Titeln der beiden großen Aufsätze, die wie Reizworte

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Ebd., S. 150f. Ebd., S. 156. 5 Ebd., S. 170. 6 Ebd., S. 182. Weber faßt seine Position mit einer poetischen Formel zusammen: „Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt“ (Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: WL, S. 120; ders., Die „Objektivität“, S. 209). Er verrät nicht, daß es sich um ein Goethe-Zitat handelt (Faust I/179). Die Tatsache, daß Wilhelm Hennis diesen Satz zum Motto seines Weber-Buchs macht (Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, S. 3), ist für Friedrich Tenbruck ein Grund zu einer maßlosen Verärgerung. Er glaubt, Hennis habe „ein gewaltiges Eigentor geschossen“, ja sei „einer geradezu grotesken Verfälschung“ aufgesessen; er meint ihm eine „eklatante ... Fehlleistung“ unterstellen zu können, da Weber „die Wissenschaft entschieden warnen“ wolle, „sich auf das zu verlassen, was sie im Herzen trägt“ (Tenbruck, Abschied von der „Wissenschaftslehre“? in: Johannes Weiß (Hg.), Max Weber heute, Frankfurt a. M. 1989, S. 110). Der einzige, der hier ein Eigentor schießt, ist Tenbruck selbst. Er verkennt vollkommen den Sinn, in dem Weber das Zitat verwendet. 7 Weber, Die „Objektivität“, S. 155. 8 Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“, S. 499. 9 Dazu Gert Albert, Der Werturteilsstreit, in: Georg Kneer/Stephan Moebius (Hg.), Soziologische Kontroversen, Frankfurt a. M. 2010, S. 14-45; Hans Henrik Bruun, Science, Values and Politics in Max Weber’s Methodology, 2. Aufl. Aldershot 2007, S. 57ff.; Heino Heinrich Nau (Hg.), Der Werturteilsstreit. Die Äußerungen zur Werturteilsdiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik, Marburg 1996; Hans Albert, Theorie und Praxis. Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität, in: ders./Ernst Topitsch (Hg.), Werturteilsstreit, Darmstadt 1979, S. 200ff. 4

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

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wirkten, hinter denen man sofort Positivismus erkannt zu haben glaubte. Daran ist Max Weber sicherlich nicht ganz unschuldig: Das unendliche Mißverständnis, über das er sich beklagt und das bis heute andauert, beruht zu einem nicht unerheblichen Teil auch auf der unglücklichen Wahl seiner Aufsatztitel.10 Schließlich gilt es von der verbreiteten Meinung Abschied zu nehmen, man könne strikt zwischen ‚wissenschaftlich-wertfreien‘ und ‚wertend-politischen‘ Positionen Webers unterscheiden.11 Folgte man der unhaltbaren Trennung des Werks in das Wertend-Politische und das Wertfrei-Wissenschaftliche, die zu den revisionsbedürftigen Beständen der Weberphilologie gehört,12 so würde auch seine Staatslehre in zwei Teile zerfallen. Gerade anhand seines Staatsdenkens aber kann gezeigt werden, daß beide Bereiche unauflöslich miteinander verknüpft sind. Max Webers erkenntnistheoretische Konzeption ist, um zunächst ihr geistesgeschichtliches Umfeld zu umreißen, bis ins Detail an die Heinrich Rickerts angelehnt, der in seiner Diskussion um die Frage der „Objektivität der Erkenntnis“13 betont, daß jede Erkenntnis vom Wertmaßstab des Wissenschaftlers abhänge14 und daß dieser die Aufgabe habe, die Wertbezogenheit seiner eigenen „Fragestellung“ offenzulegen.15 Für Rickert ist fraglich, „ob es eine absolut wertfreie Betrachtung wirklich gibt“, da wissenschaftliches Interesse stets wertgebunden sei.16 So erscheint ihm die „Objektivität“ als ein Ziel, das zwar „von

——————— 10 Die Mißverständnisse, etwa die „Etikettierung Webers als ‚Positivist‘“, beginnen schon mit den „mißglückten Titeln Webers“, wie Wilhelm Hennis treffend feststellt (Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1996, S. 160). – Zu Webers Ansatz siehe Laurence McFalls (Hg.), Max Weber’s ‘Objectivity’ Reconsidered, Toronto 2007; Stephen Turner, The Continued Relevance of Weber’s Philosophy of Social Science, in: Max Weber Studies 7 (2007), S. 37-62; Bruun, Science, Values and Politics in Max Weber’s Methodology, passim; Sven Eliaeson, Max Weber’s Methodologies. Interpretation and Critique, Cambridge 2002; Fritz Ringer, Max Weber’s Methodology, 2. Aufl. Cambridge, Mass. 2000; Friedrich H. Tenbruck, Die Wissenschaftslehre Max Webers, in: ders., Das Werk Max Webers, hg. v. Harald Homann, Tübingen 1999, S. 219-241; Gerhard Wagner, Heinz Zipprian (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt a. M. 1994. 11 So etwa Reinhard Bendix/Guenther Roth, Scholarship and Partisanship: Essays on Max Weber, Berkeley 1971, S. 55f. 12 Daß eine solche Scheidung das Verständnis Webers eher erschwert als erleichtert, hat Wilhelm Hennis mit Recht betont (Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, S. 224). 13 Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie (1892), 4./5. Aufl. Tübingen 1921, S. 122. Max Weber adaptiert diese Formulierung Rickerts bereits im Titel seines Objektivitätsaufsatzes (Weber, Die „Objektivität“, S. 146). 14 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 111. 15 Ebd., S. 121f. und passim. 16 Rickert, Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1904), 3. Aufl. Heidelberg 1924, S. 56.

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

keinem völlig erreicht“ werden könne, aber als „Ideal“ zu verfolgen sei.17 Weber ist seinem Freund und Kollegen nicht nur in genau dieser erkenntnistheoretischen und wissenschaftsethischen Position gefolgt, sondern bezieht auch die Figur der „Fragestellung“, einen seiner zentralen Begriffe, auf die Wertproblematik: „Wo aber um Werthe gestritten wird, da wird“, wie er an Else Jaffé schreibt, „eine gänzlich heterogene Fragestellung vorgenommen.“18 Weber selbst weist zwar auf den Rickert-Bezug pauschal hin, spielt ihn aber eher herunter, wenn er in einer Anmerkung sagt, er knüpfe „lediglich“ an ihn an.19 Dieses Anknüpfen zeigt sich nicht zuletzt in einem für uns entscheidenden Punkt: So wie Heinrich Rickert zu den „Wertbegriffen“ primär den Staat zählt – einen Wert, auf den der historisch orientierte Wissenschaftler seine Fragestellung zu richten habe –,20 reflektiert auch Max Weber den Staat in der Wertdimension, die im folgenden erschlossen werden soll.

1. Der Gesichtspunkt der Staatsräson Webers Auffassung der Wertgebundenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis ist im Kern bereits in seinen frühen Schriften angelegt. Es sei eine Illusion, sich bei der wissenschaftlichen Arbeit „des eigenen bewußten Werturteiles überhaupt enthalten zu können“, heißt es in der Freiburger Antrittsrede.21 Während er aber hier noch die Nationalökonomie auf den Wertmaßstab der Staatsräson verpflichtet,22 will er in seinen späten Schriften davon Abstand nehmen, die Wissenschaft auf einen bestimmten Wertmaßstab festzuschreiben.23 Führt diese

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Ebd., S. 59. Weber, Brief an Else Jaffé, 13. September 1907, in: Briefe 1906-1908. MWG II/5, S.

403. 19 Weber, Die „Objektivität“, S. 146. Siehe auch ders., Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: WL, S. 427; ders., Roscher und Knies, in: WL, S. 7. – Zum Verhältnis Rickert/Weber vgl. Peter-Ulrich Merz-Benz, Max Weber und Heinrich Rickert, 2. Aufl. Wiesbaden 2014 (i.E.); Eliaeson, Max Weber’s Methodologies, S. 22ff.; Hans Henrik Bruun, Weber On Rickert: From Value Relation to Ideal Type, in: Max Weber Studies 1 (2001), S. 138-160; Ringer, Max Weber’s Methodology, S. 36ff.; Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 73ff.; Guy Oakes, Weber and Rickert. Concept Formation in the Cultural Sciences, Cambridge, Mass. 1988, bes. S. 18ff., 91ff.; Gerhard Wagner, Geltung und normativer Zwang, Freiburg/München 1987, S. 108ff.; Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 183ff. 20 Rickert, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, S. 61, 71 u. 80. 21 Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895), in: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. MWG I/4, S. 564 (PS 16). 22 Ebd., S. 561 (PS 14). 23 Weber, Die „Objektivität“, S. 149.

1. Der Gesichtspunkt der Staatsräson

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Entwicklung auch zu einer Modifikation seiner Werthaltung? Und welche Rolle spielt der Wert der Staatsräson in seinem Staats- und Wertdenken? Eine Untersuchung des Verhältnisses von Staatstheorie und Werturteilslehre muß beim jungen Weber ansetzen, da sein Staatsdenken wie sein Wertverständnis sich in einem Entwicklungsprozeß formen, den es zu berücksichtigen gilt. Überhaupt kann das Verständnis Max Webers nur ein genetisches sein. Unser Ansatzpunkt ist seine Ausarbeitung des ostelbischen Teils der 1891/92 vom Verein für Socialpolitik erhobenen Landarbeiter-Enquete. Diese Studie und die daran anknüpfenden Reden und Schriften spielen eine zentrale Rolle im Frühwerk24 und enthalten darüber hinaus seine ersten staats- und werttheoretischen Positionen. Weber bekennt in seiner Auswertung der Enquete, er betrachte die agrarpolitische und sozialökonomische Lage Ostelbiens vom „Standpunkt des Staatsinteresses“ aus.25 Dieser Standpunkt rückt in seinem Referat auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik im Jahre 1893, wo er seinen Enquetebericht vorstellt, ganz in den Vordergrund. Max Weber sagt in seinem Resümee, er betrachte die Landarbeiterfrage „ganz ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Staatsraison“; es gehe ihm nicht um die Frage des Lebensstandards der Landarbeiter, sondern einzig und allein um das „Interesse des Staates“.26 Der Staat erscheint hier in einer doppelten Eigenschaft: einerseits als Maßstab der Beurteilung der Landarbeiterfrage und andererseits als Instrument ihrer Lösung.27 Weber vertraut also nicht den Kräften des Marktes, sondern setzt auf den Staat, der agrarpolitische und ökonomische Fehlentwicklungen korrigieren und sich gegen die Interessen der mächtigen Großgrundbesitzer durchsetzen

——————— 24 Nachdem die Arbeiten des jungen Weber lange im Abseits der Weber-Literatur gestanden haben, wird ihnen seit einiger Zeit verstärkt Beachtung geschenkt. Richtungweisend und grundlegend bereits Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, 3. Aufl. Tübingen 2004, bes. S. 22ff. Vgl. ferner Cornelius Torp, Max Weber und die ostelbischen Junker, Tübingen 1998, S. 37ff.; Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, S. 157ff.; Dieter Krüger, Max Weber und die „Jüngeren“ im Verein für Sozialpolitik, in: Mommsen/Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen/Zürich 1988, S. 98ff.; Eberhard Demm, Max und Alfred Weber im Verein für Sozialpolitik, ebd., S. 119ff.; Martin Riesebrodt, Vom Patriarchalismus zum Kapitalismus. Max Webers Analyse der Transformation der ostelbischen Agrarverhältnisse im Kontext zeitgenössischer Theorien, in: KZfSS 37 (1985), S. 546ff.; Lawrence A. Scaff, Weber before Weberian Sociology, in: British Journal of Sociology 35 (1984), S. 190-215; Keith Tribe, Prussian agriculture – German politics: Max Weber 1892-7, in: Economy and Society 12 (1983), S. 181ff.; V. K. Dibble, Social Science and Political Commitments in the Young Max Weber, in: Archives Europénnes de Sociologie 9 (1968), S. 92ff. 25 Weber, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland 1892. MWG I/3, S. 927. 26 Weber, Die ländliche Agrarverfassung (1893), in: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. MWG I/4, S. 165-198 (180). 27 Weber forderte in seinem Referat unter anderem die Schließung der deutschen Ostgrenze für polnische Wanderarbeiter und staatliche Ansiedlungsprogramme für deutsche Bauern.

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

müsse. Mit seinen sozialpolitischen Forderungen liegt Weber ganz auf der Linie des Vereins für Socialpolitik, der – ungeachtet aller Richtungskämpfe – staatliche Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft zur Lösung der sozialen Frage bejahte und forderte.28 Gleichzeitig steht Weber gegen die liberale Doktrin seiner Zeit und will traditionelle liberale Vorbehalte gegenüber staatlicher Sozialpolitik überwinden.29 Er rechnet sich zwar durchaus zu den Liberalen, wenn er in seiner Debattenrede auf der Generalversammlung von seinen „eigenen liberalen Gesinnungsgenossen“ spricht,30 geht aber auch zu ihnen auf Distanz, wenn er für „das Eingreifen des Staates in die sogenannte soziale Frage“ eintritt und es als „unleugbare Tatsache“ sieht, daß der „Liberalismus der siebziger Jahre die sozialen Aufgaben des Staates“ sträflich vernachlässigt habe.31 Der Staat spielt eine entscheidende Rolle bei der (sozial)politischen Selbstverständigung des jungen Weber. Sein sozialpolitisches Engagement wie auch sein – ambivalentes – Verhältnis zum Liberalismus werden entscheidend durch sein Staatsverständnis bestimmt. Er sieht, daß die „soziale Frage“ nach Antworten verlangt, die der Staat geben muß, daß an den Staat Anforderungen gestellt werden, denen dieser sich nicht entziehen kann und darf. Der Standpunkt, den er in seinem Referat bezieht, wirft nicht nur ein Licht auf das Selbstverständnis des frischgebackenen Sozialforschers, dessen Gesichtspunkte das Staatsinteresse und die Staatsräson sind, sondern auch auf den Wertmaßstab, der seinem sozialwissenschaftlichen Engagement zugrunde liegt. Er verwendet hier zwar den Begriff des Wertes noch nicht, aber da dieser auch in seinen späten Arbeiten oft als Synonym für ‚Gesichtspunkt‘32 verwendet wird, praktiziert er hier bereits die wissenschaftsethische Maxime seiner Werturteilslehre, nämlich den Maßstab offenzulegen, an dem die Wirklichkeit gemessen wird, und den Wertgesichtspunkt zu benennen, der der wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegt. Zugleich treten hier Wertorientierung und Staatsbezug erstmals in einen direkten Zusammenhang.

——————— 28 Dazu Dieter Lindenlaub, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „Neuen Kurses“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890-1914), Wiesbaden 1967. Vgl. auch Irmela Gorges, Sozialforschung in Deutschland 1872-1914. Gesellschaftliche Einflüsse auf Themen- und Methodenwahl des Vereins für Socialpolitik, Königstein/Ts. 1980; Marie-Louise Plessen, Die Wirksamkeit des Vereins für Socialpolitik von 1872-1890, Berlin 1975. 29 Daß dies ein entscheidendes Motiv seines Engagements nicht nur im Verein für Socialpolitik, sondern auch im Evangelisch-sozialen Kongreß war, hat Rita Aldenhoff überzeugend herausgearbeitet (Aldenhoff, Max Weber und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Momm– sen/ Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, S. 285ff.). 30 Schriften des Vereins für Socialpolitik, Leipzig 1893, S. 128. 31 Weber, Brief an Hermann Baumgarten, 30. April 1888, in: JB, S. 299. 32 „Das Wesen des Wertes besteht darin, Gesichtspunkt zu sein.“ (Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1957, S. 210)

1. Der Gesichtspunkt der Staatsräson

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Der Gesichtspunkt der Staatsräson rückt Weber in die Nähe Machiavellis, mit dem, wie Friedrich Meinecke sagt, „die Geschichte der Idee der Staatsräson im modernen Abendlande beginnt“.33 So wurde er bereits von seinen Zeitgenossen kurzerhand zum „deutschen Machiavell“34 gekürt; ihm wurde eine „Machiavellian view of the State“,35 ein „Machiavellism of the steel age“,36 ja sogar ein „Vulgärmachiavellismus“37 unterstellt. Sind diese Beschreibungen richtig? Daß Weber den Principe bereits im zarten Alter von 12 Jahren las und seiner Mutter in frühreif-altklugem Ton von der Lektüre berichtete,38 mag noch nicht viel besagen. Entscheidend ist die Frage, ob sich die im Principe entworfene Ideenwelt in seinem Staatsdenken niedergeschlagen hat. Hier bestehen zweifellos Parallelen, da Weber nicht nur Machiavellis kämpferisches Staatsideal teilt, sondern auch dessen Werthaltung gegenüber dem Staat.39 Der Florentiner erhebt „die Selbsterhaltung des Staates zum obersten Wert“, der weder diskutiert noch begründet wird.40 Die beiden unterscheiden sich allerdings darin, daß Weber den Gesichtspunkt der Staatsräson als Wert reflektiert, während Machiavelli ihn sich unhinterfragt zu eigen macht. Die Gesichtspunkte der Staatsräson und des Staatsinteresses sind, geht man von Webers Verständnis aus, semantisch synonym, da er unter der Staatsräson später „die Lebensinteressen der herrschenden Ordnung“ versteht.41 Staatsräson und Staatsinteresse aber sind formale und variable Größen, die inhaltlich bestimmt werden müssen. Worin besteht also das Staatsinteresse, auf das er sich beruft? Weber bleibt bei der Postulierung seines markigen Gesichtspunkts nicht

——————— 33 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (1924), München 1963, S. 34. Zur Kritik an dieser Verortung vgl. Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt a. M. 2004, S. 282. 34 Albert Dietrich, Geisteswissenschaftliche Erscheinungen in der politischen Literatur, in: Die Dioskuren 1 (1922), S. 397. Er erklärt Weber gleichzeitig zum „Modehelden“ der „verweichlichten Kreise“ (ebd., S. 398). 35 Bryan S. Turner, Nietzsche, Weber and the devaluation of politics, in: Sociological Review 30 (1982), S. 374. 36 Jacob P. Mayer, Max Weber and German politics: A study in political sociology, 2. Aufl. London 1956, S. 109. 37 Dazu Gerhard Hufnagel, Kritik als Beruf. Der kritische Gehalt im Werk Max Webers, Frankfurt/Berlin/Wien 1971, S. 177. 38 Weber, Brief an die Mutter, 21. August 1876, in: JB, S. 3: „jetzt bin ich dabei, den Principe des Machiavelli zu lesen, den mir Herr Dr. Brendicke geborgt hat. Später will er mir auch den Antimachiavell borgen“. 39 Strenggenommen kann zur Zeit Machiavellis noch nicht von einem „Staat“ gesprochen werden. Und so verfügt Machiavelli auch noch nicht über einen konsistenten Staatsbegriff. Dazu Münkler, Machiavelli, S. 282. 40 Münkler, Machiavelli, S. 284. 41 Weber, Politik als Beruf (1919), in: MWG I/17, S. 190 (PS 524).

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

stehen. Er stellt fest, das Staatsinteresse gelte „der Frage, wie es um die Fundamente der socialen Organisation bestellt ist“, auf die sich der Staat bei der Lösung der sozialpolitischen Aufgaben stützen kann.42 Gilt das Staatsinteresse also den Institutionen? Steht hinter dem Gesichtspunkt der Staatsräson der Gesichtspunkt der Institutionen? In der Tat begreift Weber die politische und soziale Ordnung Ostelbiens als institutionelle Ordnung, aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß auch sie den Imperativen der Staatsräson unterworfen ist, da sie „dem Staate dienen“ soll – und das heißt für Weber: der „militärischen und politischen Größe“ des Staates.43 Daß hinter dem Gesichtspunkt der Institutionen nur wieder der unhintergehbare Gesichtspunkt der Staatsräson steht, zeigt sich vollends in Webers Diagnose des Zerfalls jener alten ostelbischen Großgrundbesitzordnung, die nicht mehr fähig sei, „die wichtigsten politischen Aufgaben des Staates“ zu lösen und daher „für den Staat wertlos“ werde.44 Das ist das entscheidende Stichwort. Da er die Institutionen am Wertmaßstab der Staatsräson mißt, erscheinen sie ihm im wörtlichen Sinne wert-los, wenn sie nicht mehr dem Staatsinteresse dienen. Max Webers Referat auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik ist das erste Dokument einer instrumentellen, etatistischen und – wie er selbst sagen würde – staatstechnischen Auffassung von Institutionen, einer Auffassung, die bis in die späten Schriften hinein zu verfolgen ist. Der Begriff der „Institutionen“ spielt denn auch in seinem Werk keine nennenswerte Rolle. Weber ist kein Institutionentheoretiker.45 Er kann aber als ein solcher rekonstruiert werden.46 Sein sozialpolitisches Interesse und Engagement gelten erkennbar immer wieder dem, was man heute zur institutionellen Dimension der Sozial-

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Schriften des Vereins für Socialpolitik, Leipzig 1893, S. 74. Ebd. 44 Ebd., S. 75. 45 Das belegen unfreiwillig die Versuche von Ernst Vollrath, Institutionenwandel als Rationalisierungsprozeß bei Max Weber, in: Hans-Hermann Hartwich (Hg.), Macht und Ohnmacht politischer Institutionen, Opladen 1989, S. 88ff., und Heinrich Bußhoff, Institutionenwandel als Rationalisierungsprozeß bei Max Weber, ebd., S. 103ff., bei denen denn auch von ‚Institutionen‘ herzlich wenig die Rede ist. Sie machen allerdings nicht einmal den Versuch, Max Weber institutionentheoretisch zu lesen, sondern wenden nur allseits bekannte Zitate zur Rationalisierung und Bürokratisierung hin und her. 46 Weber gehört heute zu den klassischen Referenzgrößen des Neo-Institutionalismus. Er bietet, wie Victor Nee sagt, „a rich storehouse of theoretical contributions that can be fruitfully used in the new institutionalist research program“. Nee, Sources of the New Institutionalism, in: Mary C. Brinton/Victor Nee (Hg.), The New Institutionalism in Sociology, Stanford 2002, S. 1-16 (5f.). – Vgl. auch Gary G. Hamilton/Robert Feenstra, The Organization of Economies, ebd., S. 153-180 (164ff.); James G. March/Johan P. Olsen, Rediscovering Institutions, New York 1989, S. 160; Paul J. DiMaggio/Walter W. Powell, The Iron Cage Revisited. Institutional Isomorphism and Collective Rationality in Organizational Fields, in: American Sociological Review 48 (1983), S. 147-160. 43

1. Der Gesichtspunkt der Staatsräson

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politik rechnen würde. Sein Interesse etwa an den Parteien und Verbänden der Arbeiterklasse beruht nicht zuletzt darauf, daß er als Sozialpolitiker und Sozialwissenschaftler um die Bedeutung von Institutionen weiß, darum, wie entscheidend sie sowohl die Handlungsorientierungen der Menschen prägen als auch die Strukturform und Funktionsweise der Metainstitution Staat beeinflussen. Nicht von ungefähr setzt er sich – als selbstbewußtes „Mitglied der bürgerlichen Klassen“47 – für die Anerkennung und Respektierung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften ein, da er sie als Institutionen versteht, die die berechtigten Interessen der Arbeiterklasse vertreten. Interessenvertretung ist nur durch Institutionen möglich, und Institutionen müssen stabil sein, um dies erfolgreich leisten zu können. Letztlich aber bleibt für ihn stets die Perspektive von oben entscheidend: die Perspektive der Staatsräson, die sich an dem Gesichtspunkt orientiert, inwieweit die Institutionen dem Staatsinteresse dienen. Welche Bedeutung bereits die Hörer seines Referats auf der Generalversammlung dem Wertgesichtspunkt einräumen, zeigt die Debatte in Anschluß an seinen Vortrag. Karl Kaerger, der aus der Enquete ganz andere Konsequenzen als Weber zog, verteidigt sich gegen den Vorwurf Max Quarcks, daß die Enquete wenig „tauge, wenn sie zu so verschiedenen Schlußfolgerungen“ führe, mit dem Argument, es sei „doch selbstverständlich, daß dasselbe Material in den verschiedenen Köpfen einen verschiedenen Eindruck“ hervorrufe, und daß es „natürlich auf den Standpunkt“ ankomme, so daß er und Weber „zu ganz verschiedenen Resultaten“ gelangt seien.48 Max Webers spätere Werturteilslehre beruht zwar entscheidend auf neukantianischen Einflüssen, sie erwächst aber auch aus den Diskussionen im Verein für Socialpolitik, die sein Wissenschaftsverständnis mitgeprägt haben. Zugleich sind die Redner, die zu seinem Referat Stellung nehmen, auch seine ersten Interpreten, und sie interessieren sich bezeichnenderweise insbesondere für seinen Gesichtspunkt der Staatsräson. So sagt etwa Bruno Schoenlank, es komme „ganz darauf an, was für einer Staatsphilosophie derjenige huldigt“, der diesen Gesichtspunkt vertrete.49 Während für den Sozialdemokraten Schoenlank die Staatsräson darin besteht, „die Lage der arbeitenden Klassen zu heben“50, nimmt Weber hier eine Haltung ein, die sich über die Klassenfrage stellt und sich mit einer übergeordneten Instanz, dem Staat, identifiziert. Wenn er betont, das „Interesse des Staates“ könne vom „Interesse jedes einzelnen Standes“ ab-

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Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 568 (PS 20). Schriften des Vereins für Socialpolitik, Leipzig 1893, S. 95. 49 Ebd., S. 112. 50 Ebd., S. 113. Während Weber hier noch sagt, die Lage der Arbeiter interessiere ihn nicht, hat sich später der Forderung Schoenlanks angenähert. Vgl. Weber, Deutschlands künftige Staatsform (1919), in: Zur Neuordnung Deutschlands. MWG I/16, S. 115f. (PS 461). 48

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

weichen,51 kennt er in seinem Referat keine Klassen mehr, sondern nur noch den Staat. Und wenn er zu den „wichtigsten politischen Aufgaben des Staates“ die „Wahrung der deutschen Kultur“ und die „deutsche Nationalität“ zählt,52 erscheint der Staat als eine übergeordnete Instanz, die die Interessen des Ganzen wahrnimmt. Der Staat ist weder der ideelle Gesamtkapitalist noch der ideelle Gesamtarbeiter, sondern vielmehr der ideelle Gesamtpatriot. Aus Max Webers Definition der „politischen Aufgaben des Staates“ geht hervor, daß hinter den Interessen des Staates vor allem die Interessen der Nation stehen. Ein Jahr später unterstreicht er noch einmal, er verstehe sich weder als Vertreter der Junker noch als der der Arbeiter, sondern als Advokat des Staates, da ihm „das Staatsinteresse turmhoch über dem Interesse jedes noch so zahlreichen Standes“ stehe.53 Hier verwendet er zum ersten Mal eine Metapher, die zu einer seiner Lieblingsvokabeln wird und stets dem Staat und der Nation vorbehalten bleibt. Während er hier das Staatsinteresse turmhoch über alles stellt, sind es 1918 die „Interessen und Aufgaben der Nation“, die ihm „turmhoch über allen Gefühlen“ stehen.54 Dahinter verbirgt sich jedoch keine Akzentverschiebung, sondern eine Präzisierung, hat doch nach seinem Verständnis das Staatsinteresse der Nation zu dienen. Die Prioritäten sind also klar verteilt. Es ist die Nation, die der entscheidende Wertmaßstab ist. Politische Fragen hat Weber, wie er 1916 bekennt, „immer nur unter dem nationalen Gesichtspunkte angesehen“.55 Da sich bereits in seinem Referat auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik zeigt, daß das Interesse des Staates dem Interesse der Nation dienen solle, steht auch hinter dem Gesichtspunkt der Staatsräson der Gesichtspunkt der Nation. Auf diesen letzten Wert ist sein sozialpolitisches Engagement wie auch sein Staatsdenken bezogen.

2. Der Wert der Nation Die agrarpolitischen Studien des Frühwerks können im Bezug auf die Entwicklung Webers gar nicht hoch genug bewertet werden. Sie führen ihn nicht

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Schriften des Vereins für Socialpolitik, Leipzig 1893, S. 74. Ebd., S. 75. 53 Weber, Zum Preßstreit über den Evangelisch-sozialen Kongreß (1894), in: MWG I/4, S. 467-479 (476). Analog zur Enquete des VfS wurde ein Jahr später vom Evangelisch-sozialen Kongreß eine von Max Weber geleitete Enquete erhoben. Er nimmt in seinem Artikel Stellung zu der haßerfüllten Polemik, die seine Reformvorschläge bei den Junkern auslösten. 54 Weber, Deutschlands künftige Staatsform, S. 99 (PS 449). 55 Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1916), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 161 (PS 157). 52

2. Der Wert der Nation

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nur von der Jurisprudenz zur Nationalökonomie,56 sondern auch zu jenen Fragestellungen, die bereits in seinem Referat auf jener Generalversammlung anklingen. Hier kommt er zu dem Schluß, er habe „gerade erst auf Grund dieser Publikation die methodologische Möglichkeit gewonnen, zu korrekten Fragestellungen zu gelangen“.57 Diese Fragestellungen präzisiert er in seiner Freiburger Antrittsrede, in der er die Ergebnisse der Enquete in den größeren Zusammenhang einer Analyse der Lage des deutschen Staates seiner Gegenwart stellt. Die berühmt-berüchtigte Antrittsrede ist sicherlich „das bedeutendste Dokument“ des politischen Denkens des jungen Weber,58 aber zugleich auch seine erste Auseinandersetzung mit der Werturteilsfrage, und zwar insbesondere hinsichtlich seiner beiden letzten Werte der Staatsräson und der Nation. Hier stellt er sich auf den „Standpunkt der Nation“ und bekennt ausdrücklich, daß er „nationalistische Werturteile“ vertrete.59 Diese will er keineswegs nur für sich selbst in Anspruch nehmen, sondern gleich die ganze deutsche Nationalökonomie auf sie verpflichten: Der „Wertmaßstab des deutschen volkswirtschaftlichen Theoretikers“, könne nur ein deutscher sein, die Nationalökonomie habe den „machtpolitischen Interessen der Nation“ zu dienen, und die „Staatsraison“ sei der „letzte Wertmaßstab“ der Volkswirtschaftslehre.60 Die Freiburger Antrittsrede wurde zwar nicht zu Unrecht bisher immer als nationalistisches Pamphlet gelesen, aber sie ist weitaus mehr als das, nämlich ein entscheidender Schritt der Reflexion Webers über die Wertgebundenheit seiner Wissenschaft und besonders seines Staatsdenkens. Die Staatsräson und die Nation, die er zuvor bereits als seine Gesichtspunkte benannt hat, werden hier erstmals expressis verbis in den Rang letzter Wertmaßstäbe erhoben. Wenn Mommsen meint, es sei paradox, daß gerade in der Freiburger Antrittsrede, die „voll von Werturteilen“ sei, die Grundlagen der späteren „Theorie der Wertfreiheit“ gelegt werden, zeigt sich, daß er Webers Werturteilslehre in fast klassischer Weise eben als „Theorie der Wertfreiheit“ (miß)versteht.61 Da Webers Anliegen aber vielmehr das Aufzeigen der Wertgebundenheit der Wissenschaft ist und genau dies bereits in der Antrittsrede zur Sprache kommt, kann von einem Paradox keine Rede sein. Im Gegenteil, die wissenschaftstheoretische Position, die er später in elaborierter Form entwickelt, ist überhaupt nicht denk-

——————— 56 Weber erhält nicht zuletzt aufgrund seiner Ausarbeitung der Landarbeiterenquete einen Ruf nach Freiburg, auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie. 57 Schriften des Vereins für Socialpolitik, Leipzig 1893, S. 130. 58 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 38. Seine Ausführungen (S. 37ff.) stellen nach wie vor die grundlegendste und erhellendste Auseinandersetzung mit der Freiburger Antrittsrede dar. 59 Weber, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 558 (PS 11). 60 Ebd., S. 560f. (PS 13f.). 61 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 39.

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

bar ohne die Standortbestimmung, die er hier vornimmt. Seine großen methodologischen Aufsätze rekurrieren nicht von ungefähr an zentralen Stellen auf die beiden letzten Wertmaßstäbe, die er in der Freiburger Antrittsrede offenlegt: die Staatsräson und die Nation. Daher kann seine Werturteilslehre nicht zuletzt auch als Auseinandersetzung mit seiner eigenen Werthaltung gesehen werden, die er bereits als junger Wissenschaftler bezieht. „Das Großartige der Antrittsvorlesung ist“, wie Hennis sagt, „die Vorführung eines Wertungsproblems, das durch die Wissenschaft nicht entschieden, wohl aber durch sie geklärt werden kann. Es gibt in Bezug auf das Werturteilsproblem zwischen der Antrittsvorlesung von 1895 und dem Objektivitätsaufsatz von 1904 ... keinen irgendwie wesentlichen Bruch, ich würde sogar sagen, irgendeine wesentliche Entwicklung.“62 Daß es keinen Bruch gibt, ist nachdrücklich zu bekräftigen, aber daß es keine Entwicklung geben soll, ist zu bezweifeln; sie steht völlig außer Frage. Mit Recht betont Wolfgang Schluchter, man könne anhand eines Vergleichs zwischen dem Wertfreiheitsaufsatz und der Antrittsvorlesung „den von Weber selbst konstatierten Reifungsprozeß ablesen“.63 Da elementare Aspekte des Werturteilsverständnisses schon in der Freiburger Antrittsrede zu erkennen sind, ist die Verortung der Antrittsrede als Höhepunkt einer „vorkritischen“ Phase, die 1903 in eine „kritische“ übergehe,64 vollkommen unhaltbar. Die „Periodisierung vorkritischer und kritischer“ Arbeiten65 gehört, mit Flaubert zu sprechen, in den Katalog der schicken Ideen der Weberphilologie. Die Annahme, Max Weber vollziehe eine Kopernikanische Wende oder erlebe ein Damaskus, entbehrt jeder Grundlage, da die Fundamente seiner Positionen schon in den frühen Schriften angelegt sind und im Verlauf seines Denkwegs kontinuierlich entfaltet werden. Nicht weniger abwegig ist die Kontrastierung des jungen Weber, der in seiner Landarbeiter-Enquete „noch einen normativ-inhaltlichen Begriff des Staates“ verwende, gegen den späten Weber, der den Staat „rein formal“ definiere und „die Möglichkeit einer ‚inhaltlichen‘ Bestimmung“ verwerfe.66 Diese unhaltbare Gegenüberstellung beruht auf einem Mißverstehen des idealtypischen Staatsbegriffs, der ja historisch-empirischen Charakters ist und von Webers eigenen inhaltlichen – d. h. nationalen – Vorstellungen, an denen sich nichts än-

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Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen S. 160. Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1991, S. 180. Schluchter hat Recht: „Der Weber von 1913/1917 ist eben ein anderer als der von 1895.“ 64 Rainer Prewo, Max Webers Wissenschaftsprogramm. Versuch einer methodischen Neuerschließung, Frankfurt a. M. 1979, S. 65. 65 Ebd. 66 Ebd. 63

2. Der Wert der Nation

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dert, ausdrücklich abstrahiert. Den formalen Staatsbegriff als eine Überwindung des nationalen Staatsdenkens zu bewerten, zeugt von Unklarheit über die methodische wie auch die nationale Position Webers. Wenn er bereits 1893 die Nation „in den Mittelpunkt seiner Erwägungen“ stellt, gewinnt er, wie Wolfgang J. Mommsen sagt, einen Standpunkt, „der sein politisches Denken dauernd bestimmen sollte“.67 Mommsen verortet treffend die Nation im „Zentrum seines Wertsystems“; sie sei für Weber „ein letzter Wert, dem er in rationalistischer Konsequenz alle anderen politischen Zielsetzungen unterordnete“.68 Obwohl an dieser Werthaltung nicht der geringste Zweifel bestehen kann, hat Wilhelm Hennis mit erstaunlicher Vehemenz bestritten, die Nation könne für Weber ein letzter Wert sein. Er hält Mommsens Standpunkt für „unhaltbar“ und „von Grund auf korrekturbedürftig“, da ihm entgangen sei, „was denn der ‚Gesichtspunkt der Staatsräson‘ ... eigentlich beeinhalte“.69 Webers Interesse sei nicht auf „nationale oder gar nationalistische Positionen bezogen“; es sei „nicht das ‚Nationalstaatsideal‘ als solches, das im Mittelpunkt seines politischen Denkens steht, sondern eine Explikation dieses ‚Ideals‘“.70 Hennis ist allerdings bei seinen Bemühungen um eine „grundsätzliche Revision“71 entgangen, daß die „Explikation“ dieses Ideals auf nichts anderes verweist als auf den Wert der Nation. Wenn er meint, die Annahme, Webers „höchster Wert“ sei die Nation, gehöre „zum wirklich schwer Begreiflichen neudeutscher beflissener Befangenheit“,72 dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er die unmißverständlichen Äußerungen Webers zum Wert der Nation – weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“ – im Palmströmschen Verfahren als „unmögliche Tatsache“73 behandelt. Hennis verzichtet auch darauf, seine Meinung zu begründen oder zu belegen. Nicht von ungefähr hat er eine Antwort auf seine Frage nach Webers „Oberwert“, wie er selbst bekennt, nicht bekommen. Er klammert nämlich den in dieser Hinsicht entscheidenden Punkt von vornherein einfach aus: „lassen wir die Nation als für ihn angeblich ‚höchsten Wert‘ einmal beiseite“.74 So tritt dogmatische Setzung an die Stelle einer kritischen Auseinandersetzung: „Nie war die Nation für Weber der ‚höchste Wert‘. Er war zu wenig Scholastiker, um

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Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 29. Ebd., S. 51. Der systematische Zusammenhang von Webers Nations- und Wertverständnis bleibt bei Mommsen allerdings unerschlossen. 69 Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 83. 70 Ebd., S. 85. 71 Ebd., S. 83. 72 Ebd., S. 43. 73 Christian Morgenstern, Alle Galgenlieder, Frankfurt a. M. 1974, S. 165f. 74 Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 223. 68

130

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

mit einer solchen Kategorie arbeiten zu können.“75 Aber auch dieses Argument vermag nicht zu überzeugen, da Max Weber oft genug mit dieser „Kategorie“ gearbeitet hat. Ein Scholastiker war er deshalb nicht. Unhaltbar ist auch die Behauptung von Bernard Willms, die Nation sei „für Weber kein Wert“, sondern eine „objektive Notwendigkeit“,76 stellt Weber doch ausdrücklich und unmißverständlich klar, daß die Nation für ihn ein Wertbegriff sei.77 So verfolgt Willms denn auch wohl eher die Absicht, ihm seine eigene dogmatische Position unterzuschieben, die Nation sei „kein ‚Wert‘, sondern eine theoretische Notwendigkeit im Sinne strengen und gründlichen Denkens“. Von den Werten hält Willms ohnehin nichts, da sie „in ihrer normativen Kraft bestreitbar“ seien.78 Auch ‚strenges und gründliches Denken‘ aber kann eine Weberlektüre nicht ersetzen. Seine Behauptungen, die nur von einer Unkenntnis des Weberschen Nations- und Wertdenkens zeugen, belegen allerdings unfreiwillig, wie wenig Weber für den wert-freien Nationalismus, den er propagiert, in Anspruch genommen werden kann. Für Weber kann die Nation keine ‚objektive Notwendigkeit‘ sein, da sie für ihn ein Wert ist, also das Ergebnis einer subjektiven Wertsetzung, die in ihrem Geltungsanspruch bestreitbar ist.

a) Der Begriff der Nation Was aber versteht Max Weber unter Nation? Obwohl sie im Zentrum seines politischen Denkens steht, sieht er sich nicht in der Lage, sie zu definieren, und zwar speziell mit dem Verweis darauf, daß der Begriff der Nation der Wertsphäre angehöre.79 Zu diesem Schluß kommt er in den zwischen 1911 und 1913 entstandenen Ausführungen über die Nation, die vielleicht nicht von ungefähr fragmentarisch geblieben sind.80 Das Phänomen erscheint ihm zu komplex, da einerseits die Angehörigen einer Nation zu heterogene Einstellungen gegenüber dieser hätten und andererseits verschiedene Nationen jeweils unterschiedliche Arten von Nationalgefühl zeigen würden.81 Immerhin macht er deutlich, daß

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Ebd. Bernhard Willms, Die Nation, Köln-Lövenich 1982, S. 122. 77 Weber, Gemeinschaften. MWG I/22-1, S. 241 (WuG 528). 78 Willms, Die Nation, S. 120. Er meint, daß „für die Deutschen nichts so notwendig ist wie ein neuer Nationalismus“, und er will sie aus ihrer „Nationsvergessenheit“ reißen (ebd.). 79 Weber, Gemeinschaften. MWG I/22-1, S. 241 (WuG 528). 80 Ebd., S. 240ff. In Johannes Winckelmanns Ausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft wurde der Abschnitt (S. 527ff.) als Kapitel „Die ‚Nation‘“ ediert. 81 Ebd., S. 245 (WuG 529). 76

2. Der Wert der Nation

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die Nation jedenfalls nicht mit Staatsvolk oder Sprach- oder Blutsgemeinschaft identisch sei.82 Mit den Schwierigkeiten, einen Begriff der Nation zu entwickeln, steht Weber nicht allein. Schon Georg Jellinek kann nur resignierend feststellen, die Bestimmung des Begriffs der Nation gehöre „zu den schwierigsten wissenschaftlichen Aufgaben“, da man „kein feststehendes, für alle Nationen passendes Merkmal angeben“ könne.83 Er weiß nur, daß die Nation jedenfalls keine Rasse-, Sprach- oder Staatsgemeinschaft sei, und so kommt er zu dem Fazit, es sei „unmöglich, ein einziges sicheres, objektives Kriterium der Nation anzugeben“, nicht einmal eine „Kombination mehrerer Elemente“.84 Max Webers Position entspricht exakt der Georg Jellineks wie auch der herrschenden Meinung seiner Zeit. Überblickt man die damalige Diskussion, so überrascht der weitreichende Konsens, der über die Unbestimmbarkeit der ‚Nation‘ herrscht. Für Heinrich von Treitschke ist „klar, daß der Begriff der Nationalität ein beweglicher ist und selbst im Flusse der Geschichte steht“.85 Robert Michels meint, die Nation sei „ein veränderliches, komplexes Konglomerat. Da ist es nicht nur ein heikel Ding, Werturteile zu fällen, sondern selbst, Tatsachenbestände festzustellen.“86 Othmar Spann kann in einer begriffsgeschichtlichen Betrachtung nur konstatieren, die Lage sei „ziemlich trostlos“, und die Soziologie auffordern, sie müsse über die „wissenschaftlichen Grundlagen des Nationalbewußtseins“ sich „endlich einmal Klarheit schaffen“.87 Max Webers Achselzucken spiegelt also exakt den Diskussionsstand seiner Zeit. Dabei korrespondierte die einhellige Klage über die Probleme der Begriffsbildung mit der Aktualität des Themas, die sich in einer Publikationsflut niederschlug und etwa auch dazu führte, daß die Nation auf der Tagesordnung des Zweiten Deutschen Soziologentages 1912 in Berlin stand, wo Max Weber in seinen Debattenreden ausführlich zu einigen Vorträgen Stellung nahm.88

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Ebd., S. 241 (WuG 528). Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 117f. 84 Ebd., S. 119. 85 Heinrich von Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, Bd. 1 (1898), 4. Aufl. Leipzig 1918, S. 271. 86 Robert Michels, Zur historischen Analyse des Patriotismus, in: ASSP 36 (1913), S. 444. Diesem damals vielbeachteten Aufsatz liegt sein Vortrag auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag in Berlin 1912 zugrunde. 87 Othmar Spann, Kurzgefaßtes System der Gesellschaftslehre, Leipzig 1914, S. 200 u. 195. Allerdings können seine eigenen Bemühungen zu einer „Klarheit“ kaum etwas beitragen. Er selbst kann nur zu dem Ergebnis kommen, es gebe verschiedene Formen des Nationalbewußtseins (ebd., S. 209), die Nation sei ein Wertbegriff (ebd., S. 224) und könne begrifflich kaum erfaßt werden (ebd., S. 195). 88 Weber, Diskussionsrede auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag in Berlin 1912, in: GASS, S. 484ff. u. 487f. 83

132

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

Weder an der Aktualität des Themas noch an der trostlosen Lage der Unbestimmtheit des Begriffs hat sich seither etwas geändert, da die neuere Nationsforschung, die ganze Bibliotheken füllt, in ihren Definitionsbemühungen kaum einen Schritt über die Versuche Max Webers und seiner Zeitgenossen hinausgeht. Klarheit herrscht nur darüber, daß alles unklar ist. Fast alle Autoren können nur feststellen, „daß die Nation sich eindeutig nicht bestimmen lasse, d. h. nicht auf bestimmte eindeutige Kriterien festlegbar sei“,89 daß sie ein komplexes und heterogenes Phänomen sei, welches in verschiedenen Formen und mit verschiedenen Inhalten auftrete,90 daß es daher „außerordentlich schwierig“ sei, „eine allgemeingültige wissenschaftliche Definition von Nation zu geben“,91 und daß keine Definition „sich als allgemeinverbindlich hat durchsetzen können“.92 Obwohl Weber in seinem Fragment über ‚Die Nation‘ keinen befriedigenden Begriff der Nation entwickelt, sind gleichwohl seine Aussagen darüber, was die Nation nicht ist, sehr aufschlußreich. Wenn er sagt, es verstehe sich „vollends von selbst“, daß die Nation nicht auf „Blutsgemeinschaft“ beruhe,93 zeigt sich erneut eine Affinität zu Jellinek, der es ablehnt, die Nation als „Rassegemeinschaft“ aufzufassen.94 Beide Denker richten sich gegen ein völkisches Nationsverständnis und teilen eine neukantianische Sichtweise, nach der die Nation stets die Vorstellung von Nation ist. Für Jellinek ist sie etwas „Subjektives, d. h. das Merkmal eines bestimmten Bewußtseinsinhaltes“.95 Für Weber existiert sie dann – darin besteht eine Parallele zu seiner neukantianischen Staatsanschauung –, wenn sie im subjektiven Bewußtsein der Menschen vorhanden ist. Diese Sichtweise, die sich in äußerster Zuspitzung bei Robert Musil findet, der die Nation schlicht für eine „Einbildung“ hält,96 wird in der Literatur der zwanziger

——————— 89 Tilman Mayer, Prinzip Nation: Dimensionen der nationalen Frage, dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1986, S. 21. 90 Heinrich August Winkler, Der Nationalismus und seine Funktionen, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus, Göttingen 1979, S. 52ff. 91 Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt a. M. 1985, S. 23. 92 Ebd., S. 16. – Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Begriffs der Nation sind auch erkennbar bei Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 2006, S. 5ff.; Ernest Gellner, Nations and Nationalism: New Perspectives on the Past, 2. Aufl. Oxford 2006, S. 5ff. u. 53ff.; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, 3. Aufl. Frankfurt/New York 2005, S. 15ff. 93 Weber, Gemeinschaften. MWG I/22-1, S. 241 (WuG 528). 94 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 118. 95 Ebd., S. 119. 96 Robert Musil, Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921), in: ders., Essays und Reden. Kritik, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 1071. Gleichwohl ist die Nation auch für Robert Musil ein „Wert“ (ebd.).

2. Der Wert der Nation

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Jahre zur herrschenden Meinung. Die „subjektivistische Auffassung“, die die Nation als „Bewußtseinsgemeinschaft“ begreift, bestimmt in dieser Zeit „vorwiegend den Begriff der Nation“.97 Dies gilt auch noch für die heutige Literatur, in der die Nation als eine „imagined political community“ beschrieben wird.98 Diese Position Benedict Andersons repräsentiert die gegenwärtig herrschende Meinung. Für die Existenz einer Nation ist demnach das Bewußtsein eines Volkes konstitutiv, eine Nation sein zu wollen.99 Weber wird nicht nur durch seine erkenntnistheoretische Position zu einem antisubstanziellen – d. h. hier: antivölkischen – Nationsverständnis geführt, sondern auch durch die Tatsache, daß er mit „Rassenmystik“ ohnehin „nichts anzufangen“ weiß.100 Er stimmt darin auch mit (alt)liberalen Vorstellungen überein, die die Zugehörigkeit zur Nation nicht an das Kriterium der Rasse, sondern an das der Staatsbürgerschaft knüpfen, wie es etwa bei Gustav Rümelin zum Ausdruck kommt, der die Nation, die für ihn ein subjektiver Begriff ist, als Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen innerhalb eines Staates sieht,101 oder bei Robert von Mohl, der die Nation als „Gesammtheit der Theilnehmer des Staates“ begreift.102 Mommsen sieht daher mit Recht bei Weber eine „Annäherung an den westeuropäischen Gedanken der Staatsnation, der jeden Bürger, der sich subjektiv zum Staat bekennt, ohne Rücksicht auf seine Abstammung zur Nation rechnet“.103

b) Staat und Nation Max Webers Unbehagen an „dem offenkundig vieldeutigen Wort“ und daher kaum zu definierenden Begriff der Nation äußert sich besonders in seinen Debattenreden auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag 1912, wo er versucht, die Nation als eine politische Gemeinschaft zu definieren, „deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich hervorzutreiben“.104 Seine vorsichtige und konjunktivische Einkreisung ist von seiner typischen Zwar-Aber-Argumentation geprägt, die der

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Heinz O. Ziegler, Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931, S. 47. 98 Benedict Anderson, Imagined Communities, London/New York 2006, S. 15. 99 Vgl. Alter, Nationalismus, S. 23. 100 Weber, Diskussionsrede auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag, S. 487. 101 Gustav Rümelin, Reden und Aufsätze, Freiburg/Tübingen 1875, S. 102ff. 102 Robert von Mohl, Encyklopädie der Staatswissenschaften, Tübingen 1859, S. 119. 103 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 54. 104 Weber, Diskussionsrede auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag, S. 484.

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

Vielschichtigkeit des Phänomens Rechnung zu tragen versucht. So folgt auf seine Feststellung, daß Nationen tendenziell zu Staatenbildungen führen, sogleich die Einschränkung, auch ein Staat könne der „ausschlaggebende Faktor“ bei der Entstehung einer Nation sein.105 Hier handelt es sich um eine genuin Webersche Denkbewegung, die sich jeder Festlegung von Kausalverhältnissen zu entziehen trachtet. Immerhin ist klar, und darauf kommt es hier an, daß der Begriff der Nation an den Staat gebunden wird: Da der „Sinn von ‚Nation‘“ „absolut nicht eindeutig“ sei, könne man ihn nur „von der Seite des Zieles her“ ermitteln, und das sei das selbständige „Staatswesen“.106 Diese Bestimmung aber führt uns in einen terminologischen Zirkel. Bei der Frage nach der Wertdimension des Staates werden wir auf die Nation verwiesen – und bei der Frage nach dem Begriff der Nation wieder auf den Staat. Genau diese Interdependenzvorstellung beherrscht auch die gesamte Nationsliteratur seiner Zeit.107 Hugo Preuß begreift die „nationale Idee als treibendes Moment in der Staatenbildung“ und die Staatsidee als wesentlichen „Faktor in der Gestaltung der Nationalität“.108 Heinrich von Treitschke beobachtet „die Tendenz eines jeden Staates“, eine Nation werden zu wollen, wie auch den Drang jeder Nation zur „Bildung eines eigenen Staates“.109 Nach Alfred Kirchhoff richtet sich „der normale Entwicklungsgang einer Nation“ auf die Errichtung eines Staates, der wiederum Nationen schaffen könne.110 Schon Leopold von Ranke attestiert den Nationen „eine Tendenz, Staat zu sein“, den er wiederum als eine „Modifikation“ des „nationalen Daseins“ sieht.111 Eben diese Vorstellungen teilt auch Max Weber. Die Nation ist für ihn kein statischer, sondern ein gewissermaßen teleologischer Begriff, der, wenn man ihn in die Webersche Diktion übertragen würde, etwa folgendermaßen lauten müßte: ‚Nation soll heißen: die Chance, daß eine politische Bewußtseinsgemeinschaft zu einem selbständigen Staatswesen findet.‘ Weber aber hat die Nation, obwohl sie ihm so überaus viel bedeutete, nicht in den Katalog der Soziologischen Grundbegriffe aufgenommen. Ihr blieb ein Platz im Olymp seines Kategoriengebäudes verwehrt, da sie für ihn eine weitgehend unbe-

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Ebd. Ebd., S. 487. 107 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 117ff.; Alfred Kirchhoff, Zur Verständigung über die Begriffe Nation und Nationalität, Halle 1905, S. 30ff.; Spann, Kurzgefaßtes System, S. 195ff.; Paul Joachimsen, Vom deutschen Volk zum deutschen Staat. Eine Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins, Leipzig/Berlin 1916; Treitschke, Politik, Bd. 1, S. 270ff. 108 Hugo Preuß, Nations- und Staatsgedanke (1887), in: ders., Staat, Recht, Freiheit, Tübingen 1926, S. 531. 109 Treitschke, Politik, Bd. 1, S. 271. 110 Kirchhoff, Zur Verständigung über die Begriffe Nation und Nationalität, S. 56 u. 31. 111 Leopold von Ranke, Politisches Gespräch (1836), Braunschweig 1949, S. 34. 106

2. Der Wert der Nation

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stimmbare soziologische Größe blieb. In jedem Fall aber ist die Nation für Weber eine staatliche Größe. Da Staat und Nation bei ihm stets als Siamesische Zwillinge erscheinen, müßte für ihn der Begriff des Nationalstaats strenggenommen eine Tautologie sein. So kommt er denn auch in seinen um 1910/1911 entstandenen Ausführungen zu Ethnischen Gemeinschaften zu dem Schluß: „In der Tat ist heute ‚Nationalstaat‘ mit ‚Staat‘ auf der Basis der Spracheinheitlichkeit begrifflich identisch geworden.“112 Die Bedeutung der Nation für den Staat steht sowohl für Weber als auch für fast alle Staatswissenschaftler, Soziologen und Historiker seiner Zeit außer Frage.113 Gleiches gilt auch für die begriffliche und historische Synthese beider Phänomene: den Nationalstaat. Im 19. Jahrhundert wird er zum zentralen politischen Leitbegriff114 und auch zum „allein legitimierenden Ordnungsprinzip der Staatenwelt“.115 In Deutschland wie in ganz Europa wird er ab dem frühen 19. Jahrhundert als das Ziel jeder politischen Gemeinschaft gesehen. Daher ist es für Max Weber wie auch für die meisten seiner Zeitgenossen vollkommen selbstverständlich, den Staat im Bezug auf die Nation und diese im Bezug auf den Staat zu denken.116 Diese Orientierung des politischen Denkens entsteht, wie die Idee der Nation selbst, erst am Anfang jenes Jahrhunderts, an dessen Ende der Nationalstaat den Gipfel seiner Souveränität und Machtentfaltung erreicht. Max Weber steht im Angesicht der höchsten Machtentfaltung des Nationalstaats, seiner Verfügung über Gewalt und Krieg, Leben und Tod, und diese historische Situation ist die Folie, vor der er seine Positionen, Begriffe und Werthaltungen entwickelt. Der Weltkrieg markiert eine Zäsur in Webers Nations- und Staatsdenken. Abweichend von seinem bisherigen Verständnis definiert er in einem 1916 gehaltenen Vortrag die Nation der „Einfachheit“ halber als „Sprach- und Literaturgemeinschaft“.117 Er beobachtet erstmals eine Wertkonkurrenz von Staat und

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Weber, Gemeinschaften. MWG I/22-1, S. 186 (WuG 242). Preuß Nations- und Staatsgedanke; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 117ff.; Kirchhoff, Zur Verständigung, S. 30ff.; Spann, Kurzgefaßtes System, S. 195ff.; Joachimsen, Vom deutschen Volk. 114 So schon Hugo Preuß, Der deutsche Nationalstaat, Frankfurt a. M. 1924. Siehe auch Pierre Manent, A World beyond Politics? A Defense of the Nation-State, Princeton 2006; T. V. Paul u. a. (Hg.), The Nation-State in Question, Princeton 2003; Michael Mann (Hg.), The Rise and Decline of the Nation State, Oxford 1990; Alter, Nationalismus, S. 96ff.; Theodor Schieder, Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen, Köln/Opladen 1964. 115 Alter, Nationalismus, S. 97. 116 Vgl. dazu den ausgezeichneten Aufsatz von James J. Sheehan, The Problem of the Nation in German History, in: Otto Büsch/James J. Sheehan (Hg.), Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart, Berlin 1985, S. 3-20, bes. 9ff. 117 Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1916), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 181 (PS 169). 113

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

Nation, die ja bis dahin in seinen Schriften stets in ungetrübter Harmonie auftraten. Er diagnostiziert, der Weltkrieg habe zu einem Wertewandel geführt: „Der Krieg hat den Nimbus des Staates gewaltig gehoben: ‚Der Staat, nicht die Nation‘, ist die Parole.“118 Das aber ist eine Losung, die er nicht akzeptieren kann und will. In der Tat: Wenn wir uns seine eigene Wertrangordnung vor Augen führen, in der die Nation die höchste Stelle einnimmt, ist klar, daß er diesem Wertewandel ablehnend gegenüberstehen muß. So sieht er sich veranlaßt, seinen letzten Wert zu verteidigen. Schon ein Jahr zuvor wehrt er sich gegen die Vorstellung, „die ‚Nationalität‘ sei nun in ihrer Kulturbedeutung durch den ‚Staatsgedanken‘ abgelöst oder ablösbar“.119 Die vor dem Weltkrieg postulierte begriffliche Identität von Staat und Nationalstaat wird jetzt entscheidend relativiert: Der Staat müsse „nicht notwendig ‚Nationalstaat‘“ sein, da er „den Kulturinteressen mehrerer Nationalitäten dienen“ könne.120 Damit schließt er sich vollends Jellineks Position an, der Staat sei „kein notwendiges Element der Nation“, „da nicht alle Nationen staatlich geeint sind und mehrere Nationen ... in einem Staate leben können“.121 Weber wird durch seinen Kurswechsel auch zu einem neuen Verständnis der Nation geführt, die er nunmehr als „Sprach- und Kulturgemeinschaft“ begreift.122 Diese Definition führt jedoch nicht aus den alten begrifflichen Schwierigkeiten heraus, sondern nur in neue hinein. Sprache und Kultur sind ihrerseits schwer zu bestimmende Phänomene, die zudem ihrerseits von der Nation geprägt sind. Dies suchte bereits Wilhelm von Humboldt zu demonstrieren, der bei der Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Nation in ausweglose Probleme geriet.123 Staat oder Nation, das ist für Weber die Frage, wenn er sich anschickt, eine überaus didaktisch anmutende Lehre aus dem Krieg zu ziehen. Die Meinung, „der Staat sei das Höchste und Letzte in der Welt“, sei zwar „vollständig richtig“, aber nur in dem Sinne, daß der Staat „die höchste Machtorganisation auf

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Ebd. Weber, Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart (1915), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 91 (PS 128). 120 Ebd. 121 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 119. 122 Weber, An der Schwelle des dritten Kriegsjahres (1916), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 670. 123 Wilhelm von Humboldt sieht in seinen sprachphilosophischen Schriften das Verhältnis von Sprache und Nation als das einer Wechselwirkung. Einerseits werde die Nation, die er als einen solchen „Theil der Menschheit“ versteht, der sich durch „eine eigenthümliche Denkund Empfindungs- und Handlungsweise“ auszeichne, erst durch Sprache konstituiert, andererseits sei die Sprache ein Ausdruck der „eigenthümlichen Denk- und Empfindungsarten“ der Nation (Humboldt, Werke in fünf Bänden, Bd. III, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1963, S. 234 u. 26). 119

2. Der Wert der Nation

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Erden“ mit einer „Gewalt über Leben und Tod“ sei. Weber wehrt sich aber vehement gegen eine Verdrängung des Werts der Nation durch den Wert des Staates – was er offenbar in der Publizistik dieser Zeit beobachtet. Es sei ein „Irrtum“, „daß man nur vom Staat, nicht von der Nation“ rede.124 Den Gesichtspunkt der Nation will er auch dort gewahrt wissen, wo er mit dem Gesichtspunkt des Staates scheinbar kollidiert. Seine Schriften um 1916 belegen sehr eindrucksvoll, daß die Nation sein letzter Wert ist und bleibt. Die Wertkollision zwischen Staat und Nation besteht allerdings nur während eines kurzen Zeitabschnitts und ist für ihn nach dem Weltkrieg kein Problem und kein Thema mehr. Seine Definition der Nation als Sprach- und Kulturgemeinschaft bleibt ein singulärer Versuch; wie bereits zuvor, bindet er auch nach dem Krieg wieder die Nation an den Begriff des Staates. Staat oder Nation, das ist für ihn nach dem Krieg keine Frage mehr. Weber steht mit seiner Position in einer komplexen ideengeschichtlichen Entwicklungslinie, in deren Verlauf der Wert des Staates von dem der Nation verdrängt wird. Das politische Ideal der Nation tritt erst nach der Französischen Revolution als politischer Faktor hervor und beherrscht zur Zeit Webers, wie Rathenau sagt, „kaum mehr als hundertjährig die Politik“.125 Die Staatsidee und die Staatsräson, die dominierenden Bezugspunkte des politischen Denkens im Absolutismus, werden im frühen 19. Jahrhundert durch die Idee der Nation verdrängt. Heinz O. Ziegler hat in seiner noch heute lesenswerten Studie gezeigt, wie die Nation zunächst eine „Rangerhöhung“ erfährt, dann zu einem „Wert“ wird, „mit dem Staat konkurriert und schließlich sich durchsetzt“.126 Daß Webers nationale Werthaltung in enger Berührung mit seiner Bewertung der Demokratie steht, ist Ausdruck einer zeit- und geistesgeschichtlichen Verwandtschaft von moderner Nation und moderner Demokratie. Die Idee der Nation ist im politischen Denken des 19. Jahrhunderts unauflöslich mit der Idee der Demokratie verflochten. Ziegler, der heute vergessene erste soziologische Analytiker der modernen Nation, diagnostiziert eine „einheitliche politische Auffassung“, nach welcher die „nationale Selbstbestimmung und freiheitlichdemokratische Organisation des Staates als die natürlichen, korrespondierenden Konsequenzen ein und desselben politischen Prinzips angesehen wurden“. Die „Nation“ sollte „zur ‚Demokratie‘ führen, wie die ‚Demokratie‘ notwendigerund natürlicherweise den ‚Nationalstaat‘ forderte und ergab“.127 Diese Identität von nationaler und demokratischer Werthaltung, die sich im politischen Denken Max Webers spiegelt, ist insbesondere für die Liberalen des

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Weber, An der Schwelle des dritten Kriegsjahres, S. 670. Walther Rathenau, Zur Kritik der Zeit, Berlin 1912, S. 122. 126 Ziegler, Die moderne Nation, S. 139. 127 Ebd., S. 3. 125

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

19. Jahrhunderts charakteristisch, die sich die Demokratie nur im Nationalstaat und den Nationalstaat nur als Demokratie vorstellen konnten. „Für sie war der Nationalstaat ein Synonym für den demokratischen Verfassungsstaat.“128 Die Nation war für sie „a central political value, the source of their own legitimacy as a movement, the ultimate goal of their political endeavours“.129 Die Verschränkung von liberaler, nationaler und demokratischer Idee findet sich auch noch bei den Liberalen des frühen 20. Jahrhunderts. Wenn Friedrich Naumann darauf verweist, die „Nationalitätsidee“ sei „immer und überall in ihren kräftigen Zeiten eine liberale, eine demokratische Idee“ gewesen,130 bringt er nachgerade idealtypisch das Selbstverständnis des Liberalismus der Zeit Max Webers zum Ausdruck. Ist die Identität von demokratischer und nationaler Werthaltung, die bei Weber und seinen liberalen Zeitgenossen zu verzeichnen ist, heute obsolet geworden? In den westeuropäischen Staaten der Nachkriegszeit, in der die identitätsstiftende Bedeutung der Nation kontinuierlich schwand, ja sogar ein „antinationaler Affekt“131 herrschte und man sich eher für den Europagedanken begeisterte, schien ein Demokratieverständnis, das sich an der Nation orientiert, der Welt des Gestern anzugehören. Aber seit die Europa-Euphorie sich verflüchtigt hat und nationales Denken in den europäischen Staaten eine Renaissance erlebt, steht die Nation mehr denn je im Blickfeld des politischen Geschehens wie des politikwissenschaftlichen Interesses. In den westlichen und mehr noch in den jungen östlichen Demokratien zeigt sich die elementar identitätsstiftende Funktion der totgesagten Nation und zudem eine neue Verbindung von demokratischer und nationaler Werthaltung. Konnte man in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch sagen, daß „der Nationalstaatsgedanke an Einfluß verloren hat“,132 so muß man spätestens seit Anfang der neunziger Jahre feststellen, daß dieser Gedanke wieder an Einfluß gewinnt. Die „Unwiderstehlichkeit des Wunsches nach der Bildung homogener Nationalstaaten“133 herrscht vor allem bei denjenigen (osteuropäischen) Staaten, die den Schritt der Nationalstaatsbildung noch nicht vollzogen hatten. So muß „der Nationalstaat als eine anscheinend notwendige Entwicklungsstufe

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Alter, Nationalismus, S. 97. Sheehan, The Problem of the Nation in German History, S. 10. 130 Friedrich Naumann, Das Auferstehen der liberalen Idee (1906), in: ders., Werke, Bd. IV, Köln/Opladen 1964, S. 278. 131 Alter, Nationalismus, S. 133. 132 Ulrich Scheuner, Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Theodor Schieder (Hg.), Staatsgründungen und Nationalstaatsprinzip, München/Wien 1974, S. 35. 133 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 215. 129

2. Der Wert der Nation

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staatlicher Gebilde angesehen werden“.134 Selbst die erforderliche Abtretung politischer, militärischer und wirtschaftlicher Souveränität setzt historisch und politisch die vorherige Durchsetzung nationaler Souveränität voraus. Der Nationalstaat erfüllt „noch immer wesentliche Aufgaben des politischen und gesellschaftlichen Lebens“, wie etwa „die Wahrnehmung des inneren und des sozialen Friedens und die Durchsetzung des Rechts“.135 „Verteidiger des Nationalstaatsprinzips machen“, wie Peter Alter feststellt, „zu Recht geltend, daß sich ein überzeugender Ersatz für die weithin nationalstaatlich geprägte Weltordnung noch nicht gefunden hat.“136 Die Nation und der Nationalstaat, Webers Koordinaten, werden daher sicherlich auch weiterhin bestimmende Faktoren politischen Handelns und Denkens bleiben. Trotz der Fülle seiner aufeinander gerichteten Wesensbestimmungen von Staat und Nation definiert Weber in seinen Soziologischen Grundbegriffen den Staat nicht im Bezug auf die Nation. Diese Entscheidung beruht darauf, daß die Nation erstens als selbst kaum definierbarer Begriff kein geeignetes Definitionselement ist und zweitens keine tragfähige Grundlage eines idealtypischen Staatsbegriffs ist. Ein tragfähiger Staatsbegriff wird die Definition des Staates nicht am Kriterium der Nation orientieren können.137 Auch darin weist Webers Staatsbegriff weit über seine Zeit hinaus. Wenn er von der Nation abstrahiert, ist dafür auch sein Wertverständnis ausschlaggebend. Da die Nation für ihn ein Wertbegriff ist und Werte das Ergebnis subjektiver Setzung sind, eignet sich die Nation als subjektiver Wert nicht für einen idealtypischen Staatsbegriff. Webers Nations- und Staatsdenken kann nicht isoliert von seinem Wertverständnis begriffen werden. Man muß diese drei Aspekte systematisch und synoptisch aufeinander beziehen. Aufgrund der hier vorgenommenen Betrachtung ist Mommsens Meinung, die Nation bleibe als Wertbegriff bei Weber „außerhalb der wissenschaftlichen Kritik“,138 jedenfalls zu revidieren, bemüht Weber sich doch gerade darum, die Nation als Wertbegriff zu erschließen und der wissenschaftlichen Kritik zugänglich zu machen. Seine Werturteilslehre ist auch als Auseinandersetzung mit seiner eigenen Wertordnung zu sehen, in welcher die Nation den unangefochtenen ersten Rang einnimmt.

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Alter, Nationalismus, S. 127. Ebd. 136 Ebd., S. 125f. 137 In der neueren staatstheoretischen Literatur fehlt denn auch dieses Kriterium. Vgl. Andreas Anter/Wilhelm Bleek, Staatskonzepte. Die Theorien der bundesdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt/New York 2013; Gunnar Folke Schuppert, Staat als Prozess. Eine staatstheoretische Skizze in sieben Aufzügen, Frankfurt/New York 2010; Rüdiger Voigt, Den Staat denken, 2. Aufl. Baden-Baden 2009; Arthur Benz, Der moderne Staat, 2. Aufl. München/Wien 2008; Stefan Breuer, Der Staat, Reinbek bei Hamburg 1998. 138 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 67. 135

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

In Webers Werk sind Staat und Nation auf vielfältige Weise miteinander verflochten, und sein politisches Denken ist um kein anderes Moment so stark zentriert wie um das der Nation. Er ist ein erklärter Patriot und alles andere als ein Kosmopolit. Wilhelm Hennis sagt mit Recht: „Webers Denken sperrte sich, wie das Denken eines jeden wirklich politischen Denkers gegen jede Form von Kosmopolitismus.“139 Das führt Weber dazu, den Staat seiner Gegenwart unter nationalen Gesichtspunkten zu bewerten. Er beurteilt staatliche Institutionen und staatliches Handeln primär danach, inwieweit sie der Nation dienlich sind. „Die politische Gesinnung, der Patriotismus überhaupt“, sagt Hegel, „ist nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen“. Dabei versteht er unter Patriotismus „die Gesinnung, welche in dem gewöhnlichen Zustande und Lebensverhältnisse das Gemeinwesen für die substantielle Grundlage und Zweck zu wissen gewohnt ist“.140 In diesem Sinne ist Weber Patriot.

3. Der Machtstaat Wenn Max Weber in seinen politischen Schriften vom deutschen Nationalstaat seiner Gegenwart spricht, ist meistens auch vom „Machtstaat“ die Rede.141 Das kommt nicht von ungefähr: Der wilhelminische Staat ist nicht nur ein verspäteter Nationalstaat, sondern auch ein waffenstarrender Machtstaat. So erscheinen Nationalstaat und Machtstaat in Webers politischen Schriften oftmals als zwei Seiten derselben Medaille. Der Machtstaat gehört wie Staat, Nation, Staatsräson und Nationalstaat zu den zentralen Bezugspunkten seines politischherrschaftssoziologischen Denkens. In den Ausführungen zu den Ethnischen Gemeinschaften heißt es: „Immer wieder finden wir uns bei dem Begriff ‚Nation‘ auf die Beziehung zur politischen ‚Macht‘ hingewiesen“. Offenbar sei „national“ eine „spezifische Art von Pathos“, welches in einer politischen Gemeinschaft sich mit dem Gedanken einer „schon bestehenden oder von ihr ersehnten politischen Machtgebildeorganisation verbindet“.142 Was Weber hier in herrschaftssoziologischen Kategorien beschreibt, spiegelt sich auch in seinen politischen Schriften, am deutlichsten wohl in der Freiburger Antrittsrede, in der er selbst sich mit jener ‚spezifischen Art von Pathos‘

——————— 139 Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 223. Er bestreitet zwar, daß die Nation Webers höchster Wert sei, aber nicht, daß sie „für Weber die ‚Lebensordnung‘ ist“ (ebd., S. 87). 140 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Stuttgart 1970, S. 401f. (§ 268). 141 Vgl. etwa Weber, Zwischen zwei Gesetzen (1916), in: MWG I/15, S. 95f. u. 98; ders., Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1916), ebd., S. 163 u. 190ff. 142 Weber, Gemeinschaften. MWG I/22-1, S. 190 (WuG 244).

3. Der Machtstaat

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zum Prinzip der Macht bekennt: „die Machtinteressen der Nationen sind, wo sie in Frage gestellt sind, die letzten und entscheidenden Interessen“.143 Webers Nations- und Staatsverständnis ist untrennbar mit seinem Machtverständnis verbunden. Er sieht Macht als universelles Element des politischen, sozialen und ökonomischen Lebens, und den „unabwendbaren ewigen Kampf des Menschen mit dem Menschen“ begreift er als „fundamentale Tatsache“.144 So sind für ihn auch die Beziehungen zwischen den Nationen durch Machtkämpfe codiert, eine Sicht, die sich in seiner emphatischen Forderung nach einer machtvollen und kämpferischen deutschen „Weltpolitik“ niederschlägt, am nachdrücklichsten in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895, in der er die „Weltpolitik“ als Zukunftsaufgabe des Deutschen Reiches definiert.145 Drei Jahre später kommt er zu dem Schluß, „nur die Macht“ entscheide über die politische und wirtschaftliche Stellung einer Nation.146 Wie sehr seine ‚wertend-politischen‘ und seine ‚wissenschaftlichen‘ Positionen miteinander korrespondieren, zeigt sich besonders deutlich darin, daß das „Machtprestige“, das er in einer historischen Untersuchung als den Motor des Imperialismus analysiert,147 auch für seine eigene imperialistische Haltung ausschlaggebend ist. Seine Vorstellung, daß imperiale „Weltpolitik“ als gesellschaftspolitisches Integrationsmoment wirken und die Erwerbschancen und den Lebensstandard der Arbeiterklasse heben könne, entspricht weitgehend dem, was man später als Sozialimperialismus148 bezeichnet hat: die Strategie, innenpolitische Probleme durch außenpolitische Expansionspolitik zu ‚lösen‘. In Webers Haltung kommen also verschiedene Momente zusammen, und in ihrer Verbindung machen sie exemplarisch die Position der ‚Imperialisten‘ seiner Zeit aus. Wie seine Nationsauffassung ist auch sein Machtstaatsdenken von der geistesgeschichtlichen Lage des Liberalismus geprägt, der in der Zeit der Reichsgründung und des Hochimperialismus eine einschneidende Wandlung erfuhr. Während die frühliberale Staatstheorie darauf zielte, den Staat auf ein Minimum zu beschränken, wie es idealtypisch in Wilhelm von Humboldts Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen zum Ausdruck kommt,149 stellten die Liberalen des späten 19. Jahrhunderts dieses Ziel auf den

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Weber, Der Nationalstaat, PS 14. Weber, Diskussionsbeitrag in der Debatte über das allgemeine Programm des Nationalsozialen Vereins (1896), in: MWG I/4, S. 619 (PS 29). 145 Weber, Der Nationalstaat, PS 23. 146 Weber, Stellungnahme zu der von der Allgemeinen Zeitung im Dezember 1897 veranstalteten Flottenumfrage (1898), in: MWG I/4, S. 671 (PS 30). 147 Vgl. Weber, Gemeinschaften. MWG I/22-1, S. 222ff. (WuG 520ff.). 148 Dazu Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Imperialismus, 2. Aufl. Köln 1972, S. 11ff. 149 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), in: Werke in fünf Bänden, Bd. I, Darmstadt 1960, S. 56-233. 144

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

Kopf. Die frühliberale Forderung nach Begrenzung des Staates wurde von einem liberalen Bürgertum, das „ökonomisch den Staat als den gewaltigsten Hebel ihrer Entwicklung brauchte“, in ihr Gegenteil verkehrt, wie Rudolf Hilferding, ein scharfsinniger Analytiker dieses Prozesses, diagnostizierte.150 Angesichts der zunehmenden nationalstaatlichen Konkurrenz schien den Liberalen nunmehr ein staatliches Handeln erforderlich, das nicht nur inländische Märkte sichert, sondern auch ausländische Märkte (mit militärischen Mitteln) erschließt. Diese Entwicklung revolutionierte die ganze Weltanschauung des Bürgertums. An die „Stelle der Idee der Humanität tritt das Ideal der Größe und Macht des Staates“.151 Die Liberalen des späten 19. Jahrhunderts wurden etatistisch und imperialistisch. Sie schreiben nicht mehr Individualismus und Freiheit auf ihre Fahnen, sondern Machtpolitik, Machtstaat, Realpolitik und, vor allem, „Weltpolitik“.152 Weber war insofern ein idealtypischer Vertreter der liberalen Imperialisten seiner Zeit. Die Liberalen orientierten sich zwar schon im frühen 19. Jahrhundert am Nationalstaatsideal, aber während sie mit ihren politischen Zielen 1848 scheiterten, war es die Bismarcksche Machtpolitik, die 1871 ihr Ziel der Schaffung des deutschen Nationalstaats erreichte.153 Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Erfolgs der Bismarckschen Machtpolitik wandelte sich die Einstellung der Liberalen zum Staat und zur Macht. „So vollzog sich“, wie Hugo Preuß sagt, „eine große Umwertung politischer und nationaler Werte.“154 Im Kontext dieser nach der Reichsgründung einsetzenden Entwicklung muß Max Weber, ein ebenso liberaler wie bürgerlicher Denker, gesehen werden.155 Sein Staats- und Machtstaatsdenken wird durch die Auseinandersetzung sowohl mit dem wilhelminischen Staat als auch der Staatsauffassung dieser Zeit geformt,

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Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. (1910), ND Berlin 1947, S. 461. Ebd., S. 463f. Hilferdings klassisch gewordene Studie über Entwicklung vom friedlichen Freihandel zum imperialistischen Kapitalismus (ebd., S. 460ff.) nimmt in nuce bereits Webers rudimentäre Imperialismustheorie vorweg (WuG 521ff.), die kurz nach Erscheinen des Finanzkapitals entsteht. 152 Dazu Wolfgang J. Mommsen, Wandlungen der liberalen Idee im Zeitalter des Imperialismus, in: Karl Holl/Günter List (Hg.), Liberalismus und imperialistischer Staat, Göttingen 1975, S. 109-149, bes. S. 115f. 153 Dazu Hugo Preuß, Der deutsche Nationalstaat, Frankfurt a. M. 1924, S. 59. 154 Preuß, Der deutsche Nationalstaat, S. 64. Zu diesem Wertewandel vgl. auch Gangolf Hübinger, Hochindustrialisierung und die Kulturwerte des deutschen Liberalismus, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 193ff. 155 Wenn Wilhelm Hennis sagt, Weber sei kein Liberaler, ja denke „nicht einmal ‚liberal‘“ (Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 217), geht er von einem sehr engen Liberalismusverständnis aus, welches die Wandlungen der liberalen Idee in der Gründerzeit außer acht läßt. Es ist zwar absolut zutreffend, daß Webers „Wertetafel eine völlig andere war als die der liberalen Aufklärung“ (ebd., S. 202), aber auch die Wertetafel der Liberalen seiner Zeit war eine völlig andere als die der liberalen Aufklärung. 151

3. Der Machtstaat

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deren Selbstverständnis der Historiker Paul Joachimsen 1916 mustergültig zum Ausdruck bringt: „Das Ziel der preußischen Politik ist der Machtstaat. Die Wohlfahrt der Untertanen spielt nur insoweit eine Rolle, als sie dem Machtbegriff dient. Der Fortschritt der Entwicklung aber liegt darin, daß man immer deutlicher den Zusammenhang zwischen dieser Wohlfahrt der Untertanen und der Macht des Staates erkennt.“156 Die Mehrheit der wilhelminischen Staatsdenker „diente“ in der Tat diesem Machtstaat und Machtbegriff. Und der erste Diener dieses Machtstaats war sicherlich Heinrich von Treitschke, in dessen berühmter Definition, „daß das Wesen des Staates zum Ersten Macht, zum Zweiten Macht und zum Dritten nochmals Macht ist“,157 sich das Selbstverständnis des machtfixierten deutschen Staatsdenkens dieser Epoche verdichtet. Insbesondere in seinen Politikvorlesungen vertrat er die Lehre, die Macht sei „das Prinzip des Staates“ und Staatstheorie daher Männersache: „Der Staat sagt: mir ist es ganz einerlei, was ihr dabei denkt, aber gehorchen sollt ihr. Das ist der Grund, warum zarte Naturen das Staatsleben so schwer verstehen; von Frauen kann man durchschnittlich sagen, daß sie normalerweise erst durch ihre Männer Verständnis erhalten für Recht und Staat“.158 Treitschkes Einfluß auf Weber ist nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen, jedenfalls nicht auf den einer pauschalen Gleichung Weber = Machtstaatsdenken = Treitschke, einer Gleichung, die Sontheimer159 und Mommsen160 aufstellen. Weber hat zwei Semester in Berlin bei Treitschke studiert und war von dessen Persönlichkeit fasziniert, kritisierte aber schon als Student das mangelnde Werturteilsbewußtsein seines akademischen Lehrers, der in den Vorlesungen „propagandistisch“ und „agitatorisch“ auftrete161 und seine Wertstandpunkte nicht benenne.162 Diese skeptische Haltung entspricht seiner relativierenden Haltung gegenüber der Machtpolitik, die er als leer und sinnlos empfindet, wenn sie „lediglich um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck“ betrieben werde.163 Die ambivalente Bewertung Treitschkes findet ein

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Joachimsen, Vom deutschen Volk zum deutschen Staat, S. 95. Treitschke, Bundesstaat und Einheitsstaat (1864), in: ders., Historische und Politische Aufsätze, Bd. 2, 6. Aufl. Leipzig 1903, S. 152. 158 Treitschke, Politik, S. 33. Diese Haltung entspricht seiner virilen Auffassung der Geschichtswissenschaft: „Die Geschichte trägt durchaus männliche Züge, für sentimentale Naturen und für Weiber ist sie nicht.“ (ebd., S. 30) 159 Kurt Sontheimer, Zum Begriff der Macht als Grundkategorie der politischen Wissenschaft, in: Dieter Oberndörfer (Hg.), Wissenschaftliche Politik, 2. Aufl. Freiburg 1966, S. 203. 160 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 7ff. 161 Weber, Brief an seinen Onkel Hermann Baumgarten, 8. Nov. 1884, in: JB, S. 145. Dem eingefleischten Treitschke-Feind haben diese Zeilen seines Neffen sicherlich gefallen. 162 Weber, Brief an Hermann Baumgarten, 14. Juli 1885, in: JB, S. 174f. 163 Weber, Politik als Beruf, S. 229 (PS 547). 157

144

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

Pendant in Webers Äußerungen zur Bismarckschen Machtpolitik. Einerseits bewundert er Bismarck als politisches „Genie“,164 das sich in den Dienst des deutschen Nationalstaats stelle,165 andererseits kritisiert er dessen autoritäre Politik, zu deren Folgen nicht zuletzt ein „völlig machtloses Parlament“ gehöre.166 Er verachtet den Bismarck-Kult seiner Zeitgenossen, die das „Brutale“ und die „Gewaltsamkeit“ glorifizieren.167 Max Webers Ambivalenz entspricht genau Nietzsches Ambivalenz gegenüber „Bismarcks Macchiavellismus“ und „Realpolitik“.168 In den 1860er Jahren begeistert Nietzsche sich noch für Bismarcks „Mut und rücksichtslose Konsequenz“169 und liest „seine Reden, als ob ich starken Wein trinke“.170 Nach der Reichsgründung aber wird er zum erbitterten Gegner des einsetzenden Nationalismus. Für Nietzsche ist nun „die konstitutive Kraft des sogenannten nationalen Staates“ nur eine Steigerung der „Bedrohlichkeit“ und die Staatsverherrlichung ein moderner „Götzendienst“.171 Der „künstliche Nationalismus“ sei nicht nur ein ideologisches Instrument des Staates, sondern auch „gefährlich“.172 Nietzsche ist ein ebenso polemischer wie scharfsinniger Gegner des Nationalismus und seiner Diener, zu denen er vor allem jene Historiker wie Heinrich von Treitschke zählt, die er als „Hanswürste der Politik“ verspottet, und deren „reichsdeutsche Geschichtsschreibung“ ihm zuwider ist.173 Während Nietzsche nur eine verhältnismäßig kurze Zeit lang am tagespolitischen Geschehen interessiert ist174 und seine politischen Positionen nirgends in seinem Werk eingehender entfaltet, ist Max Weber ein kontinuierlicher und kritischer Begleiter des nationalen Machtstaats seiner Zeit. Er teilt mit Nietzsche allerdings die anthropologische Auffassung vom ‚ewigen Kampf des Menschen mit dem Menschen‘, der auch einen Kampf zwischen den Nationen nach sich zieht. Diese Auffassung vom unausweichlichen Machtkampf der Nationen ist repräsentativ für das Bewußtsein seiner Zeit. „In der außerordentlichen Be-

——————— 164 Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 441 (PS 313). 165 Weber, Bismarcks Außenpolitik und die Gegenwart, S. 91 (PS 128.) 166 Weber, Parlament und Regierung, S. 450 (PS 320). 167 Ebd., S. 438 (PS 311). 168 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882), in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, München 1982, Bd. II, S. 225f. 169 Nietzsche, Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, Ende Juni 1866, Bd. III, S. 964. 170 Nietzsche, Brief an Carl von Gersdorff, 16. Februar 1868, ebd., S. 992. 171 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, ebd., Bd. I, S. 313f. 172 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (1878), ebd., S. 685. 173 Nietzsche, Ecce homo, ebd., Bd. II, S. 1147. 174 Dazu Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche Biographie, 1. Bd., München 1978, bes. S. 214ff.

3. Der Machtstaat

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tonung des Machtelements im Nationsgedanken ist Weber“, wie Wolfgang J. Mommsen treffend sagt, „ein Exponent des nationalen Denkens der Wilhelminischen Epoche, das sich zunehmend an der rein machtpolitischen Geltung des eigenen Staates in der Welt zu orientieren begann.“175 Mommsens These einer Steigerung des Machtelements in Webers Nationsverständnis, in deren Folge die Macht schließlich zur „beherrschenden Komponente“ werde,176 ist allerdings unhaltbar: Das Machtelement ist bereits in den frühen Schriften, vor allem in der Freiburger Antrittsrede, überdeutlich zu erkennen und wird später sogar eher abgeschwächt, wie die Versuche der Definition der Nation durch Sprache und Kultur zeigen. Schon der junge Max Weber legt seine Gesichtspunkte offen, unter denen er politische Fragen beurteilt: die Staatsräson und die Interessen des Staates, hinter denen die Interessen der Nation stehen. Zu diesem letzten Wert bekennt er sich noch in späten Jahren. Daß er auch dem deutschen Machtstaat positiv gegenübersteht, ist bereits deutlich geworden. Ist dieser aber auch ein Wert, an dem er sich orientiert? Wie sein Nations-, so kristallisiert sich auch sein Machtstaatsdenken erst während des Ersten Weltkriegs heraus und rückt in dieser Zeit in den Vordergrund seiner politischen Schriften. Wie im Falle der „Nation“ markiert Jahr 1916 den Höhepunkt der Reflexionen zum Machtstaat. Weber versucht das Wesen des Machtstaates zunächst ex negativo durch die historische Kontrastierung mit dem Nicht-Machtstaat zu erfassen. Der Unterschied zwischen beiden Formationen, den er zu einer Art Leitdifferenz der Weltgeschichte erhebt, bestehe nur darin, daß ein „machtstaatlich organisiertes Volk“ vor „gänzlich andere Aufgaben gestellt“ sei als die kleinen nicht-machtstaatlichen Völker, die aber keineswegs „vor dem Forum der Geschichte weniger ‚wichtig‘“ seien.177 Ausdrücklich betont er die Gleichberechtigung beider Formationen: „Im geschichtlichen Dasein der Völker haben die Machtstaaten und die äußerlich kleinen Nationen beide ihre dauernde Mission. Ein großer Machtstaat von 70 Millionen kann gewiß vieles, was ein Schweizer Kanton oder ein Staat wie Dänemark nicht kann. Aber er kann auch in manchem weniger als diese. Auf dem Kulturgebiet sowohl wie auch bei den ganz eigentlich politischen Werten.“178 In dieser Wert-Dimension fällt sein Urteil also alles andere als pro-machtstaatlich aus. Zu jenen „politischen Werten“ zählt er die „echte Demokratie“,

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Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 57. Ebd., S. 55. 177 Weber, Zwischen zwei Gesetzen, S. 95 (PS 142). 178 Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten, S. 190f. (PS 175). Er lehnt sich hier eng an Jacob Burckhardts Unterscheidung von „Großstaat“ und „Kleinstaat“ an. Vgl. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1905), München 1978, S. 24. 176

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

die nur in kleinen Staaten möglich sei, während im Macht- und Massenstaat die Bürokratie herrsche.179 Er blickt an einer Stelle fast wehmütig auf die Chancen der ‚Wertverwirklichung‘ kleiner und nicht-machtstaatlicher Völker: „Nicht nur die schlichten Bürgertugenden und die echte, in keinem großen Machtstaat jemals noch verwirklichte Demokratie, sondern weit intimere und doch ewige Werte können nur auf dem Boden von Gemeinwesen erblühen, die auf politische Macht verzichten.“180 Diese Aussage ist bereits ein klares Indiz dafür, daß Max Weber den Machtstaat keineswegs zu seinen politischen Werten zählt. Wenn er auf den Machtstaat blickt, dann ist von „Pflicht“,181 „Verantwortung vor der Geschichte“182 oder „Forderungen des Tages“183 die Rede. Philosophisch gesprochen sieht er auf Seiten des Machtstaats ‚Notwendigkeit‘, auf Seiten des Nicht-Machtstaats ‚Freiheit‘. Die Notwendigkeit nimmt fast fatalistische Züge an, wenn er die Anforderungen, die „an ein machtstaatlich organisiertes Volk ergehen“, für „unentrinnbar“ hält.184 Der Topos des Unentrinnbaren, der sich leitmotivisch durch sein Werk zieht, prägt auch Webers Beschreibung der Machtstaatsdynamik und des „politischen Machtverhängnisses“. Der „letzte entscheidende Kriegsgrund“ sei, wie er 1916 feststellt, daß Deutschland ein Machtstaat sei.185 In seiner Sichtweise mischen sich der Fatalismus der Unentrinnbarkeit und eine klare historisch-politische Diagnose der Faktoren, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geführt haben. Dazu tritt ein Gesichtspunkt, der in dieser Zeit nicht von ungefähr für sein Nationsverständnis bestimmend wird: In diesem Krieg gehe es um „die Verfügung über die Eigenart der Kultur der Zukunft“, um die Bewahrung der deutschen Kultur; Deutschland habe „die verdammte Pflicht und Schuldigkeit vor der Geschichte“, sich gegenüber der russischen Despotie und der englischen Konvention zu schützen.186 Sowohl Max Weber als auch weite Teile der deutschen Intelligenz waren davon überzeugt, daß der Krieg zur Verteidigung der deutschen Kultur geführt werde und werden müsse. Nicht nur für Bellizisten, sondern auch für einen Gemäßigten wie Friedrich Meinecke stand fest, daß „heute unser Staat, unsere Machtpolitik, unser Krieg den höchsten Gütern unserer nationalen Kultur“

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Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten, S. 191 (PS 175f.). Weber, Zwischen zwei Gesetzen, S. 95 (PS 142). Ebd. S. 96 (PS 143). Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten, S. 192 (PS 176). Weber, Zwischen zwei Gesetzen, S. 98 (PS 145). Ebd. S. 95 (PS 143). Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten, S. 192 und 190 (PS 176 und

175). 186

Weber, Zwischen zwei Gesetzen, S. 96 (PS 143).

3. Der Machtstaat

147

diene.187 Deutschland habe, so Weber, „die Pflicht, Machtstaat zu sein“, und habe zur Bewahrung seiner Kultur „es auf diesen Krieg ankommen lassen“ müssen.188 Hinter diesen Worten steht einerseits ein rigoroses Verständnis von Pflicht und Verantwortung und andererseits die Annahme einer „Gesetzlichkeit“, die keine Alternative des staatlichen Handelns zulasse: „Denn alles, was an den Gütern des Machtstaates teilnimmt, ist verstrickt in die Gesetzlichkeit des ‚Macht-Pragma‘, das alle politische Geschichte beherrscht.“189 Weber respektiert zwar ausdrücklich pazifistische Positionen, will sie aber für die konkrete Lage des deutschen Staates nicht akzeptieren, da dieser gar keine Chance einer freiwilligen „pazifistischen Politik“ habe; diese Chance bestehe nur für Nicht-Machtstaaten.190 Wenn es stimmt, daß im Krieg „sich der Staat in seinem wahren Wesen“ offenbare,191 kommt es wohl nicht von ungefähr, daß Max Weber sich gerade in der Zeit des Weltkriegs so intensiv mit dem Wesen des deutschen Staates und dessen machtstaatlicher Anatomie auseinandersetzt.192 Diese Wesensbestimmung fällt alles andere als verherrlichend aus und ist eher relativierend, nüchtern und wert-frei. Er bejaht den Machtstaat aufgrund seiner Einsicht in die ‚real existierende‘ Lage des wilhelminischen Staates. Webers Pathos ist das Pathos der Nüchternheit. Da bei seinem Bekenntnis zum Machtstaat die Momente der Gesetzlichkeit, Pflicht und Unentrinnbarkeit ausschlaggebend sind, nicht aber ‚Werte‘, ist die herrschende Meinung, die im Machtstaat einen ‚Wert‘ Max Webers erblickt, revisionsbedürftig. Nirgends in seinem Werk erscheint der Machtstaat als ‚letzter Wert‘. Diese Kategorie bleibt der Nation vorbehalten.

——————— 187 Friedrich Meinecke, Politik und Kultur (1916), in: ders., Politische Reden und Schriften, Darmstadt 1966, S. 81. 188 Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten, S. 192 (PS 176). 189 Weber, Zwischen zwei Gesetzen, S. 98 (PS 145). 190 Ebd., S. 96f. (PS 144). An einen Staat mit machtpolitischem Gewicht werden andere Forderungen gestellt als an andere Staaten. Daran hat sich seither wenig geändert. Bereits kurz nach der Wiedervereinigung forderte man von der nunmehr souveränen und mit neuem politischen Gewicht ausgestatteten Bundesrepublik die Beteiligung an den militärischen Operationen im Ersten Golfkrieg. 191 Erich Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, Tübingen 1911, S. 146. 192 Daß das Verhältnis von Macht und Staat in der Zeit des Weltkriegs zu einem beherrschenden Thema wird, zeigt besonders eindringlich der Briefwechsel zwischen Georg Lukács und Paul Ernst. So schreibt Lukács am 14. April 1915 an Paul Ernst, daß der Staat „eine Macht“ sei, was man allerdings „nicht zugeben“ dürfe (Lukács, Briefwechsel 1902-1917, hg. v. Éva Karádi und Eva Fekete, Stuttgart 1982, S. 349). Zwei Wochen später antwortet ihm Paul Ernst, daß „auch mich der Krieg beeinflußt hat. Ich glaube, daß der Staat mehr ist, wie eine Macht, daß sich in ihm ein Theil unseres Wesens erfüllt. ... In diesem Krieg findet offenbar eine Contraction des Ich auf die Nation statt. Hier ist nun eine Harmonie, deshalb fühle ich den Staat als etwas Heiliges.“ (ebd., S. 350f.)

148

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

Der Weltkrieg ist für Weber nicht nur Anlaß zur Reflexion über die Nation und den Machtstaat, sondern auch über die Werthaltung gegenüber dem Staat, wie in der Schlußpassage des Logos-Aufsatzes deutlich wird. Hier schreibt er über die gewaltige Steigerung des Prestiges des Staates im Weltkrieg, und es ist deutlich zu spüren, daß dieses Prestige auch auf Weber Wirkung ausübt: „In der Wertungssphäre“, stellt er fest, sei „ein Standpunkt sehr wohl sinnvoll vertretbar, der die Macht des Staates im Interesse seiner Verwertbarkeit als Zwangsmittel gegen Widerstände auf das denkbar äußerste gesteigert sehen möchte, andererseits aber ihm jeglichen Eigenwert abspricht und ihn zu einem bloßen technischen Hilfsmittel für die Verwirklichung ganz anderer Werte stempelt“.193 Er beleuchtet in dieser zentralen Passage zur Frage des Verhältnisses von Staat und Werturteil den Widerspruch, daß der Staat zwar Macht über Leben und Tod habe, aber dennoch keine Macht über die Seelen, da er die „freie Hingabe des Einzelnen an die Sache, welche sein Staat vertritt“, nicht erzwingen könne. Darüber hinaus beobachtet Weber einen zweiten Widerspruch: daß der Staat zwar als „der letzte ‚Wert‘“ gesehen werde, „an dessen Daseinsinteressen alles gesellschaftliche Handeln letztlich zu messen sei“, aber zugleich zum ‚bloß technischen Hilfsmittel‘ degradiert werde.194 Im Ton nüchterner Sachlichkeit, die „gegenüber den jeweilig herrschenden Idealen ... einen kühlen Kopf“ bewahren will,195 setzt Weber sich nicht zuletzt mit seiner eigenen Werthaltung gegenüber dem Staat auseinander. Er reflektiert nicht nur die Widersprüche seiner Zeit, sondern auch die seines eigenen Staatsdenkens. Aus seiner Prämisse, daß jede Staatsanschauung wertgebunden sei, zieht er hier Konsequenzen: „Wem etwa staatliche Machtinteressen ein letztes Ziel wären, der müßte je nach der gegebenen Situation sowohl eine absolutistische wie eine radikal-demokratische Staatsverfassung für das (relativ) geeignetere Mittel ansehen, und es wäre höchst lächerlich, einen etwaigen Wechsel in der Bewertung dieser staatlichen Zweckapparate als Mittel für einen Wechsel in der ‚letzten‘ Stellungnahme selbst anzusehen.“196 Auch hier ist hinter dieser distanzierten Aussage die Reflexion seiner eigenen Entwicklung zu erkennen, vollzieht er doch in dieser Zeit einen solchen Wechsel in der Bewertung des staatlichen „Zweckapparates“ und wandelt sich vom erklärten Monarchisten zum Demokraten. Dieser Wandel erscheint als konsequenter Ausdruck seiner Werthaltung. Sein Eintreten für die Staatsform der Demokratie bedeutet eben keine Änderung seines Wertmaßstabs, da die Nation und die Staatsräson seine

——————— 193

Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“, S. 540. Ebd., S. 539f. 195 Ebd., S. 540. 196 Ebd., S. 512. 194

3. Der Machtstaat

149

entscheidenden Fixpunkte bleiben. Nicht zuletzt aufgrund dieser Gesichtspunkte engagiert er sich für die Demokratie. Die staatstheoretische Schlußpassage des Logos-Aufsatzes läßt sich als Selbstverständigung Max Webers über sein Staatsdenken lesen. Wie aber ist diese zu bewerten? Hans Albert will hier eine Abkehr von früheren Positionen, „eine Art Selbstkritik an seiner Freiburger Rede“ erkennen.197 Und auch Gerhard Hufnagel ist der Überzeugung, Weber relativiere hier seine Position des Staates als letztem Wert und vertrete „in kritisch gebrochener Vorsicht die Erkenntnis, daß gerade die kritische Distanz zu jener Wertewelt der staatlichen Ordnung“ erforderlich sei.198 Beide Thesen sind unhaltbar, da sie die Konsequenzen verkennen, die sich aus Max Webers Reflexion des Verhältnisses von Staat und Werturteil ergeben. Er vollzieht hier keineswegs eine Abkehr von früheren Werthaltungen, sondern vertritt sie nur um so nachdrücklicher und werttheoretisch reflektierter. Seine Werturteilslehre wird gewissermaßen zum Katalysator seines Staatsdenkens. Der letzte Wert der Nation und der Gesichtspunkt der Staatsräson beherrschen auch noch das politische Denken des späten Weber. Er fordert zwar 1918 einen klaren „Verzicht auf imperialistische Träume“, nationalen „Pazifismus“ und „gründliche Entmilitarisierung“,199 aber diese Forderungen stehen unter der Prämisse, daß die feindlichen Siegermächte „im Lande stehen“.200 Die militärische Niederlage führt ihn zu der Einsicht, es sei „mit der weltpolitischen Rolle Deutschlands“ vorerst vorbei, aber nicht zur Preisgabe seiner nationalen Haltung.201 Im gleichen Jahr schlägt er gegen einen Einmarsch der Polen in Danzig eine „deutsche Irredenta“ vor, einen „Nationalismus mit revolutionären Gewaltmitteln“,202 und er fordert die Teilnehmer einer Heidelberger Studentenversammlung dazu auf, „dafür zu sorgen, daß den ersten polnischen Beamten, der es wagt, Danzig zu betreten, eine Kugel trifft“.203 Darin ist wohl alles andere als eine ‚kritisch gebrochene Vorsicht‘ zu erkennen.

——————— 197

Albert, Theorie und Praxis, S. 203. Hufnagel, Kritik als Beruf, S. 181. 199 Weber, Deutschlands künftige Staatsform, S. 109 (PS 455f.). 200 Weber, Das neue Deutschland (1918), in: MWG I/16, S. 379 (PS 484). 201 „Wir fangen noch einmal, wie nach 1648 und 1807, von vorn an. ... Nicht wir, aber schon die nächste Generation wird den Beginn der Wiederaufrichtung sehen.“ (Weber, Brief an Otto Crusius vom 24. November 1918, in: Briefe 1918-1920. MWG II/10, S. 319) 202 Weber, Brief an Kurt Goldstein, 13. Nov. 1918, ebd., S. 302. 203 Zit. n. Marianne Weber, Max Weber, Heidelberg 1950, S. 679. Carl Schmitt, Mitglied in Webers Münchner Dozenten-Seminar im Wintersemester 1919/20, berichtet über ihn: „Ein Revanchist, das Radikalste von allem Revanchismus gegenüber Versailles, was ich je erlebt habe“ (Schmitt, Brief an Heinz Friedrich vom 21. August 1976, zit. n. Piet Tommissen, Bausteine zu einer wissenschaftlichen Biographie, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 79). 198

150

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

4. Staat und Ethik Sowohl der Gesichtspunkt der Staatsräson als auch die Konsequenzen des Machtstaats stehen bei Max Weber in einer engen Beziehung zur Frage des Verhältnisses von Staat und Ethik. Mit dieser Frage beschäftigt er sich schon als 21jähriger, angeregt durch die Lektüre der Schriften William E. Channings, eines amerikanischen Predigers, der im frühen 19. Jahrhundert eine konsequente pazifistische Brüderlichkeitsethik lehrte.204 Einer solchen aber steht der junge Weber skeptisch gegenüber. Er hält Channings pazifistische Ethik nicht nur für „einfach verwerflich“, da sie „Militärs mit einer Mörderbande auf eine Linie“ stelle, sondern auch für gefährlich, da sie „einen Riß zwischen den (angeblichen) Anforderungen des Christentums und dem, was die gesellschaftliche Ordnung der Staaten und der Welt an Konsequenzen und Voraussetzungen mit sich bringt, hervortreten lassen kann“.205 Weber ärgert sich über Channings Lehre der Unvereinbarkeit von religiöser Ethik und staatlicher Ordnung und will eine gewaltverneinende Haltung nicht akzeptieren, da sie in letzter Konsequenz eine staatsverneinende sei. Wenn er also hier bereits einen direkten Zusammenhang zwischen Staat und Gewalt herstellt, läßt sich sein späterer Standpunkt, daß jeder Staat auf Gewaltsamkeit beruhe, bis in seine Jugendzeit zurückverfolgen. Auf die Bedeutung der Äußerungen des jungen Weber und die „Ausprägung wichtiger Kategorien der späteren Forschungen in den Jugendbriefen“206 ist zwar in der Literatur bereits hingewiesen worden, aber die Bedeutung der Auseinandersetzung mit William E. Channing für die Entwicklung seines Staatsdenkens ist bisher nie beachtet worden. Hier bezieht er bereits Positionen, die sowohl für sein Staatsverständnis als auch für seine Sicht des Verhältnisses von Staat und Ethik bestimmend bleiben und im Laufe seines Schaffens kontinuierlich entfaltet werden.

——————— 204 Channings Einfluß auf Weber wurde über Jahrzehnte ignoriert; man beschränkte sich darauf, die Hinweise in Mariannes Lebensbild (S. 100ff.) abzuschreiben (vgl. nur Hans Norbert Fügen, Max Weber, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 38f.). Siehe inzwischen aber Guenther Roth, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800-1950, Tübingen 2001, S. 271ff.; Malcolm H. Mackinnon, Max Weber’s Disenchantment: Lineages of Kant and Channing, in: JCS 10 (2001), S. 329-351; Wilhelm Hennis, Freiheit durch Assoziation, in: ders., Max Weber und Thukydides, Tübingen 2003, S. 153-155. – Channing war ein vielseitig interessierter Prediger, der in manchmal rührend naiver Weise über die verschiedensten Themen schrieb: über Napoleon (The Works of William E. Channing, Boston 1849, Bd. I, S. 69ff.), die Literatur (ebd., S. 243ff.), Erziehung (ebd., S. 369ff.), die Annexion von Texas (Bd. II, S. 181ff.), den Katholizismus (ebd., S. 263ff.), den Krieg (Bd. III, S. 29ff.; Bd. IV, S. 237ff.; Bd. V, S. 107ff.). Es wäre lohnend, einmal nach dem Einfluß seiner Schrift Christianity a Rational Religion (Bd. IV, S. 31ff.) auf Webers Protestantische Ethik zu fragen. 205 Weber, Brief an die Mutter, 6. Dezember 1885, in: JB, S. 191f. 206 Eduard Baumgarten, Max Weber, Tübingen 1964, S. 301ff. Vgl. auch Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie, S. 106ff.

4. Staat und Ethik

151

Schon der junge Max Weber stellt sich auf die Seite der Staatsräson und der „Ordnung der Staaten“ und grenzt sich gegenüber einer pazifistischen religiösen Ethik ab. Zehn Jahre nach der Channing-Lektüre widmet er sich den Kollisionen zwischen Staat und Ethik, wenn er 1895 in seinem Handwörterbuchartikel über das Börsenwesen zu dem Schluß kommt, das „Interesse des Staates“ müsse sich „auf die Erhaltung und Steigerung der internationalen Machtstellung der deutschen Börse“ richten, weshalb „das Staatsinteresse mit der moralisierenden Betrachtung direkt kollidieren“ könne. Er meint, „daß es eine ‚prinzipielle‘ Lösung ökonomischer Fragen ... unter irgend einem ‚ethischen‘ Gesichtspunkt“ für den „Staat nicht giebt, wo die politischen Machtinteressen des Staates und der nationalen Gemeinschaft selbst im Kampf mit anderen Gemeinschaften um die politische und ökonomische Herrschaft in Frage stehen“.207 Es ist sicher kein Zufall, daß zu jener Zeit, in der er sich erkennbar abfällig gegenüber einem „ethischen“ Gesichtspunkt äußert, auch die Staatsräson und die Nation zu seinen entscheidenden Gesichtspunkten werden. Im Falle eines Konflikts zwischen Ethik und Staatsräson, die ohnehin in einem Spannungsverhältnis stehen, entscheidet er sich zugunsten der letzteren. Mit diesem Standpunkt steht er in der Tradition jener Denker des 19. Jahrhunderts, die ethische Maximen und staatliche Politik voneinander entkoppeln. So meint Gustav Rümelin, der Staat könne der Moral nicht untergeordnet werden, da dessen Prinzip der Selbstbehauptung „über jedem Gebot“ stehe; „die Moral, welche dem Einzelnen seine Tugenden und Pflichten vorzeichnet, ist für die Lenkung des Staatsganzen nicht zu gebrauchen. Diese Moral und die Politik gehen schon in der Wurzel auseinander.“208 Vollkommen konsistent sind allerdings weder ‚idealistische‘ noch ‚realistische‘ Konzeptionen. Selbst ein Idealist wie Jacob Burckhardt, der die Macht als „an sich böse“ wertet,209 stellt die Frage, ob es nicht eine „Dispensation von dem gewöhnlichen Sittengesetz“ für den Staat geben müsse, da sich „die wichtigsten materiellen und geistigen Besitztümer der Nationen nur an einem durch Macht gesicherten Dasein“ entwickeln.210 Andererseits sieht auch ein Realist wie Rümelin die Freisprechung des Staates von moralischen Prinzipien als Problem, wenn er fragt, ob „wir nicht schon ganz auf der schiefen Ebene“ stehen, „die uns unaufhaltsam in den Abgrund von Macchiavellis verrufenen Lehren führt“.211 Als blanker Machiavellist kann nicht einmal der Realissimus Heinrich von Treitschke gelten: Er

——————— 207

Weber, Börsenwesen (1895), in: Börsenwesen. MWG I/5, S. 558-590 (589). Gustav Rümelin, Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral, in: ders., Reden und Aufsätze, Bd. I, Freiburg/Tübingen 1875, S. 161 u. 156. 209 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 25. 210 Ebd., S. 175. 211 Rümelin, Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral, S. 157. 208

152

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

respektiert zwar „den genialen Florentiner“, der als erster „den großen Gedanken“ der Staatsräson entwickelt habe, verurteilt aber angewidert die „tiefe Unsittlichkeit seiner Staatslehre“.212 Max Weber stellt zwar nirgends die „Macchiavellifrage“213 – offenbar die politische Gretchenfrage des 19. Jahrhunderts –, setzt sich aber in seinen späten Jahren verstärkt mit der Frage des Verhältnisses von Staat und Ethik auseinander, vor allem in seiner Rede Politik als Beruf, die in einer Erörterung eben dieser Frage mündet, und in einer Passage der Religiösen Gemeinschaften, in der er die Spannungen zwischen religiöser Ethik und ‚Welt‘ untersucht.214 Hier reflektiert er die Kollisionen zwischen ethischen Maximen und staatlichen Ordnungen und nimmt damit ein Thema wieder auf, mit dem er sich schon als 21jähriger bei der Channing-Lektüre beschäftigt hat. Am Beispiel der „antipolitischen Weltablehnung“ der gewaltverneinenden religiösen Brüderlichkeitsethik demonstriert er, wie jede religiöse Ethik „in Spannung mit dem Kosmos des politischen Handelns“ gerät, sobald sie in Distanz zum Staat tritt.215 Hier wird einerseits klar, daß zwischen einer gewaltverneinenden Ethik und dem potentiell notwendig gewaltsam handelnden Staat Konflikte unausweichlich sind. Andererseits wird deutlich, daß erst mit dem Auseinandertreten von religiöser und staatlicher Ordnung überhaupt jene Kollisionen zwischen religiöser Ethik und staatlichem Handeln entstehen. In einem historischen Rückblick betrachtet Weber die Wandlung des Christentums in seiner Beziehung zum Staat, – von der absoluten Staatsindifferenz bis hin zur positiven Wertung der Obrigkeit und der „Anerkennung als Staatsreligion“.216 Er diagnostiziert ein allgemeines Schema, wonach eine Staatsreligion die Spannungen zwischen religiöser Ethik und der „anethischen oder antiethischen“ staatlichen Ordnung zu lösen pflegt, nämlich durch eine „Relativierung und Differenzierung“ der Ethik.217 Die mittelalterliche Ethik beruhte noch auf einer „zunehmend schwindenden allgemeinen Voraussetzung“: dem „rein personalistischen Charakter“ der politischen Gewaltbeziehungen, „an welche man ethische Postulate in dem gleichen Sinne stellen kann wie an jede andere rein persönliche Beziehung“. Aber der heutige „Kosmos der rationalen Staatsanstalt“ habe „absolut nicht mehr diesen Charakter“, da dessen rationale Regeln sich nicht mehr nach persönlichen, sondern nur noch nach unpersönlichen

——————— 212

Treitschke, Politik, Bd. 1, S. 90f. Rümelin, Ueber das Verhältniß der Politik zur Moral, S. 157. 214 Weber, Politik als Beruf, S. 233ff. (PS 549ff.); ders., Religiöse Gemeinschaften. MWG I/22-2, S. 367ff. (WuG 348ff.). 215 Weber, Religiöse Gemeinschaften, S. 388 u. 386 (WuG 357 u. 355). 216 Ebd., S. 394ff. (WuG 359f.). 217 Ebd., S. 396 (WuG 360). 213

4. Staat und Ethik

153

Normen richten: „Zunehmend versachlicht sich die innerpolitische Gewaltsamkeit zur ‚Rechtsstaatsordnung‘ ... Die gesamte Politik aber orientiert sich an der sachlichen Staatsräson, der Pragmatik und dem absoluten ... Selbstzweck der Erhaltung der äußeren und inneren Gewaltverteilung.“218 Hier betrachtet Weber die Staatsräson, seinen entscheidenden Gesichtspunkt, in einer historischen Perspektive und bewertet sie, wie die Versachlichung und Entpersonalisierung, als Teil des okzidentalen Rationalisierungsprozesses. Auch die Ethik betrachtet er unter historisch-empirischen Aspekten und bedient sich dabei einer ähnlichen Sichtweise wie Georg Jellinek, der eine „empirische“ gegen eine „speculative“ Ethik setzt und die Historizität und Relativität der Ethiken betont.219 Beide Denker sind Zeitgenossen einer Epoche, in der es nicht mehr nur eine verbindliche Ethik, sondern eine Pluralität von Ethiken gibt. Gangolf Hübinger weist mit Recht darauf hin, daß Max Weber und Georg Jellinek gemeinsame ethische Fragestellungen teilen; allerdings ist sein Urteil, daß Jellinek „etatistischer“ ausgerichtet sei als Weber, der „‚personalistischer‘ nach den Bedingungen einer politischen Ethik“ frage,220 etwas überspitzt, da beide Denker sowohl in ihrem Etatismus als auch in ihrer Frage nach der politischen Ethik einander um nichts nachstehen. In Max Webers Religionssoziologie erscheint die Staatsräson als die große Antagonistin der Ethik, als welche sie schon in seinen Jugendbriefen erscheint: Kollisionen sind unvermeidlich, wo das Handeln sich an einer Ethik orientiert, die nicht im Einklang mit dem Staatsinteresse steht. Und das von ihm postulierte allgemeine Schema, wonach die Spannungen zwischen ethischen Maximen und der staatlichen Ordnung durch eine Relativierung der Ethik gelöst werden, legt nahe, daß die Staatsräson sich im Konfliktfall gegenüber ethischen Imperativen durchsetzt und durchsetzen muß. Bei Weber ist eine Dualität der Fragestellung zu beobachten. Während er sich in seinen frühen Schriften zum Advokat des Staates macht und nach der Bedingung der Möglichkeit staatlicher Existenz fragt, interessiert er sich in seinen religionssoziologischen Schriften für die Bedingung der Möglichkeit ethischen Handelns in der „anethischen“ Welt des Staates. Alle Interpretationen, die sich nur auf eine der beiden Fragestellungen beziehen, müssen zwangsläufig zu schiefen Bewertungen kommen. Erst die Kenntnis und Beachtung beider Perspektiven ermöglicht eine angemessene Beurteilung und Bewertung seiner Sicht des Verhältnisses von Ethik und Staatsräson.

——————— 218

Ebd., S. 401 (WuG 361). Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien 1878, S. 15. 220 Gangolf Hübinger, Staatstheorie und Politik als Wissenschaft im Kaiserreich, in: Hans Maier u.a. (Hg.), Politik, Philosophie, Praxis, Stuttgart 1988, S. 143-161 (160f.). 219

154

IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

Mit seiner These des „anethischen“ Charakters des modernen Staates knüpft Weber einmal mehr an Nietzsche an, der den Staat sogar als „die organisierte Unmoralität“ empfindet.221 Dagegen unterscheidet er sich prinzipiell von Machiavelli, bei dem die Staatsräson „als eine ‚Ethik‘ staatlicher Selbsterhaltung“ erscheint,222 während sie für Weber aufgrund des „anethischen“ Charakters des modernen Staates generell keine Ethik sein kann. Für diese Differenz zwischen den beiden großen Denkern der Staatsräson ist nicht zuletzt der vierhundertjährige Abstand zwischen ihnen ausschlaggebend. Die Zeit Machiavellis ist, wenn man von Webers Verständnis ausgeht, noch die Zeit personalistischer Herrschaft, in der eine ganz andere Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Ethik möglich ist als in der Epoche der unpersönlichen Herrschaft des modernen rationalen Anstaltsstaates. Max Webers Thema der Spannungen zwischen Ethik und Staatsräson spiegelt sich in seinen Reflexionen zu den Wertkollisionen. Es führt ihn auch zu jenen beiden Fragestellungen, die in seinem Werk scheinbar unvermittelt nebeneinander stehen. Es ist allerdings möglich, an einer Stelle eine Konvergenz der beiden Fragestellungen aufzuzeigen, nämlich in Politik als Beruf, wo er die Frage stellt, ob „‚dieselbe‘ Ethik für das politische Handeln wie für jedes andre gelte“.223 Er verneint diese Frage. Entscheidend ist, daß er im gleichen Atemzug von den „ethischen Anforderungen an die Politik“ spricht,224 also ethisches Handeln im modernen Staat keineswegs ausschließt. Für seine Sichtweise des ethischen Handelns im modernen Staat ist die Unterscheidung von Gesinnungsund Verantwortungsethik konstitutiv, eine Differenzierung, die zugleich als Versuch gelesen werden kann, die Spannung zwischen Ethik und Staatsräson zu lösen. Ein wesentliches Kriterium der Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist ihr jeweiliges Verhältnis zum Staat. Die Verantwortungsethik bejaht die Konsequenzen der staatlichen Ordnung, zu der auch die Gewaltsamkeit gehört, und ist gewissermaßen eine staatskonforme Ethik. Die Gesinnungsethik dagegen steht zu den Forderungen der staatlichen Ordnung in einer potentiellen Konfrontation und ist eine weitgehend staatsindifferente, ja sozusagen staatsnonkonforme Ethik. Die Konzeption der Verantwortungsethik trägt nachgerade Züge einer Staatsethik, eine Vorstellung, die Weber aufgrund seiner Diagnose des anethischen Charakters des modernen Staates eigentlich fremd sein muß. Sie unterscheidet sich denn auch grundlegend von etwa Ma-

——————— 221 Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. III, S. 635. 222 Münkler, Machiavelli, S. 284. 223 Weber, Politik als Beruf, S. 233 (PS 549). 224 Ebd., (PS 550).

4. Staat und Ethik

155

chiavellis Vorstellung einer Staatsethik, da eine Ethik nach Webers Verständnis nicht vom Staat gesetzt oder durchgesetzt werden kann. Hier besteht eine deutliche Parallele zu seinem Verständnis der Werte, die für ihn das Ergebnis einer subjektiven Setzung des Individuums sind. Überhaupt ist die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik für Weber ein „Teil der Wertproblematik“, wie Wolfgang Schluchter sagt.225 Die Verantwortungsethik steht im Angesicht des Wertepluralismus und gestattet einen flexiblen, pragmatischen Umgang mit Werten, während die reine Gesinnungsethik monistische Züge trägt und eine absolute, konzessionslose Haltung erfordert.226 Zwischen dem Problem der Werte und dem der Ethiken lassen sich noch zwei weitere Parallelen ziehen. In beiden Fällen stellt sich das Problem der Kollisionen und „unaustragbar gegensätzlichen Maximen“,227 und beide stehen in enger Beziehung zum Staat. Webers Abgrenzung der beiden Ethiken zeigt, daß hinter ihnen jeweils spezifische Werthaltungen stehen, für die wiederum ihr jeweiliges Verhältnis zum Staat konstitutiv ist. Welche Werthaltung er selbst gegenüber den beiden Ethiken bezieht, ist evident, da er eine eindeutige Option für die Verantwortungsethik erkennen läßt. Diese Option entspricht auch seiner Werthaltung zum Staat. Bei ihm liegt in der Tat jene Abwertung der Gesinnungsethik vor, die Wolfgang Schluchter sieht.228 Und Mommsens Einwand, Weber sehe „beide Ethiken als gleich berechtigt“,229 ist nur insoweit richtig, als Weber sie als Idealtypen ethischen Handelns begreift und der Gesinnungsethik eine Berechtigung nicht abspricht. An seiner Bewertung aber läßt er nicht den geringsten Zweifel. Da die Verantwortungsethik nicht nur erlaubt, ethische Anforderungen an das staatliche Handeln zu stellen, sondern auch, den Konsequenzen der staatlichen Ordnung Rechnung zu tragen, ist sie die einzige Ethik, welche die Spannungen zwischen Ethik und Staatsräson zu entschärfen vermag.

——————— 225 Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 1, S. 270. Dort auch zur Frage der Ethik bei Weber: S. 166ff., 195ff. und 274ff.; Hans Henrik Bruun, Science, Values and Politics in Max Weber’s Methodology, 2. Aufl. Aldershot 2007, S. 250ff. 226 Dieser Gegensatz spiegelt sich in der heutigen Diskussion in der Konkurrenz zwischen konsequentialistischer und deontischer Ethik. Dazu Philip Pettit, Consequentialism, in: Stephen Darwall (Hg.), Consequentialism, Oxford 2003, S. 95-107; Thomas Nagel, Anti-Relativity and Deontology, in: Stephen Darwall (Hg.), Deontology, Oxford 2003, S. 90-111. 227 Weber, Politik als Beruf, S. 237 (PS 551). Max Weber bestimmt das Verhältnis von Gesinnungs- und Verantwortungsethik nicht ganz widerspruchsfrei, da er einerseits von zwei „unaustragbar gegensätzlichen Maximen“ redet, aber andererseits sagt, daß sie „nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen“ seien (PS 559). Dieser Widerspruch läßt sich nur insoweit auflösen, als beide Ethiken nach Webers Verständnis Idealtypen sind, die ja stets als Mischformen auftreten und daher nicht „unaustragbar“ gegensätzlich sein können. 228 Wolfgang Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt a. M. 1980, S. 56. 229 Wolfgang J. Mommsen, Politik und politische Theorie bei Max Weber, in: Weiß (Hg.), Max Weber heute, S. 536.

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

Weber kann hier mit Weber interpretiert werden: Die Differenzierung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die er vornimmt, verfährt nach genau jenem von ihm selbst diagnostizierten allgemeinen Schema, nach welchem die Spannungen zwischen ethischen und staatlichen Forderungen durch eine „Differenzierung“ der Ethik gelöst werden.230 Nach seinem Verständnis ist Ethik für die verantwortlich Handelnden im modernen Staat nur als Verantwortungsethik möglich.

5. Der Staat und der Kampf der Werte Der „Kampf“ der Werte, von dem Max Weber spricht,231 kann die Existenz des Staates nicht unberührt lassen. Welche Konsequenzen aber haben die Wertkollisionen für den Staat? Und welche Rolle spielt der Staat in jenem Kampf der Werte? Vor einer Antwort auf diese Fragen ist eine Vorbemerkung zur geistesgeschichtlichen Lage seiner Zeit notwendig. Um die Jahrhundertwende erleben die Werte eine ungeahnte Konjunktur. „Umwertung aller Werte“, „Rangordnung der Werte“ und „geistig-moralische Werte“ werden zu denjenigen Schlagworten und Kampfbegriffen, die sie bis heute geblieben sind. Friedrich Gottl kann nur ironisch über das Modewort „Wert“ spotten, welches zum „Wort der Worte“, zum „Liebling aller tönenden Rede“ geworden sei.232 Daß Werte überhaupt zu einem populären Thema werden, beruht auf der Auflösung traditioneller Ordnungen und der damit verbundenen Schwinden der Vorstellung einer vorgegebenen, verbindlichen und überzeitlichen Wertordnung. Aus der Einsicht in die Tatsache, daß „die obersten Werte sich entwerten“,233 zieht Friedrich Nietzsche die Konsequenz, „daß der Philosoph das Problem vom Werte zu lösen hat, daß er die Rangordnung der Werte zu bestimmen“ habe.234 Eben dieser Aufgabe widmet sich die Wertphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts, indem sie ausgefeilte Konstruktionen von Werthierarchien und Wertordnungen entwickelt. Nietzsche ist zwar nicht der Initiator der Wertphilosophie,

——————— 230

Weber, Religiöse Gemeinschaften, S. 396 (WuG 360). Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, S. 507. Dazu Hartmann Tyrell, Antagonismus der Werte – ethisch, in: Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt (Hg.), Max Webers „Religionssystematik“, Tübingen 2001, S. 315-333. 232 Friedrich Gottl, Die Herrschaft des Wortes. Untersuchungen zur Kritik des nationalökonomischen Denkens, Jena 1901, S. 87. 233 Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. III, S. 557. 234 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. II, S. 761-900 (798). 231

5. Der Staat und der Kampf der Werte

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als der er oft gesehen wird, aber durch ihn ist in der Tat erst „die Rede von den Werten populär geworden“.235 Max Weber schreibt und denkt in einer – wie er selbst sagt – von Nietzsche geprägten Welt. In verschiedenen Zusammenhängen diagnostiziert er den Verlust einer objektiven Wertordnung, wozu er etwa auch das „Schwinden der alten Naturrechtsvorstellungen“ rechnet.236 Es kann jedoch, anders als ihm oft vorgeworfen wurde, keine Rede davon sein, er würde die Existenz von Werten bestreiten, da ein großer Teil seines Schaffens sich ja gerade um diese dreht. Er glaubt allerdings nicht an objektive Werte, sondern er lenkt den Blick auf das Entstehen der Werte: Sie werden gesetzt. Und für Weber ist diese Setzung ein individueller subjektiver Vorgang, „der nur von subjektiven Wertungen aus entschieden werden“ könne.237 Diese Subjektivität der Wertsetzung wird erst durch die Entdeckung der Persönlichkeit als autonomer Instanz möglich. In der Moderne können Werte, wie Hermann Broch sagt, nur im Zusammenhang mit einem „handelnden wertsetzenden Wertsubjekt gedacht werden.“238 Diese Position vertritt auch Max Weber. Bei ihm finden wir auf die Frage, wer die Werte setzt, „die klarsten und insofern auch ehrlichsten Antworten“, wie Carl Schmitt grimmig anerkennt.239 Die Subjektivität der Wertsetzung hat Konsequenzen, die unmittelbar auch die Existenzgrundlage des Staates berühren. Denn der Anzahl der Subjekte entspricht – zumindest theoretisch – eine ebenso große Anzahl von Werthaltungen, die durchaus unvereinbar sein können. Der Staat aber beruht auf einem Grundkonsens von Werthaltungen. Weber benennt klar die Folgen der Subjektivität der Wertsetzung, nämlich die Entstehung von Wertkollisionen,240 die er aufgrund des Verlusts der Geltung einer ‚objektiven‘ Wertordnung für unvermeidlich hält. Daß solche Kollisionen keine Stürme im Wasserglas sind, belegen die martialischen Worte, mit denen er den Kampf der Werte beschreibt: „Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder

——————— 235 Martin Heidegger, Holzwege, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1957, S. 209. Carl Schmitt hat dieses Urteil bekräftigt (Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: ders. u. a., Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, S. 30). Wenn Heidegger und Schmitt auch die Entstehung der Wertphilosophie auf Nietzsche zurückführen, überbewerten sie allerdings seine geistesgeschichtliche Stellung. 236 Weber, Recht. MWG I/22-3, S. 611 (WuG 502). 237 Weber, Debattenrede auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik in Wien 1909, in: GASS, S. 420. 238 Hermann Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1931/32), Frankfurt a. M. 1978, S. 620. Broch hat diesen „Zerfall der Werte“ in seiner in den Roman eingebauten philosophisch-historischen Essay-Folge detailliert nachgezeichnet. 239 Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 31. Es ist gerade die Subjektivität der Wertsetzung, die den konkreten Ordnungsdenker zu seinem späten Kampf gegen die Werte anstachelt. 240 Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“, S. 508.

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen ‚Gott‘ und ‚Teufel‘. Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse.“241 Weber vertritt also alles andere als jenen Wertrelativismus, der ihm oft genug unterstellt wurde, ein Vorwurf, gegen den er sich – ganz folgenlos – verwahrt: „Wohl das gröblichste Mißverständnis, welches den Absichten der Vertreter der Wertkollision gelegentlich immer wieder zuteil geworden ist, enthält daher die Deutung dieses Standpunkts als ‚Relativismus‘“.242 Ist der ‚Kampf‘ für Max Weber, wie er oft genug betont, ohnehin ein konstitutives Element menschlichen Zusammenhandelns, so erscheint der ‚Kampf der Werte‘ als der Kampf aller Kämpfe. Eine Auflösung von Wertkollisionen durch Wissenschaft hält er weder für redlich noch für möglich. Darin unterscheidet er sich fundamental von der Wertphilosophie seiner Zeit, insbesondere der Max Schelers, der dem Wertsubjektivismus eine „materiale Wertethik“ entgegensetzt und eine Stufenordnung der Werte konstruiert.243 Von Webers Konzeption will er denn auch nichts wissen: Es sei sein „radikaler Irrtum, daß die materialen Werte nur subjektive Bedeutung haben“ und es eine objektive Werterkenntnis nicht geben könne.244 Das Unbehagen der materialen Wertethiker am Wertsubjektivismus schlägt sich in großangelegten Systemen wie dem Nicolai Hartmanns nieder, der sich in seiner voluminösen Ethik akribisch mit dem Subjektivismus, dem Pluralismus und den Antinomien der Werte auseinandersetzt.245 Angesichts der Tatsache, daß „das ganze Menschenleben“ von Wertkonflikten beherrscht sei, sieht er eine „Tyrannei der Werte“ heraufziehen: Jeder Wert habe „die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen“.246

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Ebd., S. 507. Ebd., 508. 243 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/ 1916), Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern/München 1954. 244 Scheler, Max Webers Ausschaltung der Philosophie (1921/1923), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, Bern/München 1960, S. 431. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Scheler berichtet, daß Max Weber die Vertreter seiner Richtung als „Tintenfischromantiker“ verspottete (ebd., S. 436). 245 Nikolai Hartmann, Ethik, Berlin/Leipzig 1926, S. 124ff., 264ff. u. 267ff. 246 Ebd., S. 524. Carl Schmitt hat nicht nur diese Formel wirkungsvoll in die neuere Wertdebatte geworfen, sondern auch das Hartmannsche Szenario noch zugespitzt: „Die rein subjektive Freiheit der Wertsetzung führt aber zu einem Kampf der Werte und Weltanschauungen, einem Krieg aller mit allen, einem ewigen bellum omnium contra omnes ... Immer sind es die Werte, die den Kampf schüren und die Feindschaft wachhalten.“ (Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 31f.) Er beschreibt zwar den Kampf der Werte in ähnlich apokalyptischen Worten wie Weber, bei dem man aber den Schmittschen Anti-Wert-Affekt vergeblich suchen würde. 242

5. Der Staat und der Kampf der Werte

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Die Wertphilosophie, vor allem die Max Schelers, die sich nicht zuletzt gegen Weber richtet, steht vor einem Dilemma. Sie will zwar die Subjektivität und die Kollision der Werte durch die Konstruktion einer Rangordnung überwinden, übersieht aber, daß das Bedürfnis nach einer solchen Rangordnung erst durch die Existenz von Wertkollisionen entsteht. Erst wenn diese auftreten, wird eine Wertordnung als notwendig empfunden.247 Max Weber erteilt allen Versuchen, durch eine ausgeklügelte Wissenschaft jene Wertkollisionen aufzulösen, eine klare Absage. Nach seinem Verständnis kann keine Wissenschaft dem Einzelnen lehren, an welche Werte er zu glauben oder in welche Rangordnung er sie zu fügen hat. Werte sind handlungsleitende Standards, die zugleich die Funktion erfüllen, Handlungsalternativen zu selegieren. Es ist aber zu bezweifeln, ob sie sich zu einem perfekten Wertsystem oder in einer perfekten Werthierarchie ordnen lassen.248 Jede Wertordnung erfordert, wie Luhmann sagt, einen „elastischen Opportunismus“, ohne den der Mensch „bis zur Lebensunfähigkeit“ gefesselt würde; wer an einer solchen Ordnung festhalte, könne „nicht einzelne Werte umrangieren, ohne die Gesamtordnung zu gefährden“.249 Weber vertritt alles andere als einen solchen „elastischen Opportunismus“. Aber er modifiziert durchaus in neuen historischen Situationen partiell seine Werthaltungen, wie wir gesehen haben. Er weist selbst darauf hin, sie seien nicht frei von Spannungen: Die „Wertkollisionen“ finden nicht nur zwischen Vertretern verschiedener Werte statt, sondern auch in der „eigenen Brust“.250 Denn der einzelne vertritt niemals nur einen Wert, sondern eine Fülle von Werten, die nur in seltenen Fällen ein kohärentes Ganzes bilden. Ein anschaulicher Beleg dafür ist ein Gespräch, von dem Hans Staudinger in seinen Lebenserinnerungen berichtet: „‚Max Weber, was ist Ihr führender Oberwert?‘ Er war erstaunt und antwortete, diese aufrichtige Frage hätten ihm wenige gestellt. ‚Ich habe keinen führenden Oberwert‘“, habe er geantwortet und dann eingeräumt, daß zwischen seinen Werten, etwa dem „Kunstwert“, dem „Freiheitswert“ oder dem „Vaterlandswert“, oftmals „Dissonanzen“ be-

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Vgl. Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie, in: ders., Soziologische Aufklärung. Bd. 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, 8. Aufl. Wiesbaden 2009, S. 54-65 (62). 248 Dazu Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1998, S. 37ff. 249 Ebd., S. 40f. Vgl. auch Luhmann, Soziale Systeme, S. 434. – „Zweifellos gehört es zu den schwersten Problemen der Ethik, Gründe für eine Ordnung oder Hierarchie der Werte zu finden“, wie Ulrich Steinvorth konstatiert, der selbst eine Vollkommenheitsethik zu entwickeln versucht (Steinvorth, Klassische und moderne Ethik. Grundlinien einer materialen Moraltheorie, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 129). 250 Weber, Diskussionsrede auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik in Wien 1909, in: GASS, S. 420.

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

ständen, so daß sich aus ihnen „keine lebendige Melodie machen“ ließe.251 Weber demonstriert hier in musikalischer Metaphorik sein Verständnis der Pluralität und Heterogenität von Werten, aus denen sich keine harmonische Wertsymphonie komponieren lasse. Angesichts des Ausmaßes, mit dem er sich nicht nur mit dem Wertproblem, sondern auch mit seiner eigenen Werthaltung auseinandergesetzt hat, könnte sowohl sein Erstaunen über die Frage als auch ihre Verneinung überraschen. Aber sein Erstaunen bezieht sich wohl eher auf Staudingers Wortwahl. Die Vokabel des ‚Oberwerts‘, die man in Webers Werk vergeblich suchen wird, gehört nämlich in das Begriffsarsenal der Wertphilosophie, von der er ja nicht sehr viel hält. Wie man in einen Wald hineinruft, so schallt es auch heraus. Da der junge Staudinger seine Frage in wertphilosophischer Terminologie stellte, mußte er notwendig eine negative Antwort erhalten. Wenn wir Max Webers Ausführungen zum Problem der Wertkollisionen betrachten – damit kommen wir auf unsere Frage nach den Konsequenzen der Wertkollisionen für den Staat zurück –, entsteht der Eindruck einer staatlichen Wirklichkeit, die durch einen tödlichen Kampf der Werte gekennzeichnet ist, zwischen denen es keine Kompromisse gibt. Kann aber ein Staat Bestand haben, in welchem die Menschen antagonistische Werte vertreten und diese womöglich auch noch gewaltsam durchzusetzen versuchen? Diese Frage ist zu verneinen. Die Annahme eines Staates, in welchem sich ein solcher tödlicher Kampf der Werte abspielt, würde jedenfalls in Widerspruch zu Webers Position stehen, daß der Staat erstens auf einer Legitimationsgrundlage beruht, die ja einen prinzipiellen Wertkonsens einschließt, und sich zweitens durch das Gewaltmonopol auszeichnet, welches innerstaatliche Bürgerkriegskämpfe ausschließt. Für eine Antwort auf die Frage, welche Rolle der Staat im Kampf der Werte spielt, ist eine gravierende Einschränkung wichtig, die Max Weber im gleichen Atemzug seiner These des ‚unüberbrückbar tödlichen Kampfs‘ macht. Er betont, es gebe natürlich Kompromisse, „wie jedermann im Leben erfährt ..., und zwar auf Schritt und Tritt“.252 Seine Art, in Widersprüchen zu denken, erreicht hier einen Höhepunkt, stellt diese Aussage doch seine These des unüberbrückbar tödlichen Kampfs auf den Kopf. Er macht nicht einmal den Versuch, diesen Widerspruch zu glätten oder zu reflektieren. Gleichwohl ist seine Bemerkung über die Evidenz von Kompromissen höchst aufschlußreich für seine Sicht des Verhältnisses zwischen dem Staat und den Werten. Die Kompromisse, von denen er hier spricht, sieht er an anderer Stelle als konstitutives Merkmal des

——————— 251 Aus einer unveröffentlichten Passage von Hans Staudinger, Wirtschaftspolitik im Weimarer Staat. Lebenserinnerungen eines politischen Beamten im Reich und in Preußen, Bonn 1982, mitgeteilt bei Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 195f. 252 Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“, S. 507.

5. Der Staat und der Kampf der Werte

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parlamentarischen Verfassungsstaats, dessen Handeln „auf dem Kompromiß“ beruhe.253 Er sieht also sehr wohl die Chance, ja die Notwendigkeit von Kompromissen, die er als Funktionsmodus des parlamentarischen Verfassungsstaats wertet.254 Max Weber betrachtet den Kompromiß – eine wichtige Figur seines Staatsdenkens – als institutionelles und institutionalisiertes Prinzip der Vermeidung von potentiell zerstörerischen Konsequenzen der Wertantinomien. Da allein der demokratische Verfassungsstaat in der Lage ist, Kompromisse (relativ) erfolgreich zu institutionalisieren, ist er auch die Staatsform, in der es möglich ist, den tödlichen Kampf der Werte zu domestizieren und durch institutionelle Verfahrensweisen zu entschärfen. Sein Eintreten für die Demokratie ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Treffend hat Stefan Breuer die Motivation der klaren Option Webers für diese Staatsform hervorgehoben: „Nur der parlamentarische Verfassungsstaat bietet nämlich einen Rahmen, in dem sich die gegensätzlichen Interessen artikulieren können, ohne sich wechselseitig zu vernichten; nur der parlamentarische Verfassungsstaat stellt die Form bereit, in der beides nebeneinander bestehen kann: der tödliche Antagonismus der Prinzipien und der pragmatische Ausgleich auf der Ebene ‚intermediärer‘ Ziele“.255 Dem Parlament, der Institution dieser Staatsform, kommt in dieser Hinsicht eine essentielle Bedeutung zu, da hier die Stätte der Austragung jenes Kampfs der Werte und des Aushandelns von Kompromissen ist. Es gibt zwar keinen archimedischen Punkt, von dem aus sich ein absoluter Konsens über letzte Werte herstellen ließe, aber ein solcher absoluter Konsens ist für das Funktionieren einer staatlichen Ordnung auch nicht unbedingt erforderlich, da letzte Werte nur selten zur Diskussion stehen und der parlamentarische Willensbildungsprozeß in der Regel gewährleistet, einen zumindest basalen Wertkonsens zu erzielen.256 Die Vorstellung von einem absoluten Wertkonsens trägt nicht nur ideologische, sondern auch totalitäre Züge; jedenfalls endeten die Versuche des 20. Jahrhunderts, eine von allen geteilte Wertordnung zu errichten, in Buchenwald und im Archipel Gulag.

——————— 253 Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 368 (PS 264). 254 Zur Bedeutung des ‚Kompromisses‘ im politischen Denken Max Webers vgl. die Bemerkungen bei Stephen Turner/Regis Factor, Decisionism and Politics: Weber as Constitutional Theorist, in: Sam Whimster/Scott Lash (Hg.), Max Weber, Rationality and Modernity, 2. Aufl. London 2006, S. 347f. 255 Stefan Breuer, Rationale Herrschaft. Zu einer Kategorie Max Webers, in: PVS 31 (1990), S. 11. 256 So die Argumentation von Hans Albert, Aufklärung und Steuerung – Gesellschaft, Wissenschaft und Politik in der Perspektive des Kritischen Rationalismus, in: Georg Lührs u. a. (Hg.), Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, Berlin/Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 121.

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

Der Kampf ist für Max Weber ein Prinzip des Politischen und auch ein konstitutives Element gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. Der Staat beendet zwar den Kampf der Werte nicht, wohl aber domestiziert er ihn. Das Gewaltmonopol verhindert die gewaltsame Austragung des Kampfes; es bildet die Schranke, die das Nicht-total-Werden dieses Kampfes garantiert. Darin ist der entscheidende Grund dafür zu sehen, daß Weber seine eigene Formel vom tödlichen Kampf der Werte selbst relativiert. Von einem ‚Bürgerkrieg der Werte‘, der gelegentlich in grellen Farben an die Wand gemalt wird,257 kann im parlamentarischen Verfassungsstaat nicht die Rede sein. Geht man von Webers Staats- und Wertverständnis aus, kann kein Staat selbst Werte setzen oder durchsetzen. Die vor einem halben Jahrhundert in der deutschen Staatslehre vereinzelt noch präsente Vorstellung des Staates als wertsetzender Instanz258 ließ außer acht, daß der Staat nur Werte vertreten kann, die als geltend geglaubt werden. Der Staat kann vielleicht ein Manager der Werte sein, sie aber nicht oktroyieren. Er verfügt zwar über das Gewaltmonopol, nicht aber über ein Wertmonopol. Daher entbehrt auch die Behauptung, der Staat beanspruche durch die Monopolisierung der Gewalt „zugleich die monopolistische Verwaltung der letzten Werte“,259 jeder Grundlage in Webers Werk. Allerdings hat die Fähigkeit des Staates, Werte zu verwirklichen, entscheidende Bedeutung für seine Stabilität und Legitimität. Dies wird nicht nur von Rudolf Smend bestätigt, der staatliche Herrschaft als „Wertverwirklichung“ begreift,260 sondern auch durch empirische Studien zum Zusammenhang von Wertvorstellung und Legitimitätsempfinden.261 Legitimitätsglaube und Werthaltung stehen in einem engen Zusammenhang, da der Glaube an die Legitimität auch auf die Vorstellung vom Gelten bestimmter Werte bezogen ist. Werte sind Integrationsfaktoren (Rudolf Smend), sie sind das, was den Staat im Innersten zusammenhält. Sie sind jedoch nicht statisch, sondern wandeln sich. Wie intim das Verhältnis zwischen dem Staat und den Werten ist, belegt die Diskussion um den Wertewandel, eine der zentralen politischen und politik-

——————— 257

Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 31. Vgl. nur Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 675. 259 Volker Heins, Strategien der Legitimation. Das Legitimationsparadigma in der politischen Theorie, Münster 1990, S. 36. 260 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. Berlin 1968, S. 119-276 (160). 261 Vgl. Gerhard Schmidtchen, Jugend und Staat. Übergänge von der Bürger-Aktivität zur Illegalität. Eine empirische Untersuchung zur Sozialpsychologie der Demokratie, in: Ulrich Matz/Gerhard Schmidtchen, Gewalt und Legitimität, Opladen 1983, S. 106ff. Die Studie kommt zu folgenden Ergebnissen: die Bundesbürger hätten „eine ziemlich deutliche Vorstellung davon“, „welche Werte ihr Staat fördert“ (ebd., S. 126); die Fähigkeit des Staates, Werte zu verwirklichen, beeinflusse die Identifikation mit dem Staat; die Identifikation mit dem Staat sei um so stärker, je positiver die Verfassungswirklichkeit beurteilt werde (ebd., S. 138). 258

6. Max Webers Ambivalenz

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wissenschaftlichen Debatten der siebziger und achtziger Jahre,262 die nicht zuletzt im Blick auf die Rolle des Staates geführt wurde.263 Die neueren Studien über den Zusammenhang von Wertorientierung und Staatsbezug kommen allerdings nur zu den – wenig überraschenden – Erkenntnissen, die Stabilität eines Staates hänge von der Erfüllung von Werten ab,264 und es gebe eine Korrelation zwischen politischen Einstellungen und Werthaltungen gegenüber dem Staat.265 Sie gehen in ihren Resultaten kaum über das hinaus, was Max Weber bereits theoretisch formuliert hat. Aber immerhin bestätigen sie, freilich ohne dies zu beabsichtigen, genau seine Position: daß jede Staatsanschauung wertgebunden ist.

6. Max Webers Ambivalenz Webers Staatstheorie ist kein widerspruchsfreies und kohärentes Ganzes, sondern ist geprägt von charakteristischen Ambivalenzen. Er tritt zwar für Freiheit und Individualismus ein, bekennt sich aber gleichzeitig zum Gesichtspunkt der Staatsräson; er ist ein nüchterner Streiter für den entstehenden Sozialstaat, aber nicht aus einem sozialen, sondern dem nationalen Motiv der „sozialen Einigung der Nation“; er engagiert sich für die parlamentarische Demokratie, aber nicht aufgrund klassischer Ideale wie dem der Volkssouveränität, sondern weil er die Demokratie für die effektivste und nationalen Interessen dienlichste Staatsform hält. ‚Individualismus‘ ist sicherlich eine Grundhaltung Webers,

——————— 262 Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977; sowie Ronald Inglehart/Christian Welzel, Modernization, Cultural Change, and Democracy, Cambridge 2005; Max Haller, Theory and Method in the Comparative Study of Values: Critique and Alternative to Inglehart, in: European Sociological Review 18 (2002), S. 139-158; Udo Bermbach, Wertewandel und politisches Institutionensystem, in: ders., Demokratietheorie und politische Institutionen, Opladen 1991, S. 129ff.; Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel, Frankfurt/New York 1985; Helmut Thome, Wertewandel in der Politik? Eine Auseinandersetzung mit Ingleharts Thesen zum Postmaterialismus, Berlin 1985; Helmut Klages/Peter Kmieciak (Hg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt a. M. 1979. 263 Helmut Klages/Willi Herbert, Wertorientierung und Staatsbezug. Untersuchungen zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1983; dies., Staatssympathie. Eine Pilotstudie zur Dynamik politischer Grundeinstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1981; Helmut Klages, Überlasteter Staat – verdrossene Bürger?, Frankfurt/New York 1981, bes. S. 40ff. 264 Klages, Überlasteter Staat, S. 86. 265 Helmut Klages und Willi Herbert ermitteln in ihrer Studie, daß sich „Konformität“ und „Nonkonformität“ in der jeweiligen Werthaltung zum dem Staat niederschlage; Konformität begünstige eine positive Einstellung zum Staat, während Nonkonformität sie eher dämpfe (Klages/Herbert, Wertorientierung und Staatsbezug, S. 32ff.).

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IV. Staatstheorie und Werturteilslehre

auch wenn dies gelegentlich bestritten wird.266 Sein Individualismus steht allerdings in einem konfliktträchtigen Verhältnis zu seinem Wert der Nation, eines Kollektivs. Es ist bemerkenswert, daß er gerade bei diesen beiden Werten die Waffen des Nominalisten streckt. Seine Kapitulation vor dem Begriff der Nation findet ihr Pendant in seiner Bemerkung, der Ausdruck „Individualismus“ umfasse „das denkbar Heterogenste“ und sei daher kaum zu definieren.267 Da beide zu seinen zentralen Werten gehören und da zwischen beiden zwangsläufig Kollisionen entstehen, gerät er stets erneut in einen Zustand der Ambivalenz. Die Wertvorstellungen, die Max Weber vertritt, stehen nicht immer in einem konfliktfreien Verhältnis. Es entstehen Spannungen und Wertkollisionen zwischen Staat und Nation, Staatsräson und Ethik, Persönlichkeit und Lebensordnungen. Die Frage Douglas Websters, „ob Webers Individualismus mit seinem Patriotismus, seinem ‚Nationalismus‘ und der Faszination, die der Machtstaat auf ihn ausübte, in einen Konflikt geriet“,268 ist eine rhetorische. Dieser Konflikt ist offensichtlich. Die Frage muß vielmehr lauten, wie er sich in Webers Werk niederschlägt und ob er ihn zu lösen vermochte. Einen Schlüssel zu einer Antwort bietet seine Werturteilslehre, die als Versuch gelesen werden kann, sich über jene Spannungen und Wertkollisionen zu verständigen. Wissenschaft kann zwar die Kollisionen nicht verhindern, sie kann aber zur Erkenntnis der Anatomie der Spannungen beitragen. Seine Wertlehre und seine Staatstheorie stehen in einem dialogischen, korrespondierenden Verhältnis. Die Ambivalenz seines Staatsdenkens ist nicht nur im Kontext seines Werks, sondern auch vor dem Hintergrund der geistesgeschichtlichen Lage zu beurteilen. Seit der Französischen Revolution stehen fast alle Staatstheorien im Zeichen der großen Dichotomie: Autonomie des Individuums vs. Souveränität des Kollektivs. Daher ist es sicherlich eine unzulässige Verkürzung, die „kontradiktorischen Wertpräferenzen“ Webers, sein gleichzeitiges Eintreten für Individualismus und „Deutschlands nationale Größe“, als Resultat der inneren „Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Standpunktes unter den Bedingungen des entfalteten modernen ökonomischen Kapitalismus“ zu deuten.269 Webers Ambivalenz auf diesen Aspekt zu reduzieren und mit der Widersprüchlichkeit des Klassenstandpunkts zu erklären, ist für das Verstehen seiner Ambiguitäten

——————— 266 Wilhelm Hennis steht der Einordnung Max Webers als eines „Individualisten“ skeptisch gegenüber (Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 211f.). Dazu auch Martin Albrow, Max Weber’s Construction of Social Theory, London 1990, S. 42ff.; Hans Haverkamp, ‚Individualismus‘ und ‚Uniformierung‘. Über eine Paradoxie in Max Webers Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung, in: Weiß (Hg.), Max Weber heute, S. 461-496. 267 Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: RS I, S. 95. 268 Douglas Webster, Max Weber: Überlegungen zu seiner Biographie, in: Mommsen/ Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, S. 720. 269 Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung, S. 156f.

6. Max Webers Ambivalenz

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wenig hilfreich. Die Spannungen, Antinomien und Wertkollisionen, die bei ihm zu erkennen sind, spiegeln sich in unterschiedlicher Weise bei fast allen großen politischen Denkern der Moderne. Und wohl nicht von ungefähr gehören gerade diejenigen Denker zu den interessantesten und wirkungsmächtigsten, welche sich den Antinomien der Moderne gestellt und daher notwendig ambivalente Positionen bezogen haben. Die „Ambiguitäten im Werk Max Webers“ sind, wie Edward Shils mit Recht bemerkt, „häufiger fruchtbar als hinderlich“, da sie zu „Neuinterpretationen, Ausweitungen und Korrekturen“ herausfordern und „immer noch vitale Bedeutung für das Verständnis“ unserer Gegenwart haben.270 Weber steht, wie Wilhelm Hennis treffend sagt, in einer „Welt, die in allem Wesentlichen wohl auch noch die unsrige ist: nicht die Spur postmodern, sondern noch immer umgetrieben und zerrissen durch die Antinomien der Modernität“.271 Einen wesentlichen „Grund für den großen Reiz, der von Max Weber ausgeht“, sieht auch Ralf Dahrendorf in „den außergewöhnlichen Ambiguitäten, um nicht zu sagen: den explosiven Widersprüchen seines Werks“.272 Daß allerdings die „explosivste Ambiguität in Webers Denken“ ausgerechnet in dessen Methodologie zu verorten sei, wie Dahrendorf meint, ist zu bezweifeln. Nicht Max Webers methodologische Position ist ambivalent, sondern sein Staatsdenken. Dies kommt in den Wertkollisionen zwischen Individuum und Staatsräson, persönlicher Freiheit und staatlicher Ordnung zum Ausdruck. Vom Frühwerk bis in die späten Schriften ist seine Methodologie eine Auseinandersetzung mit jenen kontradiktorischen Werthaltungen. Sie verleihen seinem Staatsdenken erst die spezifische Spannung. Diese Spannung hat sich überaus fruchtbar in seinem publizistischen und wissenschaftlichen Schaffen niedergeschlagen. Sie ist zugleich ein wesentlicher Grund für die Herausforderung, die von Weber immer noch – und heute vielleicht mehr denn je – ausgeht. Die Ambiguitäten, denen er sich gegenübersah, bestimmen nach wie vor die staatliche Wirklichkeit.

——————— 270 Edward Shils, Max Weber und die Welt seit 1920, in: Mommsen/Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, S. 774f. 271 Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, S. 154. 272 Ralf Dahrendorf, Max Weber und die moderne Sozialwissenschaft, in: Mommsen/ Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, S. 780.

V. Archäologie des modernen Staates Jede Staatstheorie bedarf einer historischen Fundierung, da das Wesen ihres Gegenstandes von seinem Gewordensein, seiner Entstehung und Entwicklung her erschlossen und begriffen werden muß. Auch Max Webers Werk enthält einige verstreute Bemerkungen und Exkurse zur Frage der Genese des Staates. Sein Staatsbegriff läßt eine historische Orientierung erkennen: Wenn der Staat durch das Kriterium des Gewaltmonopols definiert wird und dieses sich erst in der frühen Neuzeit herausbildete, ist der Staat für Weber nicht nur ein historisch verortetes Phänomen, sondern auch ein geschichtlicher Begriff. Die Herrschaftsverbände vor der Errichtung des Gewaltmonopols können jedenfalls nach seinem Verständnis keine Staaten sein, da für ihn nur der moderne, okzidentale, rationale, bürokratische Anstaltsstaat ein Staat ist. Dieses Verständnis aber steht in einem ebenso offensichtlichen wie erstaunlichen Gegensatz zu der Tatsache, daß er in seinem Werk unbefangen vom „Staat“ der alten Ägypter, Römer, Griechen oder Chinesen spricht1 und „Staat“ als Synonym für verschiedenste Herrschaftsgebilde verwendet, die nach seiner Definition keineswegs Staaten sein können. Er faßt zwar den guten Vorsatz, „den Ausdruck ‚Staat‘ ... wesentlich enger zu begrenzen“,2 aber er setzt diese Absicht nicht in die Tat um. Daher ist es unverständlich, wie selbst ausgewiesene Kenner seines Werks behaupten konnten, Weber verwende nirgends „das Wort ‚Staat‘ als allgemeinen Terminus für den Typus der Verbandsherrschaft oder des politischen Verbandes schlechthin“.3 Man lobte sogar seine „begriffliche Enthaltsamkeit“, in der er „von einem verallgemeinernden Gebrauch des Wortes Staat“ Abstand nehme, welches er als „Bestandteil des occidentalen Rationalismus“ nicht auf „Herrschaftsorganisationen anderer Kulturen und Epochen“ projiziere.4 Man glaubte, er spreche bei vorneuzeitlichen Herrschaftsgebilden nicht von Staate, um damit eine „unangemessene Übertragung moderner Begriffe auf historisch

——————— 1 Vgl. etwa Max Weber, Herrschaft. MWG I/22-4, S. 180f., 212f., 416ff., 431f., 441f. und 588. 2 Ebd., S. 460. 3 Johannes Winckelmann, Gesellschaft und Staat in der verstehenden Soziologie Max Webers, Berlin 1957, S. 32. 4 Carl Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, S. 375-385 (384).

V. Archäologie des modernen Staates

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zurückliegende Verhältnisse“ zu vermeiden.5 Man war davon überzeugt, er benutze nirgends den Begriff Staat als überzeitliche Kategorie.6 All diese Positionen, die jahrzehntelang die herrschende Meinung in der Literatur repräsentierten, sind unhaltbar. Jeder Blick in Webers Werk zeigt: von einer begrifflichen Enthaltsamkeit kann gar keine Rede sein, da er in der Rechts-, Herrschaftsund Religionssoziologie das Wort Staat vielmehr sehr unkeusch als allgemeinen Begriff für Herrschaftsgebilde verschiedenster Epochen und Kulturen verwendet.7 Die Tatsache, daß er von dem Wort in seinem Werk sehr freigebigen Gebrauch macht, erfordert es, bei unserer Untersuchung der historischen Dimension seiner Staatstheorie stets gewissermaßen mit Weber gegen Weber zu denken. Obwohl er das Wort durchaus unpräzise gebraucht, bleibt es aber sein Verdienst, mit seinem präzisen historischen Staatsbegriff einen entscheidenden Schritt zur Klärung eines alten Problems unternommen zu haben. Der erste Staatstheoretiker, der auf dieses Begriffsproblem aufmerksam machte, war Constantin Frantz. Er monierte, die geschichtliche Dimension des Staates werde „in den gangbaren Definitionen gar nicht berücksichtigt“, und forderte, „der geschichtliche Charakter des Staates als Merkmal“ müsse in jede Definition aufgenommen werden.8 Weber hat sich diese Forderung offenbar zu Herzen genommen und als erster einen historisch orientierten Staatsbegriff aufgestellt. Damit vollzog er eine Abkehr von der damals herrschenden Vorstellung, der Staat sei „so alt ist wie der Mensch“, wie Friedrich Keutgen meinte,9 oder entstehe mit der Seßhaftwerdung, wie Georg Jellinek glaubte,10 der vollkommen unbefangen vom „altorientalischen“, „hellenischen“, „römischen“ oder „mittelalterlichen Staat“ sprach.11 In der damaligen Staatslehre hatte man sich daran gewöhnt, „mit größter Selbstverständlichkeit vom ‚Staat‘

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Günther Abramowski, Das Geschichtsbild Max Webers, Stuttgart 1966, S. 121. Heino Speer, Herrschaft und Legitimität. Zeitgebundene Aspekte in Max Webers Herrschaftssoziologie, Berlin 1978, S. 99. 7 Erst Stefan Breuer weist darauf hin, wie „unbekümmert“ Max Weber das Wort für politische Verbände seit der Antike benutzt, und daß „von einer epochalen oder kulturellen Eingrenzung des Staatsbegriffs nichts ... zu spüren“ sei (Breuer, Max Webers Staatssoziologie, in: KZfSS 45 (1993), S. 207). Seine These, Max Weber sei erst in der zweiten Fassung des Grundriß-Beitrags zu einem klareren Staatsbegriff gelangt (ebd., S. 211), ist absolut plausibel. Sie vermag indes nicht zu erklären, warum Weber das Wort auch in seinen späten Schriften noch inflationär verwendet. – Zu historischen Aspekten siehe ders., Wege zum Staat, in: Andreas Anter/Stefan Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie, Baden-Baden 2007, S. 5777; Patrice Mann, La genèse de l’État moderne: Max Weber revisité, in: Revue française de sociologie 41 (2000), S. 331-344. 8 Constantin Frantz, Die Naturlehre des Staates als Grundlage aller Staatswissenschaft, Leipzig 1870, S. 68f. 9 Friedrich Keutgen, Der deutsche Staat des Mittelalters, Jena 1918, S. 3. 10 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900), 3. Aufl. Darmstadt 1960, S. 266. 11 Ebd., S. 288ff., 292ff., 312ff. u. 316ff. 6

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V. Archäologie des modernen Staates

der Athener und der Römer, vom ‚Staat‘ des Mittelalters und der Azteken zu sprechen“, wie Carl Schmitt beklagte.12 Max Weber reflektiert die Geschichtlichkeit des Staatsbegriffs allerdings noch nicht als schwerwiegendes theoretisches Problem. Erst Hermann Heller macht ausdrücklich darauf aufmerksam, „dass der Staat als Name und als Wirklichkeit etwas geschichtlich durchaus Einzigartiges ist und in dieser seiner neuzeitlichen Individualität nicht in frühere Zeiten hineingeschmuggelt werden darf“. Er wendet sich gegen „die retrospektiven Projektionen des Staatsbegriffs“, da durch eine „grenzenlose Ausweitung der historische Staatsbegriff völlig denaturiert und unbrauchbar wird“.13 Im Grunde öffnet erst Heller den Blick für einen historischen Staatsbegriff. Um eine begriffliche Klarheit hat sich insbesondere Carl Schmitt verdient gemacht, der an diesem Punkt mit seinem großen Kontrahenten Heller d’accord geht und sich vehement dagegen wendet, den Staat „zu einem auf alle Zeiten und Völker übertragenen Allgemeinbegriff“ zu machen.14 Den entscheidenden Beitrag zur Gewinnung eines historischen Staatsbegriffs aber leistet Otto Brunner, der in seiner epochalen Studie Land und Herrschaft zeigt, daß der Staat sich erst in der Neuzeit entwickelt.15 Damit hat er, wie Ernst Forsthoff lobt, „dem freigiebigen Gebrauch, den die Wissenschaft bis weit in dieses Jahrhundert hinein von dem Wort und Begriff Staat machte, ein Ende gesetzt“.16 Die Erkenntnis, es könne heute „nicht mehr als zulässig gelten“, „vom Staat der Ptolemäer, der Ägypter, Azteken, Griechen und Römer zu sprechen“,17 hat sich zwar in der Tat erst durch Brunners Studie verbreitet, aber man muß sich darüber im klaren sein, daß sie auf Max Webers Schultern steht. Gehört es aber wirklich „zum gesicherten Bestand des wissenschaftlichen Bewußtseins, daß der Begriff Staat kein Allgemeinbegriff ist, sondern zur Bezeichnung und Beschreibung einer politischen Organisationsform dient“, die erst im neuzeitlichen Europa entstand, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde meint?18 Deutschen Wissenschaftlern wird zwar nachgesagt, daß sie die Rein-

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Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff, S.

383. 13

Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 125. Schmitt, Staat, S. 376. 15 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 4. Aufl. Wien 1959, S. 111ff. 16 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 11. 17 Ebd. 18 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 92-114 (92). Er betont, es sei „heute nicht mehr möglich“, vom „Staat“ der Hellenen oder dem der Inkas zu sprechen (ebd.). 14

1. Die Entstehung des modernen Staates

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heit der Begriffe über alles lieben, aber jeder Blick in die geschichts- und politikwissenschaftliche Literatur zeigt, daß der Staatsbegriff auch heute noch in unbefangener, um nicht zu sagen naiver Weise als universalgeschichtliche Kategorie auf alle politischen Herrschaftsformen angewendet wird. Dies kann jedoch der epochalen Zäsur des Gewaltmonopols nicht gerecht werden. Die Rettung vor dem Dilemma zwischen Begriffspurismus und historischer Ungenauigkeit ist ein Adjektiv. Es empfiehlt sich, den neuzeitlichen Staat, der über das Gewaltmonopol verfügt, durch das Adjektiv „modern“ von den vorangehenden Herrschaftsformationen abzugrenzen. Auch Max Weber bedient sich dieser Praxis und knüpft darin an eine zu seiner Zeit relativ neue Tradition an. Der Begriff des modernen Staates wird Anfang des 19. Jahrhunderts geprägt, bürgert sich um die Jahrhundertmitte in der staatswissenschaftlichen Literatur ein und findet erst Ende des Jahrhunderts weite Verbreitung.19 Diese inzwischen etablierte Begriffskonstruktion ermöglicht es, einerseits am Begriff des Staates festzuhalten und andererseits der historischen Genauigkeit Rechnung zu tragen. Man muß sich allerdings dessen bewußt sein, daß der Ausdruck „moderner Staat“ letztlich tautologisch ist.20 Geht man von Webers Verständnis aus, ist nur der moderne Staat ein Staat.21

1. Die Entstehung des modernen Staates Die Frage nach der Geburtsstunde des modernen Staates führt uns in einen scheinbar unaufhebbaren Zirkel. Das Ergebnis jeder empirischen Untersuchung zur Frage des Ursprungs hängt davon ab, welchen Begriff des Staates man einer solchen Untersuchung zugrunde legt. Andererseits kann man einen Staatsbegriff erst aufgrund einer historisch-empirischen Ermittlung jenes Ursprungs gewinnen. Darüber hinaus beruht die Frage nach der Entstehung des Staates auf einer numerischen Ungenauigkeit: Der Staat entstand nicht im Singular, sondern im

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Stephan Skalweit hat diese Entwicklung in seiner knappen Studie mustergültig demonstriert (Skalweit, Der „moderne Staat“. Ein historischer Begriff und seine Problematik, Opladen 1975, S. 14ff.). 20 Richtig weist auch Ernst Vollrath darauf hin, daß „die Bezeichnung ‚moderner Staat‘ eine Tautologie“ sei (Vollrath, Institutionenwandel als Rationalisierungsprozeß bei Max Weber, in Hans-Hermann Hartwich (Hg.), Macht und Ohnmacht politischer Institutionen, Opladen 1989, S. 89). 21 Stefan Breuer wendet gegen meine Darstellung ein, es sei kein Gewinn, den Staatsbegriff „für den modernen Staat zu reservieren“, da der Monopolanspruch schon bei den asiatischen Imperien oder den Reichen der europäischen Antike bestanden habe (Breuer, Halb preußisch, halb englisch, in: FAZ, 16. Mai 1995, S. 43). Der Einwand scheint mir jedoch nicht stichhaltig. Wenn der Staat sich durch das Gewaltmonopol auszeichnet und dieses erst in der Neuzeit entstand, dann kann der Staatsbegriff keine überzeitliche Kategorie sein.

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Plural. Eine Vielzahl von heterogenen Herrschaftsgebilden entwickelte sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Territorien zu derjenigen Form politischer Herrschaft, die wir heute als Staat bezeichnen. Da sich dieser Prozeß regional ungleichzeitig vollzog, sich also keineswegs „ein einheitlicher, gemeinsamer Ursprung aller Staaten behaupten“ läßt, wie bereits Georg Jellinek betont,22 müßte man strenggenommen nach der Entstehung der Staaten fragen. So kommt es nicht von ungefähr, daß „die theoretischen Ergebnisse“ der Untersuchungen zur Genese des Staates „insgesamt enttäuschend“ sind.23 Die Frage nach dem Ursprung des Staates, die sich im politischen Denken der Neuzeit in den heuristischen Figuren des Leviathan oder des Contrat Social spiegelt und im 18. und 19. Jahrhundert zu einer zentralen Frage der Staatswissenschaft wird,24 stößt in der neueren Literatur nur noch auf Achselzucken. Konnte Georg Jellinek, die große staatswissenschaftliche Autorität der Jahrhundertwende, nur konstatieren, der Ursprung des Staates wie der Ursprung aller menschlichen Institutionen sei „in Dunkel gehüllt“,25 so herrschte noch siebzig Jahre später die Auffassung, das „Dunkel, das sich naturgemäß über die Wurzeln jeder Staatlichkeit“ breite, lasse „nur Hypothesen über die Entstehung des Staatsapparates“ zu.26 Hat Max Weber einen Beitrag dazu geleistet, jenes Dunkel zu erhellen? Es gibt nur wenige Stellen in seinem Werk, an denen er – und auch das nur en passant – die Entstehungsfrage berührt. An einer Stelle der Herrschaftssoziologie sieht er „die Keime von intensiver, ‚moderner‘ Staatenbildung im Mittelalter“ hervortreten.27 Er verzichtet zwar hier wie auch sonst auf exaktere Datierungen, aber selbst mit einem so weiten Zeitraum wie dem des Mittelalters ist bereits viel gewonnen, da er damit – ungewollt – Position zu einer historischen Kontroverse seiner Zeit bezieht. Die Streitfrage, ob es einen Staat des Mittelalters gegeben habe, beschäftigte eine ganze Generation von Rechts- und Verfassungshistorikern, die nicht müde wurden, das Mittelalter unter dem Gesichtspunkt zu erforschen, ob hier bereits eine Staatlichkeit vorlag. Der profilierteste Kopf dieser Anstrengungen, Georg von Below, stellte sich programmatisch „die Aufgabe, den Staat des Mittelalters als Staat, die mittelalterliche

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Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 21. Georges Balandier, Politische Anthropologie, München 1976, S. 160. 24 Darin befindet sie sich in Gesellschaft der anderen Wissenschaften, die mit Vorliebe die Ursprünge ihrer Gegenstände erforschen: Sprache, Kultur, Familie oder Institutionen. Die Ursprungsfrage ist ein beherrschendes Paradigma der Wissenschaften des 18. Jahrhunderts, in welchem die Erkenntnis des Ursprungs oft als Voraussetzung für die Erkenntnis eines Gegenstandes schlechthin angesehen wurde. 25 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 21. 26 Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt a. M. 1971, S. 95. 27 Weber, Herrschaft, S. 179 (WuG 559). 23

1. Die Entstehung des modernen Staates

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Verfassung als staatliche Verfassung zu erweisen“.28 Nicht nur er selbst war davon überzeugt, ihm sei dieser Beweis geglückt, sondern auch viele seiner Zeitgenossen meinten, die „wahre Staatsnatur des mittelalterlichen Staates“ sei durch von Below „endgültig nachgewiesen worden“29 und werde „gewiß von niemand angezweifelt“.30 Die Kontroverse stand unter starken ideologischen Vorzeichen. Wenn Georg von Below betonte, der Nachweis der Existenz eines deutschen Staates im Mittelalter bedeute eine „Rechtfertigung unserer Vergangenheit“,31 dann wollte er, wie auch die anderen Verfechter seiner These, dem verspäteten deutschen Staat eine Geschichte verschaffen. Die Leidenschaft, mit der man für diese These focht, hatte offensichtliche patriotische und gewissermaßen nationalpädagogische Gründe. Der Existenzbeweis eines deutschen mittelalterlichen Staates war, wie Helmut Quaritsch sagt, „nationalpolitisch notwendig“, um den „Minderwertigkeitskomplex“ zu kompensieren, mit dem die „mangelnde Staatsfähigkeit der Vorfahren die deutsche Gegenwart anscheinend belastete“.32 Den Bemühungen der deutschen Historiker lag also ein handfestes nationales Motiv zugrunde, da sie der verspäteten Nation eine Identität und dem verspäteten Staat historische Wurzeln verschaffen wollten. Von solchen Bestrebungen ist allerdings Max Weber, beileibe kein unpatriotischer Denker, weit entfernt. Daß er Georg von Belows Werk genau kannte und mit der Streitfrage vertraut war, belegt nicht nur seine Auseinandersetzung mit der Studie,33 sondern auch sein Brief an ihren Autor, den dieser stolz in der zweiten Auflage des Buchs abdrucken ließ.34 Weber mag von ihm tatsächlich manchen Impuls für seine politische Soziologie erhalten haben, aber im Bezug auf Belows These ist er ihm nicht gefolgt, da er lediglich „Keime“ von Staatlichkeit im Mittelalter erkennen kann, nicht aber einen entwickelten Staat.35

——————— 28 Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters. Eine Grundlegung der deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. Leipzig 1925, S. III. 29 Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter (1919), Tübingen 1952, S. 19. 30 Friedrich Keutgen, Der deutsche Staat des Mittelalters, Jena 1918, S. 2. 31 Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Bd. 1, S. VI. 32 Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1970, S. 29f. 33 Vgl. Weber, WuG, S. 137. 34 Weber, Brief an Georg von Below, 21. Juni 1914, in: Briefe 1913-1914. MWG II/8, S. 723. Weber spart hier nicht mit Lob: „Mit Vergnügen und Belehrung lese ich soeben Ihr Buch über den Staat.“ Vgl. den Abdruck des Briefs in von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Bd. 1, S. XXIV. 35 Da weder in der wissenschaftlichen Fragestellung noch sonst irgendeine Affinität zwischen Weber und Below besteht, ist Tenbrucks Behauptung, daß beide in einer „näheren wissenschaftlichen Beziehung“ standen, unhaltbar (Tenbruck, Max Weber und Eduard Meyer, in: Mommsen/Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen/Zürich 1988, S. 373).

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V. Archäologie des modernen Staates

Seine Position relativiert vielmehr entschieden die Mittelaltertheorie und schafft eine Voraussetzung ihrer späteren Widerlegung durch Hermann Heller, Carl Schmitt und Otto Brunner.36 Weber relativiert nicht nur die Mittelaltertheorie, sondern auch die Patrimonialstaatstheorie, eines der beherrschenden zeitgenössischen Modelle der Entstehung des Staates. Nach dieser Theorie, der feudalistische Verhältnisse zugrunde liegen, beruht die Staatsgewalt auf dem Eigentum des Landesherrn am Staatsgebiet. Diese spezifisch deutsche Theorie wurde im späten 18. Jahrhundert von deutschen Juristen entwickelt, um ein juristisches Fundament „zur Begründung der Eigenstaatlichkeit der deutschen Territorien“ zu schaffen.37 Ihr bedeutendster und prominentester Vertreter war allerdings kein Deutscher, sondern der Schweizer Carl Ludwig von Haller, der sie Anfang des 19. Jahrhunderts programmatisch und wirkungsmächtig entwickelte.38 Webers Meinung, der Begriff des Patrimonialstaats stamme „bekanntlich“ von Haller,39 und auch von Belows Behauptung, Haller habe den Begriff „erfunden“,40 sind allerdings überholt, da Otto Brunner nachgewiesen hat, daß die Patrimonialstaatslehre nicht Hallers eigene Idee war.41 Weber, dessen Konzept der patrimonialen Herrschaft sogar als sein wichtigster Beitrag zur historischen Soziologie gewertet wird,42 knüpft einerseits an diese Lehre an, grenzt sich jedoch andererseits entscheidend von ihr ab. Für ihn sind die patrimonialen Herrschaftsgebilde des Okzidents lediglich „Vorläufer der modernen Staatsanstalt“ in ihrer Entwicklung zur territorialen Gebietsherrschaft mit monopolisierter Gewalt. Hier kündige sich zwar „schon der moderne ‚Staat‘ an“,43 aber „der Name ‚Staat‘ im heutigen Sinne des Wortes“ sei auf patrimoniale Herrschaftsgebilde nicht anwendbar.44 Diese Position spiegelt sich

——————— 36 Für Hermann Heller war „die Bezeichnung ‚mittelalterlicher Staat‘ mehr als fragwürdig“, da hier noch kein Gewaltmonopol bestanden habe (Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 126). Auch Carl Schmitt konnte über von Belows Verwendung des Staatsbegriffs „nur staunen“ (Schmitt, Staat, S. 384) Otto Brunner zeigte schließlich anhand einer Fülle historischen Materials und mit Hilfe einer auf Max Weber gestützten Begrifflichkeit, daß das Mittelalter noch keinen Staat kannte (Brunner, Land und Herrschaft, S. 111ff.). 37 Ebd., S. 147. 38 Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft, 2. Aufl. Winterthur 1820, Bd. 2 passim; bes. Bd. 3, S. 3-180. 39 Weber, WuG, S. 137. 40 Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Bd. 1, S. IV. 41 Brunner, Land und Herrschaft, S. 146. 42 Stefan Breuer, „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers, Wiesbaden 2011, S. 87ff.; Vgl. auch Siegfried Hermes, Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft, Berlin 2003, bes. S. 114ff. u. 131ff.; zum Patrimonialstaat ebd., S. 182ff. 43 Weber, Herrschaft, S. 343 (WuG 613). 44 Ebd., S. 411 (WuG 636).

1. Die Entstehung des modernen Staates

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auch in Webers Bemerkung zum Grundproblem des Patrimonialismus: dem ständigen „Ringen der Zentralgewalt mit den verschiedenen zentrifugalen lokalen Gewalten“.45 Wenn dort noch kein Gewaltmonopol bestand, kann man auch nicht von einem Staat sprechen. Was er über den Patrimonialstaat sagt, beherrscht auch den Tenor seiner Ausführungen zum Ständestaat: „Das, was wir heute als Inhalt der einheitlichen ‚Staatsgewalt‘ anzusehen gewohnt sind, fiel dabei in ein Bündel von Einzelberechtigungen auseinander. Von einem ‚Staat‘ im modernen Sinn war da überhaupt noch keine Rede.“46 Damit folgt er ein weiteres Mal seinem Lehrer Rudolph Sohm, der bereits klargestellt hatte, der Ständestaat sei gar kein Staat gewesen, denn der Landesherr „hatte seine Regirungsrechte als Privatperson, gerade wie die Stände. Genau genommen gab es keinen Staat, sondern nur zu Privatrecht besessene staatliche Regirungs-Rechte.“47 Weber legt wie Sohm das Kriterium des Gewaltmonopols als Meßlatte an die Herrschaftsgebilde, um ihre Staatlichkeit zu beurteilen. Auf diese Weise kommt er stets zu dem Schluß, daß nur Vorläufer oder Keime von Staatlichkeit vorliegen, wenn die Gewalt noch nicht bei einer Zentralinstanz monopolisiert ist. Die wenigen verstreuten Bemerkungen Max Webers zur Frage der Entstehung des Staates erlauben keine eindeutige Zuordnung zu einer der Staatsentstehungstheorien. Aber wenn er sagt, der „typische Keim derjenigen Vergesellschaftung, welche wir heute ‚Staat‘ nennen“, liege „in freien Gelegenheitsvergesellschaftungen von Beutelustigen zu einem Kriegszug“,48 besteht eine eindeutige Affinität zu jenen Theorien, die die Entstehung des Staates auf Kriegsund Eroberungszüge zurückführen. Er macht weder eine Aussage darüber, um welche Kriegszüge es sich handelt, noch nimmt er eine historische Verortung vor. So ist die Vorstellung der Entstehung des Staates aus Eroberungszügen eher als eine heuristische Figur zu sehen, die der anderen großen heuristischen Figur, der Vertragstheorie, entgegengesetzt ist. Weber steht hier in der Tradition höchst unterschiedlicher politischer Denker. Nach David Hume sind die Staaten „ursprünglich entweder durch Usurpation oder Eroberung“ entstanden,49 Heinrich von Treitschke hält Krieg und Eroberung für „die wichtigsten Staatsbildner“,50 und auch Nietzsche sieht die Entstehung des Staates als Prozeß brachia-

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Ebd., S. 343 (WuG 613). Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 367 (PS 264). 47 Rudolph Sohm, Die Entwicklungsgeschichte des modernen Staates, in: Cosmopolis 5 (1897), S. 853-872 (863). 48 Weber, Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), in: WL, S. 451. 49 David Hume, Über den ursprünglichen Vertrag, in: ders., Politische und ökonomische Essays, hg. v. Udo Bermbach, Hamburg 1988, S. 301-324 (306). 50 Heinrich von Treitschke, Politik, Bd. 1, 4. Aufl. Leipzig 1918, S. 114. 46

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V. Archäologie des modernen Staates

ler Gewaltausübung, in welchem die Eroberer ein Gebiet okkupieren und ihrer Herrschaft unterwerfen.51 In einer seltenen Bezugnahme auf Nietzsche sagt Weber zwar, es sei willkürlich, den Staat „in Anlehnung an Vorstellungen Nietzsches damit begründen zu lassen, daß ein siegreicher Stamm einen anderen unterwirft und nun einen Dauerapparat schafft“, aber seine Kritik bezieht sich allein darauf, daß Eroberungen noch keinen Dauerapparat errichten und die Gelegenheitsvergesellschaftung ‚Staat‘ zu bestehen aufhört, sobald der Eroberungszug abgeschlossen ist.52 Mit seiner Auffassung vom Ursprung des Staates in Eroberungs- und Kriegszügen steht Weber nur bedingt in der Tradition von Ludwig Gumplowicz und Franz Oppenheimer, die den Staat als Produkt eines gewaltsamen Eroberungsprozesses sehen, als eine Instanz, die den Besiegten von den Eroberern aufgezwungen wurde und deren Zweck in der Sicherung der oktroyierten Herrschaftsordnung bestehe.53 Selbstbewußt sehen sie sich mit ihrem Ansatz als Begründer der ‚Sociologischen Staatsidee‘ und erheben den Anspruch einer soziologischen, historisch-empirischen Theorie der Entstehung des Staates. Aber weder der Anspruch des Empirischen noch der des Soziologischen kann einer kritischen Überprüfung standhalten, da sie mit einer Vielzahl von Vermutungen und Spekulationen operieren und im Grunde nur eine relativ krude Machttheorie entwickeln, nach der sich stets der Stärkere durchsetze. Daher erscheint es wenig sinnvoll, an der Bezeichnung der ‚Sociologischen Staatstheorie‘ festzuhalten, die ihnen nicht nur von ihren Zeitgenossen,54 sondern auch noch ein halbes Jahrhundert später55 unkritisch abgenommen wurde. Noch weniger angebracht ist es, Max Weber in diese ohnehin problematische Katego-

——————— 51 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, 9. Aufl. München 1982, Bd. II, S. 761-900 (280). – Dazu Daniel Conway, The Birth of the State, in: Herman W. Siemens/Vasti Roodt (Hg.), Nietzsche, Power and Politics. Rethinking Nietzsche’s Legacy for Political Thought, Berlin/New York 2008, S. 3767; Tamsin Shaw, Nietzsche’s Political Skepticism, Princeton, 2007, bes. S. 12ff.; Raymond Polin, Nietzsche und der Staat oder Die Politik eines Einsamen, in: Hans Steffen (Hg.), Nietzsche, Göttingen 1974, S. 27-44, bes. 30f. 52 Weber, Herrschaft, S. 515 (WuG 670); ders., Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, S. 451. 53 Ludwig Gumplowicz, Die Sociologische Staatsidee, 2. Aufl. Innsbruck 1902; Franz Oppenheimer, Der Staat, 3. Aufl. Jena 1923. Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates, in: Handbuch der Politik, 1. Bd. Berlin/Leipzig 1912, S. 35-45 (37); ders., Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, Wien/Leipzig 1929, S. 547; Harry E. Barnes, Soziologie und Staatstheorie, Innsbruck 1927, S. 31; Otto Hintze, Soziologische und geschichtliche Staatsauffassung. Zu Franz Oppenheimers System der Soziologie (1929), in: ders., Soziologie und Geschichte, 3. Aufl. Göttingen 1982, S. 239-305 (239f.). 54 Etwa Menzel, Begriff und Wesen des Staates, S. 37f. Harry E. Barnes hält ihren Ansatz für „die soziologische Theorie der Entstehung und Entwicklung des Staates“ (Barnes, Soziologie und Staatstheorie, S. 47). 55 Etwa Kurt Lenk, Staatsgewalt und Gesellschaftstheorie, München 1980, S. 152ff.

2. Die Geschichte des Staates als Geschichte der Bürokratie

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rie einzureihen,56 da er mit den Theorien eines Gumplowicz oder Oppenheimer wenig gemein hat.57 Überblickt man die staatstheoretische Lage seiner Zeit, kann er als einziger beanspruchen, eine soziologische Staatstheorie in Grundzügen entworfen zu haben. In Webers Werk bleibt allerdings die historische Dimension der Entstehung des Staates weitaus weniger belichtet als andere Perspektiven. Die Ursprungsfrage hat ihn offensichtlich nicht wirklich interessiert. Reinhard Bendix meint sogar, die Frage der Entstehung des modernen Staates habe für Weber „außerhalb der Kompetenz vergleichender soziologischer Forschung“ gelegen, jedenfalls „außerhalb seines Forschungsansatzes“.58 Er stützt sich zwar nicht auf Textbelege, aber seine These läßt sich anhand zweier aufschlußreicher Stellen bekräftigen. So seufzt Weber etwa, die Erkenntnis des „Werdens“ des deutschen Staates könne „jemandem eine überaus fade und öde oder doch eine sehr subalterne, ja, um ihrer selbst willen betrieben, sinnlose Sache scheinen“.59 Auch die Untersuchung der Genese von „Indianer-‚Staaten‘“ hält er für wenig sinnvoll, da „die Art des Entstehens jener Staaten, und wohl auch die Existenz dieser selbst“, für den amerikanischen Staat „von ganz ungemein geringer ‚Bedeutung‘ geblieben“, ja „gleichgültig“ sei.60 Diese beiden Aussagen lassen erkennen, daß sein Interesse nicht der scholastischen Frage des Ursprungs, sondern der des Verlaufs und der Entwicklung der modernen Staaten gilt, und hinsichtlich dieses Prozesses stehen die Gesichtspunkte der Rationalisierung, Bürokratisierung, Monopolisierung und Zentralisierung im Vordergrund.

2. Die Geschichte des Staates als Geschichte der Bürokratie Max Weber interessiert sich weniger für die Entstehung des Staates als vielmehr für dessen spezifische Strukturform und Funktionsweise: die Bürokratie. Das zeigt sich in fast allen Zusammenhängen, in denen er den Staat unter histo-

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Ebd., S. 159ff. Zur sociologischen Staatsidee sowie zu den Ansätzen von Ferdinand Tönnies und Émile Durkheim vgl. Anter, Max Webers Staatssoziologie im zeitgenössischen Kontext, S. 21ff. 58 Reinhard Bendix, Max Weber – Das Werk, München 1964, S. 292. 59 Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), in: WL, S. 251. 60 Ebd., S. 234f. Max Weber bezieht sich hier auf einen Aufsatz von Kurt Breysig, Die Entstehung des Staates aus der Geschlechterverfassung bei Tlinkit und Irokesen, in: SchmJB 28 (1904), S. 483-527. Breysig versuchte zu belegen, daß die Entstehung von Indianerstaaten typische Merkmale von Staatenbildungen aufweise und daher von universalgeschichtlicher Bedeutung sei. Genau das aber bezweifelt Max Weber. Er steht Breysigs „Forschung aus ‚Tonscherben‘“ (Weber, Kritische Studien, S. 236) ziemlich abschätzig gegenüber. 57

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V. Archäologie des modernen Staates

rischen Gesichtspunkten betrachtet. Wenn er die „Keime“ moderner Staatlichkeit überall „in Gemeinschaft mit der Entwicklung bürokratischer Gebilde“ hervortreten sieht61 und die Bürokratie als „die Keimzelle des modernen okzidentalen Staats“ bewertet,62 wird für ihn die Geschichte des modernen Staates zur Geschichte der modernen Bürokratie. Da diese nicht nur in der historischen Perspektive, sondern auch in der Analyse des Staates seiner Gegenwart im Vordergrund steht, kann man Webers Staatslehre als Bürokratietheorie und seine Bürokratietheorie als Staatslehre lesen. Die Bürokratietheorie gehört zwar zu den am häufigsten untersuchten Themen seines Werks, aber im Blick auf ihre staatstheoretische Dimension ist sie nur selten betrachtet worden.63 Das mag darauf beruhen, daß ihre Konzeption ebenso eindrucksvoll wie geschlossen wirkt. Im folgenden soll nicht nur der Zusammenhang von Staats- und Bürokratietheorie herausgearbeitet, sondern auch gezeigt werden, daß und wie Weber in entscheidenden Punkten an bürokratietheoretische Positionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anknüpft, diese modifiziert und weiterentwickelt. Sein Bürokratiemodell, das hinreichend erforscht, gelobt und kritisiert worden ist,64 soll hier nur im Bezug auf staatstheoretische Aspekte interessieren. Anhand einer Fülle von Beispielen demonstriert und diagnostiziert Weber den Zusammenhang von Staatenbildung und Bürokratisierung im Okzident: „Der moderne Staat entsteht, indem der Fürst“, wie er lakonisch sagt, die Monopolisierung der Gewalt und Bürokratisierung der Verwaltung „in die eigene Menage nimmt“.65 Die „kontinentalen Staatsgewalten“ der frühen Neuzeit hät-

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Weber, Herrschaft, S. 179 (WuG 559). Weber, WuG, S. 128. Er bedient sich hier einer für ihn eigentlich untypischen organischen Metaphorik. 63 Siehe aber Hubert Treiber, Moderner Staat und moderne Bürokratie bei Max Weber, in: Anter/Breuer (Hg.), Max Webers Staatssoziologie, S. 121-155. 64 „Die Auseinandersetzung mit dieser Konzeption, das Hin- und Herwenden ihrer Begriffe, Versuche des Umbaus, der Ergänzung, der empirischen Kontrolle sind Gegenstand laufender wissenschaftlicher Arbeit“, wie Niklas Luhmann in den sechziger Jahren nicht ohne leise Ironie bemerkte (Luhmann, Zweck - Herrschaft - System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, in: Renate Mayntz (Hg.), Bürokratische Organisation, Köln/Berlin 1968, S. 36). Mittlerweile scheint sich eine gewisse Ermüdungserscheinung eingestellt zu haben, aber Wolfgang Schluchters Diagnose einer „fast zwanghaften Orientierung“ vieler Organisationssoziologen an Weber (Schluchter, Aspekte bürokratischer Herrschaft. Studien zur Interpretation der fortschreitenden Industriegesellschaft, München 1972, S. 18) ist nach wie vor zutreffend, da die meisten einschlägigen Arbeiten an ihn – ob zustimmend oder ablehnend – anknüpfen. Wie fruchtbar seine Konzeption auch für die geschichtswissenschaftliche Forschung ist, belegt die ausgezeichnete Studie von Tibor Süle, Preußische Bürokratietradition. Zur Entwicklung von Verwaltung und Beamtenschaft in Deutschland 1871-1918, Göttingen 1988. Er nutzt einerseits Webers Bürokratiemodell als theoretisches Instrumentarium und verifiziert es andererseits anhand empirisch-historischer Untersuchungen. 65 Weber, Der Sozialismus (1918), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 608. 62

2. Die Geschichte des Staates als Geschichte der Bürokratie

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ten sich „durchweg in den Händen derjenigen Fürsten zusammengeballt, welche den Weg der Bürokratisierung der Verwaltung am rücksichtslosesten beschritten“.66 Aufgrund seiner historischen Betrachtungen zieht er den Schluß, daß „der moderne Großstaat je länger, je mehr technisch auf eine bürokratische Basis schlechthin angewiesen ist“. Als primäre Ursache sieht Max Weber die „wachsenden Ansprüche an die Verwaltung“, vor allem durch sozialpolitische Aufgaben, die der Staat teils „zugeschoben“ bekommt und teils selbst usurpiert.67 Damit bezieht er eine Position, über die in der politik- und rechtswissenschaftlichen Literatur Konsens herrscht. Daß die Ausdehnung der Staatsfunktionen im allgemeinen und der Sozial- und Wohlfahrtsstaatlichkeit im besonderen entscheidend zur Bürokratisierung beigetragen haben, ist in der Forschung unstrittig.68 Weber ist allerdings nicht der erste, der diese Diagnose stellt. Schon Robert von Mohl sieht die Ausweitung der Staatsaufgaben als entscheidenden Faktor der Bürokratisierung und stellt fest, „neue Forderungen und Bedürfnisse“ würden den Umfang der Staatstätigkeit und damit auch den des Beamtenapparats anwachsen lasse.69 Josef Olszewski konstatiert, die Entstehung der modernen Großstaaten habe unausweichlich zu einer „Zentralisation der Verwaltung“ und zu einer bürokratischen „Polykratie“ geführt,70 welche die staatliche Bürokratie „bis zur höchsten Machtfülle gekräftigt“ habe.71 Weber ist sich darüber im klaren, daß die Sozialstaatlichkeit, die sich in seiner Zeit herauszubilden beginnt, unweigerlich den Prozeß der Bürokratisierung forcieren muß. Daher ist es kaum nachvollziehbar, wie man zu der Meinung kommen kann, er habe den sich ankündigenden Sozialstaat seiner Zeit „übersehen“.72 Er beobachtet vielmehr sehr genau den Staat seiner Zeit, der im späten 19. Jahrhundert zum „Lei-

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Weber, Herrschaft, S. 181 (WuG 560). Ebd., S. 181-183 (WuG 560f.). 68 Vgl. die Belege bei Süle, Preußische Bürokratietradition, S. 25ff.; vgl. auch Thomas Ellwein, Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, Bd. 1, Opladen 1993; Rainer Wahl, Die bürokratischen Kosten des Rechts- und Sozialstaats, in: Die Verwaltung 13 (1980), S. 273ff.; Norberto Bobbio, The Future of Democracy, Cambridge 1987, S. 38. 69 Robert von Mohl, Ueber Bureaukratie (1846), in: ders., Staatsrecht, Völkerrecht und Politik (1862), Bd. 2, Graz 1962, S. 111. 70 Josef Olszewski, Bureaukratie, Würzburg 1904, S. 45. 71 Ebd., S. 274. 72 So aber Manfred Rehbinder, Max Weber und die Rechtswissenschaft, in: ders./KlausPeter Tieck (Hg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 138. Zum Verhältnis Webers zum Sozialstaat seiner Zeit vgl. John P. McCormick, Weber, Habermas, and Transformations of the European State, Cambridge 2009, S. 113ff.; Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, S. 500f.; Horst Baier, „Vater Sozialstaat“. Max Webers Widerspruch zur Wohlfahrtspatronage, in: Christian Gneuss/Jürgen Kocka, Max Weber. Ein Symposion, München 1988, S. 47-63. 67

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stungsträger“ wird und ein Maß an „Daseinsvorsorge“73 entwickelt, das andere europäische Staaten erst wesentlich später erreichen. Dieser Fortschritt fordert einen unvermeidlichen Tribut. Die quantitative und qualitative Ausweitung der Staatsaufgaben führt zwangsläufig zu einer Expandierung und Differenzierung, Formalisierung und Professionalisierung des Verwaltungsapparats: zu einer „Bürokratisierung der Bürokratie“.74 Zu der ansehnlichen Liste weiterer Faktoren, die zur Bürokratisierung beigetragen haben, gehören die Schaffung stehender Heere, die sich entwickelnde Geldwirtschaft, ein rationales Steuersystem und eine fortgeschrittene Verkehrsund Nachrichtentechnik. Weber demonstriert eine perfekte Symbiose von Staat, Technik und Bürokratie. Eisenbahn und Telegraphen sieht er nicht nur als „Schrittmacher der Bürokratisierung“, sondern auch als Herrschaftsinstrumente des modernen Staates, der nur verwaltet werden könne, „weil er Beherrscher des Telegraphennetzes ist und Post und Eisenbahnen ihm zur Verfügung stehen“.75 Weber nennt eine Vielzahl von Faktoren, die zur Bürokratisierung beigetragen haben und die zueinander in Wechselwirkung stehen. Fragen der Kausalität interessieren ihn zwar nicht, aber es ist deutlich zu erkennen, daß zwei Faktoren im Vordergrund stehen: die Eigengesetzlichkeiten innerhalb der administrativen Sphäre und die ökonomische Entwicklung. Einerseits habe der rationale Anstaltsstaat mit seiner Rechtssicherheit und Berechenbarkeit den Kapitalismus maßgeblich befördert, ja erst ermöglicht, andererseits gleiche sich die staatliche Strukturform und Funktionsweise fast mimetisch der der kapitalistischen Ökonomie an. Der moderne kapitalistische Betrieb benötige „für seine Existenz eine Justiz und Verwaltung, deren Funktionieren ... rational kalkuliert werden kann, wie man die voraussichtliche Leistung einer Maschine kalkuliert“, während der moderne Staat selbst zu einem „Betrieb“ werde, der „wie eine Fabrik“ organisiert sei.76

——————— 73 Dazu bereits klassisch Ernst Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart/ Berlin 1938, bes. S. 6ff. Forsthoff hat nicht nur den Begriff der Daseinsvorsorge geprägt, sondern auch – anknüpfend an Weber – gezeigt, daß die Staaten aufgrund eines hohen Grades der „Vorsorgebedürftigkeit“ der Menschen in der technisierten und urbanisierten Welt einen „außerordentlichen Machtzuwachs“ erfahren (ebd., S. 7f.) und „notwendig rationalisierte Gebilde“ werden (ebd., S. 9). Dazu instruktiv Jens Kersten, Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von Ernst Forsthoff, in: Der Staat 44 (2005), S. 543-569; Florian Meinel, Der Jurist der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, Berlin 2011, S. 154ff. 74 Süle, Preußische Bürokratietradition, S. 26. Er untersucht diesen Prozeß detailliert und anschaulich anhand statistischen Materials und belegt damit nicht zuletzt die von Max Weber idealtypisch beschriebene Regelhaftigkeit, Formalisierung und Hierarchisierung der Bürokratie (ebd., S. 25ff.). 75 Weber, Herrschaft, S. 184f. (WuG 561). 76 Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 453 u. 452 (PS 321f.).

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Max Weber läßt das Bild einer perfekten Analogie entstehen, die er zu beschreiben nicht müde wird: „Wie der sogenannte Fortschritt zum Kapitalismus seit dem Mittelalter der eindeutige Maßstab der Modernisierung der Wirtschaft, so ist der Fortschritt zum bureaukratischen ... Beamtentum der ebenso eindeutige Maßstab der Modernisierung des Staates.“77 Er diagnostiziert eine „soziologische Verwandtschaft“ von Kapitalismus und Bürokratie,78 die sich in einem Prozeß der Wechselwirkung gegenseitig geprägt und gefördert haben, in einem überaus erfolgreichen Prozeß, der zum gemeinsamen Sieg der beiden Verwandten geführt hat. Seine herrschaftssoziologischen Betrachtungen zur Entstehung der Bürokratie können und wollen zwar eine Geschichte des modernen Staates nicht ersetzen, aber sie liefern eine Fülle von theoretischen Positionen, die einer historischen Untersuchung als Grundlage dienen können. Sie belegen nicht zuletzt, daß jede Geschichte des modernen Staates notwendig jene beiden Größen einbeziehen muß, die den Staat stärker als alle anderen Faktoren geprägt haben: den Kapitalismus und die Bürokratie. Hinsichtlich der historischen und gegenwärtigen Erscheinung des modernen rationalen Anstaltsstaates gilt Webers Interesse besonders derjenigen Schicht, die „den Eckpfeiler des modernen Staates“79 bildet: Die Fachbeamten erscheinen in seinem Werk als die entscheidenden Protagonisten der Genese der Staatlichkeit. „Die ganze Entwicklungsgeschichte des modernen Staates insbesondere ist identisch mit der Geschichte des modernen Beamtentums“.80 Diese Erkenntnis, die heute „in Mitteleuropa zur Allgemeinbildung“ gehört, wie Otto Kimminich optimistisch glaubt,81 sich aber zumindest „in fast allen Lehrbüchern des Staatsrechts“ findet,82 ist nicht revolutionär, sondern gehört bereits zum festen Erkenntnisbesitz der wissenschaftlichen Literatur seiner Zeit.83

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Ebd., S. 451 (PS 320). Weber, Herrschaft, S. 727 (WL 477). Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie im Werk Max Webers vgl. Alan Scott, Capitalism, Weber and Democracy, in: Max Weber Studies 1 (2000), S. 33-55; Stefan Breuer u. a., Entstehungsbedingungen des modernen Anstaltsstaates, in: ders./Hubert Treiber (Hg.), Entstehung und Strukturwandel des Staates, Opladen 1982, S. 134f.; allgemein zum Thema Jürgen Kocka, Capitalism and Bureaucracy in German Industrialization before 1914, in: The Economic History Review 34 (1981), S. 110ff. 79 Weber, Vorbemerkung, in: RS I, S. 3. 80 Weber, Herrschaft, S. 728 (WL 477). 81 Otto Kimminich, Die Bedeutung des Beamtentums für die Heranbildung des modernen Staates, in: Walter Leisner (Hg.), Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat, Berlin 1975, S. 47. Vertiefung der Allgemeinbildung bei Hans-Ulrich Derlien u. a., Bürokratietheorie, Wiesbaden 2011, S. 68ff.; Hans Hattenhauer, Geschichte des deutschen Beamtentums, 2. Aufl. Köln 1993. 82 Ebd., S. 50. 83 So weist etwa Albert Lotz darauf hin, die Entstehung des Beamtentums habe sich „in unmittelbarem Zusammenhange mit dem Heranwachsen des modernen Staates“ entwickelt (Lotz, Geschichte des Deutschen Beamtentums, Berlin 1909, S. 7). Zu dem gleichen Schluß 78

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Weber will eine historisch singuläre Konstellation betonen, wenn er sagt, „die absolut unentrinnbare Gebanntheit unserer ganzen Existenz, der politischen, technischen und wirtschaftlichen Grundbedingungen unseres Daseins, in das Gehäuse einer fachgeschulten Beamtenorganisation“ habe „kein Land und keine Zeit in dem Sinn gekannt wie der moderne Okzident“.84 Dieser existentielle Tenor, verbunden mit dem Weberschen Topos des Gehäuses, regiert seine Betrachtung und Bewertung des Beamtentums, das er keineswegs nur als Instrument, sondern auch als Träger staatlicher Herrschaft wertet. Dies zeigt sich wohl am deutlichsten in seiner Schrift Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, die, so der Untertitel, eine Kritik des Beamtentums ist. Hier beklagt er, daß Beamte „über alle unsere Alltagsbedürfnisse und Alltagsbeschwerden“ entscheiden und daß „die wirkliche Herrschaft“ im modernen Staat „notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums“ liege.85 Auf das Herrschaftsmoment, das dem Begriff der Bürokratie von vornherein eingeschrieben ist, weist bereits der Erfinder des Wortes, der französische Nationalökonom Vincent de Gournay, hin.86 Robert von Mohl bewertet die Bürokratie als eine ebenso „gewaltthätig vordringende“ wie „gefürchtete und gehasste Gegnerin“, die sich der „Staatsherrschaft“ bemächtigt habe.87 Josef Olszewski beschreibt, wie die Beamten die „Staatsangelegenheiten als Monopol in die Hand“ bekamen, „sich des Monopols der politischen Wissenschaften“ bemächtigten88 und „langsam zu einem mächtigen Element“ heranwuchsen, „welches den vertrauenseligen Herrschern successive einen Teil ihrer bisherigen Gewalt abnahm“.89 Max Weber spitzt diese Erkenntnis noch zu. Für ihn ist klar, daß die Beamten sich der ganzen Herrschaft bemächtigt haben. So wird, wie bei seinen Vorgängern, seine Kritik der Bürokratie zu einer Kritik des Beamtentums. Allerdings fehlt bei Weber, im Unterschied zu seinen Vorgängern, die beißende Polemik, die sich im 19. Jahrhundert gegen die Beamten richtet. Marx verspottet sie als „Staatsjesuiten und Staatstheologen“, deren Credo „die Subordination und der passive Gehorsam“, das „Jagen nach höheren Posten“ und

——————— kommt auch Otto Hintze, Der Beamtenstand (1911), in: ders., Soziologie und Geschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 3. Aufl. Göttingen 1982, S. 66-125. 84 Weber, Vorbemerkung, in: RS I, S. 3. 85 Weber, Parlament und Regierung, S. 450 PS 320. 86 Vincent de Gournay diagnostiziert um 1740 eine neue Krankheit, die „bureaumanie“, und eine neue Herrschaftsform, die „bureaucracie“: „nous avons ... une maladie qui fait bien du ravage; cette maladie s’appelle la bureaumanie. Quelquefois il en faisait une quatrième ou cinquième forme du gouvernement sous le titre de bureaucracie“ (zit. n. Carl A. Emge, Bürokratisierung, in: KZfSS 3 (1950/51), S. 179). 87 von Mohl, Ueber Bureaukratie, S. 104. 88 Olszewski, Bureaukratie, S. 46. 89 Ebd., S. 44.

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das „Machen von Karriere“ sei.90 Robert von Mohl beobachtet, daß die ganze Bevölkerung sich „im verachtenden Hasse gegen die Bureaukraten“ einig sei,91 deren „beschränkter Hochmuth“ und „stumpfsinniges Beharren beim Hergebrachten“ ein Ärgernis sei,92 deren Blick „niemals“ über ihre „Actengletscher“ hinausreiche93 und deren Lieblingsbeschäftigung „unnütze Schreiberei“ und „Tintenverschwendung“ sei.94 Karl Heinzen, der erste Analytiker und polemische Kritiker der Bürokratie, prangert „das Mißbräuchliche und Schlechte der Beamten- und Büreauherrschaft“ an.95 Josef Olszewski verachtet den „blinden Gehorsam“ der opportunistischen Beamten96 und ist davon überzeugt, „dass nur die Emanzipation von der bureaukratischen Polykratie ... den einzigen Rettungsweg vor dem Terrorismus des Beamtentums bietet“.97 Auch Max Weber ist alles andere als ein Apologet des Beamtentums. Aber da es ihm darauf ankommt, „das an Stelle positiver Kritik stehende sterile Schimpfen über den ‚heiligen Bureaukratius‘“ zu überwinden,98 richtet er sich gegen die ebenso beliebte wie folgenlose Polemik und wendet sich statt dessen einer ‚politischen Kritik‘ zu. In diesem Sinn ist auch der Untertitel von Parlament und Regierung zu verstehen. Seine Position ist, wie so oft, ambivalent. Seine Kritik der Beamten steht sowohl der Anerkennung ihrer historischen Bedeutung im Entstehungsprozeß des Staates als auch der Bewunderung ihrer Leistung für das Funktionieren des Staates gegenüber. Er weiß, daß die Erfolgsgeschichte des modernen Staates nicht zuletzt die Erfolgsgeschichte des Beamtentums ist. Für diesen Siegeszug, den „Vormarsch des Bureaukratismus“99 sind die bekannten Strukturprinzipien ausschlaggebend, die gegenüber jeder anderen staatlichen Organisationsstruktur überlegen sind: Präzision, Schnelligkeit, Berechenbarkeit, Hierarchie, Arbeitsteilung, Effektivität. Weber ist nicht der erste,

——————— 90 Karl Marx, Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: Marx/Engels, Werke, Bd. I, Berlin 1961, S. 248f. 91 von Mohl, Ueber Bureaukratie, S. 101. 92 Ebd., S. 102. 93 Ebd., S. 103. 94 Ebd., S. 115. Er gibt zwar vor, hier nur verbreitete Meinungen sozusagen wertfrei wiederzugeben, aber hinter diesen sind unschwer seine eigenen zu erkennen. 95 Karl Heinzen, Die Preußische Büreaukratie, Darmstadt 1845, S. 13. Er ist heilfroh, daß es sich bei dem Begriff wenigstens um ein Fremdwort handelt: „Das Wort Büreaukratie ist eines von jenen Verrufswörtern, die wir ... in unserer Muttersprache gar nicht wiedergeben können. Es gereicht unserer Muttersprache mehr zur Ehre, als uns selbst, wenn wir vom Auslande sogar schlimme Dinge übernehmen, daß wir sie nicht einmal auf Teutsch zu benennen wissen.“ (ebd.) 96 Olszewski, Bureaukratie, S. 55. 97 Ebd., S. 50. 98 Weber, Parlament und Regierung, S. 489 (PS 354). 99 Ebd., S. 451 (PS 321).

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der diese Prinzipien nennt. Schon Hegel sieht die Bürokratie als Apparat von Beamten, der nach den Prinzipien der „Hierarchie und Verantwortlichkeit“ organisiert sei.100 Er hält Arbeitsteilung und Zentralisation für notwendig, um „Leichtigkeit, Schnelligkeit, Wirksamkeit für das, was für das allgemeine Staats-Interesse geschehen soll“, zu erreichen.101 Marx, der Hegel bescheinigt, er habe „eine empirische Beschreibung der Bürokratie“ geleistet,102 hebt sowohl den notwendig formalistischen Charakter der Bürokratie als auch den notwendig bürokratischen Charakter des Staates hervor,103 Aspekte, die in Webers Analyse eine zentrale Rolle spielen. Einen präzisen Begriff der Bürokratie entwickelt allerdings weder Marx104 noch irgendein anderer Denker des 19. Jahrhunderts.105 Robert von Mohl, der immerhin einen Definitionsversuch unternimmt,106 kann nur eine heillose Verwirrung über das zu seiner Zeit schon überall verbreitete Schlagwort feststellen. Es sei zwar „aller Orten und bei den verschiedensten Gelegenheiten von ‚Bureaukratie‘ die Rede“, aber jeder verstehe darunter etwas anderes.107 Selbst Josef Olszewski, der bereits die Fachschulung, Aktenmäßigkeit, Treuepflicht und Gehorsamspflicht als Prinzipien der Bürokratie nennt108 – Kriterien, an denen sich Weber unverkennbar orientiert hat –, kann die Bürokratie lediglich als „hierarchisch organisierte Korporation“ definieren.109 Bezeichnenderweise findet eine Auseinandersetzung mit der Bürokratie in der Allgemeinen Staatslehre des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nicht statt, auch bei Jellinek sucht man sie fast vergebens.110 Weber ist zwar der erste, der die Beziehung von Staat und Bürokratie genauer zu erfassen versucht, aber da er dies nirgends systematisch unternimmt, muß man diese Beziehung erst rekonstruieren.

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Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Stuttgart 1970, S. 451 (§ 295). Ebd., S. 448 (§ 290). 102 Marx, Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 247. 103 Ebd., S. 248. 104 Es bleibt bei einer Kaskade wohlklingend-redundanter Formeln, daß die Bürokratie der „Staatsformalismus“, der „formale Staatsgeist“, die „Illusion des Staats“, der „imaginäre Staat“ oder „der Spiritualismus des Staats“ sei (ebd., S. 248f.). 105 Zu den bürokratietheoretischen Ansätzen der Denker des 19. Jahrhunderts siehe Martin Albrow, Bureaucracy, 2. Aufl. London 1989, S. 18ff. Er stellt Weber in den theoriegeschichtlichen Kontext von Michels, Marx und Schmoller (ebd., S. 50ff.). 106 Seine Definition, daß Bürokratie „irgend eine Richtung oder Thätigkeit irgend einer Regierungsgewalt“ sei (von Mohl, Ueber Bureaukratie, S. 101), hält er selbst für unbefriedigend. 107 Ebd., S. 100. 108 Olszewski, Bureaukratie, S. 107ff., 95ff., 137ff. u. 147ff. 109 Ebd., S. 49. 110 Bei Jellinek findet sich immerhin ein größeres Fragment aus dem Nachlaß. Vgl. Jellinek, Besondere Staatslehre, in: ders. Ausgewählte Schriften und Reden, hg. v. Walter Jellinek, Bd. 2, Berlin 1911, S. 153-319 (288ff.). 101

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Weber entwirft, wie man weiß, das düstere Bild einer Zukunft der wahrhaft totalen Bürokratisierung des gesamten gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, und seine apokalyptische Vision läßt keine Hoffnung auf eine Alternative zu. Die Beherrschten können den „einmal bestehenden bürokratischen Herrschaftsapparat weder entbehren noch ersetzen“, so daß der Gedanke an einen Ausstieg „immer utopischer“ werde: „Wo die Bürokratisierung der Verwaltung einmal restlos durchgeführt ist, da ist eine praktisch so gut wie unzerbrechliche Form der Herrschaftsbeziehungen geschaffen.“111 Seine Prophetie, die auf der Annahme der Unentrinnbarkeit und Unvermeidlichkeit der staatlichen Bürokratie beruht, könnte unter dem Danteschen Motto stehen: ‚Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate.‘ Nicht erst Max Weber läßt alle Hoffnung fahren. Karl Heinzen bemerkt schon im Jahre 1845 ebenso resignierend wie spöttisch, die Bürokratie sei offenbar „göttlichen Ursprungs“, da sie „unfehlbar und allmächtig“ sei.112 Für seinen Namensvetter Marx ist die Bürokratie „ein Kreis, aus dem niemand herausspringen kann“.113 Und John St. Mill prognostiziert einen Staat, in dem „alles durch die Bürokratie geschieht“ und „überhaupt nichts getan werden“ könne, „was dieser nicht paßt“.114 Max Webers tiefer Pessimismus steht also in der Tradition einiger der scharfsinnigsten Analytiker des 19. Jahrhunderts. Wie jenen, die Dantes Hölle betreten, schallt auch jenen, die sich in Webers Reich der Bürokratie begeben, die Begrüßung entgegen: ‚Laßt alle Hoffnung fahren.‘ Im Zeichen dieser Resignation steht seine bange Frage nach den „künftigen politischen Organisationsformen“ des Staates: wie es angesichts der Machtstellung des Beamtentums überhaupt möglich sei, „die ungeheure Übermacht“ dieser Schicht in Schranken zu halten und wirksam zu kontrollieren.115 Als Pessimist, Realist und Antiutopist demonstriert er, daß auch der Anarchismus, den er ohnehin für naiv hält, nicht die geringste Chance der Auflösung des Gordischen Knotens bürokratischer staatlicher Herrschaft biete. Er stimmt zwar durchaus mit Bakunin darin überein, daß die Akten die Grundlage bürokratischer Herrschaft seien, hält aber die Abschaffung sowohl der einen wie der anderen für illusorisch. „Der naive Gedanke des Bakuninismus: durch Vernichtung der Akten zugleich die Basis der ... ‚Herrschaft‘ vernichten zu können, vergißt, daß unabhängig von den Akten die Eingestelltheit der Menschen auf die Innehaltung der gewohnten Normen und Reglements fortbesteht.“116 Freiheit von Bürokratie hält er für ebenso utopisch wie Freiheit von Herrschaft. Da alles

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Weber, Herrschaft, S. 208 (WuG 570). Heinzen, Die preußische Büreaukratie, S. 134. Marx, Aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 249. John St. Mill, Über die Freiheit, Stuttgart 1974, S. 154. Weber, Parlament und Regierung, S. 466 (PS 333). Weber, Herrschaft, S. 209 (WuG 570).

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menschliche Zusammenhandeln herrschaftlich strukturiert ist, würde am Tag nach der Zerschlagung von Herrschaft nur wieder neue Herrschaft entstehen. Daß selbst Revolutionen keine Chance bieten, die Bürokratie zu zerschlagen, läßt sich aus zwei Bemerkungen Webers erschließen. Zum einen sei „das glatte Weiterfunktionieren des alten Verwaltungsstabes und die Fortgeltung seiner Ordnungen unter den neuen Gewalthabern“ während der Novemberrevolution „ein hervorragendes Beispiel“ für die Unentrinnbarkeit der Bürokratie.117 Zum anderen sei „seit der Zeit des ersten Kaiserreiches“ in Frankreich „der Herrschaftsapparat im wesentlichen derselbe“ geblieben und „eine ‚Revolution‘ im Sinn der gewaltsamen Schaffung ganz neuer Herrschaftsbildungen rein technisch ... zur Unmöglichkeit“ gemacht worden.118 Er verneint kategorisch die Frage, ob Revolutionen ein Herausspringen aus dem Bannkreis der Bürokratie ermöglichen können. Staatsformen kommen und gehen, die Bürokratie aber bleibt bestehen. Damit argumentiert er ganz auf der Linie Alexis de Tocquevilles, der in seiner Analyse des vor- und nachrevolutionären französischen Staates nachwies, daß der Verwaltungsapparat des Ancien Régime, dessen feudalistische Institutionen ohnehin nur noch nominell existierten und längst bürokratisiert waren, durch die Französische Revolution keineswegs erschüttert wurde, sondern bruchlos weiterbestand.119 Auch wenn nach wie vor ungeklärt ist, wie gut Weber das Werk Tocquevilles gekannt hat,120 steht er sowohl hinsichtlich seiner

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Weber, WuG, S. 155. Weber, Herrschaft, S. 209 (WuG 571). Es wäre lohnend, Webers Revolutionsbegriff einmal eingehender zu beleuchten und seine theoriegeschichtliche Stellung zu untersuchen. Vgl. Randall Collins, Weber and the Sociology of Revolution, in: Charles Camic u. a. (Hg.), Max Weber’s Economy and Society: A Critical Companion, Stanford 2005, S. 297–321; Dirk Käsler, Revolution und Veralltäglichung. Eine Theorie postrevolutionärer Prozesse, München 1977, S. 12ff. 119 Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, Reinbek bei Hamburg 1969, bes. S. 39ff., 58ff. u. 166ff. In verwaltungsmäßiger Hinsicht markiert die Revolution nur insoweit eine Zäsur, als sie durch die Beseitigung der absolutistischen Monarchie und der Reste feudalistischer Ordnungen die Voraussetzung für eine forcierte Bürokratisierung schuf. 120 Zur Beziehung Weber/Tocqueville vgl. Lawrence A. Scaff, Max Weber in America, Princeton 2011, S. 62ff. u. passim; Jim Faught, Interests, Values and Democracy: Tocqueville and Weber, in: JCS 7 (2007), S. 55–81; Claus Offe, Selbstbetrachtung aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten, Frankfurt a. M. 2004, S. 59ff.; Wilhelm Hennis, Tocquevilles „Neue politische Wissenschaft“, in: ders., Politikwissenschaft und politisches Denken, Tübingen 2000, S. 297-330 (326f.); Stephen Kalberg, Tocqueville and Weber on the Sociological Origins of Citizenship, in: Ralph Schroeder (Hg.), Max Weber, Democracy and Modernization, New York 1998, S. 93-112; Martin Hecht, Modernität und Bürgerlichkeit. Max Webers Freiheitslehre im Vergleich mit den politischen Ideen von Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau, Berlin 1998; John Patrick Diggins, America’s Two Visitors: Tocqueville and Weber, in: The Tocqueville Review/La Revue Tocqueville 17 (1996), S. 165–182; Dorrit Freund, Max Weber und Alexis de Tocqueville, in: Archiv für Kulturgeschichte 56 (1974), S. 457-466. 118

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Fragestellungen als auch seiner Antworten mehr als irgendein anderer politischer Denker des 20. Jahrhunderts in der Tradition des großen Franzosen. Beide wollen keineswegs die epochale historische Bedeutung der Revolution bestreiten. Der staatssoziologische Blick der beiden richtet sich jedoch hinter die Kulissen des spektakulären Revolutionstheaters: Während auf der Bühne geköpft und geschossen wird, Schauspieler und Statisten wechseln, bleiben die Intendanten121 stets dieselben. Max Weber kann mit seiner Diagnose nicht nur an Tocqueville anknüpfen, sondern auch an Josef Olszewski, der darauf hinweist, „dass selbst die radikalsten Änderungen der sozialen Ordnung“, z.B. in der Französischen Revolution, „nicht nur die staatliche Bureaukratie nicht beseitigt, sondern im Gegenteil bis zur höchsten Machtfülle gekräftigt haben“.122 Eine solche herrschaftssoziologische Interpretation der Revolution, wie sie sich bei Tocqueville, Max Weber und Olszewski findet, hat erst Heinz O. Ziegler in seiner jahrzehntelang unbeachtet gebliebenen Studie ausgebaut, in der er demonstriert, daß die Verwaltung „verhältnismäßig unberührt von den revolutionären Verfassungsumstürzen“ bruchlos „zu immer stärkerer Zentralisierung und Bürokratisierung kontinuierlich fortschreitet“, und daß die Französische Revolution das vom Ancien Régime begonnene „zentralisierende und rationalisierende Verwaltungswerk“ nur fortgeführt habe.123 Was Weber über innerstaatliche Prozesse sagt, gilt genauso für den Fall einer Okkupation des Staates durch feindliche Mächte: „Ein rational geordnetes Beamtensystem funktioniert, wenn der Feind das Gebiet besetzt, in dessen Hand unter Wechsel lediglich der obersten Spitzen tadellos weiter“; dies beruhe auf der Indifferenz, Neutralität und Formalität des Apparats, der „sich sehr leicht bereit findet, für jeden zu arbeiten, der sich der Herrschaft über ihn einmal zu bemächtigen gewußt hat“.124 Diese Diagnose stellt bereits Olszewski, wenn er

——————— 121 Im Theater wie auch im Staat: In Tocquevilles Analyse spielen die Intendanten, die leitenden französischen Verwaltungsbeamten, eine zentrale Rolle. 122 Olszewski, Bureaukratie, S. 51. Wie Tocqueville sieht er Frankreich als das Land der Bürokratisierung: „Frankreich wurde durch das Zutun Napoleons zum Paradiese der Bureaukratie und ist es noch bis heute ... Zwanzigmal wurde in diesem Staate die Freiheit dekretiert und proklamiert, indessen bezeugen die dem dortigen Leben von der Armee der Staatsfunktionäre aufgedrungenen Formen und die Sklaverei der Schablone, dass die Freiheit an hochtönenden Phrasen ihr Bewenden hat“ (ebd., S. 51f.). 123 Heinz O. Ziegler, Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931, S. 121. „Die Revolutionen zerstören nirgends, sondern übernehmen überall und steigern den Körper der absolutistischen Zentralisation, da er den Bedürfnissen nach Kalkulierbarkeit des staatlichen Handelns und nach uniformer Lenkung von Massenverhalten technisch gut entspricht.“ (Ebd., S. 86) Der Weberianische Tenor seiner Studie kommt nicht von ungefähr: In der „grundsätzlichen Fragestellung“ und im soziologischen Ansatz ist sie Weber „verpflichtet“ (ebd., S. 12). 124 Weber, Herrschaft, S. 209 (WuG 570).

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anhand der politischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts zeigt, daß sich die Bürokratie stets jeder „neuen Regierung unterworfen“ habe und immer in der Lage sei, „sich augenblicklich zurechtzufinden und der neuen Ordnung der Dinge ... anzupassen“.125 Wie Olszewski nimmt auch Weber keine Bewertung dieser Beobachtung vor, sondern konstatiert sie als empirische, historische und staatssoziologische Tatsache. Webers Diagnose, die zugleich als Prognose gelesen werden kann, ist nicht nur von der unmittelbar auf ihn folgenden Staatstheorie126, sondern auch von der Geschichte des 20. Jahrhunderts bestätigt worden. Wie glatt jenes „Weiterfunktionieren“ vonstatten gehen kann, und wie leicht sich die Bürokratie jedem neuen Herrn zu unterwerfen bereit ist, bewies die reibungslose Gleichschaltung im nationalsozialistischen Deutschland. Die Verwaltung war 1933 nicht nur „sehr leicht bereit“, für die neuen Machthaber zu arbeiten, sondern ließ sich auch als williges Instrument terroristischer Herrschaft einsetzen. Selbstverständlich funktionierte der Beamtenapparat nach 1945, zunächst unter den Besatzungmächten und anschließend in der Bonner Republik, „unter Wechsel lediglich der obersten Spitzen tadellos weiter“. Ebenso wie Webers Deutung des Anarchismus, den er im Grunde überhaupt nicht ernst nimmt, steht auch seine Sicht des Sozialismus unter der staatssoziologischen Fragestellung, ob dieser angesichts der „soziologischen Verwandtschaft“ von Kapitalismus und Bürokratie eine Chance biete, diese zu überwinden. Von einer solchen Chance kann keine Rede sein, im Gegenteil: Während im Kapitalismus „das staatlich-politische und privatwirtschaftliche Beamtentum“ wenigstens „als getrennte Körper nebeneinander stehen“ und sich gegenseitig „immerhin im Zaum halten“, wären im Sozialismus beide Bürokratien „ein einziger Körper mit solidarischen Interessen und gar nicht mehr zu kontrollieren“.127 Weber begreift das Verhältnis von staatlicher und privatwirtschaftlicher Macht als eine Art Gewaltenteilung, die er als die einzige Garantie dafür sieht, daß sich die beiden Mächte gegenseitig in Schach halten und nicht

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Olszewski, Bureaukratie, S. 55f. Otto Hintze hält es – unter dem unverkennbaren Einfluß Max Webers – für eine Illusion, daß man ohne „die unentbehrliche Maschinerie“ der Verwaltungsbürokratie auskommen könne: „Diese Bürokratie stellt die Stützen und Träger dar, die das wankende Staatsgebäude in der Zeit des Umsturzes aufrechterhalten haben. Ihre Erhaltung und Vervollkommnung ist ein Staatsinteresse allerobersten Ranges.“ (Hintze, Der Staat als Betrieb und die Verfassungsreform (1927), in: ders., Soziologie und Geschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 3. Aufl. Göttingen 1982, S. 208). – Noch deutlicher wird Carl Schmitt in der virulenten Lage des Jahres 1932: „Die ‚Bürokratie‘ hat gegenüber verschiedenen Staatsformen und -arten oft die Neutralität des bloß technischen Instruments, das ... auch entgegengesetzten politischen Richtungen dienen kann.“ (Schmitt, Legalität und Legitimität, München/Leipzig 1932, S. 16) Genau das bewahrheitete sich wenige Monate später. Und Carl Schmitt spielte bekanntlich in den darauf folgenden Jahren eine wenig rühmliche Rolle. 127 Weber, Der Sozialismus, S. 615. 126

2. Die Geschichte des Staates als Geschichte der Bürokratie

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total werden. In dieser Perspektive bedeutet der Sozialismus eine ebenso folgenschwere wie bedrohliche Ausschaltung jener Gewaltenteilung: „Die staatliche Bureaukratie herrschte, wenn der Privatkapitalismus ausgeschaltet wäre, allein.“128 Hinter dem Sozialismus, so die hellsichtige staatssoziologische Diagnose, verberge sich nur der „nüchterne Tatbestand der universellen Bureaukratisierung“.129 Sein Urteil aus dem Jahre 1918, als der erste sozialistische Staat gerade ein halbes Jahr alt war, ist von der historischen Entwicklung bestätigt worden. In den sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts entstanden Bürokratien, die in ihrer autoritären und totalitären Struktur alle bürokratischen Staaten der Geschichte weit übertrafen und selbst Webers bedrohliche Vision vom Gehäuse der Hörigkeit noch wie eine gemütliche Veranstaltung wirken ließen. Nicht von ungefähr haben viele Analytiker der sozialistischen Bürokratien Osteuropas sich an Webers Positionen und Begriffen orientiert.130 Wohl niemand hat hellsichtiger die Folgen jenes Experiments vorhergesagt, das 1917 in Gang gesetzt wurde und 1989 auf dramatische Weise scheiterte. Daß es zwangsläufig in einen grotesken Staatsdespotismus und -autoritarismus münden würde, hat Weber bereits 1894 prognostiziert: „Eine sozialistische Organisation würde alle Einzelnen je an einen Faden binden und diese Fäden in der Hand einer Centralleitung zusammenlaufen lassen, welche nun jeden Einzelnen dahin dirigieren würde, wo sie ihn nach dem Maß ihrer Kenntnis am zweckmäßigsten verwenden zu können glaubt.“131 Prophetische Worte. Dabei läßt er sich weder hier noch später von einem antisozialistischen Affekt leiten. Das Bestechende seiner Analyse ist gerade der unbefangene und klare staatssoziologische Blick, mit dem er die Folgen des Sozialismus prognostiziert. Schon acht Jahre zuvor diagnostiziert Nietzsche mit einem ähnlich scharfen „Blick auf den Staat“, daß die „Subordination“, die im „Beamtenstaat“ herrsche, im Sozialismus noch gesteigert werde.132 Dieser sei „der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus“ und daher „im tiefsten Verstande reaktionär. Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je

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Weber, Parlament und Regierung, S. 464 (PS 332). Ebd., S. 462 (PS 330). 130 Vgl. Hans-Ulrich Derlien u. a., Bürokratietheorie, Wiesbaden 2011, S. 108ff.; Thomas H. Rigby, Political Legitimacy under Mono-organisational Socialism, in: ders., The Changing Soviet System, Aldershot 1990, S. 155ff; Guenther Roth, Politische Herrschaft und persönliche Freiheit, Frankfurt a. M. 1987, bes. S. 66ff.; Maria Hirszowicz, The Bureaucratic Leviathan. A Study in the Sociology of Communism, Oxford 1980, S. 14ff.; Martin Krygier, Weber, Lenin and the reality of socialism, in: Eugene Kamenka/Martin Krygier (Hg.), Bureaucracy, London 1979, S. 70f. 131 Weber, Die Börse (1894), in: Börsenwesen. MWG I/5, S. 155. 132 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, 9. Aufl. München 1982, Bd. I, S. 667. 129

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V. Archäologie des modernen Staates

der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, daß er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt“.133 Webers Affinität zu Nietzsche zeigt sich hier ein weiteres Mal. Beide Staatsdenker sehen im Sozialismus eine Potenzierung der staatlichen Bürokratie, beide betrachten ihn als folgenschwere Ausschaltung der Gewaltenteilung, und beide prognostizieren die bedrohlichen Konsequenzen eines autoritären zentralistischen Apparats für das Individuum. Weber blickt zwar meistens pessimistisch in die Zukunft, aber im November 1918 vertritt er eine optimistische Überzeugung: „Der Bolschewismus ist eine Militärdiktatur wie jede andere und wird auch zusammenbrechen wie jede andere.“134 Selbst wenn das Sowjetsystem, wie man einwenden muß, keine Militärdiktatur war,135 bewahrheitete sich Webers Prognose – wenn auch erst nach siebzig Jahren.

3. Max Webers Fragestellungen Mit seiner auf die Zukunft des Staates gerichteten Frage nach der Möglichkeit der Kontrolle der staatlichen Bürokratie knüpft Weber an die Frage aller Fragen an, die sich ausnahmslos alle Kritiker der Bürokratie gestellt haben. Wohl am deutlichsten wird sie von Josef Olszewski formuliert: „Wie soll man mit der Bureaukratie kämpfen?“136 Hegel erblickt den Schutz vor Machtmißbrauch und „subjektiver Willkür“ der Beamten einerseits in der „Kontrolle von oben“ durch die Prinzipien der „Hierarchie und Verantwortlichkeit“, andererseits in der Kontrolle „von unten“ durch die Gemeinden.137 Diese Mehr-Ebenen-Lösung hat auch Heinrich von Treitschke im Blick, wenn er „allein die Selbständigkeit starker Provinzen“ als Schutz „vor der Alleinherrschaft der Bureaukratie“ sieht.138 Nach Robert von Mohl kann der Machtmißbrauch der Bürokratie erstens durch praktische Reformvorschläge der Wissenschaft, zweitens durch Entstaatlichung und drittens durch eine Professionalisierung der Beamten verhindert werden.139 Und John St. Mill fordert, die Kompetenzen der

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Ebd., S. 683. Weber, Deutschlands politische Neuordnung (4. November 1918), in: Zur Neuordnung Deutschlands. MWG I/16, S. 365. 135 So der berechtigte Einwand von Gianfranco Poggi (Recent Work on Weber, in: Political Theory 26 (1998), S. 589) gegen meine unkritische Übernahme des Weberschen Begriffs in der ersten Auflage dieses Buchs. 136 Olszewski, Bureaukratie, S. 273. 137 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 451 (§ 295). 138 Heinrich von Treitschke, Cavour (1869), in: ders., Historische und politische Aufsätze, Bd. 2, 6. Aufl. Leipzig 1903, S. 385. 139 von Mohl, Ueber Bureaukratie, S. 114 u. 123. 134

3. Max Webers Fragestellungen

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Bürokratie zu beschneiden und sie der „wachsamen Kritik einer gleichrangigen Autorität außerhalb der Regierung“ zu unterstellen; er verrät allerdings nicht, welche Autorität das sein soll.140 Während all diese Vorschläge der Denker des 19. Jahrhunderts sich in vagen Vorstellungen erschöpfen, entwirft Josef Olszewski 1904 erstmals ein ausformuliertes, elaboriertes und modern wirkendes Konzept, das auf eine „Vereinfachung des materiellen und formellen Rechtes“, ein „Abbrechen mit der bisherigen Sucht der Komplikation des Baues der Verwaltungsmaschine“, also kurz: auf „Vereinfachung der Verwaltungsmaschine“ zielt.141 Da aber zur Kontrolle der Bürokratie „wiederum eine ganze Reihe weiterer Einrichtungen und Institutionen“ geschaffen werden müßten, überdies eine „Menge von Vorschriften, zu diesen wiederum Kommentare, Erläuterungen“, ist er sich dessen bewußt, daß eine Kontrolle der Bürokratie nur um den Preis einer weiteren Bürokratisierung möglich ist, und so kann er nur zu einem resignierenden Schluß kommen: „So lange der Staat ... bestehen wird, so lange müssen Ämter und Beamte bestehen, und sie werden wohl immer einen bedeutenden Einfluß auf das Wohl und Wehe der Sozietät bewahren.“142 Max Webers These der Unentrinnbarkeit der Bürokratie ist also nicht nur das Ergebnis seiner herrschaftssoziologischen Studien, sondern entspricht auch der herrschenden Meinung seiner Zeit. Er kennt mit Sicherheit die Konzepte zur Bürokratiekontrolle, aber auch deren Aporien. Kontrolle von oben? – würde nur zu einem Ausbau der Bürokratie führen. Kontrolle von unten durch die Kommunen? – würde nur durch ihrerseits bürokratisierte Instanzen erfolgen. Kontrolle durch Wissenschaft? – wäre nur die Kontrolle durch eine der bürokratisiertesten Institutionen. Die Lösung, die Weber ins Auge faßt, kann also nicht mehr die einer seiner Vorgänger sein. Er setzt auf eine Institution, deren Kontrollinstrumente im 19. Jahrhundert noch nicht ausgebildet waren: das Parlament. Er hält es als „Organ der Beamtenkontrolle“ für unentbehrlich, da es durch das Enqueterecht eine „fortlaufende Kontrolle“ der Bürokratie ermögliche.143 Aber auch das Parlament ist nur eine stumpfe Waffe im Kampf gegen die Bürokratie, da „das wichtigste Machtmittel des Beamtentums die Verwandlung des Dienstwissens in ein Geheimwissen“ sei, „ein Mittel, die Verwaltung gegen Kontrolle zu sichern“.144 Überdies muß er erkennen, daß die Institutionen, die das parlamentarische Geschehen bestimmen, die Parteien, ihrerseits

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Mill, Über die Freiheit, S. 155. Olszewski, Bureaukratie, S. 278f. 142 Ebd., S. 59 u. 280. 143 Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 546 u. 490 (PS 400 u. 354). 144 Ebd., S. 488 (PS 353). 141

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V. Archäologie des modernen Staates

einem unabwendbaren Schicksal ausgeliefert sind: „Sie verfallen ja der Bureaukratisierung ganz ähnlich wie der staatliche Apparat.“145 Man mag es beklagen, daß Weber, der bedeutendste Bürokratieanalytiker des 20. Jahrhunderts, kein Patentrezept für das von ihm selbst als bedrückend empfundene Problem anbieten kann. Aber sein pessimistischer Realismus ist sicherlich allemal redlicher als der geschäftige Leerlauf und die elaborierte Ratlosigkeit bürokratischer Antibürokratisierungskommissionen heutiger Tage. So finden wir bei Weber zwar keine Antwort auf das Problem des bürokratisierten Staates, wohl aber eine Reihe von Fragestellungen. Sie sind oft aussagekräftiger und wichtiger als Antworten. „Denn, meine Herren“, sagt er auf dem Ersten Deutschen Soziologentag, „gerade die Formulierung der eigentlichen, von uns zu bearbeitenden Fragestellungen ist ja die entscheidende wissenschaftliche Aufgabe.“146 Dieser Aufgabe hat er sich immer wieder gestellt. Er bekennt auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik im Jahre 1905, ihn interessiere ausschließlich die Frage, was „charakterologisch“ aus den Menschen im bürokratischen Staat werde, angesichts des „autoritären Empfindens, des Reglementiert-, Kommandiert- und Eingeengtseins“, das „der heutige Staat“ mit sich bringe.147 Vier Jahre später präzisiert er angesichts der „Unaufhaltsamkeit des Fortschritts der bureaukratischen Mechanisierung“ seine Fragestellung: „Die Frage, die uns beschäftigt, ist nun nicht: Wie kann man an dieser Entwicklung etwas ändern? – Denn das kann man nicht. Sondern: Was folgt aus ihr?“148 Hier gibt er die Antwort auf seine vier Jahre zuvor gestellte und zunächst offengelassene Frage: Die Menschen im bürokratischen Staat werden zu Menschen, „die ‚Ordnung‘ brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepaßtheit an diese Ordnung herausgerissen werden“, und seine „zentrale Frage“ ist, „was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben“, um uns vor „dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale“ zu bewahren.149 Wenn Weber sagt, die „Antwort auf diese Frage“ gehöre „heute nicht hierher“, ist dies symptomatisch. Immer dann, wenn er die Frage nach der Bewahrung von Freiheit und Individualität im bürokratischen Staat stellt, brechen seine Ausführungen unvermittelt ab: mit der Bemerkung, die Antwort gehöre

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Ebd., S. 547 (PS 401). Weber, Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910, in: GASS, S.

433f. 147 Weber, Das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben (1905), in: Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. MWG I/8, S. 253. 148 Weber, Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden (1909), ebd., S. 362. 149 Ebd.

3. Max Webers Fragestellungen

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„heute nicht hierher“ oder solle „diesmal nicht interessieren“. Das zeigt sich auch bei seiner Frage, wie es angesichts der „Übermacht der Tendenz zur Bureaukratisierung überhaupt noch möglich“ sei, „irgend welche Reste einer in irgendeinem Sinn ‚individualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten“.150 Da er diesen Vormarsch für unaufhaltsam hält, ist für ihn klar, daß es keine Rettung gibt, und daher weiß er auch keine Antwort auf diese Frage. In seinem Werk findet sich jedenfalls kein Hinweis auf eine solche. Man muß davon ausgehen, daß seine eigenen Erkenntnisse eine Antwort obsolet machen: Wenn die Bürokratie unentrinnbar ist, gilt dies auch für ihre Folgen der Entindividualisierung und des Freiheitsverlusts. Daher verabschiedet er sich von der Frage, wie „man an dieser Entwicklung etwas ändern“ könne, und wendet sich der einzigen ihn interessierenden Frage nach den Folgen jener Entwicklung zu. Diese Fragestellung leitet seine Interpretation des modernen bürokratischen Staates. Die Fragestellungen, die hier aufgezeigt wurden, beziehen sich ausnahmslos auf ein spezifisches Phänomen. Es geht hier also nicht um eine Beteiligung an der beliebt gewordenen Diskussion um das Thema Webers, auf dessen Suche sich seit drei Jahrzehnten eine Reihe von Weberphilologen begeben hat.151 Die Kontroverse, ob es die Fragestellung gebe, die sein ganzes Schaffen regiert, hat den Charakter von Spiegelfechterei. Weber analysiert nicht nur verschiedene Untersuchungsgegenstände unter verschiedenen Aspekten, sondern richtet auch, wie wir gesehen haben, selbst an einen einzigen Gegenstand wie den der Bürokratie eine Vielzahl von Fragestellungen. Diese haben allerdings sehr wohl eine gemeinsame Stoßrichtung. Wenn er danach fragt, wie Individualität und Freiheit bewahrt und die Macht der Bürokratie beschränkt werden können, kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es sich um liberale Gesichtspunkte handelt. Er steht in der Tradition Robert von Mohls, der „die Selbstbestimmung des Einzelnen“ im bürokratischen Staat gefährdet sieht,152 in der Tradition Alexis de Tocquevilles und John St. Mills, die die Freiheit im bürokratischen Staat bedroht sehen. Während Webers historische Exkurse zur Entstehung des modernen Staates an dem Ziel ausgerichtet sind, den Vormarsch der Bürokratie zu demonstrieren, ist seine Analyse des Staates seiner Gegenwart von der Frage geleitet, wie die

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Weber, Parlament und Regierung, S. 465f (PS 333). Sam Whimster/Scott Lash (Hg.), Max Weber, Rationality and Modernity, 2. Aufl. London 2006; Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt a. M. 1998; Wilhelm Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1996; ders., Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987; Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 205ff.; zu Hennis siehe Lawrence A. Scaff, Wilhelm Hennis, Max Weber, and the Charisma of Political Thinking, in: Andreas Anter (Hg.), Wilhelm Hennis’ Politische Wissenschaft, Tübingen 2013, S. 307-325 (317ff.). 152 von Mohl, Ueber Bureaukratie, S. 112. 151

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V. Archäologie des modernen Staates

Bürokratie kontrolliert und begrenzt werden könne. Stefan Breuer meint sogar, „Webers gesamte politische Theorie“ sei „auf das Problem zugeschnitten, wie man genügend politische Energie erzeugen kann, um die Bürokratie im Status eines bloßen Instruments zu halten und ihre repressive Eigendynamik einzudämmen“.153 Bei Weber fehlt allerdings jeder liberale Optimismus, der Bürokratie Grenzen zu setzen, sei es durch Entstaatlichung, durch Kompetenzbeschneidung oder durch die Wissenschaft. Diese liberalen Vorstellungen eines Robert von Mohl oder eines John St. Mill sind für ihn fromme Träume.

4. Staat und Recht Die Geschichte des modernen Staates ist für Max Weber die Geschichte eines einzigartigen Monopolisierungsprozesses, der sich nicht nur im Bereich der Gewaltausübung und der Verwaltung vollzieht, sondern auch und gerade in der Rechtssphäre. Der Entwicklung auf diesem Sektor widmet Weber, von Hause aus Jurist, weitaus mehr Aufmerksamkeit als der auf anderen Gebieten. Die Gewaltmonopolisierung wertet er zwar als hervorstechendes Merkmal des Staates, aber für die Ausübung und Funktionsweise staatlicher Herrschaft ist das Recht, das er als wichtigste Form der „normativen Regelung“ staatlichen Handelns154 versteht, nicht weniger konstitutiv. Der moderne Staat kann nicht ohne das Recht und das moderne Recht nicht ohne den Staat gedacht werden. Die Entstehung des Staates ist ein Prozeß der Monopolisierung, Rationalisierung und Versachlichung – und zugleich ein Prozeß der Verrechtlichung staatlicher Herrschaftsausübung. Die Genese des rationalen Rechts wiederum ist ein Prozeß der „Verstaatlichung aller Rechtsnormen“.155 Dieser komplexen Verschränkung von Staat und Recht soll im folgenden nachgegangen werden. Durch die Monopolisierung von Rechtsschöpfung und Rechtsprechung wird der Staat zur Quelle und zum Garanten allen Rechts. Recht gibt es nur noch in Form staatlich geschaffenen, gesetzten, gesprochenen und durchgesetzten Rechts. Dieses Rechtsmonopol findet im Gewaltmonopol seine Entsprechung: „Heute ist der gewaltsame Rechtszwang Monopol der Staatsanstalt.“156 Zwischen der Herausbildung der beiden Monopole besteht nicht nur eine historische

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Stefan Breuer, Rationale Herrschaft, in: PVS 31 (1990), S. 20. Weber, Die „Objektivität“, in: WL, S. 166. Zum Verhältnis von rationalem Recht und modernem Staat bei Max Weber vgl. Breuer, Max Webers Staatssoziologie, S. 203ff.; Alberto Febbrajo, Kapitalismus, moderner Staat und rational-formales Recht, in: Rehbinder/Tieck (Hg.), Max Weber als Rechtssoziologe, S. 57ff. 155 Weber, Gemeinschaften. MWG I/22-1, S. 208 (WuG 516). 156 Weber, Recht. MWG I/22-3, S. 198 (WuG 183). 154

4. Staat und Recht

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Parallele, sondern auch ein funktionaler Zusammenhang, da das Gewaltmonopol die Grundlage des Rechtsmonopols ist. Von „staatlich garantiertem“ Recht spricht Weber dort, wo der Rechtszwang durch die „physischen Zwangsmittel“ des Staates ausgeübt wird.157 Hier lehnt er sich fast wörtlich an Georg Jellineks Beschreibung des staatlichen Rechtsmonopols als „Produkt einer langen geschichtlichen Entwicklung“ an: „Die Entwicklung des Staates ist aber überall von einem Aufsaugungsprozeß der selbständigen Rechtsbildung und des Rechtsschutzes begleitet, so daß schließlich der Staat allein als Quell planmäßiger Fortbildung des Rechtes erscheint und ihm allein die Verfügung über die Mittel des Rechtszwanges gebührt. Heute ist alle planmäßige ... Rechtsbildung entweder vom Staate selbst ausgeübt oder übertragen oder zugelassen“.158 Dieser Zusammenhang von Staat und Recht steht für Jellinek, Weber und die gesamte Staatslehre ihrer Zeit außer Frage. Gleiches gilt, cum grano salis, für die Staatslehre der Gegenwart.159 Das Zwangsmoment, das ja bereits in Webers Staatsbegriff eine zentrale Rolle spielt, ist auch grundlegend für seinen Rechtsbegriff. Er definiert Recht als eine „Ordnung“, welche „äußerlich garantiert ist durch die Chance des (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen“.160 Noch präziser definiert er in der Rechtssoziologie: „‚Recht‘ ist für uns eine ‚Ordnung‘ mit gewissen spezifischen Garantien für die Chance ihrer empirischen Geltung. Und zwar soll unter ‚garantiertem objektivem Recht‘ der Fall verstanden werden: daß die Garantie in dem Vorhandensein eines ‚Zwangsapparats‘ ... besteht“.161 Das entscheidende staatssoziologische Kriterium des Rechts ist also dessen Geltung, die wiederum auf deren Durchsetzung beruht, welche schließlich durch einen Zwangsapparat garantiert wird. Mit bloßem Zwang aber kann kein Recht sich Geltung verschaffen, so wie auch keine Ordnung mit bloßer Gewalt aufrechterhalten werden kann. Für die Geltung des Rechts im modernen Staat ist der Glaube an die Rechtmäßigkeit des staatlichen Rechts entscheidend: der Glaube an die Legitimität der Rechtsordnung.162 Auch hier kann Max Weber an die dogmengeschichtlich überaus bedeutsame Position Georg Jellineks anknüpfen, der die herrschende Meinung seiner Zeit

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Ebd. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 256. 159 Vgl. etwa Reinhold Zippelius, Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie, 3. Aufl. Tübingen 2012, S. 103ff.; Christian Waldhoff, Staat und Zwang. Der Staat als Rechtsdurchsetzungsinstanz, Paderborn 2008, S. 11ff. 160 Weber, WuG, S. 17. 161 Weber, Recht. MWG I/22-3, S. 195 (WuG 182). 162 Ebd., S. 199f. 158

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V. Archäologie des modernen Staates

widerlegt, daß der Zwang die einzige Garantie und das einzige Merkmal des Rechts sei. Für Jellinek kann Zwang aber nur „kompulsiver Zwang“ sein, da bloßer Zwang niemals das Recht garantieren könne.163 Er zeigt schlüssig, daß nicht Zwang, sondern Akzeptanz das wesentliche Merkmal des Rechts sei, dessen Geltung „auf der Überzeugung von seiner Gültigkeit“ beruhe.164 Weber ist dieser Rechtsauffassung, die im Kern sein Legitimitätsverständnis enthält, erkennbar verpflichtet, bleibt aber in gewisser Weise hinter ihr zurück, da er das Moment des Zwangs weitaus stärker als Jellinek in den Vordergrund stellt. In Webers Beschreibung des Verhältnisses von Recht und Staat spielen Begriff, Wesen und Funktion der „Rechtsordnung“ eine zentrale Rolle. Die parallel verlaufende Monopolisierung der Gewalt und des Rechts, die im „Begriff der legitimen Rechtsordnung ihren Abschluß“ finde, verwandele den modernen Staat „allmählich in eine Rechtsschutzanstalt“.165 Die Voraussetzung der Entstehung der staatlichen Rechtsordnung sei die Entmachtung und Enteignung der Träger eigener Zwangsmittel durch eine Zentralinstanz. Weber nennt sowohl ökonomische als auch administrative Faktoren, die in diesem Prozeß wirksam waren. Das Interesse des Staates finde eine „mächtige und entscheidende Stütze“ seitens der „Marktmachtinteressenten“, zu denen das städtische Bürgertum gehöre, das an der Schaffung von Rechtssicherheit und Rechtsschutz ökonomisch interessiert sei.166 Eine moderne Wirtschaftsordnung sei ohne eine staatliche Rechtsordnung „zweifellos nicht durchführbar“, da sie „auf durch Contrakte erworbenen Chancen“ beruhe und „ein prompt und sicher funktionierendes“, staatlich garantiertes Recht verlange. Andererseits trage die moderne Wirtschaftsentwicklung ihrerseits zur „Monopolisierung und Reglementierung aller ‚legitimen‘ Zwangsgewalt“ bei.167 In Webers Ausführungen sind drei Faktoren zu erkennen, die in ihrem Zusammenwirken zur Entstehung der legitimen Rechtsordnung führen: die ökonomische Entwicklung, die Gewaltmonopolisierung und die Rechtsmonopolisierung. Angesichts der Tatsache, daß staatliches Handeln stets in rechtlichen Bahnen verläuft, ja daß Weber den Staat als „Rechtsverhältnis“168 definiert, kann man es durchaus für inkonsequent halten, daß er das Kriterium des Rechts nicht in seinen Staatsbegriff aufgenommen hat. Eben dies ist ihm, am nachdrücklichsten von Hans Kelsen,169 immer wieder vorgeworfen worden. Der Einwand, er habe

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Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 334f. Ebd., S. 334. Weber, Gemeinschaften, S. 214 (WuG 519). Ebd. Weber, Recht, S. 247 (WuG 198). Ebd., S. 209 (WuG 186). Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1928, S. 156ff.

4. Staat und Recht

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„die normative Würde und konstitutive Bedeutung des Rechtes für den Staat vernachlässigt“, ist einer der häufigsten Kritikpunkte an Max Weber.170 Aber ist dieser Einwand berechtigt? Mit seiner Ausklammerung des Rechts aus dem Staatsbegriff weicht Weber in der Tat vom Mainstream der deutschen Staatstheorie ab, die das Recht stets als essentielles Element im Staatsbegriff geführt hat.171 Man mag zwar das Rechtsmoment in seiner Staatsdefinition vermissen – die Tatsache aber, daß das Recht für sein Staatsverständnis absolut grundlegend ist, steht angesichts der Fülle unmißverständlicher Ausführungen hierzu außer Frage. Darüber hinaus ist das Element des Rechts implizit in seinem Staatsbegriff angelegt, da dieser das Kriterium der Ordnung enthält, und „Ordnung“ wiederum als „Recht“ definiert wird, wenn sie durch einen Zwangsapparat garantiert sei. Das ist im modernen Staat der Fall. Nicht zuletzt sagt Max Weber in den Soziologischen Grundbegriffen ausdrücklich, die „Rechtsordnung“ sei für den heutigen Staat „formal charakteristisch“.172 Hans Kelsen behauptet also mit Recht, sowohl die Staatsdefinition als auch der „ganze Aufbau des Weberschen Begriffssystems“ seien darauf angelegt, daß der Staat eine „Rechtsordnung“ ist.173 Wenn er in seiner Begründung allerdings ausgerechnet den Monopolcharakter des Staates als Beleg dafür anführt, daß Weber „den Staat wesentlich als eine normative Rechtsordnung“ verstehe,174 geht seine Argumentation ins Leere, da man vom Aspekt des Monopols noch lange nicht auf eine Rechtsordnung schließen kann. Vollends abwegig ist seine Behauptung, Webers Staatsbegriff laufe „immer wieder auf eine versteckte Identifikation“ von Staat und Recht hinaus.175 Weber identifiziert hier gar nichts, da Staat und Recht Kategorien sind, die auf zwei verschiedenen Ebenen liegen. Der Staat ist ein Verband, und das Recht ist das Normensystem dieses Verbandes. Kelsen interpretiert Weber aus der ideologischen Perspektive seiner Reinen Rechtslehre. Dies mindert beträchtlich den Wert seiner rezeptionsgeschichtlich

——————— 170 Gerhard Hufnagel, Kritik als Beruf. Der kritische Gehalt im Werk Max Webers, Frankfurt/Berlin/Wien 1971, S. 172. 171 Etwa in der berühmten Staatsdefinition von Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1963, S. 309634 (431), oder in der Staatsdefinition des jungen Carl Schmitt, der den Staat als „das Rechtsgebilde“ versteht, „dessen Sinn ausschließlich in der Aufgabe besteht, Recht zu verwirklichen“ (Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 52). 172 Weber, WuG, S. 30. 173 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 169. 174 Ebd., S. 170. 175 Ebd., S. 156.

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V. Archäologie des modernen Staates

bedeutsamen Auseinandersetzung, die nicht nur die erste, sondern auch nach wie vor gründlichste Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Staat und Recht bei Weber ist.176 Er verfolgt eine Art Doppelstrategie, mit der er zum einen die Unzulänglichkeit Webers vor dem Tribunal seiner Rechtslehre demonstrieren und zum anderen die „Staatssoziologie als Rechtslehre“ enthüllen will.177 Es ist klar, daß diese Strategie scheitern muß, da sie zwei Ziele verfolgt, die sich gegenseitig ausschließen. Kelsen versucht, Webers Staatstheorie mittels rechtspositivistischer Kategorien ad absurdum zu führen. Vor dem Tribunal der Reinen Rechtslehre steht Webers Staatssoziologie angeklagt wie der Revolutionär vor dem Staatsgerichtshof. Ist aber diese Gerichtsbarkeit überhaupt in der Lage, angemessen zu urteilen, geschweige denn zu verurteilen? Diese Frage ist zu verneinen. Die Frage, warum Weber das Recht aus dem Staatsbegriff ausklammert, ist nur spekulativ zu beantworten. Gleichwohl liegen drei Gründe auf der Hand: erstens die Intention, jede rechtspositivistische Identifikation von Staat und Recht zu vermeiden, zweitens die Abgrenzung von einem juristischen Staatsbegriff, den er ja scharf von seinem soziologischen geschieden wissen will, und drittens sein Bestreben, jede Assoziation zu Wesen und Begriff des Rechtsstaats zu umgehen. Es sind zweifellos primär methodische Motive, die ihn dazu veranlassen, das Recht nicht expressis verbis im Staatsbegriff zu verankern. Mit seiner angeblich ablehnenden Haltung gegenüber der Rechtsstaatslehre hat sein Verfahren jedenfalls nichts zu tun. Max Weber ist gewiß kein Apologet der Rechtsstaatslehre, wie sie von Robert von Mohl konzipiert und von Rudolf Gneist programmatisch entfaltet wurde.178 Aber für Mommsens Behauptungen, daß Weber die „liberale Lehre vom

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Zum Verhältnis Weber/Kelsen vgl. Catherine Colliot-Thélène, Kelsen Reading Weber, in: Peter Langford u. a. (Hg.), Concept Formation in Hans Kelsen and Max Weber, London 2014 (i. E.); Agostino Carrino, Max Weber et Hans Kelsen, in: Carlos-Miguel Herrera (Hg.), Le droit, le politique: autour de Max Weber, Hans Kelsen, Carl Schmitt, Paris 1995, S. 185203; Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität. Sinnverstehen und Institutionenanalyse bei Max Weber und seinen Kritikern, Tübingen 1991, S. 25ff.; Norberto Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, in: Manfred Rehbinder/Klaus-PeterTieck (Hg.), Max Weber als Rechtssoziologe, S. 109-126. 177 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 169. 178 Rudolf Gneist, Der Rechtsstaat, Berlin 1872. Zu Begriff und Geschichte des Rechtsstaats vgl. Gustavo Gozzi, Rechtsstaat and Individual Rights in German Constitutional History, in: Pietro Costa/Danilo Zolo (Hg.), The Rule of Law, Dordrecht 2007, S. 237-259; Philip Kunig, Der Rechtsstaat, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen 2001, S. 421-444; Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, Tübingen 1997, S. 263ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 143-169; Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip. Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1986; Ulrich

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‚Rechtsstaat‘ einer schonungslos desillusionierenden Kritik“ unterziehe und daß der Rechtsstaatsbegriff „für Weber durch den doppelten Aufweis seines klassengebundenen Charakters und der Erschütterung des ihm zugrunde liegenden Naturrechtsglaubens seine werthafte Dignität eingebüßt“ habe,179 gibt es in seinem Werk nicht den geringsten Anhaltspunkt. Die Tatsache, daß Weber dem Naturrecht skeptisch gegenübersteht, läßt noch lange nicht den Schluß zu, daß er auch nichts vom Rechtsstaatsbegriff halte. Ich kann in seinem Werk weder eine ‚schonungslos desillusionierende Kritik‘ der Rechtsstaatslehre noch einen Beleg für den angeblichen Dignitätsverlust des Rechtsstaatsbegriffs erkennen. Überdies bleibt unklar, wie Mommsen zu der These gelangen kann, daß Weber an die Stelle des Rechtsstaatsbegriffs „den Begriff der Legalität treten ließ“.180 Diese These ist nicht zuletzt deshalb unhaltbar, weil Mommsen – genau wie Kelsen – Kategorien verschiedener Ebenen miteinander vermengt. Da der Rechtsstaat eine Staatsform ist und die Legalität der Funktionsmodus dieser Staatsform, kann Weber kaum den einen Begriff an die Stelle des anderen treten lassen. Max Webers Äußerungen zum Rechtsstaat lassen zwar die Euphorie liberaler Apologeten vermissen, aber sie zielen keineswegs auf eine Kritik, sondern beinhalten vielmehr eine eindeutige Bejahung. Sowohl seine Interpretation des modernen Staates als Typus der legalen Herrschaft, in der Gesetze herrschen, als auch seine Ausführungen zur Verkoppelung von Staat und Recht bringen klar zum Ausdruck, daß der Staat für ihn nur ein Rechtsstaat sein kann. Gleichwohl ist man heute geneigt, die Bedeutung des Rechtsstaats weitaus höher einzustufen als es Weber und den meisten seiner Zeitgenossen in den Sinn gekommen wäre. Es waren nicht zuletzt die Erfahrungen der Abschaffung des Rechtsstaats in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die das Bewußtsein dafür geschärft haben, daß er die fundamentale Bedingung einer freiheitlichen staatlichen Ordnung ist. Historische Erfahrungen verändern nicht nur die Semantik staatstheoretischer Begriffe, sondern auch die Werthaltung gegenüber ihnen. Ein Wert war der Rechtsstaat für Weber sicherlich nicht. Und so ist es durchaus als Mangel zu sehen, daß er sich nicht für eine fundierte theoretische Begründung des Rechtsstaats interessiert hat, die heute zum Kernbestand der Staatslehre gehört. Statt der Rechtsstaatlichkeit stellt Weber um so stärker ein Merkmal des Staates in den Vordergrund, das wiederum zu den konstitutiven Elementen des Rechtsstaates gehört: die Gewaltenteilung. Sie spielt in seinem Verständnis der

——————— Karpen, Die geschichtliche Entwicklung des liberalen Rechtsstaates. Vom Vormärz bis zum Grundgesetz, Mainz 1985. 179 Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, 3. Aufl. Tübingen 2004, S. 419f. 180 Ebd., S. 420.

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Struktur und Funktion staatlicher Herrschaft eine wichtige Rolle, da „die Eigentümlichkeit der modernen, nach ‚Kompetenzen‘ gegliederten Staatsanstalt“ auf der Kombination von Gewaltbegrenzung und Gewaltenteilung beruhe.181 Die Entstehung des modernen Staates ist für Weber ein Prozeß der „Herausdifferenzierung“ von Rechtssphären, ein Prozeß, zu dem er einerseits die Scheidung von öffentlichem und privatem Recht und andererseits die arbeitsteilige Funktionsgliederung der Staatsgewalt zählt.182 Zwischen diesen beiden Aspekten sieht er einen kausalen Zusammenhang, da, wie er sich auf Montesquieu beruft, „erst die Gewaltenteilung die Conzeption eines ‚öffentlichen Rechts‘ möglich mache“.183 Diese Tatsache wiederum wertet er als spezifisch okzidentale Erscheinung, denn es schaffe „nicht jede Art von Gewaltenteilung schon den Gedanken eines öffentlichen Rechts, sondern erst die der rationalen Staatsanstalt spezifische. Eine wissenschaftliche Lehre vom öffentlichen Recht hat nur der Occident entwickelt, weil nur hier der politische Verband ganz den Charakter der Anstalt mit rational gegliederten Kompetenzen und Gewaltenteilung angenommen hat.“184 Obwohl Max Weber an einer Stelle einschränkend sagt, die Gewaltenteilung sei „nichts unbedingt Modernes“,185 wertet er sie zweifellos als Teil des okzidentalen Rationalisierungsprozesses und als Errungenschaft der politischen Moderne. Es habe sie weder in der Antike noch im Mittelalter gegeben. Erst im modernen Anstaltsstaat werde sie für die Strukturform und Funktionsweise der politischen Herrschaft konstitutiv, schaffe feste Kompetenzverteilungen und mache das Funktionieren des Behördenapparats berechenbar. Das wiederum habe entscheidende ökonomische Relevanz, da die Gewaltenteilung aufgrund ihrer Funktionalität und Berechenbarkeit für die „Rationalisierung der Wirtschaft günstig“ sei.186 Die ausschlaggebenden Gesichtspunkte, unter denen Weber die Gewaltenteilung als strukturprägendes Prinzip des modernen Staates betrachtet, sind Kompetenzverteilung, Rationalität und Berechenbarkeit. Dabei interessiert er sich, darin besteht eine Parallele zum Rechtsstaat, nicht für eine normative Begründung der Gewaltenteilung, die zum Kanon der damaligen187

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Weber, Recht, S. 296 (WuG 393). Ebd., S. 301 (WuG 395). 183 Ebd., S. 297 (WuG 394). Max Weber gibt an, hier Montesquieu zu zitieren; das Zitat sucht man aber in dessen Werk vergebens. Dafür findet es sich – fast wörtlich – bei Georg Jellinek: die Gewaltenteilung mache „die Garantierung des öffentlichen Rechtes“ erst möglich (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 790). 184 Weber, Recht, S. 297 (WuG 394). 185 Weber, WuG, S. 166. 186 Ebd. Zum Zusammenhang von rechtlicher und ökonomischer Entwicklung vgl. bes. Weber, Recht, S. 301ff. (WuG 395ff.). 187 Vgl. nur Jellinek, Allgemeine Staatslehre, bes. S. 790. 182

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wie der heutigen188 Staatslehre gehört, sondern allein für ihre herrschafts- und staatssoziologische Dimension.189 Diese Interpretation der Gewaltenteilung, die er unter jenem Gesichtspunkt vornimmt, ist ein elementarer Bestandteil des rechtssoziologischen Fundaments seiner Staatstheorie.

a) Rationales Recht, rationaler Staat Die konstitutive Bedeutung des Rechts für die Entstehung und gegenwärtige Struktur des Staates kommt wohl am klarsten in Webers Feststellung zum Ausdruck, der „rationale Staat“ beruhe auf dem „rationalen Recht“.190 In seinen rechtssoziologischen Studien tritt uns immer wieder die Interdependenz entgegen: das rationale Recht sei die Grundlage des rationalen Staates, welcher wiederum das rationale Recht schaffe und garantiere. Recht wird also verstaatlicht und der Staat verrechtlicht. Ein konsequenter Ausdruck dessen ist die Einordnung des Staates als Typus legal-rationaler Herrschaft. Die Legitimität des modernen Staates beruht primär auf dem Glauben an die Legalität: die rationale Satzung, Anwendung und Durchsetzung des rationalen Rechts. Worin aber besteht die Rationalität des rationalen Rechts, welches für den rationalen Staat konstitutiv ist? Recht kann, wie Weber sagt, „in sehr verschiedenem Sinne ‚rational‘ sein“, entweder im Sinne des „Generalisierens“, d. h. „der Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalles maßgebenden Gründe auf ein oder mehrere ‚Prinzipien‘“, oder im Sinne der „Systematisierung“, d. h. daß Rechtssätze „unter einander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor Allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden“.191 Darüber hinaus könne Recht „in formeller oder in materieller Hinsicht rational sein“. Formal rational sei das Recht, das juristisch korrekt gesatzt und angewendet werde; material rational sei das Recht, das sich an Normen „qualitativer Dignität“ orientiere, zu denen Weber „ethische Imperative“ oder „politische Maximen“ zählt.192 Es ist

——————— 188 Vgl. Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. München 2010, S. 244ff.; Roger Masterman, The Separation of Powers in the Contemporary Constitution, Cambridge 2010; Eoin Carolan, The New Separation of Powers, Oxford 2009; Christoph Möllers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, Tübingen 2005; Josef Isensee (Hg.), Gewaltenteilung heute, Heidelberg 2000. 189 Das zeigt sich besonders deutlich in seinen Ausführungen über „Kollegialität und Gewaltenteilung“ (WuG 158ff.). 190 Weber, Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. MWG III/6, S. 369. 191 Weber, Recht, S. 301-303 (WuG 395f.). 192 Ebd., S. 304 (WuG 396f.). Zum Verhältnis von formalem und materialem Recht bei Weber vgl. Julien Freund, Die Rationalisierung des Rechts bei Max Weber, in: Rehbinder/

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klar, daß es sich bei beiden Rationalitäten um Idealtypen handelt, da formales Recht stets in irgendeiner Form materiale Prinzipien enthält und materiales Recht stets in irgendeiner Weise formalen Prinzipien Rechnung trägt. Rationalität und Formalität sind für Weber zwar die beiden herausragenden Eigenschaften des modernen Rechts. Aber er weiß, daß der Staat, um mit Hegel zu sprechen, in der Welt steht, in der Sphäre ökonomischer, politischer und sozialer Spannungen und Kämpfe, so daß unweigerlich „materiale Anforderungen an das Recht“ gestellt werden, die „den Formalismus des Rechts grundsätzlich in Frage“ stellen.193 Das Bestechende an Max Webers rechtssoziologischen Untersuchungen liegt nicht zuletzt darin, daß sie die Rationalisierung des Rechts, die mit der Rationalisierung des Staates korrespondiert, mustergültig demonstrieren und interpretieren. An seine Positionen knüpfen nahezu alle rechtsgeschichtlichen Untersuchungen an.194 Er selbst wiederum orientiert sich in seiner Fragestellung und seinen Ergebnissen an Georg Jellinek, der die ganze Rechtsgeschichte „von einem ununterbrochenen Prozeß der Rationalisierung“ gekennzeichnet sieht, einer „Rationalisierung“, die „auch der staatlichen Ordnung zuteil“ werde.195 Hier wird einmal mehr deutlich, wie weit Jellineks Einfluß bis in feinste Verästelungen von Webers Werk reicht. Was bei Jellinek indes nur thesenhaft angerissen wird, hat Weber detailliert entfaltet und damit entscheidende Grundlagen der Rechts- und Staatssoziologie des 20. Jahrhunderts gelegt. Seine Archäologie des rationalen Rechts ist zugleich eine Archäologie des modernen Staates. Die fortschreitende Rationalisierung, Positivierung, Systematisierung und Verstaatlichung des Rechts ist zwangsläufig ein Prozeß der Zurückdrängung nicht-staatlichen, nicht-positiven Rechts. Diese Entwicklung ist nach Weber auf den modernen okzidentalen Staat beschränkt, da nur hier das positive Recht alle anderen – insbesondere naturrechtlichen – Rechtsformen verdrängt habe. Einen Staat „mit rational gesatzter ‚Verfassung‘, rational gesatztem Recht und einer an rationalen, gesatzten Regeln: ‚Gesetzen‘, orientierten Verwaltung“ kenne „nur der Okzident“.196 Für eine rationale Rechts- oder Staatslehre fehlten au-

——————— Tieck (Hg.), Max Weber als Rechtssoziologe, bes. S. 22ff.; Febbrajo, Kapitalismus, moderner Staat und rational-formales Recht, bes. S.72ff. 193 Weber, Recht, S. 624 (WuG 507). 194 Zur Rechtsrationalisierung Werner Gephart/Siegfried Hermes, Einleitung, in: MWG I/22-3, S. 61ff., 113ff.; François Chazel, Communauté politique, État et droit dans la sociologie Wébérienne, in: L’Année sociologique 59 (2009), S. 275-301; Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, Berlin 2008, S. 139ff.; Pietro Rossi, Max Weber, Roma 2007, S. 281ff.; Breuer, Rationale Herrschaft, S. 14ff.; Freund, Die Rationalisierung des Rechts bei Max Weber, S. 9ff. 195 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 354f. 196 Weber, Vorbemerkung, in: RS I, S. 3f.

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ßerhalb des Okzidents sowohl eine „Systematik und die rationalen Begriffe“ als auch „die streng juristischen Schemata und Denkformen des römischen und des daran geschulten okzidentalen Rechtes“.197 Das moderne rationale Recht, dessen Rationalität vor allem im strengen Form- und Systemcharakter zum Ausdruck kommt, stammt aus dem römischen Recht,198 dessen Rezeption nicht nur die gesamte kontinentaleuropäische Rechtsgeschichte geprägt hat, sondern auch die politische, soziale und ökonomische Entwicklung des Abendlandes. Diese Rezeption hat stärker als irgendeine andere Rechtsentwicklung das okzidentale Rechtsdenken revolutioniert. Weber illustriert und analysiert bis heute wegweisend den komplexen Prozeß, in welchem das römische Recht – ausgehend von den norditalienischen Juristenschulen des Spätmittelalters – sich in einem beispiellosen Siegeszug über den ganzen Kontinent ausbreitete. Er hält es für den entscheidenden soziologischen Aspekt dieser Rezeption, daß sie „das formal-juristische Denken schuf“, und daß die „heute vorherrschende Auffassung des Rechts als eines in sich logisch widerspruchslos und lückenlos geschlossenen Complexes von ‚Normen‘, die es ‚anzuwenden‘ gilt“, für das Rechtsdenken „allein maßgebend“ wurde.199 Wie Weber im Anschluß an Eugen Ehrlich betont, sei die Voraussetzung dieser Rezeption gewesen, daß das römische Recht „nationaler Gebundenheit entkleidet“ und „zum ‚logisch richtigen‘ Recht schlechthin verabsolutiert werden“ konnte.200 Über die Frage der Ursache der Rezeption herrschte zur Zeit Webers ein ebenso heftiger wie kaum entscheidbarer Streit, besonders über die alte Frage, ob hier ökonomische oder nichtökonomische, nämlich innerjuristische Faktoren wirksam waren. Weber nennt eine Vielzahl von Faktoren, welche die Rezeption begünstigt, ermöglicht oder vorangetrieben hätten, ist sich aber hinsichtlich der Frage der Priorität eines Faktors erkennbar unsicher. Für ihn steht fest, „daß jedenfalls sachliche Notwendigkeiten des Rechtsbetriebs: vor Allem die durch Fachschulung erworbene Fähigkeit, complizierte Thatbestände zu juristisch eindeutiger Fragestellung zu bearbeiten und, ganz allgemein gesprochen, die Notwendigkeit einer Rationalisierung des Prozeßverfahrens“ ausschlaggebend gewesen seien.201 Die Interessenkoalition von Rechtspraktikern und Rechtsinteressenten, die hier deutlich wird, findet eine Analogie in einer Reihe weiterer Koalitionen, die die Rezeption vorantrieben. Weber erklärt das „Vordringen formalistisch-ratio-

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Ebd., S. 2. Weber, Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. MWG III/6, S. 370. 199 Weber, Recht, S. 583 (WuG 493). 200 Ebd., S. 582 (WuG 492). 201 Ebd., S. 579f. (WuG 491). 198

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naler Elemente“ primär mit den Bedürfnissen der Verwaltung nach Vereinheitlichung, Systematisierung und Formalisierung, „Interessen an steigender Rationalität“, das heißt „steigender Herrschaft formaler Rechtsgleichheit“, die mit den Machtinteressen der Fürsten Hand in Hand gingen.202 Der fürstlichen Rechtspolitik sei „überall ein Zug zur Vereinheitlichung und Systematisierung des Rechts eigen gewesen: zur ‚Codifikation‘. Der Fürst will ‚Ordnung‘.“ Dieses Wollen entspreche „sowohl technischen Bedürfnissen der Verwaltung wie persönlichen Interessen seiner Beamten“, deren Karrierechancen nämlich mit der Rechtsvereinheitlichung steigen, da sie nun nicht mehr an ihre Heimatbezirke gebunden seien.203 Zu dieser Interessenkoalition treten noch weitere Bündnispartner. Die Beamten strebten „nach ‚Übersichtlichkeit‘ des Rechts, die bürgerlichen Schichten nach ‚Sicherheit‘ der Rechtsfindung“; das Ziel des Bürgertums sei „ein eindeutiges, klares, irrationaler Verwaltungswillkür ... entzogenes, vor Allem die Rechtsverbindlichkeit von Kontrakten sicher garantierendes und infolge aller dieser Eigenschaften berechenbar funktionierendes Recht“.204 Dieses Bündnis von fürstlichen und bürgerlichen Interessen gehöre „zu den wichtigsten treibenden Kräften formaler Rechtsrationalisierung“. Weber schränkt zwar die Notwendigkeit dieser Koalition ein, da eine direkte „Kooperation“ dieser Mächte nicht immer erforderlich gewesen sei, sagt aber gleichzeitig, die Rationalisierung des Rechts sei überall dort gescheitert, wo „dieses Bündnis fehlte“.205 Dieser Einwand ist typisch für seine Argumentation, die sich in einer endlosen Kette von Zwar-Aber-Sätzen fortbewegt und sich stets aufs neue dagegen wehrt, irgendwelche Kausalitäten zu akzeptieren. Dies zeigt sich wohl am deutlichsten in seiner Auseinandersetzung mit Georg von Belows These, die Rezeption des römischen Rechts sei die Ursache der Entstehung des Kapitalismus gewesen. Weber bestreitet diese These, da er lediglich die Schaffung des formal-juristischen Denkens als Folge der Rezeption sehen will.206 Seine anschließenden Ausführungen zeigen aber, daß der Kapitalismus notwendig auf das formalisierte und rationalisierte Recht angewiesen ist; ja es ermöglicht die Entstehung des Kapitalismus erst, da dieser ein Recht brauche, „das sich ähnlich berechnen läßt wie eine Maschine“.207 Weber will also die Rezeption des römischen Rechts zwar nicht als Entstehungsgrund des Kapitalismus gelten lassen, wohl aber als notwendige Entste-

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Ebd., S. 566f. (WuG 487). Ebd., S. 569 (WuG 488). Ebd., S. 569 u. 567 (WuG 488 u. 487). Ebd., S. 567 u. 511 (WuG 487 u. 468). Weber, Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 372. Ebd., S. 373.

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hungsvoraussetzung, wie er selbst demonstriert. Er erklärt die Rationalisierung des Rechts mit einer Verkettung ökonomischer und politischer Interessen, eine Verkettung, die man auch in seiner Interpretation der Entstehung der Bürokratie, des Gewaltmonopols und des Staates überhaupt verfolgen kann. Die Rationalisierung des Rechts erscheint in seinem Werk als Produkt und zugleich als Voraussetzung einer überaus erfolgreichen Großen Koalition von Fürsten und Beamten, Juristen und Kapitalisten, die ein gemeinsames Interesse an der Formalisierung, Systematisierung und Rationalisierung des Rechts hatten. Der entstehende Territorialstaat begünstigt und beschleunigt diesen Prozeß durch das Zurückdrängen von Rechtspartikularitäten und das Normieren von Recht und Verwaltung. Und er findet in den Juristen einen zuverlässigen und wichtigen Bündnispartner: Die Schaffung des berechenbaren und formalen Rechts wurde für Weber dadurch erreicht, „daß der moderne Staat sich mit den Juristen verbündete, um seine Machtansprüche durchzusetzen“.208 Die Rolle der Juristen in der Rechtsentwicklung war nicht weniger komplex als die ihrer Mitstreiter, da dieser Berufsstand sowohl Akteur als auch Produkt dieses Prozesses war. Zu den entscheidenden soziologischen Folgen der Rezeption des römischen Rechts zählt Weber die Schicht der universitätsgeschulten Juristen, die dem Okzident „eigentümlich“ sei und ihrerseits die Rezeption vorangetrieben habe. Diese Schicht habe aber nicht nur auf die Rechtsentwicklung entscheidenden Einfluß genommen, sondern auch auf die Entstehung und Entwicklung des Staates selbst, da „überall die Revolutionierung des politischen Betriebs im Sinne der Entwicklung zum rationalen Staat von Juristen getragen wurde“.209 Die Geburt des modernen Staates sei „zum wesentlichsten Teil Juristenwerk gewesen“; ihr beherrschender Einfluß beschränke sich nicht nur auf die Anfänge, sondern erstrecke sich auch auf die Gegenwart, da sie für die „ganze politische Struktur“ des Okzidents „von ausschlaggebender Bedeutung“ seien.210 Und so kann Max Weber nur zu dem Schluß kommen, daß wir heute „in einem Zeitalter der Juristenherrschaft“ leben.211 Den Juristen kommt damit eine ähnliche Bedeutung zu wie den Beamten. Während Weber gegenüber diesen eine ambivalente Haltung bezieht, kann man gegenüber jenen in seinem Werk nirgends auch nur die leiseste Kritik erkennen. Im Gegenteil. Da „der große Advokat ... im Kampf ... geschult“ sei und Weber sich „in unseren öffentlichen Kundgebungen ... wesentlich mehr Geschultheit“ wünscht,212 verteidigt er die Juristen gegen jede Kritik: Die vielen verhaßte

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Ebd. Weber, Politik als Beruf. MWG I/17, S. 185f. (PS 522). 210 Weber, Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: RS I, S. 272. 211 Weber, Parlament und Regierung, S. 502 (PS 364). 212 Ebd. 209

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„Advokatenherrschaft“ in der parlamentarischen Demokratie werde „mit Unrecht beklagt“; der „moderne Advokat und die moderne Demokratie“ gehörten „schlechthin zusammen“.213 Diese Diagnose ist nach wie vor – und heute mehr denn je – zutreffend, da die Juristenherrschaft in den parlamentarischen Demokratien seither noch weiter ausgebaut worden ist. In Parteien und Verbänden, Parlamenten und Regierungen, Ministerien und Verwaltungen nehmen sie eine unangefochten dominierende Stellung ein. Politik wird von Juristen umgesetzt, wenn nicht gemacht, und vor allem in der Administration besitzen sie nahezu eine Monopolstellung, die kaum gefährdet zu sein scheint. Dies beruht nicht nur auf einer besonders in Deutschland stark ausgeprägten Tradition, die sich über Jahrhunderte zurückverfolgen läßt, sondern auch auf den Eigengesetzlichkeiten und Erforderlichkeiten des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats, die den Juristen zwangsläufig als ideale Figur des Apparats begünstigen, ja notwendig machen.214 Aus Max Webers Betrachtungen zur Rationalisierung von Recht und Staat läßt sich das Bild einer ebenso erfolgreichen wie folgenreichen Bündnispolitik nachgerade Bismarckscher Qualität rekonstruieren. In diesem Bündnis spielen vier Akteure die Hauptrollen: der Staat, die Wirtschaft, die Beamten und die Juristen. Julien Freund meint sogar, daß „eine Verschwörung der Politik, der Wirtschaft, des Rechts und sogar der Moral“ stattgefunden habe, „um das Universum des Alltäglichen ... zu rationalisieren“.215 Man muß sich allerdings darüber im klaren sein, daß die Rationalisierung des Rechts kein strategisch geplantes Projekt war. Max Weber selbst redet zwar oft genug von Bündnissen und meint dies keineswegs nur metaphorisch, aber man kann sicherlich kaum behaupten, daß die Protagonisten dieses Prozesses, der sich über Jahrhunderte hinweg und regional verschiedenzeitlich vollzog, ein planvoll in Gang gesetztes Unternehmen betrieben.

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Ebd., S. 502 (PS 390); ders., Politik als Beruf, S. 188 (PS 523). Das gilt um so mehr, als das politische Leben – nicht nur in Deutschland – immer mehr verrechtlicht wird. Vgl. Ran Hirschl, Towards Juristocracy. The Origins and Consequences of the New Constitutionalism, Cambridge 2007. – Da der Jurist „der gegebene Beamte der Verwaltung“ sei, ist es für den Juristen Ernst Forsthoff eine schreckliche Vorstellung, „die Kultusministerien an die Fachleute auszuliefern und sie damit in pädagogische Experimentierstätten zu verwandeln“ (Forsthoff, Der Staat in der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 110). Selbst Pädagogik ist also Sache der Juristen. Aber eine letzte Domäne will Ernst Forsthoff ihnen doch verwehren: „Daß etwa der Bau von Autobahnen von Technikern entworfen, kontrolliert und abgenommen wird, versteht sich von selbst.“ (ebd.) Zum Glück. 215 Freund, Die Rationalisierung des Rechts bei Max Weber, S. 27. 214

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b) Der Sieg des Rechtspositivismus Welche Bündnisse auch immer wirksam waren, welche Interessen auch immer sich durchsetzten, welche Akteure auch immer agierten, fest steht, daß die Rationalisierung des Rechts unweigerlich zum Rechtspositivismus führte, der vorerst den Endpunkt der Rechtsrationalisierung im modernen Staat markiert. Die Geschichte okzidentalen Rechts ist die Erfolgsgeschichte des Rechtspositivismus, den Max Weber „in vorläufig unaufhaltsamem Vordringen“ sieht.216 Dieser Vormarsch geht, um weiterhin militärisch zu sprechen, mit einem steten Rückzugsgefecht des Naturrechts einher, da „infolge der fortschreitenden Zersetzung und Relativierung aller metajuristischen Axiome überhaupt“ auch „die naturrechtliche Axiomatik heute in tiefen Mißkredit geraten“ sei, jedenfalls „die Tragfähigkeit als Fundament eines Rechts verloren“ habe.217 Eindeutiger als mit diesen Formulierungen ist wohl nirgends das Schicksal des Naturrechts beschrieben worden, wobei dieser Abgesang, anders als man in der Literatur gemeinhin glaubt, keineswegs pejorativ ist. Webers Anliegen ist es vielmehr, die herausragende historische Bedeutung des Naturrechts für die Entwicklung des modernen Staates wie auch des modernen Rechts zu unterstreichen. Wenn er sagt, die Naturrechtsdogmen hätten „die Neigung zum logisch abstrakten Recht, überhaupt die Macht der Logik im Rechtsdenken“ gesteigert,218 bescheinigt er ihnen einen entscheidenden Anteil an der Rationalisierung des Rechts. Überdies attestiert er ihnen einen erheblichen Einfluß nicht nur auf die Rechtsschöpfung und Rechtsfindung, sondern auch auf den modernen Staat selbst.219 Die historische Ironie liegt freilich darin, daß die Naturrechtsdogmen durch die von ihnen in Gang gesetzte Rationalisierung zunächst relativiert und schließlich zersetzt wurden. Darin teilt das Naturrecht das Schicksal vieler historischer Phänomene. Max Weber bekräftigte mit seiner Position die herrschende Meinung seiner Zeit. Schon Bernhard Windscheid kam in seiner Greifswalder UniversitätsFestrede zu einem apodiktischen Urteil, das zu einem geflügelten Wort wurde: „Es gibt für uns kein absolutes Recht. Der Traum des Naturrechts ist ausge-

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Weber, Recht, S. 611 (WuG 502). Ebd. 218 Ebd., S. 609 (WuG 501). 219 Ebd. Die Tragweite von Webers Naturrechtsverständnis kann hier nicht erschlossen werden. Vgl. ebd., S. 592ff. (WuG 496ff.); Radkau, Max Weber, S. 423ff.; Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, Berlin 2008, S. 88ff.; Duncan Kennedy, The Disenchantment of Logically Formal Legal Rationality, in: Charles Camic u. a. (Hg.), Max Weber’s Economy and Society, Stanford 2005, S. 322-365 (337ff.); Masahiro Noguchi, Kampf und Kultur. Max Webers Theorie der Politik aus der Sicht seiner Kultursoziologie, Berlin 2005, S. 71ff.; Freund, Die Rationalisierung des Rechts bei Max Weber, bes. S. 18f. 217

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V. Archäologie des modernen Staates

träumt, und die titanenhaften Versuche der neueren Philosophie haben den Himmel nicht gestürmt.“220 Der Himmel des Staatsrechts wurde vielmehr vom Rechtspositivismus erobert, der ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur herrschenden Meinung in der deutschen Staatsrechtslehre wurde und zu Webers Zeit in voller Blüte stand.221 Seine beiden führenden Vertreter, Carl Friedrich von Gerber und Paul Laband, waren zugleich die bedeutendsten Staatsrechtslehrer ihrer Epoche,222 auch wenn man heute geneigt ist, die absolute Vorherrschaft des Rechtspositivismus im Wilhelminismus eher zu relativieren.223 Für den Positivismus ist das Recht ein autonomes, in sich geschlossenes, logisches System juristischer Kategorien, die streng von nicht-juristischen, etwa sozialen oder politischen Gesichtspunkten geschieden werden. Und so zielt die positivistische Methodik auf logisch deduktive, formale Auslegung und Anwendung positiven Rechts. Man muß nicht betonen, daß die angeblich „vom Politischen freie Begrifflichkeit alles andere als unpolitisch war“,224 daß Gerber und Laband „Apologeten“ der Machthaber ihrer Zeit waren225 und daß ihre

——————— 220 Bernhard Windscheid, Recht und Rechtswissenschaft. Greifswalder Universitäts-Festrede (1854), in: ders., Gesammelte Reden und Abhandlungen, hg. v. Paul Oertmann, Leipzig 1904, S. 3-24 (9). 221 Zum Rechtspositivismus Neil MacCormick/Ota Weinberger, An Institutional Theory of Law: New Approaches to Legal Positivism, 3. Aufl. Dordrecht 2010; José Juan Moreso (Hg.), Legal Theory. Legal Positivism and Conceptual Analysis, Stuttgart 2007; David Dyzenhaus, The Genealogy of Legal Positivism, in: Oxford Journal of Legal Studies 24 (2004), S. 39-67; Matthew H. Kramer, In Defense of Legal Positivism, Oxford 2003; Walter Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, 2. Aufl. Berlin 1992. 222 Paul Laband erlangte eine Bedeutung, die kaum ein anderer Jurist je erreicht hat und weit über den Rahmen seiner Disziplin hinausging. Ihm wurde von höchster Stelle bestätigt, die Vollendung seines wissenschaftlichen Werks werde als „wichtiges Reichsinteresse“ eingestuft (Laband, Lebenserinnerungen, Berlin 1918, S. 87). In seinen Lebenserinnerungen, einem peinlichen Dokument unerträglicher Selbstbeweihräucherung, berichtet er, wie Kaiser Wilhelm II. ihn bei einer Audienz lobte: „Sie sind ja einer der berühmtesten Männer. Alle Welt beruft sich auf Sie.“ (Ebd., S. 107.) Mit einer Vielzahl von Gutachten für deutsche und europäische Häuser nahm er Einfluß auf Thronfolge-, Hoheits- und Verfassungsfragen, etwa im Lippischen Thronfolgestreit, der durch den kinderlosen Tod des Fürsten Woldemar von Lippe-Detmold entstand. Dieser Streit sorgte für politisches Aufsehen und wurde selbst im Ausland mit Interesse verfolgt: So erfuhr Max Weber, selbst ein halber Lipper, auf seiner Amerikareise, wie „amerikanische Zeitungen mit ironischem Ergötzen von allen Stadien des lippischen Thronfolgestreits“ berichteten (Marianne Weber, Lebensbild, S. 335). 223 Dazu knapp Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 348ff. 224 Ulrich Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen in der neueren Staatslehre, in: Konrad Hesse u. a. (Hg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung, Tübingen 1962, S. 225-260 (228). 225 Claus-E. Bärsch, Die Rechtspersönlichkeit des Staates in der deutschen Staatslehre des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in: Gerhard Göhler u. a. (Hg.), Die Rationalität politischer Institutionen, Baden-Baden 1990, S. 423-442 (428).

4. Staat und Recht

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Lehre der konservativ-monarchischen Richtung diente.226 Es ist ein Gemeinplatz in der Literatur, daß die Gerber/Laband-Schule mit ihrem Credo der strengen Beschränkung auf die formale Interpretation und Anwendung des geltenden Rechts die herrschenden konservativ-monarchischen Verhältnisse zementieren half, ja daß sie die Legitimationsideologie des Wilhelminismus gestiftet habe.227 Gewiß marschierte der Rechtspositivismus nicht an der Spitze des gesellschaftlichen Fortschritts, wie überhaupt die Rechtswissenschaft dort selten anzutreffen ist. Das kommt nicht von ungefähr: „Die Berufspflicht der Wahrung bestehenden Rechts scheint die Rechtspraktiker“, wie Max Weber sagt, „generell in den Kreis der ‚conservativen‘ Mächte einzureihen.“228 Er ist hier, wie fast immer, wörtlich zu nehmen, da er ‚konservativ‘ im Sinne von ‚bewahrend‘ versteht, und zwar in durchaus positivem Sinne. Teilt er aber auch die „Grundmaxime des Rechtspositivismus, die den Juristen verpflichtet, nur das positive Recht ... anzuerkennen“?229 Dies scheint auf den ersten Blick der Fall zu sein. Er betont: „Wenn irgendjemand nicht geeignet ist, über das Seinsollen zu entscheiden, ist es der Jurist, der, will er ein Mann seiner Wissenschaft sein, Formalist zu sein verpflichtet ist.“230 Da Weber aber die Jurisprudenz streng von seiner Wissenschaft geschieden wissen will, kann man diese Aussage keinesfalls als Selbstbeschreibung werten. Max Weber ist sicherlich alles andere als ein erklärter Feind des Rechtspositivismus, dessen unaufhaltsames Vordringen er keineswegs bedauert. Seine Konzeption der legalen Herrschaft, beliebiges Recht könne durch formal korrekte Satzung geschaffen werden und beruhe nicht mehr auf der Geltung höherer Prinzipien, rekurriert sicherlich auch auf rechtspositivistische Vorstellungen.

——————— 226 Gewiß: „Die von der streng wissenschaftlichen Methode des Staatsdenkens behauptete Unabhängigkeit von weltanschaulichen und politischen Werturteilen ist nur Schein. In Wirklichkeit dient die ‚juristische Methode‘, dadurch daß sie sich auf die formale Bearbeitung des geltenden öffentlichen Rechts beschränkt und jede inhaltliche Kritik ausschließt, der Aufrechterhaltung der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung.“ (Peter von Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. Eine wissenssoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1974, S. 321) 227 So etwa Bärsch, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, S. 428; von Oertzen, Die soziale Funktion, bes. S. 281ff.; Scheuner, Das Wesen des Staates, bes. S. 227ff. – Nicht zu Unrecht sah Ernst Forsthoff den Rechtspositivismus „seit Jahrzehnten in die Rolle des bewährten Prügelknaben moderner Rechtsdogmatiker und billiger Besserwisserei verwiesen, die er schon deshalb nicht verdient, weil sich unter ihm und durch ihn die deutsche Rechtskultur auf ein Niveau erhoben hat, auf das man nur neidvoll zurückblicken kann“ (Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 15). 228 Weber, Recht, S. 612 (WuG 502). 229 Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 15f. 230 Weber, Das Verhältnis der Kartelle zum Staate (1905), in: Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. MWG I/8, S. 271.

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V. Archäologie des modernen Staates

So wurde er immer wieder in die Nähe des Rechtspositivismus gerückt,231 von Jürgen Habermas232 und Wolfgang Schluchter sogar umstandslos zum „Vertreter des Rechtspositivismus“233 erklärt. Aber ist er das tatsächlich? Allein die Kategorie der Legitimität, der Dreh- und Angelpunkt seiner Staats-, Herrschafts- und Rechtslehre, zeigt Webers prinzipielle Distanz zum Rechtspositivismus, in dessen Dogmatik diese Kategorie nicht existiert. Daß sein Staatsund Rechtsdenken mit rechtspositivistischen Maximen inkompatibel ist, beruht auf folgendem: Der Rechtspositivismus denkt Staat und Recht im Angesicht des bestehenden Rechts; Weber denkt Staat und Recht im Angesicht von Geschichte und Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Dem Rechtspositivismus geht es um das Recht an sich; Weber geht es um die historischen und sozialen, politischen und ökonomischen Wirkungen und Voraussetzungen des Rechts. Das rechtspositivistische Denken zielt auf Widerspruchsfreiheit; Weber zielt auf das Erklären und Verstehen der Widersprüche. Daher ist es ein grundlegendes Mißverständnis, ihn als Rechtspositivisten einzuordnen.234

5. Die Rationalisierung des Staates Max Webers staatstheoretischer Blick, der durch seine herrschafts- und rechtssoziologischen Studien geschärft wird, richtet sich auf ein Kriterium, das im Laufe der Entwicklung seines Staatsdenkens immer klarer hervortritt: die Rationalität. Dieses Kriterium ist, wie bereits skizziert wurde, im Grunde auch in seinem Staatsbegriff enthalten, wo der Staat als eine Anstalt definiert wird, die sich durch eine rational gesatzte Ordnung auszeichne.235 Eingehend wendet Weber sich dem Aspekt der Rationalität des Staates erst im staatstheoretischen Teil seiner späten Vorlesungen zu, die in der Max-Weber-Gesamtausgabe als Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ediert sind. Er stellt seinen Ausführungen einen prägnanten Satz voran, der das Ergebnis seiner

——————— 231

Rehbinder, Max Weber und die Rechtswissenschaft, S. 141; Fritz Loos, Max Webers Wissenschaftslehre und die Rechtswissenschaft, in: Rehbinder/Tieck, Max Weber als Rechtssoziologe, S. 170; Speer, Herrschaft und Legitimität, S. 40f., 76f.; Ott, Der Rechtspositivismus, S. 78f.; Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 124. 232 Für Jürgen Habermas steht die Existenz eines „Weberschen Rechtspositivismus“ von vornherein fest (Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 1, S. 355). 233 Wolfgang Schluchter, Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, Köln/Berlin 1968, S. 48. 234 Erst Weyma Lübbe betont mit Recht, Webers Konzeption der Legitimität kraft Legalität sei „kein rechtspositivistisches Konzept“ (Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 2). 235 Weber, WuG, S. 28.

5. Die Rationalisierung des Staates

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vergleichenden kulturgeschichtlichen Untersuchungen zusammenfaßt: „Staat im Sinne des rationalen Staates hat es nur im Okzident gegeben.“236 Auch in anderen Zusammenhängen betont Weber nachdrücklich diese historische und geographische Singularität. Wie er in der Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie sagt, kenne nur der Okzident einen Staat „im Sinn einer politischen Anstalt, mit rational gesatzter ‚Verfassung‘, rational gesatztem Recht und einer an rationalen, gesatzten Regeln“ orientierten Verwaltung.237 Er betrachtet den modernen Staat und dessen Institutionen unter dem Aspekt des okzidentalen Rationalisierungsprozesses. Seine berühmte Fragestellung, „welche Verkettung von Umständen“ dazu geführt habe, daß nur im Okzident spezifisch rationale Strukturen entstanden seien,238 richtet sich auch auf den modernen Staat. Dieser erscheint bei Weber als elementarer Bestandteil und zugleich als exemplarischer Fall des „spezifisch gearteten ‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“.239 Da Weber seine Untersuchungsgegenstände in den verschiedensten Kontexten unter dem Aspekt der Rationalisierung betrachtet, hat man diesen immer wieder als das Thema seines Werks gesehen. Den – unbemerkt gebliebenen – Auftakt hierzu gab Albert Dietrich, der bereits 1922 feststellte, Weber sei dem „Leviathan der Rationalisierung“ auf Schritt und Tritt nachgegangen.240 Siegfried Landshut bezeichnete wohl als erster expressis verbis die Rationalisierung als „Max Webers Forschungsthema“ und „Fragestellung“.241 Seither haben Generationen von Weberexegeten sie in den Mittelpunkt ihrer Interpretationen gestellt.242 Auch wenn Wilhelm Hennis diese Sichtweise mit einigen kritischen Einwänden relativiert hat,243 gilt Weber nach wie vor als „Theoretiker der Rationalisierung“, wie Wolfgang Schluchter sagt.244 Die Rationalisierung ist, wie Stefan Breuer resümiert, „nach Ansicht der meisten Interpreten die idée directrice“ seines Werks.245

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Weber, Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, S. 369. Weber, Vorbemerkung, in: RS I, S. 3f. 238 Ebd., S. 1. 239 Ebd., S. 11. 240 Albert Dietrich, Marx’ und Nietzsches Bedeutung für die deutsche Philosophie der Gegenwart, in: Die Dioskuren 1 (1922), S. 338-380 (369). 241 Siegfried Landshut, Kritik der Soziologie, München/Leipzig 1929, S. 35ff. 242 Dazu vor allem der reichhaltige Band von Sam Whimster/Scott Lash (Hg.), Max Weber, Rationality and Modernity, 2. Aufl. London 2006. Vgl. auch Portinaro, Il dibattito sulla razionalizzazione nella recente letteratura weberiana, in: Teoria Politica 1 (1985), S. 131-156. 243 Hennis, Max Webers Fragestellung, passim. 244 Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1991, S. 51. 245 Stefan Breuer, Max Webers tragische Soziologie, Tübingen 2006, S. 353. – Zur Rationalisierung bei Weber vgl. Pietro Rossi, Max Weber. Una idea di Occidente, Roma 2007, 237

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V. Archäologie des modernen Staates

Dabei ist die Rationalisierungsthese nur allzu oft in vulgarisierter Form als eine Art Geschichtsphilosophie oder Evolutionstheorie rezipiert worden. Dirk Kaesler weist zwar mit großem Nachdruck darauf hin, daß die Annahme einer „Evolutionstheorie“ ein „groteskes Mißverständnis des Weberschen Gesamtwerks“ sei,246 aber Mißverständnisse haben, zumal in der Weberliteratur, ein hartnäckiges Beharrungsvermögen. So beklagt auch Wilhelm Hennis, es gehöre „zum schwer Begreiflichen der gegenwärtigen Weberforschung, daß so unterschiedliche Geister wie Friedrich Tenbruck, Wolfgang Schluchter und Jürgen Habermas nicht davon lassen können, in Webers Werk evolutionstheoretische Elemente zu entdecken“.247 In der Tat geht Weber keineswegs davon aus, daß die historische Entwicklung des Abendlandes einer Teleologie folge, die zwangsläufig in Richtung Rationalisierung fortschreite. Darin ist er ein weiteres Mal Nietzsche verpflichtet, der nichts von jener „naiven Teleologie“ hält,248 welche – als eine säkularisierte Theologie – „nach alter Gewöhnung“ an eine „Historie mit einem immanenten Geist“ glaube.249 Weber ist kein unbedingter Apologet des okzidentalen Rationalismus, sondern interessiert sich für die soziologische Analyse dieses Phänomens, seine Auswirkungen auf das Handeln der Menschen und die Strukturform und Funktionsweise staatlicher Institutionen. Gleichwohl ist in seinen fragmentarischen Skizzen zum rationalen Staat durchaus ein selbstbewußter Okzidentalismus zu erkennen, der den Staat als eine Errungenschaft der europäischen Neuzeit demonstriert.250 In Webers Staatsbegriff taucht das Kriterium des Rationalen zwar

——————— S. 115ff., 177ff; Rogers Brubaker, The Limits of Rationality. An Essay on the Social and Moral Thought of Max Weber, 2. Aufl. London 2006; Guenther Roth, Rationalization in Max Weber’s Developmental History, in: Whimster/Lash (Hg.), Max Weber, Rationality and Modernity, S. 75-91; Alan Sica, Weber and the Meaning of Rationalization, in: ders. Max Weber & the New Century, New Brunswick 2004, S. 105-129; Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 239ff.; ders., Religion und Lebensführung, Bd. 1, S. 102ff.; Martin Albrow, Max Weber’s Construction of Social Theory, London 1990, S. 114ff., 177ff.; Ann Swidler, The Concept of Rationality in the Work of Max Weber, in: Sociological Inquiry 43 (1973), S. 35-42. 246 Dirk Kaesler, Vorwort, in: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe, hg. v. Dirk Kaesler, München 2004, S. 7-64 (53). 247 Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 203f. 248 Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, 9. Aufl. München 1982, Bd. III, S. 552. 249 Ebd., S. 554. 250 Mit der Bindung des Staates an das Kriterium der Rationalität steht Weber in der Tradition Bodins, der dieses Merkmal in den Staatsbegriff der lateinischen Fassung seiner Six Livres (1586) aufnimmt: „Respublica est familiarum rerumque inter ipsas communium summa potestate ac ratione moderata multitudo.“ (Bodin, Sechs Bücher über den Staat, hg. v. Peter C. Mayer-Tasch, Bd. 1, München 1981, S. 578) In der ursprünglichen französischen Fassung von 1576 fehlt das Element des Rationalen noch: „Republique est un droit gouvernement de plusieurs mesnages, & de ce qui leur est commun, avec piussance souveraine.“ (S. 577)

5. Die Rationalisierung des Staates

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nicht expressis verbis auf, aber es wird in den Ausführungen in der Religionssoziologie und in den späten Vorlesungen so prononciert herausgehoben, daß es den Rang eines elementaren Merkmals des Staates beanspruchen kann. Die Klassifizierung des modernen Staates als einer spezifisch rationalen Form politischer Herrschaft gehört – mit oder ohne Bezug auf Weber – zum unstrittigen Gemeingut der Staatslehre. Schon Carl Schmitt sah „das Arcanum des Wortes Staat“ in „der Verbindung mit der Ratio“.251 Auch die Staatslehre der Gegenwart ist Weber insofern treu geblieben, als sie die Entwicklung des modernen Staates als einen „Prozess der Rationalisierung“ sieht,252 die rationale Legitimitätsgrundlage des modernen Staates hervorhebt253 und den Staat als eine zweckrationale Organisation einstuft.254 Was sich von der Staatslehre sagen läßt, gilt erst recht für die Soziologie. Bereits Norbert Elias hat Webers Theorie bestätigt und in seinem großen Werk detailliert die Rationalisierung staatlicher Institutionen illustriert.255 Die Diagnose, das Betriebssystem des Staates sei in erster Linie durch Rationalität codiert,256 ist repräsentativ. „Soziologen, die sich theoretisch auf Max Weber berufen, betrachten den Staat als Ergebnis einer langsamen Rationalisierung“, die sich insbesondere in einer sachlichen, „gesatzten Regeln folgenden Verwaltung“ äußere.257 Die Entstehung des modernen Staates ist für Max Weber zwar kein linearer, aber doch fortschreitender Prozeß der Monopolisierung, Rationalisierung und Versachlichung der Herrschaftsausübung. Das vorläufige Endstadium dieser Entwicklung, der „Kosmos der rationalen Staatsanstalt“, sei geprägt von einer Herrschaft unpersönlicher Gesetze und Regeln, in deren Rahmen sich die „moderne Gewaltordnung“ vollziehe. Wenn Weber von der Rationalisierung staatlicher Herrschaft spricht, redet er auch von ihren korrespondierenden Aspekten der Versachlichung und Verrechtlichung der Herrschaft: „Zunehmend versachlicht sich die innerpolitische Gewaltsamkeit zur ‚Rechtsstaatsordnung‘“, wie er

——————— 251 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hg. v. Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, S. 139. 252 Andreas Voßkuhle, Das Konzept des rationalen Staates, in: Gunnar Folke Schuppert/ Andreas Voßkuhle (Hg.), Governance von und durch Wissen, Baden-Baden 2008, S. 13-32 (13). 253 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. Stuttgart 2003, S. 23. Vgl. auch Matthias Herdegen, Staat und Rationalität. Zwölf Thesen, Paderborn 2010. 254 Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR, hg. v. Josef Isensee/Paul Kirchhof, Bd. II, 3. Aufl. Heidelberg 2004, S. 3-106 (50). 255 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und Psychogenetische Untersuchungen, 2. Bd., 8. Aufl. Frankfurt a. M. 1981, S. 336ff. 256 Gianfranco Poggi, The State. Its Nature, Development and Prospects, 4. Aufl. Cambridge 2010, S. 183. 257 Georges Balandier, Politische Anthropologie, München 1976, S. 153.

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V. Archäologie des modernen Staates

mit Blick auf jene Interdependenz sagt.258 Die Rationalität, die Weber meint, ist die formale Rationalität;259 um eben diese geht es ihm, wenn er von der Rationalität des Staates, der Verwaltung, der Bürokratie und des Rechts spricht. Sie ist nach seinem Verständnis nicht nur ein entscheidendes Kriterium, sondern auch das Herz des modernen Staates.260 Und so ist für ihn auch die Entstehung des modernen Staates, wie Norberto Bobbio sagt, „durch einen Prozeß formaler Rationalisierung gekennzeichnet“.261 Weber betrachtet aber auch die Gegenreaktionen, die durch den Prozeß der Rationalisierung provoziert werden. Zu den Gegenreaktionen auf die „Gewaltsamkeitsrationalisierung“, welche überall dort aufgetreten seien, wo der rationale Staat sich entfaltete, zählt er vor allem die „Flucht in die Irrationalitäten des apolitischen Gefühls“ oder die Flucht in die Mystik.262 Demnach endet also die Rationalisierung politischer Herrschaft nicht in einem Reich absolut rationaler Herrschaft, sondern sie ist immer wieder Gegenreaktionen ausgesetzt, die sie zwangsläufig stets erneut in Frage stellen. Nach seinem Verständnis kann der Staat nur so rational sein, wie es das Handeln und Denken der Menschen ist. Er könnte den Staat, anders als Hegel, kaum als „das an und für sich Vernünftige“263 begreifen, sondern nur als einen herrschaftlich strukturierten Zustand, der nicht a priori vernünftig sein kann, geschweige denn sein muß. Wohl aber könnte er Hegel darin folgen, daß der Staat „in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums“ steht,264 also auch in der Sphäre der Widersprüche und des Irrationalen. Da die Rationalisierung für Weber stets nur Teilsegmente der politischen und geistigen Wirklichkeit erfaßt, ist die Vorstellung, die man sich gemeinhin von seiner Theorie gemacht hat, unhaltbar, gilt doch sein Interesse mindestens ebenso der Bedeutung irrationaler Motive menschlichen Handelns. Gerade die

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Weber, Religiöse Gemeinschaften. MWG I/22-2, S. 401 (WuG 361). Zum Verhältnis von formaler und materialer Rationalität vgl. Duncan Kennedy, The Disenchantment of Logically Formal Legal Rationality, S. 337ff.; Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 22ff.; Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 239ff.; Martin Albrow, Max Weber’s Construction of Social Theory, S. 178ff.; Arnold Eisen, The meanings and confusions of Weberian ‚rationality‘, in: British Journal of Sociology 29 (1978), S. 57-70 (61ff.). 260 Anders Martin Kriele; er meint, die „materiale Rationalität“ sei „der Motor, der seit Beginn der Neuzeit die Weltgeschichte treibt“, „das schlagende Herz des modernen Staates“ (Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 324). Nach Webers Verständnis ist genau dies nicht der Fall. 261 Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, S. 125. 262 Weber, Religiöse Gemeinschaften. MWG I/22-2, S. 402 (WuG 362. 263 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Stuttgart 1970, S. 387 (§ 258). 264 Ebd., S. 394. 259

5. Die Rationalisierung des Staates

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Emotionalisierung und Irrationalisierung politischen Handelns spielt eine erhebliche Rolle in der Dynamik politischer Prozesse. Es ist allerdings aufschlußreich, daß Max Weber nur von den „Irrationalitäten des apolitischen Gefühls“ spricht, nicht aber von denen des politischen Gefühls. Er sagt zwar, die Masse sei stets der „emotionalen und irrationalen Beeinflussung ausgesetzt“ und folge dieser auch bereitwillig,265 aber er bezieht dies nicht auf den großen Mobilisierungsfaktor kollektiver Massenemotionen im 19. und 20. Jahrhundert: den Nationalismus. Das beruht wohl nicht zuletzt darauf, daß er seinen letzten Wert der Nation nicht mit blankem Irrationalismus in Verbindung bringen will.266 Politische Rationalisierung und politische Irrationalisierung sind indes sehr eng miteinander verknüpft. Die politische Moderne ist nicht zuletzt deshalb janusköpfig, weil ihr rationalisiertes Antlitz zugleich durch Phänomene irrationaler Mobilisierung geprägt ist. Parallel zur Rationalisierung setzt sich stets von neuem eine Irrationalisierung durch, auch in extremen Spielarten des modernen Nationalismus. So stellt bereits Heinz O. Ziegler fest, der „Rationalisierungsprozeß der Gesellschaft“ habe erst „den neuen Mythos der Nation freigesetzt“.267 In unverkennbarer Anspielung auf Weber betont er gegenüber jenen Lehren, die den „Rationalisierungsprozeß“ als eigentliches Merkmal der Moderne sehen, „daß gleichzeitig sich ein Irrationalisierungsprozeß abgespielt hat und weiter abspielt“. Er hält das „einseitige Bild einer sich immer mehr rationalisierenden Gesellschaft“ für „völlig unzutreffend“, da gerade „im Zusammenhang und teilweise sogar als Folge der ‚Rationalisierung‘“ sich „eine Emotionalisierung des politischen Verhaltens“ und eine Mythisierung der Geschichte durchgesetzt habe.268 Ziegler beschreibt treffend die Verstrickung von Rationalismus und Irrationalismus, aber seine gegen Weber gerichtete Schlußfolgerung, der Rationalisierungsprozeß müsse „relativiert“ werden,269 greift zu kurz. Der historische Zusammenhang von politischer Rationalisierung und Irrationalisierung muß vielmehr als eine Dialektik der Rationalisierung begriffen werden, da die Versachlichung und Rationalisierung des Politischen im „Kosmos der rationalen Staatsanstalt“ erst die Voraussetzung für jene modernen Irrationalisierungen schafft, die seit dem frühen 19. Jahrhundert besonders in extremen Formen des Nationalismus heranwuchsen und bis heute virulent sind. Das heißt nicht, daß

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Weber, Parlament und Regierung, S. 549 (PS 404). Zum Thema Irrationalismus bei Weber siehe Kennedy, The Disenchantment of Logically Formal Legal Rationality, S. 324ff.; Alan Sica, Weber, Irrationality, and Social Order, Berkeley 1988. 267 Heinz O. Ziegler, Die moderne Nation. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Tübingen 1931, S. 258. 268 Ebd., S. 231. 269 Ebd., S. 259. 266

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V. Archäologie des modernen Staates

Nationalismus immer und von vornherein irrational sein muß, sondern nur, daß er ein entscheidender Mobilisierungsfaktor kollektiver Irrationalisierung sein kann. Es waren gerade die Brüche des Rationalisierungsprozesses, die irrationalen Phänomene und Entwicklungen, von denen Weber zeit seines Lebens fasziniert war,270 eine Faszination, der er sich in seinen letzten Lebensjahren auch persönlich weder entziehen konnte noch entziehen wollte.271 Die Ereignisse etwa im August 1914, die ihn alles andere als unberührt ließen, sind ein Beispiel für eine solche Eruption, die augenblicklich alle „Rationalität“ zunichte machte.

——————— 270 Kaesler, Vorwort, in: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 53. 271 Dazu instruktiv Joachim Radkau, Max Weber, bes. S. 539ff., 614ff. u. 699ff.

Die Maschine lehrt durch sich selber das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Aktionen, wo jeder nur eins zu tun hat: sie gibt das Muster der Partei-Organisation und der Kriegsführung. ... sie macht aus vielen eine Maschine, und aus jedem einzelnen ein Werkzeug zu einem Zwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist: den Nutzen der Zentralisation zu lehren. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches

VI. Der Staat als Maschine Betrachtet man die Kontexte, in denen Max Weber vom Staat und staatlichen Institutionen spricht, stößt man auf Bilder und Analogien, die in einem ganz bestimmten metaphorischen Feld angesiedelt sind. Der moderne Staat erscheint als Maschine, Mechanismus, Apparat, Betrieb oder Fabrik. Das rationale Recht lasse sich berechnen „wie eine Maschine“,1 die Leistung von Justiz und Verwaltung sei wie die einer „Maschine“ kalkulierbar,2 die Bürokratie arbeite „wie jede Maschine“,3 ihre Beamten seien Glieder in einem „rastlos weiterlaufenden Mechanismus“,4 und auch die politischen Parteien seien nichts anderes als „Maschinen“.5 Max Weber ist zweifellos ein großer Metaphoriker. Bei seinen bekanntesten Wendungen handelt es sich um Metaphern, die seit langem zu geflügelten Worten geworden sind, man denke etwa an das inzwischen inflationäre ‚Gehäuse der Hörigkeit‘ oder an die nicht weniger beliebte ‚Entzauberung der Welt‘. Wenn er den Charakter des Staates und seiner Institutionen illustriert, greift er fast ausschließlich zu technischen Bildern, vor allem zu dem der Maschine, so daß der Eindruck einer staatlichen Welt entsteht, die zur Maschine geworden ist. Nach Carl Schmitt läßt sich bei jedem Denker ein „Grundbild“ feststellen, welches „für seine geistige Eigenart charakteristisch ist“.6 Ist die

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Weber, Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. MWG III/6, S. 372. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: Zur Politik im Weltkrieg. MWG I/15, S. 453 (PS 322). 3 Weber, Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden (1909), in: Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. MWG I/8, S. 362. 4 Weber, Herrschaft, MWG I/22-4, S. 208 (WuG 570). 5 Weber, Politik als Beruf, in: MWG I/17, S. 208ff. (PS 535ff.). Auch die Sozialdemokratie sei „ersichtlich im Begriff, sich in eine gewaltige bureaukratische Maschine zu verwandeln“ (Weber, Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte (1907), in: Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. MWG I/8, S. 307). 6 Carl Schmitt, Zu Friedrich Meineckes „Idee der Staatsräson“ (1926), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles, Hamburg 1940, S. 45-51 (49). 2

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VI. Der Staat als Maschine

Maschine ein solches Grundbild Webers? Er ist jedenfalls mit großer Einhelligkeit stets als paradigmatischer Vertreter einer technizistischen Staatsauffassung eingestuft worden.7 Daß er nur „die maschinenhafte Seite“ des Staates sehe, hat bereits Friedrich Meinecke moniert,8 und noch Wilhelm Hennis resümiert, daß man Weber hart die „technische“ Einstellung zum Staat ankreide.9 Auf den ersten Blick lassen seine Äußerungen in der Tat an der Berechtigung dieser Urteile keinen Zweifel. Diese Urteile wurden jedoch, getreu dem tradierten Rezeptionsverfahren der Weberliteratur, ohne eine Berücksichtigung der Kontexte gefällt, in denen er von der Maschine spricht, ja sogar stets ohne irgendeinen Textbezug. Um sein Maschinenstaatsdenken beurteilen zu können, ist es aber erforderlich, die betreffenden Werkkontexte zu betrachten und nach den Konsequenzen zu fragen, die sich daraus für sein Staatsdenken ergeben. Nicht zuletzt ist der metaphorische Charakter der Maschinenanalogie zu berücksichtigen, so daß wir uns zunächst auf das Gebiet der Metaphorologie bewegen müssen.

1. Die Metapher der Staatsmaschine Die Frage der Verwendung von Metaphern hat Philologen wie politische Denker seit je her beschäftigt und ist keineswegs unumstritten. So meint etwa Thomas Hobbes, nur „exakte Definitionen“ seien „das Licht des menschlichen Geistes“, während „Metaphern und sinnlose und zweideutige Wörter wie Irrlichter“ seien.10 Da er aber bei dieser Begründung ausgerechnet einen metaphorischen Vergleich heranzieht, handelt es sich hier womöglich um einen Fall Hobbes’scher Selbstironie.11 Auch der Titel seines Leviathan – für Carl Schmitt ein „aus gutem englischem Humor geborener, halbironischer, literarischer Einfall“12 – ist nichts anderes als eine Metapher, überdies eine der wirkungsmäch-

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Dazu Gerhard Hufnagel, Kritik als Beruf. Der kritische Gehalt im Werk Max Webers, Frankfurt/Berlin/Wien 1971, S. 172ff. 8 Friedrich Meinecke, Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik (1922), in: ders., Staat und Persönlichkeit, Berlin 1933, S. 136-169 (164). 9 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, S. 216. 10 Thomas Hobbes, Leviathan, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1984, S. 37. 11 Hobbes ist also keineswegs der große Metaphern-Feind, als der er meist gehandelt wird. Vgl. James Willson-Quayle, Resolving Hobbes’s Metaphorical Contradiction, in: Philosophy and Rhetoric 29 (1996), S. 15-32; Karen S. Feldman, Conscience and the Concealments of Metaphor in Hobbes’s Leviathan, in: Philosophy and Rhetoric 34 (2001), S. 21-37. 12 Carl Schmitt, Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes, in: ARSP 30 (1936/37), S. 622-632 (625). Dazu Andreas Anter, Das Lachen Carl Schmitts. Philologischästhetische Aspekte seiner Schriften, in: Literaturmagazin 33 (1994), S. 153-265 (154f.).

1. Die Metapher der Staatsmaschine

217

tigsten der politischen Moderne. Die Geschichte des politischen Denkens ist zugleich die Geschichte politischer Metaphorik. Alle großen Staatstheoretiker haben sich bestimmter Bilder und Analogien bedient, und ihr Erfolg beruhte nicht zuletzt auch auf wirkungsvollen und einprägsamen Metaphern. Daß über den Staat seit je her metaphorisch gesprochen wird, kommt nicht von ungefähr. Kant meint, man könne sich den Staat nur „symbolisch“ vorstellen, da dieser sich „unmittelbarer Anschauung“ entziehe, und führt als Beispiel an, daß man den Staat als „eine bloße Maschine“ darstelle.13 Wenn Reinhart Koselleck von der Geschichtswissenschaft sagt, sie lebe „nur von der Metaphorik“, „da sich alles, was temporal formuliert sein will, an die sinnlichen Substrate der natürlichen Anschauung anlehnen muß“,14 gilt ähnliches auch für die Staatslehre und die Politikwissenschaft. Die Sprache selbst ist, wie Shelley weiß, „wesentlich metaphorisch“.15 Man kann „ohne Metaphern nicht denken“, wie Harald Weinrich sagt.16 So kommt ihnen auch im Prozeß der wissenschaftlichen Theoriebildung eine konstitutive Funktion zu, selbst dort, wo es scheinbar um „ausschließlich terminologische Aussagen“ geht.17 Dies ist auch bei Max Weber der Fall. Bei der Betrachtung seines Maschinenstaatsdenkens muß man sich der Rolle und Funktion der Metaphorik bewußt sein. Metaphern wollen nicht nur interessante Vergleiche liefern, sondern sie wollen Argumente sein.18 Max Webers Sicht des Staates als Maschine ist weitaus mehr als eine Analogie-, sondern eine Identifikationsfeststellung, da sie

——————— 13 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Darmstadt 1963, S. 460. Kants Bemerkung wurde für die Metaphorologie wegweisend. Vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: ABG 6 (1960), S. 7-142 (10f.); Paul de Man, Epistemologie der Metapher, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, 2. Aufl. Darmstadt 1996, S. 414437 (431ff.); Georg Schöffel, Denken in Metaphern. Zur Logik sprachlicher Bilder, Opladen 1987, S. 141f.; Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986, S. 9. 14 Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, S. 298-316 (305). 15 Percy B. Shelley, Verteidigung der Poesie (1840), in: ders., Ausgewählte Werke. Dichtung und Prosa, hg. v. Horst Höhne, Frankfurt a. M. 1990, S. 621-665 (624). Shelleys Urteil ist später von einer uferlosen Literatur der Metaphernforschung bestätigt worden. Vgl. William Franke, Metaphor and the Making of Sense: The Contemporary Metaphor Renaissance, in: Philosophy and Rhetoric 33 (2000), S. 137-153; für einen Überblick Andrew Ortony (Hg.), Metaphor and Thought, 2. Aufl. Cambridge 1993; Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, 2. Aufl. Darmstadt 1996. 16 Harald Weinrich, Linguistik der Lüge, 7. Aufl. München 2007, S. 43f. – Das Wort „Metapher“ (von gr. metaphorein = übertragen) ist, natürlich, selbst eine Metapher. Zu etymologischen Aspekten siehe de Man, Epistemologie der Metapher, S. 419. 17 Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 69. 18 Dies wird am schönsten dementiert bei Walter Scott: „Metaphors are no arguments, my pretty maiden.“ (Scott, The Fortunes of Nagel (1822), Roman, Edinburgh 2004, S, 208)

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VI. Der Staat als Maschine

nicht nur den Charakter des Staates illustrieren, sondern eine empirische Beschreibung leisten will. Dieser Anspruch ist bereits bei den ersten Theoretikern zu erkennen, die die Staatsmaschinenmetapher verwenden, so daß Weber in einer ebenso alten wie ehrwürdigen Tradition steht. Nachdem Francis Bacon wohl als erster die Staaten als „great engines“ beschreibt19 und der Leviathan bei Thomas Hobbes in Gestalt „einer großen Maschine“ erscheint,20 tritt die Staatsmaschine im politischen Denken des 18. Jahrhunderts ihren Siegeszug an und wird zu der Metapher schlechthin.21 In dieser Zeit werden mechanische Topoi zu Gemeinplätzen, etwa bei Montesquieu22 oder bei Rousseau, der den „législateur“ als den „mécanicien qui invente la machine“ versteht.23 Die unaufhaltsam sich vollziehende „völlige Mechanisierung der Staatsvorstellung“, in deren Folge der Staat zur „großen Maschine“ schlechthin wird,24 kann man mit Max Weber als Ausdruck

——————— 19 Francis Bacon, The Advancement of Learning (1605), in: The Works of Francis Bacon, Bd. III, London 1859, S. 445. 20 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938, S. 48. Während Carl Schmitt dies sogar für den „Kern seiner Staatsphilosophie“ hält (Schmitt, Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes, S. 624), hat Bernard Willms hingegen betont, bei Hobbes werde die Staatsmaschinenmetapher „nicht in die Systematik der philosophischen Konstruktion“ eindringe (Willms, Die Angst, die Freiheit und der Leviathan, in: Udo Bermbach/Klaus-M. Kodalle (Hg.), Furcht und Freiheit. Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Thomas Hobbes, Opladen 1982, S. 88). Die Wahrheit liegt, wie meistens, in der Mitte. Hobbes spricht zwar nur am Anfang des Leviathan expressis verbis vom Staat als einer Maschine, aber nach „dem Geist dieses Buches“ ist die Analogie von Staat und Maschine „überall gegenwärtig“, wie Otto Mayr treffend urteilt (Mayr, Uhrwerk und Waage. Autorität, Freiheit und technische Systeme in der frühen Neuzeit, München 1987, S. 129). 21 Dazu vor allem die brillante, urteilssichere und philologisch präzise Studie von Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986. Vgl. Alan Scott, Modernity’s Machine Metaphor, in: British Journal of Sociology 48 (1997), S. 561-575; belanglos Stefan Smid, Recht und Staat als „Maschine“. Zur Bedeutung einer Metapher, in: Der Staat 27 (1988), S. 325ff.; rein deskriptiv Mayr, Uhrwerk und Waage, S. 127ff.; Dietmar Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, München 1983, S. 489ff., 563ff. u. 882ff.; Wilhelm Schmidt-Biggemann, Art. Maschine, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel 1980, Sp. 795f.; Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte, München 1978, S. 271ff. 22 Dazu Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, S. 152ff.; Ahlrich Meyer, Mechanische und organische Metaphorik politischer Philosophie, in: ABG 13 (1969), S. 128-199 (177f.); Walter Kuhfuss, Mäßigung und Politik. Studien zur politischen Sprache und Theorie Montesquieus, München 1975, S. 37ff. 23 Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social ou Principes du droit politique, in: The Political Writings of J. J. Rousseau, hg. v. C. E. Vaughan, Bd. II, Oxford 1962, S. 51 (in der dt. Ausgabe, Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1958, S. 73). 24 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 53f.

1. Die Metapher der Staatsmaschine

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des okzidentalen Rationalisierungsprozesses werten, welcher sich auch auf dem Gebiet der politischen Metaphorik niederschlägt. Die Staatsdenker des Kameralismus machen endgültig die ‚Maschine‘ zum bewegenden Element ihrer Staatskonstruktionen und profilieren sich als regelrechte Maschinenstaatstheoretiker. Johann Heinrich Gottlob von Justi, der die „Staatsmaschine“, die in seinem Werk überall gegenwärtig ist, in Deutschland „zum Schlagwort werden“ läßt,25 erhebt erstmals den Anspruch, mit ihr eine empirische Beschreibung des Staates zu leisten: „Nichts ist einer Maschine so ähnlich, als ein wohl eingerichteter und mit einer weisen Regierung versehener Staat.“26 Dieser Standpunkt durchzieht leitmotivisch die kameralistische Literatur, die bereits Ansätze technologischen Denkens zeigt.27 Sie erhebt die Mechanisierung der Staatstheorie zum Programm, wie es wohl am prononciertesten bei August Ludwig Schlözer zum Ausdruck kommt: „Die instructivste Art, StatsLere abzuhandeln, ist, wenn man den Stat als eine künstliche, überaus zusammengesetzte Maschine, die zu einem bestimmten Zwecke gehen soll, behandelt.“28 Die gesamte Staatslehre des 18. Jahrhunderts steht im Zeichen der Maschine, die der „signifikante Topos“29 dieser Epoche ist. Im aufgeklärten Absolutismus, der „den Ausdruck ‚Staatsmaschine‘ liebt“, wie Wilhelm Roscher feststellt,30 korrespondiert das Ideal der Maschine mit der Wirklichkeit eines Staates, der bereits mechanisch-bürokratische Züge anzunehmen beginnt. Preußen ist hier ein besonders deutlicher Fall. Friedrich der Große, zu dessen Lieblingsworten die „Staatsmaschine“ gehört,31 ist zugleich der Regent der ersten Staatsmaschine großen Stils, ja „der erste und größte Staats-Mechaniker, den die Welt

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Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, S. 80. Johann Heinrich Gottlob von Justi, Gesammlete Politische und Finanzschriften über wichtige Gegenstände der Staatskunst, der Kriegswissenschaften und des Cameral- und Finanzwesens, Bd. 1, Kopenhagen/Leipzig 1761, S. 102. 27 Dies hat vor allem Ulrich Troitzsch, Ansätze technologischen Denkens bei den Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1966, gezeigt. Dieses Denken kommt idealtypisch zum Ausdruck bei Johann Beckmann, Anleitung zur Technologie, oder zur Kentniß der Handwerke, Fabriken und Manufacturen (1777), 2. Aufl. Göttingen 1780. In diesem Buch, dessen Titel bereits programmatisch ist, darf eine Feststellung selbstverständlich nicht fehlen: „Alsdann ist der Staat die künstlichste Maschine, die jemals Menschen zu Stande gebracht haben, in der eine Menge grosser und kleiner Räder und Getriebe in einander eingreifen.“ (Ebd., Vorrede, unpaginiert) 28 August Ludwig Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, Göttingen 1793, S. 3f. 29 Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, S. 14. 30 Wilhelm Roscher, Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, München 1874, S. 381. 31 Zur Bedeutung der Staatsmaschine in den Schriften Friedrichs II. siehe Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, S. 65ff.; Mayr, Uhrwerk und Waage, S. 132ff. 26

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VI. Der Staat als Maschine

gesehen“, wie Adam Müller kritisch vermerkt.32 Kein Staat ist, wie Novalis sagt, „mehr als Fabrik verwaltet worden“ denn Preußen,33 das aufgrund seiner bürokratischen Verwaltungsstruktur, angefangen von den oft polemischen zeitgenössischen Stimmen bis in die heutige Literatur, als Paradigma der Staatsmaschine gilt. Auch etwa für Karl Heinzen, den anarchistischen Bürokratiehasser, war „die preußische Büreaukratie die organisirteste Maschine der Welt“,34 die er am liebsten mitsamt ihren Staatsdienern in die Luft gesprengt hätte.35 Der „Godfather of Terrorism“ (Walter Laqueur) verwendete die Maschinenmetapher als polemischen Kampfbegriff gegen den preußischen Staat, mit dem er unweigerlich in Konflikt geraten mußte.36 Für den Anarchisten wie auch die Romantiker hatte die preußische Verwaltung die „unerbittliche Konsequenz einer Maschine“.37 Da die Maschine, von der etwa Justi spricht, sich gewiß von derjenigen unterscheidet, die Weber vor Augen hat, und da die Maschinenmetapher wie jede andere an die Vorstellungswelt ihrer Zeit gebunden ist,38 kann man Weber sicherlich nicht umstandslos in die Tradition der Kameralisten stellen. Wohl aber ist danach zu fragen, welche grundsätzlichen Parallelen und Affinitäten hinsichtlich der Implikationen des Staatsdenkens bestehen. Die Metaphorik läßt zweifellos Schlüsse auf das ihr zugrundeliegende Staatsverständnis zu. Definiert man den Staat als Maschine, mißt man ihn auch am Kriterium der Maschine, ihrer technischen Effizienz und Funktionalität. Projiziert Weber also, wie die Kameralisten, ein technisches Ideal auf den Staat? Liegt seiner Sicht eine mechanistische Staatsauffassung zugrunde? Die Bejahung dieser Frage liegt nahe, betont er doch oft genug, daß er staatliche Fragen stets unter technischen Gesichtspunkten betrachte. Die Faszination der Maschine begegnet uns in seinem Werk auf Schritt und Tritt. Wenn er Maschi-

——————— 32 Adam Müller, Friedrich der Große und Preußen, in: ders., Schriften zur Staatsphilosophie, hg. v. Rudolf Kohler, München o. J. (1923), S. 110. 33 Novalis, Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (1798), in: ders., Schriften, 2/I, hg. v. Richard Samuel, Stuttgart 1981, S. 485-498 (494). 34 Karl Heinzen, Die Preußische Büreaukratie, Darmstadt 1845, S. 134. 35 Seine Losung lautete: „Wenn du einen halben Kontinent in die Luft sprengen und ein Blutbad anrichten mußt, um die Partei der Barbaren zu zerstören, hab keine Gewissensbisse“ (zit. n. der engl. Fassung bei Carl Wittke, Against the Current. The Life of Karl Heinzen [1809-1880], Chicago 1945, S. 74). 36 Die „büreaukratische Maschinerie“ und die preußische „Militärmaschinerie“ waren für ihn ein und dasselbe (Heinzen, Die Preußische Büreaukratie, S. 104). Er emigrierte schließlich nach Amerika, wo er weiterhin radikale Zeitungen herausgab. Vgl. Heinzen, Gesammelte Schriften, 5 Bde, New York/Boston 1858-74. 37 Heinzen, Die Preußische Büreaukratie, S. 112. 38 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 70, weist besonders nachdrücklich auf die Historizität der Maschinenmetapher hin.

1. Die Metapher der Staatsmaschine

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nelles wahrnimmt, sieht er offenbar eine große Überlegenheit, da es als das Rationalere, Schnellere, Präzisere und Effektivere erscheint. Wohl am deutlichsten zeigt sich dies bei seiner Bewertung der Bürokratie. Als entscheidenden Grund für deren Vordringen sieht er die „technische Überlegenheit“ gegenüber allen nichtbürokratischen Organisationsformen, zu denen sie sich „genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugung“ verhalte.39 Die Überlegenheit ist also keineswegs eine absolute, sondern eben nur eine technische, da das Maschinelle nicht das Rationale oder Effektive schlechthin ist, sondern nur das Rationalere oder Effektivere im Vergleich zum Nichtmechanischen. Diese Relativität ist bei Max Weber stets zu beachten. Dabei stehen die Vorzüge des Maschinellen für ihn offenbar außer Frage: „Es gibt“, wie er sagt, „nichts in der Welt, keine Maschinerie der Welt, die so präzis arbeitet, wie diese Menschenmaschine es tut – und dazu noch so billig!“40 Auch seine Vorstellung von Demokratie ist am Ideal der Maschine orientiert, da es für ihn nur die Alternative „Führerdemokratie mit ‚Maschine‘ oder führerlose Demokratie“ gibt.41 Diese Faszination der Maschine ist bis in Webers Jugendzeit zurück zu verfolgen. Wenn wir dem Urteil seiner Frau vertrauen dürfen, war der „schließliche Ertrag der militärischen Erziehung“ während der Dienstzeit in Straßburg „eine große Bewunderung für die ‚Maschine‘“.42 Im Frühwerk ist diese Bewunderung bereits in einer seiner ersten Publikationen zu spüren, einer Rezension, in der er Friedrich Naumanns rückhaltlose Bejahung der Technik lobt und besonders ein Naumann-Zitat hervorhebt: „Gott will die Maschine“.43 Anders als der technikbegeisterte Theologe Naumann würde Weber der Maschine sicherlich nicht diese allerhöchsten Weihen verleihen. Aber in säkularisierter Form hat sein Urteil ähnliche Konsequenzen, nämlich die der Unaufhaltsamkeit und Unvermeidlichkeit. Das gilt auch und gerade für die Mechanisierung des Staates. So hält er 1917 auf der Lauensteiner Tagung Max Maurenbrechers Vision einer Überwindung der „Mechanisierung“ in einem Idealstaat entgegen, diese „Mechanisierung“ sei unaufhaltsam und könne auch durch einen noch so schön ausgedachten Staat nicht überwunden werden.44

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Weber, Herrschaft, S. 185 (WuG 561). Weber, Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden (1909), in: Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. MWG I/8, S. 361. 41 Weber, Politik als Beruf, S. 224 (PS 544). 42 Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, 2. Aufl. Heidelberg 1950, S. 90. 43 Weber, Was heißt Christlich-Sozial? (1894), in: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. MWG I/4, S. 351. 44 Weber, Vorträge während der Lauensteiner Kulturtagungen (1917), in: MWG I/15, S. 702 u. 706. 40

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VI. Der Staat als Maschine

Sowohl Webers Sicht des Staates als Maschine als auch seine These der Unaufhaltsamkeit der Mechanisierung stehen im Kontext seiner Interpretation des Staates als Bestandteil des okzidentalen Rationalisierungsprozesses. Nach seinem Verständnis vollzieht sich die staatliche Entwicklung in enger Nachbarschaft zu der der Technik, die einerseits den Staat prägt und andererseits wiederum selbst vom Staat beeinflußt wird. Diese Sichtweise entspricht en détail der Diagnose Walther Rathenaus, der die „Mechanisierung der Welt“ in seiner Kritik der Zeit in fünf Kapiteln durchdekliniert.45 Er demonstriert, nur im Okzident habe man „die Mechanisierung bis in die letzten uns bekannten Konsequenzen“ durchgeführt; sie sei „unentrinnbar“, da sie „die Produktionsmethoden, die Lebensmächte und die Lebensziele“ beherrsche.46 Im „Jahrhundert der Rationalisierung“ unterliege gerade der Staat „dem Prinzip der Mechanisierung“, so daß er wiederum „das Vorbild aller mechanistischen Organisationsformen geworden“ sei.47 Weber teilt sowohl Rathenaus Diagnose der Interdependenz von staatlicher und technischer Entwicklung als auch dessen These der Unentrinnbarkeit der Mechanisierung. Wir werden darauf zurückkommen, daß er zugleich Rathenaus Kritik an dieser Mechanisierung teilt, gegenüber der er in einer ambivalenten Position steht.

2. Der Staat als Betrieb Max Webers Sicht des Staates als Maschine steht scheinbar in Widerspruch zu seiner verstehenden, dezidiert antisubstanzialistischen Betrachtungsweise des Staates als eines Komplexes von Handlungen. Doch diese beiden Sichtweisen korrespondieren miteinander. Das läßt sich aus einer Bemerkung in den Soziologischen Grundbegriffen erschließen, wo er sagt, eine Maschine sei nur in dem Sinne „deutbar und verständlich“, den „menschliches Handeln“ ihrer Herstellung und Verwertung verleihe; ohne Rückgriff auf diesen Sinn bleibe sie „gänzlich unverständlich“.48 Wenn er also sowohl den Staat als auch die Maschine in der Kategorie des Handelns deutet, wird die Analogie nur um so perfekter. Aus der Kohärenz von maschineller und handlungstheoretischer Staatsauffassung lassen sich auch Konsequenzen für den Handlungstypus im Maschinenstaat aufzeigen. Weber sagt in seinem Stammler-Aufsatz, das „Zusammenwirken von Maschinenteilen“ erfolge im gleichen Sinn nach „mensch-

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Walther Rathenau, Zur Kritik der Zeit, Berlin 1912, bes. S. 45ff., 57ff., 65ff., 75ff. und

86ff. 46

Ebd., S. 57 und 135. Ebd., S. 70f. 48 Weber, WuG, S. 3. 47

2. Der Staat als Betrieb

223

lich gesatzten Regeln“ wie das Zusammenwirken „menschlicher Arbeiter in einer Fabrik“; die Menschen halte ein „kalkulierter ‚psychischer‘ Zwang“ im „Gesamtmechanismus“ fest, während es bei der Maschine ihre „physikalischen und chemischen Qualitäten“ seien.49 Der Betrieb erscheint hier als der Ort eines technisch funktionierenden Handelns, welches man ebenso berechnen könne wie das technische Funktionieren einer Maschine. Dieser Gesichtspunkt wird in Webers herrschafts- und betriebssoziologischen Studien immer wieder herausgestellt. Er interessiert sich vor allem für die „Konsequenzen der Mechanisierung und Disziplinierung“ im Betrieb: daß nämlich der „psychophysische Apparat des Menschen“ gänzlich den Anforderungen der Maschine angepaßt und „unter planvoller Zerlegung in Funktionen einzelner Muskeln und Schaffung einer optimalen Kräfteökonomie den Bedingungen der Arbeit entsprechend neu rhythmisiert“ werde.50 Diese Mechanisierung des Handelns bleibe in ihren Auswirkungen keineswegs auf den Betrieb beschränkt, sondern erweise sich auch „im staatlichen bürokratischen Apparat“, der nach den gleichen Regeln funktioniere; der „ökonomische Großbetrieb“, so Webers Schlußfolgerung, sei neben dem Militär der „große Erzieher zur Disziplin“.51 Die Tatsache, daß er seine Diagnose des analogen Funktionierens der Maschine und des Handelns aus betriebssoziologischen Beobachtungen gewinnt, führt nicht von der Staatssoziologie weg, sondern mitten in sie hinein. Der moderne Staat sei „gesellschaftswissenschaftlich angesehen“ ein „Betrieb“, „ebenso wie eine Fabrik: das ist gerade das ihm historisch Spezifische“.52 Diese Definition des Staates als Betrieb erweitert und präzisiert zugleich Webers Sicht des Staates als Maschine. Der Betrieb ist ein exakter Begriff. Weber definiert ihn als „ein kontinuierliches Zweckhandeln bestimmter Art“,53 erfaßt ihn also wie den Staat und die Maschine mit Hilfe der Kategorie des Handelns. Wenn er ihn darüber hinaus als eine „technische“ Kategorie begreift, steht dies in Analogie zu seinem ‚technischen‘ Staatsverständnis.54 Da der „Betriebsverband“, den er als „Vergesellschaftung mit kontinuierlich zweckhandelndem Verwaltungsstab“ definiert, in

——————— 49 Weber, R. Stammlers „Ueberwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung (1907), in: WL, S. 325. 50 Weber, Herrschaft, S. 558 (WuG 686). 51 Ebd. (WuG 687, 686). 52 Weber, Parlament und Regierung, S. 452 (PS 321). 53 Weber, WuG, S. 28. 54 Ebd., S. 63. Die juristische Dimension des Begriffs, der für die Abgrenzung der Geltungssphäre des Handelsrechts entscheidend ist (Weber, Recht. MWG I/22-3, S. 616), spielt für unseren Zusammenhang keine wichtige Rolle. Dazu Pierangelo Schiera, Max Weber und die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Manfred Rehbinder/Klaus-Peter Tieck (Hg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 167.

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VI. Der Staat als Maschine

der Stufenordnung der ‚Soziologischen Grundbegriffe‘ als Vorstufe zum politischen Verband erscheint,55 tritt die soziologische Verwandtschaft von Staat und Betrieb um so klarer hervor. Sie wird vollends ersichtlich in dem Begründungszusammenhang, in welchem Max Weber seine These des Staates als Betrieb entwickelt: Der entscheidende Gesichtspunkt ist, daß das Herrschaftsverhältnis in staatlicher Bürokratie und ökonomischem Betrieb „gleichartig bedingt“ sei und daß in beiden Fällen die Arbeiter bzw. Beamten von den sachlichen Betriebsmitteln getrennt seien.56 Die Analogiethese beruht also auf herrschafts- und staatssoziologischen Kriterien. Wie die Metapher der Maschine beansprucht der Begriff des Betriebs, der weniger metaphorisch als vielmehr exakt definiert ist, eine empirische Beschreibung der staatlichen Wirklichkeit. Das gilt zum einen für den Typus des zweckhaften und technischen Handelns und zum anderen für die bürokratischrationale Herrschaftsstruktur. Sowohl der Staat als auch der Betrieb funktionieren nach den gleichen Prinzipien. Webers Analogiethese beruht auf einer Kette von Gleichungen, die er nur selten expressis verbis aufstellt, so daß sie erst durch eine synoptische Bestandsaufnahme erkennbar werden. Die herrschaftssoziologische Affinität von betrieblichen und staatlichen Strukturen wird bei Max Weber nirgends systematisch entfaltet, sondern stets nur en passant berührt. So bemerkt er etwa, man könne ja die Besonderheit des modernen Unternehmers darin sehen, „daß er sich als ‚ersten Beamten‘ seines Betriebes geriere, wie der Beherrscher eines spezifisch bürokratischen modernen Staates sich als dessen ‚erster Diener‘ bezeichnete“.57 Diese Anspielung auf das berühmte Wort Friedrich des Großen ist aus zwei Gründen interessant. Zum einen zeigt sie Webers Skepsis gegenüber jener Selbstbeschreibung des aufgeklärten Absolutismus. Deutet man sie mit Hilfe des Weberschen Herrschaftsbegriffs, kann der erste Diener eines Staates nur dessen erster Herrscher sein, wenn er sich selbst zugleich befiehlt und gehorcht.58 Zum anderen verweist die Anspielung auf eine historische Parallele zwischen Herrschaftsverständnis und Betriebs- und Maschinencharakter des modernen Staates, dessen Prototyp Preußen ist. Wie Wilhelm Roscher bemerkt, sei jener Herrscher des aufgeklärten Absolutismus „mit dem Wahlspruche: le roi c’est le premier serviteur de l’état“ zugleich jener Regent, der „den Ausdruck ‚Staatsmaschine‘ liebt“.59 Webers Interpretation des Staates als Betrieb weist insofern eine Inkohärenz auf, als er feststellt, bürokratische Prinzipien konstituierten im Staat eigentlich

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Weber, WuG, S. 28. Weber, Parlament und Regierung, S. 453f. (PS 321f.). 57 Weber, Herrschaft, S. 158 (WuG 522). 58 Damit wäre auch die Herr-Knecht-Dialektik einer Herr-Knecht-Identität gewichen. 59 Roscher, Geschichte der National-Oekonomik, S. 380f. 56

2. Der Staat als Betrieb

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die „Behörde“ und nur in der Privatwirtschaft den „Betrieb“,60 aber dennoch unbekümmert bei der Charakterisierung des Staates den ökonomischen Begriff des Betriebs wählt. Vielleicht erschien dieser ihm schlagkräftiger. In der Tat wurde seine Betriebsthese zu einem Schlag ins Kontor der Staatslehre der zwanziger Jahre, auch wenn man sie auf höchst unterschiedliche Weise bewertete. Eine positive Resonanz ist nur bei Otto Hintze zu erkennen, der Webers These als Revolutionierung des Staatsdenkens feierte und die Analogie von Staat und Betrieb schon aufgrund der Rationalisierung beider Bereiche für absolut zutreffend hielt.61 Im „Licht der neuen Sachlichkeit“ erscheine der Staat überall als „Anstaltsbetrieb“; die „Intensität und Rationalität des Betriebs“ seien „die charakteristischen Zeichen des modernen Staats wie der modernen Wirtschaft“.62 Hintze verortete die Betriebsthese in seinem zu Unrecht unbeachtet gebliebenen Aufsatz treffend im geistes- und zeitgeschichtlichen Kontext: Es habe „erst des moralisch-politischen Zusammenbruchs“ am Ende des Ersten Weltkriegs bedurft, „um den alten Nimbus des Staates bei uns zu zerstören“; erst seit „unseres Reiches Herrlichkeit dahin ist“, sei für jedermann ersichtlich, daß „der Staat bei uns im Grunde nichts anderes“ als ein Betrieb sei.63 Dieser positiven und fast apologetischen Haltung stand allerdings eine vernichtende und harsche Kritik an Webers These gegenüber, allen voran die Otto Koellreutters, der redundant dagegen polemisierte, daß Weber angeblich „von der Wirtschaftswissenschaft aus an die Beurteilung staatlicher Probleme herantritt“ und daher vom Staat nichts verstehe.64 Nicht weniger ins Leere ging die Polemik des durchaus nicht immer urteilssicheren Rudolf Smend, der in Webers „Grundthese“ einen Fall „von echt deutscher letzter Staatsfremdheit“ sah, Webers Denken als „liberal im Sinne letzter innerer Unbeteiligung am Staat“ disqualifizierte und seine politischen Schriften generell für „letzten Endes unfruchtbare ‚Betrachtungen eines Unpolitischen‘“ hielt.65 Smends haarsträubende Polemik war an keiner Stelle inhaltlich begründet und folgte lediglich einem

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Weber, Herrschaft, S. 157 (WuG 551). Otto Hintze, Der Staat als Betrieb und die Verfassungsreform (1927), in: ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 3. Aufl. Göttingen 1982, S. 205-209 (205). 62 Ebd., S. 207. 63 Ebd., S. 206. 64 Otto Koellreutter, Die staatspolitischen Anschauungen Max Webers und Oswald Spenglers, in: ZfP 14 (1924/25), S. 481-500 (494f.). 65 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. Berlin 1968, S. 119-276 (122). Ausführlich zur Beziehung Weber/Smend Andreas Anter, Hermeneutische Staats- und Verfassungslehre. Rudolf Smend, Max Weber und die soziologische Wirklichkeit des Staates, in: Roland Lhotta (Hg.), Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre von Rudolf Smend, Baden-Baden 2005, S. 71-89. 61

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VI. Der Staat als Maschine

diffusen Antiliberalismus und Etatismus. Es ist absurd, einen der engagiertesten politischen Wissenschaftler und Publizisten dieser Zeit als unpolitisch und staatsfremd zu bezeichnen und überdies mit Thomas Manns wenig bestechenden Betrachtungen eines Unpolitischen auf eine Stufe zu stellen.66 Die Rezeption der Weberthese beschränkte sich bezeichnenderweise auf die zwanziger Jahre und riß am Ende dieser Dekade ab. Weder in der Staatslehre noch in den Sozialwissenschaften fand seine Betriebsstaatstheorie, die kurze Zeit die deutschen staatstheoretischen Gemüter erhitzte, weitere Beachtung. Während man die Sicht des Staates als Betrieb in der deutschen Staatslehre als etwas geradezu Anstößiges empfand, gehörte sie in der amerikanischen Politikwissenschaft jener Zeit längst zum staatstheoretischen Gemeingut.67 Weber, der die amerikanische politikwissenschaftliche Literatur aufmerksam verfolgte68 und, wie wir bereits an verschiedenen Stellen gesehen haben, von ihr einige wichtige Anregungen erhalten hat, steht hier weitaus mehr in einer angelsächsischen als in einer deutschen Tradition. Er knüpft zwar mit seiner Maschinenmetapher an eine Blütezeit deutschen Staatsdenkens an, steht aber mit seiner Betriebsthese in einer auffallenden theoriegeschichtlichen Isolierung. Auch von der Weberliteratur wurde sie so gut wie überhaupt nicht beachtet, und wenn, dann schief bewertet. Gerhard Hufnagels Deutung, Weber entziehe „die Staatsvorstellung jeglicher ontologischen Hypostasierung oder metaphysischen Legitimierung, da diese mit dem Begriffsschema des ‚Betriebes‘ nicht geleistet werden können“,69 geht jedenfalls an Webers Intention vorbei, da es ihm nicht um Ideologiekritik geht, sondern um das Aufzeigen empirischer herrschaftssoziologischer Analogien zwischen Staat und Betrieb. Die ganz entscheidenden Impulse hierfür erhielt er zweifellos durch seine eigenen betriebs-, herrschafts- und agrarsoziologischen Studien, die ihm das empirische Anschauungsmaterial und auch das theoretische Instrumentarium zu seiner Be-

——————— 66 Das heißt nicht, daß es nicht einige Parallelen zwischen Thomas Manns patriotischer Essaysammlung, die im Ersten Weltkrieg entstand, und den politischen Schriften Webers dieser Zeit gibt. Vgl. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a. M. 1983, bes. S. 141ff. u. 214ff. Zum Verhältnis Thomas Mann/Max Weber allgemein: Edith Weiller, Max Weber und die literarische Moderne, Stuttgart 1994, S. 257ff.; Stefanie Maiwald-Wiegand, Bewahrung und Entzauberung. Thomas Mann und Max Weber, Diss. phil. Heidelberg 2010. 67 Hier war die Vorstellung des Staates als einer apparathaften und betriebsmäßigen Institution weit verbreitet. Vgl. etwa Arthur F. Bentley, The Process of Government: A Study of Social Pressures, Chicago 1908. 68 Weber hat, angeregt durch Georg Jellinek, die amerikanische Literatur intensiv studiert. Vgl. nur Weber, Briefe an Georg Jellinek vom 16. Juli, 25. Juli u. 19. August 1909, in: Briefe 1909-1910. MWG II/6, S. 189, 198f. u. 227. Generell jetzt Lawrence A. Scaff, Max Weber in America, Princeton 2011. 69 Hufnagel, Kritik als Beruf, S. 179.

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triebsstaatstheorie lieferten. Er war mit der Wirklichkeit der Betriebe so gut vertraut wie kaum ein anderer Sozialwissenschaftler seiner Zeit und hat diese Kenntnisse für seine Staatslehre fruchtbar gemacht.

3. Max Webers Ambivalenz Um die Frage zu beantworten, ob Weber den Staat in der Tradition der Kameralisten am Ideal der Maschine mißt, ist nach den Konsequenzen zu fragen, die er aus seiner Beobachtung der Unaufhaltsamkeit der Mechanisierung zieht. Die Mechanisierung führt in seinen Augen zu einer Anpassung menschlichen Handelns an die Maschine und zu einer Erziehung zur Disziplin; seine Frage richtet sich auf die „charakterologischen“ Konsequenzen der mechanistischen Organisation im staatlichen und wirtschaftlichen Betrieb.70 Seine Antwort ist düster: daß nämlich der „Apparat“ das „geistige Antlitz des Menschengeschlechts fast bis zur Unkenntlichkeit verändert hat und weiter verändern wird“;71 er spricht von dem Fluch des „autoritären Empfindens, des Reglementiert-, Kommandiert- und Eingeengtseins, welchen der heutige Staat und das heutige System der Arbeitsverfassung“ mit sich bringe.72 Infolge der Unaufhaltsamkeit der Mechanisierung von Staat und Betrieb sieht er die Entstehung eines Typs von Menschen, „die ‚Ordnung‘ brauchen und nichts als Ordnung“.73 Das alles klingt wenig apologetisch. Webers anthropologische Perspektive zeigt vielmehr, daß die Maschine für ihn alles andere als ein Ideal und keineswegs ein positives Modell des Staates ist, da er sie primär unter dem Gesichtspunkt ihrer negativen Auswirkungen betrachtet. Dies wird vollends ersichtlich, wenn er seine „zentrale“ Frage stellt. Sie zielt nicht etwa darauf, wie man eine möglichst perfekte Staatsmaschine entwickeln könne, sondern darauf, „was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben“.74 In fast allen Zusam-

——————— 70 Weber, Erhebungen über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiterschaft der geschossenen Großindustrie” (1908), in: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. MWG I/11, S. 78-149 (95). 71 Ebd., S. 149. 72 Weber, Das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben (1905) in: Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. MWG I/8, S. 253. 73 Weber, Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden (1909), ebd. S. 363. Auch Robert Musil, wie Max Weber ein scharfsinniger Seelendiagnostiker, kann im Jahre 1919 nur spotten, daß „der deutsche Durchschnittsmensch“ selbst im Traum „noch die vorbildlich klappende und klappernde Funktionstüchtigkeit der Staatsmaschine im Ohr“ habe (Musil, Der Anschluß an Deutschland (1919), in: ders., Gesammelte Werke II. Essays und Reden. Kritik, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1033f.). 74 Weber, Die wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinden, S. 363.

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VI. Der Staat als Maschine

menhängen, in denen er nach den Konsequenzen der Mechanisierung für den Menschen fragt, sieht er unheilvolle Tendenzen am Werk, und stets beherrscht ein pessimistischer, fatalistischer Tenor seine Diagnose. Die Mechanisierung ist für ihn gleichbedeutend mit Freiheits- und Individualitätsverlust, Autoritarismus und Ordnungssucht. Wie sehr die Maschine für das Starre, Leblose und Uniforme steht, kommt nirgends klarer zum Ausdruck als in seiner aphoristischmetaphorischen Bemerkung über die „leblose Maschine“, die zusammen mit der ‚lebenden‘ daran arbeite, „das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen“.75 Während die Maschine für die Kameralisten des 18. Jahrhunderts im Grunde noch eine utopische Vorstellung war, ist sie für Max Weber längst zu einer bedrohlichen Realität geworden. Konnte August Ludwig Schlözer noch sagen, daß die Menschen „nicht Maschinenmäßig gestellt werden können“,76 kann für Weber menschliches Handeln wie das „Zusammenwirken von Maschinenteilen“ funktionieren77 und der „psychophysische Apparat des Menschen“ maschinenartig „rhythmisiert“ werden.78 Menschen können für Weber also sehr wohl ‚maschinenmäßig gestellt werden‘. Sie erfinden zwar die Apparate und setzen sie in Gang, werden aber ihrerseits wiederum durch die Apparate geformt und geprägt, und zwar nicht in positiver Weise. Weber steht also nur hinsichtlich der empirischen Analogiefeststellung in der Tradition der Kameralisten; in seiner Bewertung aber steht er in einer ganz anderen Tradition, nämlich in der einer vehementen Kritik, die sich bereits auf dem Höhepunkt der Maschinenstaatseuphorie zu formieren beginnt. Die Metapher der Staatsmaschine hat von Anfang an einen ungemein polarisierenden Effekt und ist schon zu ihrer Glanz- und Blütezeit umstritten. So spottet Herder über die Leidenschaft der Staatslehre für das Maschinen-Ideal und enthüllt dessen innere Logik ebenso ironisch wie scharfsinnig: „da, wie alle Staatslehrer sagen, jeder wohleingerichtete Staat eine Maschine sein muß, sie nur der Gedanke Eines regieret, welche größere Glückseligkeit könnte es gewähren, in dieser Maschine als ein Gedankenloses Glied mitzudienen?“79 In einem früheren Entwurf seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zieht er aus dem Maschinencharakter des Staates fast anti-etatistische

——————— 75

Weber, Parlament und Regierung, S. 464 (PS 332). Schlözer, Allgemeines StatsRecht, S. 157. 77 Weber, R. Stammlers „Ueberwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, S. 325. 78 Weber, Herrschaft, S. 558 (WuG 686). 79 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/ 1785), in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 6, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1989, S. 334. 76

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Schlüsse: „Jeder Staat als solcher ist eine Maschiene und keine Maschiene hat Vernunft, so Vernunftähnlich sie auch gebauet seyn möge.“80 Hundert Jahre nach dieser ‚Kritik der reinen Maschinenvernunft‘ steht Max Weber einer inzwischen perfektionierten Staatsmaschine gegenüber. Er teilt nicht nur Herders Einsicht in den Maschinencharakter des Staates, sondern auch dessen Blick auf die Konsequenzen für das menschliche Handeln: der Verlust individueller Bewegungsfreiheit und die Gefahr, zu einem Teil der Maschine zu werden. Die Maschinenstaatskritik, die in der Folge Herders einsetzt, wendet sich polemisch gegen die Idealisierung der Maschine, das Credo des aufgeklärten Absolutismus. Dabei wird interessanterweise auch von den entschiedenen Kritikern selten bestritten, daß mechanisch-maschinelle Prinzipien für die Organisation der staatlichen Ordnung notwendig seien. Um so nachdrücklicher aber werden die fatalen Folgen hervorgehoben, besonders eindringlich bei Novalis: „So nöthig vielleicht eine solche maschinistische Administration zur physischen Gesundheit, Stärkung und Gewandheit des Staats seyn mag, so geht doch der Staat, wenn er bloß auf diese Art behandelt wird, im Wesentlichen darüber zu Grunde.“81 Diese Position ist wesentlich differenzierter als etwa die eines Adam Müller, bei dem die Maschinenfeindschaft in Form redundanter Polemik einen Höhepunkt erreichte.82 Die Protagonisten der politischen Romantik, die generell mechanische Vorstellungen ablehnten und um so mehr organische Bilder für den Staat liebten, setzten an die Stelle der Maschine den Organismus. So entstand in der politischen Metaphorik des 19. Jahrhunderts die große Dichotomie von Mechanismus und Organismus, ein Kampf der Metaphern, hinter dem ein Kampf unversöhnlich gegensätzlicher Staatsanschauungen stand. Diese Dichotomie ist zeitgebunden. Aus heutiger Perspektive ist sie zudem deutlich zu relativieren.83 Die Organismus-Metapher hat zwar eine lange Tradition in der politischen Philosophie, aber die „organische Staatslehre“, als deren führender Vertreter Otto von Gierke gilt, ist erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts.84 Max

——————— 80 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Sämtliche Werke, Bd. 13, Berlin 1887, S. 340. Dazu Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, S. 209ff. 81 Novalis, Glauben und Liebe, S. 494. 82 Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, 1. Bd., Berlin 1809, S. 38f. u. 168f. 83 Dazu Andreas Anter, Verwaltung und Verwaltungsmetaphorik. Der lange Weg der Maschine, in: Peter Collin/Klaus-Gert Lutterbeck (Hg.), Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung, Baden-Baden 2009, S. 25-46 (32ff.); Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, bes. S. 202ff.; Gareth Morgan, Paradigms, Metaphors, and Puzzle Solving in Organization Theory, in: Administrative Science Quarterly 25 (1980), S. 605-622 (613ff.). 84 Vgl. Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, bes. Bd. 3/4, Berlin 1881/ 1913; Erich Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts (1908), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Göttingen 1960, S. 46-67. – Zur heutigen

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Weber teilt zwar die Kritik an den negativen Folgen der Maschine, kommt aber gar nicht erst in Versuchung, gegen die Maschine das Ideal des Organismus zu setzen. Über Otto von Gierkes „organische Staatslehre“ spricht er mit unüberhörbarer Ironie,85 und von biologischen Metaphern hält er ohnehin nichts: „Alle Analogien mit dem ‚Organismus‘ und ähnlichen Begriffen der Biologie sind zur Unfruchtbarkeit verurteilt.“86 Vielmehr bekennt er sich ausdrücklich zu der von ihm als mechanisch empfundenen Wirklichkeit, die er in mechanischen Begriffen und Metaphern zur Anschauung bringt. Er ist einerseits ein Verteidiger des Tatsachenblicks und übt andererseits an diesen Tatsachen rückhaltlose Kritik. Webers Blick auf die Phänomene der Maschine und deren anthropologische Konsequenzen knüpft nicht nur an Herder an, sondern mehr noch an Nietzsches „Reaktion gegen die Maschinen-Kultur“; hier erfährt Herders Kritik am ‚Gedankenlosen‘ eine Radikalisierung: „Die Maschine, selber ein Erzeugnis der höchsten Denkkräfte, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niederen, gedankenlosen Kräfte in Bewegung.“87 Nietzsche akzentuiert bereits wesentliche Aspekte, die auch bei Weber eine zentrale Rolle spielen. Das gilt insbesondere für die Frage nach den anthropologischen Folgen maschineller Organisation. So wie Weber die Mechanisierung der Psychophysik beschreibt, konstatiert schon Nietzsche, die Maschine mache „aus vielen eine Maschine“, „aus jedem einzelnen ein Werkzeug zu einem Zwecke“, und ihre „allgemeinste Wirkung“ bestehe darin, „den Nutzen der Zentralisation zu lehren“.88 Genau diesen Gesichtspunkt der „Zentralisation“ stellt Weber neben dem der Rationalisierung als Folge der Maschinisierung heraus.89 Er interpretiert den Betrieb als „Erzieher zur Disziplin“,90 so wie Nietzsche die „Maschine als Lehrerin“ be-

——————— Diskussion vgl. Albrecht Koschorke u. a., Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a. M. 2007, S. 356ff.; Peter J. Steinberger, The Idea of the State, Cambridge 2006, S. 282ff.; Phillip Goggans, Political Freedom and Organic Theories of States, in: Journal of Value Inquiry 38 (2004), S. 531-543; Sandrine Baume, Penser l’ «État organique». Enjeux critiques d’une analogie, in: Revue européenne des sciences sociales 40 (2002), S. 119-139; Maël Lemoine, Remarques sur la métaphore de l’organisme en politique, in: Les études philosophiques 59 (2001), S. 479-497. 85 Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: WL, S. 35. 86 Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), in: WL, S. 454. Die unfreiwillige Ironie dieser antiorganischen Stellungnahme liegt freilich darin, daß Max Weber sich hier ausgerechnet einer denkbar organischen Metapher, nämlich der des Unfruchtbaren, bedient. 87 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. I, 9. Aufl. München 1982, S. 966. 88 Ebd. 89 Weber, Herrschaft, S. 558 (WuG 687). 90 Ebd., S. 556 (WuG 686).

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greift, die „das Ineinandergreifen von Menschenhaufen“ lehre.91 Daß er hier vor allem politische Institutionen im Auge hat, zeigt seine Bemerkung über die Maschine als „das Muster der Partei-Organisation“92, eine Sicht, die Weber teilt, da für ihn die modernen Parteien ausnahmslos „Maschinen“ sind.93 Bei beiden Denkern findet sich eine luzide Durchdringung der Wirkung der Maschine auf menschliches Handeln und staatliche Institutionen wie auch eine kritische Bewertung der Folgen der Uniformität und Unfreiheit. So wie Weber das „Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft“ heraufziehen sieht, stellt Nietzsche resignierend fest, daß „die ungeheure Maschine von Staat“ den einzelnen „überwältigt“.94 Und er kommt zu dem Schluß, daß wir heute „inmitten anonymen und unpersönlichen Sklaventums zu leben scheinen“.95 Die Eigenschaft des Unpersönlichen, die Nietzsche der Maschine attestiert, spielt auch in Webers Interpretation des modernen Staates eine zentrale Rolle. Da die unpersönliche Herrschaft den modernen Staat wie auch den modernen Betrieb prägt, zeigt sich hier noch einmal die herrschaftssoziologische Evidenz der Gleichung von Staat und Betrieb. Schon in der Landarbeiterenquete beobachtet er bei den landwirtschaftlichen Betrieben Ostelbiens die Tendenz zur „Unabhängigkeit von dem persönlichen Herrschaftsverhältnis“.96 Dies diagnostiziert er auch in der modernen Großindustrie, wenn er als „Charakteristikum der modernen Entwicklung“ den „Wegfall der persönlichen Herrschafts-

——————— 91 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 965. Zur Beziehung Weber/Nietzsche siehe Bryan S. Turner, Max Weber and the spirit of resentment: The Nietzsche legacy, in: JCS 11 (2011), S. 75-92; Laurent Fleury, Nietzsche, Weber et le politique, in: Hinnerk Bruhns/ Patrice Duran (Hg.), Max Weber et le politique, Paris 2009, S. 163-180; Franz Graf zu SolmsLaubach, Nietzsche and Early German and Austrian Sociology, Berlin/New York 2007, S. 13ff., 77ff.; Ralph Schroeder, Nietzsche and Weber. Two „Prophets“ of the Modern World, in: Sam Whimster/Scott Lash (Hg.), Max Weber, Rationality and Modernity, 2. Aufl. London 2006, S. 207-221; Eugène Fleischmann, De Weber à Nietzsche, in: European Journal of Sociology 42 (2001), S. 243-292 (Reprint); Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, Tübingen 1987, S. 167ff.; Robert Eden, Political Leadership and Nihilism. A Study of Weber and Nietzsche, Tampa 1983. 92 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 966. 93 Etwa Weber, Politik als Beruf, S. 208ff. (PS 535ff.). 94 Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. III, S. 658. 95 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 990. – Mit Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, Braunschweig 1877, setzt in Deutschland eine philosophische Auseinandersetzung mit der Technik ein, die sich sowohl am „anthropologischen“ Maßstab (ebd., S. 1ff.) als auch am Staat (ebd., S. 307ff.) orientiert. Hinsichtlich dieser beiden Maßstäbe besteht eine signifikante Affinität zu den Gesichtspunkten Herders, Nietzsches und Webers. Kapp meint, „das Maschinenmässige“ bedeute „meistentheils nur einen hohen Grad von Gedankenlosigkeit und gewohnheitlichem Schablonenthum“ (ebd., S. 344). 96 Weber, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland 1892. MWG I/3, S. 919.

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verhältnisse“ sieht, an deren Stelle „zunehmend die unpersönliche Herrschaft“ trete. Er bewertet diese Entwicklung jedoch keineswegs positiv, da es sich bei dieser Herrschaft um eine „nicht sichtbare und greifbare Macht“ handele, so daß auch „das Verhältnis der Herrschenden zu den Beherrschten“ nicht mehr ethisch erfaßt werden könne.97 Neben der charakterologischen und der herrschaftssoziologischen Dimension ist also auch eine ethische Fragestellung in Webers agrar- und betriebssoziologischen Studien angelegt. Seine erkennbar distanzierte Haltung gegenüber der unpersönlichen Herrschaft beruht auf einer institutionellen Perspektive. Sie läßt ihm die persönliche Herrschaft als die bessere Ordnung erscheinen, da ethische Ansprüche an sie gestellt werden können. Aus diesem Blickwinkel interessiert ihn die „Freiheit“ der Beherrschten nur in zweiter Linie. Dies äußerst sich etwa in seinem Spott über den „Zauber der Freiheit“,98 den sich die Landarbeiter von einer Loslösung aus persönlichen Herrschaftsverhältnissen versprechen. Webers Betriebsstaatstheorie beruht auf dem empirischen Material seiner frühen Arbeiten; hier entwickelt er spezifische Fragestellungen, die sich leitmotivisch durch sein ganzes Werk ziehen und ohne die auch seine staatstheoretischen Positionen und Begriffe kaum denkbar sind. Das Unbehagen am Unpersönlichen, das man bei Max Weber erkennen kann, ist auch in der Technikphilosophie des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. So kommt Nikolai Berdjajew, der die Moderne im „Reich der Maschine“ sieht und die technische Zivilisation als „ihrem Wesen nach unpersönlich“99 definiert, zu einer denkbar pessimistischen Diagnose: „Die massenmässige technische Organisierung des Daseins vernichtet jede Individualität, ja Eigenart und Originalität und drückt allen Dingen den Stempel der Unpersönlichkeit und Antlitzlosigkeit auf. Die ganze Produktion gewinnt einen anonymen Charakter und wird zum seelenlosen Betrieb.“100 Obwohl er keinen Bezug auf Weber nimmt und ihn wahrscheinlich nicht einmal kennt, liest sich diese Diagnose wie eine Paraphrase der Weberschen Positionen. Diesen Eindruck gewinnt man besonders, wenn Berdjajew die Folgen der Technisierung und Rationalisierung beleuchtet: „Das Organisch-Irrationale wird von der Technik durch das Mechanisch-Rationale verdrängt. ... Die Maschine, vom Menschen erzeugt, beginnt den Menschen nach ihrem Bilde umzugestalten. ... Die Maschine zwingt den Menschen, Maschine zu werden und ihre Gestalt anzunehmen.“101 Es ist überraschend, wie weit Max Weber bereits Ergebnisse späterer Studien vorwegnimmt, etwa die

——————— 97

Weber, Was heißt Christlich-Sozial?, S. 357. Weber, Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, S. 920. 99 Nikolai Berdjajew, Der Mensch und die Technik, Luzern 1943, S. 17 u. 33. 100 Ebd., S. 24. 101 Ebd., S. 15. 98

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von Heinrich Popitz,102 aber auch die von Lewis Mumford, der detailliert die Rolle der Maschine als Herrschaftsinstrument untersucht und die „Megamaschine“ als „unpersönlich, wenn nicht bewußt entmenschlicht“ beschreibt.103 Weber hat für die auf ihn folgende Maschinensoziologie und Technikphilosophie einen Grundstein gelegt, der bisher kaum beachtet wurde. Der spezifisch unpersönliche Charakter ist der Staatsmaschine im politischen Denken der Neuzeit gewissermaßen von Anfang an eingeschrieben. So wie bereits bei Hobbes die unpersönliche Herrschaft des Gesetzes als Funktionsmodus der Staatsmaschine erscheint,104 korrespondiert auch bei Weber das Maschinenhafte mit der „legal gesatzten sachlichen unpersönlichen Ordnung“ des Staates.105 Insofern ist die hier rekonstruierte Maschinenstaatstheorie ein elementarer Bestandteil seiner Staats- und Herrschaftssoziologie. Webers Ambivalenz gegenüber der Maschine, die Spannung zwischen der Bewunderung ihrer technischen Effizienz und der Kritik ihrer negativen Wirkungen, entspricht einer historischen Ambiguität, die der Maschinenmetapher seit je her innewohnt. Schon bei den Kameralisten ist sie janusköpfig, da sie zwar den umfassenden Herrschaftsanspruch des bürokratischen Fürstenstaats durch die Kriterien der Funktionalität und Effizienz legitimiert, aber gleichzeitig beinhaltet, daß dieser Staat nach bestimmten Regeln, nämlich nach Gesetzten funktionieren muß. Sie lenkt also den Blick in zwei Richtungen: in die der Intensivierung und in die der Limitierung staatlicher Herrschaft.106 Unter den gewandelten Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts spiegelt sich diese Janusköpfigkeit bei Max Weber. Dessen Ambivalenz entspricht bis ins Detail der des führenden Mechanisierungsdenkers dieser Zeit. Walther Rathenau, der als kapitalistischer Antikapitalist, kosmopolitischer Patriot und großintellektueller Großindustrieller ohnehin die Ambivalenz verkörpert, bewundert einerseits die Leistungen der „Mechanisierung“ und „Rationalisierung“

——————— 102 Vgl. Heinrich Popitz, Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, Tübingen 1995, S. 29ff.; ders., Phänomene der Macht, 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 163ff. Siehe auch Siegfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a. M. 1982; Otto Ullrich, Technik und Herrschaft: vom Handwerk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion, Frankfurt a. M. 1982; Arno Baruzzi, Mensch und Maschine. Das Denken sub specie machinae, München 1973. 103 Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Frankfurt a. M. 1977, S. 219 u. 233. 104 Dazu Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 99ff. 105 Weber, WuG, S. 124. 106 In der staatstheoretischen Diskussion des 18. Jahrhunderts hat das Maschinenideal die Funktion, nicht nur die Monarchie als effizienteste Staatsform zu legitimieren, sondern auch die Monopolisierung der Gewalt und der Verwaltungsmittel beim Fürsten zu rechtfertigen. Zur Ambivalenz der Maschinenmetapher grundlegend Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine, S. 125ff., bes. S. 136ff.

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und sieht die „Maschine“ als „unentrinnbar“;107 andererseits ist er ein scharfer Kritiker jener Mechanisierung, die „schon heute den Tod im Herzen“ trage.108 Rathenaus Frage, „wo die Gegenkräfte der Mechanisierung zu finden sind“,109 ist exakt diejenige Max Webers. Es ist signifikant, daß keiner der beiden Denker sie beantworten kann. Dieser Stand der Dinge ist symptomatisch für die geistesgeschichtliche Lage ihrer Zeit, in der die Mechanisierung zu einem beliebten Schlagwort wird, das vor allem in gesellschafts- und kulturkritischer Absicht gebraucht wird. Wie hundert Jahre zuvor, als sich kameralistische Maschinenstaatsenthusiasten und deren Kritiker befehden, steht zu Webers Zeit die verbreitete organische Staatslehre einer Anschauung gegenüber, die sich nach wie vor an mechanischen Vorstellungen orientiert. So vergleicht Paul Laband den Staat mit einer Maschine und staatliche Rechtsregeln mit „Regeln der Mechanik“,110 Josef Olszewski sieht sich durch die „Bande der anwachsenden Staatsmaschine gefesselt“,111 und selbst der organologisch inspirierte Othmar Spann sieht Wirtschaft und Gesellschaft als Mechanismus „zusammenwirkender Teile gleich der Maschine“.112 Angesichts dieses Befundes kann keine Rede davon sein, daß die Krise des aufgeklärten Absolutismus „auch das Ende der Maschinenmetapher“ herbeigeführt habe, ja daß diese nur „eine kurze Episode am Rande der Geschichte der politischen Bildlichkeit“ gewesen sei.113 Die bis heute vorherrschende Meinung, die Maschinenmetaphorik sei im Laufe des 19. Jahrhunderts durch eine organische ersetzt worden,114 bedarf einer gründlichen Revision. Wie unhaltbar sie ist, zeigt bereits ein Blick in das Werk Max Webers. Heute ist das Bild der Maschine nicht weniger präsent als in der Zeit des Kameralismus. Nur stellen sich angesichts der technisch-politischen Entwicklung ganz andere Probleme der Bewertung mechanischer Analogien.115 Die

——————— 107 Rathenau, Zur Kritik der Zeit, S. 45f., 70, 71f., 135. Er sieht Deutschland als „das führende Land der europäischen Mechanisierung“ (ebd., S. 132). 108 Ebd., S. 135. „Denn im Urgrund ihres Bewußtseins graut dieser Welt vor ihr selbst.“ 109 Ebd., S. 139. 110 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. Bd., Tübingen 1878, S. 199. 111 Josef Olszewski, Bureaukratie, Würzburg 1904, S. 56. 112 Othmar Spann, Kurzgefaßtes System der Gesellschaftslehre, Leipzig 1914, S. 104. 113 So aber Dietmar Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik, S. 594 u. 590. Sein Urteil läßt auf die Unkenntnis der Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts schließen. 114 So Joachim Radkau, Technik in Deutschland, Frankfurt/New York 2008, S. 119. 115 Vgl. Eckhard Schröter/Hellmut Wollmann, New Public Management, in: Bernhard Blanke u. a. (Hg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 4. Aufl. Wiesbaden 2011, S. 63-73; Werner Jann u. a. (Hg.), Public Management, Berlin 2006; Hindy Lauer Schachter, Administrative Culture and Metaphor Change, in: International Review of Sociology 12 (2002), S. 89-92.

3. Max Webers Ambivalenz

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historische Ironie der Maschinenmetapher liegt darin, daß sie in einer frühtechnischen Welt als utopisches Ideal entsteht und in einer zunehmend technisierten Welt von der Wirklichkeit überholt wird. Die Interpretation des Staates als Maschine ist durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch zu verfolgen. So sieht Siegfried Landshut beim Staat „eine ziemlich genaue Analogie zur Maschine“ und läßt ein ganz unbekümmertes, nahezu kameralistisches Verständnis der Staatsmaschine erkennen.116 Differenzierter hingegen diagnostiziert Helmut Schelsky, der den Staat als „universalen technischen Körper“ begreift, eine Fusion, in deren Folge der Staat immer mehr „technischer Staat“ und die Technik immer mehr staatliche Technik werde.117 Wie Max Weber steht auch er in einer ambivalenten Haltung, da er zwar ein großer Bewunderer der Technik ist, aber die Entstehung einer Technokratie fürchtet, in der die Herrschaft anonymisiert und die Demokratie „immer mehr zu einer Illusion“ werde.118 Der Weberianische Tenor seiner Analyse ist kaum zu überhören. Schelskys These vom „technischen Staat“, die die Diskussion seiner Zeit nachhaltig prägte, geht zwar kaum über Weber hinaus, belegt aber eine kontinuierliche Linie der Reflexion über den zur Maschine gewordenen Staat. Diese Reflexion, die im 18. Jahrhundert ihren Anfang nimmt, steht indes im datenverarbeitenden, wissensbasiertdigitalisierten Staat der Gegenwart ganz neuen Fragen gegenüber.119 In der aufgezeigten Entwicklung bildet Webers Position, mechanisch gesprochen, eine Art Drehscheibe. Bei ihm laufen zwei Traditionslinien des Staatsdenkens zusammen: eine etatistische Tradition, die an der Funktionalität und Effizienz des Staates interessiert ist, und eine anti-etatistische Tradition, die sich am Wertmaßstab der Individualität und an der Frage der charakterologischen Konstitution des Einzelnen ausrichtet. Weber vereint in seinem Werk diese beiden Perspektiven. Einerseits orientiert er sich an der Funktionalität und Effizienz des Staates, ist von der Maschine fasziniert und von ihrer Unaufhaltsamkeit überzeugt. Andererseits fragt er nach den Konsequenzen der Mechanisierung für den Menschen und übt an der Uniformierung, Unfreiheit und Entpersönlichung scharfe Kritik.

——————— 116 Siegfried Landshut, Über einige Grundbegriffe der Politik, in: ders., Zur Kritik der Soziologie und andere Schriften zur Politik, Neuwied/Berlin 1969, S. 261-305 (299). „Die Macht des Staates ist die Kraft, die diese Maschine in Bewegung setzt, der Dampf, der sie betreibt.“ (ebd.) 117 Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf/Köln 1965, S. 439-480 (455, 453). 118 Ebd., S. 459. Da der Staat nur noch Sachzwänge verwaltet, die nicht zur Dispostion stehen, technische Entscheidungen nicht mehr demokratischen Willensbildung unterliegen, entzieht der Staat, „ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz“ (ebd.). 119 Dazu Andreas Voßkuhle, Das Konzept des rationalen Staates, in: Gunnar Folke Schuppert/Andreas Voßkuhle (Hg.), Governance von und durch Wissen, Baden-Baden 2008, S. 1332.

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VI. Der Staat als Maschine

Seine Position ist allerdings nicht frei von Widersprüchen und Ambiguitäten. In fast allen Kontexten ist seine spezifische Ambivalenz gegenüber der Maschine zu spüren, die sich in einer Spannung zwischen Faszination und Kritik – oft innerhalb eines Satzes – niederschlägt. Sowohl der Antagonismus der beiden staatstheoretischen Traditionen als auch die historische Janusköpfigkeit der Maschinenmetapher kehren in seinem Werk wieder. Als Synthese dieser beiden Richtungen können seine Standpunkte sicher nicht gewertet werden, da sie zu unvermittelt nebeneinander stehen. Die Ambivalenz ist ein hervorstechendes Merkmal seines Maschinenstaatsdenkens wie auch seines politischen Denkens überhaupt. In jedem Falle ist das gängige Weberbild vom Anhänger einer technischen Staatsauffassung grundsätzlich zu revidieren. Webers Diagnose, daß die Mentalitäten und Handlungstypen, welche durch die Funktionsweise der Maschine und die Struktur des Betriebs geprägt werden, eine Orientierung an „Ordnung“ und „Disziplin“ nach sich ziehen, hat entscheidende Relevanz für politisches Handeln und staatliche Strukturen. Damit gewinnt seine Maschinenstaatstheorie nicht zuletzt eine politikwissenschaftliche Dimension. Franz L. Neumann äußert in seinem Aufsatz über Die Wissenschaft der Politik in der Demokratie den „Verdacht, daß die Fabrik die wichtigste Einrichtung für die Erziehung zum Gehorsam, zur Disziplin und zur Autorität“ sei, da ihre Aufgabe darin bestehe, Menschen „zu trainieren, sie in eine Ordnung einzuspannen, in der sie Gehorsam lernen“, und da diese Tatsache nicht ohne Folgen für das politische Handeln im Staat bleibe, müsse sie ein erstrangiges Thema der Politikwissenschaft sein.120 Neumanns Verdacht ist für Weber bereits Gewißheit. Er zeigt die Konsequenzen der Maschine für politisches Handeln und staatliche Strukturen, und formuliert damit eine elementare Fragestellung der Politischen Wissenschaft. Mit seiner Maschinenreflexion, in der sich soziologische, anthropologische und politikwissenschaftliche Perspektiven verbinden, leistet Weber einen grundlegenden Beitrag zur Diagnose mentaler Dispositionen und staatlicher Institutionen in der mechanisierten und rationalisierten Moderne.

——————— 120 Franz L. Neumann, Die Wissenschaft der Politik in der Demokratie (1950), in: ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie, hg. v. Alfons Söllner, Frankfurt a. M. 1978, S. 373-392 (384).

Schlußbemerkung Webers Staatstheorie ist kein kohärentes oder in sich geschlossenes Ganzes und ist erst recht kein System. Wenn kulturwissenschaftliche Erkenntnis „insofern an ‚subjektive‘ Voraussetzungen gebunden“ ist, „als sie sich nur um diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit kümmert“, „denen wir Kulturbedeutung beilegen“,1 dann hat Weber sich auch nur mit denjenigen Aspekten der staatlichen Wirklichkeit beschäftigt, denen er solche Bedeutung beigemessen hat. Seine staatstheoretischen Fragmente sind daher notwendig ausschnitthafte Betrachtungen der Staatlichkeit. Unterzieht man allerdings die über sein ganzes Werk verstreuten Positionen einer systematischen und vergleichenden Analyse, so entsteht das Gerüst einer weitgefächerten Staatslehre, die für die Analyse des modernen Staates ein begrifflich-theoretisches Fundament legt. Das gilt zum einen für die erkenntnistheoretische und handlungstheoretische Dimension, zum anderen für die Aspekte des Gewaltmonopols, der Legitimität, des Rechts und der Bürokratie. Wenn es die Aufgabe einer Staatslehre ist, einen theoretischen Orientierungsrahmen zu schaffen,2 dann werden Webers staatstheoretische Fragmente eben dieser Aufgabe gerecht. Die in dieser Studie herausgearbeitete Struktur seiner Staatstheorie bietet genau das, was in der neueren Staatsdiskussion gefordert wird: einen weitgefächerten Ansatz, der den Staat aus historischen, politikwissenschaftlichen, juristischen und soziologischen Perspektiven betrachtet. Auf dieser Grundlage ist es möglich, die Verengungen des staatstheoretischen Blickfelds zu vermeiden, die vor allem für die juristische Staatsauffassung charakteristisch sind. Heute ist eine Staatslehre erforderlich, die sich einerseits diese Mehrdimensionalität zu eigen macht und andererseits an Webers übergreifende Fragestellungen anknüpft. Weder zur Zeit Max Webers noch heute herrscht auch nur ein annähernder Konsens darüber, was Staatslehre eigentlich ist. Sie erscheint meistens als eine Art Konglomerat, das sich aus verschiedenen Fächern zusammensetzt, etwa der

——————— 1 Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: WL, S. 182. 2 Colin Hay/Michael Lister, Theories of the State, in: Colin Hay u. a. (Hg.), The State, London 2006, S. 1-20 (4f.).

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Schlußbemerkung

Politikwissenschaft, der Staatsrechtslehre, der Soziologie, der Philosophie und der Geschichtswissenschaft.3 Diese Not aber kann man auch als Tugend verstehen. Die Interdisziplinarität der Staatslehre liegt im Wesen ihres Gegenstandes begründet, den man zwangsläufig unter verschiedenen Perspektiven betrachten muß, wenn man jener Komplexität gerecht werden will. Max Weber trägt dieser Tatsache Rechnung und erfaßt den Staat differenzierter als jeder andere Staatstheoretiker der letzten hundert Jahre. Darin liegt einer der außerordentlichen Vorzüge seiner Staatslehre, die allen eindimensionalen Sichtweisen überlegen ist. Daß Webers Staatstheorie kein System ist, steht in Einklang zu der Tatsache, daß er ohnehin kein Systemdenker ist und nirgends großangelegte Konstruktionen entwickelt. Das Fragmentarische seines Gesamtwerks, das sich im Fragmentarischen seiner Staatstheorie niederschlägt, muß man keineswegs als Defizit beklagen, sondern kann es vielmehr als großen Vorzug bewerten. Die „modernen Weberianer“ sind, wie Ralf Dahrendorf sagt, „glückliche Epigonen“: Da Weber „kein geschlossenes System“ vorlegt,4 ist man einem solchen auch nicht bedingungslos verpflichtet. Wilhelm Hennis meint, es gebe keinen „direkten, jedermann sofort einsichtigen Hinweis auf das, was man vielleicht als die Mitte des Werks, seinen systematischen Angelpunkt bezeichnen könnte“.5 Dies ist sicher zutreffend. Doch bildet die in dieser Studie untersuchte Staatstheorie eine Schnittstelle fast aller Teilbereiche des Werks. Webers politisches und historisches Denken, seine Herrschafts- und Rechtssoziologie, seine Handlungs- und Erkenntnistheorie, seine Werturteilslehre und seine Ethik stehen hier in einem unmittelbaren Zusammenhang. Sicherlich kann man nicht behaupten, die Staatstheorie wäre die Mitte des Werks, aber sie ist zweifellos ein Angelpunkt, der die elementaren Aspekte seines umfangreichen Schaffens miteinander verbindet. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß Max Weber unter den wichtigen Gegenständen seines Werks gerade den Staat wohl am wenigsten systematisch erfaßt hat. In jedem Falle aber läßt sich sagen, daß der Staat in der Mitte seines politischen Denkens steht. Insofern ist Weber ein nachgerade idealtypischer Repräsentant des deutschen politischen Denkens, das seit zweihundert Jahren von keinem anderen Bezugspunkt so dominiert wird wie von dem des Staates. We-

——————— 3 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl. Stuttgart 2003, S. 1. Vgl. Gianfranco Poggi, The State. Its Nature, Development and Prospects, 4. Aufl. Cambridge 2010; Martin Loughlin, In Defence of Staatslehre, in: Der Staat 48 (2009), S. 1-27; Hay/Lister, Theories of the State, S. 1ff.; Gunnar Folke Schuppert, Staatswissenschaft, Baden-Baden 2003; Stefan Breuer, Der Staat, Reinbek bei Hamburg 1998. 4 Ralf Dahrendorf, Max Weber und die moderne Sozialwissenschaft, in: Mommsen/ Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen/Zürich 1988, S. 777. 5 Wilhelm Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1996, S. 99.

Schlußbemerkung

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bers Bewertung von Parlament und Demokratie, Ordnung und Freiheit, Ethik und Politik, Liberalismus und Nation, Krieg und Frieden wird entscheidend durch seine Staatsauffassung bestimmt. Hier kristallisieren sich die Facetten seines politischen Denkens wie auch seine Ambivalenzen: die Spannungen und Wertkollisionen zwischen Autorität und Freiheit, Persönlichkeit und Lebensordnungen, Individualismus und Staatsräson. Da genau diese Antinomien die politische Moderne bis heute prägen, ist Weber umso mehr ein idealtypischer Denker seiner wie unserer Epoche. Der in dieser Studie unternommene Versuch, die theoriegeschichtliche Herkunft seiner staatstheoretischen Positionen zu ermitteln, hat gezeigt, daß sie fast ausnahmslos aus der staatsrechtlichen, philosophischen und soziologischen Diskussion seiner Zeit erwachsen. Sie sind zumeist Ausdruck der herrschenden Meinung und weichen nur in wenigen Punkten von ihr ab. So wird Webers Definition des Staates durch das Gewaltmonopol bereits bei Rudolf von Jhering und Rudolph Sohm formuliert; seine Haltung zur Frage des Staatszwecks bei Hugo Preuß und Georg Jellinek; die herrschaftsbezogene Sicht des Staates bei Nietzsche, Gerber, Laband und Jellinek; die Verbindung von Staat, Legalität und Legitimität bei Josef von Held; die handlungstheoretische Staatsanschauung bei Friedrich Gottl und erneut bei Jellinek; das Verhältnis von Staat und Nation bei Hugo Preuß und Heinrich von Treitschke; die Verknüpfung von Staat und Bürokratie bei Josef Olszewski und das Verhältnis von Staat, Recht und Rationalisierung einmal mehr bei Jellinek. Die Tatsache, daß es kaum eine Position Max Webers gibt, die nicht im staatswissenschaftlichen Denken seiner Zeit bereits formuliert wird, bedeutet aber nicht, daß er ein bloßer Kompilator wäre. Er hat vielmehr die Positionen und Begriffe auf souveräne Weise aufgegriffen, verarbeitet, zugespitzt oder modifiziert, so daß sie im Rahmen seiner Wissenschaft eine jeweils neue Dimension und Schlagkraft erhalten. Während die Ansätze seiner Zeit heute nur noch von dogmengeschichtlichem Interesse sind, ist Max Webers Staatstheorie nach wie vor eine unerläßliche Grundlage für die analytische Erfassung der historischen und gegenwärtigen Staatlichkeit.

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Personenregister Kursiv gestellte Ziffern verweisen auf Nennungen in den Fußnoten

Adair-Toteff, Christopher 76 Albert, Gert 22, 118 Albert, Hans 118, 149, 161 Albrow, Martin 164, 182, 210, 212 Aldenhoff, Rita 122 Alter, Peter 132f., 135, 138f. Anderson, Benedict 132f. Anter, Andreas 14, 16f., 20f., 24, 26, 41, 50, 62f., 66, 86, 92f., 102, 114, 216 Aristoteles 90 Bach, Maurizio 64 Bachtin, Michail M. 112 Bacon, Francis 218 Bader, Veit-Michael 101 Badura, Peter 74, 196 Bakunin, Michail 61, 183 Balandier, Georges 170, 211 Baldus, Manfred 43 Barrientos, Baltasar Álamos de 53 Baruzzi, Arno 233 Baume, Sandrine 230 Baumgarten, Eduard 150 Baumgarten, Fritz 15 Baumgarten, Hermann 122, 143 Beckmann, Johann 219 Beetham, David 73, 92 Below, Georg von 170-172, 202 Bendix, Reinhard 72, 119, 175 Benjamin, Walter 44, 47 Benn, Gottfried 85 Bentley, Arthur F. 90, 99f., 226 Benz, Arthur 17f., 20f., 34, 43, 139 Berdjajew, Nikolai 232 Bergstraesser, Arnold 56 Bermbach, Udo 163 Bevir, Mark 97 Bismarck, Otto von 85, 136, 142, 144 Bleek, Wilhelm 17, 20, 139 Blickle, Peter 26

Blumenberg, Hans 217, 220 Bobbio, Norberto 81, 94, 177, 212 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 75, 168 Bodin, Jean 40f., 210 Boesche, Roger 39 Bracher, Karl D. 85 Breiner, Peter 86 Breuer, Stefan 11, 13f., 16f., 44, 51, 59, 63f., 67, 70, 73-77, 80, 100, 139, 161, 167, 169, 172, 179, 192, 200, 209, 238 Breysig, Kurt 175 Broch, Hermann 157 Brubaker, Rogers 210 Bruhns, Hinnerk 16, 32, 231 Brunner, Otto 40, 168, 172 Bruun, Hans Henrik 22, 118-120, 155 Bull, Hans Peter 32-34 Burckhardt, Jacob 145, 151

Carrino, Agostino 196 Channing, William Ellery 150-152 Chazel, François 14, 200 Collins, Randall 184 Colliot-Thélène, Catherine 17, 43f., 196 Conway, Daniel 174 Cooley, Charles H. 31 Coutu, Michel 14, 67, 70 Crenshaw, Martha 44 Crusius, Otto 140

Dahrendorf, Ralf 104, 106f., 165, 238 Demandt, Alexander 218 Demm, Eberhard 121 Denninger, Erhard 48 Derlien, Hans-Ulrich 179, 187 Derman, Joshua 76 Dietrich, Albert 123, 209 Diggins, John Patrick 184 DiMaggio, Paul J. 124 Dobner, Petra 17, 20

266

Personenregister

Dreier, Horst 74, 196 Duran, Patrice 16, 67, 70, 231 Durkheim, Émile 33, 175 Dyzenhaus, David 206

Eden, Robert 231 Ehrenberg, Hans 90 Ehrlich, Eugen 201 Eisen, Arnold 212 Eliaeson, Sven 22, 86, 92, 119f. Elias, Norbert 43, 211 Ellwein, Thomas 69, 177 Engels, Friedrich 114, 181 Enzensberger, Hans Magnus 89 Ernst, Paul 147 Evans, Peter B. 17, 20 Factor, Regis 14, 41, 76, 95, 161 Febbrajo, Alberto 192, 200 Feldman, Karen S. 216 Ferraresi, Furio 14, 16, 60, 86, 92 Fichte, Johann Gottlieb 19, 50 Flechtheim, Ossip K. 56 Fleischmann, Eugène 16, 231 Fleury, Laurent 16, 231 Fontane, Theodor 60 Forsthoff, Ernst 73f., 168, 178, 204, 207 Franke, Leopold 101 Franke, William 217 Frantz, Constantin 19, 37, 50f., 61, 81, 87, 167 Freund, Dorrit 184 Freund, Julien 26, 199f., 204f. Freyer, Hans 64, 104, 108 Frisch, Hans von 28, 30 Fukuyama, Francis 17 Gay, Paul du 17, 43, 94 Gephart, Werner 26, 102, 200 Gerber, Carl Friedrich von 61-63, 206f., 239 Ghosh, Peter 63, 78 Giedion, Siegfried 233 Gierke, Otto von 51, 61, 229f. Gneist, Rudolf 81, 196 Goethe, Johann Wolfgang von 117 Göhler, Gerhard 206 Goggans, Phillip 230 Goldstein, Kurt 149 Gorges, Irmela 122 Gormley, William T. 94

Gottl, Friedrich 17, 98-100, 117, 156, 239 Gozzi, Gustavo 74, 196 Grafstein, Robert 73 Green, Jeffrey Edward 76, 92 Grimm, Dieter 40 Guerlac, Othon 65 Guilleaume, Emil 17 Gumplowicz, Ludwig 174f. Gusy, Christoph 20 Gutmann, Thomas 43

Habermas, Jürgen 68, 73, 191, 208, 210 Hacke, Christian 56 Häfelin, Ulrich 99 Haller, Carl Ludwig von 29, 172 Haller, Max 163 Haltern, Ulrich 40 Hamilton, Gary G. 124 Hartmann, Nicolai 158 Hartmann, Tyrell 156 Hartwich, Hans-Hermann 63, 124, 169 Hattenhauer, Hans 179 Haverkamp, Anselm 217 Haverkamp, Hans 164, 217 Hay, Colin 17f., 20f., 43, 218, 238 Hebeisen, Walter Michael 34 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 26f., 33, 50, 114, 140, 182f., 188, 200, 212 Heidegger, Martin 122, 157 Heinzen, Karl 90, 181, 183, 220 Held, Josef von 19, 72, 82, 239 Heller, Hermann 17, 20f., 24, 31, 42, 53f., 64, 87, 113f., 168, 172, 208 Hennis, Wilhelm 12, 15f., 31f., 42, 49, 51f., 55-57, 64, 66, 68f., 72, 74, 102, 107, 115, 118-121, 128f., 140, 142, 150, 160, 164f., 184, 191, 209f., 216, 231, 238 Henrich, Dieter 22 Herdegen, Matthias 75, 211 Herder, Johann Gottfried 19, 228-231 Hermes, Siegfried 14, 50, 67, 70, 95, 172, 200 Herzog, Roman 32, 42, 64f., 170 Hespe, Klaus 27, 32 Hesse, Joachim Jens 97 Hesse, Konrad 54, 116, 206 Heuss, Theodor 78 Hilferding, Rudolf 142 Hillgruber, Christian 40

Personenregister Hintze, Otto 16, 51, 62, 174, 180, 186, 225 Hirschl, Ran 204 Hirszowicz, Maria 187 Hobbes, Thomas 26, 40f., 49, 81, 216, 218, 233 Hobsbawm, Eric J. 132, 138 Hoffman, Bruce 44 Holtzendorff, Franz von 28 Homann, Harald 119 Hondrich, Karl Otto 48 Hübinger, Gangolf 11, 14, 16, 56, 153 Hufnagel, Gerhard 28, 108, 149, 226 Humboldt, Wilhelm von 99, 136, 141 Hume, David 49f., 60, 90, 173

Inglehart, Ronald 163 Isensee, Josef 17, 20f., 34, 45, 199, 211 Jaffé, Else 120 Jann, Werner 234 Janz, Curt Paul 144 Jellinek, Georg 11, 14-16, 19, 23f., 28, 30, 34, 51-54, 61-63, 66, 81, 99f., 113, 116, 131f., 134-136, 153, 167, 170, 182, 193f., 198, 200, 226, 239 Jhering, Rudolf von 41, 75, 99, 239 Joachimsen, Paul 134f., 143 Joas, Hans 16, 63 Jonas, Friedrich 32f. Jouanjan, Olivier 61, 74 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 219f. Kaerger, Karl 125 Kaesler, Dirk 76, 184, 210, 214 Kafka, Franz 12 Kalberg, Stephen 102, 184 Kamenka, Eugene 187 Kämmerer, Jörn Axel 44 Kant, Immanuel 19, 41, 48f., 90, 150, 195, 217 Kantorowicz, Hermann 104, 106 Kaplan, Abraham 55 Kapp, Ernst 231 Karpen, Ulrich 195 Kaufmann, Erich 147, 229 Kelly, Duncan 14, 16, 43, 63 Kelsen, Hans 21, 24, 30f., 102, 104, 109, 194-197, 212 Kennedy, Duncan 205, 212f. Kern, Fritz 171 Kersten, Jens 24, 62, 116, 178

267

Keutgen, Friedrich 167, 171 Kielmansegg, Peter Graf 66, 68 Kimminich, Otto 179 Kindermann, Gottfried-Karl 56 Kippenberg, Hans H. 76, 156 Kirchheimer, Otto 72 Kirchhoff, Alfred 134f. Klages, Helmut 164 Klippel, Diethelm 39f. Knies, Karl 118, 120, 230 Kocka, Jürgen 177, 179 Koellreutter, Otto 225 Kohler, Rudolf 220 Korioth, Stefan 30 Koschorke, Albrecht 229 Koselleck, Reinhart 38, 217 Krabbe, Hugo 81f. Kramer, Matthew H. 206 Krasner, Stephen D. 40 Kriele, Martin 20, 35f., 40, 66, 71, 73, 211f., 238 Krüger, Dieter 121 Krüger, Herbert 33, 162 Krygier, Martin 187 Kunig, Philip 74, 196

Laband, Paul 17, 61-63, 206f., 234, 239 Landau, Peter 66 Landshut, Siegfried 209, 235 Laqueur, Walter 44, 220 Lash, Scott 16, 41, 161, 191, 209f., 231 Lask, Berta 93 Lask, Emil 93 Lassman, Peter 67, 70 Lasson, Adolf 29, 41 Lasswell, Harold D. 55f. Leisner, Walter 179 Lembcke, Oliver W. 67, 70 Lemoine, Maël 230 Lenk, Kurt 108, 174 Lepsius, Oliver 24, 62, 116 Lhotta, Roland 225 Liefmann, Robert 95f. Lindenlaub, Dieter 122 Lister, Michael 17f., 20f., 43, 218, 238 Litt, Theodor 115 Loening, Edgar 113 Loewenstein, Karl 13f., 78f., 93 Loos, Fritz 71, 75, 208 Lotz, Albert 179 Loughlin, Martin 17, 20, 238 Lübbe, Weyma 70, 73, 75, 104, 196, 208

268

Personenregister

Lukács, Georg 104, 107, 147 Luhmann, Niklas 20f., 32f., 43, 53f., 58, 64, 68, 88, 94, 103, 115, 159, 176

Münkler, Herfried 123, 154 Mumford, Lewis 233 Musil, Robert 132, 227 Muth, Heinrich 51

MacCormick, Neil 206 Machiavelli, Niccolò 123, 151, 154 Mackinnon, Malcolm H. 150 Mahler, Gustav 12 Maier, Hans 16, 26, 57, 63, 153 Man, Paul de 217 Manent, Pierre 89, 135 Mann, Michael 135 Mann, Patrice 14 Mann, Thomas 226 March, James G. 124 Marra, Realino 14, 16, 63 Marx, Karl 33, 108, 114, 180-183, 209 Maschke, Günter 53 Masterman, Roger 199 Matz, Ulrich 43, 45, 57, 162 Maurenbrecher, Max 221 Mayer, Jacob P. 123 Mayer, Tilman 132 Mayr, Otto 218f. McCormick, John P. 177 McFalls, Laurence 119 Meier, Kenneth J. 94 Meinecke, Friedrich 123, 146f., 215f. Menzel, Adolf 20, 30, 104, 110, 113, 174 Merquior, J. G. 81 Merten, Detlef 39, 46 Merz-Benz, Peter-Ulrich 118 Meyer, Ahlrich 218 Meyer, Eduard 171 Michels, Robert 86, 131, 182 Mill, John St. 183, 188f., 191f. Mohl, Robert von 28, 81, 133, 177, 180182, 188, 191f., 196 Möllers, Christoph 32f., 199 Mommsen, Wolfgang J. 11f., 15, 75, 79, 85, 92f., 121, 127, 129, 133, 139, 142f., 145, 155, 196f., 238 Montesquieu, Charles de 88, 198, 218 Moos, Thorsten 28 Moreso, José Juan 206 Morgan, Gareth 229 Morgenstern, Christian 129 Morgenthau, Hans J. 55 Morris, Christopher 17 Moulin-Eckart, Richard Graf Du 98 Müller, Adam 19, 29, 220, 229 Münch, Richard 72f.

Nagel, Thomas 155 Nau, Heino Heinrich 118 Naumann, Friedrich 138, 221 Nee, Victor 124 Neumann, Franz L. 14, 236 Nietzsche, Friedrich 16, 61, 85, 87, 123, 144, 154, 156f., 173f., 187f., 209f., 215, 230f., 239 Noguchi, Masahiro 205 Nolte, Ernst 93 Novalis 220f., 229 Oakes, Guy 120 Oestreich, Gerhard 26 Oertzen, Peter von 207 Offe, Claus 44, 184 Olsen, Johan P. 124 Olszewski, Josef 177, 180-182, 185-189, 234, 239 Opello, Walter C. 17, 43 Oppenheimer, Franz 174f. Ortony, Andrew 217 Osiander, Andreas 40 Osterhammel, Jürgen 31, 56 O’Toole, Laurence 94 Ott, Walter 206, 208

Palonen, Kari 104 Parsons, Talcott 104, 106 Passerin d’Entrèves, Alexander 20, 47 Peil, Dietmar 218, 234 Petersen, Jens 200, 205 Pettit, Philip 155 Peuker, Enrico 94 Pfaff, Steven 86, 92 Pieroth, Bodo 43 Piloty, Robert 60 Platon 81 Plessen, Marie-Louise 122 Poggi, Gianfranco 17, 21, 43, 59, 188, 211, 238 Polin, Raymond 174 Pope, Alexander 90 Popitz, Heinrich 39, 43, 47, 233 Popper, Karl 88f. Portinaro, Pier Paolo 94, 209 Powell, Walter W. 124

Personenregister Preuß, Hugo 17, 30, 33, 61, 92, 134f., 142, 239 Preuß, Ulrich K. 44 Prewo, Rainer 70, 75, 128

Quarck, Max 125 Quaritsch, Helmut 20, 39, 149, 171 Ouédraogo, Jean Martin 14, 41, 63, 76 Quensel, Bernhard K. 22

Radkau, Joachim 177, 205, 214 Randelzhofer, Albrecht 38f. Ranke, Leopold von 134 Rathenau, Walther 17, 70, 87, 92, 137, 222, 233f. Reed, Michael 94 Rehberg, Karl-Siegbert 26, 102 Rehbinder, Manfred 177, 192, 208 Reinhard, Wolfgang 17, 38, 44 Rickert, Heinrich 23, 93, 108, 119f. Riesebrodt, Martin 76, 121, 156 Rigby, Thomas H. 187 Ringer, Fritz 22, 119f. Rocher, Guy 14, 67, 70, 102 Rohe, Karl 20 Roscher, Wilhelm 28f., 219, 224 Rosow, Stephen J. 17, 43 Ross, Edward Alsworth 31 Rossi, Pietro 200, 209 Roth, Guenther 119, 150, 187, 210 Roth, Klaus 17 Rotteck, Carl von 65, 67, 72 Rousseau, Jean-Jacques 60, 81, 87f., 218 Rümelin, Gustav 52f., 133, 151f. Scaff, Lawrence A. 32, 121, 184, 226 Schachter, Hindy Lauer 234 Schäffle, Albert 52f., 55, 57 Scheler, Max 158f. Schellhoss, Hartmut 104 Schelsky, Helmut 235 Scheuerman, William E. 55 Scheuner, Ulrich 53f., 67, 116, 138 Schieder, Theodor 135, 138 Schiera, Pierangelo 223 Schlözer, August Ludwig 28, 219, 228 Schluchter, Wolfgang 16, 22, 26, 60, 76f., 102, 120, 128, 155, 164, 176, 191, 208-210, 212 Schmidt, Helmut 89, 104 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 218

269

Schmitt, Carl 33, 46, 48, 53f., 57f., 7074, 81, 88, 93, 104, 106, 149, 157f., 166, 168, 172, 186, 195, 211, 215f., 218 Schmoller, Gustav 10, 182 Schneckener, Ulrich 44 Schoenlank, Bruno 125 Schöffel, Georg 217 Schönberger, Christoph 85, 94 Schopenhauer, Arthur 41 Schottky, Richard 66 Schroeder, Ralph 16, 86, 184, 231 Schulze, Winfried 18, 26 Schulze-Gaevernitz, Gerhart von 78 Schumpeter, Joseph A. 88f. Schuppert, Gunnar Folke 17, 21, 43, 64, 139, 211, 238 Scott, Alan 17, 43, 86, 179, Scott, Walter 217 Shaw, Tamsin 174 Sheehan, James J. 40, 135, 138 Shelley, Percy B. 217 Shils, Edward 89, 165 Sica, Alan 210, 213 Siebeck, Paul 10 Siemens, Hermann W. 174 Simmel, Georg 60, 81f., 93, 100 Skalweit, Stephan 169 Skinner, Quentin 101 Skocpol, Theda 18, 20 Smend, Rudolf 17, 31, 54, 74, 162, 225 Smith, Adam 33 Sobota, Katharina 74, 196 Sohm, Rudolph 39, 41, 173, 239 Solms-Laubach, Franz Graf zu 231 Sommermann, Karl-Peter 34 Sonnenfels, Joseph von 90 Sontheimer, Kurt 56, 143 Spann, Othmar 99, 104, 108, 131, 234 Speer, Heino 62, 71, 167, 208 Sperber, Manès 45 Stahl, Friedrich Julius 50, 81 Staudinger, Hans 159f. Stein, Ludwig 61 Steinberger, Peter J. 17f., 21, 230 Steinvorth, Ulrich 159 Sternberger, Dolf 21, 59 Stollberg-Rilinger, Barbara 217-219, 233 Stolleis, Michael 32f., 61, 115, 206 Strauss, Leo 31 Süle, Tibor 29, 176-178

270

Personenregister

Talleyrand, Charles Maurice de 65, 79 Tenbruck, Friedrich 118f., 171, 210 Thoma, Richard 86 Thome, Helmut 163 Thornhill, Chris 70 Thukydides 150 Tocqueville, Alexis de 39, 184f., 192 Tönnies, Ferdinand 175 Torp, Cornelius 121 Treiber, Hubert 176 Treitschke, Heinrich von 17, 50, 79, 87, 131, 134, 143f., 151f., 173, 188, 239 Tribe, Keith 121 Troitzsch, Ulrich 219 Trotha, Trutz von 44 Turner, Bryan S. 123, 231 Turner, Stephen P. 14, 41, 67, 76, 95, 119, 161 Tyrell, Hartmann 156 Ule, Carl Hermann 70 Ullrich, Otto 233 Vincent, Jean-Marie 85 Voegelin, Eric 31 Voigt, Rüdiger 17, 21, 139 Vollrath, Ernst 16, 92, 124, 169 Voßkuhle, Andreas 211, 235 Wagner, Adolph 26, 29 Wagner, Richard 79 Wahl, Rainer 177

Waitz, Georg 29 Waldhoff, Christian 193 Waldmann, Peter 45 Wassermann, Rudolf 37 Weber, Alfred 121 Weber, Marianne 9, 149, 206, 221 Weber, Max 7-19, 21-58, 76-217, 238f. Webster, Douglas 164 Wehler, Hans-Ulrich 76, 141 Weiller, Edith 226 Weinacht, Paul-Ludwig 83 Weinberger, Ota 206 Weinrich, Harald 217 Weiß, Johannes 105f., 108, 150 Welz, Wolfgang 31, 56 Welzel, Christian 163 Whimster, Sam 192, 210 Willke, Helmut 42, 97 Willms, Bernard 130, 218 Willoweit, Dietmar 38, 43, 46 Willson-Quayle, James 216 Wimmer, Hannes 44 Winckelmann, Johannes 9f., 12, 16 Windscheid, Bernhard 62, 205f. Winkler, Heinrich August 132 Wolin, Sheldon 44 Wollmann, Hellmut 234

Zängle, Michael 14, 70, 80 Ziegler, Heinz O. 64, 133, 137, 185, 213 Zippelius, Reinhold 32, 46, 193, 199