Kampf und Kultur: Max Webers Theorie der Politik aus der Sicht seiner Kultursoziologie [1 ed.] 9783428515332, 9783428115334

Max Webers Theorie der Politik wird bis dato meistens im Zusammenhang mit der Moderne diskutiert. Dieses Paradigma kann

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Kampf und Kultur: Max Webers Theorie der Politik aus der Sicht seiner Kultursoziologie [1 ed.]
 9783428515332, 9783428115334

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Soziologische Schriften Band 77

Kampf und Kultur: Max Webers Theorie der Politik aus der Sicht seiner Kultursoziologie Von

Masahiro Noguchi

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

MASAHIRO NOGUCHI

Kampf und Kultur: Max Webers Theorie der Politik aus der Sicht seiner Kultursoziologie

Soziologische Schriften Band 77

Kampf und Kultur: Max Webers Theorie der Politik aus der Sicht seiner Kultursoziologie

Von

Masahiro Noguchi

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation aufgenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-11533-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die japanische Wissenschaftswelt hat sich seit langem sehr intensiv mit Max Webers Werk auseinandergesetzt, worüber die systematische Arbeit von Wolfgang Schwentker (Max Weber in Japan) Auskunft gibt. Dieses Interesse der Japaner an Max Weber war eng verbunden mit der Frage, was die okzidentale Moderne sei. Sowohl diejenigen, die eine Modernisierung der feudalen Relikte der japanischen Vorkriegsgesellschaft anstrebten, als auch diejenigen, die den wirtschaftlichen Erfolg des modernen Japan zu erklären versuchten, oder diejenigen, die die Kehrseite der modernisierten Gesellschaft sichtbar machen wollten, haben die europäische Moderne durch die Brille Max Webers betrachtet. In diesem Paradigma, „Max Weber und die Moderne“, wird Modernisierung mit Verwestlichung und im engeren Sinne Amerikanisierung gleichgesetzt, wobei der asketische Protestantismus, wie er von Weber beschrieben wurde, im Zentrum steht. Dieses Paradigma muß jedoch einer kritischen Prüfung unterzogen werden, wenn heute – nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes – von einer Wiederkehr der Kultur und Religion und der „Vielfalt der Moderne“ (Eisenstadt) die Rede ist. Zugleich rückt im Zuge der globalen politischen Neuordnung die Frage nach der Identität Europas und seiner Differenz zur amerikanischen Zivilisation mehr und mehr in den Vordergrund. Die vorliegende Arbeit versucht, Max Weber nicht als Theoretiker der Moderne, sondern als Theoretiker des Okzidents bzw. Europas zu lesen. Ziel ist es, den vorherrschenden Modernisierungstheorie-Ansatz zu entzaubern und dadurch den Blick zu eröffnen auf die Aktualität von Webers Verständnis der okzidentalen Kultur, die er als polyperspektivischen Pluralismus deutet. Es geht um den Paradigmawechsel von „Max Weber und die Moderne“ zu „Max Weber und Europa“. Die vorliegende Publikation ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Sommersemester 2003 der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn vorgelegt wurde. Mein Dank gilt in erster Linie Herrn Professor Dr. jur. Werner Gephart, der die historischkritische Edition von Max Webers sog. Rechtssoziologie im Rahmen der Max Weber-Gesamtausgabe bearbeitet und diese Untersuchung fachlich angeleitet hat. Ihm sowie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Seminar für Soziologie der Universität Bonn verdanke ich zahlreiche inhaltliche Anregungen, die maßgeblich zur Entwicklung meines Forschungskonzeptes beigetragen haben.

6

Vorwort

Zu großem Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Professor Dr. Tilmann Mayer für seine wertvollen Hinweise zur politischen Theorie. Ebenso danke ich Herrn Mario Koyama und Frau Anne-Marie Springmann, die das Manuskript der Dissertation sorgfältig Korrektur gelesen haben. Nicht zuletzt möchte ich meiner Ehefrau und Kommilitonin Nobuko Noguchi meinen herzlichen Dank aussprechen, ohne deren wissenschaftliche Kritik und persönliche Ermutigung die vorliegende Arbeit unvorstellbar gewesen wäre.

Tokyo, im Sommer 2004 Masahiro Noguchi

Inhaltsverzeichnis I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

II.

Von der Methodologie zur Kultursoziologie: Die Grundlage der politischen Theorie Max Webers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

1. Der perspektivistische Charakter der Methodologie Max Webers . . . . . .

20

a) Wirklichkeitswissenschaft, Nüchternheit und ¹intellektuelle Redlichkeitª als Grundlage der Machtpolitik Webers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

b) Perspektivismus statt Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

2. Perspektivische Irrationalität als Brennpunkt der Weber-Kritik . . . . . . . .

25

3. Zur Kultursoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

a) Fragwürdige Prämisse des ¹dezisionistischenª Interpretationsrahmens

30

b) Die beiden Seiten des Perspektivismus: Subjektivistische Irrationalität und objektives Moment des Wertes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

c) Verbindlichkeit der Rationalität kraft ihrer Eigengesetzlichkeit . . . . .

33

d) Suche nach der Rationalität der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

Machtpolitik und okzidentale Moderne: Unter Berücksichtigung der Differenz zwischen Kautilya und Machiavelli im Rahmen der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

1. Machiavelli und Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

2. Machtpolitik und Differenzierungstheorieansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

a) Moderne als Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

b) Das Kautilya-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

3. Ordnung und Politik in der vergleichenden Kultursoziologie . . . . . . . . . .

51

a) Kautilya und die hinduistische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

b) Die konfuzianische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

c) Machiavelli und die okzidentale Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

4. Typologie der Kulturen und Webers Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

a) Die drei Kultur-Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

b) Relativismus und die indische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

c) Kulturvergleich als Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Exkurs: Webers Wagner-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie: Diskrepanz zwischen Protestantismus, Okzident und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

III.

IV.

8

Inhaltsverzeichnis 1. Weber contra Naturrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

a) Weber-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

b) Anti-naturrechtliche Elemente bei Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

c) Webers Interesse am Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

2. Naturrecht im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie . . . . . . . . . . .

77

a) Naturrecht als eine ¹nur im Okzidentª bekannte Erscheinung . . . . . .

77

b) Zum Interpretationsrahmen des konsequenten Zusammenhangs von asketischem Protestantismus und okzidentalem Rationalismus . . . . . . aa) Fragwürdigkeit der Korrespondenz von PE und ¹Okzidentª . . . bb) Die sog. ¹Musiksoziologieª als entscheidende Stelle . . . . . . . . . . (1) Die Frage des ¹Nur-im-Okzidentª . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Frage nach den ¹spezifischen Entwicklungsbedingungenª . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die das Moment der Irrationalität in sich einschlieûende Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Webers Verständnis des Okzidents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Die Kluft zwischen dem Protestantismus und der ¹okzidentalenª Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79 79 80 81 82 83 83 84

c) Webers Perspektive auf das Naturrecht: Spannungsverhältnis zwischen religiöser und politischer Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

d) Fehlen des Naturrechts in China und Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 90 91

e) Von der okzidentalen Kultur zur Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

3. Der Wandel der Naturrechtskonzeption im Calvinismus und dessen politische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

a) Der Widerspruch zwischen dem Naturrechtsverständnis im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie einerseits und der Naturrechtskonzeption des Calvinismus andererseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

b) Die Aufhebung des Dualismus im Rahmen des Puritanismus und der Entstehung der modernen politischen Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

c) Die Kehrseite der Beseitigung des Dualismus: ¹Glaubenskriegª . . . . 101 4. ¹Okzidentª im Gegensatz zu Protestantismus und Moderne . . . . . . . . . . . 104 V.

¾sthetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber: ¾sthetischer Pantheismus und antagonistischer Polytheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. ¾sthetisierung der politischen Theorie bei Max Weber: Eine Seite der Verantwortungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 a) Gesinnungs- und Verantwortungsethik oder Mono- und Polyperspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) ¾sthetisierung der Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Inhaltsverzeichnis

9

c) Okzident und ästhetisierte Politik: Webers Perspektive auf den Feudalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Webers ambivalente Stellung zu Simmel: Differenz der ontologischen Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Exkurs: Baudelaire bei Habermas, Simmel und Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Jürgen Habermas: Baudelaire als Symbol der Ausdifferenzierung . . . 125 b) Georg Simmel: Baudelaire als Symbol des ¾sthetizismus . . . . . . . . . 126 c) Max Weber: Baudelaire als Symbol des agonistischen Polytheismus 127 3. Zweierlei ¹Soziologien des Streitesª . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4. Webers Distanz zum ¾sthetizismus und gleichrangiger Gegensatz von Verantwortungs- und Gesinnungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 VI.

Max Webers Brief an Aby Warburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Kampf und Machtpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Aby Warburgs Aufsatz ¹Francesco Sassettis letztwillige Verfügungª . . . 141 3. Max Webers Antwort: Der ¹wunderbare Schimmerª des Gegensätzlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4. Webers Plädoyer für die Tragik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

VII. Max Weber und der Totalitarismus: Aus dem Blickwinkel Eric Voegelins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Die Weber-Debatte und die ¹Renaissanceª der Totalitarismusforschung 154 2. Das Mommsen-Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) Irrationalität des Wertbegriffes und Nation als Wert . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Irrationalität der plebiszitären Führerdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 c) Naturrecht als Gegengewicht zur Irrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 d) Die Unmöglichkeit der Grundlegung der Verantwortungsethik bei Mommsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Eric Voegelins Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 a) Weber und Voegelin an der Schwelle zwischen Positivismus und Ordnungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Voegelins Totalitarismusverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 aa) ¹Politische Religionenª . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 bb) Gnostizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4. Weber aus dem Blickwinkel Voegelins oder Gnosis im Werk Webers . . 179 a) Webers Kampf und der gnostische Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 b) Gnosis im Werk Max Webers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 aa) Akosmismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 bb) Gesinnungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 c) Polytheistischer Rationalitätsbegriff als antitotalitäre politische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

10

Inhaltsverzeichnis

VIII. Schluûfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 1. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2. Aktualität der Theorie Max Webers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Abkürzungsverzeichnis

1. Werk Max Webers

MS:

Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik.

MWG:

Max Weber Gesamtausgabe.

PE:

Die Protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, hrsg. von Klaus Lichtblau/Johannes Weiß.

PE II:

Die Protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hrsg. von Johannes Winckelmann.

PS:

Gesammelte Politische Schriften.

RS I/II/III:

Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I/II/III.

SS:

Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik.

SW:

Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

WL:

Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre.

WuG:

Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie.

2. Sonstige

GSG:

Georg Simmel Gesamtausgabe.

KSA:

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe.

KZfSS:

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.

Lebensbild:

Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild.

I. Einleitung Max Webers Theorie der Politik ist bis dato meistens entweder im Kontext seiner Zeitgeschichte1 oder im Zusammenhang mit der modernen Politik bzw. der Moderne schlechthin2 diskutiert worden. Die vorliegende Arbeit versucht dagegen, sie unter besonderer Berücksichtigung seiner vergleichenden Kultursoziologie zu rekonstruieren. Webers Kultursoziologie wird aus folgenden zwei Gründen herangezogen, um seine politische Theorie aufzuklären. Der erste Grund ist werkgeschichtlich, der zweite bezieht sich auf die gegenwärtige Situation, wie sie sich seit dem Zusammenbruch der real-existierenden sozialistischen Staaten darbietet. Zu Max Webers Werkgeschichte: Man hat Webers methodologische Schriften als Grundlage seiner Theorie gelesen,3 weil man seine Wissenschaftslehre nicht nur methodologisch, sondern auch „philosophisch“ verstanden hat.4 Dies gilt auch für die Interpretation seiner politischen Theorie.5 Man hat sich mit seiner 1

Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, 2. Aufl., Tübingen, 1974. 2 Vgl. David Beetham, Max Weber and the Theory of Modern Politics, London, 1974; Charles Turner, Modernity and politics in the work of Max Weber, London/New York, 1992. 3 Vgl. Dieter Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen, 1952; Johannes Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie, 2. Aufl., München/London/New York/Paris, 1992. 4 Darauf verweist Leo Strauss: „Methodologie als Reflexion über das richtige Vorgehen der Wissenschaft ist notwendigerweise Reflexion über die Grenzen der Wissenschaft. Wenn Wissenschaft tatsächlich die höchste Form menschlicher Erkenntnis ist, dann ist sie Reflexion über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Und wenn die Erkenntnis den spezifischen Charakter des Menschen ausmacht, dann ist die Methodologie Reflexion über die Grenzen der Menschheit oder über die Situation des Menschen als solchen. Webers Methodologie kommt dieser Forderung sehr nahe“ (Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Frankfurt am Main, 1977, S. 79). 5 Vgl. Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen, 1970; Wolfgang Schluchter, Wertfreiheit und Verantwortungsethik. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Max Weber, in: Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt am Main, 1980, S. 41-74; Sheldon S. Wolin, Legitimation, Method,

14

I. Einleitung

methodologischen Diskussion beschäftigt, um seine politischen Schriften, die sich freilich vorwiegend auf tagespolitische Themen beziehen, systematisch zu interpretieren. Die vorliegende Arbeit richtet hingegen die Aufmerksamkeit dar6 auf, daß Weber sich mit der Methodologie nur in der „zweiten Phase“ seiner Werkgeschichte beschäftigte. Nach seiner psychischen Krankheit beginnt diese „zweite Phase“ als „die neue Phase der Produktion“7 mit der Abfassung des Aufsatzes „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“ (1903-1906). Webers Beschäftigung mit der Methodologie beschränkt sich auf diese „zweite Phase“. Die „dritte Phase“, zu welcher die „Einleitung“ und die „Zwischenbetrachtung“ der „Wirtschaftsethik und Weltreligionen“ gehören,8 entfaltet sich zwar auf der Grundlage der methodologischen Diskussion, zugleich jedoch auch unabhängig davon. In der Tat weist Weber im Aufsatz „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ darauf hin: „Die Methodologie [...] nimmt sich nur ihrerseits das Recht festzustellen: daß gewisse Probleme untereinander heterogenen Sinn haben, daß ihre Verwechslung miteinander die Folge hat, daß eine Diskussion zum Aneinandervorbeireden führt, und daß über die einen eine Diskussion mit den Mitteln, sei es der empirischen Wissenschaft, sei es der Logik sinnvoll, über die andren dagegen unmöglich ist“.9 Diese Passage kann nur geschrieben werden, wenn man einen Horizont jenseits der Methodologie gewonnen hat. Max Weber beschäftigt sich in seiner „dritten Phase“ damit, was mit den Mitteln der Methodologie unerreichbar ist. (Die Grenze der Wissenschaftslehre und die Aufgabe der Kultursoziologie werden im II. Kapitel der vorliegenden Arbeit diskutiert.) Berücksichtigt man diesen werkgeschichtlichen Aspekt, so läßt sich die These formulieren, daß Webers Theorie der Politik unter besonderer Berücksichtigung seiner „dritten Phase“ interpretiert werden sollte, die vor allem die vergleichende and the Politics of Theory, in: Political Theory, 9, 3, 1981, pp. 401-424; Andreas Anter, Staatstheorie und Werturteilslehre, in: Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung, Berlin, 1995, S. 115-162. 6 Bezüglich der „Entwicklung des Weberschen Werkes“ oder der drei Phasen vgl. Wolfgang Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung, S. 274; ders., Religion und Lebensführung, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1991, Kap. 1. 7 Marianne Weber, Lebensbild, S. 272. 8 Abgesehen davon, wie man „Friedrich H. Tenbrucks Herausforderung“ bewertet, muß die Bedeutung dieser Aufsätze für die Werkgeschichte Webers hervorgehoben werden (vgl. Friedrich H. Tenbruck, Das Werk Max Webers, in: KZfSS, 27, 1975, S. 663-702). Festzuhalten ist auch, daß sich Webers kultursoziologische Untersuchung nicht auf die „dritte Phase“ beschränkt. Dafür können auch die Protestantismusstudie oder noch frühere Werke herangezogen werden. Aber der Frage nach dem okzidentalen Rationalismus geht Weber erst in der dritten Phase nach, wie später darlegt wird. 9 WL, S. 523-524.

I. Einleitung

15

Religions- und Kultursoziologie umfaßt. Von dieser Annahme geht die vorliegende Arbeit aus. Bis dato ist die individualistische Seite der politischen Theorie Webers betont worden, indem man sie im Zusammenhang mit der methodologischen Diskussion zu verstehen versucht hat. Kann aber Webers Theorie der Politik nicht ganz anders interpretiert werden, wenn sie vor dem Hintergrund seiner „dritten Phase“ untersucht wird, in welcher Weber die Aufmerksamkeit 10 mehr auf die Ebene der Ordnung und Kultur richtet? Zum Bezug auf die gegenwärtige Situation: Seit dem Ende des Kalten Krieges tritt erneut die kulturelle Dimension in den Vordergrund, die im 20. Jahrhundert vernachlässigt worden ist. Im Rahmen des Gegensatzes von Kommunismus und Kapitalismus waren kulturelle Probleme zweitrangig. Diese Situation hat sich radikal geändert. „Ende der achtziger Jahre brach die kommunistische Welt zusammen, und das internationale System des Kalten Krieges wurde Geschichte. In der Welt nach dem Kalten Krieg sind die wichtigsten Unterscheidungen zwischen Völkern nicht mehr ideologischer, politischer oder ökonomischer Art. Sie sind kultureller Art.“11 Dementsprechend richten viele Sozialwissenschaftler ihre Aufmerksamkeit auf die kulturelle Dimension.12 Dies gilt auch für die neuere Weber-Forschung. Das Thema der Kultur wird in den letzten Jahren in der Weber-Forschung intensiv diskutiert.13 10

In der „dritten Phase“ beschäftigt sich Weber weniger mit den Problemen der Erkenntnistheorie als mit der gesamten Ordnung. Für dieses Verständnis spricht Webers Brief an den Verlag vom 30. Dezember 1913: „[...] habe ich eine geschlossene Theorie und Darstellung ausgearbeitet, welche die großen Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in Beziehung setzt: von der Familie und Hausgemeinschaft zum Betrieb, zur Sippe, zur ethnischen Gemeinschaft, zur Religion (alle großen Religionen der Erde umfassend: Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen Ethiken, – was Troeltsch gemacht hat, jetzt für alle Religionen, nur wesentlich knapper), endlich eine umfassende soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre. Ich darf behaupten, daß es noch nichts dergleichen gibt, auch kein ‚Vorbild‘“ (zitiert nach Johannes Winckelmann, Max Webers hinterlassenes Hauptwerk: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Tübingen, 1986, S. 36). 11 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München, 2002, S. 20-21. 12 An dieser Stelle ist vor allem die Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen zu erwähnen. 13 Vgl. Lawrence A. Scaff, Fleeing the Iron Cage: Culture, Politics, and Modernity in the Thought of Max Weber, Berkeley/Los Angeles/London, 1989; ders., Max Webers Begriff der Kultur, in: Gerhard Wagner/Heinz Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main, 1994, S. 678-699; Jeffrey C. Alexander, Analytic debates: Understanding the relative autonomy of culture, in: ders. (ed.), Culture and society. Contemporary debates, Cambridge, 1990, S. 1-27; Ralph Schroeder, Max Weber and the Sociology of Culture, London/Newbury Park/New Delhi, 1992; Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genea-

16

I. Einleitung

Darüber hinaus brachte das Ende des Ost-West-Konflikts die Diskussion um die okzidentale Kultur oder den „Westen“ hervor. Einerseits ist der ideologische Charakter des „West“-Begriffes herausgestellt,14 während andererseits die Vereinigung von West- und Ostdeutschland als Ankunft im Westen gepriesen worden ist.15 Auch in diesem Kontext ist Webers Kultursoziologie, die nach der Eigenart der okzidentalen Kultur fragt, sehr bemerkenswert. So thematisiert die vorliegende Arbeit Webers Kultursoziologie, um seine Theorie der Politik aufzuklären. Was ist unter Webers Kultursoziologie zu verstehen? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Denn Weber verwendet den Kulturbegriff sehr vieldeutig, obwohl er – im Vergleich zum historischen Materialismus – die relative Autonomie der kulturellen Dimension offenkundig betont.16 Die Frage nach dem Verständnis der Kultur bei Weber wird daher zwangsläufig stark durch die Perspektive des Interpreten bestimmt. Die vorliegende Arbeit geht von der Annahme aus, daß Webers vergleichende Religionssoziologie eine Typologie der Kulturen unternimmt, in deren Zentren die einzelnen Weltreligionen stehen. So wird hier dem Zusammenhang zwischen Webers (nationalistischem) politischem Denken und seinem Verständnis der deutschen Kultur nicht nachgegangen.17 Vielmehr wird die okzidentale Kultur thematisiert. Dies gründet sich darauf, daß die vorliegende Arbeit mit Bezug auf die aktuelle Situation nach dem Ende des Kalten Krieges logie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt am Main, 1996; Werner Gephart, Handeln und Kultur. Vielfalt und Einheit der Kulturwissenschaften im Werk Max Webers, Frankfurt am Main, 1998; Sam Whimster (ed.), Max Weber and the Culture of Anarchy, London, 1999; Guenther Roth, Global capitalism and multi-ethnicity: Max Weber then and now, in: Stephen Turner (ed.), The Cambridge Companion to Weber, Cambridge, 2000, pp. 117-130; Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt am Main, 2002; Benedikt Giesing, Religion und Gemeinschaftsbildung. Max Webers kulturvergleichende Theorie, Opladen, 2002. In diesem Kontext ist die Diskussion um „Max Weber und das moderne Japan“ zu verstehen. Vgl. Wolfgang Schwentker, Max Weber in Japan, Tübingen, 1998; Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Max Weber und das moderne Japan, Göttingen, 1999 (vgl. dazu Masahiro Noguchi, Max Weber und das moderne Japan (Buchrezension), in: Monumenta Nipponica, 56, 4, 2001, pp. 563-567). 14 Vgl. Philipp Gassert, Ex Occidente Lux? Der Westen als nationaler Mythos der Berliner Republik, in: vorgänge: Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 154, 2, 2001, S. 15-22; Richard Faber, Abendland. Ein politischer Kampfbegriff, Berlin/Wien, 2002. 15 Vgl. Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main, 1999; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1/2, München, 2000. 16 Diebezüglich ist vor allem auf Löwith zu verweisen (vgl. Karl Löwith, Max Weber und Karl Marx (1932), in: Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert – Max Weber, Sämtliche Schriften, Bd. 5., Stuttgart, 1988, S. 324-407). 17 Vgl. dazu David Beetham, Max Weber and the Theory of Modern Politics, Kap. 5.

I. Einleitung

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geschrieben ist (im II. Kapitel wird die Kultursoziologie Max Webers erläutert; im III. und IV. Kapitel wird sodann die okzidentale Kultur behandelt). Es ist auch eine umstrittene Frage, was unter Max Webers Theorie der Politik zu verstehen ist. Die vorliegende Arbeit richtet die Aufmerksamkeit vor allem darauf, daß er sich extrem am Aspekt des Kampfes orientiert. Bekanntlich 18 betont Weber immer wieder, daß „alle Politik dem Wesen nach Kampf ist“. In seiner Antrittsrede behauptet er: „Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art.“19 Seine bekannte Definition der Politik im Vortrag „Politik als Beruf“ ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen: „‚Politik‘ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.“20 Dieses Verständnis der Politik ist zwar ein Brennpunkt der Vorwürfe gegen Weber gewesen. Der Verdacht, daß die Betonung des Kampfes katastrophal sein könne, ist wohl nachvollziehbar, wenn man den Hintergrund des Kalten Krieges berücksichtigt, der in sich die Bedrohung durch Atomwaffen mit einschließt. Webers Ansicht, der Kampf sei unvermeidlich und wesentlich, war zwar unzeitgemäß in einem Zeitalter, in welchem man sich darum bemühte, den tödlichen Kampf zu vermeiden. Sind diese Vorwürfe nicht aber sehr stark durch das Paradigma des Kalten Krieges bzw. des 20. Jahrhunderts bestimmt? Ein Vernichtungskrieg mit Nuklearwaffen ist gewiß unbedingt zu vermeiden. Man muß aber zugleich sagen, daß diese Vorwürfe gegen Weber verhindert haben, seinen Text genau daraufhin zu untersuchen, was für einen Kampf Max Weber verteidigt (vgl. Kapitel V der vorliegenden Arbeit), weswegen er am Moment des Kampfes festhält (vgl. Kapitel VI) und welche Bedeutung seine Perspektive auf den Kampf als eine politische Theorie hat (vgl. Kapitel VII). Diese Fragen scheinen in der gegenwärtigen Situation noch dringlicher. Denn die heutige Welt sieht sich mit verschiedenen Arten von Konflikten und Kämpfen konfrontiert, die nicht auf den Vernichtungskrieg des Kalten Krieges reduziert werden können. Es handelt sich also um den Zusammenhang zwischen Max Webers Verständnis des Okzidents in der vergleichenden Kultursoziologie einerseits und seiner kampforientierten Theorie der Politik andererseits. Kurz: um Kampf und Kultur. Diese Themasetzung mag den Leser an Samuel P. Huntingtons These „Kampf der Kulturen“ erinnern. Denn Huntington diskutiert über acht „Kulturkreise“: den „sinischen“, den „japanischen“, den „hinduistischen“, den „islamischen“, 18

PS, S. 392. PS, S. 14. 20 PS, S. 506. 19

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I. Einleitung

den „westlichen“, den „orthodoxen“, den „lateinamerikanischen“, und den „afrikanischen“ Kulturkreis,21 während Weber in seiner vergleichenden Religionssoziologie den Protestantismus, den Konfuzianismus und den Taoismus, den Hiduis22 mus und den Buddhismus sowie das alte Judentum behandelt. Es ist aber noch wichtiger, daß Weber und Huntington beide charakteristischerweise den Begriff „Kampf“ betonen. Ihre Versuche sind beide durch die Verbindung zwischen Kulturtheorie einerseits und Konflikttheorie andererseits zu charakterisieren. Die vorliegende Arbeit will jedoch Webers Theorie nicht als Vorläufer der These Huntingtons interpretieren. Weber und Huntington unterscheiden sich voneinander hinsichtlich ihres Verständnisses sowohl der okzidentalen Kultur als auch des Kampfes, wie im folgenden dargelegt wird. Unter besonderer Berücksichtigung dieser Divergenz zielt die vorliegende Arbeit darauf, die Bedeutung und Aktualität der antagonistischen Theorie der Politik und des Verständnisses der okzidentalen Kultur im Werk Max Webers herauszuarbeiten.

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Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 57-62. Webers Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie ist jedoch unvollendet. Er hatte den Plan, eine „Darstellung des Urchristentums, des talmudischen Judentums, des Islam und des orientalischen Christentums“ zu geben und weiter über „das Christentum des Okzidents“ zu diskutieren (Max Weber, Neuigkeiten [vom 25. Oktober 1919], zitiert nach Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, S. 579). 22

II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie: Die Grundlage der politischen Theorie Max Webers „‚Wahrheit‘: das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht nothwendig einen Gegensatz zum Irrthum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedener Irrthümer zu einander“ (Friedrich Nietzsche).1 „Die drei Bände seiner Religionssoziologie z. B. warfen gewaltige Massen mehr oder weniger klar gesehener Wahrheiten über die menschliche und soziale Ordnung in die Debatte über die Struktur der Realität“ (Eric Voegelin).2

Max Weber gilt als Theoretiker der Machtpolitik. Interpreten seiner politischen Theorie bekommen öfters mit guten Gründen den Eindruck, daß sein machtpolitischer Standpunkt zu extrem ist. Bereits in seiner Freiburger Antrittsrede vom Jahre 1895 bezeichnete Weber ausdrücklich die „Staatsraison“ als den letzten Wertmaßstab. Der Ton seiner Rede war außergewöhnlich kämpferisch. Eine bekannte Stelle daraus verdeutlicht den entscheidenden Punkt seines Denkens: „Nicht in erster Linie für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation, die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Geschichte verantwortlich machen, sondern für das Maß des Ellenbogenraums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen. Machtkämpfe sind in letzter Linie auch die ökonomischen Entwicklungsprozesse, die Machtinteressen der Nation sind, wo sie in Frage gestellt sind, die letzten und entscheidenden Interessen, in deren Dienst ihre Wirtschaftspolitik sich zu stellen hat; die Wissenschaft von der Volkswissenschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft. Sie ist eine Dienerin der Politik, nicht der Tagespolitik der jeweils 1

Friedrich Nietzsche, Nachlaß Juni-Juli 1885 38 [4], in: KSA 11, S. 598. Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München, 1959, S. 38-39. 2

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

herrschenden Machthaber und Klassen, sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation.“3

Hier kann man gewiß auf Webers jugendliches Ungestüm verweisen. Er selbst hat später diese Antrittsrede als „unreif“4 bezeichnet, so daß man sein frühes Werk mit Bedacht behandeln muß. Und doch ist als Ausgangspunkt der Forschung festzuhalten, daß Weber diese bedingungslos machtpolitische Perspektive bishin zum seinem Sptätwerk, sowohl in den publizistischen als auch in den rein theoretischen Arbeiten, beibehält. Weber betont stets die „sachliche[n] Pragmatik der Staatsräson“ bzw. den „Selbstzweck der Erhaltung (oder Umgestaltung) der inneren und äußeren Gewaltverteilung“, wenn er von Politik spricht.5 In dieser Hinsicht ist seine Definition des politischen Verbandes konsequent, wenn er feststellt: „Der Appell an die nackte Gewaltsamkeit der Zwangsmittel nach außen nicht nur, sondern auch nach innen ist jedem politischen Verband schlechthin wesentlich. Vielmehr: er ist das, was ihn für unsere Terminologie zum politischen Verband erst macht: der ‚Staat‘ ist derjenige Verband, der das Monopol legitimer Gewaltsamkeit in Anspruch nimmt“.6 Hier stellt sich die Frage, vor welchem theoretischen Hintergrund Webers machtpolitisches Moment zu verstehen ist?

1. Der perspektivistische Charakter der Methodologie Max Webers a) Wirklichkeitswissenschaft, Nüchternheit und „intellektuelle Redlichkeit“ als Grundlage der Machtpolitik Webers? Der Frage nach dem theoretischen Hintergrund der Machtpolitik bei Max Weber ist bis dato kaum nachgegangen worden, vor allem deswegen, weil man gewöhnlich einen Interpretationsrahmen voraussetzt, den die vorliegende Arbeit als „realistisch“ bezeichnet. Ihm zufolge ist die empirische Betrachtungsweise eng verbunden mit dem machtpolitischen Standpunkt, wie ihn schon Machiavelli in seiner berühmten Schrift über die Machtpolitik entwickelt hat. Darin heißt es: „Da es aber meine Absicht ist, etwas Brauchbares für den zu schreiben, der Interesse dafür hat, schien es mir zweckmäßiger, dem wirklichen Wesen der Dinge nachzugehen als deren Phantasiebild. Viele haben sich Vorstellungen von Freistaaten und Alleinherrschaften gemacht, von denen man in Wirklichkeit 3

PS, S. 14. Vgl. Max Weber, Gutachten zur Werturteilsdiskussion im Ausschuss des Vereins für Sozialpolitik (1913), in: Eduard Baumgarten, Max Weber. Werk und Person, Tübingen, 1964, S. 127. 5 RS I, S. 547. 6 RS I, S. 547. Vgl. auch PS, S. 505-507; WuG, S. 29-30. 4

1. Der perspektivistische Charakter der Methodologie Max Webers

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weder etwas gesehen noch gehört hat; denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, daß derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält.“7 Man kann mit guten Gründen sagen, daß sich Max Webers „Erfahrungswissenschaft“8 bzw. „Wirklichkeitswissenschaft“9 auf die Politik „einer von jeder pathetischen und Gefühlspolitik absolut freien, ganz nüchternen Berechnung“10 bezieht. Der Kern dieses „Realismus“ besteht darin, daß man sich mit der Macht oder Gewalt in der Politik konfrontiert sieht, wenn man empirisch gegebene Tatsachen „ohne Illusion“, „nüchtern“ oder „sachlich“11 betrachtet. In einem solchen „realistischen“ Interpretationsrahmen verbindet Jaspers das machtpolitische Element im politischen Denken Max Webers mit seinem bekannten Postulat der „Wertfreiheit“ und zieht daraus die Schlußfolgerung: „Der Blick für das Machtpragma, der die Verantwortung tragende Glaube, die Wahrhaftigkeit sind Bedingungen für politisches Denken“.12 Ferner interpretiert Wolfgang Mommsen die Machtpolitik Webers im Zusammenhang mit Nietzsches Begriff der „intellektuellen Aufrichtigkeit“. Mommsen sieht „rationales Verhalten, intellektuelle Aufrichtigkeit in jedem Augenblicke des Lebens, selbst um den Preis innerweltlicher Askese“ als die Grundlage des politischen Denkens bei Weber: „Hier fließen puritanische Grundsätze in eigentümlicher Weise mit Nietzsches Forderung nach intellektueller Selbstzucht und unnachgiebiger Strenge gegen sich selbst zusammen.“13

7

Niccolò Machiavelli, Der Fürst, Stuttgart, 1978, XV. Kapitel, S. 63. WL, S. 149. 9 WL, S. 170. 10 PS, S. 149. 11 Vgl. David Beetham, Max Weber and the Theory of Modern Politics, p. 23: „The political virtue most frequently emphasised by Weber was thus that of ‚Sachlichkeit‘ – matter of factness, realism.“ 12 Karl Jaspers, Max Weber, München/Zürich, 1988, S. 74-75. 13 Wolfgang Mommsen, Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt am Main, 1982, S. 108-109. Diesbezüglich ist auch anzumerken, daß das Verhältnis zwischen Christentum und intellektueller Redlichkeit bei Nietzsche ambivalent ist. Nietzsche schreibt: „Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis“ (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 357, in: KSA 3, S. 600). 8

22

II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

Ob damit aber vieldeutige Begriffe wie „nüchtern“,14 „sachlich“ und „(intellektuelle) Redlichkeit, Aufrichtigkeit oder Rechtschaffenheit“15 in der WeberDiskussion angemessen verstanden werden, bleibt dahingestellt. Es sei hier aber darauf verwiesen, daß die führenden Interpreten der politischen Theorie Max Webers den sog. „realistischen“ Interpretationsrahmen voraussetzen, in welchem die „wertfreie“ Soziologie im Sinne der „empirischen“ Wissenschaft mit dem „verantwortungsethischen“ Politikverständnis im Sinne der Machtpolitik verbunden ist.

b) Perspektivismus statt Realismus Daß der wissenschaftliche Realismus zum machtpolitischen Realismus führt, ist zwar verständlich. Eine solche Feststellung greift jedoch zu kurz. Gewiß haben die Gründerväter der Soziologie beabsichtigt, die Tatsache zum Objekt des Faches zu machen. Die zentrale Frage dabei ist jedoch, was die Tatsache

14

Der Begriff „nüchtern“ ist natürlich eng verbunden mit einer sog. „realistischen“ Betrachtungsweise. Weber selbst benutzt diesen Begriff in diesem Sinne, um sich damit gegen die „Literaten“ zu wenden (vgl. PS, S. 233, S. 443, S. 486; RS I, S. 14). Theodor Heuss’ These trifft also zu, wenn er den „Kern“ der politischen Theorie Webers als „Pathos der Nüchternheit“ charakterisiert (Theodor Heuss, Max Weber in seiner Gegenwart, in: PS, 2. Aufl., 1958, S. XXX-XXXI). Es ist ferner richtig, diesen Begriff im Zusammenhang mit dem Puritanismus aufzufassen, wie Weber bereits darlegt: „Nützliche Realkenntnisse, vor allem empirisch-naturwissenschaftliche und geographische Orientierung, nüchterne Klarheit des realistischen Denkens und Fachwissen als Zweck der Erziehung sind planmäßig zuerst von puritanischen, speziell in Deutschland von pietistischen Kreisen gepflegt worden“ (RS I, S. 533. Vgl. auch RS I, S. 47, S. 52, S. 53, S. 54, S. 61, S. 122, S. 133, S. 142, S. 154, S. 158, S. 171, S. 178, S. 180, S. 187, S. 197, S. 198, S. 450, S. 531, S. 534; WuG, S. 329, S. 337, S. 683). Es darf aber nicht übersehen werden, daß derselbe Begriff zugleich zur Beschreibung der konfuzianistischen „Persönlichkeit“ verwendet wird (vgl. RS I, S. 266, S. 308, S. 415, S. 434, S. 450, S. 488, S. 519, S. 534). Webers Politikbegriff ist – wie später ausgeführt – von der chinesischen Politik zu unterscheiden, wenngleich beide als „nüchtern“ bezeichnet werden können. 15 Webers Wissenschaftslehre, die eng mit seiner Persönlichkeit verbunden ist, wird manchmal mit dem Begriff „intellektuelle Redlichkeit“ charakterisiert (vgl. zum Beispiel Dieter Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, S. 111). Weber schreibt in der Tat in seinem Brief vom 15. Juli 1902 an Elisabeth Gnauck-Kühne: „Auf Ihre freundliche Anfrage hin antworte ich: ich bin kein Zeichendeuter und ermesse mich nicht, die Hungrigen satt machen zu können. Mein entscheidendes inneres Bedürfnis ist ‚intellektuelle Aufrichtigkeit‘: ich sage, was ist“ (zitiert nach Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werkes, Tübingen 1987, S. 187, Anm. 53). Es ist aber umstritten, ob dieser Nietzschesche Begriff mit „Machtpolitik“ in Einklang steht. In diesem Kontext ist es bemerkenswert, daß Weber den Begriff der

1. Der perspektivistische Charakter der Methodologie Max Webers

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eigentlich sei.16 Dieses Problem wird unter anderen in Max Webers methodologischer Diskussion aufgegriffen. Im Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ stellt Weber die positivistische Einstellung, „die Tatsachen sprechen zu lassen“, in Frage. „Der echte Lehrer wird sich sehr hüten, vom Katheder herunter ihm irgendeine Stellungnahme, sei es ausdrücklich, sei es durch Suggestion – denn das ist natürlich die illoyalste Art, wenn man ‚die Tatsachen sprechen läßt‘ – aufzudrängen.“17

Der Ausdruck „die Tatsachen sprechen lassen“ wird auch im „Wertfreiheits“Aufsatz skeptisch hinterfragt. Weber bestätigt, „daß man gerade unter dem Schein der Ausmerzung aller praktischen Wertungen ganz besonders stark, nach dem bekannten Schema: ‚die Tatsachen sprechen zu lassen‘, suggestiv solche hervorrufen kann“, und merkt in aller Deutlichkeit kritisch an, „daß dies auf dem Katheder, gerade vom Standpunkt der Forderung jener Scheidung aus, von allen Mißbräuchen der allerverwerflichste wäre“.18 Nach Weber gibt es keine Tatsache an sich. Er weist darauf hin, daß die „angeblich empirisch[e] [...] Betrachtung eben keine im Sinne der Abwesenheit von Wertungen ‚voraussetzungslose‘ empirische Analyse, sondern eine Beurteilung der ‚Kulturentwickelung‘ unter dem Gesichtspunkt eines bereits als geltend vorausgesetzten ‚Werts‘: des Werts ‚richtiger‘ Erkenntnis, darstellt“.19 Es geht um „Wertbezogenheit“. Ohne Bezug auf irgendeinen Standpunkt bzw. Gesichtspunkt läßt sich keine „empirische“ Tatsache feststellen. Der Wert muß der Empirie vorausgehen. Versteht man unter dem Begriff des Perspektivismus die erkenntnistheoretische Position, „daß die Wahrheit über unsere Welt von der Stellung abhängt, die wir dem Sinn gegenüber einnehmen, und von der dieser gemäßen Art und Weise, wie wir diese Welt deuten, sie ‚sehen‘ und unter welchen Gesichtspunkten wir 20 in ihr handeln“, kann Webers Wissenschaftslehre durch diesen Begriff charakterisiert werden. Dieser Begriff bezieht sich natürlich auf Friedrich Nietzsche,

„intellektuellen Rechtschaffenheit“ auf den alten Buddhismus anwendet, der eine „spezifisch unpolitische und antipolitische Standesreligion“ ist (RS II, S. 220, S. 229). 16 Zum Beispiel Emile Durkheims Begriff „fait social“. 17 WL, S. 601. 18 WL, S. 498. Vgl. auch PS, S. 537: Weber bezeichnet Gladstone als „Techniker des scheinbar nüchternen ‚die-Tatsachen-sprechen-lassens‘“. Weber übersieht nicht, daß die Art der Rede Gladstones nur „scheinbar“ nüchtern ist, und daß seine praktischen Werturteile darin enthalten sind. 19 WL, S. 60. 20 Friedrich Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, 1. Teil, Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche, Tübingen, 1990, S. 1.

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

für den „das Perspektivische“ „die Grundbedingung alles Lebens“ ist.21 Seine kritische Haltung zum Positivismus ist parallel zu Webers Standpunkt. Die perspektivistische erkenntnistheoretische Voraussetzung liegt beiden zugrunde. „Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt ‚es giebt nur Thatsachen‘, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum ‚an sich‘ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. [...] Soweit überhaupt das Wort ‚Erkenntniß‘ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne ‚Perspektivismus‘.“22

Max Webers Wissenschaftslehre ist bis dato im Kontext des sog. Neukantianismus verstanden worden. Das Verhältnis von Rickert und Weber ist mit guten Gründen einer der Eckpfeiler der Weber-Forschung gewesen.23 In der Tat stammt der Begriff „Wertbeziehung“ als „die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissenschaftlichen ‚Interesses‘“, „welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht“,24 von Rickert. Webers Methodologie ist jedoch mit Nietzsches Begriff des Perspektivismus besser zu verstehen.25 Rickerts Philosophie läßt sich hinsichtlich des Begriffes „Wertbeziehung“ zwar als perspektivisch bezeichnen.26 Aber dieser Perspektivismus erreicht seine Grenze, wenn Rickert versucht, „ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte“.27 Im Gegensatz zu diesem geschlossenen System steht Max Webers Position. Karl Jaspers berichtet diesbezüglich von einer Episode: Als Rickert von seinem „Wertsystem“ sprach, das die Erotik als ein Gebiet in sich einschließt, sagte Weber: „Nun hören Sie auf mit diesem Gartenlaubenstil (so nannte man nach einer sentimentalen kleinbürgerlichen Zeitschrift

21

Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: KSA 5, S. 12. Nietzsche, Nachlaß 1886/1887 7 [60], in: KSA 12, S. 315. 23 Vgl. Guy Oakes, Weber and Rickert. Concept Formation in the Cultural Sciences, Cambridge/Massachusetts/London, 1988; Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt am Main, 1998, S. 69-78. 24 WL, S. 511. 25 Zum Verhältnis von Nietzsche und Weber in der Frage des Perspektivismus vgl. Detlev J.K. Peukert, „Der Tag klingt ab, allen Dingen kommt nun der Abend“. Max Webers ‚unzeitgemäße‘ Begründung der Kulturwissenschaften, in: Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen, 1989, S. 11-26. 26 Sogar Kants „kopernikanische Wende“ muß eigentlich als perspektivisch gelten, wie Kaulbach nachweist (vgl. Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, Kap. 1). 27 WL, S. 184. Vgl. Heinrich Rickert, Vom System der Werte (1913), in: Philosophische Aufsätze, Tübingen, 1999, S. 73-105. 22

2. Perspektivische Irrationalität als Brennpunkt der Weber-Kritik

25

damals eine weiche Pathetik), das ist ja alles Unsinn.“28 Ein geschlossenes System der Werte kann keinesfalls auf der Grundlage des Perspektivismus gebildet werden. Man kann also sagen, daß Weber radikaler perspektivisch als Rickert denkt, insofern er von „mehreren, spezifisch besonderten, untereinander vielfach 29 heterogenen und disparaten Gesichtspunkten“ ausgeht, und daß Webers Theorie eher vom Standpunkt Nietzsches her untersucht werden müsste. Dem Verhältnis von Nietzsche und Weber wird hier nicht nachgegangen, obwohl es ein faszinierendes Thema ist, mit dem sich in der Tat viele WeberForscher nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und Japan beschäftigen.30 Festzuhalten bleibt, daß das extrem machtpolitische Element im Werk Max Webers nicht direkt auf seine „empirische“ und „nüchterne“ Betrachtungsweise zurückgeführt werden kann. Es muß also der „realitische“ Interpretationsrahmen der politischen Theorie Webers einmal zurückgestellt werden und die theoretische Grundlage, auf welcher Weber den Begriff der Macht diskutiert, an anderer Stelle gesucht werden.

2. Perspektivische Irrationalität als Brennpunkt der Weber-Kritik Man kann der theoretischen Grundlage der politischen Theorie Max Webers erst nachgehen, wenn man den sog. Realismus überwindet. Denn Webers machtorientierte politische Theorie ist nur im Zusammenhang mit dem Perspektivismus

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Karl Jaspers, Philosophische Autobiographie, München, 1977, S. 37. WL, S. 184. 30 In den 60er Jahren hielt man den Einfluß Nietzsches auf Weber für negativ. Dies gilt vor allem für Eugène Fleischmann und Wolfgang Mommsen. Aber diese Sichtweise hat sich seit den 80er Jahren verändert. Diesbezüglich ist zuerst auf Wilhelm Hennis’ Werk zu verweisen. Die Differenz der Grundtöne zwischen seiner Habilitationsschrift Politik und praktische Philosophie (1959/1960) und seinem späteren Werk Max Webers Fragestellung (1987) verdeutlicht diesen Paradigmenwechsel (vgl. Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie. Schriften zur politischen Theorie, Stuttgart, 1977; ders., Max Webers Fragestellung). Das Thema „Nietzsche und Weber“ wird nicht nur in Deutschland untersucht. Die vorliegende Arbeit möchte hier nur auf zwei Studien von Robert Eden und Yasushi Yamanouchi verweisen, die unabhängig von Hennis entstanden sind. Vgl. Robert Eden, Political Leadership and Nihilism: A Study of Weber and Nietzsche, Tampa, 1983 (vgl. dazu Horst Baier, Friedrich Nietzsche und Max Weber in Amerika. Widersprüche zweier politischer Kulturen in einem Buch von Robert Eden, in: Nietzsche-Studien, 16, 1987, S. 430-436); Yasushi Yamanouchi, Die historische Soziologie Friedrich Nietzsches und Max Webers, in: Mommsen/Schwentker (Hrsg.), Max Weber und das moderne Japan, S. 519-536 (vgl. dazu Wolfgang Schwentker, Max Weber in Japan, S. 336-338). 29

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

zu verstehen, der einigen Grundbegriffen seiner methodologischen Diskussion zugrunde liegt: Stellungnahme, Wert, „Objektivität“ und Idealtypus. Auch wenn diese Fragestellung auf den ersten Blick innovativ erscheint, ist 31 sie in der Tat nicht neu. Bei aller Differenz haben die Weber-Kritiker häufig die Aufmerksamkeit auf das irrationale Element in der Weberschen Theorie gerichtet, das zum Wesen der Perspektivierung gehört. Eine solche Kritik ist aber nicht in bezug auf den Perspektivismus, sondern auf den Irrationalismus, Relativismus und Dezisionismus geübt worden. Eric Voegelin gehört zu denjenigen, die die problematische Bedeutung der perspektivistischen Irrationalität für die politische Theorie Max Webers in aller Klarheit aufgezeigt haben. Er richtet die Aufmerksamkeit auf den Wertbegriff, der zu den Grundbegriffen der Weberschen Wissenschaftslehre gehört und eng mit dem Perspektivismus verbunden ist. Hierzu bemerkt Voegelin: „daß die Prämissen bei der Auswahl des Forschungsgegenstandes ebenso wie die Prämissen einer verantwortungsethischen Position im Dunkeln bleiben“.32 Er führt weiter aus: „Diesen Problembereich vermochte Max Weber nicht weiter zu analysieren.“33 Zugespitzt ist es der Vorwurf, daß Weber seinen Wertbegriff abseits des „rationalen“ bzw. wissenschaftlichen Bereiches stehen läßt, und daß der Wert an sich den Keim der Irrationalität in sich einschließt. Voegelin greift den Begriff der „Dämonie“ auf, um diesen irrationalen Charakter des Wertbegriffes hervorzuheben.34 Er schreibt: „Er[Weber] verlieh ihnen[den

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Bezüglich der Weber-Kritik ist an erster Stelle auf Günther Roths Arbeit zu verweisen (vgl. Guenther Roth, Political Critiques of Max Weber, in: Reinhard Bendix/Guenther Roth, Scholarship and Partisanship: Essays on Max Weber, Berkeley, 1971, pp. 55-69). Roth sichtet die Weber-Kritiken und klassifiziert sie in drei Ansätze: Marxismus (Lukács), Nationalsozialismus (Schmitt und Steding) und Naturrecht (Strauss und Voegelin). Wie Roth aufweist, ist es gewiß problematisch, Webers Theorie von einem bestimmten „politischen“ Standpunkt aus zu analysieren und sie damit zu deformieren. Es muß aber angemerkt werden, daß Roths Versuch, die Weber-Kritik als „politisch“ zu charakterisieren, um dadurch seine soziologische „Theorie“ zu retten, eine tiefergehende Beschäftigung mit der theoretischen Grundlegung der Politik bei Weber verhindert. 32 Eric Voegelin, Autobiographische Reflexionen, München, 1994, S. 30. 33 Ebd. 34 Die „Dämonie“ ist ein Schlüssel zum Verständnis der Wertphilosophie Webers. In seinem Werk erscheinen immer wieder „Dämonen“ und „Götter“. Zum Beispiel ruft die bekannte Schlußpassage von „Wissenschaft als Beruf“ dazu auf, der „Forderung des Tages“ gerecht zu werden: „Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält“ (WL, S. 613). Solche Begriffe sind eng mit Nietzsches Gedanken „Gott ist tot“ verbunden. Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß beide Begriffe gängige Topoi der zeitgenössischen Literatur waren (vgl. Reto Sorg, Gestaltwandel der Götzen. Technikkult und Primitivismus in der Literatur

2. Perspektivische Irrationalität als Brennpunkt der Weber-Kritik

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Werten] den Status ‚dämonischer‘ Entscheidungen jenseits des rationalen Arguments“.35 „Dämonisch (fixiert)“36 zu sein, erscheint Voegelin suspekt, weil er darin einen Bezug zur Ideologie entdeckt. Es geht um die „Apperzeptionsverweigerung“, die der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer in seiner 37 Erzählung Die Dämonen verwendet und Voegelin als einen „der zentralen Begriffe im Verständnis ideologischer Verirrungen und Deformationen“38 bezeichnet. Die problematische Konsequenz, die aus dem irrationalen Charakter des Wertbegriffes bei Weber resultiert, formuliert Voegelin wie folgt: „Es liegt auf der Hand, daß dieses Prinzip zu dubiosen Ergebnissen führen mußte, wenn die Wahl des legitimierenden Wertes in das Ermessen des Wissenschaftlers gestellt wurde. Denn wenn die Wissenschaft als die Erforschung von Tatsachen in Beziehung auf einen Wert definiert wird, dann gibt es ebenso viele Arten politischer Geschichte und politischer Wissenschaft als es Gelehrte mit verschiedenen Ideen darüber, was wertvoll ist, gibt. Die Tatsachen, die als relevant gelten, weil sie auf die Werte eines Fortschrittsgläubigen bezogen werden können, sind nicht die gleichen Tatsachen, die ein Konservativer als relevant ansieht [...]. Weder die äußerste Sorgfalt, die konkrete Arbeit ‚wertfrei‘ zu halten, noch die gewissenhafteste Beobachtung kritischer Methoden bei der Feststellung von Tatsachen und Kausalbeziehungen, konnte das Absinken der historischen und politischen Wissenschaften in den Sumpf des Relativismus verhindern.“39

des frühren 20. Jahrhunderts, in: Reto Sorg/Stefan Bodo Würffel (Hrsg.), Gott und Götze in der Literatur der Moderne, München, 1999, S. 59-77). Bedeutsamer ist jedoch, daß sich viele der Weber-Kritiker gegen diesen dämonischen Grundzug wenden. Bereits Max Scheler bemerkt: „Dieses Irrationale und Nichtintelligible [...] in seiner[Webers] allein fruchtbaren (wie er meinte) Dunkelheit zu belassen, es ewig nur anzustarren als ‚Dämon‘, ‚Schicksal‘ usw. – das war ihm persönlich mindestens so wichtig wie seine Art von ‚Reinheits‘ideal in den Fachwissenschaften“ (Max Scheler, Die Wissenschaftsformen und die Gesellschaft, Bern/München, 1960, S. 432). Es geht um „eine überbetonte Liebe zur Dunkelheit, zur tragisch unauflösbaren Spannung des Lebens, eine Verliebtheit ins Irrationale als solches“ (ebd). Vgl. dazu auch Kurt Lenk, Das tragische Bewußtsein in der deutschen Soziologie, in: KZfSS, 16, 1964, S. 257-287; Volkhard Krech/Gerhard Wagner, Wissenschaft als Dämon im Pantheon der Moderne. Eine Notiz zu Max Webers zeitdiagnostischer Verhältnisbestimmung von Wissenschaft und Religion, in: Gerhard Wagner/Heinz Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre: Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main, 1994, S. 755-779. 35 Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 34. 36 Ebd., S. 36. 37 Vgl. Heimito von Doderer, Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff, München, 2000. Vgl. Henner Löffler, Doderer-ABC. Ein Lexikon für Heimitisten, München, 2000, S. 99-104. 38 Voegelin, Autobiographische Reflexionen, S. 119. 39 Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 32.

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

Der Wertbegriff Webers ist irrational und relativistisch, insofern er unbegründbar ist. Dieser Charakter ist – wie schon gesagt – eng mit dem Wesen der perspektivistischen Philosophie verbunden. Friedrich Nietzsche erkennt dies, wenn er schreibt: „Es giebt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen: und 40 folglich giebt es vielerlei ‚Wahrheiten‘, und folglich giebt es keine Wahrheit.“ Weber ist sich dieses Charakters seiner methodologischen Diskussion wohl bewußt. Was die Wissenschaft als Wert angeht, behauptet er, daß der Wert „etwas aus der Wissenschaft als solcher ganz und gar nicht begründbares“ ist.41 Denn: „Ihr Betrieb mag in den Dienst klinischer, technischer, ökonomischer, politischer oder anderer ‚praktischer‘ Interessen gestellt sein: dann setzt, für die Wertbeurteilung, ihr Wert denjenigen jener Interessen voraus, welchen sie dient, und dieser ist dann ein ‚a priori‘. Gänzlich problematisch aber wird dann, rein empirisch betrachtet, der ‚Wert‘ der ‚reinen Wissenschaft‘. Denn, empirisch-psychologisch betrachtet, ist der Wert der ‚um ihrer selbst willen‘ betriebenen Wissenschaft ja nicht nur praktisch, von gewissen religiösen Standpunkten und etwa demjenigen der ‚Staatsraison‘ aus, sondern auch prinzipiell unter Zugrundelegung radikaler Bejahung rein ‚vitalistischer‘ Werte oder umgekehrt radikaler Lebensverneinung tatsächlich bestritten worden“.42

Dieser irrationale und relativistische Charakter, der dem ganzen Werk Webers zugrunde liegt, wurde von verschiedenen Theoretikern kritisiert. Georg Lukács weist auf die Irrationalität hin, die in Webers Polemik gegen den Irrationalismus latent enthalten ist: „Diese geistvolle und richtige Polemik gegen den damals herrschenden vulgären Irrationalismus hebt aber den irrationalen Kern der Methode und Weltanschauung Max Webers nicht auf. Weber will die Wissenschaftlichkeit der Soziologie durch ihre ‚Wertfreiheit‘ retten, schiebt aber damit nur 43 alle Irrationalität in die Wertungen, in die Stellungnahmen.“ Unter besonderer Berücksichtigung der oben zitierten Stelle rückt Leo Strauss Weber sogar an

40

Nietzsche, Nachlaß 1885 34 [230], in: KSA 11, S. 498. WL, S. 60. 42 WL, S. 60-61. Vgl. dazu auch Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 344, in: KSA 3, S. 575-577: „Man sieht, auch die Wissenschaft ruht auf einem Glauben, es giebt gar keine ‚voraussetzungslose‘ Wissenschaft. [...] Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte“. 43 Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Gerog Lukács Werke, Bd. 9, Neuwied, 1962, S. 534. Vgl. auch Hermann Lübbe, Die Freiheit der Theorie. Max Weber über Wissenschaft als Beruf, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 48, 1962, S. 348: „Dieser Rigorismus [der Trennung von Theorie und Praxis] hat die Konsequenz, daß er, indem er der Wissenschaft die moralisch-politische Kompetenz abspricht, indirekt diese Kompetenz den Propheten und Demagogen zuspricht.“ 41

2. Perspektivische Irrationalität als Brennpunkt der Weber-Kritik

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den Rand des Abgrundes zum Nihilismus: „Die endgültige Formulierung des ethischen Prinzips Webers wäre damit:‚Du sollst etwas bevorzugen‘ – ein Sollen, dessen Erfüllung durch das Sein vollauf gesichert ist.“44 In diesem Kontext läßt sich auch die kommunitaristische Kritik an Weber bzw. an der Moderne schlechthin verstehen. Alasdair MacIntyres Begriff des „Emotivismus“, demgemäß „alle wertenden Urteile oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen sind“,45 bezieht sich zweifellos auf die perspektivistische Irrationalität. Der sog. „Dezisionismus“ in der politischen Welt entspricht einer solchen perspektivistischen Irrationalität. Abgesehen von der Frage, ob Carl Schmitt „ein legitimer Schüler Max Webers“ ist,46 ist der Zusammenhang von einer (extrem) relativistischen und pluralistischen Situation und dem Hervortreten des autoritären und machtpolitischen Moments evident. „Eine endlose Mannigfaltigkeit ‚wertender‘ Stellungnahmen“,47 die aus dem perspektivistischen Standpunkt folgt, rückt die Krise der Ordnung in den Vordergrund. Die Pluralisierung der Stellungnahmen macht es schwer, von einem bestimmten Standpunkt aus eine Ordnung zu entwerfen. Daraus ergibt sich der Hobbesche Gedanke: „Autoritas, non veritas facit legem“.48 Der „Dezisionismus“ entsteht in diesem Kontext, denn „die Entscheidung [ist] als solche Sinn und Zweck des Ausspruchs, und ihr Wert liegt nicht in einer überwältigenden Argumentation, sondern in der autoritären Beseitigung des Zweifels, der gerade aus den vielen möglichen, einander widersprechenden Argumentationen entsteht.“49 So läßt sich „Webers historischer ‚Relativismus‘“ – wie Karl Löwith behauptet – mit „Schmitts diktatorische[m] Dezisionismus“ in Einklang bringen.50

44

Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 49. Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, 2. Aufl., Frankfurt am Main, 1997, S. 26. 46 Jürgen Habermas, Wertfreiheit und Objektivität, in: Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main, 1982, S. 85. Vgl. Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 407-408. 47 WL, S. 246. 48 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie, 7. Aufl., Berlin, 1996, S. 39. 49 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 4. Aufl., Berlin, 1996, S. 46. 50 Karl Löwith, Max Weber und seine Nachfolger, in: Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert/Max Weber, S. 418. 45

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

3. Zur Kultursoziologie a) Fragwürdige Prämisse des „dezisionistischen“ Interpretationsrahmens Der „dezisionistische“ Interpretationsrahmen, wo das Moment der subjektiven Entscheidung mit der machtpolitischen nationalstaatlichen Orientierung in Zusammenhang gebracht wird, ist gewiß sehr überzeugend. Angesichts der Irrationalität der perspektivistischen Wissenschaftslehre stellt sich die Frage: Wie ist eine Ordnung möglich, wenn man von der Beliebigkeit jedweder subjektiven Überzeugung ausgeht? Das machtpolitisch-nationalstaaliche Denken tritt in diesem Kontext in den Vordergrund. Dies gilt für die moderne politische Theorie schlechthin, die mit Machiavelli bzw. Hobbes beginnt. Die vorliegende Arbeit will dagegen die Prämisse dieses „dezisionistischen“ Interpretationsrahmens untersuchen. Diese Prämisse besagt, daß man nicht mehr von einer Rationalität der ganzen Ordnung sprechen kann, wenn man sich auf Webers Werk beruft. Viele der Weber-Kritiker suchen in der Tat nach einem Ausweg aus der perspektivistischen Irrationalität, die Weber theoretisch verschärft, und nach der Rationalität der Ordnung, der im Rahmen seiner Theorie nicht nachgegangen werden kann. Es ist in diesem Sinne paradigmatisch, daß Eric Voegelin Weber 51 als „Denker zwischen Abschluß und Neubeginn“ ausweist. Voegelin leitet seine Neue Wissenschaft der Politik damit ein, die Grenzen der Theorie Webers aufzuzeigen:52 „Seine[Webers] Wahrheitssuche kam jedoch über die Ebene des pragmatischen Handelns nicht hinaus. Denn in dem intellektuellen Klima der methodologischen Debatte mußten die ‚Werte‘ als fraglos hingenommen werden und die Suche konnte nicht bis zur Betrachtung der Ordnung vordringen. Die ratio der Wissenschaft erstreckte sich für Weber nicht auf die Prinzipien, sondern nur auf die Kausalität des Handelns.“53

Verschiedenen Ansätzen, Webers Grenzen zu überwinden, kann hier nicht weiter nachgegangen werden, obwohl es ein interessantes Thema ist. Die vorlie-

51

Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 33. Ähnliches gilt für Max Horkheimer, der in bezug auf die „subjektivistische“ Irrationalität kritisch anmerkt: „Max Weber hing [...] der subjektivistischen Tendenz so entschieden an, daß er sich keinerlei Rationalität vorstellte – nicht einmal eine ‚substantielle‘, vermöge deren der Mensch einen Zweck von einem anderen unterscheiden kann. [...] Max Webers Pessimismus [ist] hinsichtlich der Möglichkeit rationaler Einsicht und rationalen Handelns [...] selbst ein Meilenstein auf dem Wege der Abdankung der Philosophie und Wissenschaft, was ihr Bestreben angeht, das Ziel des Menschen zu bestimmen“ (Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main, 1991, S. 29-30, Anm. 1). 53 Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 34. 52

3. Zur Kultursoziologie

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gende Arbeit will sich vielmehr kritisch mit der Prämisse des „dezisionistischen“ Interpretationsrahmens auseinandersetzen und der Potentialität der Theorie Webers als einer Ordnungswissenschaft nachgehen, die in den Weber-Kritiken vernachlässigt worden ist. b) Die beiden Seiten des Perspektivismus: Subjektivistische Irrationalität und objektives Moment des Wertes Die Betrachtung der Weber-Kritiken zeigt, daß der Brennpunkt dieser Kritiken die Problematik des Perspektivismus ist. Der subjektive und willkürliche Charakter der Perspektive kennzeichnet aber nicht nur Max Webers Theorie. Dieser ist in der Geistesgeschichte immer wieder kritisch erörtert worden. Beispielsweise „verdammte Plato sie[die perspektivische Raumanschauung] schon in ihren bescheidenen Anfängen, weil sie die ‚wahren Maße‘ der Dinge verzerre, und subjektiven Schein und Willkür an die Stelle der Wirklichkeit und des nomos 54 setze“. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Perspektive neben diesem subjektiven Charakter ein „objektives“ Moment hat. Die vorliegende Arbeit lehnt deswegen die subjektivistische Interpretation der Theorie Max Webers ab, sie verwendet stattdessen den Perspektivismus-Begriff. Es geht um eine Dimension, die weder in die Subjektivität noch in die Objektivität aufgelöst werden kann. Kritik an der Perspektive kann daher nicht nur vom Standpunkt des Objektivismus, sondern auch von dem des Subjektivismus geübt werden. So bemerkt Panofsky: „Der alte Orient, die klassische Antike, das Mittelalter und jede irgendwie archaistische Kunst, wie etwa diejenige Botticellis, haben sie[die Perspektive] – mehr oder minder vollständig – abgelehnt, weil sie in eine Welt des Außer- oder Übersubjektiven ein individualistisches und zufälliges Moment hineinzutragen schien – der Expressionismus (denn neuerdings hat sich ja ein abermaliger Umschwung vollzogen) vermied sie, gerade umgekehrt, weil sie den Rest von Objektivität, den selbst der Impressionismus

54 Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form“ (1924/25), in: Deutschsprachige Aufsätze, II, Berlin, 1998, S. 754. Vgl. Platon, Der Staat (Politeia), Stuttgart, 1982, S. 442: „Unser Gesichtssinn ist die Ursache, wenn uns dieselbe Größe aus der Nähe und Ferne nicht gleich groß erscheint? [...] Dieselben Gegenstände erscheinen uns krumm oder gerade, je nachdem wir sie in oder außer Wasser erblicken, ebenso hohl oder erhaben infolge der Täuschung unserers Gesichtssinnes durch die Farbe; und all dies Eigenheit unserer Natur stürzt sich nun die perspektivische Malerkunst und läßt kein Gaukelwerk ungenützt, und ähnlich machen es die Zauberei und die zahlreichen anderen Künste dieser Art“ (602c-d).

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

dem individuellen Gestaltungswillen noch hatte entziehen müssen, nämlich den dreidimensionalen Wirklichkeitsraum als solchen, bejaht und sicherstellt.“55

Die Perspektive ist wegen ihres ambivalenten Charakters von beiden Polen her abgelehnt worden. Dies gilt auch für das Denken Max Webers. Er geht zwar von der Prämisse aus: „Die kulturwissenschaftliche Erkenntnis in unserem Sinn ist [...] an ‚subjektive‘ Voraussetzungen gebunden“.56 Es ist aber deutlich, daß Weber sich dieses ambivalenten Charakters bewußt ist, wenn er das Wort „subjektiv“ mit Anführungszeichen versieht. In der Tat betont Weber im „Objektivitäts“-Aufsatz: „Daraus folgt nun aber selbstverständlich nicht, daß auch die kulturwissenschaftliche Forschung nur Ergebnisse haben könne, die ‚subjektiv‘ in dem Sinne seien, daß sie für den einen gelten und für den andern nicht“.57 Dementsprechend wurde ihm von der jüngeren Generation seiner Zeit vorgeworfen, er sei zu objektivistisch. Marianne Weber berichtet über diese neoromantische Strömung: „Neue Typen [...] kämpfen im Namen persönlicher Freiheit um alte und neue Ideale der Lebensgestaltung. Die Geltung allgemeinverbindlicher Normen des Handelns wird bezweifelt, man sucht entweder ein ‚individuelles Gesetz‘ oder verneint jedes ‚Gesetz‘, um über dem sich immer verändernden Strom des Lebens nur das Gefühl walten zu lassen. Dieser Ansturm auf die überkommenen Werttafeln will vor allem den beschwingenden Eros befreien. Denn von ihm verlangt ja ‚Gesetz‘ und ‚Pflicht‘ die fühlbarsten Opfer.“58 Max Weber distanziert sich von dieser Tendenz. Er betont zwar die subjektive Voraussetzung der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis. Aber sein Wertbegriff als Voraussetzung der Erkenntnis kann keineswegs auf die reine Subjektivität reduziert werden. Der Wert hat vielmehr „überempirische Geltung“.59 Man kann zwar mit einer Entscheidung einen beliebigen Wert auswählen, wird aber zugleich durch den Charakter des Wertes bestimmt. Der Wert bei

55

Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form“, S. 754-755. WL, S. 182. 57 WL, S. 183-184. 58 Marianne Weber, Lebensbild, S. 373. Unter besonderer Berücksichtigung der damaligen expressionistischen Bewegung schreibt Georg Simmel wie folgt: „Jetzt erleben wir diese neue Phase des alten Kampfes, der nicht mehr Kampf der heute vom Leben gefüllten Form gegen die alte, leblos gewordene ist, sondern Kampf des Lebens gegen die Form überhaupt, gegen das Prinzip der Form“ (Georg Simmel, Der Konflikt der modernen Kultur, in: GSG 16, S. 185). 59 WL, S. 213. Im Kontext des Unterschiedes zwischen Webers Position und dem Historismus weist Strauss auf den „transhistorischen Charakter“ des Wertbegriffes bei Weber hin. Vgl. Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 41: „Es ist die Anerkennung zeitloser Werte, die Webers Position am deutlichsten vom Historismus unterscheidet. Nicht so sehr der Historismus als vielmehr ein eigentümlicher Begriff zeitloser Werte bildet die Grundlage für seine Ablehnung des Naturrechts.“ 56

3. Zur Kultursoziologie

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Weber ist in diesem Sinne „objektiv“ (in Anführungszeichen!). Weber-Kritiker, die auf seinem „subjektivistischen“ bzw. „dezisionistischen“ Moment beharren, stoßen bei der folgenden Stelle auf Verständnisschwierigkeiten: „Gerade jene innersten Elemente der ‚Persönlichkeit‘, die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, 60 werden von uns als etwas ‚objektiv‘ Wertvolles empfunden.“

c) Verbindlichkeit der Rationalität kraft ihrer Eigengesetzlichkeit Weber verwendet in der vergleichenden Religions- und Kultursoziologie den Rationalitätsbegriff, der an den Wertbegriff in der methodologischen Schrift anschließt. Auch für den Rationalitätsbegriff gilt der perspektivistische Charakter des Wertes, wobei Perspektive nicht nur subjektiven, sondern auch objektiven Charakter hat. Was die „objektive“ oder verbindliche Macht der Rationalität angeht, sagt Weber: „Auch das Rationale im Sinne der logischen oder teleologischen ‚Konsequenz‘ einer intellektuell-theoretischen oder praktisch-ethischen Stellungnahme hat nun einmal (und hatte von jeher) Gewalt über die Menschen, so begrenzt und labil diese Macht auch gegenüber anderen Mächten des historischen Lebens überall war und ist.“61 Rationalität besitzt die Eigenschaft, unabhängig von der willkürlichen Subjektivität zu sein, während sie abhängig von der subjektiven Entscheidung ist. Webers Rationalitätsbegriff wird der Grundlage der aufklärerischen Philosophie enthoben. So reduziert er die Bedeutung von „rational“ auf den Begriff „konsequent“. Demnach können „ethische, politische, utilitarische, hedonische, ständi62 sche, egalitäre, oder irgendwelche anderen Forderungen“ rational sein. Auch wenn eine Sichtweise vom wissenschaftlichen Standpunkt aus „irrational“ ist, kann sie im religiösen Kontext „rational“ sein. Der Begriff der Rationalität wird von Weber formalisiert und relativiert. Er wird nämlich gänzlich perspektivistisch verwendet. Weber ist sich – zumindest in seiner späteren Phase – einer solchen Perspektivität wohl bewußt, wenn er, auf Brentanos Kritik antwortend, schreibt: „‚Irrational‘ ist etwas stets nicht an sich, sondern von einem bestimmten ‚rationalen‘ Gesichtspunkte aus. Für den Irreligiösen ist jede religiöse, für den Hedoniker jede asketische Lebensführung ‚irrational‘, mag sie auch, an ihrem letzten Wert gemessen, eine ‚Rationalisierung‘ sein. Wenn zu irgend etwas, so möchte dieser Aufsatz dazu

60

WL, S. 152. RS I, S. 537. 62 WuG, S. 45. 61

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

beitragen, den nur scheinbar eindeutigen Begriff des ‚Rationalen‘ in seiner Vielseitigkeit aufzudecken.“63

Diesbezüglich muß man vor allem die ästhetische und erotische Sphäre beachten, „deren Wesen von Grund aus arationalen oder antirationalen Charakters ist.“64 Gegen den Rationalismus, der hier freilich nicht weiter bestimmt wird, setzt Weber die Kunst: „Sie[die Kunst] übernimmt die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus.“65 Es ist aber nicht zu übersehen, daß die ästhetische Sphäre – dem soziologischen Perspektivismus Webers nach – nicht an sich irrational ist. Sie erscheint nur irrational, wenn sie vom Gesichtspunkt des Intellektualismus betrachtet wird. Die ästhetische Sphäre kann also „rational“ sein, insoweit sie eine „Eigengesetzlichkeit“ hat. Weber weist darauf hin: „Die Kunst konstituiert sich nun als ein Kosmos immer bewußter erfaßter selbständiger Eigenwerte.“66 Ähnliches gilt auch für die erotische Sphäre, die für ihn „zu der größten irrationalen Lebensmacht“ gehört.67 Trotzdem kann sie auch rational sein im Sinne „der systematischen Herauspräparierung der Sexualsphäre zu einer hochwertigen, alles rein Animalische der Beziehung verklärend umdeutenden erotischen Sensation“.68 Alles ist abhängig von der Perspektive. Es ist aber im Kontext der Weber-Kritik bedeutsamer, daß die Rationalität in diesem Sinne, so Weber, „Gewalt über die Menschen“ hat. Weber führt den Begriff der Eigengesetzlichkeit ein,69 um eine solche Gewalt zu erklären. Die 63

RS I, S. 35, Anm. 1=PE, S. 162, [39]. RS I, S. 554. 65 RS I, S. 555. 66 RS I, S. 555. 67 RS I, S. 556. 68 RS I, S. 560. Vgl. dazu auch Max Weber, Brief an Georg Lukács vom 10. März 1913, in: Georg Lukács, Briefwechsel 1902-1917, Stuttgart, 1982, S. 320-321: „‚Geformtes‘ ist ja nicht nur das Werthafte, das über dem Erlebnishaften sich erhebt, sondern geformt ist auch das in die Tiefe und äußersten Winkel des ‚Kerkers‘ eintauchende Erotische. Es teilt das Schicksal des Schuld-Belasteten mit allem geformten Leben, steht in der Qualität seines Gegensatzes gegen Alles, was dem Reiche des ‚formfremden‘ Gottes angehört, dem ästhetischen Sichverhalten sogar nahe.“ 69 Den Begriff Eigengesetzlichkeit verwendet Weber – werkgeschichtlich betrachtet – erst in der späteren Phase. Vor allem in der „Zwischenbetrachtung“ taucht dieser Begriff immer wieder auf (vgl. RS I, S. 541, S. 544, S. 547, S. 551, S. 552, S. 553, S. 555, S. 556, S. 566). Es ist mit guten Gründen zu vermuten, daß die Beschäftigung mit der Forschung über die indische Gesellschaft ihm diesen Begriff nahebringt (vgl. dazu Kapitel III der vorliegenden Arbeit). Ferner soll darauf hingewiesen werden, daß der Begriff der Eigengesetzlichkeit nicht nur im Zusammenhang mit der Rechtsentwicklung und Ökonomie, sondern auch in den Bereichen der Religion und Kunst verwendet wird (bezüglich 64

3. Zur Kultursoziologie

35

„Objektivität“ der Werte wird damit soziologisch fundiert. Bezüglich der modernen kapitalistischen Wirtschaft konstatiert Weber die Verbindlichkeit dieser Eigengesetzlichkeiten: „Der Kosmos der modernen rationalen kapitalistischen Wirtschaft wurde daher, je mehr er seinen immanenten Eigengesetzlichkeiten folgte, desto unzugänglicher jeglicher denkbaren Beziehung zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik. Und zwar nur immer mehr, je rationaler und damit unpersönlicher er wurde. Denn man konnte zwar die persönliche Beziehung zwischen Herren und Sklaven ethisch restlos regulieren, eben weil sie persönlich war.“70

Persönliche Beziehungen können durch subjektive Entscheidungen verändert werden. Aber wo sich die Wirtschaft nach der ihr eigenen Gesetzlichkeit als „Kosmos“ im Sinne eines relativ geschlossenen Systems verselbständigt, muß das Individuum unvermeidlich in eine solche Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft verwickelt werden.71 Dies gilt nicht nur für den Bereich der modernen Wirtschaft, sondern auch für andere Gebiete. So schreibt Weber in bezug auf die Persönlichkeit: „Bei jeder beruflichen Aufgabe verlangt die Sache als solche ihr Recht und will nach ihren eigenen Gesetzen erledigt sein. Bei jeder beruflichen Aufgabe hat der, welchem sie gestellt ist, sich zu beschränken und das auszuscheiden, was nicht streng zur Sache gehört, am meisten aber: eigene Liebe und Haß.“72 Berücksichtigt man das „objektive“ bzw. verbindliche Moment des Wert- und Rationalitätsbegriffes bei Weber, erscheinen viele der Weber-Kritiken verfehlt. Webers handelndes Subjekt ist kein „autonomes Subjekt“, das sich der Sozialität und der gemeinsamen Ethik entzieht.73 Die von Weber angenommene „Persönlichkeit“ findet „ihr ‚Wesen‘ in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten ‚Werten‘ und Lebens-‚Bedeutungen‘ [...], die sich in ihrem Tun zu Zwecken ausmünzen und so in teleologisch-rationales Handeln umset74 zen“. Sie steht im Gegensatz zu einer Persönlichkeit, deren Wesen sich darin manifestiert, daß sie sich von diesen „objektiven“ Werten befreit.75 So darf der Religion vgl. RS I, S. 260, S. 551; WuG, S. 264, S. 700, S. 704, bezüglich der Kunst vgl. RS I, S. 555, S. 556; WuG, S. 365; MS, S. 39). 70 RS I, S. 544. 71 Vgl. SS, S. 267. 72 WL, S. 494. 73 Johannes Weiß, Max Webers Grundlegung der Soziologie, S. 91. 74 WL, S. 132. 75 In einer solchen Persönlichkeit erkennt Weber die „romantisch-naturalistische Wendung des ‚Persönlichkeits‘gedankens“. Sie sucht – so Weber – „das eigentliche Heiligtum des Persönlichen“ „in dem dumpfen, ungeschiedenen vegetativen ‚Untergrund‘ des persönlichen Lebens, d. h. in derjenigen, auf der Verschlingung einer Unendlichkeit psychophysischer Bedingungen der Temperaments- und Stimmungsentwickelung beruhenden ‚Irrationalität‘, welche die ‚Person‘ ja doch mit dem Tier durchaus teilt“ (WL, S. 132).

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

seine Position keinesfalls mit dem subjektivistischen Anarchismus gleichgesetzt werden. Ein „dezisionistischer“ Interpretationsansatz muß also zunächst einmal verworfen werden. Die subjektive Entscheidung führt nicht direkt zum machtpolitischen nationalstaatlichen Standpunkt. Vielmehr ist das Machtpragma als eine Rationalität mit eigener Gesetzlichkeit zu verstehen, wie Weber in der „Zwischenbetrachtung“ ausdrücklich feststellt: „Der gesamte Gang der innerpolitischen Funktionen des Staatsapparates in Rechtspflege und Verwaltung reguliert sich trotz aller ‚Sozialpolitik‘ letzten Endes unvermeidlich: an dem absoluten […] Selbstzweck der Erhaltung (oder Umgestaltung) der inneren und äußeren Gewaltteilung. [...] Gewalt und Bedrohung mit Gewalt gebiert aber nach einem unentrinnbaren Pragma alles Handelns unvermeidlich stets erneut Gewaltsamkeit. Die Staatsräson folgt dabei, nach außen wie nach innen, ihren Eigengesetzlichkeiten.“76

Wenn sich ein Mensch verhalten würde, als gäbe es keine solchen Eigengesetzlichkeiten, müßte er als „romantisch“ bezeichnet werden.77 Hier geht es allerdings nicht mehr darum, ob ein Individuum dieses Pragma akzeptieren oder ablehnen soll, sondern vielmehr darum, wie es sich diesem gegenüber verhalten kann.

d) Suche nach der Rationalität der Ordnung Man sieht sich aber noch mit einer anderen Schwierigkeit konfrontiert, auch wenn durch den Hinweis auf das „objektive“ Moment des Wert- und Rationalitätsbegriffes bei Weber bewiesen ist, daß er kein durchaus subjektivistischer Theoretiker ist. Denn die Problematik der „Anarchie der Werte“ bleibt bestehen.78 Dieser Problematik kommt eine zentrale Bedeutung zu, weil sie zwangsläufig mit der Moderne schlechthin einhergeht, zu deren Wesen auch die gesellschaftliche Differenzierung in Subsysteme gehört. Hier offenbart sich der Verdacht, daß die Befreiung der jeweiligen Eigengesetzlichkeiten von moralischer Kontrolle zu unheilvollen Folgen führt, wenngleich sie eine immense technische Entwicklung ermöglicht. Mit Weberschen Begriffen gesagt, handelt es sich um die Annahme, daß die Rationalisierung im Sinne der Fortsetzung der Eigengesetzlichkeit eines Bereichs die Irrationalität der Ordnung im Ganzen herbeiführt. Es geht hier um die Rationalität auf der Ebene der Gesamtordnung.

76

RS I, S. 547. Vgl. SS, S. 514; PS, S. 263. 78 Vgl. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen, 1922, S. 25; Ernst Robert Curtius, Max Weber on Science as a Vocation, in: Peter Lassman/Irving Velody (ed.), Max Weber’s „Science as a Vocation“, London, 1989, p. 74. 77

3. Zur Kultursoziologie

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Wie ist eine Ordnung trotz Polyperspektivität möglich?79 Bei dieser Frage stößt man auf Grenze der Wissenschaftslehre Max Webers. Weber postuliert nicht nur die „Wertbezogenheit“ der Erkenntnis, sondern auch die Gleichrangigkeit der Werte, wonach kein Wert eine privilegierte Position einnimmt. Darüber hinaus lehnt er – im Gegensatz zum Neukantianismus – ein geschlossenes 80 System ab, in welches die einzelnen Werte subsumiert werden könnten. Im Rahmen einer solchen perspektivistischen Erkenntnistheorie kann man nicht der Dimension der Ordnung nachgehen, die aus verschiedenen Werten besteht.81 Wer Webers Theorie der Politik auf der Grundlage seiner Wissenschaftslehre zu verstehen versucht, ist also gezwungen, sie als relativistisch zu bezeichnen, weil sie ohnmächtig gegenüber der Anarchie der Werte oder Rationalitäten und machtlos gegenüber der extremen Form der Machtpolitik ist. Hat Max Weber kein Interesse an der Dimension einer aus verschiedenen Werten bzw. Rationalitäten bestehenden Ordnung? Die „dezisionistische“ Interpretation der politischen Theorie Max Webers ist lediglich unter der Voraussetzung möglich, daß diese Frage verneint wird. Auf dieselbe Frage will die vorliegende Arbeit dagegen mit „doch“ antworten.82 Webers Theorie ist zwar durch 79

Webers Einsicht in die Polyperspektivität tritt – parallel zu Friedrich Nietzsche – in den Vordergrund, indem die aufklärerische Annahme als eine Perspektive relativiert und ihr Privileg abgeschaffen wird. Ähnliches gilt für die moderne Malerei, wo die Perspektive, die seit der Renaissance paradigmatisch gewesen ist, radikal kritisiert wird. Es ist kein Zufall, daß die Jahre, in der Weber eine Zäsur in seiner methodologischen Arbeit unternommen und den Akzent auf die kultursoziologische Forschung verlagert hat, mit der Epoche des Kubismus zusammenfällt. In beiden Fällen geht es um die Zusammenstellung mehrerer unprivilegierter Perspektiven (vgl. Walter Biemel, Bemerkungen zur Polyperspektivität bei Picasso, in: Philosophisches Jahrbuch, 74, 1966/1967, S. 154-168). 80 Rickert hingegen versucht, ein Wertsystem aufzustellen, um den Relativismus abzuwehren (vgl. Dieter Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, S. 105-106). 81 Allderdings findet sich der Blick auf die Ordnung auch in den methodologischen Schriften. Im „Objektivitäts“-Aufsatz schreibt Weber, daß „es uns für die Erkenntnis der Wirklichkeit auf die Konstellation ankommt, in der sich jene (hypothetischen!) ‚Faktoren‘, zu einer geschichtlich für uns bedeutsamen Kulturerscheinung gruppiert, vorfinden“ (WL, S. 174). Eine solche Aufgabe steht allerdings außerhalb der Methodologie. Ihr ist in der Kultzursoziologie nachzugehen. 82 Im Gegensatz zu der „dezisionistischen“ Prämisse findet Louis Dumont bei Max Weber eine „soziologische Apperzeption“, die „sich gegen die individualistische Auffassung vom Menschen“ wendet, auch wenn sie „äußerst indirekt zum Ausdruck kommt“ (Louis M. Dumont, Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens, Wien, 1976, S. 24). Werner Gephart richtet ferner die Aufmerksamkeit auf den Begriff „Gemeinschaftsglaube“ bei Weber (vgl. Werner Gephart, Zwischen „Gemeinsamkeitsglaube“ und „solidarité sociale“. Partikulare Identitäten und die Grenzen der Gemeinschaftsbildung in Europa, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, 14, 1993, S. 190-203). Benedikt Giesing thematisiert auch „die integrationstheoretischen Elemente der Weberschen Religionsso-

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

den „methodologischen Individualismus“ gekennzeichnet, bei ihm steht das Individuum jedoch immer in Beziehung mit der Ordnung, in der es eingebettet ist. Max Weber geht vor allem in seiner vergleichen Religions- oder Kultursoziologie dem Problem der Ordnung nach. In seiner Kultursoziologie sucht er die Grenzen seiner Wissenschaftslehre zu überwinden und die Rationalität auf der Ebene der gesamten Ordnung zu beleuchten. In diesem Kontext ist die Aufmerksamkeit auf den Begriff „Geist“ zu richten. Bekanntlich verwendet Weber den Begriff des „Geistes“ in seiner Protestantis83 musstudie, obgleich dieser Begriff zunächst an Hegel oder die historische Schule erinnert, wogegen Weber sich wendet.84 Der Begriff des „Geistes“ ist ambivalent und tatsächlich oft mißverstanden worden. Man kann aber diesen Begriff klären, wenn man ihn als Versuch auffaßt, die Rationalität der Ordnungsebene zu ergründen, ohne die perspektivistische Pluralität der Werte und Rationalitäten aufzugeben. Der „Geist“ des Kapitalismus bezieht sich nicht ausschließlich auf den wirtschaftlichen Bereich. „Diejenige Komponente des kapitalistischen ‚Geistes‘ der Neuzeit endlich, welche ich speziell analysierte: – der Gedanke der ‚Berufspflicht‘ mit allem, was an ihm hängt [...] ragt [...] über das Gebiet des Ökonomischen hinaus in ganz heterogene Sphären menschlichen Handelns.“85 So schreibt Weber in „Antikritisches Schlußwort zum ‚Geist des Kapitalismus‘“: „Daß wir nun trotzdem von einem solchen ‚Geist‘ mit Beisetzung des jenen Systemen entlehnten Adjektivs sprechen, hat – um es zu wiederholen –, seinen Grund darin, daß allerdings diejenige oder diejenigen mehreren möglichen Attitüden, welche wir so bezeichnen, uns eben jenen Organisationsformen als irgendwie spezifisch ‚adäquat‘: aus inneren Gründen ihnen ‚wahlverwandt‘ erscheinen, ohne daß sie doch deshalb in jedem einzelnen Falle, ja auch nur in der Mehrzahl oder dem Durchschnitt der Fälle notwendig daran gebunden wären.“86

Es geht nicht um den „Volksgeist“ als einheitliche Substanz im Sinne der historischen Schule, sondern um die „adäquate“ oder „wahlverwandte“ Beziehung der Bestandteile untereinander. Weber zeigt hier eine gedankliche Nähe zu Montesquieu, der sagt: „Mehrere Dinge regieren die Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Staatsmaximen, Beispiele aus der Geschichte, Sitten, Lebensstil. Aus

ziologie“ (Benedikt Giesing, Religion und Gemeinschaftsbildung. Max Webers kulturvergleichende Theorie, S. 13). 83 Vgl. RS I, S. 335; RS II, S. 110. 84 Im Brief an Franz Eulenburg vom 12. Juli 1909 schreibt Weber: „Zwei Wege stehen offen: Hegel oder – unsere Art die Dinge zu behandeln“ (MWG II/6, S. 173). 85 PE II, S. 173. 86 PE II, S. 284.

3. Zur Kultursoziologie

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all dem bildet sich als ihr Ergebnis ein Gemeingeist.“87 In der gegenwärtigen Soziologie wird Montesquieu kaum behandelt. Es ist jedoch kein Zufall, daß Raymond Arons Darstellung der Geschichte der Soziologie mit Montesquieu beginnt. Aron übersieht dabei nicht die Affinität zwischen Montesquieu und Weber: „Seine[Montesquieus] Absicht ist, die Geschichte verständlich zu machen. Er will das historisch Gegebene verstehen. Dieses bietet sich ihm in einer fast unbegrenzten Fülle von Sitten und Gebräuchen, Ideen, Gesetzen und Institutionen dar. Der Ausgangspunkt seiner Forschungen ist diese scheinbar zusammenhanglose Vielfalt. Sie soll durch eine gedachte Ordnung ersetzt werden. Montesquieu will ebenso wie Max Weber von einem inkohärenten Tatbestand zu einer vernünftigen Ordnung vorstoßen. Ein solches Verfahren ist jedoch typisch für die 88 Soziologen.“ Unabhängig von der Frage, ob Max Weber seinen Begriff des „Geistes“ von Montesquieus Vom Geist der Gesetze entlehnt,89 ist es doch offensichtlich, daß Weber mit diesem Begriff eine Ordnung meint, die er als Zusammenhang der verschiedenen Elemente denkt.90 Seine vergleichende Kultursoziologie geht von der Prämisse aus, daß eine kulturelle Erscheinung keine isolierte Substanz, sondern „ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit“ ist.91 Man muß sie also nicht als „Realgrund aller einzelnen Kulturäußerungen“, sondern vielmehr als „Resultante unzähliger Kultureinwirkungen“ betrachten.92 Dementsprechend geht es weniger um ein bestimmtes Element als um die

87

Montesquieu, Vom Geist der Gesetzte, Stuttgart, 1994, 19. Buch, 4. Kapitel, S.295. Raymond Aron, Hauptströmungen des soziologischen Denkens, Bd. 1, Köln, 1971, S. 24. 89 Es steht außer Zweifel, daß Weber Montesquieus Werke gelesen hat. Marianne Weber berichtet über die Jahre 1901-1902 in Rom: „Wir leben nun mit allerlei Büchern, zu deren Lektüre man sonst nie kommt, d. h. Max liest ein fabelhaftes Gemisch in sich hinein, allerlei über die Geschichte, Verfassung und Wirtschaft der Klöster, dann Aristophanes, Rousseaus Emil, Voltaire, Montesquieu, Taines sämtliche Bände und englische Schriftsteller“ (Marianne Weber, Lebensbild, S. 267). Weber erwähnt Montesquieu in bezug auf die Gewaltenteilung (vgl. WuG, S. 166, S. 394, S. 634) und auf den Zusammenhang zwischen Religion, Handel und Freiheit in England (vgl. RS I, S. 29). Im Zusammenhang mit dem Begriff des „Geistes“ findet sich kein Verweis auf Montesquieu. 90 Dieser Ansatz läßt sich bereits in seinen früheren Arbeiten erkennen. Zielsetzung der Studie über Die römische Agrargeschichte ist es, „das Bestehen eines Zusammenhanges zwischen zwei historischen Erscheinungen läßt sich nun einmal nicht in abstracto, sondern nur so zur Anschauung zu bringen, daß eine in sich geschlossene Ansicht über die Art, wie dieser Zusammenhang sich konkret gestaltet habe, vorgetragen wird“ (MWG I/2, S. 2). Vgl. Hartmut Lehmann, Max Webers „Protestantische Ethik“. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen, 1996, S. 16. 91 RS I, S. 30. 92 WL, S. 10. 88

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

Art und Weise des Zusammenhangs dieser verschiedenen Elemente. Das Hauptaugenmerk ruht also nicht auf einer bestimmten Perspektive, sondern vielmehr auf dem Modus der Kombination.93 Einem solchen Verständnis folgend, kann man auch Webers Begriff des „(okzidentalen) Rationalismus“ interpretieren, obgleich dieser für Max Webers Werk so zentrale Begriff aufgrund seiner Vieldeutigkeit unterschiedliche Interpretationen hervorgebracht hat. In der „Vorbemerkung“ zu den gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie stellt Weber die bekannte Frage nach dem „spezifisch gearteten ‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“.94 Nachdem er zunächst die Vieldeutigkeit der „Rationalisierungen“ konstatiert, schreibt er: „Charakteristisch für deren kulturgeschichtlichen Unterschied ist erst: welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden.“95 Es handelt sich dabei nicht um die Rationalität oder die Rationalisierung der einzelnen Sphären. Weber zufolge hat es Rationalisierungen „auf den verschiedenen Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kulturkreisen gegeben“.96 Jede Kultur ist daher nicht nach dem Grade der Rationalisierung auf einem bestimmten Gebiete, sondern durch die Konstellation der pluralen Rationalisierungen zu charakterisieren. Es geht also um die „Eigenart der Sozialordnung“,97 die sich auf die Art des Verhältnisses der Sphären untereinenader bezieht. Dafür spricht auch, daß die Frage „nach der Eigenart der ganzen abendländischen Kultur“ bzw. des okzidentalen

93 Insofern Wilhelm Hennis die sog. Rationalisierungsthese ablehnt und die Aufmerksamkeit auf das „Zusammentreffen“ verschiedener Komponenten richtet, stimmt die vorliegende Arbeit seiner These zu. „Max Webers Fragestellung“ manifestiert sich – Hennis zufolge – in der zweiten Rachfahl-Replik „Antikritisches Schlußwort“: „[...] denn nicht die Förderung des Kapitalismus in seiner Expansion war das, was mich zentral interessierte, sondern die Entwicklung des Menschentums, welches durch das Zusammentreffen religiös und ökonomisch bedingter Komponenten geschaffen wurde: das war am Schluß meiner Aufsätze deutlich gesagt“ (PE II, S. 303). Hennis rückt sodann Webers „Menschentum“ in den Vordergrund (vgl. Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 22). Zwar ermöglicht diese „Fragestellung“, Webers Theorie im Kontext der politischen Ideengeschichte zu diskutieren. Jedoch führt sie nur zu der wenig aussagekräftigen Schlußfolgerung: „[...] das menschliche Ideal ist das alte: das des urteilsfähigen ‚Besonnenen‘, der mit Tapferkeit aushält was er sieht und für notwendig hält. Sollte nicht dies sein ‚Oberwert‘ gewesen sein?“ (ebd., S. 230. Vgl. auch ebd., S. 235). Die vorliegende Arbeit richtet dagegen die Aufmerksamkeit auf den Modus des „Zusammentreffens“ als Grundbedingung der Entwicklung des Menschentums und versucht, diesen im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers zu analysieren. 94 RS I, S. 11. 95 RS I, S. 12. 96 RS I, S. 12. 97 RS I, S. 10.

3. Zur Kultursoziologie

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Rationalismus – so Marianne Weber – aus der „Erweiterung“ der „Fragestellung nach dem Verhältnis von Religion und Wirtschaft“ resultiert.98 In dieser Hinsicht ist auch Webers Begriff „Weltbild“ zu verstehen. Eine bekannte Stelle lautet: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“99 Diese Stelle ist zu Recht als Wendung gegen den historischen Materialismus verstanden worden. Es ist aber nicht zu übersehen, daß „Interessen“ bei Weber nicht nur „materieller“, sondern gleichwohl „ideeller“ Natur sind. In seinem Theorieansatz steht die Idee nicht im Gegensatz zur Materie. Vielmehr betrachtet er den Materialismus auch als eine auf Ideen bezogene Konstruktion der Wirklichkeit. Das „Weltbild“ beruht also auf der Konstellation der „(materielle[n] und ideelle[n])“ Zusammenhänge. Ähnliches gilt auch für die Begriffe „Ethos“ und „Lebensführung“. „Ethos“ stammt aus der griechischen Philosophie und Musiklehre und wird hier im Sinne von Pierre Bourdieus Begriff „Habitus“ verstanden. Dies ist – so Weber – „nicht die ethische Lehre einer Religion, sondern dasjenige ethische Verhalten, auf welches durch die Art und Bedingtheit ihrer Heilsgüter Prämien gesetzt sind“.100 Das ethische Verhalten wird nicht gänzlich durch die ethische Lehre bestimmt, denn ihre Wirkung ist nicht umso größer, als ihre Metaphysik vollkommen ist. Das tatsächliche Verhalten ist von einer Konstellation abhängig, die nicht nur Ethik und Religion, sondern auch Wirtschaft, Politik und andere Bereiche mit einschließt. Unter dem Begriff „Lebensführung“ versteht Weber „eine Systematisierung des praktischen Handelns in Gestalt [s]einer Orientierung 101 an einheitlichen Werten“, die „aus religiösen Motiven“ erwächst. Lebensführung ist zwar eng mit der Religion verbunden. Dennoch wird die Lebensführung nicht ausschließlich durch die religiöse Konzeption der Erlösung determiniert. „[...] religiöse Motive, insbesondere die Erlösungshoffnung, müssen keineswegs notwendig Einfluß auf die Art der Lebensführung gewinnen, insbesondere nicht auf die ökonomische“.102 Es geht auch hierbei um die Art der Kombination der 98

Marianne Weber, Lebensbild, S. 349. RS I, S. 252. 100 RS I, S. 234-235. 101 WuG, S. 321. 102 WuG, S. 321. In dieser Hinsicht ist Wolfgang Schluchters Interpretationsrahmen „Religion und Lebensführung“ nicht unproblematisch, zumindest für denjenigen, der die japanische Kultur aus der Sicht der Kultursoziologie Webers untersuchen will. Vgl. RS II, S. 296: „Wenn der japanische Buddhismus und die japanische Religion überhaupt, trotz des sehr bedeutenden Interesses, welches sie an sich bietet, hier nebenher und in kurzer Skizze erledigt werden, so deshalb, weil die für unsere Zusammenhänge wichtigen 99

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

verschiedenen Rationalitäten, die weder auf die wirtschaftliche Logik noch auf die religiöse Ethik reduziert werden kann. Diesbezüglich stimmt die vorliegende Arbeit der Interpretation von Richard Münch zu: „Die Weltdeutungen des konfuzianischen, hinduistischen und okzidentalen Rationalismus unterscheiden sich nach dem Grad, in dem sie die Modi der symbolischen Artikulation ausdifferenziert und untereinander gewichtet ha103 ben.“ Dieses Verständnis des Rationalismus bei Weber entspricht dem, was der phänomenologische Philosoph Merleau-Ponty als „symbolische Matrizen“ bezeichnet: „Die verständlichen Kerne der Geschichte sind typische Weisen, das natürliche Sein zu behandeln, auf andere und auf den Tod zu reagieren. Unter dem Gesichtspunkt des Kontakts zwischen den Menschen und den Gegebenheiten der Natur oder der Vergangenheit erscheinen sie als symbolische Matrizen, die nirgendwo präexistieren und die, für einige Zeit oder für länger, dem Gang der Dinge ihren Stempel aufdrücken und dann verschwinden können, ohne daß irgend etwas sie direkt zerstört hätte, durch inneren Zerfall oder weil irgendein sekundäres Gebilde zur Vorherrschaft gelangt und

Eigentümlichkeiten des ‚Geistes‘ der japanischen Lebensführung durch einen gänzlich anderen Umstand als durch religiöse Momente erzeugt worden sind. Nämlich: durch den feudalen Charakter der politischen und sozialen Struktur.“ 103 Richard Münch, Max Webers „Anatomie des okzidentalen Rationalismus“: Eine systemtheoretische Lektüre, in: Soziale Welt, 29, 2, 1978, S. 238. Die vorliegende Arbeit verdankt Münchs Werk viel, da sie die Aufmerksamkeit auf den Modus des Verhältnisses der Sphären richten will. Münch kann gerade wegen dieser Perspektive als schärfster Kritiker der vorherrschenden Interpretation Max Webers angesehen werden, die vor allem von Wolfgang Schluchter begründet worden ist. Wie Münch in seiner Besprechung von Schluchters Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus darlegt, geht es um die Annahme der „Verknüpfung der Rationalisierungstheorie mit der Differenzierungstheorie“, auf welcher Schluchters Interpretation beruht. Dem stellt Münch die These entgegen: „Was Weber in Wirklichkeit als Eigenart des Okzidents charakterisiert hat, ist nicht eine irgendwie ‚vollkommenere‘ Rationalisierung und Differenzierung, sondern eine besondere Art der Integration differenzierter Sphären, die weder die Vorherrschaft bestimmter Sphären (Weltanpassung) noch ihre gegenseitige Isolierung (Weltflucht) noch ihre Versöhnung bedeutet, sondern ihre Interpenetration“ (R. Münch, Max Webers „Gesellschaftsgeschichte“ als Entwicklungslogik gesellschaftlicher Rationalisierung?, in: KZfSS, 32, 1980, S. 777-778). Vgl. auch ders., Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt am Main, 1988; ders., Differentiation, Rationalization, Interpenetration: The Emergence of Modern Society, in: Jeffrey C. Alexander/Paul Colomy (ed.), Differentiation Theory and Social Change. Comparative and Historical Perspectives, New York, 1990, pp. 441-464. Allerdings greift die vorliegende Arbeit Münchs Begriff der „Interpenetration“ nicht auf, was an späterer Stelle begründet wird.

3. Zur Kultursoziologie

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sie denaturiert. Die ‚Rationalisierung‘, mit der Weber den Kapitalismus definiert, ist eine dieser fruchtbaren Strukturen, die sich ebensogut in der Kunst, der Wissenschaft, der Staatsform, der Mystik oder der Wirtschaft des Abendlandes nachweisen lassen. Sie kommt hier und da in der Geschichte auf und behauptet sich in historischen Einzelphänomenen nur durch das Zusammentreffen dieser Gegebenheiten, wenn sie sich zu einem System organisieren, wobei jede die andere bestätigt.“104

Bis dato hat man oftmals versucht, den Rationalitäts- und Rationalismusbegriff bei Weber umfassend zu interpretieren. Aber bei jedem Versuch ist eine gewisse Unklarheit geblieben.105 Sicherlich kann auch die These des Rationalismus als Modus des Verhältnisses der verschiedenen Rationalitäten nicht das gesamte Werk Max Webers erklären. Dies ist aber nicht als Defizit der vorliegenden Weber-Interpretation anzusehen. Das Rationale bedeutet bei Weber nur das Konsequente, so daß es seiner Definition nach vieldeutig und verworren sein kann. In der Tat lehnt es Weber ab, verschiedene Rationalitäten in ein allgemeines Schema einzuordnen. Es kann also nicht darum gehen, eine umfassende Interpretation des Rationalitäts- und Rationalismusbegriffes bei Weber zu geben. Die vorliegende Arbeit will eine Dimension des Rationalismusbegriffes, die sich auf die Ordnung als Ganzes bezieht, in den Vordergrund rücken und darin den Kern der Kultursoziologie Max Webers finden. Von dieser Annahme ausgehend, läßt sich nun die These formulieren, daß es den Studien über Max Webers Theorie der Politik an einer kulturtheoretischen Perspektive mangelt, die sich auf die Dimension der ganzen Ordnung als Zusammenhang verschiedener Elemente bezieht, und daß das perspektivistische Moment bei Weber aufgrund dieses Mangels – in fragwürdiger Weise – mit seinem extremen machtpolitischen Standpunkt verbunden worden ist. Es ist also der „dezisionistisch-nationalistische“ Interpretationsrahmen zu dekonstruieren, und das machtpolitische Element im Werk Max Webers im Kontext seiner Kultursoziologie zu rekonstruieren. Es ist nicht zu bestreiten, daß Weber auf der extrem machtpolitischen Perspektive insistiert. Es geht also nicht darum, ob Webers politische Theorie als machtpolitisch zu kennzeichnen ist, sondern darum, wie bzw. vor welchem Hintergrund sich diese machtpolitische Perspektive entfaltet. Hinter dem scheinbar gleichen machtpolitischen Handeln können ganz unterschiedliche Ordnungskonzeptionen verborgen sein. Auf diese Einsicht gründet sich Webers vergleichende Kulturso104

Maurice Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt am Main, 1974, S. 22-23. 105 Vgl. insbesondere Stephen Kalberg, Max Webers Typen der Rationalität: Grundsteine für die Analyse von Rationalisierungs-Prozessen in der Geschichte, in: Walter M. Sprondel und Constans Seyfarth (Hrsg.), Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns, Stuttgart, 1981, S. 9-38.

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II. Von der Methodologie zur Kultursoziologie

ziologie. Wie folgende Stelle belegt, richtet er seine Aufmerksamkeit auf die kulturelle Dimension, die er als Modus der Kombination der verschiedenen Elemente versteht: „[...] ein in seinem äußeren Ablauf und Resultat gleiches Sichverhalten kann auf unter sich höchst verschiedenartigen Konstellationen von Motiven beruhen, deren verständlich-evidenteste nicht immer auch die wirklich im Spiel gewesene ist.“106

Mit anderen Worten: „[...] das ‚gleiche‘ Streben nach ‚Rentabilität‘ des ‚gleichen‘ geschäftlichen Unternehmens kann bei zwei aufeinanderfolgenden Inhabern nicht nur mit absolut heterogenen ‚Charakterqualitäten‘ Hand in Hand gehen, sondern direkt in seinem ganz gleichen Verlauf und Enderfolge durch gerade entgegengesetzte letzte ‚psychische‘ Konstellationen und Charakterqualitäten bedingt sein und auch die (für die Psychologie) letzten dabei maßgebenden ‚Zielrichtungen‘ brauchen keinerlei Verwandtschaft miteinander zu haben.“107

Ein solcher Ansatz kann auch die politische Theorie Max Webers erklären, wenn das Streben des „Unternehmens“ nach „Rentabilität“ durch die Ausrichtung des „Theoretikers“ auf „Machtpolitik“ ersetzt wird. Es ist die Grundthese der vorliegenden Arbeit, daß man damit die Konstellation der Motive, vor deren Hintergrund Weber das Moment der Macht entwickelt, aufzeigen, und so den spezifischen Charakter der politischen Theorie Max Webers bestimmen kann.

106 107

WL, S. 428. WL, S. 430.

III. Machtpolitik und okzidentale Moderne: Unter Berücksichtigung der Differenz zwischen Kautilya und Machiavelli im Rahmen der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers „Machiavellis Hauptleistung ist [...] die Aufdeckung eines unauflöslichen Dilemmas [...]. Es rührt von seiner faktischen Anerkennung her, daß Ziele, die gleichermaßen höchste, gleichermaßen heilige sind, einander widersprechen und ganze Wertsysteme ohne Möglichkeit einer rationalen Entscheidung zwischen ihnen in Widerspruch zueinander geraten können“ (Isaiah Berlin).1

Aus der Erörterung des II. Kapitels hat sich ergeben, daß die Dimension der Ordnung analysiert werden muß, nach der die verschiedenen Perspektiven angeordnet sind. Das III. Kapitel geht der Frage nach, wie Max Weber sich in seiner vergleichenden Kultursoziologie, welche die Dimension der Ordnung behandelt, mit dem Thema der Machtpolitik auseinandersetzt. Es geht nun nicht mehr darum, ob Webers Politikverständnis machtpolitisch ist, sondern darum, das Ordnungsprinzip jedes Kulturkreises sichtbar zu machen, nach dem die machtpolitische Perspektive zu anderen Perspektiven in Beziehung gesetzt wird. Dazu untersucht die vorliegende Arbeit die Diskussion von Kautilya und Machiavelli im Werk Max Webers.

1. Machiavelli und Weber Max Weber interessierte sich bereits als 12-jähriger für Niccolò Machiavelli. Er schrieb am 21. August 1876 an seine Mutter: „[...] jetzt bin ich dabei, den 1

Isaiah Berlin, Die Originalität Machiavellis, in: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, Frankfurt am Main, 1994, S. 152.

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

Principe des Machiavelli zu lesen, den mir Herr Dr. Brendicke geborgt hat. Später will er mir auch den Antimachiavell borgen.“2 Weber hat jedoch keine Abhandlung über diesen politischen Philosophen der italienischen Renaissance hinterlassen, sondern ist nur fragmentarisch in einigen Aufsätzen und Briefen auf Machiavelli eingegangen. Dies scheint nahezulegen, daß Weber sich mit Machiavelli nicht grundlegend auseinandergesetzt hat. Und das ungeachtet der Tatsache, daß Weber sich in seiner Dissertation Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter (1889) intensiv mit der italienischen Geschichte 3 beschäftigte, mit dem Romanisten Karl Vossler eine rege Korrespondenz unter4 hielt, und er seine „Städte“-Studie ohne umfangreiche Kenntnisse über die „commune“ in Italien nicht hätte verfassen können.5 Trotzdem ist Max Weber des öfteren mit Machiavelli verglichen worden.6 Sowohl Interpreten, die Webers politische Theorie als „Realismus“ verteidigen, als auch solche, die ihm dezisionistisches oder nationalistisches machtpolitisches Denken vorwerfen, stimmen der folgenden These von Raymond Aron zu: „Er[Weber] ist ein Nachfahr Machiavellis, genauso wie er ein Zeitgenosse Nietzsches ist.“7 Die Verwandtschaft zwischen Machiavelli und Weber wird noch deutlicher, wenn man den historischen Kontext der Bismarck-Zeit berücksichtigt. Denn die Reichsgründung Deutschlands, die Weber als Heranwachsender miter-

2 Max Weber, Jugendbriefe, Tübingen, 1936, S. 3. Vgl. auch Marianne Weber, Ein Lebensbild, S. 48. 3 In seiner Dissertation taucht Machiavelli nicht auf, obwohl er im 5. Kapitel auf Florenz eingeht. Dafür hatte er die Geschichte dieser italienischen Stadt eingehend erforscht. Vgl. Marianne Weber, Lebensbild, S. 120: „Dazu mußte ich hunderte von italienischen und spanischen Statutensammlungen durchlesen und mir erst noch die beiden Sprachen so weit aneignen, daß ich Bücher darin einigermaßen verstehen konnte, was bezüglich des Spanischen etwas zeitraubend war, und dann ist das Zeug meist in uralten schädlichen Dialekten geschrieben, so daß man sich wundert, daß die Menschen selbst das Kauderwelsch verstanden haben! Nun, ich hatte tüchtig zu tun und wenn dabei nicht viel, sondern wenig herausgekommen ist, so kann ich weniger dafür als die italienischen und spanischen Stadträte, die gerade das nicht in die Statuten gesetzt haben, was ich darin suchte.“ 4 Vgl. Christoph Braun, Max Webers „Musiksoziologie“, Laaber, 1992 S. 103-109; ders., Grenzen der Ratio, Grenzen der Soziologie. Anmerkungen zum „Musiksoziologen“ Max Weber, in: Archiv für Musikwissenschaft, LI, 1994, S. 20-25. 5 WuG, S. 727-814. 6 Vgl. Peter Lassman, The rule of man over man: politics, power and legitimation, in: Stephen Turner (ed.), The Cambridge Companion to Weber, S. 98. 7 Raymond Aron, Max Weber und die Machtpolitik, in: Zeitschrift für Politik, II, 1964, S. 101.

1. Machiavelli und Weber

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lebte, assoziiert Machiavellis Appell zur Befreiung Italiens von den Barbaren.8 In dieser Atmosphäre las er Machiavelli. Auf diesen Zusammenhang verweist J. P. Mayer, indem er bezüglich des Aufsatzes „Deutschland unter den europäischen Weltmächten“ fast paradigmatisch feststellt: „It is meant as a re-interpretation of Bismarck’s Realpolitik according to the changed circumstances of 1916. The Machtstaat idea is the Leitmotiv of Max Weber’s political sociology [...]. Bismarck’s example made Max Weber understand the lesson of Machiavelli’s Principe.“9

Im Grunde genommen geht es um Machtpolitik. Bei aller Vielfalt der Machiavelli- und Weber-Interpretationen ist das machtpolitische Moment bei beiden ein zentrales Thema. In der Tat sieht sich Weber mit Machiavellis Problemstellung konfrontiert, wenn er in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ ausführt: „Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, – er hat, wie Fichte richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet.“10 Weber knüpft dabei sehr wahrscheinlich an Fichtes Aufsatz „Über Machiavelli, als Schriftsteller, und Stellen aus seinen Schriften“ an.11 Fichte zitiert dort eine Passage aus Machiavellis Discorsi (B. 1, Kap. 3): „Jedweder, der eine Republik (oder überhaupt einen Staat) errichtet, und demselben Gesetze giebt, muß voraussetzen, daß alle Menschen bösartig sind, und daß ohne alle Ausnahme sie alsbald ihre innere Bösartigkeit auslassen werden, sobald sie dazu eine sichere Gelegenheit finden.“12 Im Anschluß an dieses Zitat diskutiert Fichte die in der realpolitischen Tradition vorherrschende Sicht, daß die Bösartigkeit des Menschen und Machtpolitik sich wechselseitig bedingen. Die pessimistische Anthropologie mündet in das Plädoyer für den Machtstaat. Fichte formuliert – auf einem solchen realistischen Verständnis der Politik beruhend – diesen Zusammenhang 8 Es ist aber anzumerken, daß die Rezeption der Staats- und Gesellschaftstheorie Machiavellis in Deutschland nicht erst mit Bismark eingesetzt hat. Vgl. Albert Elkan, Die Entdeckung Machiavellis in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift, 119, 1919, S. 427-458. 9 Jacob Peter Mayer, Max Weber and German Politics, New York, 1979, p. 20. 10 PS, S. 552. 11 Vgl. Hans Freyer, Über Fichtes Machiavelli-Aufsatz, Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philosophischhistorische Klasse, Bd. 88, 1. Heft, Leipzig, 1936, S. 18. 12 Zitiert aus Johann Gottlieb Fichte, Über Machiavelli, als Schriftsteller, und Stellen aus seinen Schriften, in: J.G. Fichte – Gesamtausgabe I, 9, Stuttgart/Bad Cannstatt, 1995, S. 239. Vgl. auch Niccolò Machiavelli, Discorsi: Gedanken über Politik und Staatsführung, 2. Aufl., Stuttgart, 1977, S. 17.

48

III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

wie folgt: „Um dasselbe noch in einer andern Wendung auszusprechen: der Staat, als Zwangsanstalt, setzt den Krieg aller gegen alle voraus, und sein Zweck ist, wenigstens die äußere Erscheinung des Friedens hervorzubringen“.13 Es steht außer Zweifel, daß sich Webers Begriff der „Verantwortungsethik“ auf ein machtpolitisches Denken bezieht, wie es Machiavelli und Fichte gemeinsam ist.

2. Machtpolitik und Differenzierungstheorieansatz a) Moderne als Differenzierung Abgesehen davon, inwieweit Weber sich mit dem Werk Machiavellis beschäftigt hat, ist nicht zu übersehen, daß die Affinität von Machiavelli und Weber bezüglich der Machtpolitik in der Moderne offensichtlich ist, wenn man von der Prämisse ausgeht, daß die okzidentale Moderne als Prozeß der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung aufzufassen ist. Max Webers Verständnis der Moderne ist oft mit dem Begriff der „Differenzierung“ erklärt worden, die zu den zentralen Begriffen der modernen Gesellschaftstheorie gehört.14 Danach versteht Weber unter dem Begriff der Moderne die Differenzierung oder Auflösung einer einheitlichen teleologischen Ordnung in plurale Rationalitäten, also „die Ausdifferenzierung eigenständiger kultureller Wertsphären“.15 Entsprechend beschreibt er in der „Zwischenbetrachtung“ zur „Wirtschaftsethik der Weltreligion“ den Modernisierungsprozeß auf folgende Weise: „Die Rationalisierung und bewußte Sublimierung der Beziehungen des Menschen zu den verschiedenen Sphären äußeren und inneren, religiösen und weltlichen, Güterbesitzes drängte dann dazu: innere Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Sphären in ihren Konsequenzen bewußt werden und dadurch in jene Spannungen zueinander geraten zu lassen, welche der urwüchsigen Unbefangenheit der Beziehung zur Außenwelt verborgen bleiben.“16

13

Fichte, Über Machiavelli, als Schriftsteller, und Stellen aus seinen Schriften, S.

239. 14

Vgl. Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Kleine Politische Schriften (I-IV), Frankfurt am Main, 1981, S. 452; Klaus von Beyme, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne, Frankfurt am Main, 1991, S. 44-89; Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen, 1996, S. 53-69; Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus. 15 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1995, S. 333. 16 RS I, S. 541-542. Diese Passage ist vielfach als Beleg für Webers Charakterisierung der Moderne als Prozeß der Differenzierung zitiert worden. Es darf aber nicht übersehen werden, daß es hierbei nicht um die Ausdifferenzierung, sondern vielmehr um das Span-

2. Machtpolitik und Differenzierungstheorieansatz

49

Hier verwendet Weber zwar nicht den Ausdruck der Differenzierung, aber es wird deutlich, daß er von diesem Gedanken ausgeht, zumal er Georg Simmels Aufsatz „Über sociale Differenzierung“17 gelesen hat. Mehr noch setzt er sich auch selbst mit der Differenzierungstendenz in der Neuzeit auseinander, wenn er die Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Wertsphären: Ökonomie, Politik, Kunst, Eros und Wissenschaft im Zusammenhang mit der Religion beschreibt.18 In diesem Interpretationsrahmen gilt Machiavelli als der erste moderne politische Philosoph, da er die politische von der religiösen Sphäre zu unterscheiden versucht. Die „Entdeckung der Politik bei Machiavelli“ wird im Differenzierungstheorieansatz als Verselbständigung bzw. Differenzierung der Politik von Religion und Moral interpretiert. Webers Religionssoziologie kann dementsprechend auch als grundlegende Erweiterung der Theorie Machiavellis verstanden werden. Unter dem Gesichtspunkt der Affinität von Machiavelli und Weber wird erkennbar, daß Machtpolitik und Differenzierungstheorie sich gegenseitig bedin-

nungsverhältnis der einzelnen Sphären geht. Wie noch zu erläutern sein wird, ist diese Unterscheidung für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung. 17 Georg Simmel, Über sociale Differenzierung, in: GSG 2, S. 109-295. Simmels These vom Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Differenzierung und der Entstehung des modernen Individuums läßt sich auch im Werk Webers finden. Vgl. WuG, S. 226: „Die inneren und äußeren Motive, welche das Schrumpfen der straffen Hausgewalt bedingen, steigern sich im Verlauf der Kulturentwicklung. Von innen her wirkt die Entfaltung und Differenzierung der Fähigkeiten und Bedürfnisse in Verbindung mit der quantitativen Zunahme der ökonomischen Mittel. Denn mit Vervielfältigung der Lebensmöglichkeiten erträgt schon an sich der Einzelne die Bindung an feste undifferenzierte Lebensformen, welche die Gemeinschaft vorschreibt, immer schwerer und begehrt zunehmend, sein Leben individuell zu gestalten und den Ertrag seiner individuellen Fähigkeiten nach Belieben zu genießen. Von außen her wird die Zersetzung gefördert durch Eingriffe konkurrierender sozialer Gebilde: z. B. auch rein fiskalischer Interessen an intensiverer Ausnutzung der individuellen Steuerkraft – welche den Interessen an der Zusammenhaltung des Besitzes zugunsten der militärischen Prästationsfähigkeit entgegenwirken können.“ 18 Der Eigengesetzlichkeitsbegriff wurde bereits erwähnt (vgl. Kapitel II der vorliegenden Arbeit). Zur Differenzierungstheorie ist anzumerken, daß Webers den Begriff der „Trennung“ in diesem Sinne verwendet. So erörtert er z. B. die „Trennung von Haushalt und Betrieb“ (RS I, S. 8). Vgl. auch PS, S. 322: „die ‚Trennung‘ des Arbeiters von den sachlichen Betriebsmitteln: den Produktionsmitteln in der Wirtschaft, den Kriegsmitteln im Heer, den sachlichen Verwaltungsmitteln in der öffentlichen Verwaltung, den Geldmitteln bei ihnen allen, den Forschungsmitteln im Universitätsinstitut und Laboratorium, ist dem modernen macht- und kulturpolitischen und militärischen Staatsbetrieb und der kapitalistischen Privatwirtschaft als entscheidende Grundlage gemeinsam.“ Er spricht auch von der „Trennung von Staat und Kirche“ (WuG, S. 760).

50

III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

gen. Auf diesen Nexus weist Mommsen mit der Feststellung hin, daß „Weber sich mit seiner Lehre von der gegenüber anderen Wertsphären autonomen Sphäre der politischen Wertordnungen dem Denken Machiavellis annäherte“.19

b) Das Kautilya-Problem Dieses Verständnis der Moderne, d. h., die Moderne als Prozeß der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung aufzufassen und in dieser Tendenz – neben der modernen Wissenschaft und autonomen Kunst (l’art pour l’art) – die Machtpolitik als einen zentralen Bereich zu interpretieren, kann zwar dazu dienen, verschiedene Phänomene der Neuzeit zu erklären. Es ist jedoch problematisch, dieses Verständnis der Moderne als Interpretationsrahmen der politischen Theorie Max Webers heranzuziehen. Diese Schwierigkeit tritt bei der Kautilya-Interpretation von Weber deutlich zutage. Weber setzt sich in seiner vergleichenden Kultursoziologie mit diesem „indischen Machiavellisten“ auseinander und beschreibt ihn in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ wie folgt: „Diese Spezialisierung der Ethik ermöglichte der indischen Ethik eine gänzlich ungebrochene, nur den Eigengesetzen der Politik folgende, ja diese radikal steigernde Behandlung dieser königlichen Kunst. Der wirklich radikale ‚Macchiavellismus‘ im populären Sinn dieses Wortes ist in der indischen Literatur im Arthashâstra des Kautilya (lange vorchristlich, angeblich aus Chandraguptas Zeit) klassisch vertreten; dagegen ist Macchiavellis ‚Principe‘ harmlos.“20

Wie Weber betont, entstand Kautilyas Arthashâstra nicht im neuzeitlichen Abendland, sondern in vorchristlicher Zeit in Indien. Wenn man die okzidentale Moderne am Merkmal der Differenzierung der Politik von der religiösen Ethik festmachen wollte, so müßte man Kautilya für „modern“ halten. Der „indische Machiavellist“ müßte gegenüber Machiavelli sogar als „moderner“ bezeichnet werden, weil Kautilya hinsichtlich der Ausdifferenzierung der Politik radikaler 21 als Machiavelli ist. Das Kautilya-Problem, womit in der vorliegenden Arbeit dieser Widerspruch bezeichnet werden soll, stellt den Interpreten vor die Alternative, entweder Max Webers These über die okzidentale Moderne an sich zu verwerfen oder das 19

Vgl. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 68. PS, S. 555. 21 Soweit dem Verfasser dieser Arbeit bekannt ist, ist nur Richard Münch sich des Kautilya-Problems bewußt (vgl. Richard Münch, Max Webers „Anatomie des okzidentalen Rationalismus“, 1978, S. 217-246; ders., Theorie des Handelns, S:478-479). Vgl. auch Martin Fuchs, Fremde Kultur und Soziales Handeln. Max Webers Analyse der indischen Zivilisation, in: KZfSS, 39, 1987, S. 683, Anm. 33. 20

3. Ordnung und Politik in der vergleichenden Kultursoziologie

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vorherrschende Interpretationsschema, das Webers Verständnis der okzidentalen Moderne vor allem durch die Differenzierung charakterisiert. Dabei scheint Letzteres eher auf der Hand zu liegen, weil von Kautilya im Vortrag „Politik als Beruf“ die Rede ist, der neben „Wissenschaft als Beruf“ sozusagen der Schwanengesang des wissenschaftlichen Wirkens Max Webers ist. Daher darf die These, daß Kautilya machiavellistischer als Machiavelli selbst sei, keinesfalls als akzidentelle Idee abgetan werden. Sie ist vielmehr im Zusammenhang mit seinem gesamten späteren Denken zu verstehen, das „die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalis22 mus“ thematisiert. Vor diesem Hintergrund geht jede Interpretation fehl, welche Webers Verständnis der okzidentalen Moderne am Begriff der Differenzierung festmacht und seinen Begriff der Politik als die von anderen Sphären losgelöste und deswegen radikal zu vollziehende Machtpolitik versteht.

3. Ordnung und Politik in der vergleichenden Kultursoziologie Angesichts des Kautilya-Problems bekräftigt die vorliegende Arbeit die im II. Kapitel aufgestellte These: Webers Politikbegriff kann nur erhellt werden, wenn das Verhältnis zwischen der sich an der Macht orientierenden politischen Sphäre einerseits und der religiösen Sphäre andererseits thematisiert wird. Es geht um das dieses Verhältnis ordnende Prinzip. Im folgenden soll im Rahmen der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers erläutert werden, welcher Verhältnismodus zwischen Politik und Religion den machtpolitischen Theorien von Machiavelli und dem von Weber als Machiavellist bezeichneten Kautilya zugrunde liegt.

a) Kautilya und die hinduistische Ordnung Kautilya ist als Minister unter König Chandragupta (317-293 v. Chr.), der die Maurya-Dynastie begründete, und als Verfasser des Werkes Arthashâstra in die Geschichte eingegangen.23 Weber bringt in „Hinduismus und Buddhismus“ (1916/17) die Rede auf Kautilya, und er erwähnt dessen Werk Arthashâstra 22

RS I, S. 12. Kautilyas Hauptwerk Arthâshastra war allerdings nahezu unbekannt gewesen, bis es 1909 von R. Shamasastry entdeckt und in die englische Sprache übersetzt wurde. Diese Tatsache zeigt, daß Webers vergleichende Religionssoziologie auf seinerzeit aktuellen Forschungsergebnissen basiert. Weber sind aber bei der Kaltilya-Rezeption einige elementare Fehler unterlaufen, so hat er Kautilya und dessen anderen Namen Canakya fälschlicherweise mit zwei verschiedenen Personen identifiziert (vgl. RS II, S. 69; KarlHeinz Golzio, Zur Verwendung indologischer Literatur in Max Webers Studie über 23

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

einerseits als Zeugnis der ideellen Errungenshaften der altindischen Gesellschaft und andererseits im Zusammenhang mit dem Machiavellismus. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich im Rahmen der Machtpolitik-Diskussion hauptsächlich mit dem letzteren Punkt. Der dem Arthashâstra zugrundeliegende Begriff „artha“ bedeutet irdische Nützlichkeit und ist neben dem sittlich Guten (dharma) und dem Genuß (kama) eine der drei Grundideen der altindischen Philosophie. Kautilya richtet sein Hauptaugenmerk auf „artha“, da er diesem Begriff die zentrale Stellung innerhalb der Konstellation aller drei Prinzipien zuweist. „Ohne mit dem sittlich Guten (dharma) und dem irdisch Nützlichen (artha) in Widerspruch zu treten, möge er dem Genuß (kama) obliegen; nicht lustlos lebe er. Oder: in gleichmäßig abgewogener Weise widme er sich allen drei Lebenszielen, die ja eins am anderen hangen. Denn wird eins von den dreien: das Gute in religiöser und sittlicher Hinsicht, das Vorteilhafte im Weltleben oder das sinnlich Angenehme im Übermaß gestrieben, dann schädigt er sich selber und die beiden andern. Das irdische Nützliche allein ist die Hauptsache, also Kautilya. Denn im irdisch Nützlichen wurzeln das sittlich Gute und das sinnlich Angenehme.“24

Von diesem Grundverständnis ausgehend, befürwortet Kautilya vorbehaltlos die Staaträson als „artha“. Dabei handelt es sich klar um das Machtproblem. Vor allem in seiner außenpolitischen Lehre („das sechsfache Verfahren“) empfiehlt er ganz nüchtern, sich die Konstellation der Macht vor Augen zu führen und sich demgemäß zu verhalten. „Wird er schwächer als der Feind, dann schließe er einen Friedensvertrag. Erstarkt er und erhebt sich höher, dann erkläre er Krieg. Sieht er (wenn der Krieg erklärt ist): ‚Weder kann der Feind mich niederschlagen, noch ich ihn‘, dann warte er ab. Hat er das Übergewicht an den nötigen Dingen, dann rücke er gegen (den Feind) vor. Ist er geringer an Macht, so suche er eine Stütze. Kann das Werk nur mit Hilfe eines Genossen ausgeführt werden, dann mache er sich an das Doppelspiel. Dies ist die Begriffsbestimmung der sechs Verfahrensarten.“25

Wenngleich sich Kautilyas Interesse auf die Nützlichkeit (artha) konzentriert, kann seine Theorie dennoch nicht völlig mit dem sogenannten „Machiavellismus“ gleichgesetzt werden, nach welchem zur Erfüllung eines Zweckes jedes Mittel benutzt werden darf. Kautilya behauptet: „In der Freude der Untertanen besteht die Freude des Königs und im Heil der Untertanen sein Heil; nicht was ihm Hinduismus und Buddhismus, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus, Frankfurt am Main, 1984, S. 371-372, Anm. 7). 24 Kautilya, Das altindische Buch vom Welt- und Staatsleben. Das Arthashâstra des Kautilya, übers. von Jakob Meyer, Leipzig, 1926, S. 9. 25 Ebd., S. 407-408.

3. Ordnung und Politik in der vergleichenden Kultursoziologie

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selber lieb wäre, ist Heil für den König, sondern was den Untertanen lieb ist, das ist sein Heil.“26 Ihm geht es also nicht um die egoistischen Interessen des Königs, sondern vielmehr um die der Untertanen. Es ist schon offenkundig geworden, weswegen Kautilya oft als „Machiavelli in Indien“ bezeichnet wird. In der Tat sind die Gemeinsamkeiten zwischen Kautilya und Machiavelli sehr zahlreich. So führt z. B. Ludger Kühnhardt folgende Punkte an: Kautilya und Machiavelli waren beide Berater ihres jeweiligen Königs; ihre Hauptwerke Arthashâstra und Il Principe sind konkrete Handlungsanweisungen für die Staatsführung; ihre Analysen sind nicht idealistisch oder ontologisch, sondern realistisch und nationalistisch; beide gehen von einem pessimistischen, zumindest skeptischen Menschenbild aus, welches zur machtpolitischen Politik führt; beide postulieren strenge Maßnamen gegen Staatsfeinde; ihre Theorien sind nicht mit dem sogenannten Machiavellismus identisch; die Religion wird von ihnen aus der politischen Perspektive betrachtet und für politische Zwecke instrumentalisiert; sie denken die Staatserhaltung zu Ende; beide vollziehen einen Wechsel von der moralisch-idealistischen Staatslehre zur realistisch27 rationalistischen usw. Auch Max Weber überträgt den Ausdruck „machiavellistisch“ auf die indische Politik, als deren typischen Vertreter er Kautilya betrachtet,28 und beschreibt sie wie folgt: „Das Dharma des Fürsten ist, Krieg zu führen um des Kriegs und um der Macht rein als solcher willen. Er hatte den Nachbar durch List, Betrug und alle noch so raffinierten, unritterlichen und heimtückischen Mittel, durch Ueberfall, wenn er in Not war, durch Anstiftung von Verschwörungen unter seinen Untertanen, Bestechung seiner Vertrauten zu vernichten, die eigenen Untertanen aber durch Spionage, Lockspitzel und ein raffiniertes System vom Tücke und Argwohn im Zaum zu halten und fiskalisch nutzbar zu machen. Das Machtpragma und der für unsre Begriffe durchaus ‚unheilige‘ Egoismus des Fürsten war hier, gerade von der Theorie, ganz und gar seinen eigenen Gesetzen überlassen, alle theoretische Politik gänzlich amoralische Kunstlehre von den Mitteln, politische Macht zu erlangen und zu erhalten, weit hinausgehend über alles, was wenigstens die Durchschnittspraxis selbst der Signoren der italienischen Frührenaissance

26

Ebd., S. 48. Vgl. Ludger Kühnhardt, Staatsordnung und Macht in indischer Perspektive. Chanakya Kautilya als Klassiker der politischen Ideengeschichte, in: Historische Zeitschrift, 247, 1988, S. 352-355. 28 Vgl. RS II, S. 3: „Fürstliche Kriegführung, Politik und Finanzwirtschaft waren rational. Sie wurden literarisch, die Politik sogar vollendet ‚machiavellistisch‘, theoretisiert.“ 27

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

in dieser Hinsicht kannte und jeglicher ‚Ideologie‘ in unserem Sinn des Wortes gänzlich bar. Die gleiche Erscheinung wiederholt sich nun für alle profanen Lebensgebiete.“29

Die vorliegende Arbeit interessiert sich weniger für die machtpolitischen Gemeinsamkeiten zwischen Kautilya und Machiavelli. Denn dieser Ansatz würde von vornherein die Möglichkeit nehmen, die jeweils spezifischen Konstellationen, welche die Machtpolitik bedingen, zu eruieren und daraufhin der Eigenart der okzidentalen Moderne nachzugehen. Diese Arbeit will vielmehr die Differenzen zwischen Kautilya und Machiavelli aufzeigen, um den Modus des Verhältnisses zwischen der politischen und der religiösen Sphäre herauszuarbeiten. Die Frage, was den bedingungslosen Machiavellismus von Kautilya gerade in Altindien ermöglichte, muß im Zusammenhang mit der allgemeineren Frage beantwortet werden, warum manche Kunstlehre „nur hier bis in ihre letzten, oft für uns schlechthin grotesken Konsequenzen hineingesteigert worden“ ist.30 Weber beantwortet diese Frage, indem er den Begriff der „organischen Berufsethik“ auf die Kastenordnung anwendet.31 „Jede, auch die verachtetste, Kaste Indiens sieht in ihrem Gewerbe – das Diebsgewerbe nicht ausgenommen – eine von spezifischen Göttern oder doch von einem spezifischen göttlichen Willen gestiftete und ihr ganz speziell zugewiesene Lebensführung und speist ihr Würdegefühl aus der technisch vollendeten Ausführung dieser ‚Berufsaufgabe‘“.32 Webers Auffassung nach konnten sich „technische Kunstlehren für Spezialberufe und Sondersphären des Lebens, von der Bautechnik bis zur Logik als Kunstlehre des Beweisens und Disputierens und bis zur Kunstlehre der Erotik“ deswegen nur in Indien entwickeln, weil dort jede Kaste „das Dharma jedes ‚Berufes‘ in Ermangelung anderer Maßstäbe, nur den Eigengesetzlichkeiten seiner Technik entnehmen“ konnte.33 Der „indische Machiavellist“ Kautilya konnte also gerade vor dem Hintergrund dieses Gesellschaftssystems radikaler als Machiavelli selbst

29

RS II, S. 145-146. RS II, S. 149. 31 Der Begriff der „organischen Berufsethik“ wird zwar auf die Lehre von Thomas von Aquino bezogen. Weber hält aber die indische Ordnung für „konsequenter als die mittelalterlich katholische Lehre“ (WuG, S. 361). Denn dieser Begriff wird von Weber durch die „Relativierung und Differenzierung der Ethik“ charakterisiert. „Das allgemeine Schema, nach welchem eine Religion, wenn sie in einem politischen Verbande die vorherrschende, von ihm privilegierte, und namentlich dann, wenn sie eine Religiosität der Anstaltsgnade ist, die Spannungen zwischen religiöser Ethik und den anethischen oder antiethischen Anforderungen des Lebens in der staatlichen und ökonomischen Gewaltordnung der Welt zu lösen pflegt, ist die Relativierung und Differenzierung der Ethik in Form der ‚organischen‘ (im Gegensatz zur asketischen) Berufsethik“ (WuG, S. 360). 32 WuG, S. 266. 33 RS II, S. 147. 30

3. Ordnung und Politik in der vergleichenden Kultursoziologie

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sein. Die Ordnung des Kastenwesens wird zugleich traditionalistisch zementiert, indem sie sich „mit einer spezifischen Erlösungslehre vereinigt“: der Seelenwanderung. Denn die „Chance des immer weiteren Aufstiegs in einem künftigen Erdenleben“ wird wahrscheinlicher, „eben durch die Erfüllung der, sei es auch 34 sozial noch so verachteten, Pflichten der eigenen Kaste“. Das hat zur Folge, daß, je niedriger ein Individuum im Rang steht, um so treuer es den Pflichten gegenüber ist.35 Es würde nicht verwundern, wenn Europäer die „zwei Grundvoraussetzungen der hinduistischen Religiosität: den Samsara-(Seelenwanderungs-)Glauben und die mit ihm zusammenhängende Karman-(Vergeltungs-) Lehre“36 für irrational hielten. Weber zählt jedoch neben dem „zarathustrischen Dualismus“ und dem „Prädestinationsdekret des Deus absconditus“ die indische Theodizee zu den „rational befriedigende[n] Antworten auf die Frage nach dem Grunde der Inkongruenz zwischen Schicksal und Verdienst“.37 Sie überzeugt ihn „durch ihre Konsequenz sowohl wie durch die außerordentliche metaphysische Leistung“. Weber schätzt dabei besonders die „Vereinigung virtuosenhafter Selbsterlösung aus eigener Kraft mit universeller Zugänglichkeit des Heils, strengster Weltablehnung mit organischer Sozialethik, Kontemplation als höchsten Heilswegs mit innerweltlicher Berufsethik“.38 Webers Religionssoziologie handelt vom Spannungsverhältnis zwischen Religion und anderen, innerweltlichen Sphären. Er beurteilt die indische Theodizee gerade deswegen als „hervorragend“, weil sie dieses Spannungsverhältnis durch die totale Weltablehnung bzw. Weltflucht radikalisiert und damit paradoxerweise aufgelöst. Einerseits weist die Religion den Weg zur virtuosen Erlösung in Form der Kontemplation der ewigen unpersönlichen Ordnung, indem sie jede

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WuG, S. 361. Das Hauptthema der vergleichenden Religionssoziologie Max Webers ist die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Er sieht den Traditionalismus der Kaste als Hemmnis für die Entstehung des modernen Kapitalismus. Der Kern des Hemmnisses liegt – so Weber – nicht in Einzelschwierigkeiten, sondern „im ‚Geist‘ des ganzen Systems“. Er behauptet im Zusammenhang mit seiner Protestantismus-These: „nur er[der asketische Protestantismus] schuf die religiösen Motive, gerade in der Bemühung im innerweltlichen ‚Beruf‘ – und zwar im Gegensatz zu der streng traditionalistischen Berufskonzeption des Hinduismus: in methodisch rationalisierter Berufserfüllung – das Heil zu suchen“ (RS II, S. 110; WuG, S. 379). Webers Ausführungen über den Zusammenhang zwischen der indischen Gesellschaft und dem modernen Kapitalismus ist allerdings von verschiedenen Seiten kritisiert worden (vgl. Surendra Munshi, Max Weber über Indien. Eine einführende Kritik, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Max Weber, der Historiker, Göttingen, 1986, S. 221-241). 36 RS II, S. 117. 37 RS I, S. 246-247. 38 RS I, S. 573. 35

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

Berührung mit der für sie sinnlosen Welt ausschaltet. Andererseits wird in der Welt die Möglichkeit gegeben, jede berufliche und funktionelle Rationalität als solche ohne religiöse Bedingtheit zu entwickeln. Man könnte sogar sagen, daß es nicht nur ermöglicht wird, sondern durch die religiöse Ethik geradezu geboten ist, die Rationalitäten als Eigengesetzlichkeiten der innerweltlichen Sphären zu entfalten. In bezug auf das politische Dharma ist die Frage, „ob und in welchem Sinn das Handeln nach dem Kasten-Dharma, also: eine Tat der Materie, nicht des Erlösung suchenden Geistes, Heilswert 39 haben konnte“, im Bhagavadgita – im Gespräch zwischen Krishna und Arjuna – sehr schön formuliert und beantwortet. „Uns ist das Minimisieren der Verflechtung in die Welt, das religiöse ‚Incognito‘ des Mystikers bereits begegnet, welches die Folge der ihm eigenen Art von Heilsbesitz ist. Der alte Christ hat seine Güter und Frauen, ‚als hätte er sie nicht‘. Im Bhagavadgita nimmt dies die besondere Färbung an: daß sich der wissende Mensch gerade im Handeln, richtiger: gegen sein eigenes Handeln in der Welt, bewährt, indem er das Gebotene – das ist immer: das durch die Kastenpflichten Gebotene – zwar vollzieht, aber innerlich gänzlich unbeteiligt daran bleibt: handelt, als handelte er nicht. Das ist beim Handeln vor allem dadurch bedingt, daß man es ohne alles und jedes Schielen nach dem Erfolg, ohne Begierde nach seinen Früchten, vollzieht. Denn diese Begierde würde ja Verstrickung in die Welt und also Entstehung von Karman bewirken. Wie der alte Christ ‚recht tut und den Erfolg Gott anheimstellt‘, so tut der Bhagavata-Verehrer das ‚notwendige Werk‘, – wir würden sagen: ‚die Forderung des Tages‘ –, die ‚von der Natur bestimmte Obliegenheit‘.“40

Webers Auffassung über die indische Religion wird häufig anhand des Vergleichs seiner These der „innerweltliche[n] Askese“ des Protestantismus mit 41 dem Begriff der „weltflüchtige[n] Kontemplation“ verdeutlicht. Dies ist gewiß richtig, dennoch läßt sich die indische Ordnung nicht gänzlich durch diesen Begriff erfassen, da die gesamte Ordnung nicht auf die religiöse Ebene reduziert werden darf. Das Wesen des hinduistischen Ordnungsprinzips liegt nicht nur in der weltflüchtigen Kontemplation, sondern vielmehr in deren Verbindung mit einer „organischen Sozialethik“. Der alte Buddhismus, der am radikalsten die Welt abgelehnt hat, hatte keine Verbindung mit dem Kastenwesen, denn „keinerlei Weg führt von dieser einzigen wirklich konsequent weltflüchtigen Position zu 39

RS II, S. 193. RS II, S. 193-194. Da der Krieg nicht als chaotischer Ausbruch der Gewaltsamkeit, sondern als durch das Dharma gebotenes Handeln verstanden wird, kann gesagt werden, „daß hinduistische Fürsten sich rühmen, niemals getötet zu haben, ‚außer im Krieg‘, also: in ihrem Beruf“ (RS II, S. 318. Anm. 1). 41 RS I, S. 539. Vgl. Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2., S. 80-96. 40

3. Ordnung und Politik in der vergleichenden Kultursoziologie

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irgendeiner Wirtschafts- oder rationalen Sozialethik“.42 Der alte Buddhismus bekümmerte sich kaum um die Laien und konnte daher nicht mit den hinduistischen Sekten konkurrieren, weshalb er schließlich „in seinem Heimatland gänzlich 43 verschwunden“ ist. Der Hinduismus konnte sich dagegen reformieren und überleben, indem er sich kraft seiner „organischen Sozialethik“ mit der Fürstenmacht verband. Dies bedingt die charakteristische Eigenart der indischen (oder hinduistischen) Gesellschaft, in der die außerweltliche Intellektuellensoteriologie, welche keine „innere Verbindung [mit] der Leistung in der Welt“ hat, einerseits und „die praktisch im Leben handelnden Schichten“ andererseits unvermittelt und traditionalistisch in der „organischen“ Gesellschaftstheorie zusammengeschlossen sind.44 Nur vor dem Hintergrund dieser indischen Ordnung konnte Kautilya sich aus den Zwängen der religiösen Ethik lösen und sich so ohne Gewissensnot, sondern vielmehr durch diese Ethik bestärkt, der nüchternen Analyse der politischen Aufgaben zuwenden.45 Der Machiavellist, der in seiner Radikalität Machiavelli selbst übertrifft, ist kein Dämon, der aus dem Chaos der untergegangenen alten Ordnung auftaucht. Vielmehr konnte er nur aus den Voraussetzungen des spezifischen Verhältnisses von Politik und Religion hervorgehen. „Die rein eigengesetzliche (‚macchiavellistische‘) Auffassung des Fürsten-Dharma“ ist nicht nur eine Folgeerscheinung „der politischen Verhältnisse der späteren SignorieEpoche“, sondern auch „der konsequenten brahmanischen Rationalisierung“.46

b) Die konfuzianische Ordnung Vor dem eigentlichen Vergleich von Webers Machiavelli- und seiner KautilyaInterpretation soll zunächst erörtert werden, wie er die konfuzianische Ordnung im Rahmen seiner vergleichenden Religions- und Kultursoziologie dargestellt hat. Denn die Ordnung, vor deren Hintergrund Machiavelli seine politische Philosophie entwirft, wird erst in der Gegenüberstellung mit der indischen und der chinesischen Ordnung erkennbar. Auch in China gab es ohne jeden Zweifel erbitterte Kämpfe um die Macht, 47 die als „machiavellistisch“ bezeichnet werden können. Dennoch konnte sich nach Weber dort die Eigengesetzlichkeit der Politik nicht so radikal entfalten 42

WuG, S. 377. RS II, S. 251. Vgl. auch RS II, S. 318. 44 RS II, S. 367. 45 Vgl. Louis M. Dumont, Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens, S. 352-353. 46 RS II, S. 190. 47 RS I, S. 323. 43

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

wie in Indien. Die chinesische Ordnung hat verhindert, daß die Politik sich gemäß ihrer eigenen Logik verselbständigt und radikalisiert. In dieser Hinsicht steht die chinesische Ordnung der indischen diametral gegenüber. Während sich Hinduismus und Buddhismus durch die unüberbrückbare Spaltung in die religiöse Sphäre einerseits und die weltlichen Sphären andererseits charakterisieren lassen, ist dieses Spannungsverhältnis im Konfuzianismus „auf ein absolutes Minimum 48 reduziert“. „Der Konfuzianismus war, ebenso wie der Buddhismus, nur Ethik (‚Tao‘, darin entsprechend dem indischen ‚Dhamma‘). Aber er war, im schärfsten Gegensatz zum Buddhismus ausschließlich innerweltliche Laiensittlichkeit. Und in noch schärferem Kontrast zu ihm war er: Anpassung an die Welt, ihre Ordnungen und Konventionen, ja, letztlich eigentlich nur ein ungeheurer Kodex von politischen Maximen und gesellschaftlichen Anstandsregeln für gebildete Weltmänner.“49 Der Konfuzianismus löst die Spannung von Religion und Welt auf, indem er jene auf diese reduziert. „Der kaiserliche Oberlehensherr“ ist zugleich „der legitime Oberpriester“.50 Er hält sowohl die politische Macht als auch die religiöse Autorität in einer Hand. Die chinesische Ordnung ist auf diese Weise so eindimensional und harmonisch konstruiert, daß „ein Konflikt der Interessen des eigenen Seelenheils mit den Anforderungen der natürlichen sozialen Ordnungen nach christlicher Art“ „undenkbar“ ist.51 Es ist auch in diesem Kontext zu verstehen, wenn Weber sagt: „Die ‚Vernunft‘ des Konfuzianismus war ein Rationalismus der Ordnung.“52 Dadurch, daß die bestehende Ordnung als eine harmonische Einheit und daher als die einzige Grundlage der zu beachtenden Normen wirksam ist, wird der Weg zur Durchbrechung des „Zaubergartens“ im Sinne „der krüden und abstrusen universistischen Vorstellung vom Weltzusam53 menhang“ versperrt. Daraus folgert Weber: „Jede Art von Rationalisierung des an sich uralten empirischen Wissens und Könnens in China hat sich in der Richtung des magischen Weltbildes bewegt.“54 Dieses Weltbild hemmt zwangsläufig die Verselbständigung der kulturellen Sphären nach ihren jeweiligen Eigengesetzlichkeiten. Und die „Staatskunde“ bildet hierbei keine Ausnahme.55 Der spannungslose Charakter der chinesischen Kultur hat eine große Bedeutung im Hinblick auf die politische Theorie Chinas. So kann die Staatsgewalt, auch wenn sie noch so brutal ausgeübt wird, mangels anderer Maßstäbe ethisch leicht 48

RS I, S. 514. RS I, S. 441. 50 RS I, S. 304. 51 RS I, S. 495-496. 52 RS I, S. 457. 53 RS I S. 513. 54 RS I, S. 481. 55 RS I, S. 484. 49

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legitimiert werden. Der Begriff der Sünde bedeutet hiernach nur „Verstöße gegen die überlieferten Autoritäten: Eltern, Ahnen, Vorgesetzte in der Amtshierarchie, also gegen traditionalistische Gewalten, im übrigen aber magisch bedenkliche Verletzungen der überlieferten Bräuche, des überlieferten Zeremoniells 56 und endlich: der festen gesellschaftlichen Konventionen“. Es mangelt in China am Moment, die gegebene Gesellschaft zu transzendieren, zu kritisieren und umzuwälzen. Entsprechend läßt sich „Widerstand“ nicht von „Rebellion“ unterscheiden.57 Alle diese Charakteristika des konfuzianischen Staates resultieren aus dem bereits konstatierten mangelnden Spannungsverhältnis.

c) Machiavelli und die okzidentale Ordnung Kautilya und Machiavelli rücken beide die politische Macht in den Vordergrund. In dieser Hinsicht gibt es kein Unterschied zwischen beiden. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist es aber wichtiger, unter welcher Voraussetzung des Verhältnisses von Politik und Religion sie die Position der Machtpolitik vertreten. Max Weber übersieht keineswegs die Differenz zwischen Kautilya und Machiavelli. Seine Perspektive auf Machiavelli manifestiert sich auf charakteristische Weise, wenn er in „Politik als Beruf“ schreibt: „Der Genius, oder Dämon, der Politik lebt mit dem Gott der Liebe, auch mit dem Christengott in seiner kirchlichen Ausprägung, in einer inneren Spannung, die jederzeit in unaustragbarem Konflikt ausbrechen kann. Das wußten die Menschen auch in den Zeiten der Kirchenherrschaft. Wieder und wieder lag das Interdikt – und das bedeutete damals eine für die Menschen und ihr Seelenheil weit massivere Macht als die (mit Fichte zu reden) ‚kalte Billigung‘ des kantianischen ethischen Urteils – auf Florenz, die Bürger aber fochten gegen den Kirchenstaat. Und mit Bezug auf solche Situationen läßt Macchiavelli an einer schönen Stelle, irre ich nicht: der Florentiner Geschichten, einen seiner Helden jene Bürger preisen, denen die Größe der Vaterstadt höher stand als das Heil ihrer Seele.“58

Hier offenbart sich Machiavellis (und Webers) Sympathie für die Florentiner Bürger, die sich nicht für die religiöse Autorität („Heil ihrer Seelen“), sondern für die politische („Liebe zur Vaterstadt“) entscheiden. Auch hier ist das nationalistische Element Webers nicht zu verkennen. Und in der Tat ist diese Stelle zumeist dahingehend ausgelegt worden.59 Man muß aber fragen, warum Weber

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RS I, S. 515. RS II, S. 144. 58 PS, S. 557-558. Vgl. dazu auch RS I, S. 98. 59 Vgl. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 48. 57

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

die folgende „schöne“ Stelle der Florentiner Geschichte hervorhebt, die sich im 3. Buch, 7. Kapitel der Geschichte von Florenz findet: „Man nannte sie Heilige, obgleich sie die Bannflüche gering geachtet, die Kirchen ihrer Güter beraubt und die Geistlichkeit zur Feier des Gottesdienstes gezwungen hatten. So viel höher schätzten diese Bürger damals das Vaterland als die Seele.“60

Sollte Weber nicht vielmehr andere Stellen zitieren, um das Moment der Machtpolitik, das Primat der Politik vor der Religion oder den Patriotismus zu betonen? Warum beruft sich Weber nicht wie Hegel61 auf das Schlußkapitel des Principe, den „Aufruf, in Italien die Macht zu ergreifen und es von den Barbaren zu befreien“?62 Das Machiavelli-Bild Webers ist nicht identisch mit demjenigen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als der Staatstheoretiker von Herder, Fichte und Hegel „entdeckt“63 wurde. Es geht ihm nicht um Machtpolitik oder Patriotismus. Weber richtet vielmehr die Aufmerksamkeit auf das Spannungsverhältnis von Religion und Politik. Im Vergleich zur indischen und chinesischen Kultur wird erkennbar, daß ein solches Spannungsverhältnis von Religion und Politik nicht überall besteht, sondern nur bei Machiavelli bzw. im Okzident (im Weberschen Sinne des Wortes) unvermittelt geblieben ist. Machiavelli spricht über Machtpolitik nur vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisses. Weber erklärt diese Spannung im Vergleich zu Fichtes Begriff der „kalten Billigung“ in dessen System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre.64 Dieser Begriff bezieht sich – wie auch Weber bemerkt – hauptsächlich auf die Kantianische Ethik. Dannach beruht aufgrund des Primats des Sittengesetzes vor der theoretischen Vernunft65 auch die Wissenschaft nicht auf

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Machiavelli, Geschichte von Florenz, Gesammelte Schriften IV, München, 1925, S. 163. Vgl. auch Brief vom 16. April 1527 an Vettori, in: ders., Historische Fragmente: Komödien/Briefe, Gesammelte Schriften V, München, 1925, S. 549-550. 61 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805-1806, Hamburg, 1969, S. 247: „[...] welche Begeisterung des Patriotismus seinen kalten besonnenen Lehren zugrunde liegt, spricht er[Machiavelli] in der Vorrede und im Schlusse aus!“ 62 Vgl. Machiavelli, Der Fürst, XXVI. Kap., S. 106-111. 63 Vgl. Albert Elkan, Die Entdeckung Machiavellis in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 64 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, in: J.G. Fichte – Gesamtausgabe I, 5, Stuttgart/Bad Cannstatt, 1977, S. 156. 65 Vgl. Ebd., S. 154.

3. Ordnung und Politik in der vergleichenden Kultursoziologie

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den „ästhetischen Gefühlen“ der Lust, sondern auf der „kalten Billigung“.66 Hier ist es von großer Bedeutung, daß Weber diesen Begriff auch verwendet, um die indische organische Sozialethik zu charakterisieren. „Diese Gnade verleiht er[Krischna] denen, welche richtig, d. h. nach dem Dharma, handeln ohne Rücksicht auf den Erfolg und ohne persönliches Interesse an ihrem Tun. Man darf, occidental ausgedrückt, dem eigenen Handeln gegenüber nur die Fichtesche ‚kalte Billigung‘ seiner Richtigkeit, am Dharma gemessen, haben.“67

Nicht zu übersehen ist Webers Hinweis auf den Zusammenhang zwischen den „massiven“68 Anforderungen und dem Spannungsverhältnis. Das Wort „massiv“ verwendet Weber aufgrund der Erkenntnis, daß „die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken“.69 Daß die Menschen zu Machiavellis Zeit sich auf „massive“ Weise der Kirche hingaben, bedeutet also nach Webers Verständnis nicht, daß sie sine ira et studio Normen folgten, wie sie von der Kantianischen Ethik oder dem Dharma vorgegeben sind. Spannung und Leidenschaft bedingen sich gegenseitig. Es ist also kein Zufall, daß der chinesischen und indischen Geisteswelt durch den Mangel des Spannungsverhältnisses „Leidenschaft“ fremd ist.70 Ähnlich beschreibt Weber auch „die glühende Leidenschaft der [israelitischen] Propheten“ aus der Sicht des Zusammenhangs zwischen Spannung und Leidenschaft.71 „Der typische Prophet befindet sich anscheinend in einem steten Zustand der Spannung [...]. Wenn sie sich löste – und sie löste sich durch das Aufblitzen der Deutung, die sich als ein Hören der göttlichen Stimme einstellte –, dann brach das Prophetenwort hervor. Pythia und deutender priesterlicher Dichter waren hier nicht getrennt: der israelitische Prophet war beides in einer Person, das erklärt den ungeheuren Schwung.“72

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Vgl. Heinrich Rickert, Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie, in: Kantstudien, 4, 1900, S. 145: „Auf unserm Pflichtbewusstsein beruht nicht nur unser sittliches Leben sondern in letzter Hinsicht auch die Wissenschaft. Das Erkenntnisvermögen giebt mir für sie lediglich den Stoff, die Überzeugung von ihrer Wahrheit aber liegt in einem Gefühl, das ich anerkennen soll, und wo diese Billigung – Fichte nennt sie im Gegensatz zu den ‚ästhetischen Gefühlen‘ der Lust mit einem sehr charakteristischen Ausdruck eine ‚kalte Billigung‘ – nicht vorliegt, da giebt es auch keine theoretische Überzeugung.“ 67 RS II, S. 199-200. 68 Vgl. PS, S. 557. 69 WL, S. 154. 70 Vgl. RS I, S. 305, S. 445, S. 519; RS II, S. 275. 71 RS III, S. 286. 72 RS III, S. 305-306. Es ist auch in diesem Zusammenhang zu verstehen, daß Weber wiederholt das Moment der Leidenschaft in der Politik betont. „Parteinahme, Kampf,

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

An dieser Stelle soll nicht weiter darauf eingegangen werden, ob und in welcher Hinsicht Webers Verständnis von Machiavelli angemessen ist.73 Max Weber war kein Spezialist der politischen Ideengeschichte, und die vorliegende Arbeit interessiert sich in erster Linie für die Konzeption der okzidentalen Ordnung, welche Weber von seinem spezifischen Gesichtspunkt aus im Denken Machiavellis wiederfindet. Machiavelli wird gewöhnlich als Begründer der modernen politischen Philosophie bezeichnet, weil er die politische Sphäre aus ihrer Abhängigkeit von der religiösen Sphäre befreite und ihr Wesen im Begriff der Macht definierte. Max Weber deutet im Rahmen seiner vergleichenden Kultursoziologie dieses nicht als eine beziehungslose Unabhängigkeit der Politik, sondern als relative Verselbständigung, die in sich das Moment der Spannung mit der religiösen Sphäre einschließt. Ein solches Machiavelli-Verständnis umreißt zugleich Max Webers Konzeption der okzidentalen Kultur.

4. Typologie der Kulturen und Webers Perspektive a) Die drei Kultur-Typen In der hinduistischen Ordnung stehen die religiöse und die politische Sphäre 74 unvermittelt nebeneinander. Dies resultiert aus der ihr eigenen organischen Sozialethik als einer Kombination von radikal weltablehnender Religion und dem Kastenswesen. Erst vor diesem Hintergrund läßt sich sagen: „‚Tue das notwendige‘ – das heißt das nach dem Dharma der Kriegerkaste und ihren Regeln pflichtmäßige, dem Kriegszweck entsprechend sachlich notwendige – ‚Werk‘.“75 In der konfuzianistischen Ordnung Chinas gibt es dagegen keinen Konflikt zwischen Religion und Politik. Dies beruht auf einer Kosmologie, deren Ideal die Harmonie ist. Diese Kosmologie beinhaltet die religiöse Ethik der WeltbeLeidenschaft – ira et studium – sind das Element des Politikers“ (PS, S. 524. Vgl. auch PS, S. 545-546). 73 Webers Interpretation von Machiavelli ähnelt Isaiah Berlins Auffassung (vgl. Berlin, Die Originalität Machiavellis). Vgl. auch Friedrich Meinecke, Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik. Friedrich Theodor Vischer – Gustav Schmoller – Max Weber, in: Staat und Persönlichkeit, Berlin, 1933, S. 156-157. Dagegen argumentiert Leo Straus: „There is no tragedy in Machiavelli because he has no sense of the sacredness of ‚the common‘“ (Leo Strauss, Thoughts on Machiavelli, Chicago, 1958, p. 292). 74 Vgl. RS II, S. 201-202: „Realität und Magie, Handlung, Räsonnement und Stimmung, geträumte Gnosis und scharf bewußtes Fühlen gehen miteinander und ineinander, weil alle letztlich gleich unwirklich und unwesenhaft bleiben gegenüber dem allein realen göttlichen Wesen.“ 75 PS, S. 555.

4. Typologie der Kulturen und Webers Perspektive

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jahung und Weltanpassung einerseits und die Undifferenziertheit der Sphären andererseits. Weber schreibt: „Der rechte Weg zum Heil war die Anpassung an die ewigen übergöttlichen Ordnungen der Welt: das Tao, und also an die aus der kosmischen Harmonie folgenden sozialen Erfordernisse des Zusammenlebens. Vor allem also: pietätvolle Fügsamkeit in die feste Ordnung der weltlichen 76 Gewalten.“ Man sagt, daß Machiavelli die politische Wirklichkeit nüchtern und sachlich beschrieben habe. Er betrachtet sie aber nicht völlig voraussetzungenslos, sondern vor einem bestimmten Weltbild. Die von ihm vorausgesetzte Ordnung kann einerseits durch den Satz „‚Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist‘ (denn: was kommt auf diese Dinge für das Heil an?)“ charakterisiert werden.77 Denn anders als in China differenziert sich die Politik im hohen Grade von der Religion. Aber diese Ordnung muß andererseits als Spannungsverhältnis gesehen werden, im Unterschied zur gänzlichen Isolation der Sphären in Indien. Nach Weber nimmt Machiavellis Ordnung daher eine Mittelstellung zwischen der chinesischen und der indischen Ordnung ein. Aus dem Modus des Verhältnisses der Wertsphären in der jeweiligen kulturellen Ordnung ergeben sich drei Typen der Kultur: die unausdifferenzierte Einheitlichkeit von Religion und Politik (China), das beziehungslose Nebeneinander beider Sphären (Indien) und die Welt als ständiges Spannungsverhältnis (Okzident).78 Der Begriff der Machtpolitik, der anhand von Kautilya, Machiavelli und Weber diskutiert worden ist, darf daher nicht an sich, sondern nur unter Berücksichtigung der jeweils zugrundeliegenden Ordnung verwendet werden.

b) Relativismus und die indische Ordnung Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß die okzidentale Moderne bei Weber nicht im Rahmen der Differenzierungstheorie verstanden werden kann. 76

RS I, S. 514. RS I, S. 550. 78 Die vorliegende Arbeit hat das Moment der Spannung herausgearbeitet, das die okzidentale Kultur charakterisiert, indem sie die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Religion und Politik gerichtet hat. Werner Gephart hatte aus dem Blickwinkel des Verhältnisses von religiöser Ethik und Ästhetik folgende Schlußfolgerung gezogen: „Danach liegt der Erklärungsmodus der Differenz zwischen okzidentalen und asiatischen Ästhetiken in der spezifischen Art der Spannung, die zwischen religiöser Ethik und Ästhetik auftritt, nicht aber in der bloßen Entfaltung und Unversöhnlichkeit der Eigengesetzlichkeiten verschiedener Sphären, die in vollständiger Isolierung voneinander gedacht werden und deren Telos der ‚Rationalisierung‘, gerade für die ästhetische Sphäre, dann außerordentlich unklar bleibe“ (Werner Gephart, Handeln und Kultur, S. 142). 77

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

Dieses Problem ist bei der Kautilya-Interpretation deutlich geworden. Die Pluralität der Wertsphären bedeutet nicht immer, daß diese in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Weber richtet seine Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen Isolation und Kollision. Denn „nur was sich aufeinander bezieht, kann gegeneinander sein. [...] Im Gegensatz herrscht [...] in der einen Hinsicht Über79 einkunft, in einer anderen Verschiedenheit.“ Ohne das Moment der „Übereinkunft“ kann keine Spannung entstehen. Dementsprechend unterscheidet Weber die „Wertkollision“ vom Wertrelativismus. Weber-Kritiker haben seine Theorie verschiedentlich als relativisitisch bezeichnet, sie haben dabei jedoch diesen Unterschied übersehen. Weber betont ausdrücklich: „Das gröblichste Mißverständnis, welches den Absichten der Vertreter der Wertkollision gelegentlich immer wieder zuteil geworden ist, enthält daher die Deutung dieses Standpunkts als ‚Relativismus‘, – als einer Lebensanschauung also, die gerade auf der radikal entgegengesetzten Ansicht vom Verhältnis der Wertsphären zueinander beruht und (in konsequenter Form) nur auf dem Boden einer sehr besonders gearteten (‚organischen‘) Metaphysik sinnvoll durchführbar ist.“80

Weber verwendet den Begriff „Relativismus“ unter besonderer Berücksichtigung der indischen Ordnung, wenn er ihn im Zusammenhang mit der „organischen“ Metaphysik versteht. Der Begriff „organisch“ wird hierbei nicht im Zusammenhang mit der sog. historischen Schule,81 sondern im Sinne der „Relativierung und Differenzierung der Ethik“ verwendet.82 „Die ‚organische‘ Sozialethik“ ist – Weber zufolge – der „praktisch bedeutendste[r] Typus“ der „Formen der Relativierung der religiösen Heilswerte und ihrer ethisch rationalen Eigengesetzlichkeit“.83 Bezüglich des Bhagavadgita schreibt er: „die indische ‚Toleranz‘ ruht auf dieser absoluten Relativierung aller ethischen und soteriologischen

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Martin Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, Gesamtausgabe, Bd. 43, Frankfurt am Main, 1985, S. 232-233. 80 WL, S. 508. 81 Dieter Henrich versucht die oben zitierte Passage, in der Weber seine Position der Wertkollision vom „Relativismus“ unterscheidet, im Rahmen der Wissenschaftslehre zu interpretieren (Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, S. 105-108). Er übersieht dabei aber, daß sich Webers Begriff „Relativismus“ auf die „organische“ indische Gesellschaftsgliederung bezieht. Hier ist zu beachten, daß diese Passage in den „Gutachten zur Werturteilsdiskussion im Ausschuss des Vereins für Sozialpolitik“ (1913) nicht enthalten war (vgl. Max Weber, Gutachten, in: Eduard Baumgarten, Max Weber. Werk und Person, S. 118), sondern erst bei der Überarbeitung von 1917 eingefügt wurde (vgl. Max Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Logos, VII, 1917/18, S. 57-58), zu einem Zeitpunkt also, als Weber sich auch mit seiner Indienstudie beschäftigte. 82 Vgl. WuG, S. 360. Vgl. auch Anm. 31 dieses Kapitels. 83 RS I, S. 551.

4. Typologie der Kulturen und Webers Perspektive

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Gebote. Sie sind organisch relativiert nicht nur nach der Kastenzugehörigkeit, sondern auch nach dem Heilsziel, welches der Einzelne erstrebt.“84 An dieser Stelle ist zu berücksichtigen, daß Weber den „Ständestaat“, den nur der Okzident 85 kannte, von der indischen Gesellschaft der „organischen Berufsethik“ unterscheidet. Im Aufsatz „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“ (1917), der fast gleichzeitig mit seiner Indienstudie entstand, weist er darauf hin: „Das wirklich Charakteristische an dem sog. Ständestaat war nicht etwa die ‚organische‘ Gliederung der Gesellschaft nach ‚natürlichen ökonomischen Berufsgruppen‘“.86 Das Charakteristische an dem „nur in einem Teil von Europa zur vollen Ausbildung gelangten Ständestaat“ ist: „Die Aneignung politischer Rechte durch Einzelpersonen und Körperschaften nach Art des Privatbesitzes an sachlichen Gütern und: der Zusammentritt [...] dieser Privilegieninhaber zu gemeinsamen Tagungen behufs Ordnung politischer Angelegenheiten durch Kompromiß“.87 In der altindischen „organischen“ Kastenordnung bedarf es keines Kompromisses, da zwischen den ausdifferenzierten und relativierten Kasten keine Konflikte entstehen. Mit anderen Worten sind Konflikt und Kompromiß wesentliche Merkmale der okzidentalen Ordnung, welche Max Weber diskutiert. Für gewöhnlich versteht man unter dem Begriff des Relativismus, daß es mehrere gleichrangige Perspektiven gibt. In diesem Sinne kann man Webers Wertlehre als „relativistisch“ bezeichnen. Weber unterscheidet aber das Spannungsverhältnis vom isolierten Nebeneinander, indem er die Aufmerksamkeit auf die Dimension des Verhältnisses dieser gleichrangigen Perspektiven richtet. In diesem Aspekt liegt das entscheidende Kriterium, wodurch sich Webers Position und der sog. Relativismus und – parallel dazu – die okzidentale Kultur und die indische Kultur voneinander unterscheiden.

c) Kulturvergleich als Selbstreflexion Es darf nicht übersehen werden, daß diese Unterscheidung von Isolation und Spannung keineswegs objektiv oder essentialistisch ist. Man kann zwar mit Recht sagen, daß die okzidentale Ordnung, wie sie von Weber dargestellt wird, in einem Zusammenhang mit der jüdisch-christlichen Vorstellung des persönlichen überweltlichen Gottes steht.88 Darauf weist Weber bezüglich des asiatischen 84

RS II, S. 200. RS I, S. 3. 86 PS, S. 263. 87 PS, S. 263-264. 88 Vgl. WuG, S. 334: Im Kontrast zu den asiatischen Religionen charakterisiert Weber diese Vorstellung als „Konzeption des einen überweltlichen, schrankenlos allmächtigen Gottes, und der Kreatürlichkeit der von ihm aus dem Nichts geschaffenen Welt“. 85

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

Konfliktes hin: „Gewiß gab es den Gegensatz des Göttlichen und der ‚Welt‘ [...]. Allein in Asien war der Gegensatz nirgends ein solcher des ethischen Gottes gegen eine Macht der ‚Sünde‘, des radikal Bösen, welche durch aktives 89 Handeln im Leben zu überwinden wäre.“ Die „Konzeption des überweltlichen Schöpfergottes“ bedeutet aber nicht notwendigerweise das Entstehen eines Spannungsverhältnisses zwischen der Religion und den anderen, weltlichen Sphären, wie Weber es als Merkmal der okzidentalen Kultur beschreibt. „Diese Zusammengehörigkeit [ist] keine unbedingte“.90 Der „Okzident“ ist bei Weber ein „Idealtypus“, also eine „Utopie“, „die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist“.91 Die europäische Geschichte schließt viele Erscheinungen in sich ein, die vom Weberschen Bild des „Okzidents“ abweichen. Weber analysiert die Stellung des Christentums zum Staat und unterscheidet vier Typen: „1. Völlige Perhorreszierung des bestehenden Römerreichs“, „2. Völlige Staatsindifferenz, also passive Duldung der (stets und immer unrechtmäßigen) Gewalt, daher auch aktive Erfüllung aller religiös nicht direkt das Heil gefährdenden Zwangsnotwendigkeiten“, „3. Fernhaltung vom konkreten politischen Gemeinwesen“ und „4. Positive Wertung der Obrigkeit“.92 Der erste Typ der völligen Perhorreszierung steht der indischen Ordnung nahe, in der das Verhältnis von Politik und Religion abgebrochen ist, um Konflikte zu vermeiden. Der vierte Typ der Anerkennung der Obrigkeit steht dagegen der chinesischen Ordnung nahe, in der Politik und Religion zu einer Einheit verschmolzen sind. Es ist also offensichtlich, daß es sich bei der vergleichend-kultursoziologischen Typologie Max Webers um eine Selbstreflexion der okzidentalen Kultur handelt. Weber geht es primär um die Auseinandersetzung mit seiner Kultur und Gesellschaft, wenn er andere Kulturen untersucht. Unter den Begriff „Obrigkeitsstaat“ faßt Weber nicht nur die „patriarchale 93 Herrschaft“ Chinas, sondern auch die Einstellung des deutschen Luthertums 94 zur Politik. Die Analyse der chinesischen Ordnung schärft seine Einsicht in die zeitgenössische preußische Gesellschaft, während sein politisches Engagement wiederum seine vergleichende Kultursoziologie vertieft.95 Max Webers 89

RS II, S. 371. RS I, S. 538. 91 WL, S. 190. 92 WuG, S. 359. 93 WL, S. 479. 94 Vgl. RS I, S. 78; PS, S. 555-556. 95 Vgl. PS, S. 291: „Die ‚Demokratisierung‘ im Sinne der Nivellierung der ständischen Gliederung durch den Beamtenstaat ist eine Tatsache. Man hat nur die Wahl: in einem bürokratischen Obrigkeitsstaat mit Scheinparlamentarismus die Masse der Staatsbürger rechtlos und unfrei zu lassen und wie eine Viehherde zu ‚verwalten‘, – oder sie als Mitherren des Staates in diesen einzugliedern.“ Vgl. auch PS, S. 340, S. 347, S. 349, S. 355, S. 366, S. 500. 90

4. Typologie der Kulturen und Webers Perspektive

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Betrachtung des „religiös-utilitarischen Wohlfahrtsstaates“96 deckt sich mit seiner Diagnose der modernen Gesellschaft. In der Rußlandstudie schreibt er: „[...] so sehr der Kampf für solche ‚individualistischen‘ Lebenswerte auf Schritt und Tritt mit den ‚materiellen‘ Bedingungen der Umwelt zu rechnen hat, – so wenig könnte ihre ‚Verwirklichung‘ der ‚ökonomischen Entwicklung‘ überlassen werden. Es stünde heute äußerst übel um die Chancen der ‚Demokratie‘ und des ‚Individualismus‘, wenn wir uns für ihre ‚Entwicklung‘ auf die ‚gesetzmäßige‘ Wirkung materieller Interessen verlassen sollten. Denn diese weisen so deutlich wie möglich den entgegengesetzten Weg: im amerikanischen ‚benevolent feudalism‘, in den deutschen sog. ‚Wohlfahrteinrichtungen‘, in der russischen Fabrikverfassung, – überall ist das Gehäuse für die neue Hörigkeit fertig“.97

Auch was sein Indien-Bild angeht, ist Weber sich der Parallelität zwischen der altindischen Ordnung und der modernen Gesellschaft bewußt. So führt er die oben zitierte Passage weiter: „Und zugleich schafft die zunehmende Kompliziertheit der Wirtschaft, die partielle Verstaatlichung oder ‚Verstadtlichung‘, die territoriale Größe der Volkskörper stets neues Schreibwerk, weitere arbeitsteilige Spezialisation und Berufsschulung in der Verwaltung, d. h. aber: – Kaste.“98 Die moderne Gesellschaft, die zur funktionellen Differenzierung tendiert, erscheint ihm parallel zur altindischen Gesellschaft, wo verschiedene Kasten isoliert nebeneinander stehen.99 Angesichts der Modernisierung in diesem Sinne hegt Weber ein Krisenbewußtsein, auf dessen Grundlage sich seine vergleichende Kultursoziologie entfaltet.100 Am Ende seiner Protestantismusstudie, also noch vor seiner Indienstudie schreibt er: „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“101 Und dieses Bild des modernen Menschentums projiziert er im folgenden auf die altindische Gesellschaft. Webers Verständnis der Moderne wird zugleich vertieft durch das Erkennen der Analogien zwischen der indischen Kultur und der modernen Gesellschaft. Seine Politische 96

RS I, S. 424-425. MWG I/10, S. 269. 98 MWG I/10, S. 269. 99 Vgl. RS III, S. 5-6: Das Wesen der Kastenordnung liegt im „Verbleiben nicht nur des Einzelnen in der Kaste, sondern der Kaste als solcher in ihrer Stellung zu den anderen Kasten“. Daraus resultiert das „eminent sozialkonservative Verhalten“. 100 Mitte Februar 1916 schreibt Weber in einem Brief an Adolf von Harnack: „Hier bin ich teils mit dem indischen Material Ihrer Bibliothek beschäftigt, die davon überraschend viel für deutsche Verhältnisse enthält“ (Nachl. A. von Harnack, Ka. 44: Weber, Max, Nr. 7, in: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Handschriftenabteilung. Zitiert hier nach Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 18901920, S. 240, Anm. 115). 101 RS I, S. 204. 97

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

Schriften können nur in diesem Zusammenhang richtig verstanden werden. Darin schreibt er über die moderne Bürokratie: „[...] dieses [eisenharte] Gehäuse [...] würde nur um so unzerbrechlicher, wenn dann auf sozialem Gebiet, wie in den Fronstaaten der Vergangenheit, eine ‚ständische‘ Organisation der Beherrschten der Bürokratie angegliedert (und das heißt in Wahrheit: ihr untergeordnet) würde. Eine ‚organische‘, d. h. eine orientalisch-ägyptische Gesellschaftsgliederung, aber im Gegensatz zu dieser: so streng rational wie eine Maschine es ist, würde 102 dann heraufdämmern.“ Die Tatsache, daß Weber das Begriffspaar „ständisch“ und „organisch“ in Anführungszeichen setzt, zeigt deutlich, daß er es im Sinne seiner vergleichenden Kultursoziologie verwendet. Der „Stände“-Staat, der – Weber zufolge – nur im Okzident bekannt war, steht im Gegensatz zur nichteuropäischen „organischen“ Gliederung.103 Weber findet dieses nicht-okzidentale Element in der modernen okzidentalen Gesellschaft wieder. Dieser Gedanke ist eng mit seiner vergleichenden Kultursoziologie verbunden. Bis dato hat man die okzidentale Moderne bei Weber für monolithisch gehalten. Nun zeigt sich jedoch, daß Moderne und Okzident im Werk Max Webers zu unterscheiden sind. Diese Differenz wird im IV. Kapitel thematisiert.

Exkurs: Webers Wagner-Interpretation In diesem Exkurs soll versucht werden, anhand von Webers WagnerInterpretation in der Protestantismusstudie die These vom Zusammenhang zwischen der Machtpolitik bei Machiavelli und der durch das Spannungsverhältnis von Politik und Religion gekennzeichneten okzidentalen Ordnung zu belegen.104 Weber erwähnt Wagner (bzw. dessen Siegmund) im Anschluß an seine Darstellung über Machiavelli. Im Gegensatz zu seiner These über die Angst bei Bunyan spricht Weber hier vom „Geist stolzer Diesseitigkeit, dem Macchiavelli in dem Ruhm jener Florentiner Bürger Ausdruck gibt, denen – im Kampf gegen Papst und Interdikt – ‚die Liebe zur Vaterstadt höher stand, als die Angst um das Heil ihrer Seelen‘“.105 Weber richtet in diesem Kontext die Aufmerksamkeit auf „Empfindungen, wie sie Richard Wagner Siegmund vor dem Todesgefecht

102

PS, S. 332-333. Vgl. Anm. 31 dieses Kapitels. 104 Zum Thema „Wagner und Weber“ vgl. Christoph Braun, Max Webers „Musiksoziologie“, S. 26-31; David Chalcraft, Weber, Wagner and Thoughts of Death, in: Sociology, 27, 3,1993, pp. 433-449; ders., Love and Death. Weber, Wagner and Max Klinger, in: Sam Whimster (ed.), Max Weber and the Culture of Anarchy, pp. 196-213. 105 RS I, S. 98. 103

Exkurs: Webers Wagner-Interpretation

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in den Mund legt: ‚Grüße mir Wotan, grüße mir Wallhall ... Doch von Wallhall’s spröden Wonnen sprich du wahrlich mir nicht‘“.106 Im ersten Augenblick erscheint die Stelle als Ausdruck von Vaterlandsliebe bzw. Nationalismus. Für diese Auffassung spricht, daß Weber auf dem Stichwortmanuskript des Vortrags „Politik als Beruf“ „Macchiavelli: Liebe zum Vaterland/Wagner: Siegmund“ vermerkte, obwohl Wagners Name in dem gedruckten Vortrag nicht vorkommt.107 Es ist darüber hinaus anzumerken, daß Machiavelli und Wagner in der Tat für Webers Zeitgenossen nationalstaatliches Denken verkörperten. Paul Honigsheim erläutert Webers Haltung zu Wagner: „Will man Webers Stellung zu Wagner verstehen, so darf man natürlich die Zeit, in der er heranwuchs, nicht außer acht lassen sowie die Rolle, welche Wagner spielte und welche seine Anhänger ihm zusprachen“.108 Honigsheim weist sodann darauf hin, daß „die Popularität Wagners“ durch „seine Volkstümlichkeit“ bedingt war.109 „Die Generation [...], die unter dem Eindruck von 1870 aufwuchs und lebte, sah darin[in den nordischen Eddamythen als Objekt seiner NibelungenTetralogie] primär das National-Germanische.“110 Aber Weber ist nicht wegen des Moments des Nationalismus oder der Diesseitigkeit von Wagner fasziniert, ebenso wie er auch in Machiavelli nicht bloß einen Nationalisten sieht. Im Gegenteil haßte Weber – so Honigsheim – „den nationalistischen Rummel, der mit Wagner getrieben wurde“.111 Um den Kern von Webers Wagner-Interpretation zu verstehen, muß man die Aufmerksamkeit darauf richten, daß Weber nicht Siegfried, sondern „Siegmunds Gespräch mit der Tod verkündenden Brunhilde im zweiten Akt der Walküre“ zitiert:112 „So grüße mir Walhall, grüße mir Wotan, grüße mir Wälse und alle Helden, grüß auch die holden Wunschmädchen: zu ihnen folg’ ich dir nicht.“113 106

RS I, S. 98=PE, S. 179, [177]. MWG I/17, S. 151. 108 Paul Honigsheim, Erinnerungen an Max Weber, in: KZfSS, Sonderheft 7, 1963, S. 244. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 245. 111 Ebd., S. 247. 112 Ebd. 113 Richard Wagner, Die Walküre, München, 1982, S. 119. 107

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III. Machtpolitik und okzidentale Moderne

Marianne Weber notiert im letzten Kapitel der Biographie: „Weber liest am Ostermorgen den so manche Tiefe enthaltenden Text der Walküre vor, deren gemeinsames Genießen die Feiertage beschließen soll. [...] Die Walküre war ein großer Eindruck, obwohl ihr Sinn nicht ganz aus den Fesseln der Reflektion zu künstlerischer Gestalt befreit ist. Weber liebt besonders Siegfrieds seelisches Ringen mit der Todverkünderin, die ihm Walhall verspricht, aber den Heldenhimmel ohne die Geliebte. Und der dann antwortet: ‚Von Walhalls spröden 114 Wonnen sprich Du mir wahrlich nicht.‘“ Marianne schreibt hier „Siegfried“. Dies ist aber offenkundig falsch. Webers Held ist nicht Siegfried, sondern Siegmund, und dieser Umstand ist für die vorliegende Arbeit bedeutsam. Ginge es Weber um die heidnische Weltlichkeit, müßte man sagen, daß seine Erwähnung Siegmunds in Wagners Musikdrama „Walküre“ nicht zutreffend ist. Dann wäre vielmehr Siegfried anzuführen, der Wotans Speer zerschlägt und so den Untergang der Götter herbeiführt. Weber interessiert sich aber nicht für Siegfried, der als „Übermensch“ jenseits aller Gesetze steht.115 Er ist vielmehr von Siegmund fasziniert, der den widersprüchlichen Gesetzen unterworfen ist und in der daraus resultierenden inneren Spannung seinen eigenen Weg sucht. In diesem Sinne urteilt Honigsheim ganz richtig: „Ergriffen hat ihn[Weber] dagegen Wagner als der Dichter des Tragischen sowie der Unentrinnbarkeit und des Aufsichnehmenmüssens des schicksalhaft einem Aufgeladenen und Aufgegebenen“.116 Es zeigt sich, daß Webers WagnerInterpretation eine große Nähe zu seiner Sicht von Machiavelli aufweist. Beidesmal geht es ihm um das Moment der Spannung, das er bei Wagner als Moment des Tragischen erkennt.

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Marianne Weber, Lebensbild, S. 700. Vgl. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen IV: Richard Wagner in Bayreuth, in: KSA 1, S. 509: „Und die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfried unter euch?“ 116 Honigsheim, Erinnerungen an Max Weber, S. 247. 115

IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie: Diskrepanz zwischen Protestantismus, Okzident und Moderne „Tandis que, dans les autres civilisations, la domination exclusive, ou du moins la prépondérance excessive d’un seul principe, d’une seule forme, a été une cause de tyrannie, dans l’Europe moderne, la diversité des éléments de l’ordre social, l’impossibilité où ils ont été de s’exclure l’un l’autre, ont enfanté la liberté qui règne aujourd’hui. Faute de pouvoir s’exterminer, il a bien fallu que les principes divers vécussent ensemble, qu’ils fissent entre eux une sorte de transaction. Chacun a consenti à n’avoir que la part de développenment qui pouvait lui revenir; et tandis qu’ailleurs la prédominance d’un principe produisait la tyrannie, en Europe la liberté est résultée de la variété des éléments de la civilisation, et de l’état de lutte dans lequel ils ont constamment vécu“ (François Guizot).1

Der asketische Protestantismus, der Okzident und die Moderne – zur Formulierung dieses Trias hat Max Weber bekanntlich entscheidend beigetragen. In seiner „Vorbemerkung“ zu Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie stellt er die Frage: „welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“2 Diese Frage erscheint nur dann sinnvoll und aktuell, wenn die Modernisierung weitgehend mit der sogenannten Verwestlichung gleichgesetzt und im Allgemeinen positiv bewertet werden kann. Der sog. Modernisierungstheorie liegen diese Annahme zugrunde: die Annahme der Identifizierbarkeit von Verwestlichung und Moder1

François P. Guizot, Histoire de la civilisation en Europe depuis la chute de l’Empire romain jusqu’à la Revolution française, Paris, 1853, S. 35-36. 2 RS I, S. 1.

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

nisierung einerseits und die der eindeutigen Bejahung der Moderne andererseits. In diesem Rahmen hat Robert N. Bellah, der sich vor allem auf Max Webers „Protestantismus-Kapitalismus-These“ stützt, in der japanischen Geistesgeschichte eine „funktionelle Äquivalenz“ des asketischen Protestantismus gesucht, 3 um die rasche wirtschaftliche Entwicklung des modernen Japan zu erklären. Es ist ferner bemerkenswert, daß auch Bellah-Kritiker oft von denselben Voraussetzung ausgegangen sind. Hingegen wurde von japanischer Seite behauptet, daß es in Japan trotz des großen Erfolges der institutionellen Modernisierung an einem „Ethos“ fehle, das mit dem des asketischen Protestantismus vergleichbar sei.4 Diese Annahmen sind aber nicht mehr selbstverständlich. Die Moderne kann nicht gänzlich unter positiven Vorzeichen gesehen werden. Es hat sich auch das Bewußtsein durchgesetzt, daß sich die Modernisierung in verschiedenen Kulturen in unterschiedlicher Weise entfalten kann.5 Als logische Konsequenz kommt nun der Vorwurf des Eurozentrismus auf. Man darf ferner die Problematik des Kulturessentialismus nicht übersehen, die sich an der Feststellung „nur im Okzident“ entzündet.6 Vor diesem Hintergrund soll in diesem Kapitel die Dreierbeziehung von asketischem Protestantismus, Okzident und Moderne bei Max Weber erneut untersucht werden, indem vor allem dem Naturrechtsverständnis in Webers Werk nachgegangen wird. Es geht dabei nicht um den einheitlichen Zusammenhang dieser drei Begriffe, sondern vielmehr um die Diskrepanzen, die in der Modernisie3

Vgl. Robert N. Bellah, Tokugawa Religion: The cultural Roots of modern Japan, New York, 1985. Vgl. auch Wolfgang Schwentker, Max Weber in Japan, S. 272-282. 4 Darauf wies z. B. Ken’ichi Tominaga auf einer internationalen Tagung im März 1993 in München hin: „Doch auch wenn die Japaner in bezug auf die Technologie und die Institutionen eine Kopie des westlichen Kapitalismus geschaffen haben, so bedeutete dies keineswegs, daß sie auch in bezug auf seinen ‚Geist‘ eine solche Kopie hervorgebracht hätten“ (Ken’ichi Tominaga, Die Modernisierung Japans und die soziologische Theorie Max Webers, in: Mommsen/Schwentker (Hrsg.), Max Weber und das moderne Japan, S. 57). 5 Vgl. S. N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist, 2000; ders., Multiple Modernities, in: Daedalus. Journal of the American Academy of Arts and Sciences, 129, 1, 2000, pp. 1-29; Almut Höfert/Armando Salvatore, Beyond the Clash of Civilisations: Transcultural Politics between Europe and Islam, in: dies. (ed.), Between Europe and Islam. Shaping Modernity in a Transcultural Space, Bruxelles/New York, 2000, pp. 13-35. 6 Vgl. Edward W. Said, Orientalism, London/Henley, 1978; Georg Stauth, Islam und westlicher Rationalismus. Der Beitrag des Orientalismus zur Entstehung der Soziologie, Frankfurt am Main/New York, 1993; Armando Salvatore, Beyond Orientalism? Max Weber and the Displacements of „Essentialism“ in the Study of Islam, in: Arabica. Journal of Arabic and Islamic Studies, XLIII, 1996, pp. 457-485.

1. Weber contra Naturrecht?

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rungstheorie verborgen sind. Dabei wird das Naturrecht aus folgenden Gründen thematisiert: i) Das Naturrecht wird zum einen von Weber als ein ausschließlich im Okzident entstandenes Phänomen bezeichnet. ii) Die Betrachtung des Wandels der Naturrechtskonzeption nimmt zum anderen einen wichtigen Platz in der Protestantismusstudie ein. iii) Schließlich sind politische Konzeptionen – allgemein gesagt – in hohem Maße durch die Naturrechtsvorstellung bedingt.

1. Weber contra Naturrecht? Das Thema „Max Weber und das Naturrecht“ ist bis dato kaum erörtert worden. Von daher soll vor der eigentlichen Untersuchung zunächst der Interpretationsrahmen, der dies verhindert hat, sichtbar gemacht werden.

a) Weber-Kritik Daß Webers Darstellung des Naturrechts kaum thematisiert worden ist, wurde sehr stark bedingt durch einen Interpretationsrahmen, der sich vor allem auf den Zusammenhang zwischen „Weber und dem Totalitarismus“ stützt. In ihm wird die Position vertreten, Webers Theorie sei mit dem Totalitarismus verwandt, zumindest jedoch diesem gegenüber machtlos. Webers Theorie fehle es dabei am „wertrationalen“ Naturrecht, das auf „Zweckrationalität“ reduziert werden könne. Diese Kritik ist eng verbunden mit der „Renaissance des Naturrechts“ nach 7 dem Zweiten Weltkrieg, die hauptsächlich von den Thomisten getragen war. Die These, daß es Max Weber an einer Konzeption des Naturrechts fehle, ist aber breiter rezipiert worden. Eine der Arbeiten, die auf diesem Interpretationsrahmen beruht, ist Wolfgang J. Mommsens Max Weber und die deutsche Politik. Obwohl Mommsens Ansatz keineswegs thomistisch ist, gibt die folgende Passage die zentrale These dieses Paradigmas wieder. Mommsen schreibt darin über die Funktionalisierung der Demokratie von Weber bis zu Schumpeter: „In Schumpeters bekannter Theorie der Demokratie als eines ‚Konkurrenzkampfes um die politische Führung‘ fand Max Webers Lehre eine bemerkenswerte Nachfolge. [...] gegenüber Schumpeter müßte man die Frage stellen, ob jenes Maß an Achtung der ‚Spielregel‘, an Fairneß und Toleranz, auf die Dauer aufrechterhalten werden kann, wenn nicht dem demokratischen System und demokratischen Verhaltungsweisen eine aus naturrechtlichen Quellen fließende innere Wertschätzung entgegengebracht

7

Vgl. E. B. F. Midgley, The Ideology of Max Weber: A Thomist Critique, Aldershot, 1983.

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

würde. [...] Eine solche Demokratie müßte zu immer stärkerer Oligarchisierung neigen und würde stets in der Gefahr stehen, in eine autoritäre Herrschaft umzuschlagen. Dies aber gilt in besonderem Maße von Webers demokratischer Elitetheorie.“8

Ebenso ist in diesem Zusammenhang Leo Strauss’ Naturrecht und Geschichte zu erwähnen. Abgesehen vom Problem seiner „esoterischen“ Darstellung, hat dieses Werk, das öfters im Kontext der Weber-Kritik zitiert wird, offenkundig einen großen Einfluß auf die Herausbildung der These „Weber contra Naturrecht“. Die folgende bekannte Passage trifft in der Tat die „social sciences“, gegen die sich Strauss mit seiner Weber-Kritik richtete, an ihrer empfindlichsten Stelle: „So scheint es denn, daß die Ablehnung des Naturrechts unweigerlich zu unheilvollen Konsequenzen führen muß. [...] Mag uns unsere Sozialwissenschaft auch noch so klug und weise hinsichtlich der Mittel machen, die wir für irgendwelche Zwecke wählen mögen, so gibt sie doch zu, daß sie unfähig ist, uns bei der Unterscheidung zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen, gerechten und ungerechten Zielen zu helfen. [...] Wenn wir unserer Sozialwissenschaft folgen, dann können wir in allen Angelegenheiten von sekundärer Bedeutung weise sein oder werden, aber wir müssen uns im wichtigsten Punkt mit völliger Unkenntnis abfinden [...]. Somit sind wir also in der Lage von Wesen, die in trivialen Angelegenheiten vernünftig und nüchtern handeln, aber wie Wahnsinnige um das Glück würfeln, wenn sie sich ernsten Problemen gegenüberstehen – Vernunft im kleinen und Wahnwitz im großen.“9

An dieser Stelle der „Einleitung“ seines Werkes erwähnt Strauss den Namen Max Weber nicht. Aber es ist unverkennbar, daß es – wie bei Mommsen – um Webers sog. „Zweckrationalität“ geht, welche die Rationalität auf die Mittel zum jeweiligen Zweck beschränkt. Ebenso wie Mommsen richtet Strauss die Aufmerksamkeit auf ein Recht, das nicht auf die Zweckrationalität reduziert werden darf. Allerdings ist Strauss’ Begriff des Naturrechts von Mommsens Naturrechtsverständnis sehr verschieden.10 Insgesamt ist jedoch festzustellen, 8

Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 433-434. Vgl. auch ders., Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, S. 46. 9 Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 3-4. 10 Was in der Weber-Forschung als Strauss’ Weber-Kritik gilt, ist allerdings etwas zweifelhaft. So hat Robert Eden einmal bemerkt: „no one has so much as outlined the main steps of that argument, yet everyone knows its gist“ (Robert Eden, Why wasn’t Weber a Nihilist?, in: Kenneth L. Deutsch/Walter Soffer (ed.), The Crisis of Liberal Democracy: A Straussian Perspective, New York, 1987, p. 212). Diese Lage scheint sich nicht grundlegend verändert zu haben. Man muß hier ferner auf die Wurzeln von Leo Strauss’ Beschäftigung mit dem „Naturrecht“ zurückgehen. Sein Interesse am Naturrecht beginnt nicht erst mit der sog. „Walgreen lecture“ von 1949, welche die Grundlage von Naturrecht und Geschichte ist. Der Untertitel seiner Hobbesstudie aus dem Jahr 1931 war: „Eine Einführung in das Naturrecht“. Und sein Interesse an Max Weber steht in Verbindung mit seiner Forschung über das Naturrecht, wie sein Brief vom 08. Januar

1. Weber contra Naturrecht?

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daß Strauss und Mommsen entscheidend zur Entstehung des Interpretationsrahmens „Weber contra Naturrecht“ beigetragen haben.

b) Anti-naturrechtliche Elemente bei Weber Max Webers wertrationaler Glaube an Menschenrechte und Demokratie ist in der Tat keineswegs stark ausgeprägt, auch wenn er ihnen gegenüber keine ausdrücklich kritische Stellung einnimmt. Man kann diesbezüglich auf drei Punkte hinweisen, auf welche Weber-Kritiker ihre Aufmerksamkeit richten. Der erste Punkt betrifft die „Wertfreiheit“. Webers Postulat der „Unterscheidung von Tatsachen und Werten“ kann gewiß als Gegenposition zu jeglicher „Natur“vorstellung interpretiert werden. Denn „Wertfreiheit“ gilt als eine Art Positivismus, so daß Webers Postulat von einer skeptischen Einstellung zur „natürlichen“ Ordnung der Werte oder zu normativen Ansprüchen ausgehen muß. Leo Strauss’ Weber-Interpretation rückt diese Problematik in den Vorder11 grund. Der zweite Punkt betrifft den Rechtspositivismus. In der sog. „Rechtssoziologie“ gibt es eine soziologische Diskussion der formalen Rationalisierung. Weber ist sich gewiß der Tendenz der Rechtsentwicklung in der Moderne bewußt, daß die naturrechtlichen Axiome zusammenbrechen und der Rechtspositivismus sich demgegenüber in den Vordergrund drängt.12 Seine „Rechtssoziologie“ ist in der

1935 an Jacob Klein bezeugt (vgl. Leo Strauss, Disposition: Die politische Wissenschaft des Hobbes. Eine Einführung in das Naturrecht (1931), in: ders., Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, Leo Strauss Gesammelte Schriften, Bd. 3, Stuttgart/Weimar, 2001, S. 193-200; ders., Korrespondenz 50: Brief an Jacob Klein, in: ebd., S. 535-536). 11 Es ist aber anzumerken, daß Webers „Wertfreiheit“ keineswegs indifferent gegenüber dem Wertproblem ist. Auf der Tagung für Sozialpolitik in Wien 1909 sagt Weber: „Der Grund, weshalb ich so außerordentlich scharf bei jeder Gelegenheit, mit einer gewissen Pedanterie meinetwegen, mich wende gegen die Verquickung des Seinsollens mit dem Seienden, ist nicht der, daß ich die Fragen des Sollens unterschätze, sondern gerade umgekehrt: weil ich es nicht ertragen kann, wenn Probleme von weltbewegender Bedeutung, von größter ideeller Tragweite, in gewissem Sinne höchste Probleme, die eine Menschenbrust bewegen können, hier in eine technisch-ökonomische ‚Produktivitäts-‘Frage verwandelt und zu einem Gegenstand der Diskussion einer Fachdisziplin, wie es die Nationalökonomie ist, gemacht werden“ (SS, S. 419). Webers Betonung liegt nicht auf der Dichotomie von Tatsachen und Werten als solche, wenn er vom Postulat „Wertfreiheit“ spricht. Er wendet sich vielmehr dagegen, daß man einen Wert im Namen der Tatsache vertritt. Weber unterschätzt keineswegs das Problem des Wertes. 12 Vgl. WuG, S, 501-502.

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

Tat verschiedentlich im Zusammenhang mit Hans Kelsens Standpunkt diskutiert worden.13 Der dritte Punkt betrifft die Machtpolitik. Berücksichtigt man die Radikalität, mit welcher Weber die Machtpolitik vertritt, kann man die These aufstellen, daß sie die Grundlagen der modernen naturrechtlichen Konzeptionen vernichten muß. In seiner Dissertation versucht Wolfgang Mommsen – kurz gefaßt – den Gesichtspunkt herauszuarbeiten, daß „bei Max Weber die spezifisch demokratischen Grundwerte hinter den nationalen Machtinteressen der Nation stark zurücktraten“.14

c) Webers Interesse am Naturrecht Der Weber-Kritik erscheinen Webers Standpunkt und das Naturrecht als extrem gegensätzliche Positionen. Dies erklärt, warum „Max Weber und das Naturrecht“ bis dato kaum thematisiert worden ist.

13

Vgl. Norberto Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, in: Manfred Rehbinder/KlausPeter Tieck (Hrsg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin, 1987, S. 109-126; Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main, 1993, S. 504. Bei aller Verwandtschaft ist die Divergenz nicht zu übersehen, daß sich Weber nicht als Rechtspositivist mit dem modernen Recht beschäftigt, während sich Kelsen um eine „Reine Rechtslehre“ bemüht. Die folgende Passage wäre von Weber keineswegs so geschrieben worden: „Mehr als zwei Jahrzehnte ist es her, daß ich unternommen habe, eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie zu entwickeln“ (Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien, 1960, S. III). Weber geht es nicht nur um die Liberation des Rechts von der Ethik und Politik bzw. der Ideologie. Er trägt zwar zur Differenzierungstheorie des Rechts bei, indem er über den „Rechtsformalismus“ diskutiert. Er setzt sich aber vielmehr mit der Gesamtheit der modernen Kultur auseinander, die in sich die formelle Rationalisierung des Rechts einschließt. In der „Rechtssoziologie“ stellt Weber die Frage nach „der Einwirkung der politischen Herrschaftsform auf die formalen Qualitäten des Rechts“ (WuG, S. 468). Es geht also nicht um Rationalität oder Rationalisierung einer Sphäre, sondern vielmehr – wie im II. Kapitel der vorliegenden Arbeit dargelegt – um die Konstellation der Rationalitäten. 14 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 437. Die machtpolitische Rationalität ist nicht unabhängig von den anderen Sphären. Man muß also die Aufmerksamkeit auf die Konstellation richten, vor deren Hintergrund Weber sich machtpolitisch orientiert. Es ist zu einfach, einen Theoretiker allein danach zu beurteilen, ob er machtpolitisch oder pazifistisch ausgerichtet ist. Vielmehr ist die gesamte Struktur zu beachten, die der Verschärfung einer Perspektive zugrunde liegt, um den „Theoretiker“ von einem naiven Patrioten unterscheiden zu können.

2. Naturrecht im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie

77

Die Behauptung, Weber habe sich nicht für das Naturrecht interessiert, ist jedoch falsch, denn er richtete sein Augenmerk sehr wohl auf das Naturrecht. Er hatte in Wirklichkeit großes Interesse am Naturrecht. So schreibt er z. B. in einem Brief vom 05. Mai 1908 an Karl Vossler: „Es ist [...] 11/ 2 Jahrzehnte her, daß ich mich zuletzt mit Thomas von Aquino befaßt habe – unmöglich daher, positiv mit Beleg oder doch mit klarer Formulierung anzugeben, worauf mein Gefühl beruht, daß hier in der Staatslehre und Ethik vielleicht manches sich unter andere Perspektiven rücken ließe. [...] Der schwierige Begriff der lex naturae, naturalis ratio u. s. w. dürfte das Gebiet sein, wo die noch offen gebliebenen Probleme liegen. Ich bin begierig[,] wie Tröltsch, der beste Kenner gerade dieser Seite sich dazu stellt.“15

Das Problem des Naturrechts taucht in Webers Werk häufig auf. In der Wissenschaftslehre sieht er Knies im „Banne jener historisch gewendeten ‚organischen‘ Naturrechtslehre“ befangen.16 Auch in der Protestantismusstudie,17 der Rußlandstudie,18 der China- und Indienstudie19 nimmt das Thema des Naturrechts einen wichtigen Platz ein. Dies wird alles außer acht lassen, wenn man sich auf der Grundlage des Interpretationsrahmens „Weber contra Naturrecht“ mit Max Webers Werk beschäftigt.

2. Naturrecht im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie a) Naturrecht als eine „nur im Okzident“ bekannte Erscheinung In seiner „Rechtssoziologie“ definiert Weber das Naturrecht wie folgt: „‚Naturrecht‘ ist der Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Dignität nicht von will-

15 MWG II/5, S. 558. Mit dem Heidelberger Romanisten Karl Vossler (1872-1949) stand Weber in enger Verbindung. In diesem Brief kommentiert Weber Vosslers DanteStudie: Die göttliche Komödie. Entwicklungsgeschichte und Erklärung, I. Bd, I./II. Teil, Heidelberg, 1907. Weber schätzt – was bei ihm sehr selten ist – Vossler sehr hoch (vgl. z. B. Brief an Meinecke vom 29. Juni 1909, in: MWG II/6, S. 158-160). Weber steht jedoch Vosslers Behandlung des Naturrechts skeptisch gegenüber (vgl. auch MWG II/5, S. 561). 16 WL, S. 138. Vgl. auch WuG, S. 497. 17 Vgl. RS I, S. 69-70, Anm. 1, S. 70-71, Anm. 2, S. 75-76, Anm. 3, S. 76-77, Anm. 3, S. 77-78, Anm. 3, S. 100-101, S. 109, S. 156, Anm. 2, S. 180, S. 180, Anm. 3. 18 Vgl. MWG I/10, S. 95, Anm. 4, S. 212, S. 223, S. 240-241, Anm. 76a, S. 269, S. 533, S. 539, Anm. 223, S. 542-544, S. 544-545, Anm. 227a, S. 578, Anm. 266. 19 Vgl. RS I, S. 312-313, S. 435-437, S. 495-496; RS II, S. 143-144, S. 247.

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

kürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst legitimieren. Normen also, welche nicht kraft ihres Ursprungs von einem legitimen Gesetzgeber, sondern kraft rein immanenter Qualitäten legitim 20 sind“. Es ist unverkennbar, daß diese Definition des Naturrechts vor allem komplementär zum Rechtspositivismus ausformuliert wird. Aber Webers Perspektive auf das Naturrecht beschränkt sich – wie bereits erwähnt – keineswegs auf den Gegensatz zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus. Der wichtigste unter den vernachlässigten Aspekten ist – für die vorliegende Arbeit – Webers Auffassung vom Naturrecht als einer „nur im Okzident“ bekannten Erscheinung.21 Weber thematisiert das Naturrecht im Zusammenhang mit der zentralen Frage nach der „besondere[n] Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus“.22 In der „Rechtssoziologie“ schreibt Weber unter fortlaufender Verwendung des „nur“: „Nur der Okzident kannte die voll entwickelte dinggenossenschaftliche Justiz und die ständische Stereotypierung des Patrimonialismus, nur er auch das Aufwachsen der rationalen Wirtschaft, deren Träger sich zunächst zum Sturz der ständischen Gewalten mit der Fürstenmacht verbündeten, dann aber revolutionär gegen sie kehrten; nur der Okzident kannte daher auch das ‚Naturrecht‘; nur er kennt die völlige Beseitigung der Personalität des Rechts und des Satzes ‚Willkür bricht Landrecht‘, nur er hat ein Gebilde von der Eigenart des römischen Rechts entstehen sehen und einen Vorgang wie dessen Rezeption erlebt.“23

Das Naturrecht als ein „nur im Okzident“ in Erscheinung getretenes Phänomen behandelt Weber nicht nur in der „Rechtssoziologie“. Auch in der China- und Indienstudie geht er auf dieses Thema ein, wie später erläutert werden wird. Das Naturrecht spielt also eine wichtige Rolle in der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers, obgleich diese Tatsache bislang in der Forschung weitgehend unberücksichtigt geblieben ist.

20

WuG, S. 497. Weber unterscheidet die kultursoziologische Betrachtung des Naturrechts von der Betrachtung des modernen Naturrechts im Zusammenhang mit dem Rechtspositivismus. Er sagt also: „Jetzt sehen wir die lex naturae von der anderen Seite her“ (WuG, S. 497). 22 RS I, S. 12. 23 WuG, S. 505. 21

2. Naturrecht im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie

79

b) Zum Interpretationsrahmen des konsequenten Zusammenhangs von asketischem Protestantismus und okzidentalem Rationalismus aa) Fragwürdigkeit der Korrespondenz von PE und „Okzident“ Die Weber-Forschung hat Webers „Okzident“-Begriff sehr intensiv diskutiert. 24 Das Naturrecht ist jedoch in diesem Kontext kaum thematisiert worden. Dies ist vor allem auf den starken Einfluß des Interpretationsrahmens „Weber contra Naturrecht“ zurückzuführen, der unter anderem auch Mommsens Interpretation zugrunde liegt. Aber darüber hinaus muß auf einen weiteren Interpretationsansatz hingewiesen werden, der das Thema des Naturrechts in der Diskussion der okzidentalen Kultur bei Max Weber aus dem Blickfeld verdrängt. Es handelt sich um die Grundannahme, daß der asketische Protestantismus, der moderne Kapitalismus und der okzidentale Rationalismus als konsequente Entwicklung interpretiert werden können. Viele Weber-Forscher beschäftigen sich in diesem Interpretationsrahmen mit Webers Werk. Zu ihnen zählt auch Wolfgang Schluchter.25 Die vorliegende Arbeit behauptet dagegen, daß die Annahme eines konsequenten Zusammenhangs von asketischem Protestantismus, modernem Kapitalismus und okzidentalem Rationalismus nicht so selbstverständlich ist. In der „Vorbemerkung“ der gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie zählt Weber verschiedene Erscheinungen auf, die nur im Okzident zu finden sind. Vieles davon läßt sich schwerlich in einen Zusammenhang mit dem asketischen Protestantismus bringen. So zum Beispiel die gotische Architektur.26 Auch wenn man von Erwin Panofskys These der gotischen Architektur als Korrelat der philosophischen Scholastik absieht,27 24 Die einzige Ausnahme stellt Richard Münch dar. Nur seiner Arbeit ist es gelungen, die wichtige Rolle des Naturrechtes in der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers in hohem Grade deutlich zu machen. Vgl. Richard Münch, Theorie des Handelns, S. 31, S. 52, S. 498-499. In dieser Hinsicht verdankt die vorliegende Arbeit Münchs Abhandlung sehr viel. Sie ist aber skeptisch gegenüber seiner Annahme, daß Webers Naturrechtsverständnis mit dem asketischen Protestantismus korrespondiert. Diese in der WeberForschung weit verbreitete Annahme faßt Münch in den Begriff der „Interpenetration“, den er von Talcott Parsons übernimmt. Die vorliegende Arbeit stellt diese Annahme in Frage und versucht, Webers Naturrechtsverständnis herauszuarbeiten, das von seiner Protestantismus-Konzeption abweicht. 25 Vgl. Wolfgang Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus, Kap. 6; ders., Religion und Lebensführung, Bd. 2, Kap. 10; Gottfried Küenzlen, Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung, Berlin, 1980, Kap. II. 26 Vgl. RS I, S. 2-3; WL, S. 520-521; Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.-22. Oktober 1910 in Frankfurt a.M.,Tübingen, 1911, S. 99. 27 Vgl. Erwin Panofsky, Gotische Architektur und Scholastik: Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter, Köln, 1989.

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

ist es unvorstellbar, die Gotik im Zusammenhang mit dem Protestantismus erklären zu wollen. Vielmehr wurde die Domarchitektur an manchen Orten im Namen des Protestantismus ja gerade zerstört.28 Daneben erwähnt Weber noch das römische Recht, den Lehensfeudalismus oder „Ständestaat“, „das rationale Experiment“ in der Renaissancezeit, die Perspektive in der Malerei und das rationale harmonische System (Kontrapunktik und Akkordharmonik) in der Musik usw. Es ist festzustellen, daß diese Phänomene aufgrund des Interpretationsrahmens, der vom Zusammenhang von Protestantismus und der okzidentalen Kultur ausgeht, vernachlässigt worden sind. Ähnliches gilt für Webers Diskussion über das Naturrecht29 und darüber hinaus auch für seine Betrachtung über die „allgemeine Entwicklung des Rechts“,30 wie Werner Gephart zu Recht feststellt: „Webers Auskunft über die Bedeutung der protestantischen Ethik für die Entwicklung rationalen Rechts bleibt in der ‚Rechtssoziologie‘ eigentümlich blaß.“31

bb) Die sog. „Musiksoziologie“ als entscheidende Stelle „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ ist gewiß grundlegend für die Kultursoziologie Max Webers. Aber wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, muß man von der Annahme eines konsequenten Zusammenhanges zwischen Protestantismus, Kapitalismus und der okzidentalen Kultur 28

Fundamentalistische religiöse Bewegungen münden oft in einen Bildersturm bzw. Ikonoklasmus. Dies war auch beim asketischen Protestantismus der Fall (vgl. Martin Warnke, Durchbrochene Geschichte? Die Bilderstürme der Wiedertäufer in Münster 1534/1535, in: ders. (Hrsg.), Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, München, 1973, S. 65-98; Bob Scribner (Hrsg.), Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden, 1990). 29 Gegen die Position der vorliegenden Arbeit, daß der Interpretationsrahmen des konsequenten Zusammenhangs von asketischem Protestantismus und okzidentalem Rationalismus das Thema des Naturrechts im Werk Max Webers vernachlässigt hat, läßt sich Webers Diskussion anführen, die sich auf die „Arbeiten von G. Jellinek über die religiöse Mitbedingtheit der ‚Menschenrechte‘“ bezieht (PE II, S. 330. Vgl. WuG, S. 725). Es ist durchaus möglich, Webers vergleichende kultursoziologische Diskussion über das Naturrecht im Zusammenhang mit der Diskussion über die Verbindung zwischen Puritanismus und Menschenrechten zu interpretieren. Die vorliegende Arbeit sieht jedoch davon ab, da sie – wie später ausgeführt wird – die Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen Naturrecht und Menschenrechten im Werk Max Webers richten will, die auch in Beziehung mit seiner ambivalenten Haltung zum Puritanismus steht. Die vorliegende Arbeit geht von der Annahme aus, daß der Kern des Naturrechtsverständnisses bei Weber außer acht gelassen wird, wenn man es ausschließlich im Hinblick auf den asketischen Protestantismus betrachtet. 30 Vgl. WuG, S. 504-505. 31 Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 563.

2. Naturrecht im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie

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abrücken.32 Erst durch diese Distanzierung kann die sog. „Musiksoziologie“ in den Vordergrund treten, die Weber fast zeitgleich mit den frühen Manuskripten der Wirtschaft und Gesellschaft verfaßte. Seine Musikstudie formuliert bereits die Grundlinien der danach entwickelten vergleichenden Kultursoziologie. Hier sei auf folgende fünf Punkte hingewiesen: (1) Die Frage des „Nur-im-Okzident“ Für die Entwicklung des Themas über den okzidentalen Rationalismus bei 33 Max Weber war seine musiksoziologische Arbeit von wichtiger Bedeutung. So notiert Marianne Weber: „Sie[die musiksoziologische Abhandlung] ist der erste Baustein zu einer vom Autor geplanten Soziologie der Kunst. Was ihn bei der erstmaligen Durchforschung der musikalischen Gebilde des Orients und Okzidents so packte, war die Entdeckung, daß auch und gerade in der Musik – dieser scheinbar am reinsten aus dem Gefühl quellenden Kunst – die Ratio eine so bedeutsame Rolle spielt und daß ihre Eigenart im Okzident, ebenso wie die seiner Wissenschaft und aller staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, durch einen spezifisch gearteten Rationalismus bedingt ist.“34

Die neuere Weber-Forschung zitiert Marianne Webers Biographie nur mit Vorbehalt.35 Aber in dieser Hinsicht scheint ihre Aussage zuzutreffen. Bereits in 32

Eduard Baumgarten erkennt zwar die Bedeutsamkeit der Naturrechtesthematik im Werk Max Webers. Er widmet diesem Thema ein ganzes Kapitel seines Werks (vgl. Eduard Baumgarten, Max Weber. Werk und Person, Kap. 5). Er sieht aber das Naturrecht bei Weber in enger Verbindung mit dem asketischen Protestantismus (vgl. ebd., S. 430), weswegen viele Stellen, wo Weber das Naturrecht erwähnt, unbeachtet bleiben. Das gleiche gilt auch für Winfried Brugger und Matthias König (vgl. Winfried Brugger, Menschenrechtsethos und Verantwortungspolitik. Max Webers Beitrag zur Analyse und Begründung der Menschenrechte, Freiburg/München, 1980; Matthias König, Menschenrechte bei Durkheim und Weber. Normative Dimensionen des soziologischen Diskurses der Moderne, Frankfurt am Main/New York, 2002). 33 Vgl. Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, S. 566-569. 34 Marianne Weber, Vorwort zur zweiten Auflage, in: WuG, S. XXXIII. 35 Vgl. Eduard Baumgarten, Max Weber. Werk und Person, S. 605, Anm. 1. Diese Schwierigkeit hängt vor allem mit dem Thema „Max Weber und die Frauen“ zusammen (vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Max Weber und die Frauen, in: Christian Gneuss/Jürgen Kocka (Hrsg.), Max Weber, Ein Symposion, München, 1988, S. 142-154; Christa Krüger, Max und Marianne Weber. Tag- und Nachtansichten einer Ehe, Zürich/München, 2001). Im Zusammenhang mit dem Manuskript über die „Musiksoziologie“ spielt die in der Schweiz geborene Pianistin Mina Tobler eine wichtige Rolle, welcher der zweite Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie gewidmet ist. „Die Musik-Studie wäre ohne Mina Tobler nicht entstanden“ (Christopf Braun, Max Webers „Musiksoziologie“, S. 25).

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

der Musiksoziologie stellt Weber die Frage, „warum sich gerade an einem Punkt der Erde aus der immerhin ziemlich weitverbreiteten Mehrstimmigkeit sowohl die polyphone wie die harmonisch-homophone Musik und das moderne Tonsystem überhaupt entwickelt hat, im Gegensatz zu anderen Gebieten mit einer – wie namentlich im hellenischen Altertum, aber auch z. B. in Japan – 36 mindestens gleichen Intensität der musikalischen Kultur.“ Weber hatte sich bereits in den „Agrarverhältnissen im Altertum“ (3. Aufl., 1909) mit dem Kulturvergleich beschäftigt.37 Die Fragestellung des „Nur-im-Okzident“ ist aber erstmals in der „Musiksoziologie“ vollständig formuliert. Die oben zitierte Passage kann also als Ausgangspunkt der vergleichenden Kultursoziologie Webers bezeichnet werden. (2) Die Frage nach den „spezifischen Entwicklungsbedingungen“ Webers Wirklichkeitswissenschaft geht primär Kausalbeziehungen nach. Sie ist aber keine monokausale Betrachtung. Das Phänomen des „Nur-im-Okzident“ ist also nicht zu erklären, indem man auf irgendein charakteristisches Element hinweist. Vielmehr stellt sich die Frage nach den „spezifischen Entwicklungsbedingungen“. So erkennt Weber in der „Musiksoziologie“ erstmals: „Nun existierte und existiert aber Mehrstimmigkeit keineswegs nur in der okzidentalen Musik, und es erhebt sich zunächst die Frage nach deren spezifischen Entwicklungsbedingungen.“38 Eine solche Fragestellung bestimmt auch die „Rechtssoziologie“, mit welcher Weber sich fast gleichzeitig wie mit der „Musiksoziologie“ beschäftigt. Im „Werkplan“ von 1914 rückt Weber „die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ in den Vordergrund, während im „Stoffverteilungsplan“ von 1910 nur „Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung 39 des heutigen Zustands)“ steht.

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MS, S. 52-53. Vgl. auch WL, S. 521; RS I, S. 2. Vgl. Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, S. 569; Yasushi Yamanouchi, Die historische Soziologie Friedrich Nietzsches und Max Webers, in: Mommsen/Schwentker (Hrsg.), Max Weber und das moderne Japan, S. 530-535. 38 MS, S. 42. In einem Brief von 1912 schrieb Weber bereits wie folgt: „Ich werde wohl über gewisse soziale Bedingungen der Musik schreiben, aus denen sich erklärt, daß nur wir eine ‚harmonische‘ Musik haben, obwohl andere Kulturkreise ein viel feineres Gehör und viel mehr intensive Musikkultur aufweisen“ (zitiert nach Marianne Weber, Vorwort zur zweiten Auflage, in: WuG, S. XXXIII). Vgl. auch MS, S. 52-53. 39 Vgl. Johannes Winckelmann, Max Webers hinterlassenes Hauptwerk, S. 10, S. 13; Werner Gephart, Juridische Grundlagen der Herrschaftslehre Max Webers, in: Edith Hanke/Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung, Tübingen, 2001, S. 74, Anm. 4. Vgl. auch WuG, S, 455; RS III, S. 7. 37

2. Naturrecht im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie

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(3) Die das Moment der Irrationalität in sich einschließende Rationalität Was die okzidentale Musik von anderen Musiksystemen unterscheidet, ist – so Weber – keine bloße „Rationalität“. Auch „die primitive Musik“ ist keineswegs 40 „ein Chaos regelloser Willkür“. Und in der chinesischen Pentatonik findet er ein in hohem Maße rationalisiertes System. Auf der anderen Seite ist für ihn die akkordharmonische Musik im Okzident keine „rational geschlossene Einheit“,41 sondern sie impliziert ein Moment der Irrationalität. Diese Irrationalität steht in enger Verbindung mit Webers polyperspektivistischem Ansatz. Ihm geht es darum aufzuzeigen, „daß und in welchem Sinn ein eindeutiger Richtigkeitstypus nicht durchführbar, sondern Kompromiß oder Wahl zwischen mehreren solchen Grundlagen der Rationalisierung möglich ist oder unvermeidlich wird.“42 So verdeutlicht er am Beispiel der Musik, „daß die akkordliche Rationalisierung der Musik nicht nur in steter Spannung gegenüber den melodischen Realitäten lebt, welche sie niemals restlos in sich zu schlingen vermag, sondern daß sie auch in sich selbst, zufolge der, distanzmäßig betrachtet, unsymmetrischen Stellung der Septime, Irrationalitäten birgt, welche in der erwähnten unvermeidlichen harmonischen Mehrdeutigkeit der Struktur der Molltonleiter ihren einfachsten Ausdruck finden“.43 (4) Webers Verständnis des Okzidents Webers Typologie der Weltmusik und der Kultur richtet ihr Augenmerk darauf, welche Stellung diese Irrationalität in den einzelnen Systemen bzw. Kulturen hat. Im folgenden Satz verdichtet sich Webers vergleichende Kultursoziologie, wenn er feststellt, daß „die einzelnen großen Musiksysteme aller Völker und Zeiten sich vor allem durch die Art und Weise unterschieden, wie sie diese unentfliehbare Irrationalität entweder zu überdecken und zu umgehen oder um44 gekehrt in den Dienst des Reichtums der Tonalitäten zu stellen wußten“. Für Weber sind Kulturen und ihre Musiksysteme keine geschlossenen Entitäten. Sie werden durch die Art und Weise bestimmt, wie sie die Irrationalität behandeln, die davon herrührt, daß „die Rechnung des konsequenten Rationalismus nicht leicht glatt aufgehen“ wollte, „wie in der Musik das pythagoreische ‚Komma‘ der restlosen tonphysikalisch orientierten Rationalisierung sich widersetzte“.45 So charakterisiert Weber die okzidentale Kultur dadurch, daß diese die Irrationa-

40

MS, S. 23. MS, S. 7. 42 WL, S. 438, Anm. 1. 43 MS, S. 9. 44 RS I, S. 253. 45 RS I, S. 253. 41

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lität „in den Dienst des Reichtums der Tonalität“ stellt, wohingegen die chinesische durch die Überdeckung der Irrationalität gekennzeichnet ist.46 (5) Die Kluft zwischen dem Protestantismus und der „okzidentalen“ Kultur Der Begriff „Okzident“ steht in der „Musiksoziologie“ in keinerlei Verbindung mit dem asketischen Protestantismus. Dort erwähnt Weber den Protestantismus nur in bezug auf die Verbannung der Orgel aus der religiösen Praxis.47 Gleiches gilt – wie gesagt – auch für die „Rechtssoziologie“, die in den Manuskripten von 1911-1913 eine wichtige Stellung einnimmt. Was den Okzident in der Musiksoziologie angeht, so steht für Weber die vorprotestantische Epoche im Verdergrund, in welcher die Einführung des „Notensystems“ durch das Mönchtum die polyphonische Musik hervorbrachte, die wiederum der Orgel im gotischen Raum „der Notre Dame und [...] des Kölner Doms“48 zu ihrem Durchbruch verhalf. Darüber hinaus wird die Kluft zwischen Protestantismus und Okzident auch sichtbar, wenn man die Revision der Protestantismusstudie von 1920 untersucht. Im gültigen Text ist der Begriff „Okzident“ – einschließlich seiner adjektivischen Form – insgesamt neunmal enthalten. Aber zum Zeitpunkt von 1904/5 taucht der Begriff „Okzident“ nur einmal auf.49 Dies zeigt, daß Weber sich zunächst ohne Blick auf den okzidentalen Rationalismus mit dem Protestantismus beschäftigt und das Thema des Okzidents erst später mit der ProtestantismusDiskussion verknüpft hat.

46

Vgl. WuG, S. 327. Vgl. MS, S. 72. Ein Streitpunkt ist hierbei J. S. Bach. Die Tatsache, daß Bach der Vollender der „Kontrapunktik“ ist, die nur „dem Abendland in bewußt hochentwickelter Form [...] bekannt“ ist (MS, S. 44), spricht gegen die These von der Zusammenhanglosigkeit von Protestantismus und „okzidentaler“ Kultur. Die vorliegende Arbeit kann nicht auf dieses Thema eingehen. Es soll aber an dieser Stelle darauf hingewiesen sein, daß das Verhältnis zwischen Protestantismus und J. S. Bach selbst ein sehr konträr diskutiertes Thema ist (vgl. MS, S.72-73). 48 MS, S. 55. 49 Diese einzige Erwähnung (RS I, S. 116) bezieht sich auf die christliche Askese bzw. das okzidentale Mönchtum. Im folgenden alle Zusätze von 1920: RS I, S. 18, Anm. =PE, S. 159, [1], RS I, S. 42=PE, S. 166, [44], RS I, S. 49, Anm. 2=PE, S. 167, [56], RS I, S. 116=PE, S. 186, [252], RS I, S. 131, Anm. 1=PE, S. 188, [287], RS I, S. 132, Anm. =PE, S. 188-189, [290], RS I, S. 195, Anm. 2=PE, S. 199, [424]. 47

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c) Webers Perspektive auf das Naturrecht: Spannungsverhältnis zwischen religiöser und politischer Sphäre Wie bisher deutlich geworden ist, kann man das Naturrecht im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers nur thematisieren, wenn man zwei Interpretationsrahmen relativiert, aufgrund deren dieses Thema bis dato vernachlässigt worden ist: der Ansatz „Weber contra Naturrecht“ einerseits und die Voraussetzung eines konsequenten Zusammenhangs von asketischem Protestantismus und okzidentalem Rationalismus andererseits. So treten in der Rechtssoziologie die folgenden Stellen in den Vordergrund. „Als die Kirche ein Verhältnis zu den profanen Mächten zu suchen sich veranlaßt sah, legte sie sich [...] diese Beziehung mit Zuhilfenahme der stoischen Konzeptionen des ‚Naturrechtes‘ zu Recht, eines rationalen Gedankengebildes also.“50 „Wir lernten die ‚lex naturae‘ früher als eine wesentlich stoische Schöpfung kennen, die das Christentum übernahm, um zwischen seiner eigenen Ethik und den Normen der Welt eine Brücke zu finden. Es war das innerhalb der gegebenen Welt der Sünde und Gewaltsamkeit nach Gottes Willen legitime ‚Recht für Alle‘, im Gegensatz zu Gottes direkt für seine Bekenner offenbartem und nur dem religiös Auserwählten einleuchtendem Gebot.“51

Bezüglich der Genese der Naturrechtsvorstellung beruft Weber sich weder auf die antike griechische Philosophie, welche die „Physis“ vom „Nomos“ unterschiedet, noch auf Hobbes, der von den „natural rights“ des einzelnen Menschen ausgeht, sondern auf die stoische Schule.52 An dieser Stelle ist Ernst Troeltsch zu erwähnen.53 Er hielt auf dem Ersten Deutschen Soziologentag den Vortrag „Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“ (1910), dessen Grundgedanke er zu seinem 50

WuG, S. 480. WuG, S. 497. 52 Der Gedanke, die Naturrechtskonzeption auf die Stoa zurückzuführen, war zu Webers Zeit nicht ungewöhnlich. So schreibt Paul Barth zum Beispiel: „Wie die natürliche Religion auf das geistige Leben unmittelbar tief einwirkte, so auf das soziale Leben eine andere Idee, die nicht bloß, wie die natürliche Religion, zum Teil, sondern ganz von der Stoa stammt, nämlich die Idee des Naturrechts“ (Paul Barth, Die Stoa, 5. Aufl., Stuttgart, 1941, S. 276). Webers Diskussion über das Naturrecht ist dennoch insofern originär, als er das Naturrecht bei der Stoa nicht im Sinne der kosmopolitischen Weltvernunft versteht (vgl. ebd., S. 94). Man muß also im Gegensatz zum vorherrschenden Verständnis des Kosmopolitanismus seiner Perspektive auf das Naturrecht nachgehen. 53 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Fachmenschenfreundschaft: Bemerkungen zu „Max Weber und Ernst Troeltsch“, in: Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen, 1988, S. 313-336. 51

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Werk Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912) weiterentwickelt hat. Troeltsch stellt bereits im Naturrechtsvortrag die Frage auf: „wie hat die Kirche ihr Verhältnis zu den außerchristlichen Tatsachen und Idealen des sozialen Lebens gestaltet und mit innerlich gedanklicher Motivierung gestalten können?“ und findet eine Antwort im „christlichen Naturrecht“, das er als „eine 54 Schöpfung der Stoa“ betrachtet. In dieser Hinsicht stimmt Weber mit Troeltsch überein, und in der Tat schätzt Weber diesen Vortrag außerordentlich. Im Brief an Franz Eulenburg schreibt er: „Troeltsch: Vortrag ausgezeichnet, vor allem: gänzlich wertfrei – Debatte die beste des Tages“.55 Es ist offensichtlich, daß Weber und Troeltsch bezüglich des Naturrechtsverständnisses und seiner Genese keine verschiedenen Standpunkte vertreten, vielmehr wird deutlich, daß Weber – zumindest in dieser Hinsicht – stark von Troeltsch beeinflußt ist. Eine gewisse Divergenz zwischen Weber und Troeltsch ist aber dennoch unverkennbar. Sie beschreiben zwar denselben Gegenstand mit ähnlichen Begriffen, setzen dabei jedoch einen jeweils anderen Akzent. Weber richtet die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf das Spannungsverhältnis der religiösen Ethik und der Welt, vor dessen Hintergrund sich die Naturrechtskonzeption entwickelt hat, während Troeltschs Interesse der Vermittlung oder Überwindung dieses Konfliktes durch das Naturrecht gilt. Weber geht es um die Spannung, Troeltsch um Einheit.56 Ähnliches gilt auch für den Begriff „Einheitskultur“. Diesen Begriff verwendet Troeltsch zur Wesensbestimmung der christlich-europäischen Kultur. So schreibt er in den Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen: „Die christliche Einheitskultur verdankt ihre Einheit nicht direkt den christlichen Ideen, sondern den von den christlichen Ideen beherrschten und angeeigneten naturrechtlich54

Ernst Troeltsch, Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: Verhandlung des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankhurt a.M., Tübingen, 1911, S. 175. 55 MWG II/6, S. 655. 56 In seinem späteren Vortrag „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ rückt Troeltsch ausdrücklicher das Moment der „pantheistischen“ Einheit in der stoischen Naturrechtskonzeption in den Vordergrund (Ernst Troeltsch, Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, in: Deutscher Geist und Westeuropa, Tübingen, 1925, S. 8). Hier ist anzumerken, daß der Pantheismus auf einem Bewußtsein beruht, das angesichts der Diskrepanz eine höhere Einheit sucht (vgl. zum Pantheismus auch V. 2. der vorliegenden Arbeit). Diese Abhandlung ist auch in der angelsächsischen akademischen Welt bekannt, weil sie Otto Gierkes Übersetzung zugefügt ist (vgl. Ernst Troeltsch, The Ideas of Natural Law and Humanity in World Politics, in: Otto Gierke, Natural law and the Theory of Society. 1500 to 1800, translated with Introduction by Ernest Barker, Boston, 1957, pp. 201-222).

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aristotelisch-alttestamentlichen, wobei das Naturrecht theoretisch stark der christlichen Idee konformiert und praktisch in einer der christlichen Idee entgegenkommenden Gesellschaftsordnung ausgeprägt ist.“57 Für Weber hingegen ist die „Einheitskultur“ kein Charakteristikum des Okzidents, sondern das Gegenteil, wie folgende Passage in der Herrschaftssoziologie zeigt: „Es ist, alles in allem, die Spannung und der eigenartige Ausgleich einerseits zwischen Amtscharisma und Mönchtum, andrerseits zwischen dem feudalen und ständischen Kontraktstaatscharakter der politischen Gewalt und der von ihr unabhängigen, mit ihr sich kreuzenden, rational bürokratisch geformten Hierokratie, welche die spezifischen Entwicklungskeime der Kultur des Abendlandes in sich trug: für die soziologische Betrachtung zum mindesten war das okzidentale Mittelalter in weit geringerem Maße das, was die ägyptische, tibetanische, jüdische Kultur seit dem Siege der Hierokratie, die chinesische Kultur seit dem endgültigen Siege des Konfuzianismus, die japanische – wenn man vom Buddhismus absieht – seit dem Siege des Feudalismus, die russische seit dem Siege des Cäsaropapismus und der staatlichen Bürokratie, die islamische seit der endgültigen Festigung des Khalifats und der präbendal-patrimonialen Stereotypierung der Herrschaft und schließlich auch, in vielfach anderm Sinn freilich, die hellenische und römische Kultur des Altertums in unter sich verschiedenem, aber immerhin weitgehendem Maße gewesen sind: eine ‚Einheitskultur‘.“58

Hier manifestiert sich Webers Perspektive auf die okzidentale Kultur sehr deutlich. Er versteht den Okzident als Gegensatz zur „Einheitskultur“.59 Diesbezüglich sind zwei Punkte anzumerken. Zum einen bezieht Weber den Begriff „Okzident“ nicht auf die Moderne, sondern, genau besehen, auf das Mittelalter.60 57

Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1, Tübingen, 1994, S. 273. Vgl. ebd., S. 252; Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen, 1991, S. 382-383; Ulrich Köpf, Die Idee der „Einheitskultur“ des Mittelalters, in: Friedrich Wilhelm Graf/Trutz Rendtorff (Hrsg.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation, Troelsch-Studien, 6, Gütersloh, 1993, S. 103-121. 58 WuG, S. 713. 59 In der Chinastudie stellt Weber fest, daß „das feste Gehäuse der Pfründnerinteressen“ nicht gesprengt werden konnte, das „man als ‚Erstarrung‘ zu werten pflegt“. Er sagt weiter: „Die große historische Ausnahme bildet, wie gesagt, der moderne europäische Okzident. Zunächst deshalb, weil er der Befriedung in einem einheitlichen Reich entbehrte.“ Auch hier charakterisiert Weber die okzidentale Kultur dadurch, daß sie kein „Weltreich“ ist. Er weist weiter darauf hin: „Das Weltreich enthielt“ zur „Rationalisierung des Verwaltungsbetriebs, der Finanzwirtschaft und der Wirtschaftspolitik“ „keinen Antrieb mehr, wie er einst bei der Konkurrenz der Teilstaaten bestanden hatte“ (RS I, S. 348-349). 60 Weber schreibt in bezug auf die Erziehung: „[...] während ein Gegengewicht gegen die Klerikalisierung der Erziehung in dem rein bürokratischen ägyptischen Staatswesen nicht vorhanden war, [...] bestand dagegen im abendländischen Mittelalter, dem feudalen und ständischen Charakter der Herrenschicht zufolge, ein Neben-, Gegen- und Miteinander klerikal rationaler und ritterlicher Erziehung, welche dem abendländischen Menschentum

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Auf der anderen Seite zeigt sich, daß der asketische Protestantismus wesentlich von einer solchen Konzeption der okzidentalen Kultur abweicht. So schreibt Weber im Anschluß an die oben zitierte Passage: „Das Bündnis der politischen mit der hierokratischen Macht hat im Okzident zweimal einen Gipfelpunkt erreicht: im Karolingerreich sowie in gewissen Perioden der höchsten Machtstellung des römisch-deutschen Kaisertums und dann wieder in den wenigen Beispielen calvinistischer Theokratie einerseits, ferner andererseits [in] den stark cäsaropapistischen Staaten der lutherischen und anglikanischen Reformations[gebiete] und von den Gegenreformationsgebieten vor allem in den großen katholischen Einheitsstaaten Spanien und besonders dem Frankreich Bossuets, beide Male mit stark cäsaropapistischem Gepräge. Im übrigen hat überall – und übrigens in fühlbarem Maße auch damals – die okzidentale Hierokratie in Spannung mit der politischen Gewalt gelebt und ist die spezifische Schranke gewesen, welche der Macht dieser [letzteren] damals und im Gegensatz zu den rein cäsaropapistischen oder rein theokratischen Gebilden der Antike und des Orients gesetzt 61 war“. Auch hier geht es ihm wieder um das Spannungsverhältnis zwischen der religiösen und der politischen Sphäre, das sowohl in der Theokratie, wo der „Priester auch die Königsfunktionen“ hat,62 als auch im „Cäsaropapismus“, welcher „die völlige Unterordnung der priesterlichen unter die weltliche Gewalt“ darstellt,63 aufgehoben ist. Diese Perspektive auf die okzidentale Kultur korrespondiert auch mit der Betrachtung der Machtpolitik Machiavellis im III. Kapitel. Weber thematisiert also in konsequenter Weise das Spannungsverhältnis. Die Divergenz zwischen Weber und Troeltsch bezüglich des Naturrechts und der okzidentalen Kultur beruht auf der Differenz ihrer philosophischen Annahmen. Darauf weist Friedrich Wilhelm Graf hin: „Wo Weber einen unüberbrückbaren Hiatus zwischen den heterogenen Wertsphären von Politik, Ethik und Religion behauptet [...], ist Troeltsch um die theoretische Ermöglichung von 64 Vermittlung bemüht“. Daraus folgert er: „Meine These ist: In der Untersuchung der Beziehungen zwischen Troeltsch und Weber müssen wir diesen Differenzen ihrer öffentlichen Rollen sehr viel mehr Beachtung als bisher schenken. Troeltschs deutlich größere Nähe zu den Zentren politischer Macht dürfte jedenfalls ein (aber gewiß nicht: der einzige) Erklärungsgrund dafür sein, daß er nicht nur in

des Mittelalters und auch den Universitäten des Abendlandes ihren spezifischen Charakter gab“ (WuG, S. 678). Es geht ihm um den „feudalen und ständischen Charakter“ der Herrschaft, wenn er vom „abendländischen Mittelalter“ spricht. Auf den Feudalismus geht die vorliegende Arbeit unter V. 1. c) ein. 61 WuG, S. 713-714. 62 WuG, S. 689. 63 WuG, S. 690. 64 Friedrich Wilhelm Graf, Max Weber und Ernst Troeltsch, in: Mommsen/Schwentker (Hrsg.), Max Weber und das moderne Japan, S. 476.

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seiner gelehrtenpolitischen Praxis, sondern auch in seiner Theorie die Unumgänglichkeit von Kompromißbildung betont hat.“65 An dieser Stelle kann Grafs These nicht weiter nachgegangen werden. Festzuhalten ist jedoch, daß Weber bei seiner Betrachtung der stoisch-christlichen Naturrechtskonzeption die Aufmerksamkeit auf das Spannungsverhältnis zwischen der religiösen und der politischen Sphäre richtet, worin er zugleich das Merkmal der okzidentalen Kultur erkennt, und daß er keineswegs von einer „Synthese“ der gegenwärtigen Kultur 66 spricht.

d) Fehlen des Naturrechts in China und Indien Der Konflikt zwischen Religion und Politik ist ein erschöpfend diskutiertes Thema im Bereich der Ideengeschichte der europäischen Politik. Man darf aber nicht übersehen, daß das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Politik nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Dieser Aspekt ist ein Schlüssel zum Verständnis der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers. Die Pluralität oder Differenziertheit der verschiedenen Sphären ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Spannung. Um es mit Weber musiksoziologisch auszudrücken: Die Mehrstimmigkeit ist keineswegs identisch mit der Polyphonie im strengen Sinne. Nicht nur die okzidentale Musik, sondern auch andere Weltmusiksysteme kannten die Mehrstimmigkeit im Sinne der Pluralität der Töne. Die Polyphonie, die nur im Okzident vorkommt, entstand nur unter der Voraussetzung eines bestimmten Systems, das mehrere Töne auf eine bestimmte Weise arrangiert. Weber richtet dementsprechend die Aufmerksamkeit auf den Modus des Verhältnisses der verschiedenen Sphären. Sein Begriff „Okzident“ bezieht sich also auf das Spannungsverhältnis als eine bestimmte Art des Verhältnisses. Hingegen konnte sich in China und Indien keine Naturrechtskonzeption entwickeln, weil es dort am Spannungsverhältnis als Bedingung des Naturrechts fehlte.

65

Ebd. Vgl. Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, S. 508-514. Vgl. auch Paul Honigsheim, Erinnerungen an Max Weber, S. 174. 66

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aa) China67 Der Begriff des Naturrechts ist eigentlich vieldeutig und seine Definition ist abhängig vom Gesichtspunkt der Untersuchung. Weber verwendet bei der Beschreibung der chinesischen Kultur den Ausdruck des „absolute[n] göttliche[n] Naturrecht[s] der Ahnenpietät“.68 Er schreibt: „Göttliches unwandelbares Naturrecht gab es lediglich in Gestalt des in seinen magischen Wirkungen von jeher erprobten heiligen Zeremoniells und der heiligen Pflichten gegen die Geister der Ahnen.“69 Das Naturrecht in diesem Sinne bezieht sich auf die konfuzianistische Ordnung, den „Kosmos, der als unpersönliche Norm und Harmonie über allem Göttlichen stand“.70 Diese Ordnung ist ferner eng mit dem Patrimonialismus und der Pentatonik verbunden.71 Aber diese Konzeption des Naturrechts bezeichnet Weber nicht als Naturrecht im strengen Sinne. „Eine naturrechtliche Entwicklung modern okzidentalen Gepräges“ setzt – nach Weber – „eine Rationalisierung des positiv geltenden Rechts“ voraus,72 die durch die Struktur des wohlfahrtstaatlichen Patrimonialismus unterdrückt worden ist. Hierbei handelt es sich nicht nur um den material-rechtlichen Charakter des chinesischen Staats, der die formale Rationalisierung des Rechts hemmte. Weber richtet seine Aufmerksamkeit auf das Spannungsverhältnis als Voraussetzung für das Naturrecht.73 So schreibt er, daß „sie[die naturrechtlich individuali-

67

Bezüglich des chinesischen Rechtssystems mit Blick auf Webers „Konfuzianismus und Taoismus“ vgl. Karl Bünger, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, Frankfurt am Main, 1983, S. 134-173. 68 RS I, S. 312. 69 RS I, S. 437. 70 RS I, S. 312. 71 Weber weist in seiner Musikstudie darauf hin: „Die Pentatonik geht nun häufig mit einer durch das ‚Ethos‘ der Musik bedingten Meidung des Halbtonschrittes Hand in Hand. Man hat daraus geschlossen, daß eben diese Meidung ihr musikalisches Motiv darstelle. Die Chromatik ist der alten Kirche ganz ebenso wie z. B. den älteren Tragikern der Hellenen und der bürgerlich rationalen konfuzianischen Musiklehre antipathisch“ (MS, S. 12). Die Meidung der Chromatik bedeutet hierbei das Meiden des „leidenschaftliche[n] Ausdruck[s]“, der mit der Chromatik eng verbunden ist (ebd.). Es ist offensichtlich, daß das „Fehlen dionysischer Elemente“ (RS I, S. 519) oder die „Unterdrückung der Leidenschaft“ das Wesen der chinesischen Kultur ist. Denn es ist die „Leidenschaft“, die „das Gleichgewicht der Seele und ihre Harmonie, die Wurzel alles Guten, stört“ (RS I, S. 445). Vgl. RS I, S. 434; WuG, S. 327. 72 RS I, S. 437. 73 Vgl. Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 552-553.

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stische Sozialethik] in der Neuzeit im Okzident gerade aus der Spannung zwischen formalem Recht und materialer Gerechtigkeit entsprang“.74 Die chinesische Kultur ist durch die radikale Beseitigung der Spannung gekennzeichnet, und das Fehlen einer Naturrechtskonzeption ist Produkt dieser kulturellen Prägung Chinas. Diesen Zusammenhang zwischen Spannung und Naturrecht entwickelt Weber konsequent weiter, wenn er sagt: „Unter solchen Umständen fehlte auch die im Okzident, im Islam und in gewissem Umfange selbst in Indien bestehende Spannung zwischen heiligem und profanem Recht vollkommen. Eine Naturrechts-Lehre im Sinne der Antike (besonders der Stoa) und des Mittelalters hätte gerade jene Spannung philosophischer oder religiöser Postulate gegenüber der ‚Welt‘ und eine daraus entspringende ‚Urstands‘-Lehre vorausgesetzt, wie sie offenbar im Konfuzianismus unmöglich erstehen konnte. Denn alle ethischen Zentralbegriffe, welche dafür erforderlich gewesen wären, waren ihm fremd.“75 bb) Indien76 Weber weist ferner auf das Fehlen des Naturrechts in Indien hin.77 Aber der Grund ist nicht identisch mit dem in China, sondern diesem entgegengesetzt. Während in der chinesischen Kultur, die durch die Harmonie von Religion und Politik charakterisiert ist, der Fürst zugleich Priester ist, gilt in Indien das Gegenteil: „Kein König Indiens aber, so groß auch [...] seine faktische Macht selbst in rein rituellen Dingen sein mochte, war je als solcher zugleich ein Priester.“78 Hier führt Weber fort: „Bei den Indern ist das Fürstentum ersichtlich aus der rein weltlichen Politik, aus den Kriegszügen charismatischer Kriegshäuptlinge, herausgewachsen, in China dagegen, wie wir sahen, aus dem Oberpriestertum.“79

74

RS I, S. 436. RS I, S. 437. 76 Zum indischen Recht im Rahmen der Theorie Max Webers vgl. J. Duncan M. Derrett, Die Entwicklung des indischen Rechts, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus, Frankfurt am Main, 1984, S. 178-201. 77 Allerdings bemerkt Weber dazu: „Spuren ‚naturrechtlicher‘ Gedanken finden sich oft, namentlich in der epischen Literatur, die ja unter anderem auch eine fortwährende innere Auseinandersetzung mit den brahmanenfeindlichen Strömungen der Zeit der Erlösungsreligionen enthält“ (RS II, S. 143, Anm. 1). 78 RS II, S. 139. 79 RS II, S. 139. 75

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Der „Gegensatz[es] der Einheit oder Zweiheit der politischen und priesterlichen höchsten Gewalt“ ist gewiß „höchst wichtig“.80 Es geht aber nun um die Art des Verhältnisses von Religion und Politik, die jenseits von Einheit und Zweiheit bzw. Undifferenziertheit und Differenziertheit steht. Denn durch diese Art des Verhältnisses unterscheidet sich die okzidentale Kultur von der indischen Kultur. „Es gab keine universell gültige, sondern durchaus nur eine ständisch besonderte private und Sozialethik“ in Indien, so daß „das Nebeneinanderbestehen von ständischen Ethiken, die untereinander nicht nur verschieden, sondern geradezu 81 einander schroff widerstreitend waren, gar kein Problem“ darstellte, während die okzidentale Kultur – wie schon wiederholt bemerkt – durch das Spannungsverhältnis charakterisiert werden kann. „Die Konzeption eines ‚radikal Bösen‘ war in dieser Weltordnung überhaupt nicht möglich, denn eine ‚Sünde schlechthin‘ konnte es ja nicht geben. Sondern immer nur einen rituellen Verstoß gegen das konkrete, durch die Kastenzugehörigkeit bedingte Dharma. Es gab in dieser in ihrer Abgestuftheit ewigen Welt keinen seligen Urstand und kein seliges Endreich, und deshalb auch keine – im Gegensatz zur positiven Sozialordnung – ‚natürliche‘ Ordnung der Menschen und Dinge, also auch kein ‚Naturrecht‘ irgendwelcher Art. Sondern es gab – für die Theorie zum mindesten – nur heiliges, ständisch besondertes, aber positives Recht und innerhalb der von ihm – als indifferent – unreglementiert belassenen Gebiete positive Satzungen der Fürsten, Kasten, Gilden, Sippen und Vereinbarungen der Individuen.“82

In Indien gab es zwar verschiedene Kastenordnungen, was in China aufgrund des einheitlichen spannungslosen Charakters nicht der Fall war. Diesem Kastensystem entsprechend standen in Indien die verschiedene Sonderrechte nebeneinander. Aber das Verhältnis dieser Kasten ist nicht bestimmt durch die Spannung untereinander, wie sie sich im Okzident findet, sondern durch ein beziehungsloses Nebeneinander. Es fehlte hier am Impuls, die Kasten zu integrieren, wodurch eine Spannung hätte entstehen können, die zu einer Konzeption des Naturrechts, ähnlich der des Okzidents, geführt hätte. Über das Nichtvorhandensein des Naturrechts in Indien schreibt Weber: „Die Gesamtheit aller Probleme, welche im Occident das ‚Naturrecht‘ ins Leben riefen, fehlte eben vollständig und prinzipiell. Denn es gab schlechthin eben keinerlei ‚natürliche‘ Gleichheit der Menschheit vor irgendeiner Instanz, am allerwenigsten vor irgendeinem überweltlichen ‚Gott‘. Dies ist die negative Seite der Sache. Und diese ist die wichtigste: sie schloß die Entstehung sozialkritischer und im naturrechtlichen Sinn

80

RS II, S. 139. RS II, S. 142. 82 RS II, S. 143. 81

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‚rationalistischer‘ Spekulationen und Abstraktionen vollständig und für immer aus und hinderte das Entstehen irgendwelcher ‚Menschenrechte‘.“83

e) Von der okzidentalen Kultur zur Moderne Die Analyse der Stellung des Naturrechts im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers hat ergeben, daß der Kern seines Begriffs vom „Okzident“, dem allein die Naturrechtskonzeption bekannt sein soll, im Spannungsverhältnis liegt. Der Begriff des „Okzidents“ bezieht sich auf eine Ordnung, die, obgleich in ihr verschiedene Perspektiven miteinander kollidieren, nicht zusammenbricht, sondern sich deswegen produktiv entfalten kann, weil keine dieser Perspektiven die anderen dominiert. Man kann diese Ordnung – musikalisch gesagt – als „polyphonisch“ bezeichnen, in dem Sinne, „daß alle einzelnen selbständig zu ihrem melodischen Recht kommen, dennoch aber und womöglich gerade dadurch das Ensemble als solches strenge musikalische (tonale) Einheitlichkeit wahrt“.84 Weber betrachtet also die okzidentale Ordnung als Gegensatz zu einer „monokratischen“ Ordnung, die auf der Verschmelzung von Religion und Politik beruht. So ist der Okzident nicht durch die Theokratie, sondern durch sein Abweichen davon charakterisiert. Bereits in „Agrarverhältnisse im Altertum“ schreibt Weber: „Die geringere Theokratisierung beruht auch nicht auf ethnisch gegebenen Unterschieden im Grade der Zugänglichkeit für Superstition [...]. Sondern die gänzlich verschiedene Rolle, die das Religiöse im Okzident spielte, hängt mit dem Fehlen eines festgliedrig und einheitlich organisierten Priesterstandes und allen 85 seinen Konsequenzen [...] zusammen.“ In Analogie dazu thematisiert er Konkurrenz, Kampf, Ringen, Reibung und Spannung in der okzidentalen mittelalterlichen Gesellschaft. Die vorliegende Arbeit möchte hier darauf hinweisen, daß der so verstandene Begriff der okzidentalen Kultur – wie schon angedeutet – nicht immer auf die Moderne bezogen ist. Weber betont zwar in einer der bekanntesten Stellen 83

RS II, S. 143-144. Die radikal theozentrische Sicht, die der kosmozentrischen entgegengesetzt ist, kennt keine „Welt“, die sich auf „ein ewiges Tao oder Dharma“ bezieht (vgl. RS III, S. 142). Auch in diesem Fall fehlt es am Spannungsverhältnis zwischen der Offenbarung Gottes und dem Kosmos, so daß kein „Naturrecht“ entstehen konnte. In seiner Studie über das antike Judentum schreibt Weber: „Kein Prophet verkündet vollends irgend ein religiöses ‚Naturrecht‘ und noch weniger gar ein Revolutions- oder Selbsthilferecht der von den Großen gequälten Massen. In etwas derartigem würden sie zweifellos den Gipfel der Gottlosigkeit erblickt haben“ (RS III, S. 292). 84 MS, S. 43. 85 SW, S. 126.

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ausdrücklich, sein Thema sei „die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus“.86 Dabei liegt aber die Betonung nicht auf dem Begriff „modern“, sondern vielmehr auf „okzidental“. Denn „in all den [...] Fällen“, die er in der „Vorbemerkung“ erwähnt, handelt es sich, so Weber, „um einen spezifisch gearteten ‚Rationalismus‘ der okzidentalen 87 Kultur“. In der Tat erwähnt Weber in seinen Schriften den Begriff Okzident nur an wenigen Stellen im Zusammenhang mit der Moderne.88 Die Perspektive auf das Spannungsverhältnis zwischen den Wertsphären, das Weber als Merkmal der okzidentalen Kultur bezeichnet, bezieht sich weniger auf die okzidentale Moderne als auf die okzidentale mittelalterliche Gesellschaft. Diese These trifft – wie bereits erläutert – ebenso auf seine Diskussion des Naturrechts zu.89 Er thematisiert weniger das moderne Naturrecht, das von den rights des Individuums ausgeht, als die Bedingungen des europäischen mittelalterlichen Naturrechts, das er zugleich als Prinzip der Ordnung erkennt.90 Es ist deutlich geworden, daß in Webers Werk der Begriff des Okzidents von dem der Moderne zu unterscheiden ist. Dies bedeutet freilich nicht, daß man die okzidentale Kultur gänzlich isoliert von der Moderne betrachten soll. Es ist nicht zu übersehen, daß die okzidentale mittelalterliche Gesellschaft trotz ihres nicht-modernen Charakters der Nährboden für die Modernisierung ist. Es ist Webers Verdienst, die im europäischen Mittel-

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RS I, S. 12. RS I, S. 11. 88 Vgl. RS I, S. 3, S. 7, S. 9, S. 49, Anm. 2, S. 256, S. 348, S. 436; WuG, S. 75, S. 139, S. 368, S. 503. In allen anderen Fällen behandelt Weber die okzidentale Kultur unter besonderer Berücksichtigung des europäischen Mittelalters, ohne Blick auf die Neuzeit oder den asketischen Protestantismus. 89 Vgl. Ludger Honnefelder, Die ethische Rationalität des mittelalterlichen Naturrechts. Max Webers und Ernst Troeltschs Deutung des mittelalterlichen Naturrechts und die Bedeutung der Lehre vom natürlichen Gesetz bei Thomas von Aquin, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums. Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main, 1988, S. 254-275. 90 Nur Eric Voegelin richtet die Aufmerksamkeit auf diesen Aspekt des Naturrechtsverständnisses Max Webers. „Das Naturrecht – das der Stoa ebenso wie das moderne revolutionäre Naturrecht – hat ihn[Weber] fasziniert. Denn in diesem Naturrecht manifestieren sich ja gerade die pragmatischen Paradigmen der richtigen Ordnung – einer Richtigkeit, die durch die Offenheit zur Transzendenz bestimmt wird, in der die Natur des Menschen ihre angemessene Ausgestaltung in Institutionen und Ordnungen der Gesellschaft findet. Das Naturrecht ist für Weber – um in seiner Sprache zu sprechen – einer der Idealtypen der richtigen Ordnung“ (Eric Voegelin, Die Grösse Max Webers, München, 1995, S. 102). Das Thema „Max Weber und Eric Voegelin“ wird im VII. Kapitel ausführlich diskutiert. 87

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alter latente Ambiguität von Tradition und Modernität herausgearbeitet zu haben.91 Was das moderne Recht angeht, so charakterisiert Weber es durch den Begriff des „Formalismus“. Ein Recht ist – so Weber – insofern „formal“, „als ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale materiell-rechtlich und 92 prozessual beachtet werden“. Wesentlich für den Rechtsformalismus ist, daß das Recht angesichts des Konflikts zwischen verschiedenen Mächten formalisiert wird. Denn die Formalität im Sinne der von Inhalt oder Materialität unabhängigen Generalität kommt dort zum Tragen, wo Konflikte nicht mehr auf der Ebene der materialen Gerechtigkeit zu schlichten sind. Es ist kein Zufall, daß Thomas Hobbes seine „moderne“ politische Theorie vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs im England des 17. Jahrhunderts entwickelt hat. Hobbes ist in dieser Hinsicht als Begründer des Liberalismus zu bezeichen. Denn: „Liberales Denken ist nun einmal gekennzeichnet durch ‚Ausklammerung‘ bzw. ‚Einklammerung‘, der Deklarierung der nicht einigungsfähigen Fragen als Adiaphora, als nicht Abstimmbarem, dem, was zunächst außer Betracht zu lassen ist etc.“93 Der Rechtsformalismus kann also als Versuch gewertet werden, die Einheitlichkeit des Rechtssystems zu wahren,94 indem inhaltliche Differenzen als außerjuristische Tatsachen definiert und ausgeschlossen werden. Diesbezüglich weist Weber darauf hin: „Wo es dagegen ‚amtlichen‘ Gewalten, also entweder dem imperium des Fürsten und seiner Beamten, oder der Macht der Priester als der amtlichen Hüter des Rechts gelungen ist, die selbständigen charismatischen Träger des Rechtswissens einerseits, die Beteiligung der Dinggemeinde oder ihrer Repräsentanten andererseits gänzlich zugunsten ihrer eigenen Omnipotenz auszuschalten, da hat die Rechtsbildung früh jenen theokratisch-patrimonialen Charakter angenommen, dessen Konsequenzen für die formalen Qualitäten des Rechts wir bald kennen lernen werden.“95 Omnipotenz verhindert die Formalisierung, Konkurrenz fördert sie. In diesem Sinne ist das okzidentale Naturrecht eng mit der sozialen Ordnung des Abendlandes verbunden.96 Die Formalität als Merkmal

91

Vgl. Otto Gerhard Oexle, Priester – Krieger – Bürger. Formen der Herrschaft in Max Webers „Mittelalter“, in: Hanke/Mommsen (Hrsg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, S. 203-222. 92 WuG, S. 396. 93 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 217. Vgl. Leo Strauss, Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, S. 217-238. 94 Bezüglich der bürokratischen Sachlichkeit und Formalität bemerkt Weber: Hinter ihr „pflegen [...], [sie] ideologisch verklärend, als Surrogat des irdischen oder auch überirdischen persönlichen Herren, in einer Gemeinschaft realisiert gedachte ‚Kulturwertideen‘: ‚Staat‘, ‚Kirche‘, ‚Gemeinde‘, ‚Partei‘, ‚Betrieb‘ zu stehen“ (WuG, S. 553). 95 WuG, S. 454. 96 Weber ist sich einer solchen sozialen Ordnung bewußt, wenn er seine Betrachtung der „Entwicklungsbedingungen“ des „antiken Judentums“ als „Angelpunkt der ganzen

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

der Moderne gilt nicht nur für das Recht, sondern auch für andere Sphären. So spricht Weber von der formalen Rationalität der Wirtschaft97 und der Bürokratie.98 Und auch sein Postulat der Wertfreiheit ist in diesem Zusammenhang zu verstehen.99 Es ist der Zusammenhang zwischen Konflikt und Formalisierung, der die Verselbständigung der Sphären bzw. die soziale Differenzierung bestimmt. In dieser Hinsicht kann man sagen, daß die europäische mittelalterliche Gesellschaft, die in sich das Moment der Spannung einschließt, die entscheidenden Bedingungen zur Herausbildung einer Moderne aufweist, die durch Formalisierung und Differenzierung gekennzeichnet ist. Man darf aber nicht vergessen, daß „Okzident“ und „Moderne“ in Webers Werk keineswegs synonym sind. Sein Begriff des Okzidents steht teilweise im Gegensatz zum Begriff der Moderne, wenngleich die okzidentale Kultur die Modernisierung befördert. Darauf weist Weber mit Bezug auf die Bürokratie hin: „[...] unzweifelhaft bleibt nicht nur, daß die Keime von intensiver, ‚moderner‘ Staatenbildung im Mittelalter überall hervortraten in Gemeinschaft mit der Entwicklung bürokratischer Gebilde, sondern auch, daß es die bürokratisch entwikkeltsten politischen Bildungen gewesen sind, welche schließlich jene, wesentlich auf einem labilen Gleichgewichtszustande ruhenden Konglomerate zersprengten.“100 Die mit der Moderne einhergehende Bürokratisierung führt aufgrund ihres formalistischen Charakters tendenziell zur Auflösung des Spannungs- und Konkurrenzverhältnisses, das wiederum die Modernisierung erst ermöglicht. Dieser Satz charakterisiert die Moderne schlechthin, für deren Entstehung der asketische Protestantismus ein entscheidender Faktor ist. Gleiches gilt auch für das „moderne“ Naturrecht. Im folgenden soll die Differenz zwischen Protestantismus und der „okzidentalen“ Kultur bezüglich Webers Naturrechtskonzeption thematisiert werden. Kulturentwicklung des Occidents“ bezeichnet (RS III, S. 7). Es geht um „Gegensätze[n] der ökonomischen und sozialen Struktur“, die auf „die naturgegebenen Kontraste der Wirtschaftsbedingungen“ bezogen sind (RS III, S. 13). Aus diesen sozialen Bedingungen formt sich „die Qualität des Gottes als eines durch besonderen Vertragsakt angenommenen Bundeskriegsgotts und Garanten des Bundesrechts“ (RS III, S. 148). Weiter weist er bezüglich der „Sendungsprophetie“ darauf hin: „Das Auftreten dieser aber im Occident, vor allem in Vorderasien, mit den weittragenden Folgen, die sich daran knüpften, war durch höchst eigenartige geschichtliche Konstellationen bedingt, ohne welche, trotz allen Unterschieds der Naturbedingungen, die Entwicklung dort leicht in Bahnen hätte einmünden können, welche denen Asiens, vor allem Indiens, ähnlich verlaufen wären“ (RS II, S. 378). 97 Vgl. WuG, S. 45. 98 Vgl. WL, S. 475. 99 Vgl. Gerhard Wagner/Heinz Zipprian, Wertfreiheit. Eine Studie zu Max Webers kulturwissenschaftlichem Formalismus, in: Zeitschrift für Soziologie, 18, 1989, S. 4-15. 100 WuG, S. 559.

3. Der Wandel der Naturrechtskonzeption im Calvinismus

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3. Der Wandel der Naturrechtskonzeption im Calvinismus und dessen politische Implikationen a) Der Widerspruch zwischen dem Naturrechtsverständnis im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie einerseits und der Naturrechtskonzeption des Calvinismus andererseits Es ist allgemein bekannt, daß Weber durch Georg Jellineks Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zur Beschäftigung mit seiner Protestantismusstudie 101 angeregt worden ist. Darin konstatiert Jellinek: „Die Idee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs. Was man bisher für ein Werk der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe.“102 Webers Protestantismusstudie kann gewiß als Versuch interpretiert werden, Jellineks These auf den Zusammenhang von religiöser Ethik und modernem Kapitalismus zu übertragen. Weber selbst hat 1905 auf die Bedeutung dieser Schrift für sein Denken hingewiesen: „Für die Geschichte der Entstehung und politischen Bedeutung der ‚Gewissensfreiheit‘ ist bekanntlich Jellinek’s ‚Erklärung der Menschenrechte‘ grundlegend. Auch ich persönlich verdanke dieser Schrift die Anregung zur erneuten Beschäftigung mit dem Puritanismus.“103 Nun sieht man sich jedoch mit einem Widerspruch konfrontiert, der zwischen dem oben erläuterten Weberschen Verständnis des Naturrechts im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie einerseits und der Naturrechtskonzeption des Calvinismus andererseits besteht. Wie deutlich geworden ist, begreift Weber in seiner Kultursoziologie das Naturrecht wesentlich als eine Art „Dualismus“,104 101

Vgl. Reinhard Bendix, The Protestant Ethic – Revisited, in: Bendix/Roth, Scholarship and Partisanship: Essays on Max Weber, pp. 308-310; Hartmut Lehmann, Max Webers „Protestantische Ethik“. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, S. 14-15; Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 564-567. 102 Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., Leipzig, 1904, S. 46. 103 Max Weber, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 21, 1905, S. 43, Anm. 78. Diese Passage ist bei der Umarbeitung von 1920 gestrichen worden. Diese Weglassung wurde von der Forschung als Rätsel bezeichnet. Der Interpretation der vorliegenden Arbeit nach ist diese Weglassung auf den hier zu erörternden Widerspruch zwischen Protestantismus einerseits und Webers Verständnis der okzidentalen Kultur bzw. des Naturrechts andererseits zurückzuführen. 104 RS I, S. 76, Anm. Dieser Dualismus bezieht sich auf die Differenz der Wertsphären und ist vom „Dualismus von Binnen- und Außenmoral“ zu unterscheiden (vgl. RS III, S. 357).

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

der auf der „Stellung des sogenannten ‚Naturrechts‘: einerseits zur religiösen Offenbarung, andererseits zu den positiven politischen Gebilden und ihrem Gebaren“ beruht.105 Dieser Dualismus in der Herrschaftsstruktur, der als Gleichgewicht der Spannung zutage tritt, ist eine der Bedingungen des Naturrechts und prägt zugleich die okzidentale Kultur. Der Calvinismus strebt dagegen eine radikale Weltherrschaft im Namen Gottes an, indem er die traditionelle Ordnung, die als Dualismus von „göttlichem Naturrecht“ und weltlichen Eigengesetzlichkeiten besteht, auflöst, und das innerweltliche, relative Naturrecht auf ein allgemeines, göttliches Naturgesetz zurückführt. „Die ‚Nächstenliebe‘ äußert sich – da sie ja nur Dienst am Ruhme Gottes, nicht: der Kreatur, sein darf – in erster Linie in Erfüllung der durch die lex naturae gegebenen Berufsaufgaben, und sie nimmt dabei einen eigentümlich sachlich-unpersönlichen Charakter an: den eines Dienstes an der rationalen Gestaltung des uns umgebenden gesellschaftlichen Kosmos. Denn die wunderbar zweckvolle Gestaltung und Einrichtung dieses Kosmos [...] läßt die Arbeit im Dienst dieses unpersönlichen gesellschaftlichen Nutzens als Gottes Ruhm fördernd und also gottgewollt erkennen.“106

Diese bekannte Passage ist in der Weber-Forschung oft zitiert worden, um den „sachlich-unpersönlichen Charakter“ des Calvinismus hervorzuheben. Es geht darin um die Transformation der traditionalistischen organischen Ordnung zur modernen Gesellschaft. Es darf aber nicht übersehen werden, daß bei dieser Transformation zugleich „die Stellung, welche die ‚lex naturae‘ [...] im Protestantismus einnimmt, [...] verschoben“ wird.107 Das Naturrecht, das ein Feld der Spannung von Religion und Welt ist, wandelt sich hier zu einem Naturrecht im Sinne der „von ihm[Gott] geschaffenen zweckvollen Ordnungen der Welt (lex

105

WuG, S. 360. Im Anschluß daran schreibt Weber: „Wir werden darauf teils gelegentlich der Erörterung der religiösen Gemeinschaftsformen, teils bei Besprechung der Herrschaftsformen noch kurz einzugehen haben“ (ebd). Es zeigt sich also, daß das Thema des Naturrechts für Weber an der Schnittstelle von Religionssoziologie und Herrschaftssoziologie liegt. 106 RS I, S. 100-101. Vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 2, S. 661-666; Ralph C. Hancock, Calvin and the Foundations of Modern Politics, Ithaca/London, 1989, p. 91. 107 RS I, S. 156, Anm. 2. Diese Passage bezieht sich eigentlich auf das „Täufertum“. Sie ist aber im gesamten Kontext des Wandels der Naturrechtskonzeption vom Thomismus über Luthertum bis zu Calvinismus zu sehen. Es geht dabei um die Verinnerlichung des Glaubens („certitudo salutis“) einerseits und die Versachlichung der innerweltlichen Pflichten andererseits. Im Hinblick auf die Verbindung dieser Elemente ist der Calvinismus der optimierteste Typ einer „modernen“ Gesellschaft (vgl. RS I, S. 98). Auch die calvinistische Naturrechtskonzeption ist in diesem Zusammenhang zu verstehen.

3. Der Wandel der Naturrechtskonzeption im Calvinismus

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naturae)“.108 Das ursprüngliche Naturrecht, das in sich den Widerspruch zwischen der akosmistischen religiösen Ethik und der kosmischen Welt einschließt, wandelt sich also dahingehend, daß sich dieser Widerspruch auflöst. Die „Nächstenliebe“ wird dementsprechend in eine „unpersönliche“ Form umgedeutet. Weber führt weiter aus, daß die „puritanische Berufsethik“, „als Virtuosenreligiosität, auf den Universalismus der Liebe verzichtete, alles Wirken in der Welt als Dienst in Gottes, in seinem letzten Sinn ganz unverständlichen, aber nun einmal allein erkennbaren positiven Willen und Erprobung des Gnadenstandes rational versachlichte und damit auch die Versachlichung des mit der ganzen Welt als kreatürlich und verderbt entwerteten ökonomischen Kosmos als gottgewollt 109 und Material der Pflichterfüllung hinnahm“. Infolge dieser gewandelten Naturrechtskonzeption konnte Calvin schreiben: „Daher darf es niemandem mehr zweifelhaft sein, daß die bürgerliche Gewalt ein Beruf ist, der nicht nur von Gott heilig und rechtmäßig, sondern auch im höchsten Maße geweiht und im ganzen Leben der Sterblichen von allen bei weitem der ehrenvollste ist.“110 Der Rationalismus der Weltbeherrschung ist also nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Es ergibt sich also der Gegensatz zwischen dem „okzidentalen“ Naturrecht, dessen Merkmal der Dualismus ist, und dem „calvinistischen“ Naturrecht, das diesen Dualismus aufzuheben sucht. b) Die Aufhebung des Dualismus im Rahmen des Puritanismus und der Entstehung der modernen politischen Ideen Im Rahmen des Puritanismus und der Entstehung der modernen politischen Ideen wird die Aufhebung des Dualismus im Calvinismus eindeutig positiv beurteilt. Eine solche Sicht kennzeichnet auch die japanische Weber-Forschung.111

108

RS I, S. 109. RS I, S. 545-546. 110 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion (Institutio Christianae Religionis), 3. Bd., übers. von Otto Weber, Neukirchen, 1938, 4. Buch, 20. Kap., 4, S. 632. 111 Wolfgang Schwentker behandelt in seinem Abriß der Weber-Rezeption in Japan in der Rubrik der „Kindai-shugisha (Modernisten)“ Hisao Otsuka, Masao Maruyama und Takeyoshi Kawashima. Zu ihnen bemerkt er: „Das Werk Max Webers galt ihnen dabei als eine wichtige Bezugsquelle für die Analyse jener sozialen Segmente aus dem ‚Zaubergarten‘ der japanischen Gesellschaft, die als feudale oder patrimoniale Relikte einer durchgehenden Modernisierung im Sinne einer wirklichen Demokratisierung von Staat und Gesellschaft im Wege standen“ (Wolfgang Schwentker, Max Weber in Japan, S. 256). Diese Fragestellung muß konsequenterweise zum Lob des asketischen Protestantismus führen, der dieses Verharren im „Zaubergarten“ zu überwinden vermag. 109

100

IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

Dem asketischen Protestantismus wird deswegen ein großes Verdienst zugeschrieben, weil er den „Zaubergarten“ der traditionellen asiatischen Ordnung zu durchbrechen vermag. Dieselbe Perspektive findet sich auch in der Tat in der kritischen Einschätzung des deutschen Luthertums bei Troeltsch und Weber. So bekennt Weber in einem Brief vom 05. Februar 1906 an Adolf Harnack: „Ich habe das Gefühl, in mancher Hinsicht abweichende Werturteile zu Grunde zu legen. So turmhoch Luther über allen Anderen steht, – das Luthertum ist für mich, ich leugne es nicht, in seinen historischen Erscheinungsformen der schrecklichste der Schrecken und selbst in der Idealform, in welcher es sich in Ihren Hoffnungen für die Zukunftsentwicklung darstellt, ist es mir, für uns Deutsche, ein Gebilde, von dem ich nicht unbedingt sicher bin, wie viel Kraft zur Durchdringung des Lebens von ihm ausgehen könnte. Es ist eine innerliche schwierige und tragische Situation: Niemand von uns könnte selbst ‚Sekten‘-Mensch, Quäker, Baptist etc. sein, jeder von uns muß die Überlegenheit des – im Grunde doch – Anstalts-Kirchentums, gemessen an nichtethischen und nicht-religiösen Werthen, auf den ersten Blick bemerken. Und die Zeit für ‚Sekten‘ oder etwas ihnen Wesensgleiches ist, vor Allem, historisch vorbei. Aber daß unsere Nation die Schule des harten Asketismus niemals, in keiner Form, durchgemacht hat, ist, auf der andren Seite der Quell alles Desjenigen, was ich an ihr (wie an mir selbst) hassenswerth finde, und vollends bei religiöser Wertung steht eben – darüber hilft mir nichts hinweg – der Durchschnitts-Sektenmensch der Amerikaner ebenso hoch über dem landeskirchlichen ‚Christen‘ bei uns, – wie, als religiöse Persönlichkeit, Luther über Calvin, Fox e tutti quanti steht.“112

Im Rahmen des Puritanismus und der Entstehung der modernen politischen Ideen wird der „autoritätsfeindlich[e]“113 Charakter der Askese als verwandt mit der modernen Politik aufgefaßt. Diesen Zusammenhang macht Weber im folgenden noch deutlicher: „Die asketische Konventikel- und Sektenbildung insbesondere, mit ihrer radikalen Sprengung der patriarchalen und autoritären Gebundenheit und ihrer Art der Wendung des Satzes: daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen, bildete eine der wichtigsten geschichtlichen Grundlagen 114 des modernen ‚Individualismus‘.“ Der asketische Protestantismus wird also im engen Nexus mit der „Gewissensfreiheit“, dem „Individualismus“, dem „antiautoritären“ Charakter und der „Demokratie“ gesehen.115

112

MWG II/5, S. 32-33. Vgl. RS I, S. 522; WuG, S. 344-345, S. 611, S. 652, S. 675, S. 717. Es ist dabei bedeutsam, daß Weber zwischen Martin Luther und dem Luthertum unterscheidet. In „Politik als Beruf“ zitiert Weber in sympathisierender Weise Luthers Wort: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich“ (PS, S. 559). 113 RS I, S. 155, Anm. 114 RS I, S. 235. 115 Vgl. WuG, S. 725.

3. Der Wandel der Naturrechtskonzeption im Calvinismus

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c) Die Kehrseite der Aufhebung des Dualismus: „Glaubenskrieg“ Bei der Umarbeitung von 1920 fügte Weber einige scheinbar unbedeutende Einschränkungen in die Protestantismusstudie ein. Weber zeigt sich hier vorsichtiger hinsichtlich der politischen Implikationen der protestantischen Askese. Ein Zusatz lautet: „Was die Ablehnung der ‚Kreaturvergötterung‘ und das Prinzip, daß, zunächst in der Kirche, letztlich aber im Leben überhaupt, nur Gott ‚herr116 schen‘ solle, politisch bedeutete, gehört nicht in unseren Zusammenhang.“ Dieser Satz scheint auf den ersten Blick befremdlich. Denn in der Anmerkung, in die er eingefügt worden ist, geht es um „die relativ große Immunität puritanisch gewesener Völker gegen den Cäsarismus, und überhaupt die innerlich freiere, einerseits mehr zum ‚Geltenlassen‘ der Großen geneigte, andererseits aber alle hysterische Verliebtheit in sie und den naiven Gedanken: man könne jemanden zu politischer Obödienz aus ‚Dankbarkeit‘ verpflichtet sein, ablehnende Stellung der Engländer zu ihren großen Staatsmännern“.117 Diese Einschränkung kann nur konsequent verstanden werden, wenn man sich bewußt ist, daß die Thematik der Verwandtschaft der protestantischen Askese und der modernen Politik keine „Erörterung der gesamten politischen und Sozialethik der protestantischen Askese“,118 sondern nur eine Perspektive dieses Gesamtzusammenhanges ist. So beschränkt sich die politische Bedeutung des asketischen Protestantismus nicht auf den antiautoritären Individualismus. Es geht also nicht um Webers Befürwortung oder „Weber’s retreat from ascetic rationalism“,119 sondern vielmehr um seine Gesamtschau, die beide Seiten einschließt. Nach der Auffassung der vorliegenden Arbeit hängt diese Relativierung der politischen Implikationen des Protestantismus mit dem bereits erwähnten Widerspruch zwischen den Grundlinien der Weberschen Kultursoziologie und seinem Verständnis des Calvinismus hinsichtlich der Naturrechtskonzeption zusammen. Es geht um die Kehrseite der Aufhebung des Dualismus im asketischen Protestantismus, die bis dato aufgrund des vorherrschenden Interpretationsparadigmas

116

RS I, S. 99, Anm. =PE, S. 180, [187]. RS I, S. 99, Anm. 118 RS I, S. 160=PE, S. 192, [341]. Zu diesen Zusätzen gehört auch die folgende Stelle: „Dabei prägte nun die ungeheure Bedeutung, welche die täuferische Heilslehre auf die Kontrolle durch das Gewissen, als die individuelle Offenbarung Gottes, legte, ihrer Gebarung im Berufsleben einen Charakter auf, dessen große Bedeutung für die Entfaltung wichtiger Seiten des kapitalistischen Geistes wir erst weiterhin näher und auch dann nur soweit kennen lernen werden, als dies ohne Erörterung der gesamten politischen und Sozialethik der protestantischen Askese hier möglich ist.“ Vgl. auch RS I, S. 101= PE, S. 181, [199], RS I, S. 174, Anm. =PE, S. 194, [368]. 119 Vgl. Arthur Mitzman, The Iron Cage. An Historical Interpretation of Max Weber, New York, 1970, Kap. 9. 117

102

IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

übersehen worden ist. Dies ist die Problematik des „Glaubenskrieges“, auf die Weber in seiner „Zwischenbetrachtung“ hinweist: „Die organische Sozialethik ist überall eine eminent konservative, revolutionsfeindliche Macht. Aus der eigentlichen Virtuosenreligiosität dagegen können unter Umständen andere, revolutionäre, Konsequenzen folgen. [...] Je nach der Färbung der Virtuosenreligiosität kann aber ihre revolutionäre Wendung prinzipiell zweierlei Formen annehmen. Die eine entspringt der innerweltlichen Askese überall da, wo diese den kreatürlich verderbten empirischen Ordnungen der Welt ein absolutes göttliches ‚Naturrecht‘ entgegenzusetzen vermag, dessen Realisierung dann, nach dem in den rationalen Religionen überall in irgendeinem Sinne geltenden Satz: daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen, ihr zur religiösen Pflicht wird. Typus: die genuin puritanischen Revolutionen, zu denen sich Gegenstücke auch anderwärts finden. Diese Haltung entspricht durchaus der Pflicht zum Glaubenskrieg.“120

Aus dem Blickwinkel des „Glaubenskrieges“ betrachtet, wird eine Verwandtschaft zwischen dem Calvinismus und dem Islam sichtbar, die im interpretationszusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus undenkbar ist.121 Weber bemerkt ausdrücklich: „Der Kalvinismus [...] kannte prinzipiell die Gewalt als Mittel der Glaubensverteidigung, also den Glaubenskrieg, der im Islam von Anfang an Lebenselement war.“122 „Eine Art kalter göttlicher ‚Staatsraison‘“ entsteht, wo der Dualismus von Religion und Politik beseitigt wird.123 Eines der Charakteristika des Glaubenskrieges ist die Rücksichtslosigkeit oder Disziplin, die der völligen Ausrichtung auf die Religion entspringt. Diese Unbedingtheit haben der islamische Krieger und der Puritaner gemeinsam. „Die rücksichtslose Selbstvergessenheit der unter dem religiösen Gebot des Glaubenskrieges zur Welteroberung stehenden, islamitischen Glaubenskämpfer der ersten Generationen, ebenso wie der ethische Rigorismus, die Legalität und rationale Lebensmethodik der unter dem christlichen Sittengesetz stehenden Puritaner, folgten beide aus dem Einfluß jenes Glaubens. Disziplin im Glaubenskriege war die Quelle der Unüberwindlichkeit der islamischen ebenso wie der Cromwellschen Kavallerie, innerweltliche Askese und disziplinierte Heilssuche im gottgewollten Beruf die Quelle der Erwerbsvirtuosität bei den Puritanern.“124 Es ist unverkennbar, daß die „Rücksichtslosigkeit“ des Glaubenskriegers einerseits und die der mo-

120

RS I, S. 553. Vgl. Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, S. 282. 122 PS, S. 556. 123 WuG, S. 718. Vgl. Otto Hintze, Kalvinismus und Staatsräson in Brandenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preussens, 2. Aufl., Göttingen, 1967, S. 255-312; Erwin Faul, Der moderne Machiavellismus, Köln/Berlin, 1961, S. 110. 124 WuG, S. 346-347. 121

3. Der Wandel der Naturrechtskonzeption im Calvinismus

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dernen Politik zum Durchbruch verhelfende Aufhebung des Dualismus andererseits in einer engen Wechselbeziehung miteinander stehen. „Ein Konflikt besteht [...] da gar nicht, wo eine Religiosität die gewaltsame Propaganda der wahren Prophetie zur Pflicht macht, wie der alte Islam, der auf Universalismus der Bekehrung bewußt verzichtete und die Unterjochung wie die Unterwerfung der Glaubensfremden unter die Herrschaft eines dem Glaubenskampf als Grundpflicht gewidmeten herrschenden Ordens, nicht aber die Erlösung der Unterworfenen als Ziel kennt. Denn dies ist dann eben keine universalistische Erlösungsreligion. Der gottgewollte Zustand ist gerade die Gewaltherrschaft der Gläubigen über die geduldeten Ungläubigen, und also die Gewaltsamkeit als solche kein Problem. Eine gewisse Verwandtschaft damit zeigt die innerweltliche Askese dann, wenn sie, wie der radikale Calvinismus, die Herrschaft der zur ‚reinen‘ Kirche gehörigen religiösen Virtuosen über die sündige Welt zu deren Bändigung als gottgewollt hinstellt, wie dies z. B. der neuenglischen Theokratie, wenn nicht ausgesprochenermaßen, so doch in der Praxis, natürlich mit allerhand Kompromissen, zugrunde lag.“125

Die Verwandtschaft zwischen Islam und Protestantismus liegt letzten Endes in der Konfliktlosigkeit,126 die im Gegensatz zum Grundcharakter des Okzidents steht, wie Weber ihn in seiner vergleichenden Kultursoziologie beschrieben hat. Mit der Aufhebung des Spannungsverhältnisses durch „das schroffe EntwederOder: Gnadenstand oder Verwerfung“127 entsteht nicht nur das „Heldentum“, sondern auch die „puritanische Tyrannei“.128 Bei allen positiven Konsequenzen des asketischen Protestantismus stellt Weber doch fest, daß er mit einem „bigotten Fanatismus“ verwandt ist, wobei sich „positive Religiosität und politische[r] Radikalismus [zu] verknüpfen“.129 Mit anderen Worten ist der „Okzident“ bei Weber das Gegenbild eines Fanatismus, der aus der Spannungslosigkeit resultiert.130

125

WuG, S. 357-358. Der puritanische Versuch, „der Spannung prinzipiell und innerlich zu entgehen“, ist, so Weber, „im letzten Grunde der prinzipielle Verzicht auf Erlösung“ (RS I, S. 545-546). 127 RS I, S. 115, Anm. 2. 128 RS I, S. 20. 129 Max Weber, „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika, in: Max Weber. Soziologie, weltgeschichtliche Analysen, Politik, hrsg. von Johannes Winckelmann, 3. Aufl., Stuttgart, 1964, S. 392-393. Vgl. auch Michael Walzer, The Revolution of the Saints. A Study in the Origins of radical Politics, Cambridge/Massachusetts, 1965. 130 Im Kontext der Totalitarismus-Kritik setzt sich Eric Voegelin mit dem „Fall des Puritanismus“ auseinander. Es gelingt ihm dabei, die Kehrseite des asketischen Protestantismus sichtbar zu machen, indem er den Verlust der Spannung, die Weber als Merkmal der okzidentalen Kultur betrachtet, als „gnostisch“ in Frage stellt (Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, Kap. V). 126

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

4. „Okzident“ im Gegensatz zu Protestantismus und Moderne Unter besonderer Berücksichtigung des Naturrechts ist die Diskrepanz zwischen asketischem Protestantismus, Okzident und Moderne im Werk Max Webers herausgearbeitet worden. Der Begriff des Okzidents, der durch das Spannungsverhältnis der Wertsphären charakterisiert werden kann, ist gewiß verbunden mit dem asketischen Protestantismus einerseits und der Moderne andererseits. Inhaltlicher Konflikt führte zur Formalisierung, die ein Merkmal der Moderne ist, während der „Gegensatz des Göttlichen und der ‚Welt‘ [...] im Abendlande geschichtlich die Konstituierung derjenigen einheitlichen Systematisierung der Lebensführung bedingte, die üblicherweise als ‚ethische Persönlichkeit‘ [vor 131 allem beim asketischen Protestantismus] bezeichnet wird“. Es ist aber nicht zu übersehen, daß sich die Moderne und der asketische Protestantismus entfalten, indem sie mit der Auflösung des Wertkonflikts ihre eigenen Bedingungen erodieren. Bezüglich des Lehensfeudalismus, der die okzidentale mittelalterliche Gesellschaft beherrscht, weist Stefan Breuer zu Recht darauf hin: „Die Frage erscheint nicht abwegig, ob nicht auch die spezifisch okzidentalen Natur- und Menschenrechtslehren mit ihrer emphatischen Betonung des allem positiven Recht vorausliegenden Eigenrechts der Individuen ein Erbe des Lehensfeudalismus sind, das im gleichen Maße entschwindet, wie die Expansion von Marktvergesellschaftung und Bürokratie voranschreitet. Das wäre immerhin eine Erklärung für den unverhohlenen Pessimismus, mit dem Weber die Zukunftsaussichten der modernen Gesellschaft beurteilt.“132 Auf einer solchen Sicht basiert Webers ambivalente Einstellung zum modernen Naturrecht. Bei aller Differenz der Weber-Interpretationen ist unumstritten, daß Weber – sowohl methodisch als auch praktisch – ein äußerst „individualistischer“ 133 Denker war. So mag für ihn der „alte[n] individualistische[n] Grundgedanke[n] der ‚unveräußerlichen Menschenrechte‘“ keineswegs „‚trivial‘ [...] [sein], wie Schwarzbrot es für den ist, der satt zu essen hat“.134 In der Tat bemerkt Weber später: „[...] ist es eine gröbliche Selbsttäuschung, zu glauben, ohne diese Errungenschaften aus der Zeit der ‚Menschenrechte‘ vermöchten wir heute (auch der konservativste unter uns) überhaupt zu leben“.135 Aber trotzdem ging Weber keineswegs von den „Menschenrechten“ aus.136 Was hinderte ihn daran? Diesbe-

131

RS II, S. 371. Stefan Breuer, Der okzidentale Feudalismus in Max Webers Gesellschaftsgeschichte, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums, S. 463. 133 Vgl. Marianne Weber, Lebensbild, S. 642. 134 MWG I/10, S. 269. 135 PS, S. 333. 136 Vgl. Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 216-217. 132

4. „Okzident“ im Gegensatz zu Protestantismus und Moderne

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züglich behauptet Wolfgang Mommsen, daß Weber „mit der klassischnaturrechtlichen Lehre vollständig brach und die charismatisch-plebiszitäre Führerstellung der leitenden Politiker proklamierte“.137 Die Betrachtung der Naturrechtskonzeption im Kontext der vergleichenden Kultursoziologie hat jedoch deutlich gemacht, daß Weber sich der Problematik der abstrakten Idee der Menschrenrechte sehr wohl bewußt ist. Diese abstrakte Idee tendiert dazu, „fanatisch“ zu sein, da sie den ursprünglichen Konfliktzustand als ihre Grundbedingung überwindet. Es mangelt dabei am Einhalt gegen die Gewalttätigkeit im Namen der „Menschenrechte“. Und „Menschenrechte“ können so zu „extrem rationalistische[n] Fanatismen“ werden.138 Max Weber beschäftigt sich erst in seiner späteren Phase mit dem Begriff des „Okzidents“. Es ist zu vermuten, daß Webers Interesse am „Okzident“ angesichts der Eindimensionalität der asketisch-protestantischen Modene geweckt worden ist. Denn das „Okzidentale“ erkennt er – wie deutlich geworden ist – als „polyphonisches“ Prinzip.139 Weber ist zwar skeptisch gegenüber Oswald Spenglers These vom „Untergang des Abendlandes“, die er als „geschichtsphilosophische Konzeption eines sehr geistvollen und gelehrten ‚Dilettanten‘“ bezeichnet.140 Er teilt aber mit Spengler das Krisenbewußtsein. Der Untergang des „Abendlandes“ bedeutet bei Weber Triumph der „Moderne“ über den „Okzident“. In diesem Zusammenhang ist Robert Bellahs „Introduction to the Paperback Edition“ seiner Japan-Forschung bemerkenswert, wo er den Kern der Problematik seiner eigenen Arbeit bzw. der Modernisierungstheorie wie folgt skizziert: „I had assumed that the economy is the critical sphere in modernization and that anything that contributed to freeing the economy from traditionalistic restrains and allowing it to develop in accordance with its own law was positive for modernization. I assumed that economic development was not only an instrinsic good but that the other benefits of modernization flowed more or less certainly from it. Maruyama pointed out that economic development did not necessarily 137

Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 423. WuG, S. 2. Es ist gleichermaßen festzustellen, daß der abstrakte Begriff der „Menschenrechte“ als solcher machtlos ist, wie Hannah Arendt bezüglich des Flüchtlingsproblems deutlich gemacht hat (vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich, 1986, Kap. 9; Giorgio Agamben, Jenseits der Menschenrechte, in: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin, 2001, S. 23-32). 139 Dies ist kein Zufall, da die polyphonische Idee zu dieser Zeit in verschiedene Bereiche Eingang fand (vgl. Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München, 1971; Paul Klee, Tagebücher 1898-1918, Köln, 1957, S. 382-383; Hajo Düchting, Paul Klee. Malerei und Musik, München/New York, 1997; Walter Biemel, Bemerkungen zur Polyperspektivität bei Picasso, S. 154-168). 140 Marianne Weber, Lebensbild, S. 685. 138

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IV. Naturrecht in der vergleichenden Kultursoziologie

correlate with political democratization or ethical universalism.“141 Die Problematik der sog. Modernisierungstheorie liegt darin, daß sie aufgrund der Annahme einer parallelen Entwicklung dem Modus des Verhältnisses der Sphären untereinander keine Beachtung schenkt. Aber die ökonomische Rationalisierung führt zwangsläufig zum Utilitarismus und verletzt den politischen Raum. Mit anderen Worten wird das polyphonische Ideal, das Weber in seiner „okzidentalen“ Kultur hervorhebt, durch die „Modernisierung“ in diesem Sinne erodiert. So steht die protestantische Moderne, die eng mit diesem Bild der Modernisierung verbunden ist, im Gegensatz zum Begriff des Okzidents bei Weber.

141

Robert N. Bellah, Tokugawa Religion, p. xiv. Bellah bezeichnet Maruyamas Rezension, in welcher dieser auf den „bedenklichen Mißbrauch des Weberschen Rationalisierungsbegriffes“ hinweist, als „the longest and most serious book review I have ever received“ (ebd., p. xiii). Vgl. auch Kunichika Yagyu, Max Weber und Ernst Troeltsch in Japan. Die Rezeption ihrer Werke bei Maruyama Masao, in: Mommsen/Schwentker (Hrsg.), Max Weber und das moderne Japan, S. 481-498.

V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber: Ästhetischer Pantheismus und antagonistischer Polytheismus

„Nur Leidenschaft wider Leidenschaft gibt eine dichterische Kollision, nicht dies Rumoren der Einzelheiten innerhalb der gleichen Leidenschaft“ (Sören Kierkegaard).1 „Es könnte in ihr[der Welt ohne die Unterscheidung von Freund und Feind] mancherlei vielleicht sehr interessante Gegensätze und Kontraste geben, Konkurrenzen und Intrigen aller Art, aber sinnvollerweise keinen Gegensatz, auf Grund dessen von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte“ (Carl Schmitt).2

Im IV. Kapitel ist die musiksoziologische (bzw. musikalische) Genese der vergleichenden Kultursoziologie Max Webers aufgezeigt worden. Sein Verständnis der „okzidentalen“ Kultur wurde in diesem Zusammenhang parallel zur „Polyphonie“ interpretiert. In diesem Kapitel soll auf das komplexe Verhältnis von Politik und Ästhetik eingegangen werden, um Webers Begriff der Politik deutlicher zu machen. 1. Ästhetisierung der politischen Theorie bei Max Weber: Eine Seite der Verantwortungsethik a) Gesinnungs- und Verantwortungsethik oder Mono- und Polyperspektivität Unter den Begriff „Gesinnungsethik“ subsumiert Weber verschiedene Typen ethischer Systeme. Dabei bezieht er sowohl die Bergpredigt als auch den Syndi-

1 2

Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, Düsseldorf/Köln, 1950, S. 103. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 6. Aufl., Berlin, 1996, S. 35-36.

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

kalismus mit ein.3 Kern jeder Gesinnungsethik ist jedoch, daß eine bestimmte Gesinnung bzw. „der Eigenwert des ethischen Handelns“4 verabsolutiert wird. Gesinnungsethik ist also „ethische[r] Rigorismus“5 bzw. „Panmoralismus“.6 Der asketische Protestantismus ist in diesem Sinne als gesinnungsethisch zu bezeichnen, insofern er die Welt ausschließlich ethisch zu beherrschen sucht. Bezüglich des Katholizismus weist Weber darauf hin: „Wo diese Auffassung konsequent bleibt, verzichtet sie auf das Verlangen der ‚Wiedergeburt‘ im strengen gesinnungsethischen Sinn. Die Lebensführung bleibt ein ethisch unmethodisches Nacheinander einzelner Handlungen.“7 Dagegen geht es dem asketischen Protestantismus als Gesinnungsethik um den „Gesamthabitus“.8 Die gesinnungsethische Rationalisierung ist nur möglich „durch [eine] rationale methodische Richtung der Gesamtlebensführung, nicht durch einzelne zusammenhangslose Handlungen“.9 Die Gesinnungsethik kann also als monoperspektivistische Rationalisierung der Moral bezeichnet werden. Über den Unterschied zwischen „Gesinnung“ und „Verantwortung“ schreibt Weber im „Wertfreiheits“-Aufsatz: „Zu den von keiner Ethik eindeutig entscheidbaren Fragen gehören die Konsequenzen des Postulates der ‚Gerechtigkeit‘. [...] Aber auch auf dem Gebiet des persönlichen Handelns gibt es ganz spezifisch ethische Grundprobleme, welche die Ethik aus eigenen Voraussetzungen nicht austragen kann. Dahin gehört vor allem die Grundfrage: ob der Eigenwert des ethischen Handelns – der ‚reine Wille‘ oder die ‚Gesinnung‘, pflegt man das auszudrücken – allein zu seiner Rechtfertigung genügen soll, nach der Maxime: ‚der Christ handelt recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘, wie christliche Ethiker sie formuliert haben. Oder ob die Verantwortung für die als möglich oder wahrscheinlich vorauszusehenden Folgen des Handelns, wie sie dessen Verflochtenheit in die ethisch 3

Diesbezüglich bemerkt Günther Roth: „Da Weber auch dazu neigt, Feindschaft gegen den Kapitalismus mit der Unfähigkeit in eins zu setzen, die ethische Irrationalität der Welt zu ertragen, so kann er christliche Pazifisten und sozialistische Revolutionäre noch aus diesem Grund in dieselbe Rubrik zwängen“ (Günther Roth, Max Webers zwei Ethiken und die Friedensbewegung damals und heute, in: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit, Frankfurt am Main, 1987, S. 207-208). Es ist unverkennbar, daß diese Interpretation sehr stark durch die historische Situation des Kalten Krieges bedingt ist. Es ist eine Aufgabe dieses Kapitels, diesen Interpretationsrahmen zu dekonstruieren und das Begriffspaar von Gesinnungs- und Verantwortungsethik vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation neu zu definieren. 4 WL, S. 505. 5 Vgl. WuG, S. 293, S. 324, S. 346; RS I, S. 129, Anm. 6 MWG I/10, S. 124. 7 WuG, S. 324. 8 Vgl. RS III, S. 254, Anm., S. 263. 9 WuG, S. 324.

1. Ästhetisierung der politischen Theorie bei Max Weber

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irrationale Welt bedingt, mit in Betracht zu ziehen ist. Auf sozialem Gebiet geht alle radikal revolutionäre politische Haltung, der sog. ‚Syndikalismus‘ vor allem, von dem ersten, alle ‚Realpolitik‘ von dem letzten Postulat aus. Beide berufen sich auf ethische Maximen. Aber diese Maximen liegen untereinander in ewigem Zwist, der mit den Mitteln einer rein in sich selbst beruhenden Ethik schlechthin unaustragbar ist.“10

Dem Gesinnungsethiker erscheint die Welt „irrational“. Dies hängt damit zusammen, daß er die Realität ausschließlich aus der ethischen Perspektive betrachten will. Die Problematik der Gesinnungsethik liegt also nicht darin, daß die „Folgen des Handelns“ nicht ausreichend berücksichtigt werden. Sie resultiert vielmehr aus dem Panmoralismus. In seiner Rußlandstudie weist Weber auf diese Problematik hin: „Die absolute Ablehnung der ‚Erfolgsethik‘ auch auf politischem Gebiet bedeutet hier: nur das unbedingte ethische Gebot gilt überhaupt als möglicher Leitstern positiven Handelns, es besteht nur die Möglichkeit des Kampfes um das Recht oder der ‚heiligen‘ Selbstentsagung. Ist nun das als positive ‚Pflicht‘ Erkannte getan, so tritt, weil alle anderen als die ethischen Werte ausgeschaltet sind, unbewußt jener biblische Satz wieder in Kraft, der sich am tiefsten in die Seele nicht nur Tolstois, sondern des russischen Volkes überhaupt geprägt hat: ‚Widerstehe nicht dem Übel‘. Der jähe Wechsel zwischen stürmischer Tatkraft und Ergebung in die Situation ist die Folge der Nichtanerkennung des ethisch Indifferenten als existent oder doch als möglichen ‚Wertes‘, welche dem Panmoralismus der Ssolowjowschen ‚Heiligkeit‘ ebenso wie der rein ethisch orientierten Demokratie eignet.“11

Die Gesinnungsethik tendiert dazu, die Welt einzig aus dem Gesichtspunkt der Moral zu konstruieren, wobei andere Perspektiven ausgeblendet werden und so dem Verhältnis der verschiedenen Werte nicht mehr nachgegangen werden kann. Darin liegt die Problematik der Gesinnungsethik als Gesellschaftsethik. Im Gegensatz zur Gesinnungsethik erkennt die Verantwortungsethik andere Werte als Moral an. Moral bzw. Religion wird hierbei relativiert. Erst dadurch ist es möglich, nach dem Modus des Verhältnisses der Werte zu fragen. Die Verantwortungsethik ist mit der grundsätzlichen Überlegung verbunden: „Welchen Beruf kann sie[die Politik] selbst, ganz unabhängig von ihren Zielen, innerhalb 12 der sittlichen Gesamtökonomie der Lebensführung ausfüllen?“ Diese Fragestellung läßt die monoperspektivistische Sicht der Gesinnungsethik nicht zu. Denn beim Gesinnungsethiker „rückt [...] die sozial-ethische Qualität des Handelns gänzlich in die zweite Linie“.13 Der Unterschied zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik liegt also im Gegensatz der ihnen zugrunde liegenden 10

WL, S. 505. MWG I/10, S. 124. 12 PS, S. 548. 13 WuG, S. 324. 11

110

V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

Monoperspektivität und Polyperspektivität. Das Verhältnis von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik ist darüber hinaus parallel zur Weberschen Position und dem Puritanismus. Die folgende Passage im Vortrag Marianne Webers über „Sexualethische Prinzipienfragen“, gehalten auf dem evangelisch-sozialen Kongreß (1907), läßt den Einfluß von Webers Gedankengang bezüglich des gesinnungsethischen bzw. monoperspektivischen Standpunktes deutlich erkennen: „Wir werden nicht mehr wie der Puritanismus und die ‚bürgerliche Moral‘ den ethischen Gesamtwert einer Persönlichkeit identifizieren mit ihrem Verhalten gegenüber den sexualethischen Idealen und den, der sie nicht erreicht, als ‚unsittlich‘ bezeichnen. Wir haben erkennen gelernt, daß eine Vielheit von Eigenschaften und Handlungsweisen den Adel des Menschentums ausmacht, und daß er nicht notwendig vernichtet wird, wenn ein Mensch trotz ernsten Strebens 14 unter der Höhe des Ideals zurückbleibt.“ Die Verantwortungsethik bezieht sich zwar auf „Folgen“ eines Handelns, die zumeist im Zusammenhang mit der Machtpolitik verstanden worden sind. Ein solches Verständnis erschien vor allem vor dem Hintergrund des Kalten Krieges plausibel. In dieser Zeit haben sich konservative Politiker gerne weitgehend auf die so verstandene „Verantwortungsethik“ berufen, während sich die pazifistische Bewegung gegen sie gewendet hat. Es greift jedoch zu kurz, wenn man die „Folgen“ bei Weber ausschließlich mit der Gewaltbegriff verknüpft. Gewiß ist der absolute Pazifismus gesinnungsethischer Natur, wie Weber schreibt: „Die rein gesinnungsethischen, akosmistischen Forderungen der Bergpredigt aber und das darauf ruhende religiöse Naturrecht als absolute Forderung behielten ihre revolutionierende Gewalt und traten in fast allen Zeiten sozialer Erschütterung mit elementarer Wucht auf den Plan. Sie schufen insbesondere die radikalpazifistischen Sekten, deren eine in Pennsylvanien das Experiment eines nach außen gewaltlosen Staatswesens machte“.15 Die Gesinnungsethik kann aber zugleich zum unbegrenzten Eskalieren der Gewalt führen, insoweit diese zur Verwirklichung des ethischen Ziels bzw. der Gerechtigkeit eingesetzt wird. Bei der Gesinnungsethik gibt es kein Hemmnis gegen diese Eskalation, weil andere, außerhalb der Moral stehende Perspektiven ausgeschaltet sind.16 Man muß also jenseits von Machtpolitik und Pazifismus fragen, was unter dem Begriff „Folgen“ zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang gibt die folgende Passage einen wichtigen Anhaltspunkt. In ihr schreibt Weber, mit Bezug auf die Wissenschaft: „Wir können weiter, wenn die Möglichkeit der Erreichung eines vorgestellten Zweckes gegeben erscheint, natürlich immer innerhalb der Grenzen unseres jeweiligen Wissens, 14

Marianne Weber, Lebensbild, S. 376. PS, S. 555. 16 Vgl. PS, S. 553, S. 558. Vgl. auch VII. Kapitel der vorliegenden Arbeit. 15

1. Ästhetisierung der politischen Theorie bei Max Weber

111

die Folgen feststellen, welche die Anwendung der erforderlichen Mittel neben der eventuellen Erreichung des beabsichtigten Zweckes, infolge des Allzusammenhanges alles Geschehens, haben würde. Wir bieten alsdann dem Handelnden die Möglichkeit der Abwägung dieser ungewollten gegen die gewollten Folgen seines Handelns und damit die Antwort auf die Frage: was ‚kostet‘ die Erreichung des gewollten Zweckes in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung anderer Werte?“17

In dieser Passage wird die Abwägung von i) den gewollten Folgen und ii) den ungewollten Folgen durch die Abwägung von i’) dem gewolltem Zweck und ii’) der Verletzung anderer Werte umschrieben. Diese Umschreibung ist erst unter der Voraussetzung möglich, daß es verschiedene Perspektiven gibt, die zueinander in Widerspruch treten können. Webers Verantwortungsethik bezieht sich auch auf den so verstandenen Folgebegriff.18 Daß diese Seite der Verantwortungsethik weitgehend unbeachtet geblieben ist, resultiert aus der dichotomischen Denkweise des Entweder-Oder in der Zeit des Kalten Krieges. Heute sieht sich die Gesellschaft jedoch mit Problemen konfrontiert, die nicht im Rahmen des Gegensatzes von Gut und Böse verstanden und gelöst werden können. Auf diese Situation reagiert die „Risiko“-Diskussion. In ihr geht es um die „Regierung der Nebenfolge“19 bzw. Abwägung der verschiedenen Perspektiven. In dieser Hinsicht ist Webers Verantwortungsethik aktuell.

17

WL, S. 149-150. Gleiches gilt auch für den Begriff der „Zweckrationalität“ bei Weber. In seinen „Soziologische[n] Grundbegriffe[n]“ definiert Weber ihn bekanntlich folgendermaßen: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional) noch traditional handelt“ (WuG, S. 13). Die so definierte Rationalität ist nicht die im engeren Sinne verstandene Zweckrationalität als bloße Anwendung des optimalen Mittels für einen gegebenen Zweck. Es geht vielmehr um die „Abwägung“ von Werten. Der Begriff „Folge“ wird also auf die Gesamtheit der verschiedenen Werte bezogen: „Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus aber ist Wertrationalität immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja um so weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert, je unbedingter allein dessen Eigenwert (reine Gesinnung, Schönheit, absolute Güte, absolute Pflichtmäßigkeit) für sie in Betracht kommt“ (WuG, S. 13). 19 Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt am Main, 1993, S. 13. 18

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

b) Ästhetisierung der Politik? Bei der Umarbeitung von 1920 fügte Weber die folgende Passage in seine Protestantismusstudie ein, in der er auf Kierkegaard Bezug nimmt. „Der Zwiespalt zwischen dem ‚Einzelnen‘ und der ‚Ethik‘ (in Sören Kierkegaards Sinn) existierte für den Calvinismus nicht, obwohl er den Einzelnen in religiösen Dingen ganz auf sich selbst stellte. […] Die Quelle des utilitarischen Charakters der calvinistischen Ethik liegt darin“.20

Dies ist die einzige Stelle im Gesamtwerk Max Webers, wo Kierkegaard namentlich erwähnt wird. Es steht zwar außer Zweifel, daß Weber Kierkegaard gut kannte.21 Dessen Denken war – wie bekannt – häufig Gegenstand der Gespräche mit Georg Lukács.22 Auch sind einige zentrale Begriffe in Webers Schriften wie „Sphäre“, „Dämon“, „Entweder-Oder“ usw. auf Kierkegaard zurückzuführen. Webers Werk enthält jedoch fast keine Anhaltspunkte, mit denen Kierkegaards Einfluß auf ihn belegt werden können. In der Tat antwortet Marianne Weber auf die Frage Eric Voegelins nach dem Verhältnis zwischen Max Weber und Kierkegaard: „Die Frage ist für mich sehr schwer zu beantworten. Mein Mann hat einen Teil von Kierkegaards Schriften gekannt und höchstwahrscheinlich auch die ‚Krankheit zum Tod‘, die sich in meinem Besitz befindet. Nach meiner Erinnerung hat er sich aber vor seiner nervösen Krankheit, etwa z. Z. unserer Verheiratung um 1893 herum mit K. beschäftigt, u. später M. W.’s nicht mehr.“ Marianne räumt ein, daß Weber die Hauptwerke Kierkegaards gelesen und „daß K. den jungen M. W. bewegt hat“. Aber sie schreibt weiter: „[...] ich kann mir kaum denken, daß M. W. in seinen späteren Schriften noch durch K. beeinflußt worden ist. – Wo findet denn der Herr die betreffenden

20

RS I, S. 101. Vgl. Webers Brief an Marianne Weber vom 26. Juli 1894: „Liebes Kind! Dein Briefchen zeugt ja allerdings noch von starker Herabminderung des Jeistes, aber das ist gut und gesund und bleibt hoffentlich so, bis du wieder in kultivierte Gegenden hier bei mir zurückgelangt, damit die durch Enquetes, Kierkegaard, Nietzsche und Simmel maltraetierten Kopfnerven sich einmal verpusten können“ (zitiert nach Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 172). 22 Bezüglich des Verhältnisses von Weber und Lukács berichtet Honigsheim: „Beide Männer hatten ja viel miteinander diskutiert, und zwar zumindest einmal über ästhetische Probleme. Von diesem Interesse war Lukács ursprünglich ausgegangen, wie er ja auch seit dem zweiten Weltkrieg an der Universität Budapest Ästhetik liest. Kurz bevor er nach Heidelberg und zu Max Weber kam, war gerade sein Buch ‚Die Seele und die Formen‘ erschienen. Dies war übrigens auch eine der ersten Stellen, in denen ein fast Vergessener seine Auferstehung erlebte, nämlich Kierkegaard“ (Paul Honigsheim, Erinnerungen an Max Weber, S. 186-187). Vgl. auch Michael Löwy, Georg Lukács: From Romanticism to Bolshevism, London, 1979. 21

1. Ästhetisierung der politischen Theorie bei Max Weber

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Parallelen? Das würde mich sehr interessieren. Eine bewußte Beeinflussung durch K. halte ich eigentlich nicht für möglich“.23 Und doch ist die in die Protestantismusstudie eingefügte Passage entscheidend bei der Betrachtung der Differenz zwischen dem asketischen Protestantismus und Webers Position. Aus der calvinistischen Lehre der Gnadenwahl folgt zwar „ein Gefühl einer 24 unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“, das zur „Ent25 zauberung“ der Welt führt. Weber stellt aber diesem „illusionslosen und pessimistisch gefärbten Individualismus“26 den „Einzelnen“ bei Kierkegaard entgegen.27 Beide unterscheiden sich durch den Gedanke der Kollision der „Sphären“. Während beim Calvinismus die absolute „Ethik“ die „Tendenz zur innerlichen Lösung des Individuums aus den engsten Banden“28 bewirkt, ist bei Kierkegaard der „Einzelne“ durch die Spaltung der Sphären dazu gezwungen. Der Calvinist kann sich der Frage entledigen, ob nicht jegliches innerweltliche Unternehmen in sich das Moment der Sünde einschließt, indem er den Dualismus bzw. das Spannungsverhältnis beseitigt. Diesbezüglich verwendet Weber den Ausdruck „glückliche Borniertheit“. „Der Asket muß, wenn er innerhalb der Welt handeln will, also bei der innerweltlichen Askese, mit einer Art von glücklicher Borniertheit für jede Frage nach einem ‚Sinn‘ der Welt geschlagen sein 23

Marianne Weber, Brief an Eric Voegelin vom 05. Februar 1936, in: Eric Voegelin, Die Grösse Max Webers, S. 59-60. 24 RS I, S. 93. 25 RS I, S. 94. 26 RS I, S. 95. 27 Dieser „protestantische“ Individualismus wird oft dem sog. „asiatischen“ Kollektivismus gegenübergestellt. In diesem Rahmen bleibt jedoch die Vielfalt des Individualitätsbegriffes außer acht, deren sich Weber wohl bewußt ist. Vgl. RS I, S. 95, Anm. 3: „Der Ausdruck ‚Individualismus‘ umfaßt das denkbar Heterogenste. [...] Man hat – in einem anderen Sinne des Wortes – das Luthertum ‚individualistisch‘ genannt, weil es eine asketische Lebensreglementierung nicht kennt. Wieder in einem ganz anderen Sinne braucht z. B. Dietrich Schäfer das Wort, wenn er [...] das Mittelalter die Zeit ‚ausgeprägter Individualität‘ nennt, weil für das für den Historiker relevante Geschehen irrationale Momente damals von einer Bedeutung gewesen seien, wie heute nicht mehr. Er hat Recht, aber diejenigen, denen er seine Beobachtungen entgegenhält, vielleicht auch, denn beide meinen etwas ganz Verschiedenes, wenn sie von ‚Individualität‘ und ‚Individualismus‘ sprechen. – Jakob Burckhardts geniale Formulierungen sind heute teilweise überholt und eine gründliche, historisch orientierte Begriffsanalyse wäre gerade jetzt wieder wissenschaftlich höchst wertvoll.“ Vgl. auch Louis Dumont, The Modern Conception of the Individual. Notes on its Genesis, in: Contributions to Indian Sociology, VIII, 1965, pp. 13-61; Masao Maruyama, Patterns of Individuation and the Case of Japan. A conceptual Scheme, in: Marius B. Jansen (ed.), Changing Japanese Attitudes toward Modernization, Princeton, 1965, pp. 489-531. 28 RS I, S. 98.

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

und darum sich nicht kümmern.“29 Wenn innerweltliches Handeln ethisch oder religiös verklärt wird, wird der weltliche Maßstab zum ethischen oder religiösen. Der asketische Protestantismus schätzt die „Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhaltes, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt 30 annehmen könne“. So verlieren sich Heterogenität und Spannungsverhältnis der Werte im Utilitarismus, der bei Weber immer einen Mangel an Wertkonflikt bedeutet.31 Es ist die Interpenetration von Religion und Wirtschaft beim asketischen Protestantismus, welche die Grundlage für den moderne Kapitalismus bildet. Aber zugleich führt die damit einhergehende Verschmelzung von Politik und Religion zur calvinistischen Theokratie. Wie im IV. Kapitel dargestellt worden ist, steht die calvinistische Theokratie bei Weber im Gegensatz zur „okzidentalen“ Kultur. Nun zeigt sich, daß sie auch im Gegensatz zur Verantwortungsethik steht. Denn Verantwortungsethik entsteht, indem die „Ethik“, die für Calvinisten ein unanzweifelbares Fundament ist, relativiert wird. Ebenso wie Kierkegaard, in dessen Werk die Ethik durch die Ästhetik relativiert wird, gelangt Weber über die Auseinandersetzung mit der Kunst(soziologie) zu seinem Verständnis der okzidentalen Kultur und der ihr entsprechenden Verantwortungsethik. Angesichts des moralischen Rigorismus schließen Politik und Ästhetik ein Bündnis, das die Alternative des Ethikers: entweder Gut oder Böse ablehnt und das Moment der Pluralität und Flüchtigkeit

29

WuG, S. 332. Auch in der „Zwischenbetrachtung“ schreibt Weber wie folgt: „Mit jener ‚glücklichen Borniertheit‘, welche man dem typischen Puritaner zuzuschreiben pflegt, vollstreckt die innerweltliche Askese die in ihrem letzten Sinne ihr verborgenen positiven göttlichen Ratschlüsse, wie sie in den von Gott verfügten rationalen Ordnungen des Kreatürlichen vorliegen“ (RS I, S. 539-540). Vgl. auch RS III, S. 328, S. 332. 30 RS I, S. 69. 31 Trotz aller signifikanten Unterschiede zwischen Konfuzianismus und Puritanismus weist Weber darauf hin, daß „wir doch beide in ihrer praktischen Wendung als ‚rationalistisch‘ bezeichnen werden“ und daß „sie beide ‚utilitarische‘ Konsequenzen zogen“ (RS I, S. 528). Es geht dabei um den Zusammenhang zwischen der Spannungslosigkeit der Wertsphären und dem Utilitarismus. Es ist nicht zu übersehen, daß beim asketischen Protestantismus der Unterschied zwischen dem konfuzianistischen Rationalismus „im Sinne des Fehlens und der Verwerfung aller nicht utilitarischen Maßstäbe“ einerseits und „allen okzidentalen Typen des praktischen Rationalismus“ andererseits verschwindet (RS I, S. 266). In diesem Zusammenhang ist Webers skeptische Einstellung zum Utilitarismus schlechthin zu verstehen. Es ist ferner bemerkenswert, daß Max Weber die Aufmerksamkeit auf das Moment des Wertpluralismus bei J.S. Mill richtet, das eigentlich im Gegensatz zum Utilitarismus steht. Isaiah Berlin thematisiert diesen Widerspruch zwischen Utilitarismus und Wertpluralismus bei Mill (Isaiah Berlin, John Stuart Mill and the Ends of Life, in: Liberty, Oxford, 2002, pp. 218-251).

1. Ästhetisierung der politischen Theorie bei Max Weber

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lobt.32 Die Politik schließt in sich die „Relativierung aller Zwecke“ 33 ein, so daß sie nicht verwandt mit dem rigorosen Moralismus sein kann. Es ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, daß nicht nur die Kategorien Gut und Böse, sondern auch „Wahl“ oder „Entscheidung“ zu den ethischen Begriffen gehören. Sie stehen im Gegensatz zur Ästhetik, die durch den ewigen Vorbehalt der Entscheidung zu charakterisieren ist. In Entweder-Oder thematisiert Kierkegaard gerade diesen Gegensatz: „Deine Wahl ist eine ästhetische Wahl; eine ästhetische Wahl aber ist keine Wahl. Überhaupt ist das Wählen ein eigentlicher und stringenter Ausdruck für das Ethische. [...] Die ästhetische Wahl ist entweder völlig unmittelbar und insofern keine Wahl, oder sie verliert sich in der Mannigfaltigkeit. [...] weil, wenn man nicht absolut wählt, man nur für den Moment wählt und deshalb im nächsten Augenblick etwas anderes wählen kann.“34

Die Ethik steht hinsichtlich der Wahl und Entscheidung der Ästhetik diametral gegenüber. „Das Wesentliche an der geistigen Situation des Romantikers ist, daß er sich in dem Kampf der Gottheiten mit seiner subjektiven Persönlichkeit reserviert.“35 Die Politik befindet sich in diesem Spannungsfeld. Denn nicht nur die vollendete Moralisierung, sondern auch die vollendete Ästhetisierung vernichtet die Politik. Es ist hier festzustellen, daß die Politik des asketischen Protestantismus in die Nähe der Ethik rückt, während sich Webers Verantwortungsethik – im Vergleich dazu – dem ästhetischen Bereich annähert. Der Satz, „daß die ‚Kunst‘ gerade da anfängt, wo die ‚Gesichtspunkte‘ des Technikers aufhören“, gilt auch für Webers Begriff der Politik.36 Kunst und Politik stehen gemeinsam im Gegensatz zur moralischen Eindeutigkeit. In diesem Sinne kann man die Verantwortungsethik bei Weber als eine Theorie der ästhetisierten Politik bezeichnen.

32

In diesem Rahmen ist auch die Abneigung des asketischen Protestantismus gegen das Ästhetische zu erklären. „Hier [im ‚Gebiet der nicht wissenschaftlichen Literatur und weiterhin der Sinnenkunst‘] freilich legte sich die Askese wie ein Reif auf das Leben des fröhlichen alten England. [...] Das Theater war dem Puritaner verwerflich, und bei der strikten Ausscheidung des Erotischen und der Nuditäten aus dem Kreise des Möglichen blieb in Literatur wie Kunst die radikalere Auffassung nicht stehen“ (RS I, S. 185-187). 33 WuG, S. 357. 34 Sören Kierkegaard, Entweder - Oder, München, 1988, S. 715-716. 35 Carl Schmitt, Politische Romantik, 3. Aufl., Berlin, 1968, S. 95-96. 36 WL, S. 418.

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

c) Okzident und ästhetisierte Politik: Webers Perspektive auf den Feudalismus Bei Weber ist das Ästhetische – wie schon erwähnt – der Gegenpol des Moralischen. Man sollte aber vielmehr sagen, daß das Ästhetische als Gegensatz zu jeglicher Monoperspektivität hervorgehoben wird. Es geht um Pluralität und Flüchtigkeit. Ein Beispiel dafür findet sich in Webers Diskussion über den Lehensfeudalismus, den er im Rahmen seiner vergleichenden Kultursoziologie 37 als spezifische Erscheinung des Okzidents bezeichnet. Weber richtet in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit auf den Begriff des „Spiels“38 und weist auf die „Verwandtschaft mit künstlerischer Lebensführung“ hin.39 Das Spiel wird einerseits als „ein Gegenpol alles ökonomisch rationalen Handelns“ verstanden.40 So steht „der Feudalismus innerlich der bürgerlich-geschäftlichen Sachlichkeit mit ablehnender Geringschätzung gegenüber und empfindet sie als schmutzigen Geiz und als die ihm spezifisch feindliche Lebensmacht. Seine Lebensführung erzeugt das Gegenteil rationaler Wirtschaftsgesinnung und ist Quelle jener Nonchalance in Geschäftsangelegenheiten“.41 Andererseits steht das Moment des Spiels naturgemäß im Gegensatz zum Bündnis von Ethik und Politik bzw. zum Moralismus. „[...] wo immer das Glaubensrittertum das Leben dauernd beherrschte: am stärksten im Islam, hat denn auch das freie künstlerische Spiel nur begrenzten Raum gehabt.“42 Der Feudalismus, der durch das Moment des Spiels charakterisiert wird, ist „künstlerisch“, insoweit er keine monokratisch einheitliche Ordnung darstellt. 37

Vgl. III. 4. b) der vorliegenden Arbeit. Vgl. auch Matti Viikari, Max Weber, der okzidentale Rationalismus, der Feudalismus und das europäische Mittelalter, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Max Weber, der Historiker, Göttingen, 1986, S. 158-172; Stefan Breuer, Der okzidentale Feudalismus in Max Webers Gesellschaftsgeschichte, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums, S. 437-475; Gianfranco Poggi, Max Webers Begriff des okzidentalen Feudalismus, in: ebd, S. 476-497. 38 Dieser Gedanke findet sich schon bei Friedrich Schiller. Bei ihm verbünden sich Politik und Ästhetik miteinander in Gestalt des „ästhetischen Staates“. An ihrem Schnittpunkt steht das „Spiel“ bzw. der „Spieltrieb“ (vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart, 2002). 39 WuG, S. 651. 40 WuG, S. 651. Die Erziehung im Feudalsystem, „welche den radikalen Gegenpol gegen die ‚Fachbildung‘ der rein bürokratischen Struktur darstellt“, bezeichnet Weber als „musisch“ (WuG, S. 639-640). 41 WuG, S. 651. 42 WuG, S. 651. Das gleiche gilt auch für den asketischen Protestantismus. Denn es gibt – wie schon erwähnt – keine Differenz zwischen Islam und Protestantismus, insofern sie beide versuchen, „das eigene Dasein funktionell, als Mittel im Dienst einer ‚Mission‘, einer zweckvoll durchzuführenden ‚Idee‘ anzuschauen“ (WuG, S. 651).

2. Webers ambivalente Stellung zu Simmel

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Er ist „ein Kosmos oder je nachdem auch ein Chaos durchaus konkret bestimmter subjektiver Gerechtsame und Pflichtigkeiten des Herrn, der Amtsträger und der Beherrschten, die sich gegenseitig kreuzen und beschränken und unter deren 43 Zusammenwirken ein Gemeinschaftshandeln entsteht“. Die vorliegende Arbeit hat im III. und IV. Kapitel aufgezeigt, daß Max Webers Begriff des „Okzidents“ durch das Wesensmerkmal einer spezifischen Spannung zwischen verschiedenen Sphären zu charakterisieren ist. Man kann nun sagen, daß sich die okzidentale Kultur im Sinne Webers auf das „Ästhetische“ bezieht, insofern sie eng mit dem Moment der Pluralität und des Spiels verbunden ist, und daß Webers Verantwortungsethik mit dem so verstandenen Begriff des „Okzidents“ korrespondiert. 2. Webers ambivalente Stellung zu Simmel: Differenz der ontologischen Grundannahmen Charakterisiert man Webers Verantwortungsethik als eine ästhetisierte politische Theorie, so stellt sich die Frage nach der Affinität Max Webers zu Georg Simmel. Denn allen anderen voran gilt Simmel als „ästhetizistischer“ Theoretiker.44 Insbesondere in der neueren Simmel-Forschung, die durch die Diskussion um die Postmoderne ausgelöst worden ist, wird die Aufmerksamkeit auf die ästhetische Seite der Soziologie Simmels gerichtet. Seine Gesellschaftstheorie ist in der Tat als „ästhetisch“ zu bezeichnen, insoweit sie „aus einem zufälligen Bruchstück der Wirklichkeit, dessen Unselbständigkeit durch tausend Fäden mit dieser verbunden ist, eine in sich ruhende Totalität, einen jedes Außerhalbseiner unbedürftigen Mikrokosmos zu gestalten“ sucht.45 Dementsprechend ist Simmels bevorzugte Darstellungsweise „essayistisch“. Auch Weber richtet die Aufmerksamkeit auf den künstlerischen Charakter der Theorie Simmels. In einer Anmerkung von „Roscher und Knies“ schreibt er: „Eine systematische Kritik von Simmels Standpunkt ist hier nicht beabsichtigt. Auf manche seiner, wie immer, sachlich feinen und künstlerisch geformten Thesen komme ich demnächst wohl im Archiv für Sozialwissensch. zurück“.46

43

WuG, S. 636. Vgl. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, S. 386-401; Murray S. Davis, Georg Simmel and the Aesthetics of Social Reality, in: Social Forces, 51, 1973, pp. 320-329; Sibylle Hübner-Funk, Ästhetizismus und Soziologie bei Georg Simmel, in: Hannes Böhringer/Karlfried Gründer (Hrsg.), Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, Frankfurt am Main, 1976, S. 44-58. 45 Simmel, Philosophie des Geldes, GSG 6, S. 691. 46 WL, S. 97, Anm. 1. 44

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

Simmel lehnt – wie Weber – den Realismus bzw. die Abbildtheorie der Wirklichkeit ab. „Die historische Wahrheit ist keine bloße Reproduktion, sondern eine geistige Aktivität, die aus ihrem Stoff – der als innerliche Nachbildung 47 gegeben ist – etwas macht, was er an sich noch nicht ist“. Man kann also auch bei Simmel den perspektivistischen Charakter finden. Und hinsichtlich der perspektivistischen Methodologie und der daraus hervorgehenden nichtmonokausalen Sozialanalyse gibt es keinen Unterschied zwischen Simmel und Weber. Alessandro Cavallis Schlußfolgerung ist in diesem Sinne Recht zu geben: „Hinsichtlich der Punkte [...], die für eine methodologische Unterkellerung der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin entscheidend waren, scheint mir die Übereinstimmung doch größer zu sein, als bislang angenommen wurde“.48 Bei Simmel verbindet sich der Perspektivismus mit der ästhetischen Konstruktion der Fragmente. Auch Max Webers Wissenschaftsverständnis kommt dem Simmelschen Ästhetizismus sehr nahe, wenn er bemerkt: „Jene echte Künstlerschaft, wie sie z. B. unter den Historikern Ranke in so grandiosem Maße besaß, pflegt sich gerade darin zu manifestieren, daß sie durch Beziehung bekannter Tatsachen auf bekannte Gesichtspunkte dennoch ein Neues zu schaffen weiß.“49 Die Wissenschaft wird ästhetisiert, insofern sie nicht an einer Perspektive festhält, sondern den Blickwinkel der Erkenntnis verlagert oder aber verschiedene Perspektiven auf unterschiedliche Weise anordnet und kombiniert. Bezüglich der „Interpretation“, deren Sinn Weber darin erkennt, daß sie „sein eigenes inneres ‚Leben‘, seinen ‚geistigen Horizont‘ erweitert, ihn fähig macht, Möglichkeiten und Nuancen des Lebensstils als solche zu erfassen und zu durchdenken, sein eigenes Selbst intellektuell, ästhetisch, ethisch (im weitesten Sinn) differenzierend zu entwickeln, seine ‚Psyche‘ – sozusagen – ‚wertempfindlicher‘ zu machen“, weist Weber darauf hin: „Die ‚Interpretation‘ der geistigen, ästhetischen oder ethischen Schöpfung wirkt eben hier, wie diese letztere selbst wirkt, und die Behauptung,

47

Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), in: GSG 9, S. 276-277. Simmel diskutiert ferner in Philosophie des Geldes über den Naturalismus und weist darauf hin, „daß auch er[der Naturalismus] die Unmittelbarkeit des Eindrucks von ganz bestimmten Voraussetzungen und Forderungen her gliedert und umbildet“ (Simmel, Philosophie des Geldes, GSG 6, S. 659). 48 Alessandro Cavalli, Max Weber und Gerog Simmel: Sind die Divergenzen wirklich so groß?, in: Wagner/Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre, S. 236. Vgl. auch Klaus Lichtblau, Kausalität oder Wechselwirkung? Max Weber und Georg Simmel im Vergleich, in: ebd, S. 535-537. 49 WL, S. 214.

2. Webers ambivalente Stellung zu Simmel

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daß die ‚Geschichte‘ in gewissem Sinn ‚Kunst‘ sei, hat hier ihren ‚berechtigten Kern‘, nicht minder wie die Bezeichnung der ‚Geisteswissenschaften‘ als ‚subjektivierend‘“.50 Trotz dieser Affinität hinsichtlich der Ästhetisierung ist die Differenz zwischen Simmel und Weber nicht zu übersehen. Weber erwähnt Simmel an einigen Stellen sehr kritisch. So schreibt er in den „Soziologische[n] Grundbegriffe[n]“ der Wirtschaft und Gesellschaft: „Von Simmels Methode (in der ‚Soziologie‘ und in ‚Philos. des Geldes‘) weiche ich durch tunlichste Scheidung des gemeinten von dem objektiv gültigen ‚Sinn‘ ab, die beide Simmel nicht nur nicht immer scheidet, sondern oft absichtsvoll ineinander fließen läßt.“51

Der Kern dieser Kritik scheint auf den ersten Blick relativ eindeutig: Weber ist ein empirischer Soziologe, während Simmel ein Lebensphilosoph ist. So stellt Johannes Weiß fest: „Webers Bedenken bezieht sich [...] auf den Umstand, daß Simmel nicht imstande und bereit war, sich in seinen kulturtheoretischen und zeitdiagnostischen Analysen an die Grenzen einer erfahrungswissenschaftlichen, soziologischen Argumentation zu binden und zu halten. [...] Unklar bleibt [...], wo die soziologische, also erfahrungswissenschaftliche Argumentation endet und eine andere, etwa ‚metaphysische‘ oder moralphilosophische Argumentation beginnt.“52 Freilich betont Weber die „Ausgerichtetheit von Simmels letztem Interesse auf metaphysische Probleme, auf den ‚Sinn‘ des Lebens“.53 Es kann jedoch nicht behauptet werden, daß sich Simmels „Metaphysik“ nicht auf die Differenz zwischen subjektivem und objektivem Sinn bezieht, während sich Webers Soziologie mit dieser Differenz beschäftigt. Denn Simmels Kulturphilosophie richtet offenkundig die Aufmerksamkeit auf die Differenz von „Persönli50

WL, S. 247. Wissenschaft und Kunst sind bei Weber allerdings nicht zu einer Einheit verschmolzen (vgl. WL, S. 592). 51 WuG, S. 1. Auch im Aufsatz „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ schreibt Weber: „Die pedantische Umständlichkeit der Formulierung entspricht dem Wunsch, den subjektiv gemeinten Sinn von dem objektiv gültigen scharf zu scheiden (darin teilweise abweichend von Simmels Methode)“ (WL, S. 427, Anm. 1). 52 Johannes Weiß, Georg Simmel, Max Weber und die „Soziologie“, in: Otthein Rammstedt (Hrsg.), Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Max Weber, Frankfurt am Main, 1988, S. 53. Im Anschluß daran versucht Duk-Yung Kim in seiner Habilitationsschrift das Verhältnis von Georg Simmel und Max Weber im Rahmen von „Pantheismus der Weltbetrachtung vs. wissenschaftliche[r] Weltanschauung“ zu interpretieren (Duk-Yung Kim, Georg Simmel und Max Weber. Über zwei Entwicklungswege der Soziologie, Opladen, 2002). Vgl. auch Marianne Weber, Lebensbild, S. 326. 53 Max Weber, Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft, in: Simmel Newsletter, 1, 1991, S. 11.

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

che[r] und Sachliche[r] Kultur“54 und erkennt dabei ihre Diskrepanz: „[...] die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräthe, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst – sind unsäglich kultiviert, aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs 55 in demselben Verhältniß vorgeschritten, je vielfach sogar zurückgegangen.“ Die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Sinn ist darüber hinaus auch im Werk Max Webers nicht völlig eindeutig. Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß seine Wissenschaftslehre „perspektivistisch“ ist. Ohne Bezug auf irgendeinen „subjektiven“ Gesichtspunkt kann man im Grunde genommen von keinen objektiven Tatsachen sprechen. Man kann und muß nun sagen, daß die Trennung von subjektivem und objektivem Sinn nicht aus der perspektivischen Erkenntnistheorie hergeleitet werden kann, und daß Simmel hinsichtlich des Perspektivismus viel konsequenter als Weber ist, insofern er sich mit dem „spielerischen“ Verhältnis bzw. der Wechselbeziehung der Perspektiven beschäftigt, ohne an der Dichotomie von Subjektivität und Objektivität festzuhalten. Nämlich: Perspektivismus und Ästhetizismus verbinden sich bei Simmel miteinander.56 David P. Frisbys These, „daß Georg Simmel der erste Soziologe der Moderne ist“, ist in diesem Kontext sehr überzeugend. Es ist Frisby gelungen, den Zusammenhang zwischen Perspektivismus und Ästhetizismus bei Georg Simmel herauszuarbeiten, indem er die Aufmerksamkeit auf den „Baudelaireschen Begriff der Moderne“ richtet, der „um den Nachweis der Verankerung der ästhetischen Sphäre in der modernen Lebenswelt bemüht war“.57 In diesem Zusammenhang von Perspektivismus und Ästhetizismus kann auch Klaus Lichtblaus wichtiger Beitrag verstanden werden, der Webers „Kausalität“ und Simmels „Wechselwirkung“ vergleicht und die Fortgeschrittenheit der Letzteren deutlich macht. Lichtblau resümiert: „Die von Weber gegenüber Simmel geltend gemachte Differenz zwischen ‚subjektivem‘ und ‚objektivem Sinn‘ wird

54

Georg Simmel, Persönliche und sachliche Kultur, in: GSG 5, S. 560-582. Ebd., S. 561. Auch Weber ist sich der Unterscheidung von subjektiver und objektiver Dimension bei Simmel durchaus bewußt, wenn jener bezüglich des „Verstehens“ schreibt: „Simmel hat zunächst das Verdienst, innerhalb des weitesten Umkreises, den der Begriff des ‚Verstehens‘ – wenn man ihn in Gegensatz stellt zu dem ‚Begreifen‘ der nicht der ‚inneren‘ Erfahrung gegebenen Wirklichkeit – umfassen kann, das objektive ‚Verstehen‘ des Sinnes einer Aeußerung von der subjektiven ‚Deutung‘ der Motive eines (sprechenden oder handelnden) Menschen klar geschieden zu haben“ (WL, S. 93). Vgl. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), in: GSG 9, S. 263. 56 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: KSA 1, S. 47: „[...] nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertig“. 57 David P. Frisby, Goerg Simmels Theorie der Moderne, in: Heinz-Jürgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel und die Moderne, Frankfurt am Main, 1984, S. 16. 55

2. Webers ambivalente Stellung zu Simmel

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insofern in Simmels konstitutionstheoretischer Analyse des historischen Erkennens im Rahmen einer Synthesis der Phantasie bewußt ‚aufgehoben‘“.58 Es kann also nicht darum gehen, warum Simmel den subjektiv gemeinten Sinn vom objektiv gültigen Sinn nicht unterscheidet. Vielmehr stellt sich die Frage, warum Weber trotz seines perspektivistischen Standpunktes an dieser Trennung festhält. Dieser Frage muß gerade aufgrund des perspektivistischen Standpunktes jenseits der Dichotomie von Subjekt und Objekt nachgegangen werden. Die These der vorliegenden Arbeit lautet: Die Differenz zwischen Simmel und Weber hinsichtlich ihres Wissenschaftsverständnisses beruht auf der Differenz ihrer ontologischen Grundannahmen, d. h. von Simmels Pantheismus und Webers Polytheismus. Simmel spricht im Aufsatz „Soziologische Aesthetik“ vom „ästhetischen Pantheismus“. „Wenn wir diese Möglichkeit ästhetischer Vertiefung zu Ende denken, so giebt es in den Schönheitwerthen der Dinge keine Unterschiede mehr. Die Weltanschauung wird ästhetischer Pantheismus, jeder Punkt birgt die Möglichkeit der Erlösung zu absoluter ästhetischer Bedeutsamkeit, aus jedem leuchtet für den hinreichend geschärften Blick die ganze Schönheit, der ganze Sinn des Weltganzen hervor.“59 In dieser pantheistischen Weltanschauung kann man die Grundlage der gesamten Theorie Simmels sehen.60 Sein „Analogismus“61 ist eng mit dieser ontologischen Annahme verbunden.62 Alle entgegengesetzten Differenzen werden durch diese Prämissen aufgelöst, so daß auch die Differenz des subjektiven und objektiven Sinnes keine Bedeutung mehr hat. Auf der Grundlage des Pantheismus richtet sich die Aufmerksamkeit vielmehr auf die

58 Klaus Lichtblau, Kausalität oder Wechselwirkung? Max Weber und Georg Simmel im Vergleich, in: Wagner/Zipprian (Hrsg.), Max Webers Wissenschaftslehre, S. 547. 59 Simmel, Soziologische Aesthetik, in: GSG 5, S. 199. Vgl. auch Simmel, Vom Pantheismus, in: GSG 7, S. 84: „Die Form der Dinge und unseres Verhältnisses zu ihnen scheint einem durchgehenden Prinzip gehorchen zu müssen, wenn unser Interesse und unsere innere Lebendigkeit von ihnen erregt werden soll: Unterschiede müssen zwischen ihnen herrschen, mit getrennten Eigenschaften müssen sie einander gegenüberstehen, wechselnde Empfindungen müssen sie in uns aufrufen.“ 60 In der „Vorrede“ zur ersten Auflage der Philosophie des Geldes spricht Simmel vom „empirischen Pantheismus“ (Simmel, Philosophie des Geldes, GSG 6, S. 732. Vgl. Barbara Aulinger, Die Gesellschaft als Kunstwerk. Fiktion und Methode bei Georg Simmel, Wien, 1999, S. 145). 61 Vgl. Max Weber, Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft, S. 10-11. 62 Vgl. Hannes Böhringer, Die „Philosophie des Geldes“ als ästhetische Theorie. Stichworte zur Aktualität Georg Simmels für die moderne bildende Kunst, in: Dahme/Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel und die Moderne, S. 178.

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

Totalität der Wechselwirkungen, in deren Gesamtzusammenhang die einzelnen Elemente begriffen werden. Webers Theorie basiert dagegen auf dem Polytheismus. Auch sein Verständnis der okzidentalen Kultur und der Verantwortungsethik geht von dieser Annahme aus. Pantheismus und Polytheismus werden häufig synonym verwendet. Diese Gleichsetzung ist unproblematisch, wenn man diese Begriffe als Gegensatz zum Monotheismus verwendet. Der Unterschied zwischen Pantheismus und Polytheismus ist aber entscheidend für das Verständnis der Gesellschaftstheorien von Simmel und Weber. In einer bekannten Passage seines Vortrags „Wissenschaft als Beruf“ bringt Weber den Polytheismus ganz mythologisch zum Ausdruck: „Der alte Mill, dessen Philosophie ich sonst nicht loben will, aber in diesem Punkt hat er recht, sagt einmal: wenn man von der reinen Erfahrung ausgehe, komme man zum Polytheismus. [...] Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte, und dann dem Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute. [...] Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“63

In dieser Passage leitet Weber den Polytheismus aus „der reinen Erfahrung“ her. Man muß aber sagen, daß – aus dem Blickwinkel der „Wertbezogenheit“ betrachtet – eine solche Ableitung nicht aus der Empirie an sich gewonnen werden kann. Denn Erfahrung läßt sich nur vom Gesichtspunkt eines Wertes her konstruieren. In der Tat weist Weber – nachdem er den absoluten Polytheismus und J. S. Mill eingeführt hat – im „Wertfreiheits“-Aufsatz darauf hin: „Zwischen diesen [Werten] gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Wohlgemerkt: dem Sinn nach nicht. Denn es gibt sie, wie jedermann im Leben erfährt, der Tatsache und folglich dem äußeren Schein nach, und zwar auf Schritt und 64 Tritt“. Weber muß von überempirischen Prämissen ausgehen, wenn er das „Verflachende des ‚Alltags‘“ dahingehend beschreibt, „daß der in ihm dahinlebende Mensch sich dieser teils psychologisch, teils pragmatisch bedingten Vermengung todfeindlicher Werte nicht bewußt wird und vor allem: auch gar nicht

63

WL, S. 603-605. Auch in „Zwischen zwei Gesetzen“ (1916) schreibt Weber: „Der alte nüchterne Empiriker John Stuart Mill hat gesagt: rein vom Boden der Erfahrung aus gelange man nicht zu einem Gott – mir scheint: am wenigsten zu einem Gott der Güte –, sondern zum Polytheismus. In der Tat: wer in der ‚Welt‘ (im christlichen Sinne) steht, kann an sich nichts anderes erfahren als den Kampf zwischen einer Mehrheit von Wertreihen, von denen eine jede, für sich betrachtet, verpflichtend erscheint“ (PS, S. 145). Vgl. Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 1, S. 281-282. 64 WL, S. 507.

2. Webers ambivalente Stellung zu Simmel

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bewußt werden will“.65 Der Polytheismus ist also – wenn man der perspektivistischen Erkenntnistheorie folgt – kein Endpunkt der empirischen Forschung, sondern der Ausgangspunkt.66 Daß Weber an der Trennung vom subjektiv gemeinten Sinn und objektiv gültigen Sinn festhält, kann auch im Zusammenhang mit dieser antagonistischen Wertlehre verstanden werden. Bezüglich der Differenz zwischen „subjektiv zwekkrational orientierte[m] und am objektiv Gültigen ‚richtig‘ orientierte[m] (‚richtigkeitsrationale[m]‘) Handeln“67 weist Weber darauf hin: „An magischen Vorstellungen orientiertes Handeln beispielsweise ist subjektiv oft weit zweckrationaleren Charakters als irgendein nicht magisches ‚religiöses‘ Sichverhalten, da die Religiosität ja gerade mit zunehmender Entzauberung der Welt zunehmend (subjektiv) zweckirrationalere Sinnbezogenheiten (‚gesinnungshafte‘ oder mystische z. B.) anzunehmen genötigt ist.“68 Es geht hier nicht um die Differenz zwischen „subjektivem“ und „objektivem“ Sinn schlechthin, sondern um die Diskrepanz zwischen den Wertsphären. Konkret gesagt, um die Diskrepanz zwischen religiöser und ökonomischer Rationalität, aus welcher jene Differenz resultiert. In der „Religionssoziologie“ von Wirtschaft und Gesellschaft drückt Weber denselben Sachverhalt anders aus: „der ‚Sinn‘ des spezifisch religiösen Sichverhaltens wird, parallel mit jener Rationalisierung des Denkens, zunehmend weniger in rein äußeren Vorteilen des ökonomischen Alltags gesucht, und insofern also das Ziel des religiösen Sichverhaltens ‚irrationalisiert‘, bis schließlich diese ‚außerweltlichen‘, d. h. zunächst: außerökonomischen Ziele als das dem religiösen Sichverhalten Spezifische gelten.“69 So bezieht sich das „Zurücktreten jenes

65

WL, S. 507. Webers Verständnis der „empirischen“ Betrachtung setzt einen polytheistischen Standpunkt voraus, wenn er feststellt, daß „1. die unvermeidlichen Mittel und 2. die unvermeidlichen Nebenerfolge, 3. die dadurch bedingte Konkurrenz mehrerer möglicher Wertungen miteinander in ihren praktischen Konsequenzen das einzige sind, was eine empirische Disziplin mit ihren Mitteln aufzeigen kann“ (WL, S. 508). 67 WL, S. 433. 68 WL, S. 433. 69 WuG, S. 259. In der „Zwischenbetrachtung“ versteht Weber dieselbe „Entzauberung“ im Rahmen des Gegensatzes zwischen naturwissenschaftlicher und religiöser Rationalisierung. „Wo immer aber rational empirisches Erkennen die Entzauberung der Welt und deren Verwandlung in einen kausalen Mechanismus konsequent vollzogen hat, tritt die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulates: daß die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, endgültig hervor“ (RS I, S. 564. vgl. auch WuG, S. 308; WL, S. 333). Auch hier geht es um das Spannungsverhältnis zwischen den Werten, das dem Gegensatz zwischen subjektivem und objektivem Sinn zugrunde liegt. 66

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

ursprünglichen praktischen rechnenden Rationalismus“70 nicht auf die subjektive Irrationalisierung, sondern auf die ökonomische Irrationalisierung. Innerhalb der pantheistischen Weltanschauung konvergieren Gegensätze in einer tiefer liegenden Einheitlichkeit, in welcher die Diskrepanz zwischen subjektivem und objektivem Sinn aufgelöst ist. Im Polytheismus – zumindest bei Max Weber – geht es dagegen weder um die Pluralität der Götter noch um ihre Wechselwirkung, sondern vielmehr darum, daß „die verschiedenen Wertordnun71 gen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen“. Daraus folgt Webers Behauptung, daß der „Richtigkeitstypus, also faktische objektive Richtigkeitsrationalität“ von „subjektiv zweckrationalem, d. h. nach eindeutig vollbewußten Zwecken und vollbewußt als ‚adäquat‘ gewählten Mitteln orientiertem Handeln“ zu unterscheiden ist.72 Diese Unterscheidung von Subjektivität und Objektivität setzt die ontologische Annahme des antagonistischen Polytheismus voraus.

Exkurs: Baudelaire bei Habermas, Simmel und Weber Weber erwähnt in „Wissenschaft als Beruf“ Charles Baudelaire, um seine polytheistische Wertlehre zu verdeutlichen. Er sieht in Baudelaire und Nietzsche die Abkehr vom Einheitsideal des Guten, Wahren und Schönen.73 Zur Veranschaulichung dieser Interpretation der Baudelaireschen Poetik soll zunächst eine exemplarische Stelle der „Hymne an die Schönheit“ aus den Blumen des Bösen zitieret werden. „Kommst du vom Himmel, aus der Höll’ empor? Gleichviel, maßloses Ungeheuer, Schönheit! Ist mir dein Aug, dein Lächeln doch das Tor Zur teuren, nie erfahrenen Ewigkeit! Von Gott, von Satan, Engel oder Zauberin? Gleichviel, wenn nur dein Duft und deine Pracht,

70

WuG, S. 259. WL, S. 603. 72 WL, S. 434. Auch in bezug auf „Nietzsches Theorie des Ressentiments“ und die „Theorie des ökonomischen Materialismus“ sagt Weber: „In solchen Fällen geraten nun freilich sehr leicht das subjektiv, wenn auch unbemerkt, Zweckrationale und das objektiv Richtigkeitsrationale in eine nicht immer ganz geklärte Beziehung zueinander“ (WL, S. 434). 73 Bezüglich der Beziehung zwischen Baudelaire und Nietzsche vgl. Karl Pestalozzi, Nietzsches Baudelaire-Rezeption, in: Nietzsche-Studien, 7, 1978, S. 158-178. 71

Exkurs: Baudelaire bei Habermas, Simmel und Weber

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Dein Gang, dein samtener Blick, o meine Königin! – Die Welt mir schöner, Zeit mir leichter macht!“74

Auch in seinem „Vorwort der Blumen“ gibt Baudelaire programmatisch Auskunft über seine Poetologie, die mit Webers Baudelaire-Interpretation korrespondiert: „Mir schien es vergnüglich und desto reizvoller, je schwieriger die Aufgabe wurde: Schönheit aus dem Bösen zu gewinnen. Dies Buch, das seinem Wesen nach unnütz und völlig unschuldig ist, wurde einzig dazu geschaffen, mich zu zerstreuen und meiner leidenschaftlichen Lust am Widerstand zu frönen“.75 Baudelaire wendet sich dabei offenkundig gegen „die berüchtigtste Lehre von der unauflöslichen Vereinigung des Schönen, Wahren und Guten“.76 Hinsichtlich der Kritik an diesem platonischen Einheitsideal des Schönen, Wahren und Guten besteht eine grundsätzliche Gemeinsamkeit zwischen Baudelaire, Nietzsche und Weber. Es ist jedoch unverkennbar, daß Webers Blick auf Baudelaire stark durch seinen polytheistischen Standpunkt bestimmt ist. Dieser spezifische Ansatz wird deutlich, wenn Webers Verständnis der Baudelaireschen Poesie mit dem anderer Soziologen verglichen wird. In diesem Exkurs soll die Differenz des BaudelaireBildes bei Habermas, Simmel und Weber herausgearbeitet werden, um die jeweiligen ontologischen Voraussetzungen sichtbar zu machen.

a) Jürgen Habermas: Baudelaire als Symbol der Ausdifferenzierung In Habermas’ Interpretationsrahmen steht Baudelaire exemplarisch für die (ästhetische) Moderne. In seinem Vortrag „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“ (1980) geht er bei seiner Begriffsbestimmung der Moderne von der Feststellung aus: „Wer, wie Adorno, ‚die Moderne‘ um 1850 beginnen läßt, sieht sie mit den Augen Baudelaires und der avantgardistischen Kunst.“77 Habermas identifiziert die „ästhetische Moderne“ mit der Autonomisierung der Kunst und ihrem Heraustreten aus religiösen und politischen Funktionen. Habermas betont jedoch – im Vergleich zur ersten Generation der Frankfurter Schule – das kritische Potential der Ästhetik weniger stark. Er versucht vielmehr das Moment der ästhetischen Moderne in sein „unvollendetes Projekt“ der Moderne 74

Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, Stuttgart, 1998, S. 49. Ebd., S. 369. Vgl. auch Charles Baudelaire, Neue Anmerkungen zu Edgar Poe, in: Vom Sozialismus zum Supranaturalismus/Edgar Allan Poe. 1847-1857, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 2, München/Wien, 1983, S. 357. 76 Charles Baudelaire, Théophile Gautier, in: Aufsätze zur Literatur und Kunst. 1857-1860, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 5, München/Wien, 1989, S. 93. 77 Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, S. 445. 75

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

zu integrieren, indem er seine Diskussion der Moderne auf Max Webers „Zeitdiagnose der Moderne“ stützt. „Max Weber hat die kulturelle Moderne dadurch charakterisiert, daß die in religiösen und metaphysischen Weltbildern ausgedrückte substantielle Vernunft in drei Momente auseinandertritt, die nur noch formal (durch die Form argumentativer Begründung) zusammengehalten werden. Indem die Weltbilder zerfallen und die überlieferten Probleme unter den spezifischen Gesichtspunkten der Wahrheit, der normativen Richtigkeit, der Authentizität oder Schönheit aufgespalten, jeweils als Erkenntnis-, als Gerechtigkeits-, als Geschmacksfragen behandelt werden können, kommt es in der Neuzeit zu 78 einer Ausdifferenzierung der Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst.“ Es ist diese Pluralisierung und Ausdifferenzierung der Subsysteme, die Habermas unter der Formel des „neuen Polytheismus“ bei Weber versteht.79

b) Georg Simmel: Baudelaire als Symbol des Ästhetizismus Simmel selbst erwähnt Baudelaire kaum. Trotzdem ist die Affinität von Baudelaire und Simmel im Interpretationsrahmen des Ästhetizismus und Impressionismus sehr offensichtlich. Beide zeigen hinsichtlich des Verständnisses der Moderne eine große Nähe. In seinem Essay „Der Maler des modernen Lebens“ schreibt Baudelaire: „Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere das Ewige und Unwandelbare ist.“80 Ähnlich formuliert Simmel: „[...] das Wesen der Moderne überhaupt ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unsres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und 81 deren Formen nur Formen von Bewegungen sind.“ Gemeinsam sind ihnen auch Themen, welchen ihr Interesse gilt, wie Großstadt, Geld und Warenwelt, Mode82 und Neurasthenie. Diese Affinität zwischen Simmel und Baudelaire belegt David Frisby sehr anschaulich in einer Studie, die Simmels kultursoziolo-

78

Ebd., S. 452. In Theorie des kommunikativen Handelns zitiert Habermas die Passage, in der Weber Baudelaire erwähnt, und kommt zum Schluß: „die Vernunft selbst spaltet sich in eine Pluralität von Wertsphären auf und vernichtet ihre eigene Universalität“ (Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 337). 80 Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857-1860, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 5, S. 226. 81 Simmel, Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv, in: GSG 12, S. 34-35. 82 Vgl. Werner Gephart, Bilder der Moderne. Studien zu einer Soziologie der Kunstund Kulturinhalte, Opladen, 1998, S. 38-40. 79

Exkurs: Baudelaire bei Habermas, Simmel und Weber

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gische Analyse der Moderne mit Walter Benjamins Werk vergleicht.83 Darin beschreibt er die Moderne unter besonderer Berücksichtigung von Baudelaire und bezeichnet Simmel als den „erste[n] Soziologe[n] der Moderne“. Er bemerkt in diesem Zusammenhang, „daß Simmel bei seiner Behandlung der Moderne dem Baudelaireschen Begriff der Moderne folgte, und nicht der Weberschen 84 Konzeption“. Was dabei mit dem Ausdruck „Webersche Konzeption“ gemeint ist, ist Habermas’ Interpretation, die Moderne als Trennung und Ausdifferenzierung der Wertsphären aufzufassen.85 Frisby weist darauf hin: „Es ist zumindest plausibel zu behaupten, daß, hätte Habermas sich mit Simmels Theorie der Moderne beschäftigt, er mit einer Konzeption der Moderne konfrontiert gewesen wäre, die um den Nachweis der Verankerung der ästhetischen Sphäre in der modernen Lebenswelt bemüht war und nicht die Trennung der ästhetischen Sphäre von anderen Lebensbereichen zu begründen suchte.“86 Im Gegensatz zur Moderne als Differenzierung rückt Frisby „das Flüchtige und Vorübergehende“ als „Kernstück von Simmels Definition der Moderne“ in den Vordergrund, welcher „die metaphysische Annahme von der unablässigen Wechselwirkung zwischen allen Erscheinungen“ zugrunde liegt.87

c) Max Weber: Baudelaire als Symbol des agonistischen Polytheismus Die Passage, in welcher Weber seine polytheistische Wertlehre formuliert, lautet: „Wenn irgend etwas, so wissen wir es heute wieder: daß etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, sondern: weil und insofern es nicht schön ist, – in dem 53. Kapitel des Jesajasbuches und im 22. Psalm können Sie die Belege dafür finden, – 83

Vgl. David Frisby, Fragmente der Moderne. Georg Simmel – Siegfried Kracauer – Walter Benjamin, Rheda-Wiedenbrück, 1989. 84 David Frisby, Goerg Simmels Theorie der Moderne, S. 16. 85 Vgl. Jürgen Habermas, Simmel als Zeitdiagnostiker, in: Georg Simmel, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin, 1998, S. 7-17. 86 David Frisby, Goerg Simmels Theorie der Moderne, S. 15-16. Vgl. Frisby, Die Ambiguität der Moderne: Max Weber und Georg Simmel, in: Mommsen/Schwentker (Hrsg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, S. 589-590. 87 Frisby, Goerg Simmels Theorie der Moderne, S. 69. Es ist aber festzustellen, daß die Differenzierungstheorie, die Habermas am Beispiel Baudelaires entwickelt, und das von Frisby vertretene ästhetizistische Moderneverständnis sich nicht grundlegend widersprechen. Ohne die Pluralisierung und Differenzierung der Gesellschaft wäre es unmöglich, die Moderne im Sinne Frisbys in rein ästhetischer Weise aufzufassen. Die vorliegende Arbeit ist daher der Ansicht, daß sich die soziale Differenzierung und die flüchtige Ästhetisierung in Simmels Theorie miteinander verbinden.

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

und daß etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist, das wissen wir seit Nietzsche wieder, und vorher finden Sie es gestaltet in den ‚Fleurs du mal‘, wie Baudelaire seinen Gedichtband nannte, – und eine Alltagsweisheit ist es, daß etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist.“88

Hier geht es weder um die Pluralisierung der Götter und die Ausdifferenzierung der Subsysteme im Habermasschen Sinne noch um die ewige Wechselwirkung, die Frisby in seiner Simmel-Interpretation darstellt. Mit der Metapher „Kampf der Götter“, die er in bezug auf Baudelaire formuliert, spricht Weber vom Spannungsverhältnis. Weber liest in Baudelaire das Moment des Wertkonfliktes heraus, weil er dessen Werk unter der Prämisse des antagonistischen Polytheismus interpretiert, aufgrund dessen Grundlage er die okzidentale Kultur einerseits und die Verantwortungsethik andererseits diskutiert.

3. Zweierlei „Soziologien des Streites“ In Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung befaßt sich Georg Simmel mit dem „Streit“. Er gilt mit diesem Beitrag als Begründer der „Soziologie des Streites“ und übt bis heute einen maßgeblichen Einfluß auf die Konflikttheorien aus, die sich gegen das Paradigma von Talcott Parsons wenden.89 Ebenso intensiv diskutiert Max Weber die Thematik von Kampf und Spannung, wobei er – in Übereinstimmung mit Simmel – den Konflikt nicht negativ bewertet. Die vorliegende Arbeit richtet jedoch die Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen Weber und Simmel bezüglich ihres Verständnisses des Kampfes, die erst sichtbar wird, wenn man ihre Differenz auf der Ebene der ontologischen Annahmen berücksichtigt.

88 WL, S. 603-604. An anderer Stelle zitiert Weber Baudelaire mit dessen Worten der „heiligen Prostitution der Seele“ (vgl. RS I, S. 546; WuG, S. 355; SS, S. 467). Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph.39, in: KSA 5, S. 56-57: „die lieblichen ‚Idealisten‘ [...] für das Gute, Wahre, Schöne schwärmen und in ihrem Teiche alle Arten von bunten plumpen und gutmüthigen Wünschbarkeiten durcheinander schwimmen lassen. [...] Etwas dürfte wahr sein; ob es gleich im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre; ja es könnte selbst zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner völligen Erkenntnis zu Grunde ginge [...]. [...] keinem Zweifel unterliegt es, dass für die Entdeckung gewisser Theile der Wahrheit die Bösen und Unglücklichen begünstiger sind und eine grössere Wahrscheinlichkeit des Gelingens haben“. 89 Vgl. Lewis A. Coser, Theorie sozialer Konflikte, Neuwied/Berlin, 1972; Ralf Dahrendorf, Die Funktionen sozialer Konflikte, in: Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, München, 1968, S. 263-277.

3. Zweierlei „Soziologien des Streites“

129

Georg Simmel faßt den Streit als eine „Gesellschaftsform“ auf und hebt „das positive Moment“ des Streites hervor, „das sich mit seinem Vereinungscharakter zu einer nur begrifflich, aber nicht tatsächlich auseinanderzutrennenden Einheit 90 verflicht“. So behauptet er: „Der Kampf selbst ist schon die Auslösung der Spannung zwischen den Gegensätzen; daß er auf den Frieden ausgeht, ist nur ein einzelner, besonders naheliegender Ausdruck dafür, daß er eine Synthese von Elementen ist, ein Gegeneinander, das mit dem Füreinander unter einen höheren Begriff gehört.“91

Im Gegensatz zum Verständnis, daß Kampf als negativ beseitigt werden muß, erkennt Simmel, daß im Kampf selbst das Moment angelegt ist, durch das die Gegensätze zu einer höheren Stufe bzw. zur Synthese gebracht werden. Es ist Simmel gelungen, damit eine neue Möglichkeit der Konfliktlösung zu eröffnen, die durch das harmonische Gesellschaftsbild versperrt war. Es ist also kein Zufall, daß man heutzutage die Aufmerksamkeit erneut auf Simmels Konflikttheorie richtet, um im Gegensatz zur kommunitaristischen konsensuellen Integration über soziale Integration zu diskutieren.92 Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß dieser weitreichenden soziologischen Einsicht Simmels der ästhetische Ansatz zugrunde liegt, nach dem sowohl Kunstwerke als auch die Gesellschaft aus der Perspektive von Differenzierung, Pluralisierung und spielerischer Komposition betrachtet werden. In der Tat ist Simmels Verständnis des Kampfes parallel zu seinem Verständnis der Kunst. Im Kapitel „Streit“ der Soziologie erwähnt Simmel Raphael und weist darauf hin, daß „die heilige Versammlung der Kirchenväter in Raphaels Disputa sich, wenn nicht als wirklicher Streit, so doch als eine erhebliche Verschiedenheit von Stimmungen und Denkrichtungen darstellt, aus der die ganze Lebendigkeit und der wirkliche, organische Zusammenhang jenes 93 Zusammenseins quillt.“ Im „Michelangelo“-Aufsatz schreibt Simmel weiter: „daß die besondere Art, auf die die Gegensätze hier zur künstlerischen Einheit gelangen, der Kampf ist“.94 Weber definiert in seinen „Soziologische[n] Grundbegriffe[n]“ den Kampf als „eine soziale Beziehung“, in der „das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eignen Willens gegen Widerstand des oder der Partner orientiert ist“.95

90

Simmel, Soziologie, GSG 11, S. 284-285. Simmel, Soziologie, GSG 11, S. 284. 92 Vgl. Helmut Dubiel, Integration durch Konflikt?, in: Jürgen Friedrichs/Wolfgang Jagodzinski (Hrsg.), Soziale Integration, KZfSS Sonderheft, Opladen/Wiesbaden, 1999, S. 132-143. 93 Simmel, Soziologie, GSG 11, S. 286. 94 Simmel, Michelangelo, in: GSG 14, S. 317. 95 WuG, S. 20. 91

130

V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

Neben dieser handlungstheoretischen Orientierung96 weicht Webers Diskussion über den Kampf von Simmels Soziologie des Streites in zweierlei Hinsicht ab. Zum einen hält Weber am Kampf als solchem fest. Simmel diskutiert – wie schon gesagt – den Konflikt im Zusammenhang mit der höheren Einheitlichkeit bzw. Versöhnung. Für ihn bedeutet der Widerspruch ein Weg von der geschlossenen zur entfalteten Einheit, denn: „erst in der Verfestigung zu entgegengesetzten, einander eigentlich ausschließenden Verfassungen entsteht der Wider97 spruch.“ Diese „Verfestigung“ der Positionen wird freilich in Simmels dialektischen Denken aufgelöst. Weber behauptet gewiß nicht: „es gibt keinerlei Standpunkt, von dem aus sie[Konflikte] als ‚aufgehoben‘ gelten könnten“. Er geht jedoch von der Annahme aus, daß die „innerlichen Konflikte möglich und ‚adäquat‘“ sind.98 Wie dargelegt, versucht Weber immer wieder das Moment der Spannung in den Vordergrund zu rücken. In diesem Grundschema hält er am Kampf als solchem fest, ohne auf eine höhere Versöhnung abzuzielen. Es ist also eine entscheidende Frage, warum Weber sich insbesondere am Moment des Konfliktes orientiert.99 Das zweite Charakteristikum liegt darin, daß Weber nicht der Logik von Spaltung und Vereinigung, sondern den „Kampf- und Konkurrenzbedingungen“ nachgeht.100 Simmel geht es um die oben aufgezeigte Logik, weshalb er strikt „analogisch“ argumentiert. Weber befaßt sich hingegen mit der vergleichenden Kultursoziologie, die einer Dimension nachgeht, die im Rahmen des Analogismus übersehen werden muß. Die vorliegende Arbeit hat bereits aufgezeigt, daß die okzidentale Kultur in Webers Werk durch eine bestimmte Art der Spannung charakterisiert wird. Ohne Zweifel gab und gibt es auch in China Spannungen und Konflikte. Weber hat jedoch erstmals das spezifisch okzidentale Spannungsverhältnis sichtbar gemacht, das von dem Spannungsverhältnis in anderen Kulturkreisen zu unterscheiden ist, indem er auf die „Bedingungen“ der Spannung und des Konfliktes eingeht. Nach Weber liegt der chinesischen Kultur – wie bereits erläutet – eine harmonische Weltanschauung zugrunde. Indem sie mit der harmonischen Gesamtordnung in Einklang steht, verselbständigt sich auch die ästhetische Sphäre nicht als solche. Diese ästhetische Kultur umschreibt Weber wie folgt: Es „verharrten 96

Vgl. Werner Gephart, Handeln und Kultur, S. 78-83. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, in: GSG 16, S. 217-218. 98 RS I, S. 537. 99 In Kapitel VI und VII der vorliegenden Arbeit wird dieser Frage nachgegangen. Die ontologische Annahme kann zwar – insofern sie ontologisch ist – nicht mehr hinterfragt werden, es soll jedoch ihre Genese (vgl. Kapitel VI) und ihre Bedeutung als Gesellschaftstheorie (vgl. Kapitel VII) erläutert werden. 100 WuG, S. 20. 97

3. Zweierlei „Soziologien des Streites“

131

gerade die feinsten [...] Blüten der literarischen Kultur gewissermaßen taubstumm in ihrer seidenen Pracht.“101 So steht das Ästhetische der chinesischen Kultur „im Sinne eines klassischen, ewig gültigen, seelischen Schönheitskanons“102 dem okzidentalen Kunstverständnis diametral gegenüber.103 Politik und Ästhetik sind in China miteinander verschmolzen, wie Weber an folgendem Beispiel verdeutlicht: „Wenn Sie die Tagebücher des Li-Hung-Tschang lesen, finden Sie, daß noch er am meisten stolz darauf ist, daß er Gedichte machte und ein guter Kalligraph war.“104 Das „Vornehmheitsideal des allseitig gebildeten konfuzianischen ‚Gentleman‘“105 ist ein spezifisch chinesischer „ästhetischer Wert“.106 Diese Verschmelzung hat – Webers Ansicht nach – weltgeschichtlich eine weitreichende Bedeutung. Er schreibt weiter: „Diese Schicht mit ihren an der chinesischen Antike entwickelten Konventionen hat das ganze Schicksal Chinas bestimmt, und ähnlich wäre vielleicht unser Schicksal gewesen, wenn die Humanisten seinerzeit die geringste Chance gehabt hätten, mit gleichem Erfolge sich durchzusetzen.“107 Das Schicksal einer Kultur gründet sich also auf die Art der Spannung bzw. des Kampfes, die durch die Bedingungen der Ordnung vorbestimmt ist. Im Falle Chinas bedeutet das: „der Agon der Herrenschicht mündete innerhalb der Verhältnisse der Patrimonialbürokratie gänzlich in die Pfründnerund literarische Graduierten-Konkurrenz aus, die alles andere erstickte.“108 Nach Weber liegt die Problematik der chinesischen Kultur in der Eindimensionalität der Karrierekonkurrenz, die aus der Undifferenziertheit und Spannungslosigkeit der Wertsphären resultiert. Unter den spezifischen Bedingungen der chinesischen Ordnung führt Konkurrenz nicht zu einem politisch-pluralistischen Raum im

101

RS I, S. 413. RS I, S. 420. 103 Vgl. Werner Gephart, Religion und Ästhetik. Zur Soziologie der Kunst im Werk Max Webers, in: Handeln und Kultur, S. 121-144. 104 PS, S. 522. Vgl. auch RS I, S. 420: „Daß [...] die Geister die ‚Güte‘ im Sinn der sozialethischen Tüchtigkeit belohnen, war seit der Han-Zeit spätestens feststehender Glaube der Literaten. Güte, temperiert durch klassische (= kanonische) Schönheit, war daher das Ziel der Selbstvervollkommnung. Kanonisch vollendete schöne Leistungen waren, wie der letzte Maßstab der höchsten Prüfungsqualifikation, so die Sehnsucht jedes Scholaren. Ein vollkommener Literat, das heißt, ein (durch Erringung der höchsten Grade) ‚gekrönter Dichter‘ zu werden, war der Jugendehrgeiz Li Hung Tschangs’: daß er ein Kalligraph von großer Meisterschaft ist, daß er die Klassiker, vor allem des Konfuzius ‚Frühling und Herbst‘ [...] wörtlich hersagen kann, blieb sein Stolz und war für seinen Oheim, nachdem er dies erprobt, Anlaß, ihm seine Jugenduntugenden zu verzeihen und ein Amt zu verschaffen.“ 105 RS I, S. 449. 106 RS I, S. 535. 107 PS, S. 522. 108 RS I, S. 439. 102

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

„okzidentalen“ Sinne, sondern zur Erstickung dieses Raums. In dieser „Erstarrung“ erkennt Weber das wesentliche Merkmal der chinesischen Kultur. Auch in bezug auf die Herausbildung eines „einheitlichen Reich[es]“ als „Folge des orientalischen Patrimonialismus und seiner Geldpfründen“ schreibt Weber: „Gerade mit Fortschreiten der Geldwirtschaft und gleichmäßig damit zunehmender Verpfründung der Staatseinnahmen sehen wir deshalb in Aegypten, in den Islamstaaten und in China [...] jene Erscheinung eintreten, welche man als 109 ‚Erstarrung‘ zu werten pflegt“. Hier wird deutlich, daß Weber das Phänomen der „Erstarrung“ nicht nur in China findet, sondern auch in jeder Ordnung, in der es am Spannungsverhältnis der Wertsphären fehlt. In dieser Hinsicht werden China und Ägypten in dieselbe Kategorie subsumiert. Bemerkenswert ist jedoch vor allem, daß Weber in der protestantischen Moderne, die aus der religiös motivierten Beseitigung des als Spannungsverhältnis zutage getretenen Dualismus hervorging, dieselbe Problematik erkennt. So charakterisiert er am Ende seiner Protestantismusstudie prophetisch den „letzten Menschen“ in der Zukunft der modernen Gesellschaft als „mechanisierte Versteinerung“.110 Bei der okzidentalen Kultur richtet Weber die Aufmerksamkeit auf die „besondere soziale Bedingungen für die hochgradig agonale Ausgestaltung der Kunstübung“.111 „Das dem Okzident Spezifische“ manifestiert sich Weber zufolge am Selbstverständnis der „okzidentalen Künstler“ und ihrem „kulturhistorisch und sozial bedingten, durchaus rationalistischen Ehrgeiz[es]: ihrer Kunst Ewigkeitsbedeutung und sich selbst soziale Geltung dadurch zu gewinnen, daß sie sie zum gleichen Rang wie eine ‚Wissenschaft‘ erhöben“.112 Hinsichtlich der Entstehung des polytheistischen Antagonismus ist diese „Erhebung“ entschei109

RS I, S. 348. RS I, S. 204. Es ist nicht zu übersehen, daß diese Nietzscheanisch anmutende Prognose der Moderne mit Webers Analyse der chinesischen Ordnung in Verbindung steht. Er hatte in der Tat 1905 den Ausdruck „chinesische Versteinerung“ verwendet (vgl. PE, S. 202 [442]) und diesen erst 1920 in „mechanisierte Versteinerung“ abgeändert. 111 RS I, S. 439. 112 RS I, S. 439. Von dieser „Erhebung“ spricht Weber auch in „Wissenschaft als Beruf“. Er erwähnt in diesem Zusammenhang „Lionardos Malerbuch“ (WL, S. 597). Vgl. Lionardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, Wien, 1882, S. 10-11: „Willst du die Malerei geringschätzen, welche einzig Nachahmerin aller sichtbaren Naturwerke ist, so wirst du sicher eine feine Erfindung missachten, die mit philosophischer und subtiler Speculation alle Eigenschaften und Arten der Formen in Betrachtung zieht [...]. Und wahrlich, die ist eine Wissenschaft und ist rechtmässige Tochter der Natur, oder wir wollen, um es richtiger ausdrücken, sagen: Enkelin derselben; denn alle sichtbaren Dinge sind von der Natur geboren, und aus ihnen ist die Malerei hervorgegangen.“ Es ist allerdings nicht zu übersehen, daß die „Erhebung“ der Kunst zum Rang der Wissenschaft nicht identisch mit der Domination der Kunst ist. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß Jaspers Leonaldo da Vinci (und Weber) als „Fragmentarier“ be110

3. Zweierlei „Soziologien des Streites“

133

dend. Denn: „Soll nun ein Zwiespalt zwischen Kunst und Wahrheit sein können, dann muß zuerst die Kunst zum gleichen Rang mit der Wahrheit hinaufgesetzt werden.“113 Der chinesischen Kultur „fehlte jeder dieser Antriebe zum rationalistischen Ehrgeiz (im Sinne der okzidentalen Renaissance)“,114 die Kunst in den Rang der Wissenschaft zu erheben, so daß eine Wertkollision in der Art des Okzidents nicht zustande kommen konnte. Daraus resultiert die chinesische „Versteinerung“. Webers Blick auf die Differenz zwischen der chinesischen und okzidentalen Kultur bezüglich des Kampfes korrespondiert mit seiner Analyse der zeitgenössischen politischen Kultur Deutschlands. Er postuliert: „das Wesen aller Politik ist [...] Kampf, Werbung von Bundesgenossen und von freiwilliger Gefolgschaft“, und fährt fort: „und dazu, sich in dieser schweren Kunst zu üben, bietet die Amtslaufbahn des Obrigkeitsstaats nun einmal keinerlei Gelegenheit. Für Bismarck bot bekanntlich der Frankfurter Bundestag die Schule. Im Heer ist die Schulung eine solche für den Kampf und kann militärische Führer gebären. Für den modernen Politiker aber ist der Kampf im Parlament und für die Partei im Lande die gegebene Palästra, die durch nichts anderes – am wenigsten durch die Konkurrenz um Avancement – gleichwertig zu ersetzen ist.“115 Hier unterscheidet Weber den Kampf zwischen politischen Akteuren von der „Konkurrenz um Avancement“ in der Bürokratie, wobei Ersterer der okzidentalen, und Letztere der chinesischen Kultur entspricht. Der grundlegende Unterschied zwischen Kampf und Konkurrenz ist auf den Modus des Verhältnisses der Werte zurückzuführen. Werden verschiedene Werte eindimensional harmonisiert, wird der Kampf zur „Konkurrenz um Avancement“. Stehen sich die Werte jedoch als Gegensätze gegenüber, wird die Auseinandersetzung zum „politischen“ Kampf.116 Max Webers Begriff der Politik im strengen Sinne bezieht sich auf diese Art der Wertkollision: „Das Kennzeichen des sozialpolitischen Charakters eines zeichnet (vgl. Karl Jaspers, Lionardo als Philosoph, Bern, 1953, S. 64; ders., Max Weber, S. 40). 113 Martin Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, S. 234. 114 RS I, S. 439. 115 PS, S. 347. 116 Man hat bis dato keine Aufmerksamkeit auf Webers Hinweis gerichtet, daß der „Demagoge“ nur im Okzident entstand. Weber schreibt: „Dem Okzident eigentümlich ist aber, was uns näher angeht: das politische Führertum in der Gestalt zuerst des freien ‚Demagogen‘, der auf dem Boden des nur dem Abendland, vor allem der mittelländischen Kultur, eigenen Stadtstaates, und dann des parlamentarischen ‚Parteiführers‘, der auf dem Boden des ebenfalls nur im Abendland bodenständigen Verfassungsstaates gewachsen ist“ (PS, S. 508). Ein Begriff der Politik, der sich auf den „Demagogen“ bezieht, ist weder in der chinesischen noch in der indischen Ordnung denkbar. Die „okzidentale“ Kultur ist daher als „politisch“ in strengen Sinne zu bezeichnen. Vgl. auch PS, S. 525; WL, S. 483; RS III, S. 281-292.

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

Problems ist es ja geradezu, daß es nicht auf Grund bloß technischer Erwägungen aus feststehenden Zwecken heraus zu erledigen ist, daß um die regulativen Wertmaßstäbe selbst gestritten werden kann und muß, weil das Problem in die 117 Region der allgemeinen Kulturfragen hineinragt.“ Diese grundlegende Differenz wird erst sichtbar, indem Weber – im Gegensatz zu Simmel – den Bedingungen des Kampfes nachgeht. Diesen Ansatz kann Simmel nicht verfolgen, aufgrund seiner pantheistischen Annahme, die zum „Analogismus“ führt.118 Weber weist darauf kritisch hin: „in G. Simmels ‚Philosophie des Geldes‘ ist ‚Geldwirtschaft und Kapitalismus‘ viel zu sehr gleichgesetzt, zum Schaden auch der sachlichen Darlegungen“.119 Für Weber, der die Aufmerksamkeit auf die Lebensführung als die Gesamtheit der kulturellen Bedingungen des modernen Kapitalismus richtet, ist die Differenz zwischen Geldwirtschaft und Kapitalismus entscheidend, während sie für Simmel indifferent ist. 4. Webers Distanz zum Ästhetizismus und gleichrangiger Gegensatz von Verantwortungs- und Gesinnungsethik Es ist bereits dargelegt worden, daß Webers Theorie der Politik bzw. sein Begriff der Verantwortungsethik – im Gegensatz zur moralistischen Politik des asketischen Protestantismus – eine Verwandtschaft mit dem „Ästhetischen“ aufweist, insofern sie eng mit der Pluralisierung und Komposition verbunden ist. Aber im Vergleich zwischen den Konflikttheorien Webers und Simmels zeigt sich nun, daß der polytheistische Kampf Webers nicht gänzlich ästhetisiert wird, während der pantheistische Kampf Simmels durchaus ästhetisch ist. Zwar ist Webers Theorie der Politik zum einen durch die Ästhetisierung charakterisiert, die im Gegensatz zum Panmoralismus steht. Aber sie distanziert sich zum anderen vom Ästhetizismus, insofern Weber das Ästhetische nur auf eine Sphäre begrenzt,

117 WL, S. 153. Vgl. auch Brief an Else Jaffé vom 13. September 1907: „Fachwissen ist Technik, lehrt technische Mittel. Wo aber um Werthe gestritten wird, da wird das Problem in eine ganz andre, jeder ‚Wissenschaft‘ entzogene Ebene des Geistes projiziert“ (MWG II/5, S. 403). 118 Im Kapitel „Streit“ der Soziologie behandelt Simmel die indische Gesellschaft. Seine Diskussion ist jedoch so analogisch, daß der Charakter des Kastensystems, den Weber herausgearbeitet hat, übergangen wird: „Auf der andern Seite tritt die durchaus positive und integrierende Rolle des Antagonismus an Fällen hervor, wo die Struktur durch die Schärfe und sorgfältig konservierte Reinheit sozialer Einteilungen und Abstufungen charakterisiert wird. So beruht das indische Sozialsystem nicht nur auf der Hierarchie der Kasten, sondern auch direkt auf ihrer gegenseitigem Repulsion“ (GSG 11, S. 288). 119 RS I, S. 5, Anm.

4. Webers Distanz zum Ästhetizismus

135

die nicht auf das Ganze übergreift, sondern im Spannungsverhältnis mit den anderen Sphären steht. Simmel behandelt dagegen die verschiedenen Themen innerhalb der ästhetischen Sphäre. Diesem Ansatz entsprechend, diskutiert Simmel nicht über den Konflikt zwischen den Sphären. Er schreibt: „Die Wirklichkeit ist keineswegs die Welt schlechthin, sondern nur eine, neben der die Welt der Kunst wie die der Religion steht, aus dem gleichen Material nach anderen Formen, von anderen Voraussetzungen aus zusammengebracht. [...] Das religiöse Leben schafft die Welt noch einmal, es bedeutet das ganze Dasein in einer besonderen Tonart, so daß es seiner reinen Idee nach mit den nach anderen Kategorien erbauten Weltbildern sich überhaupt nicht kreuzen, ihnen nicht wi120 dersprechen kann“. Auch in seiner Lebensphilosophie geht es nicht um den Konflikt zwischen den Formen, sondern um den Widerspruch zwischen Leben und Form. Webers Perspektive auf das Spannungsverhältnis der Wertsphären offenbart sich vor allem in der Gegenüberstellung zum Platonismus. In „Euthyphron“ thematisiert Platon zwar den Streit um Werte: „Worüber also müßten wir uns wohl streiten und zu was für einer Entscheidung nicht kommen können, um uns zu erzürnen und einander feind zu werden? Vielleicht fällt es dir eben nicht bei: allein laß mich es aussprechen und überlege, ob es wohl dieses ist, das Gerechte und Ungerechte, das Edle und Schlechte[bzw. Schöne und Häßliche], das Gute und Böse. Sind nicht dies etwa die Gegenstände, worüber streitend und nicht zur völligen Entscheidung gelangend, wir einander feind werden, sooft wir es werden, du und ich sowohl als auch alle übrigen Menschen?“ (7c-d)121 Doch ist unverkennbar, daß Platon aufgrund seiner Annahme der Koinzidenz des Guten, Wahren und Schönen hier nicht eine Wertkollision im Sinne Webers meint. Ebenso wie Kierkegaard, Baudelaire und Nietzsche geht es Weber nicht um den Streit zwischen „Gut und Böse“ in der moralischen Sphäre, sondern um den Kampf zwischen den Wertsphären, wo die moralische Sphäre im Widerstreit mit anderen Sphären steht. Es ist hier festzustellen, daß Webers Distanzierung zum Ästhetischen aus seinem Plädoyer für den Kampf als solchen resultiert. Das Bündnis von Politik und Ästhetik bei Weber formt sich – wie bereits dargelegt – als Gegensatz zum Panmoralismus, um das Moment des Spieles bzw. der Spannung zu retten. Dieses Bündnis wird nun aufgrund desselben Standpunktes wieder aufgelöst. Denn der Panästhetizismus bedroht ebenso wie der Panmoralismus die Spannung zwischen den gleichrangigen Wertsphären.122 Die völlige Ästhetisierung der

120

Simmel, Die Religion, in: GSG 10, S. 43-45. Platon, Euthyphron, in: Werke, Bd. 1, Darmstadt, 1977, S. 369. 122 Die Kritik an Simmels Ästhetizismus bezieht sich hauptsächlich auf den Verlust des „moralischen Gehalt[es] der sozialen Wirklichkeit“. So schreibt beispielsweise Sibylle 121

136

V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

Moderne führt zur Beseitigung des Kampfes in diesem Sinne. Diesbezüglich weist Carl Schmitt darauf hin: „der Weg vom Metaphysischen und Moralischen zum Ökonomischen geht über das Ästhetische, und der Weg über den noch so sublimen ästhetischen Konsum und Genuß ist der sicherste und bequemste Weg zur allgemeinen Ökonomisierung des geistigen Lebens und zu einer Geistesverfassung, die in Produktion und Konsum die zentralen Kategorien menschlichen 123 Daseins findet.“ Schmitt polemisiert gegen den Ästhetizismus im Zusammenhang mit der Ökonomisierung oder der monistisch utilitaristischen Tendenz, die beide auf die Beseitigung des polyperspektivischen Streites abzielen. Zwar liegt das Wesen des Ästhetischen im Moment der Differenzierung und Pluralisierung. Aber wenn das Prinzip des Ästhetischen verabsolutiert wird, wird dem Kampf der Sphären der Boden entzogen und so die Möglichkeit genommen, ästhetische Werte sozusagen von außen in Frage zu stellen. Dies ist die Spannung zwischen den Wertsphären, auf welche Weber die Aufmerksamkeit richtet. Gegenüber dem ästhetischen Monolith versucht Weber das Moralische zu retten, während er angesichts des moralischen Monoliths dem Ästhetischen beisteht.124 Zweifellos ist das wesentliche Fundament Max Webers der polyperspektivische Antagonismus, der von ästhetischen „Gegensätze[n] und Kontraste[n]“ unterschieden werden muß.125 Sein Begriff des Kampfes ist im strengen Sinne weder Spiel der Bestandteile eines Kunstwerkes noch Gegensatz zwischen Schön und Häßlich, sondern Kampf zwischen Moral und Ästhetik. Es geht nicht um den Gegensatz innerhalb ein und derselben Sphäre, sondern um die Spannung zwischen den Sphären. Der so verstandene polytheistische Kampf bei Max Weber bezieht sich auf seine Diskussion um das Begriffspaar von Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Viele Interpreten haben die Verantwortungsethik einseitig hervorgehoben, was Hübner-Funk: „Die theoretische Legitimation der nationalsozialistischen Rassenlehre beispielsweise entstammte zu einem nicht unbeträchtlichen Teil einer Ästhetisierung des Klassenkampfes, einer Behandlung der sozialen Probleme auf dem Niveau von Geruchsund Schönheitsfragen. Dafür liefert Hitlers Programmschrift ‚Mein Kampf‘ zahlreiche Belege“ (Sibylle Hübner-Funk, Ästhetizismus und Soziologie bei Georg Simmel, S. 49). 123 Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: Der Begriff des Politischen, S. 83. 124 Auch Carl Schmitt geht es um die moralische Entscheidung, die durch die Ästhetisierung der Politik bedroht ist, wenn er die Politik durch den Begriff „Freund und Feind“ charakterisieren will. Schmitt versucht den moralischen „Ernst“ zu retten, indem er die Politik verteidigt, wie Leo Strauss zu Recht bemerkt: „Die Bejahung des Politischen ist zuletzt nichts anderes als die Bejahung des Moralischen“ (Leo Strauss, Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, S. 233. Vgl. Schmitt, Hinweisen, in: Der Begriff des Politischen, S. 120). 125 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 36. Vgl. ders., Politische Romantik, S. 21.

4. Webers Distanz zum Ästhetizismus

137

zu einer „‚Abwertung‘ der Gesinnungsethik“ führte.126 Paradigmatisch für eine solche Interpretation ist der zweite Aufsatz von Karl Mannheims Ideologie und Utopie. Dort interpretiert Mannheim „Schicksalsethik“,127 Gesinnungsethik und Verantwortungsethik im evolutionstheoretischen Rahmen. Er stellt die These auf: „Sie[die Verantwortungsethik] enthält einmal die Forderung, nicht nur der Gesinnung entsprechend zu handeln, sondern auch die möglichen, jeweils berechenbaren Konsequenzen in die Deliberation einzubeziehen, und zweitens [...] die Gesinnung selbst einer bereinigenden Selbstprüfung zu unterwerfen“.128 Es ist nicht zu übersehen, daß Max Weber selbst diese „zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen“129 von Gesinnungs- und Verantwortungsethik in denselben Rang stellt. Denn beide berufen sich auf ethische Grundsätze. Er behauptet: „diese Maximen liegen untereinander in ewigem Zwist, der mit den Mitteln einer rein in sich selbst beruhenden Ethik schlechthin unaustragbar ist.“130 An vielen Stellen zeigt sich Weber sogar dem Syndikalismus gegenüber sehr wohlwollend. Dieses Element im Werk Max Webers muß im Interpretationsrahmen, welcher die Verantwortungsethik hervorhebt, vernachlässigt werden. Dabei wird jedoch die Spannung zwischen den Wertsphären bei Kierkegaard bzw. dessen Kritik an Hegel übersehen.131 Kierkegaard und Weber fordern jegliche „Synthesis“ heraus, wenn sie mit dem Begriff „Sphäre“ argumentieren.132 126

Wolfgang Schluchter, Rationalismus der Weltbeherrschung, S. 56. Aber Schluchter befaßt sich später mit der „Typologie der Ethik“ und zieht daraus die Schlußfolgerung der „‚Gleichrangigkeit‘ von formaler Gesinnungsethik und formaler Verantwortungsethik“. Er gibt diesbezüglich zu: „Dies bedeutet ein Abgehen von der strikten Stufenfolge zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik“ (Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 1, S. 274). 127 Vgl. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 6. Aufl., Frankfurt am Main, 1978, S. 166-167: „Sie[die Schicksalsethik] besteht“ – Mannheims Definiton nach – „im wesentlichen in dem Gebot, höheren, undurchschaubaren Mächten zu gehorchen.“ Die Gesinnungsethik entsteht, indem die Ethik des Schicksals durchbrochen wird. 128 Ebd., S. 167. Anzumerken ist, daß Mannheims „Synthese“ oder „dynamischen Vermittlung“ durch die „freischwebende Intelligenz“ und „Wissenssoziologie“ eng mit dem Ästhetischen verbunden ist. Sein Denken greift auf die Romantik zurück. Er schreibt: „Was [...] die Forderung der dynamischen Vermittlung anlangt, so hatte schon die Romantik, als Folge ihrer sozialen Lagerung, sie zum Programmpunkte gemacht“ (ebd., S. 141). Mannheim versteht also auch Webers Verantwortungsethik im Zusammenhang mit dem Ästhetischen im Sinne der Komposition der differenzierten Elemente. 129 PS, S. 551. 130 WL, S. 505. Vgl. WL, S. 515. 131 Vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg, 1995. 132 Vgl. Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt am Main, 1974, S. 163.

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V. Ästhetik und Politik bei Georg Simmel und Max Weber

Das Ästhetische eliminiert im Grunde genommen nichts. Es geht dabei um ein Sowohl-als-auch. Dieser Charakter des Ästhetischen kommt paradigmatisch zum Ausdruck, wenn Simmel schreibt: „Uns modernen Menschen, deren Leben, Empfinden, Werthschätzen, Wollen in unzählige Gegensätze auseinandergegangen ist, die beständig zwischen einem Ja oder Nein, einem Ja und Nein stehen und ihr Innenleben eben so wie die Welt außer sich in scharf differenzierte Kategorien fassen: uns erscheint es als ein Wesentliches jeder großen Kunst, daß sie Gegensätze vereine, unberührt von der Nothwendigkeit eines Entweder133 Oder.“ Das Wesen des Moralischen liegt dagegen in der Unterscheidung. Es geht dabei um Entweder-Oder. Die Ästhetisierung beschädigt also unvermeidlich das Moralische, während die Moralisierung das Ästhetische verletzt. Das gleiche gilt für das Verhältnis von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Weber hält die Gesinnungs- und Verantwortungsethik für gleichrangig, weil er diesen Gegensatz berücksichtigt.134 Diese Stellung Webers zu diesem Begriffspaar ist bis dato oft als relativistisch oder sogar nihilistisch kritisiert worden.135 Man muß jedoch sehen, daß dieser Standpunkt eng mit seiner ontologischen Annahme des antagonistischen Polytheismus verbunden ist. Weber orientiert sich immer am Kriterium des Kampfes. Aus diesem Gesichtspunkt wendet er sich gegen den Verlust der rivalisierenden Prinzipien, obwohl er sehr wahrscheinlich – wie viele Interpreten annehmen – der Verantwortungsethik nähersteht. Darin liegt die Ambiguität der politischen Theorie Max Webers. Sie offenbart sich, wenn Weber sagt: „Es ist – richtig verstanden – zutreffend, daß eine erfolgreiche Politik stets die ‚Kunst des Möglichen‘ ist. Nicht minder richtig aber ist, daß das Mögliche sehr oft nur dadurch erreicht wurde, daß man nach dem jenseits seiner liegenden Unmöglichen griff. Es ist schließlich doch nicht die einzige wirklich konsequente Ethik der ‚Anpassung‘ an das Mögliche: die Bürokratenmoral des Konfuzianismus, gewesen, welche die vermutlich von uns allen trotz aller sonstigen Differenzen (subjektiv) mehr oder minder positiv geschätzten spezifischen Qualitäten gerade unserer Kultur geschaffen hat. Daß, wie weiter oben ausgeführt, neben dem ‚Erfolgswert‘ einer Handlung ihr ‚Gesinnungswert‘ stehe, möchte wenigstens ich der Nation nicht gerade im Namen der Wissenschaft systematisch aberzogen wissen.“136

Webers Perspektive auf den Kampf als solchen, die diese Ambiguität hervorruft, liegt seiner gesamten Theorie zugrunde. 133

Georg Simmel, Böcklins Landschaften, in: GSG 5, S. 101. Vgl. auch Kierkegaard, Entweder-Oder, S. 24-25: „Wenn das Buch gelesen ist, sind A und B vergessen, nur die Anschauungen stehen einander gegenüber und erwarten keine endliche Entscheidung in bestimmten Persönlichkeiten.“ 135 Vgl. Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 37. 136 WL, S. 514. 134

VI. Max Webers Brief an Aby Warburg „Sassetti empfand sein schwingendes, einen neuen ethischen Gleichgewichtszustand erstrebendes Selbstgefühl so bewußt, daß er eben zwei antithetische Sinnsprüche zur sinnbildlichen Selbstcharakterisierung erwählte; der Passivität des lateinischen Stoßgebets [‚Mitia Fata mihi‘] stellt er den französischen Wahlspruch [‚A mon pouvoir‘] gegenüber, dessen Aktionslust durch das Temperamentsvorzeichen des Kentauren antikisch gesteigert wird“ (Aby Warburg).1

1. Kampf und Machtpolitik? Max Webers Denken dreht sich um Kampf und Spannung. Dieses Moment bezieht sich auf sein Verständnis der „okzidentalen“ Kultur und seine politische Theorie über die Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Weber richtet aber – anders als Simmels „Streitssoziologie“ – die Aufmerksamkeit nicht wegen der positiven Funktion des Streites auf diese Thematik. Er hält am „Kampf um des 2 Kampfes willen“ fest, wie Honigsheim sagt. Leo Strauss weist diesbezüglich darauf hin: Es „scheint [...], daß der Geist der ‚Machtpolitik‘ Webers Position bestimmte. Nichts zeigt dies deutlicher als die Tatsache, daß Weber, als er in einem ähnlichen Zusammenhang von Kampf und Frieden spricht, das Wort ‚Friede‘ in Anführungsstriche setzt, während er diese Vorsichtsmaßnahme unterläßt, wenn er von Kampf spricht. Kampf war für Weber eine eindeutige Sache,

1 Aby Warburg, Francesco Sassettis letztwillige Verfügung (1907), in: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Gesammelte Schriften, Abt. 1, Bd. 1, Berlin, 1998, S. 154. 2 Vgl. Paul Honigsheim, Max Weber als Soziologe. Ein Wort zum Gedächtnis, in: KZfSS, Sonderheft 7, 1963, S. 89.

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VI. Max Webers Brief an Aby Warburg

der Friede war es nicht: der Friede ist leerer Schein, aber der Kampf ist wirklich. Webers These von der Unlösbarkeit des Kampfes zwischen den Werten war somit ein Teil oder eine Folge der umfassenden Ansicht, nach welcher das 3 menschliche Leben wesentlich ein unausweichlicher Kampf ist.“ Weswegen insistiert Weber so vehement auf dem Moment des Kampfes und der Spannung? Diese Frage hat sich die Weber-Kritik in der Tat immer wieder gestellt. Strauss bemerkt in diesem Zusammenhang: „[...] bewies er[Weber] niemals, daß der menschliche Geist ohne fremde Hilfe zur Erreichung objektiver Normen unfähig sei oder daß der Kampf zwischen verschiedenen diesseitigen ethischen Normen durch den menschlichen Intellekt nicht zu lösen wäre.“4 Strauss macht damit deutlich, daß Webers These der Wertkollision „lediglich unter dem Druck einer spezifisch moralischen Bevorzugung postuliert worden ist.“5 Ferner befaßt sich Raymond Aron in seinem Vortrag „Max Weber und die Machtpolitik“, den er 1964 auf dem 15. Deutschen Soziologentag in Heidelberg hielt, mit dieser Frage. Aron erkennt in Webers Theorie „eine teils auf Darwin teils auf Nietzsche zurückgehende Metaphysik vom Kampf ums Dasein“ einerseits und den „Polytheismus, die Pluralität der unvereinbaren Werte“ andererseits. Diese ontologische Annahme Webers kritisiert er als „philosophische Grundlage seiner Machtpolitik“.6 Daß sich bei Weber das Plädoyer für den Kampf und die machtpolitische Orientierung miteinander verbinden, ist zu einem paradigmatischen Interpretationsrahmen der Weber-Forschung geworden. Dieser ist schon bei Wolfgang Mommsen vorgezeichnet, wenn er schreibt: „[...] bejahte Weber den Staat als Voraussetzung der Kulturentwicklung, [...] erblickte er in der Macht etwas Positives, das naturgegebene Mittel, durch das allein schöpferische Tat im gesellschaftlichen Leben möglich ist. Mit einer an Hobbes, vor allem aber an Nietzsche erinnernden Radikalität betrachtete er Kampf als elementares Prinzip 7 allen Kulturlebens überhaupt.“ Mommsen verbindet an dieser Stelle Machtpolitik und Kampf, ohne jedoch auf diese Verbindung ausführlich einzugehen. Der innere Zusammenhang zwischen Kampf und Machtpolitik ist gewiß sehr naheliegend in der Tradition des sog. politischen „Realismus“. Muß man nicht aber der Grundlage nachgehen, aufgrund welcher Weber am Moment des Kampfes festhält, bevor man seine politische Theorie im Rahmen des Zusammenhangs von Kampf und Machtpolitik interpretiert? Denn die Differenz zwischen Aurelius Augustinus,8 Max Weber 3

Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 67. Ebd., S. 73. 5 Ebd., S. 66. 6 Raymond Aron, Max Weber und die Machtpolitik, S. 108-109. 7 Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 50-51. 8 Vgl. Reinhold Niebuhr, Der politische Realismus des Augustinus, in: Christlicher Realismus und Politische Probleme, Stuttgart, 1956, S. 98-120. 4

2. Aby Warburgs Aufsatz „Francesco Sassettis letztwillige Verfügung“

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und Henry A. Kissinger9 muß zwangsläufig verkannt werden, wenn man Webers Theorie im Rahmen des „Realismus“ betrachtet, wie schon der Vergleich zwischen Kautilya und Machiavelli ergeben hat. Man muß also bei jedem Theoretiker die Aufmerksamkeit auf die gedankliche Konstellation richten, in der das Moment des Kampfes in den Vordergrund tritt. In diesem Kapitel soll Webers Beziehung zu dem Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg thematisiert werden, um eine solche vorwissenschaftliche Konstellation sichtbar zu machen, die beiden, Weber und Warburg, bezüglich des Konfliktes gemeinsam ist.

2. Aby Warburgs Aufsatz „Francesco Sassettis letztwillige Verfügung“ Max Weber schrieb am 10. September 1907 einen Brief an Aby Warburg, in dem er ihm für die Zusendung seiner Abhandlung „Francesco Sassettis letztwillige 10 Verfügung“ dankte. In dieser Studie rückt Warburg bewußt von der seit Burckhardt vorherrschenden ahistorischen und dichotomischen Sicht der Renaissance ab, die diese einseitig mit den Prinzipien des Individualismus, Profanismus und Rationalismus identifiziert. Warburg thematisiert hingegen die weltanschaulichen Gegensätze dieser Epoche am Beispiel eines Florentiner Bankiers der Frührenaissance. Francesco Sassetti, dessen Namenspatron der heilige Franziskus von Assisi ist, erscheint Warburg keineswegs als „Übermensch“,11 der „jenseits von Gut und Böse“ steht.12 Er beschreibt ihn vielmehr wie folgt: „Francescos eigene Worte enthüllen auch in dem lebenzugewandten Hauptinhalt seiner letztwilligen Verfügung den ‚Mann der neuen Zeit‘ nicht ohne weiteres; im Gegenteil scheint das ‚Mittelalter‘ – wenn man darunter eine dem antikisch drapierten egozentrischen Übermenschentum der Renaissance entgegengesetzte altmodische Rücksichtigkeit versteht, – nicht nur in den religiösen Gefühlsgewohnheiten 9

Vgl. Michael Joseph Smith, Realist Thought from Weber to Kissinger, Baton Rouge, 1986. 10 MWG II/5, S. 390-391. 11 MWG II/5, S. 390. 12 RS I, S. 214. Vgl. RS I, S. 160, Anm. 2; PE II, S. 297. In der Protestantismusstudie sucht Weber das Ethos des asketischen Protestantismus von diesem „ökonomischen Übermenschen“ zu unterscheiden. Er verweist dabei auf die Differenz zwischen dem Kapitalismus „des dem Okzident spezifischen modernen rationalen Betriebs“ und dem „seit 3 Jahrtausenden in der Welt, von China, Indien, Babylon, Hellas, Rom, Florenz bis in die Gegenwart verbreiteten Kapitalismus der Wucherer, Kriegslieferanten, Amts- und Steuerpächter, großen Handelsunternehmer und Finanzmagnaten“ (RS I, S. 49, Anm. 2). Warburg geht es darum, die Differenz zwischen der historischen Person eines florentinischen Kaufmanns der Frührenaissance und dem mystifizierten Bild des RenaissanceMenschen als „Übermensch“ herauszuarbeiten.

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VI. Max Webers Brief an Aby Warburg

seiner ‚vita contemplativa‘ weiterzuleben, sondern sogar auch den Stil seiner ‚vita activa‘ entscheidend zu beeinflussen.“13 Er wendet sich explizit gegen das vorherrschende Renaissance-Verständnis: „[...] wir wollen nicht gern einsehen, wie mittelalterlich der Renaissancemensch eigentlich ist, in dem wir den Übermenschen, den Befreier des Individuums aus dumpfer kirchlicher Gefangenschaft 14 begrüßen.“ In den Augen Warburgs ist Sassetti nicht ein Prototyp der „in allen Zeitaltern kommerzieller oder kolonialer Expansion immer wiederkehrenden ganz großen Konzessionäre und Monopolisten“.15 Sassetti erweist sich vielmehr als ein Mensch, der zwischen mittelalterlicher religiöser Pietät und wirtschaftlicher Rationalität schwankt. Warburg stellt dieses Oszillieren zwischen beiden Polen in der Person Sassettis emphatisch dar, indem er das Programm der Sassetti-Kapelle in Santa Trinita16 und Sassettis letztwillige Verfügung historisch rekonstruiert. Dabei versteht Warburg Sassettis Handeln als Folge des Ausgleichs dieser Gegensätze. Die Renaissance ist für Warburg keine „organische“ bzw. geschlossene Epoche, die vom Mittelalter klar unterschieden werden kann, sondern schließt wie dieses gegensätzliche geistesgeschichtliche Positionen ein. Der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance vollzieht sich nicht plötzlich und dramatisch, sondern ist Ergebnis der kontinuierlichen Verschiebung des Ausgleichs eben dieser Gegensätze. Warburgs Ansatz, der seiner Arbeit zugrunde liegt, lautet daher: „Die entscheidenden Widerstandsmomente organischer Stilentwicklung werden uns erst durch die historisch-analytische Behandlung solcher Ausgleichsversuche klar; sie sind bisher unbeachtet geblieben, weil der moderne Ästhetizismus in der Renaissancekultur entweder primitive Naivität oder den heroischen Gestus der vollzogenen Revolution zu genießen wünscht.“17

Dieser Ansatz steht in enger Verbindung mit seinem berühmt gewordenen Motto „Der liebe Gott steckt im Detail“, das er seinem ersten Seminar an der Universität Hamburg programmatisch vorangestellt hat. Es ist hier von Bedeutung, daß diese Aufmerksamkeit gegenüber dem Detail aus einem theoretischen Grundsatz hervorgeht, den Warburg mit Weber teilt. Dieser lautet, daß der Gegenstand der Betrachtung keine geschlossene Einheit, sondern aus verschiedenen Elemen-

13

Aby Warburg, Francesco Sassettis letztwillige Verfügung, S. 144. Aby Warburg, Flandern und Florenz, Entwurf, zitiert nach Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine Intellektuelle Biographie, Hamburg, 1992, S. 177. Vgl. auch ebd., S. 131, S. 147, S. 429. 15 PE II, S. 160. 16 Vgl. Almon Richard Turner, Renaissance in Florenz. Das Jahrhundert der Medici, Köln, 1996, S. 147-150. 17 Aby Warburg, Francesco Sassettis letztwillige Verfügung, S. 158. 14

2. Aby Warburgs Aufsatz „Francesco Sassettis letztwillige Verfügung“

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ten konstruiert ist.18 Diese Annahme beruht ferner auf der grundlegenderen Prämisse, daß es mehrere inkommensurable Perspektiven gibt, unter welchen keine – zumindest auf theoretischer Ebene – die dominierende Stellung einnimmt. 19 So erscheint die Welt als „eine Welt von Gegensätzen“. Dementsprechend bemüht sich Warburg darum, „die komplexen Kraftfelder zu verstehen, die eine ‚Periode‘ ausmachen“.20 Die Details, auf welche Warburg die Aufmerksamkeit richtet, markieren die Eckpunkte dieser Spannungsfelder, sie werden jedoch im systematisch-allgemeinen Rahmen vernachlässigt. Es ist Aby Warburgs Ikonologie,21 welche das Hauptaugenmerk auf das Detail lenkt. Seine ikonologische Methode beschreibt Warburg im Vortrag „Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara“ (1912): „Ich hoffe, durch die Methode meines Erklärungsversuches der Fresken im Palazzo Schifanoja zu Ferrara gezeigt zu haben, daß eine ikonologische Analyse, die sich durch grenzpolizeiliche Befangenheit weder davon abschrecken läßt, Antike, Mittelalter und Neuzeit als zusammenhängende Epoche anzusehen, noch davon, die Werke freiester und angewandtester Kunst als gleichberechtigte Dokumente des Ausdrucks zu befragen, daß diese Methode, indem sie sorgfältig sich um die Aufhellung einer einzelnen Dunkelheit bemüht, die großen allgemeinen Entwicklungsvorgänge in ihrem Zusammenhange beleuchtet.“22 Max Webers Kultursoziologie ist insofern verwandt mit der Ikonologie Warburgs,

18

Max Webers Kultursoziologie zeigt – wie schon ausgeführt – eine gewisse Immunität gegen den Kulturessentialismus, insofern sie die Aufmerksamkeit nicht auf Kultur als eine geschlossene Einheit, sondern auf den Modus des Verhältnisses der Wertsphären richtet. Dieser Ansatz korrespondiert mit seiner Emanatismus-Kritik, welche sich nicht nur auf den „Volksgeist“, sondern auch auf das (historische) Individuum richtet. Es geht Weber dabei um die Substanzialisierung. Er stellt daher den „Persönlichkeitsbegriff“ bei Knies in Frage, indem er darauf hinweist, „daß jene ‚Freiheit‘ nicht als ‚Ursachlosigkeit‘, sondern als Ausfluß des Handelns aus der notwendig schlechthin individuellen Substanz der Persönlichkeit gedacht ist, und daß die Irrationalität des Handelns infolge dieses der Persönlichkeit zugeschriebenen Substanzcharakters alsbald wieder ins Rationale umgebogen wird“ (WL, S. 138). 19 RS I, S. 62. Vgl. Helmut F. Spinner, Weber gegen Weber: Der ganze Rationalismus einer „Welt von Gegensätzen“. Zur Neuinterpretation des Charisma als Gelegenheitsvernunft, in: Johannes Weiß (Hrsg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung, Frankfurt am Main, 1989, S. 250-295. 20 Gombrich, Aby Warburg. Eine Intellektuelle Biographie, S. 426-427. Die „Epoche“ in diesem Sinne ist parallel zu Webers „Rationalismus“-Begriff zu verstehen (vgl. II. 3. d) der vorliegenden Arbeit). 21 Vgl. Peter Schmidt, Aby M. Warburg und die Ikonologie, Bamberg, 1989. 22 Aby Warburg, Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara, in: Die Erneuerung der heidnischen Antike, Gesammelte Schriften, Abt. 1, Bd. 2, Berlin, 1998, S. 478-479.

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VI. Max Webers Brief an Aby Warburg

als sie ein „historisches Individuum“ als Ergebnis der historischen Zusammenhänge konstruieren will, ohne es auf eine Formel wie den historischen Materialismus zu reduzieren. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, daß Weber und Warburg Kulturen oder Epochen nicht voneinander isolieren, sondern vielmehr deren 23 Kontinuität ins Auge fassen. Aby Warburg ist sich seiner Affinität zu Weber wohl bewußt, wenn er in seinem Tagebuch vom 25. März 1907 notiert: „lese d. prachtvollen Aufsatz v. Max Weber, Prot. Ethik u. Geist d. Kapitalismus. – Den [Mann] müßte man für Hamburg haben. Dadurch wieder Mut zum Glauben an meinen Sassetti-Aufs. weil die Problemstellg. ähnlich: d. traditionelle (‚innerweltlich asketische‘) Gefühlsleben als Causalität d. neuen selbstvertrauenden Weltzugewandtheit[.] D. leidenschaftliche Hängen am Alten bedingt[/]leitet über zu einer bedingungslosen Identification mit d. Neuen nach einem kriesenzwiespaltbewußten Uebergangszustand [oder: -zeitalter?]“.24

In der Tat schreibt Warburg in seinem Brief vom 9. Oktober 1907 an Weber: „[...] wollen Sie diese Arbeit als Zeichen kollegialen Dankes für Ihre Abhandlung über den ‚Geist des Kapitalismus und die protestantische Ethik‘ entgegennehmen. Dicht vor dem Abschluß meiner Arbeit, deren unkonventionelle Methode mir bis dahin das Gefühl geben mußte, auf Grenzgebieten zu arbeiten, ohne bislang [?] Verständnis für den innersten Kern des Problems erhoffen [?] zu dürften, fand ich in ihren Gedankengängen den erfreulichen Rückhalt dafür, daß auch jemand von der anderen Seite den Tunnel anzubohren im Begriff ist.“25

23

Bezüglich des Verhältnisses Webers zur Kunstgeschichte ist auch auf Heinrich Wölfflin hinzuweisen. Weber schreibt im „Wertfreiheits“-Aufsatz: „Für das Gebiet der Entwicklung der Malerei ist die vornehme Bescheidenheit der Fragestellung in Wölfflins „Klassischer Kunst“ ein ganz hervorragendes Beispiel der Leistungsfähigkeit empirischer Arbeit“ (WL, S. 523). So lohnt es sich, Webers Wissenschaftslehre und Wölfflins Kunstgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des „Formalismus“ zu untersuchen (vgl. Carlo Antoni, Vom Historismus zur Soziologie, Stuttgart, 1950). Es ist aber nicht zu übersehen, daß Webers „Soziologie der Cultur-Inhalte“ parallel zur Ikonologie Warburgs ist (vgl. Max Webers Brief an den Verlag vom 30. Dezember 1913, in: Johannes Winkkelmann, Max Webers hinterlassenes Hauptwerk. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, S. 36). 24 Zitiert nach Michael Diers, Warburg aus Briefen. Kommentare zu den Kopierbüchern der Jahre 1905-1918, Weinheim, 1991, S. 94. 25 Zitiert nach Michael Diers, ebd., S. 94-95.

3. Max Webers Antwort: Der „wunderbare Schimmer“ des Gegensätzlichen

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3. Max Webers Antwort: Der „wunderbare Schimmer“ des Gegensätzlichen In seiner Antwort beschreibt Weber Sassetti kontrastiv zum Typus des Calvinisten. Er erkennt in Sassettis „Bewußtsein der Zerrissenheit und des Zweifels, des Streits unter dem Eindruck von ökonomischen Gewalten“ dessen „wunder26 baren Schimmer“. Am Beispiel Sassettis hebt Weber die Zerrissenheit und Spannung als Gegenbild zum Calvinismus positiv hervor. Weber führt aus, daß der Geist des Kapitalismus (im Weberschen Sinne des Wortes) in Gegenden wie Flandern fehle, wo sich die Wirtschaft im Spätmittelalter hoch entwickelte. Dies sei ein Ergebnis „jener Spannung zwischen Wirtschaftsform und ethischem Lebensstil, welche aus dem Fehlen der ‚Berufsethik‘ (in meinem Sinn des Wortes) resultierte“.27 Webers „‚Geist‘ des Kapitalismus“ entsteht also erst durch die „Berufsethik“, wo die Spannung zwischen wirtschaftlicher Logik und religiöser Ethik in einer sittlichen Lebensführung aufgehoben ist. Verstünde Weber den asketischen Protestantismus und seine Berufsethik als Endpunkt einer linearen Entwicklung, müßte er diese Spannung als hemmendes Element der Modernisierung und somit negativ beurteilen. Weber weist jedoch – mit Rekurs auf Warburg – im Gegenteil darauf hin, daß die Konsequenz dieser Spannung „für die in ihrer Art unsterbliche Eigenart des Florentiner Bürgertums“ „von einem feinsinnigen Kunsthistoriker bis in die Eigenart der künstlerischen Motive hinein verfolgt worden“ ist.28 Er bemerkt weiter: „Und daß sich dies im Rahmen mit künstlerischen Problemen nachweisen läßt – das ist es, was mich so freudig überrascht hat.“29 Bezüglich des Verhältnisses Webers zu Warburg muß man – mit Bernd Roeck – feststellen, „daß der Dialog zwischen dem Hamburger Psychohistoriker und dem Heidelberger Soziologen keine Fortsetzung fand“.30 Man kann sich aber fragen, was Weber an dieser kunstgeschichtlichen Studie über die Frührenaissance so sehr fasziniert hat. Ausgangspunkt der Protestantismusstudie ist bekanntlich die Einsicht, „daß [die wirtschaftliche Tätigkeit] im Zentrum der kapitalistischen Entwicklung der damaligen Welt, in Florenz im 14. und 15. Jahrhundert, dem Geld- und Kapitalmarkt aller politischen Großmächte, als sittlich bedenklich oder allenfalls tolerabel galt.“31 Das Streben nach wirtschaftlichem Gewinn sah 26

MWG II/5, S. 390. PE II, S. 53. 28 PE II, S. 53. Vgl. auch MWG II/5, S. 390, Anm. 3. 29 MWG II/5, S. 391. 30 Bernd Roeck, Aby Warburg und Max Weber. Über Renaissance, Protestantismus und kapitalistischen Geist, in: Enno Rudolph (Hrsg.), Die Renaissance und ihr Bild in der Geschichte. Die Renaissance als erste Aufklärung III, Tübingen, 1998, S. 203-204. 31 RS I, S. 60. 27

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VI. Max Webers Brief an Aby Warburg

sich mit der religiösen Ethik konfrontiert. Die Wirtschaft wurde durch die Religion beschränkt und nur unter negativen Vorzeichen gebilligt. Erst vor diesem historischen Hintergrund kann der revolutionäre Charakter des „Berufs“- Begriffes bei Luther sichtbar gemacht werden. Mit diesem Begriff hat sich erstmals in der Geschichte eine religiöse Wirtschaftsethik entwickelt, in der die innerweltliche Arbeit eine positive Rolle für die Erlösung spielen kann. Daraus resultiert das bekannte, von Weber entdeckte Paradoxon, daß der moderne Kapitalismus nur in stark religiös geprägten Gebieten entstand. Der Mensch, der zwischen religiöser Ethik und kapitalistischer Logik hin und her gerissen ist, kann in dieser Berufsethik eine Lösung des Dilemmas finden und dadurch sein Leiden an innerer Zerrissenheit sichtbar überwinden. „Der Asket muß, wenn er innerhalb der Welt handeln will, also bei der innerweltlichen Askese, mit einer Art von glücklicher Borniertheit für jede Frage nach einem ‚Sinn‘ der Welt geschlagen sein und darum sich nicht kümmern. Es ist daher kein Zufall, daß die innerweltliche Askese sich gerade auf der Basis der absoluten Unerforschlichkeit seiner Motive des jedem menschlichen Maßstab entrückten, calvinistischen Gottes am konsequentesten entwickeln konnte. Der innerweltliche Asket ist daher der gegebene ‚Berufsmensch‘, der nach dem Sinn seiner sachlichen Berufsausübung innerhalb der Gesamtwelt – für welche ja nicht er, sondern sein Gott die Verantwortung trägt – weder fragt noch zu fragen nötig hat, weil ihm das Bewußtsein genügt, in seinem persönlichen rationalen Handeln in dieser Welt den für ihn in seinem letzten Sinn unerforschlichen Willen Gottes zu 32 vollstrecken.“ Max Weber interessiert sich nicht für die geglückte Koinzidenz von Religion und Welt im Fall des asketischen Protestantismus. Er richtet vielmehr die Aufmerksamkeit auf die „seelische Seite der modernen Wirtschaftsentwicklung“, „welche im Puritanismus die großen inneren Spannungen und Konflikte zwischen ‚Beruf‘, ‚Leben‘ (wie wir uns heute gern ausdrücken), ‚Ethik‘, im Stadium 33 eines eigentümlichen Ausgleichs zeigen.“ Ihm geht es um das Prinzip der Spannung und deren Ausgleich. Aus diesem Blickwinkel weist Weber auf die Gefahr hin, die mit dem asketischen Protestantismus von Anfang an verbunden ist: die Tendenz, daß die Religion der irdischen wirtschaftlichen Logik untergeordnet wird. Im Verlauf der ökonomischen Entwicklung erweist sich, daß das wirtschaftliche System seine religiösen Grundlagen aushöhlt und sich verselbständigt, wie Weber es poetisch ausdrückt: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein. [...] Nur wie ‚ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte‘, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter

32 33

WuG, S. 332. Vgl. auch V. 1. b) der vorliegenden Arbeit. PE II, S. 167.

3. Max Webers Antwort: Der „wunderbare Schimmer“ des Gegensätzlichen

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um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden.“34 Das Problem, mit welchem sich der Mensch in der modernen kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert sieht, ist ein anderes als das des asketischen Protestanten. Aufgabe des Protestanten ist es, die Spannung zwischen Religion und Wirtschaft durch das Vorgeben einer Erlösungsmöglichkeit in der irdischen Welt aufzuheben. Im Unterschied dazu liegt die Problematik der modernen Welt einerseits darin, daß sich die religiöse Dimension im ökonomischen Utilitarismus auflöst. Und andererseits darin, daß das religiöse Gefühl den Zugang zur realen Welt verliert, was zur „Mystik“ führt, die – analog zum Expressionismus im Bereich der Kunst – durch die „Gegenstandslosigkeit“ charakterisiert werden kann, wie Georg Simmel scharfsinnig bemerkt: „die jenseitig-realen Gegenstände des religiösen Glaubens [sind] radikal ausgeschaltet – ohne daß darum ihr religiöses Wollen wegfiele“.35 Letztendlich ist das äquivalente Verhältnis von Religion und Welt beschädigt. Vor diesem Hintergrund beschäftigt Max Weber sich mit seiner Protestantismusstudie und der daran anknüpfenden vergleichenden Religions- und Kultursoziologie. Er sucht darin nach möglichen Formen des Verhältnisses von Religion und Welt. Weber stellt sich einerseits – wie schon gesagt – gegen die Verschmelzung von Religion und Ökomonie. Andererseits ist er auch der Mystik gegenüber skeptisch. Weber weist auf die Problematik der Mystik in der Moderne hin: „[...] die spezifisch intellektualistische, mystische Erlösungssuche gegenüber diesen Spannungen fiel auch selbst der Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit anheim. [...] Und inmitten einer rational zur Berufsarbeit organisierten Kultur blieb für die Pflege der akosmistischen Brüderlichkeit selbst – außerhalb der ökonomisch sorgenfreien Schichten – kaum noch Platz: das Leben des Buddha, Jesus, Franziskus zu führen, scheint unter den technischen und sozialen Bedingungen rationaler Kultur rein äußerlich zum Mißerfolg verurteilt.“36 Weber ist sicherlich kein Mystiker. Dies bedeutet jedoch nicht, daß er der Mystik gegenüber indifferent ist. Er hat vielmehr ein tiefes Verständnis von der Mystik.37 Seine

34

RS I, S. 203. Georg Simmel, Der Konflikt der modernen Kultur, in: GSG 16, S. 202. 36 RS I, S. 571. 37 Diesbezüglich ist auf Webers Indienstudie zu verweisen. Auch das folgende Zwiegespräch zwischen Max Weber und seine Frau Marianne über die Mystik ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlußreich: „Er: ‚Sag mal, kannst Du Dir vorstellen, Du seist ein Mystiker?‘ Sie: ‚Das wäre gewiß das letzte, was ich mir denken könnte. Kannst Du es denn etwas für Dich dir vorstellen?‘ Er: ‚Es könnte sogar sein, daß ich einer bin. Wie ich mehr in meinem Leben geträumt habe als man sich eigentlich erlauben darf, so bin ich auch nirgends ganz verläßlich daheim. Es ist, als könnte (und wollte) ich mich aus 35

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VI. Max Webers Brief an Aby Warburg

Stellung zur ihr ist also ebenso ambivalent wie zum asketischen Protestantismus. Auch in diesem Zusammenhang ist Max Webers Denken zwiespältig. Vor diesem Hintergrund rezipierte Weber vermutlich sehr emphatisch Warburgs Darstellung über den Bankier der Frührenaissance, der „nicht wie ein Calvinist, auf festem ethischen Boden steht“ und „nicht mit gutem Gewissen den Über38 menschen spielt“. Nicht nur identifiziert Weber Sassettis Zwiespalt mit seinem eigenen Grundbefinden, sondern er erblickt gerade in dieser Zerrissenheit einen „wunderbaren Schimmer“.39 Was Weber fasziniert, bringt Warburg sehr schön zum Ausdruck: „Gegensätze der Lebensanschauung, wenn sie, die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft mit einseitiger Leidenschaft erfüllend, zum Kampfe auf Leben und Tod anstacheln, sind die Ursache des unaufhaltsamen gesellschaftlichen Verfalls und doch zugleich die zur höchsten Kulturblüte treibenden Kräfte, wenn ebendieselben Gegensätze innerhalb eines Individuums sich abschwächen, ausgleichen und, anstatt sich gegenseitig zu vernichten, sich wechselseitig befruchten und damit den ganzen Umfang der Persönlichkeit zu erweitern lernen. Auf diesem Grunde erwächst die Kulturblüte der florentinischen Frührenaissance.“40

Diesen „wunderbaren Schimmer“ findet Weber weder im asketischen Protestantismus noch in der Mystik, sondern im zersplitterten Bewußtsein der Florentiner Frührenaissance.41 Denn es ist nicht die Beseitigung, sondern der „Ausgleich der Gegensätze“,42 das diejenigen Theoretiker als Gesellschaftsbild bzw. Utopie verfechten, die sowohl den Fachmenschen der sich rasch entwickelnden modernen Gesellschaft als auch den diese Gesellschaft total negierenden Mystiker oder Neoromantiker ablehnen. Webers Plädoyer für den Kampf hat in dieser Konstellation seine Wurzeln. Im Kampf erkennt er die „Menschenwürde“. „[...] wir haben eben überhaupt kein Schlaraffenland und keine gepflasterte Straße dahin zu versprechen, weder im Diesseits noch im Jenseits, weder im Denken noch im Handeln; und es ist das Stigma unserer Menschenwürde, daß der Friede unserer Seele

allem ebensowohl auch ganz zurückziehen‘“ (Eduard Baumgarten, Max Weber. Werk und Person, S. 677). 38 MWG II/5, S. 390. 39 MWG II/5, S. 390. 40 Aby Warburg, Bildniskunst und florentinisches Bürgertum (1902), in: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Abt. 1, Bd. 1, S. 100. 41 Vgl. PE II, S. 168: „Das[der ‚Berufsmensch‘ des asketischen Protestantismus] war der Kaufmann der Florentiner Frührenaissance nicht. Es ist hier nicht der Ort, die tiefe Zerrissenheit, welche bei aller strotzenden Kraft und scheinbaren Geschlossenheit durch die Ernstesten unter den Menschen jener Tage ging, zu analysieren.“ 42 Vgl. Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine Intellektuelle Biographie, S. 213–228.

4. Webers Plädoyer für die Tragik

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nicht so groß sein kann als der Friede desjenigen, der von solchem Schlaraffenland träumt.“43

Die in sich das Moment des Kampfes einschließende Gesellschaft war auch Aby Warburgs Ideal, als er den Sassetti-Aufsatz schrieb. Ernst Gombrich weist darauf hin: „Am meisten bewunderte Warburg jene seelische Stärke, die er Francesco Sassetti zugeschrieben hatte, der beide Extreme verbinden konnte, ohne unter dem Druck dieser gegensätzlichen Pole das innere Gleichgewicht zu verlieren.“44 Ebenso wie sich Max Weber aufgrund dieses Ideals gegen den „Freudschüler“ Otto Gross wendet,45 polemisiert Aby Warburg mit Anspielung auf Dantes „Göttliche Komödie“: „Ich mag mich nur von jemandem durch ein Inferno schleifen lassen, dem ich auch die Fähigkeit als Führer durchs Purgatorio zum Paradiso zutraue. Aber daran fehlt’s eben den Modernen; ich verlange kein Paradiso, wo alle weißgekleidet und ohne Genitalien Psalmen singen und die lieben Lämmchen mit den guten gelben Löwen ohne fleischliche Gelüste spazieren gehen – aber ich verachte den Mann, der das Ideal, homo victor, aus den Augen verliert.“46 Max Weber und Aby Warburg lehnen beide die Vorstellung eines „Schlaraffenlandes“ bzw. „Paradiso“ ab, und dies selbst angesichts ihrer drohenden psychischen Krankheit.47

4. Webers Plädoyer für die Tragik Man hat gelegentlich auf das Moment des Tragischen bei Weber hingewiesen.48 Das Prinzip des Tragischen bedeutet für Weber wie für Warburg kein Unglück, das – wo immer möglich – aufzulösen ist, sondern ein Selbstverständnis, zu dem sie sich verpflichtet fühlen, und das ihre wissenschaftlichen Werke grundlegend bestimmt. Man kann ferner mit Friedrich Meinecke auf „die intimsten geistigen Relationen einer Zeit“ verweisen, deren Grundbefindlichkeit wesentlich

43

SS, S. 420. Gombrich, Aby Warburg. Eine Intellektuelle Biographie, S. 407. 45 Vgl. Marianne Weber, Lebensbild, S. 377-384. Vgl. auch Wolfgang Schwentker, Leidenschaft als Lebensform. Erotik und Moral bei Max Weber und im Kreis um Otto Gross, in: Mommsen/Schwentker (Hrsg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, S. 661-681. 46 Warburg, Brief vom 26. Juni 1896, zitiert nach Gombrich, Aby Warburg. Eine Intellektuelle Biographie, S. 429. 47 Vgl. Arthur Mitzman, The Iron Cage, pp. 148-163; Ulrich Raulff, Zur Korrespondenz Ludwig Binswanger – Aby Warburg im Universitätsarchiv Tübingen, in: Horst Bredekamp (Hrsg.), Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim, 1991, S. 55-70. 48 Vgl. Kurt Lenk, Das tragische Bewußtsein in der deutschen Soziologie. Vgl. „Exkurs: Webers Wagner-Interpretation“ der vorliegenden Arbeit. 44

150

VI. Max Webers Brief an Aby Warburg

als „tragisch“ charakterisiert werden kann.49 Es ist eine Zeit, in der die verschiedenen Gegensätze einander unvermittelt gegenüberstehen, wie Lawrene Scaff es beschreibt: „These fundamental contrasts in culture – historical versus psychological outlooks, moralistic and scientific opposed to aesthetic orientations, a kind of humorless and upright Buddenbrooks liberalism against the stirrings of an experimental but deeply serious attitude toward life – all appear to be valid everywhere in urban Europe and not simply in Freud’s imperial city.“50

Gegenüber der Vätergeneration, die die deutsche Reichsgründung vollzogen hat, sehen sich Webers Zeitgenossen als Epigonen. „An unserer Wiege stand der schwerste Fluch, den die Geschichte einem Geschlecht als Angebinde mit auf den Weg zu geben vermag: das harte Schicksal des politischen Epigonentums.“51 So stellt er nicht nur der politischen Schrift,52 sondern auch seiner Wissenschaftslehre53 und Religionssoziologie54 die einleitende Bemerkung voran, daß dieser Versuch keineswegs „etwas Neues“ ist.55 Weber bringt dieses Selbstverständnis seiner Zeit auf die Formel: „Es ist weder zufällig, daß unsere höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, noch daß heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte. Versuchen wir, monumentale Kunstgesinnung zu erzwingen und zu ‚erfinden‘, dann entsteht ein so jämmerliches Mißgebilde wie in den vielen Denkmälern der letzten 20 Jahre.“56 Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund richtet Weber die Aufmerksamkeit auf das produktive Spannungsverhältnis. Zu dergleichen geistigen Generation gehört auch Georg Simmel, der ebenfalls das tragische Moment betont, wenngleich die Differenz zwischen Simmel und Weber im V. Kapitel der vorliegenden Arbeit bereits deutlich gemacht worden ist. Seine Formel des „individuellen

49

Friedrich Meinecke, Max Weber, in: KZfSS, Sonderheft 7, 1963, S. 146. Lawrence Scaff, Fleeing the Iron Cage, p. 20. 51 PS, S. 21. 52 Vgl. PS, S. 306. 53 Vgl. WL, S. 215. 54 Vgl. RS I, S. 13; RS III, S. 1. 55 Allerdings bezeichnet Weber den Versuch, „durch die Jagd nach dem, was gerade und nur diesem Einzelnen, im Gegensatz zu allen anderen, eigentümlich sei, sich selbst am Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen und zu einer ‚Persönlichkeit‘ zu machen“, als „occidental“ (RS II, S. 378). 56 WL, S. 612. 50

4. Webers Plädoyer für die Tragik

151

Gesetzes“ ist eine Ethik, die vor allem in diesem Zeitkontext steht.57 Zugleich ist festzustellen, daß die Phase, in der Weber sich mit dem tragischen Konflikt auseinandersetzte, nur von begrenzter Dauer war. Schon in der Weimarer Zeit polarisierte sich das ausgewogene Gegengewicht der Gegensätze, und die ins Extreme gesteigerte Partikularisierung drängte die Synthese als Aufgabe der 58 Gesellschaftstheorie in den Vordergrund. Freilich führte diese Entwicklung in 59 Wirklichkeit vielmehr zur Reaktion, die zweifellos den Nationalsozialismus mit heraufbeschworen hat.60 Heutzutage fehlt das Bewußtsein über diese tragische Grundhaltung, die Webers Denken wesentlich bestimmt. Dementsprechend erscheint Max Webers soziologische Theorie den gegenwärtigen Soziologen in vieler Hinsicht inkonsequent. So führt beispielsweise Niklas Luhmann aus: „[...] jeder Code realisiert zugleich einen Rejektionswert im Bezug auf alle anderen. Das heißt gerade nicht, daß der Wert anderer Werte bestritten wird und es zu Wertkonflikten im Sinne Max Webers kommen muß. Nur die andere Form, nur die andere Unterscheidung wird rejiziert“.61 Die Ausdifferenzierung der Welt bedeutet die Isolierung der Elemente, wobei sich nicht die Frage nach deren Verhältnis untereinander stellt. Längst hat die Soziologie die naive Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit abgelegt, ohne welche die tragische Weltsicht unmöglich ist. Honigsheim bemerkt: „Manche haben ihn[Max Weber] [...] als unausgeglichene, widerspruchsvoll-reizvolle Gestalt im Gedächtnis behalten [...]. Hat doch selten einer sich so wie dieser Mensch in seinem äußeren Verhalten der Welt gegenüber selbst zergliedert und sich bei jeder Gelegenheit nicht als Ganzheit, sondern bewußt als Angehörigen einer bestimmten Sphäre gegeben [...]. Trotzdem mußte sich die Frage heranschleichen, ob sich nicht hinter all diesen Schachtelungen, hinter diesen getrennten Sphären, die fast nur im franziskanischen Nominalismus ihr Analogen fanden, eine Ganzheit verbarg, ja ob

57 Vgl. Klaus Christian Köhnke, Vorbemerkungen zu Georg Simmels „Das individuelle Gesetz“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1993, S. 317-332. 58 In diesem Kontext ist Karl Mannheims Wissenschaftssoziologie paradigmatisch. Sein „Konperspektivismus“ verurteilt notwendigerweise Webers antagonistischen Polyperspektivismus. Mit ihm verschwindet auch der „Schimmer“, der in Webers Spannungsverhältnis aufgeleuchtet ist, (wieder) in der Finsternis. 59 Vgl. Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München, 1991. 60 So ist das Thema des nächsten Kapitels „Weber und der Totalitarismus“. Vgl. auch Charlotte Schoell-Glass, Aby Warburg und der Antisemitismus. Kulturwissenschaft als Geistespolitik, Frankfurt am Main, 1998. 61 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt am Main, 1998, S. 751.

152

VI. Max Webers Brief an Aby Warburg

nicht sogar letztere nur in einer solchen Form ihre adäquate Ausgestaltung finden konnte.“62

Weber erkennt mit tiefer Resignation, daß die Zeit der „faustische[n] Allseitigkeit des Menschentums“ vorbei ist. Er konstatiert, „daß die Beschränkung auf Facharbeit, mit dem Verzicht auf die faustische Allseitigkeit des Menschentums, welchen sie bedingt, in der heutigen Welt Voraussetzung wertvollen Handelns überhaupt ist, daß also ‚Tat‘ und ‚Entsagung‘ einander heute unabwendbar bedingen“.63 Es ist aber nicht zu übersehen, daß Weber zu denjenigen gehört, „denen die Fähigkeit des Hasses gegen das Kleine geblieben ist“.64 Heute ist selbst dieses erinnernde Bewußtsein des „Tragischen“ verschwunden. Die einzelnen Gegenstände werden nicht mehr als Gegensätze, sondern nur noch als isolierte Ausdifferenzierungen angesehen. Hier ist anzumerken, daß Max Weber fordert, der Mensch habe „einem solchen Alltag gewachsen zu sein“,65 wo „die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen“.66 Seine Schriften sind als Früchte dieser Weltanschauung zu lesen. Dementsprechend darf Webers „Machtpolitik“ keineswegs nur im Rahmen des Imperialismus verstanden werden, auch wenn das Kampf-betonte Gesellschaftsbild eng verwandt mit der sog. Machtpolitik sein mag. Im Vortrag „Politik als Beruf“ schreibt Weber: „Der bloße ‚Machtpolitiker‘, wie ihn ein auch bei uns eifrig betriebener Kult zu verklären sucht, mag stark wirken, aber er wirkt in der Tat ins Leere und Sinnlose. Darin haben die Kritiker der ‚Machtpolitik‘ vollkommen recht. An dem plötzlichen inneren Zusammenbruch typischer Träger dieser Gesinnung haben wir erleben können, welche innere Schwäche und Ohnmacht sich hinter dieser protzigen, aber gänzlich leeren Geste verbirgt. Sie ist Produkt einer höchst dürftigen und oberflächlichen Blasiertheit gegenüber dem Sinn menschlichen Handelns, welche keinerlei Verwandtschaft hat mit dem Wissen um die Tragik, in die alles Tun, zumal aber das politische Tun, in Wahrheit verflochten ist.“67

Weber hält gewiß noch an der Annahme fest, daß „Macht das unvermeidliche Mittel und Machtstreben daher eine der treibenden Kräfte aller Politik ist“.68 62

Paul Honigsheim, Max Weber als Soziologe, S. 82. Vgl. auch ders., Zur Soziologie der mittelalterlichen Scholastik. Die soziologische Bedeutung der nominalistischen Philosophie, in: Melchior Palyi (Hrsg.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. II, München/Leipzig, 1923, S. 175-218. 63 RS I, S. 203. 64 PS, S. 21. 65 WL, S. 605. 66 WL, S. 603. 67 PS, S. 547. 68 PS, S. 547.

4. Webers Plädoyer für die Tragik

153

Aber das Denken Max Webers wird vom Prinzip des „Tragischen“ tiefer bestimmt als von dem Gedanken der Machtpolitik. Machtpolitik ist bei ihm als eine Perspektive in die „tragische“ Ordnung eingebettet, die in sich das Moment der Spannung der Wertsphären einschließt.

VII. Max Weber und der Totalitarismus: Aus dem Blickwinkel Eric Voegelins

„Die Vernichtung [...] richtet sich überhaupt nicht mehr gegen einen Feind, sondern dient nur noch einer angeblich objektiven Durchsetzung höchster Werte, für die bekanntlich kein Preis zu hoch ist. Erst die Ableugnung der wirklichen-Feindschaft macht die Bahn frei für das Vernichtungswerk einer absoluten Feindschaft“ (Carl Schmitt).1 „Unser Widerwille gegenüber dem fanatischen Obskurantismus darf uns nicht dahin führen, daß wir das Naturrecht im Geiste eines fanatischen Obskurantismus aufnehmen.“ (Leo Strauss)2

1. Die Weber-Debatte und die „Renaissance“ der Totalitarismusforschung Die politische Wissenschaft – vor allem in der Bundesrepublik Deutschland – setzt sich seit jeher kritisch mit Max Weber auseinander, wenngleich sie ihm bezüglich seiner bedeutenden definitorischen Leistungen sehr viel verdankt. Diese ambivalente Stellung zur Theorie Webers hat ihre Ursachen vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Die folgende Stelle von Hans Maier reflektiert dieses weit verbreitete skeptische Verständnis: „Freilich ist die Webersche Machtbetrachtung des Politischen heute nicht mehr der einzige, ja wohl nicht einmal mehr der stärkste Einschlag der politischen Wissenschaft in Deutschland. Bei aller Anerkennung und Verehrung, die ihm zuteil wird, ist Weber für die jüngere Generation doch bereits zu einer historischen Figur geworden, deren Zeitbedingtheit heute immer schärfer ins Licht tritt. An diesem Perspektivenwandel ist vor allem das Erlebnis des Dritten Reiches beteiligt. Es ist kein Zufall, daß die 1

Carl Schmitt, Theorie des Partisanen: Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, 4. Aufl., Berlin, 1995, S. 95-96. 2 Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 6. Vgl. auch ders., The City and Man, Chicago, 1964, p. 74.

1. Die Weber-Debatte und die „Renaissance“ der Totalitarismusforschung

155

Erfahrungen mit dem Totalitarismus die Grenzen des Weberschen Werkes besonders deutlich hervortreten ließen – erscheint uns doch heute gerade sein unbedingter Pluralismus und Relativismus, seine pessimistische Vorstellung vom ewigen Kampf der Werte als ein Ausdruck der Schwäche angesichts der ideologischen Bedrohung unserer Zeit.“3

Wie aus dieser Passage klar hervorgeht, wird Max Webers Theorie der Politik hauptsächlich im Zusammenhang mit der Erfahrung des Totalitarismus rezipiert und dementsprechend kritisch bewertet. Gewiß scheint diese Interpretationsrichtung zuallererst durch Webers Begrifflichkeit und Konzeption selbst vorgegeben zu sein. In der Tat lassen sich sehr leicht mehrere dem Totalitarismus „verwandte“ Elemente im Werk Max Webers finden, wenn man seine Theorie der Politik unter diesem Aspekt untersucht: Die Definition der Politik durch den MachtBegriff, nationalstaatliches Denken, die Annahme der Unvermeidlichkeit des Kampfes, der Charismabegriff oder die Konzeption der charismatischen Führerdemokratie, das Postulat der Wertfreiheit (als eine relativistische bzw. nihilistische Wissenschaftslehre), die Diskreditierung des modernen Naturrechts, der irrationale Charakter des Wertbegriffes, die Kompromißlosigkeit der Fragestellung des „Entweder-Oder“, das Moment der Entscheidung, zweckrationales Denken usw. Man sollte aber nicht übersehen, daß eine bestimmte Interpretation nur in einem gegebenen Paradigma Geltung haben kann. Bei der Herausbildung und Verbreitung des Paradigmas, das Webers Theorie in einen engen Zusammenhang mit dem Totalitarismus bringt, hat Wolfgang J. Mommsens Arbeit Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920 (1959, 2. Aufl.: 1974) eine entscheidende Rolle gespielt.4 Seit dem Erscheinen dieses Werkes – spätestens jedoch seit der Heidelberger Weber-Tagung von 1964 – steht die Diskussion über Webers politische Theorie unter diesem Einfluß.5

3

Hans Maier, Max Weber und die deutsche politische Wissenschaft, in: Politische Wissenschaft in Deutschland. Lehre und Wirkung, München/Zürich, 1985, S. 100. 4 Unter den Vorläufern dieser Interpretationsrichtung sei vor allem Karl Löwith genannt. Obwohl er ein profunder Kenner der Weberschen Theorie ist, behauptet er nachdrücklich: „Er[Max Weber] hat den Weg zum autoritären und diktatorischen Führerstaat positiv dadurch gebahnt, daß er überhaupt die irrationale ‚charismatische‘ Führerschaft und die ‚Führerdemokratie mit Maschine‘ vertrat, und negativ durch die gewollte Inhaltslosigkeit, durch das Formelle seines politischen Ethos, dessen letzte Instanz nur die entschiedene Wahl einer Wertsetzung unter andern war, gleichgültig welcher“ (Karl Löwith, Max Weber und seine Nachfolger, in: Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert – Max Weber, S. 413). 5 Vgl. Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 442-444: In bezug auf die Erstveröffentlichung seiner Dissertation bemerkte Mommsen, sie sei „seinerzeit teils scharf angegriffen [...] worden“. Er konnte jedoch beim Erscheinen

156

VII. Max Weber und der Totalitarismus

Die vorliegende Arbeit, die schon an mehreren Stellen Mommsens Interpretation erwähnt hat, setzt sich in diesem Kapitel mit seinem Paradigma auseinander. Sie ist der Ansicht, daß das Mommsen-Paradigma angesichts seiner Zeitbedingtheit heute erneut überprüft werden muß, denn es entstand vor dem Hintergrund 6 der „spezifischen geistigen Lage in den späten 50er Jahren“. Diese Revision des Mommsen-Paradigmas lehnt sich an die aktuelle Totalitarismusforschung an, die seit dem Zusammenbruch der real-existierenden sozialistischen Staaten eine „Renaissance“ erlebt.7 Die Totalitarismusforschung entwickelt sich dabei komplementär zur Kommunismusforschung.8 Man versucht daher, Auschwitz nicht historisch isoliert, sondern parallel zum Archipel GULag zu verstehen. Der Totalitarismusbegriff wird nunmehr auf das gesamte Zeitalter des 20. Jahrhunderts bezogen9 und weitgehend mit Ausrottung bzw. Vernichtung in Verbindung gebracht. Aus der Perspektive der Vernichtung erklärt sich, warum Hobsbawm das 20. Jahrhundert als eine Einheit betrachtet, die er als „Zeitalter der Extreme“ bezeichnet,10 warum Ernst Nolte, der im sog. Historikerstreit heftig

der zweiten, überarbeiteten Auflage (1974) sagen: „Heute sind die Ergebnisse der hier erneut vorgelegten Untersuchung in ihren Grundlinien in der Forschung eigentlich kaum noch umstritten“. Trotz der anfänglichen „heftige[n] Polemik“ gegen Mommsens Arbeit ist sie zu einem Standardwerk in diesem Bereich geworden. 6 Vgl. Wolfgang Mommsen, Vorwort zur japanischen Übersetzung, in :Makkusu Weba to Doitu Seiji 1890-1920 (Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920), 1, Tokyo, 1993, S. iii (vgl. auch Max Weber and German Politics 1890-1920, Chicago/London, 1984, p. vii). In der Adenauer-Ära wurden zunächst viele der ehemaligen NSDAPMitglieder rehabilitiert. Aber in den späten 50er Jahren änderten sich die Verhältnisse schlagartig durch den Beginn der sog. NS-Prozesse und des Eichmann-Prozesses in Jerusalem (vgl. Hans-Peter Schwarz, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3: Die Ära Adenauer 1957-1963, Stuttgart/Wiesbaden, 1983, S. 208). Mommsens Werk wurde in dieser „historischen“ Situation veröffentlicht und rezipiert. Es liegt also auf der Hand, daß der Mommsen-Streit zugleich ein Generationskonflikt war. 7 Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse, Totalitarismus und Totalitarismusforschung – Zur Renaissance einer lange tabuisierten Konzeption, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 4, 1992, S. 7-27; Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn, 1996. 8 Vgl. Achim Siegel, Die Konjunkturen des Totalitarismuskonzepts in der Kommunismusforschung. Eine wissenschaftssoziologische Skizze, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B20, 1998, S. 19-31; Alan Bullock, Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin, 1991. 9 Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München, 1999; François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München/Zürich, 1996. 10 Die Terrorangriff vom 11. September 2001 gibt einen neuen Anlaß, den (islamischen) Fundamentalismus im Totalitalismustheorieansatz zu analysieren. Es darf dabei jedoch nicht übersehen werden, daß eine solche konsequente Verbindung nur auf der Grundlage der deutschen Totalitarismusforschung seit den 80er Jahren möglich ist (vgl. Uwe Bak-

2. Das Mommsen-Paradigma

157

kritisiert worden ist, in den letzten Jahren eine Neubewertung erfährt,11 und warum sich seit den 1990ern die Aufmerksamkeit verstärkt auf Eric Voegelin richtet, dessen Hauptwerk Die neue Wissenschaft der Politik im Jahr 1959 – also gleichzeitig mit Mommsens Buch – erschienen ist und der dennoch nur 12 von einigen wenigen Anhängern in Süddeutschland rezipiert worden ist. Allerdings ist es nicht unumstritten, ob die aktuelle Totalitarismusforschung als „Renaissance“ bezeichnet werden kann. Einzelne Diskussionsthemen sind in der Tat nicht neu. Bedeutsamer ist aber vielmehr, daß der Begriff des Totalitarismus heute angesichts der Situation nach dem Ende des Kalten Krieges rekonstruiert wird, in der die These vom „Kampf der Kulturen“ das Denken bestimmt. Muß der Interpretationsrahmen der Verwandtschaft von „Max Weber und dem Totalitarismus“, d. h. das Mommsen-Paradigma, in diesem Kontext nochmals überprüft und neu bewertet werden? Die vorliegende Arbeit richtet bei dieser Frage die Aufmerksamkeit auf Eric Voegelin, dessen Begriff der „politischen Religionen“ einen Brennpunkt der aktuellen Totalitarismusforschung bildet. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, werden Implikationen der Theorie Max Webers sichtbar, die im Mommsen-Paradigma bislang verborgen geblieben sind.

2. Das Mommsen-Paradigma Wolfgang J. Mommsens Arbeit Max Weber und die deutsche Politik 18901920 ist eigentlich eine historische Untersuchung, die Max Webers politisches

kes/Eckhard Jesse, Totalitarismus, Extremismus, Terrorismus. Ein Literaturführer und Wegweiser im Lichte deutscher Erfahrung, Opladen, 1984). 11 Vgl. Volker Kronenberg, Ernst Nolte und das totalitäre Zeitalter. Versuch einer Verständigung, Bonn, 1999. 12 Bezüglich der Voegelin-Rezeption in Deutschland vgl. Peter J. Opitz, Spurensuche – Zum Einfluss Eric Voegelins auf die politische Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Politik, 36, 3, 1989, S. 235-250. Bezüglich des Begriffes „politische Religion“ bei Voegelin vgl. Hans Maier, „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, in: Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg im Breisgau, 1995, S. 21-36; Dietmar Herz, Der Begriff der „politischen Religionen“ im Denken Eric Voegelins, in: Hans Maier (Hrsg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn/München/Wien/Zürich, 1996, S. 191-209; Hermann Lübbe (Hrsg.), Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf, 1995; Michael Ley/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim, 1997; Claus Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München, 1998.

158

VII. Max Weber und der Totalitarismus

Denken in seinem zeitgenössischen politischen Kontext darstellt.13 Mommsens Untersuchung hat nicht nur aufgrund ihrer Erfassung und Berücksichtigung eines breiten Spektrums an Materialien, einschließlich der zahlreichen unveröffentlichten Briefe und Dokumente Max Webers, große Überzeugungskraft gewonnen. Seine Interpretation, die auf die Problematik der Machtpolitik bei Weber zielt, besitzt eine beispiellose Klarheit und ihre Argumentation ist außerordentlich stringent. Mommsen schreibt über Weber: „Max Webers politisches Werk bildet eine Konzeption von eindrucksvoller Geschlossenheit, die sich von innen heraus nicht widerlegen läßt. Wer sich auf Webers Prämissen einläßt, 14 bleibt nur zu leicht in ihnen gefangen.“ Dasselbe kann für Mommsens Interpretation gelten. Präzise gesagt: Seine Interpretation bildet eine widerspruchsfreie Geschlossenheit, so daß Webers Werk ihm „geschlossen“ erscheinen muß. Aus diesem Grund konnte Mommsen zahlreiche heftige Attacken gegen sein Buch als „emotionell“15 oder „unbegründet“ 16 zurückweisen. Dieses Kapitel versucht also zunächst, den roten Faden in Mommsens Arbeit möglichst präzise herauszuarbeiten.

a) Irrationalität des Wertbegriffes und Nation als Wert Mommsen richtet seine Aufmerksamkeit auf den Wertbegriff, der zu den Grundbegriffen der Weberschen Wissenschaftslehre gehört, und beleuchtet dessen „irrationalen“ Charakter. Historische Fakten können – so Weber – nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt gesammelt und geordnet werden, der jedoch nicht rational begründet werden kann. Auf diesen „irrationalen“ Charakter des Wertbegriffes weist Weber selbst wiederholt hin.17 So stellt sich folgende Frage: Was für eine politische Theorie folgt aus einem solchen Verständnis des Wertes? Mommsen interpretiert Webers nationalstaatliches Denken im Zusammenhang mit dem Wertbegriff: „[...] die ‚Nation‘, die Machtstellung des eigenen nationalen Staatswesens, [war] für ihn[Weber] ein letzter Wert, dem er in rationalistischer Konsequenz alle anderen politischen

13

Vgl. Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. XVI. 14 Ebd., S. 476. Dagegen schreibt Andreas Anter: „Webers Staatstheorie ist kein widerspruchsfreies und kohärentes Ganzes, sondern ist geprägt von charakteristischen Ambivalenzen“ (Andreas Anter, Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung, S. 160). 15 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 408, Anm. 156, S. 415, Anm. 177, S. 450. 16 Ebd., S. 446. 17 Vgl. II. 2. der vorliegenden Arbeit.

2. Das Mommsen-Paradigma

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Zielsetzungen unterordnete.“18 Mommsen weist sodann auf die Problematik hin: „Als ‚Wertbegriff‘ blieb die ‚Nation‘ für ihn[Weber] außerhalb des Bereiches wissenschaftlicher Kritik. Nur als empirischen Begriff unterwarf er den Nationsbegriff, wie er vermeinte, wertungsfreier soziologischer Analyse. Die Frage, ob der nationale Gedanke mit Recht als ein oberstes Leitprinzip politischen Handelns 19 gelten dürfe, wurde von ihm daher ganz bewußt nicht gestellt.“ Die Einsicht der Grundlosigkeit des Wertes, die sich auf Webers Postulat der „Wertfreiheit“ bezieht, ermöglicht zwar dogmatisches Denken zu relativieren, aber sie kann zugleich zur Problematik führen, daß ein bestimmter unbegründeter Wert auf dogmatische Weise verabsolutiert wird. Während die sog. Weberianer bis dahin die liberalistische Vorderseite der Weberschen Wertlehre betont hatten, hat Wolfgang Mommsen die Rückseite der gleichen Medaille deutlich hervorgekehrt. Bei Mommsen werden das extrem machtpolitische Denken und die Wertfreiheit in einem einheitlichen Analyserahmen auf konsequente Weise interpretiert. So behauptet er ausdrücklich: Für Weber „stand am Anfang seiner Lehre von der Wertfreiheit der Wissenschaften das Bemühen, das Nationalstaatsideal zum unbezweifelbaren alleinigen Richtmaß zu erheben.“20

b) Irrationalität der plebiszitären Führerdemokratie In der letzten Kriegsphase vor der Niederlage des deutschen Kaiserreiches veröffentlichtete Max Weber den Aufsatz „Deutschlands künftige Staatsform“ (1918). Er fordert in dieser angeblich „rein politische[n] Gelegenheitsarbeit“,21 daß der Reichspräsident vom Volk direkt gewählt werden solle. Seine Konzeption hatte in der Tat einen großen Einfluß auf die Diskussion um die Weimarer Verfassung. Mommsen interpretiert auch Webers Konzeption der plebiszitären

18

Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 51. Vgl. ebd., S. 355: „Gerade jetzt[1918/1919] bekannte sich Weber zu den Werten, die sein politisches Handeln in der Vergangenheit bestimmt hatten: der Macht des nationalen Staatswesens in der Welt, gestützt auf ein starkes Heer, wahrgenommen durch eine kühne und entschlossene Außenpolitik.“ 19 Ebd., S. 67. Vgl. dazu Stefan Breuer, Das Charisma der Nation, in: Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt, 1994, S. 110-143. 20 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 42. Das Verhältnis von Wertfreiheit und Machtpolitik war ein Brennpunkt des Mommsen-Streites (vgl. dazu „Nachwort“ zur zweiten Auflage., in: ebd., S. 446-447). Wie im II. Kapitel der vorliegenden Arbeit dargestellt wurde, ist es charakteristisch für den „realistischen“ Interpretationsrahmen, den machtpolitischen Ansatz mit der „Wertfreiheit“ zu verknüpfen. Wenn man aber vor allem die Perspektivität der Realität berücksichtigt, erscheint die Annahme dieses Nexus fragwürdig. 21 PS, S. 448.

160

VII. Max Weber und der Totalitarismus

Führerdemokratie konsequenterweise aus dem Blickwinkel des machtpolitischen Denkens. Webers Vorschlag eines plebiszitären Reichspräsidenten ist zweifellos mit der Forderung der Parlamentarisierung gekoppelt, auch wenn er von 1917 bis 22 1918 den Akzent auf die charismatische Führerschaft verlagert. Seine politische Konzeption bezieht sich also auf den demokratischen Verfassungsstaat. Dennoch richtet Mommsen seine Aufmerksamkeit auf Webers Begründung der Demokratie und weist darauf hin: „Sein[Webers] demokratischer Staatsgedanke stand unter dem Ideal der möglichsten Machtsteigerung des Staates nach außen und bejahte diese infolgedessen auch im Inneren. [...] Max Weber forderte [...] den parlamentarischen Verfassungsstaat für Deutschland nicht so sehr deshalb, weil er sich davon ein Höchstmaß freier Selbstbestimmung des Staatsbürgers oder eine besonders rechtsstaatliche Verfassungsordnung erwartete, sondern in erster Linie aus nationalpolitischen Gründen.“23 Freilich lassen sich in der politischen Diskussion Webers Aussagen finden, in denen er der machtpolitischen Zweck-Mittel-Kalkulation den Vorrang vor der Idee der demokratischen Verfassung einzuräumen scheint. Weber schreibt ausdrücklich: „Das, was man die ‚Demokratisierung‘ der deutschen politischen Institutionen nennt, verlangen wir als unentbehrliches Mittel der Erhaltung der Einheit der Nation [...], die Parlamentarisierung aber als Garantie der Einheitlichkeit in der Führung der Politik“.24 Und eine Passage der Wissenschaftslehre lautet: „Wem etwa staatliche Machtinteressen ein ‚letztes‘ Ziel wären, der müßte je nach der gegebenen Situation sowohl eine absolutistische wie eine radikaldemokratische Staatsverfassung für das (relativ) geeignetere ‚Mittel‘ ansehen, und es wäre höchst lächerlich, einen etwaigen Wechsel in der Bewertung dieser staatlichen Zweckapparate als Mittel für einen Wechsel in der ‚letzten‘ Stellung25 nahme selbst anzusehen.“ Wenn die parlamentarischen Institutionen nur als Mittel zur Verfolgung nationaler Interessen angesehen werden, könnte man daraus die Folgerung ziehen, daß das Parlament je nach Situation fallengelassen werden dürfe. Es ist – so Mommsen – ein Schüler Webers, Carl Schmitt, der Webers Konzeption der volksgewählten Präsidentschaft „in antiparlamentarischer, ja totalitärer Richtung“26 umzuinterpretieren versucht. Hingegen ist offenkundig, daß sich bei Max Weber das Prinzip des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates und das 22

Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. XIX, Anm. 4, S. 364-365. 23 Ebd., S. 420-422. 24 PS, S. 217. 25 WL, S. 512. 26 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 415, Anm. 177.

2. Das Mommsen-Paradigma

161

des charismatischen Reichspräsidenten gegenseitig ergänzen, wie auch Mommsen an verschiedenen Stellen betont.27 Dennoch: „Ein solches Unterfangen [von Carl Schmitt] war um so leichter, insofern als bei Max Weber die spezifisch demokratischen Grundwerte hinter den nationalen Machtinteressen der Nation 28 stark zurücktraten.“ Es ist schon auf die von Mommsen aufgezeigte Problematik im politischen Denken Max Webers hingewiesen worden, daß die machtpolitische Rationalisierung mit der Verabsolutierung der Nation als Wert zur „Irrationalität“ führen könne. Der Grad der Irrationalität wird mit dem Konzept des charismatischen Führers noch weiter gesteigert. Weber definiert das Charisma als „eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit“, die „als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“29 Der Begriff Charisma schließt – seiner Definition nach – eine gewisse Irrationalität in sich ein.30 Mommsen merkt deswegen kritisch an, „daß er[Weber] der Frage nie näher nachgegangen ist, ob nicht eine solche plebiszitär-charismatische Führerschaft des großen Demagogen, wie er sie forderte, zu einer Entsachlichung und Emotionalisierung des politischen Lebens führen könne, an deren Ende eine charismatische Gewaltherrschaft stehen würde.“31 Mommsens Darstellung arbeitet konsequent die Problematik des Weberschen Denkens heraus, die in der Gefahr der totalitären Herrschaft liegt. Diese Problematik besteht aus zwei irrationalen Momenten: die Irrationalität der Nation als Wert einerseits und die Irrationalität der als Mittel zur Verfolgung dieses Wertes eingeführten charismatischen Führerdemokratie andererseits. Aus diesen sich überschneidenden irrationalen Momenten zieht Mommsen die Folgerung: „Das Jahr 1933 brachte dann die charismatisch-plebiszitäre Führerschaft ‚mit Maschine‘, wenn auch in völlig anderer Form, als Weber dies im Sinn gehabt hatte. Gleichwohl wird man ehrlicherweise feststellen müssen, daß Webers Lehre von der charismatischen Führerherrschaft, verbunden mit ihrer radikalen Formalisierung des Sinnes der demokratischen Institutionen, ihren Teil dazu beigetragen hat,

27

Vgl. Ebd., S. 414. Ebd., S. 437. 29 WuG, S. 140. 30 Unter besonderer Berücksichtigung des Charismabegriffes stellt Mommsen die „rationalistische“ Weber-Interpretation in Frage. Er rückt damit das „irrationale“ Moment im Werk Webers in den Vordergrund (vgl. Wolfgang J. Mommsen, Rationalisierung und Mythos bei Max Weber, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.), Mythos und Moderne. Begriff 32 und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt am Main, 1983, S. 391). 31 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 434-435. 28

162

VII. Max Weber und der Totalitarismus

das deutsche Volk zur Akklamation eines Führers, und insofern auch Adolf Hitlers, innerlich willig zu machen.“32

Allerdings entwickelt Mommsen im Verlauf seiner Forschungstätigkeit ein gewisses Verständnis für Webers Konzeption der plebiszitären Führerdemokratie.33 Dies hängt damit zusammen, daß Mommsen die Aufmerksamkeit nunmehr auf das angeblich „universalgeschichtliche“ Problem richtet.34 Mommsen interpretiert nun den charismatischen Führer bei Weber im Gegensatz zum „stahlharten Gehäuse“ bzw. „Iron Cage“, das sich im Zuge der Rationalisierung und Bürokratisierung im Zeitalter der Moderne formiert.35 Bei Weber findet sich die Frage: „Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich, irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ‚individualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten?“36 Als Antwort auf diese Frage interpretiert Mommsen den Charismabegriff. Dabei erweitert Mommsen zwar seinen anfänglichen Interpretationsrahmen, dennoch ist festzuhalten, daß sich sein Verständnis des Totalitarismus im Grunde genommen nicht verändert. Eine sehr ähnliche These vertrat Habermas auf dem Soziologentag von 1964: „Webers philosophische Antwort [auf das stahlharte Gehäuse] heißt: dezisionistische Selbstbehauptung inmitten einer rationalisierten Welt; seine politische Antwort: Spielraum für den willensintensiven und machtinstinktiven Führer – für den starken Politiker, der sich der Fachbeamten, und für den privaten Unternehmer, der sich seines Betriebes zugleich autoritär und rational bedient.“37 An diesem Punkt treffen sich Mommsen, der sich im Bereich der deutschen Geschichte der Problematik der modernen Gesellschaft nähert, und Habermas, der von der Seite der Frankfurter Schule die politische Theorie Webers erwähnt. Grundsätzlich geht es um das Moment der Irrationalität im politischen Denken Max Webers, auf das sich die These der Verwandtschaft von Webers Theorie mit dem Totalitarismus gründet.

32

Ebd., S. 437. Ein Wendepunkt war der Heidelberger Soziologentag von 1964, der anläßlich des 100. Geburtsjahres von Max Weber veranstaltet wurde. Mommsen richtete die Aufmerksamkeit auf „die universalen Gründe“ zur Machtpolitik bei Weber, obwohl seine Argumentation damals, so Mommsen, „nur wenig Verständnis“ fand. Er bewertete in diesem Zusammenhang das „umstrittene“ Referat von Herbert Marcuse über „Industrialisierung und Kapitalismus“ (ebd., S. 444-445. Vgl. auch S. 461-467). 34 Vgl. Wolfgang Mommsen, Universalgeschichtliches und politisches Denken, in: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, bes., S. 134-135; ders., The Age of Bureaucracy. Perspectives on the Political Sociology of Max Weber, Oxford, 1974; ders., Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 89. 35 Vgl. Ernst Nolte, Max Weber vor dem Faschismus, in: Der Staat, 2, 1963, S. 23. 36 PS, S. 333. 37 Jürgen Habermas, Wertfreiheit und Objektivität, S, S. 83. 33

2. Das Mommsen-Paradigma

163

c) Naturrecht als Gegengewicht zur Irrationalität Im „Vorwort zur zweiten Auflage“ formuliert Mommsen die Zielsetzung seiner Arbeit wie folgt: „Es wurde geschrieben in einer Situation, in der es darum ging, sich mit den großen Katastrophen der jüngeren deutschen Vergangenheit, insbesondere dem Aufstieg und der Herrschaft des Nationalsozialismus, kritisch auseinanderzusetzen und die geistigen und moralischen Grundlage für eine starke 38 und stabile deutsche Demokratie zu legen.“ Mommsens kritischer Untersuchung über Webers politische Theorie liegt eine dezidiert demokratische Überzeugung zugrunde. Webers Konzeption kann zwar in gewissem Sinne als demokratisch bezeichnet werden, die „Demokratie“, für welche Mommsen plädiert, weicht davon jedoch deutlich ab. Weber faßt – so Mommsen – die Demokratie funktionalistisch auf, insofern er sie als Mittel zum Zweck der nationalen Macht sieht und damit „den demokratischen Gedanken seiner inhaltlichen Wertgehalte [...] beraub[t]“.39 Mommsen richtet hingegen seine Aufmerksamkeit auf die „Dignität“ der Demokratie als eine Staatsform, die nicht auf die außenpolitische „efficiency“ zu reduzieren ist.40 Mommsen geht es nicht um die Demokratie im formalen Sinne, sondern um die im ideellen Sinne. Mit Weberschen Worten: nicht um „zweckrationale“, sondern um „wertrationale“ Demokratie, die Mommsen als „die alte naturrechtliche Demokratie“ bezeichnet.41 Aufgrund seiner naturrechtlichen demokratischen Überzeugung stellt Mommsen gegenüber Weber (und Schumpeter) die Frage, „ob jenes Maß an Achtung der ‚Spielregel‘, an Fairneß und Toleranz, auf die Dauer aufrechterhalten werden kann, wenn nicht dem demokratischen System und demokratischen Verhaltungsweisen eine aus naturrechtlichen Quellen fließende innere Wertschätzung entge42 gengebracht würde.“ Mommsen weist auf die einer solchen Demokratiekonzeption inhärenten „Gefahr“ hin, „in eine autoritäre Herrschaft umzuschlagen“.43 Mommsen vertritt dennoch nicht den optimistischen Standpunkt, da er nicht den naiven Anspruch auf Wiederherstellung des Naturrechts erhebt.44 Trotz seiner kritischen Auseinandersetzung mit Weber steht er doch in dessen Schatten.

38

Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. XI. Ebd., S. 422. Vgl. auch IV. 1. a) der vorliegenden Arbeit. 40 Ebd., S. 422. 41 Ebd., S. 430. Vgl. ebd., S. 441. 42 Ebd., S. 434. 43 Ebd. 44 Vgl. Ebd., S. 441. Dies hängt zum Teil damit zusammen, daß er seinen Standpunkt von „der katholisch-fundamentalistischen Kritik von Leo Strauß und Erich Vögelin“ unterschieden wissen will (ebd., S. 455). 39

164

VII. Max Weber und der Totalitarismus

Mommsen verkennt keinesfalls Webers Zeitdiagnose der Moderne: „Der Gedanke an eine materiale Wertordnung, im Sinne von wie immer gearteten wertrationalen Grundsätzen und Grundrechten, die aus eigener Kraft die Herrschaft im Rahmen des demokratischen Verfassungsstaates zu legitimieren vermöge, lag [...] außerhalb des Kreises dessen, was Weber unter den Bedingungen der modernen 45 entzauberten Massengesellschaft für realisierbar hielt.“ Mommsens Werk schließt daher mit der Forderung, daß „nach neuen Formen wertrationaler Gestaltung des politischen Gemeinschaftslebens“ zu suchen sei.46 Insgesamt zeigt sich, daß in Mommsens Interpretationsrahmen der Totalitarismus und die moderne naturrechtliche bzw. demokratische Überzeugung einander diametral gegenüberstehen. Mommsen zufolge liegt dem Totalitarismus eine Irrationalität zugrunde, in der sich die Unbegründbarkeit des Wertes, die extrem machtpolitische Orientierung, die Konzeption der charismatischen Führerdemokratie und das Fehlen der Konzeption des modernen Naturrechts verdichten. d) Die Unmöglichkeit der Grundlegung der Verantwortungsethik bei Mommsen Es muß betont werden, daß Mommsen nur auf die Problematik hinweist, daß Webers Thesen in der prekären Situation der Kriegsniederlage und der revolutionären Wirren durchaus der Entstehung und Entwicklung des Nationalsozialismus das Wort hätten reden können. Mommsen bezeichnet nicht unmittelbar Webers Theorie der Politik als „totalitär“ oder „faschistisch“. Vielmehr spricht er von einer „eigene[n] Kraft“ der politischen Theorie Webers bzw. „eine[r] eigenständige[n], den Motiven ihres Schöpfers bisweilen entgegengesetzte[n] Wirkung“.47 Und die Vorwürfe, die gegen Mommsens scheinbare Ideologie-Kritik an Weber erhoben worden sind, erwidert dieser unmißverständlich: „Es ist von uns überdeutlich hervorgehoben worden, daß eine Entwicklung zu neuen Formen charismatischer Herrschaft totalitärer Observanz gänzlich außerhalb des Horizonts von Max Weber gelegen hat. [...] Persönlich wäre er, nach allem, was wir über ihn wissen, mit Sicherheit ein erbitterter Gegner des Faschismus geworden.“48 Daß in dieser Hinsicht vielmehr seine Gegner zu tadeln sind, hat Mommsen zu Recht bemerkt.49 Hier soll jedoch der Frage nachgegangen werden, ob, und wenn ja, weshalb Weber vom Totalitarismus abzugrenzen ist. Mommsen ist es

45

Ebd., S. 432. Ebd., S. 441. 47 Ebd., S. 414-415. 48 Ebd., S. 449. 49 Vgl. z. B. Karl Loewenstein, Max Weber als „Ahnherr“ des Plebiszitären Führerstaats, in: KZfSS, 13, 1961, S. 275-289. 46

2. Das Mommsen-Paradigma

165

gelungen, die Schwäche und Gefährlichkeit in überzeugender Weise herauszuarbeiten, die Webers Theorie in sich einschließt. Die Klarheit und Konsequenz seiner Darstellung ist beispiellos in der Interpretation der politischen Theorie Webers. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß den anti-totalitären Elementen bei Weber in Mommsens Rahmen nicht nachgegangen werden kann. Freilich schreibt Mommsen ausdrücklich: „Es war ihm[Weber] nicht vergönnt, selbst zu erleben, daß die plebiszitär-charismatische Führerherrschaft nicht die Form einer kraftvollen rechtsstaatlichen Demokratie, sondern die der totalitären Gewaltherrschaft des faschistischen Führerstaates annehmen sollte. Über seine eigene Haltung gegenüber einer solchen Form charismatischer Herrschaft kann kein Zweifel bestehen; eine jede Politik, die sich niedriger Masseninstinkte und nationalistischer Emotionen bedient, hätte er mit äußerster Leidenschaft be50 kämpft.“ Warum kann Mommsen aber behaupten, daß Weber sich mit dem totalitären Regime auseinandergesetzt hätte?51 Mommsen führt bei dieser Frage Webers „Verantwortungsethik“ ins Feld: „Seine Lehre von der Verantwortungsethik, die von dem Politiker verlangt, daß er sich rational Rechenschaft über die letzten Gründe und möglichen Folgen seines Handelns gibt, steht dem Größenwahn und der brutalen Engstirnigkeit faschistischer Herrschaft diametral entgegen.“52 Ist Wolfgang J. Mommsen aber nicht derjenige, der die irrationalen Folgen der nationalen Machtinteressen als des letzten Grundes bei Max Weber äußerst konsequent aufgezeigt hat? Hier zeigt sich, daß Mommsen auch in der Verantwortungsethik dieselbe Gefahr erkennt: Es „erlaubt das Modell der Verantwortungsethik sehr wohl die Wahl extremer Positionen, die man landläufig gesagt als irrational bezeichnen würde, und diese geht durchaus überein mit rationaler Prüfung der möglichen Konsequenzen extremer Positionen.“53 Mommsen schreibt sicherlich dieses Erklärungs-Defizit bezüglich der Verantwortungsethik nicht seiner Interpretation, sondern Max Weber selbst zu.54 Im Mommsen-Paradigma scheint eine solche Sicht konsequent und insofern richtig. Dennoch: Sind diese Elemente, die Mommsen in seinem geschlossenen Interpretationsrahmen auf Webers nationalstaatliches Denken zurückführt, nicht anders zu bewerten, wenn man sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet? 50

Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 436. Vgl. ebd., S. 449-450: „Seine[Webers] leidenschaftlichen Ausfälle gegen die verbrecherischen Aktivitäten der reaktionären Rechten seit 1919 (deren ersten Höhepunkt im Kapp-Putsch er gerade noch erlebt hat) lassen daran nicht den geringsten Zweifel.“ Die theoretische Grundlage dieser „Ausfälle“ scheint auch hier unklar zu sein. 52 Ebd., S. 436. 53 Ebd., S. 472. 54 Vgl. ebd.: „Zwar steckt in dem Begriff der Verantwortungsethik ein Ansatz zu einer normativen Ethik, aber dieser ist von Weber offenbar mit Absicht niemals ausgeführt worden.“ 51

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VII. Max Weber und der Totalitarismus

3. Eric Voegelins Ansatz Das Mommsen-Paradigma ist – wie gesagt – eine fest umrissene Einheit, in der verschiedene Elemente der Weberschen Werkes konsistent angeordnet sind. Die vorliegende Arbeit will nun diese Konsistenz in Frage stellen und untersuchen, ob es Widersprüche zwischen diesen Elementen bei Weber gibt und ob diese Elemente kaleidoskopisch ganz anders arrangiert werden können. Zu diesem Ziel wird im folgenden Eric Voegelin thematisiert. a) Weber und Voegelin an der Schwelle zwischen Positivismus und Ordnungswissenschaft Eric Voegelin (1901-1985) zählt mit Leo Strauss und Hannah Arendt zu den bedeutendsten politischen Philosophen, die während der Nazi-Zeit in die USA emigriert sind. Er beschäftigt sich vor allem mit der klassischen Philosophie, um sich mit den totalitären Erfahrungen im 20. Jahrhundert auseinandersetzen zu können. Das gleiche gilt für Strauss und Arendt. Was ihnen gemein ist, ist die Einsicht, daß der Totalitarismus nicht als Abweichung von der Moderne, sondern als logische Folge der Moderne verstanden werden muß. Es handelt sich dabei um die Krise der Moderne. Die Exilphilosophen versuchen den Totalitarismus zu überwinden, indem sie auf seine tieferen Wurzeln zurückgehen, während Mommsen ihn vom Standpunkt der modernen Demokratie aus zurückweist. Es ist kein Zufall, daß Max Weber für Voegelin und Strauss eines der wichtigsten Themen ist. Da Webers Theorie die sozialphilosophische Diskussion der Moderne maßgeblich mitbestimmte, kamen sie nicht umhin, sich kritisch mit Max Weber auseinanderzusetzen. Eric Voegelin gehört zu einer Generation, die von Max Weber tief geprägt worden ist und doch zugleich nach einem Ausweg aus seinem Denken gesucht hat. Voegelin notiert in seiner Autobiographie: „Eine Ideologie zu verwerfen, weil sie wissenschaftlich unhaltbar ist, sollte für mich zu einer Konstante in jenen Jahren werden. Sehr wichtig für die Herausbildung meines Wissenschaftsverständnisses war die frühe Auseinandersetzung mit dem Werk Max Webers. Seine Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie sowie das Werk Wirtschaft und Gesellschaft erschienen in diesen Jahren und wurden 55 natürlich von uns Studenten verschlungen.“ Im Jahre 1920, in dem Max Weber starb, erschien der erste Band seiner vergleichenden Religionssoziologie. Damals

55

Eric Voegelin, Autobiographische Reflexionen, S. 29.

3. Eric Voegelins Ansatz

167

war Voegelin noch Student in Wien, wo er 1922 bei Hans Kelsen und Othmar Spann promovierte.56 Die „Einleitung“ von Voegelins Die neue Wissenschaft der Politik gilt – neben dem 2. Kapitel von Strauss’ Naturrecht und Geschichte – als eine der wichtigsten Weber-Kritiken. Voegelin bezeichnet dort Max Weber als „Denker zwischen Abschluß und Neubeginn“.57 „Abschluß“ bedeutet dabei der Abschluß des Positivismus. Voegelin charakterisiert den Positivismus durch die beiden Grundannahmen, „daß die Methoden der mathematisierenden Wissenschaften von der Außenwelt durch besondere Leistungsfähigkeit ausgezeichnet seien“ und „daß die naturwissenschaftlichen Methoden ein Kriterium für theoretische Relevanz lieferten“.58 Weber distanziert sich – so Voegelin – vom sog. Positivismus, indem er sich bewußt ist, daß sich „Tatsachen“ auf Wertideen beziehen: dies nämlich bedeutet „Wertbezogenheit“ oder Perspektivität der Erkenntnis. Voegelin bezeichnet es als Webers Verdienst, daß er „die ‚Werte‘ als das, was sie waren, nämlich als ordnende Ideen für das politische Handeln“ erkennt.59 Warum jedoch ist die Differenz zwischen dem Positivismus und Webers Position, die oft in der methodologischen Diskussion vernachlässigt wird, so wichtig für Voegelin? Man kann hier sicherlich auf die Phänomenologie verweisen. Als phänomenologisch ist Voegelins Versuch zu bezeichnen, insofern er eine kritische Stellung gegenüber dem „positivistische[n] Dogma“ einnimmt: „nur Tatsachenurteile betreffend die phänomenale Welt seien ‚objektiv‘, während Urteile über die richtige Ordnung von Mensch und Gesellschaft ‚subjektiv‘ seien“,60 und er daran festhält: „Die Unterordnung der theoretischen Relevanz unter die Methode verkehrt prinzipiell den Sinn der Wissenschaft“.61 Voegelins Theorieentwicklung wäre in der Tat unvorstellbar ohne dessen Bezugnahme auf den phänomenologi62 schen Soziologen Alfred Schütz. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist jedoch bedeutsamer, daß Voegelins Positivismus-Kritik mit seinem Verständnis des 56

Auch für Leo Strauss war Max Weber der entscheidende Ausgangspunkt seiner Forschung. Strauss erinnert sich an sein Zusammentreffen mit Heidegger 1922 in Freiburg und sagt: „[...] compared to Heidegger, Max Weber, till then regarded by me as the incarnation of the spirit of science and scholarship, was an orphan child“ (Leo Strauss, Jewish Philosophy and the Crisis of Modernity. Essays and Lectures in modern Jewish Thought, ed. by Kenneth Hart Green, New York, 1997, p. 461). 57 Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 33. Vgl. II. 3. a) der vorliegenden Arbeit. 58 Ebd., S. 21. 59 Ebd., S. 34. 60 Ebd., S. 30. 61 Ebd., S. 24. 62 Vgl. Helmut R. Wagner, Agreement in Discord: Alfred Schutz and Eric Voegelin, in: Peter J. Opitz/Gregor Sebba (ed.), The Philosophy of Order. Essays on History, Consciousness and Politics, Stuttgart, 1981, pp. 74-90; Gilbert Weiss, Theorie, Relevanz

168

VII. Max Weber und der Totalitarismus

Totalitarismus zusammenhängt. Voegelin bezeichnet den Positivismus als „Szientismus“, in dem er Analogien zum Totalitarismus erkennt.63 Es geht darum, daß der Positivismus als Szientismus den Sinn des Menschen auf den naturwissenschaftlichen Kosmos reduziert. Ähnlich wird es von Weber in der „Zwischenbetrachtung“ beschrieben: „die empirische und vollends die mathematisch orientierte Weltbetrachtung entwickelt prinzipiell die Ablehnung jeder Betrachtungsweise, 64 welche überhaupt nach einem ‚Sinn‘ des innerweltlichen Geschehens fragt.“ Die Dimension, in der nach dem Sinn des Lebens gefragt wird, muß also wegfallen, wenn die naturwissenschaftliche Perspektive als alleinige Perspektive zum Szientismus zugespitzt wird, der „mit dem Anspruch auf[tritt]: die einzig mögliche Form der denkenden Weltbetrachtung zu sein.“65 Diesbezüglich schätzt Voegelin den Begriff der Wertbezogenheit bzw. die perspektivistische Erkenntnistheorie als Webers Verdienst. Gleichzeitig verbindet sich jedoch mit eben dieser Perspektivität der Erkenntnis auch Voegelins Weber-Kritik. Wie schon im II. Kapitel der vorliegenden Arbeit ausführlich dargelegt wurde, beleuchtet Voegelin kritisch den irrationalen bzw. „dämonischen“ Charakter des Wertbegriffs bei Weber. Er wendet ein, „daß die Prämissen bei der Auswahl des Forschungsgegenstandes ebenso wie die Prämissen einer verantwortungsethischen Position im Dunkeln bleiben“.66 An diesem Punkt verwirft Voegelin den Perspektivismus, der die fragwürdige Prämisse des Positivismus sichtbar macht und diesen damit überwindet, d. h. zu einem „Abschluß“ bringt. Er wirft Weber vor, daß er keinen entscheidenden Schritt zum „Neubeginn“ mache, obwohl er die Tür zu diesem „Neubeginn“ geöffnet habe. Diese ambivalente Stellung zur Theorie Max Webers bestimmt Voegelins gesamte Studien. In seinen Autobiographische[n] Reflexionen schreibt Voegelin: „Hier ist die Lücke in Max Webers Werk – und zugleich auch das große Problem, mit dem ich mich in den letzten fünfzig Jahren beschäftigt habe, seit ich auf seine 67 Ideen gestoßen bin.“ Der Gesichspunkt, unter dem Voegelin den irrationalen Charakter des Weberschen Denkens kritisiert und den er mit einem „Neubeginn“ verbindet, ist die „Ordnungswissenschaft“. Voegelins Grundthese wird im „Vorwort zur deutschen Ausgabe“ von Die neue Wissenschaft der Politik deutlich: „Eine Wissenschaft und Wahrheit. Eine Rekonstruktion des Briefwechsels zwischen Eric Voegelin und Alfred Schütz (1938-1959), München, 2000. 63 Vgl. Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 180. Vgl. auch ders., Wissenschaft als Aberglaube. Die Ursprünge des Szientismus, in: Wort und Wahrheit, 6, 1951, S. 341-360; Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 736. 64 RS I, S. 564. 65 RS I, S. 569. Vgl. auch RS I, S. 101. 66 Voegelin, Autobiographische Reflexionen, S. 30. 67 Ebd., S. 30-31.

3. Eric Voegelins Ansatz

169

vom rationalen Handeln des Menschen in Gesellschaft wird dadurch möglich, daß alle untergeordneten und teilhaften Zwecksetzungen des Handelns bezogen werden auf einen höchsten Zweck, auf ein summum bonum, d. h. auf die Ordnung der Existenz durch Orientierung am unsichtbaren Maß göttlichen 68 Seins.“ Es geht ihm um die Rationalität der menschlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Für Voegelin ist es problematisch, daß im Rahmen des Weberschen Denkens keine Möglichkeit besteht, der Rationalität auf der Ebene der Ordnung nachzugehen, weil bei Weber der Wert im Bereich der persönlichen Entscheidung liegt.69 In der vorliegenden Arbeit kann auf Voegelins Ordnungswissenschaft als solche nicht näher eingegangen werden.70 Hier sei nur festgestellt, daß hinsichtlich der Problematisierung des irrationalen Wertbegriffs Max Webers kein Unterschied zwischen Mommsen und Voegelin besteht. Mommsen verknüpft – wie schon erwähnt – die Irrationalität mit dem Begriff der Nation und arbeitet in dieser Richtung Webers Schwäche gegenüber dem Totalitarismus heraus. Voegelin betrachtet hingegen die Webersche Irrationalität unter dem Gesichtspunkt seiner Konzeption der Politik als Ordnungswissenschaft und beleuchtet ihre relativistische und anarchische Konsequenz. Man darf jedoch die Differenz zwischen Mommsen und Voegelin nicht übersehen. Voegelin hält das irrationale Moment im Denken Webers nicht für totalitär, während Mommsen es mit dem Totalitarismus verbindet. Dies beruht auf dem unterschiedlichen Totalitarismusbegriff beider Theoretiker. Im folgenden soll Voegelins Totalitarismusverständnis anhand der grundlegenden Begriffe „politische Religionen“ und Gnostizismus erläutert werden.

68

Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 14. Die vorliegende Arbeit ist jedoch der Ansicht, daß Max Webers spätere Werke – d. h. vor allem seine vergleichende Kultursoziologie – als Versuch der Ordnungswissenschaft gelesen werden können. Im II. Kapitel ist schon darauf hingewiesen worden, daß der Ansatz, der die politische Theorie Webers im Zusammenhang mit seiner Wissenschaftslehre interpretiert, verhindert, seine Kultursoziologie als Ordnungswissenschaft zu begreifen. Voegelin erkennt allerdings – wie im IV. Kapitel erwähnt –, daß sich Webers Verständnis des Naturrechts auf die Ordnungskonzeption bezieht. Er ist aber der Ansicht, daß Weber nicht auf die Ordnungswissenschaft einging: „Webers Bereitschaft, Ordnungswahrheiten als historische Tatsachen einzuführen, machte halt vor der griechischen und der mittelalterlichen Metaphysik“ (Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 41). Dieser Divergenz zwischen Voegelin und Weber soll hier nicht weiter nachgegangen werden, denn die vorliegende Arbeit konzentriert sich darauf, die Nähe der beiden Theoretiker herauszuarbeiten. 70 Vgl. Peter J. Opitz, Politische Wissenschaft als Ordnungswissenschaft. Anmerkungen zum Problem der Normativität im Werk Eric Voegelins, in: Der Staat, 30, 1991, S. 349-365. 69

170

VII. Max Weber und der Totalitarismus

b) Voegelins Totalitarismusverständnis aa) „Politische Religionen“ Der Begriff „politische Religionen“, den Voegelin zur Beschreibung der totalitären Erfahrung verwendet, beruht auf seiner oben dargestellten Ordnungswissenschaft. Voegelin folgt nicht dem modernen Prinzip der Trennung von religiösem und politischem Bereich, vielmehr thematisiert er die Totalität der Ordnung. „Das Leben der Menschen in politischer Gemeinschaft kann nicht als ein profaner Bezirk abgegrenzt werden, in dem wir es nur mit Fragen der Rechts- und Machtorganisation zu tun haben. Die Gemeinschaft ist auch ein Bereich religiöser Ordnung, und die Erkenntnis eines politischen Zustandes ist in einem entscheidenden Punkt unvollständig, wenn sie nicht die religiösen Kräfte der Gemeinschaft und die Symbole, in denen sie Ausdruck finden, mitumfaßt, oder sie zwar umfaßt, aber nicht als solche erkennt, sondern in a-religiöse Kategorien übersetzt.“71

Von dieser Annahme ausgehend, versucht Voegelin den religiösen Wurzeln der ideologischen Massenbewegungen nachzugehen.72 „Der politische Kollektivismus ist nicht nur eine politische und moralische Erscheinung; viel bedeutsamer scheint mir das religiöse Element in ihm zu sein.“73 Voegelins Diskussion mag auf den heutigen Leser befremdlich wirken. Dies hängt damit zusammen, daß er sich einer Dimension annähert, die durch das moderne politische Prinzip der Trennung von Staat und Kirche nicht erfaßt werden kann.74 Mit anderen Worten: Es geht um die Dimension, die durch das Verständnis der Moderne als Differenzierung ausgeblendet wird.75

71

Eric Voegelin, Die Politischen Religionen, 2. Aufl., München, 1996, S. 63. In der „Zwischenbetrachtung“ diskutiert Weber die innerweltliche Erlösung durch den Krieg. „Der Krieg als die realisierte Gewaltandrohung schafft, gerade in den modernen politischen Gemeinschaften, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden und überdies eine Arbeit des Erbarmens und der alle Schranken der naturgegebenen Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen als Massenerscheinung aus“ (RS I, S. 548). Dieser Gedanke zeigt eine große Nähe zu dem Phänomen, auf das Voegelin mit seinem Begriff der „politischen Religionen“ kritisch aufmerksam macht. 73 Voegelin, Die Politischen Religionen, S. 5-6. 74 Auch Weber erkennt das Prinzip der „Trennung“ nicht uneingeschränkt an. Seine Religionssoziologie hat mit Voegelin den gemeinsamen Ausgangspunkt: „alle Schwierigkeiten der Trennung von Kirche und Staat, resultieren aus der in der Sache liegenden Unmöglichkeit, eine Grenze des religiös Relevanten eindeutig zu bestimmen“ (PE II, S. 330). 75 Vgl. Kapitel III der vorliegenden Arbeit. Vgl. auch Jürgen Gebhardt, Wie vorpolitisch ist „Religion“? Anmerkungen zu Eric Voegelins Studie „Die Politischen Reli72

3. Eric Voegelins Ansatz

171

Mit dem Begriff der „politischen Religionen“ ist es Voegelin gelungen, den Mechanismus des totalitären Fanatismus sichtbar zu machen, durch welchen eine politische Organisation religiös verklärt und damit zur Hypostase bzw. 76 zum „Realissimum“ umgewandelt wird. Durch die Verschmelzung von Politik und Religion bzw. den Verlust ihres Spannungsverhältnisses kann politische Gewalt im Namen des religiösen Heils ausgeübt werden. Diesbezüglich weist Weber darauf hin: „Daß, warum und wofür er[der Krieger] den Tod bestehen muß, kann ihm – und außer ihm nur dem, der ‚im Beruf‘ umkommt – in aller Regel so zweifellos sein [...]. Diese Leistung einer Einstellung des Todes in die Reihe der sinnvollen und geweihten Geschehnisse liegt letztlich allen Versuchen, die Eigenwürde des politischen Gewaltsamkeitsverbandes zu stützen, zugrunde.“77

Es ist bemerkenswert, daß Weber die Problematik der politischen Religion nicht nur auf den Krieger, sondern auch auf den innerweltlichen Asket bezieht, „der ‚im Beruf‘ umkommt“. Ihm zufolge ist der asketische Protestantismus – wie schon im IV. Kapitel dargelegt – verwandt mit dem Glaubenskrieg. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen diesem und „Muhammeds von Grund aus politisch orientierte[r] Religion“.78 Es wird darüber hinaus eine gewisse Nähe des asketischen Protestantismus zur chinesischen Ordnung sichtbar, insofern bei beiden das Spannungsverhältnis von Politik und Religion aufgelöst ist. Wolfgang Schluchter verwendet – unabhängig von Voegelin – den Begriff „politische Religion“, um den Konfuzianismus zu charakterisieren. „Dabei repräsentieren asketischer Protestantismus sowie Hinduismus und Buddhismus Fälle von konsequentem praktischem bzw. theoretischem Rationalismus im Rahmen von Erlösungsreligionen, der Konfuzianismus aber den Fall eines konsequenten praktischen Rationalismus im Rahmen einer erlösungsfreien ‚politischen‘ 79 Religion.“ Dieses Entweder-Oder ist aber fragwürdig. Denn in diesem Rahmen wird übersehen, daß auch die Erlösungsreligionen die Problematik der „politischen Religionen“ im Sinne Voegelins nicht umgehen. Es ist im Gegenteil sogar offensichtlich, daß der Fundamentalismus in der Regel eng mit einer

gionen“, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Bürgerreligion und Bürgertugend. Debatten über die vorpolitischen Grundlagen politischer Ordnung, Baden-Baden, 1996, S. 83-84. 76 Vgl. Voegelin, Die Politischen Religionen, S. 17. Weber verwendet den Begriff „politische Religionen“ nicht. Aber er ist sich dieser Problematik wohl bewußt, so spricht er im Zusammenhang mit der Analyse Robert Michels über die Sozialdemokratische Partei von dem „Ersatz für Religion“ (vgl. Brief an Robert Michels vom 27. Oktober 1910, in: MWG II/6, S. 664). 77 RS I, S. 548-549. 78 WuG, S. 271. 79 Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, S. 36-37.

172

VII. Max Weber und der Totalitarismus

Erlösungsreligion verbunden ist.80 Der Puritanismus nähert sich dem Konzept der „politischen Religion“ an, indem er den in sich das Moment der Spannung einschließenden Dualismus beseitigen will.81 Mommsen ist es gewiß gelungen, die „irrationalen“ Elemente der Weberschen Politik zu enthüllen. Man kann zu Recht sagen, daß der Weberschen Theorie eine extrem machtpolitische Perspektive inhärent ist und daß sich die daraus resultierende Irrationalität auf den Totalitarismus im allgemeinen Sinne bezieht. Diese Problematik ist in der Tat nicht zu verkennen, wenn Weber schreibt: „Zur Wiederaufrichtung Deutschlands in seiner alten Herrlichkeit würde ich mich gewiß mit jeder Macht der Erde und auch mit dem leibhaftigen Teufel verbünden, nur nicht mit der Macht der Dummheit.“82 Die machtpolitische Rationalität ist jedoch nicht mit der totalitären Gewalt gleichzusetzen. In Anbetracht der totalitären Gewalt stellt Mommsen sich die Frage: „[...] können wir Weber unbekümmert bis in alle Konsequenzen folgen, nachdem wir das Toben eines Machtgedankens, der sich aller ethischen Bindungen entschlagen hatte und den Massenmord auf seine Fahnen schrieb, miterlebt haben?“83 Aber sollte man nicht vielmehr fragen, was machtpolitisches Denken zu diesem „Toben“ treibt? Voegelins Ansatz ist insofern hochzuschätzen, als er die „Logik der Rechtfertigung moderner Despotien“ „mit Hilfe religionspsychologischer und -soziologischer Kategorien verständlicher zu machen“84 vermag.85

bb) Gnostizismus In Die Neue Wissenschaft der Politik zieht Voegelin den Begriff „Gnostizismus“ heran, um die totalitäre Gesellschaft zu charakterisieren. Ursprünglich bezeichnet der Begriff „Gnosis“ verschiedene religiöse eschatologische Bewegungen der 80

Vgl. dazu Voegelins Begriff des „Gnostizismus“. Dies bedeutet bei Weber – wie schon gesagt – der Verlust des „okzidentalen“ Charakters. Auch Voegelin geht auf diese Problematik ein, indem er die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Politik und Religion richtet. Er bemerkt bezüglich der Theorie Hobbes: „Nach dieser Konstruktion nähert sich die Symbolik sehr stark der ägyptischen“ (Voegelin, Die Politischnen Religionen, S. 58). 82 Marianne Weber, Lebensbild, S. 685. 83 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 69. 84 Hans Maier, „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs, S. 35. 85 Ähnliches gilt auch für den Ansatz von Max Weber. Seine Protestantismusstudie kann er nur entwickeln, indem er die Einflüsse der religiösen Sphäre auf den ökonomischen Zusammenhang beleuchtet. Es geht nicht um eine theoretische Möglichkeit, sondern um den wirklichen „Antrieb“ (vgl. RS I, S. 86, S. 103, Anm. 2, S. 124-128, S. 173, Anm. 1, S. 182, Anm., S. 200; WuG, S. 344-345). 81

3. Eric Voegelins Ansatz

173

Spätantike. Voegelin überträgt ihn jedoch auf die modernen politischen Bewegungen. Dies wird dadurch möglich, daß Voegelin auf die geschichtlichen und zugleich transhistorischen Formen der politischen Ordnungen bzw. die „Symbole“ aufmerksam macht, „durch die politische Gesellschaften sich selbst als Reprä86 sentanten einer transzendenten Wahrheit interpretieren“. Im „Vorwort“ des ersten Bandes von History and Order erläutert Voegelin seine Zielsetzung wie folgt: „Die Studie über Ordnung und Geschichte ist eine Untersuchung über die Ordnung des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte [...]. Die wichtigsten Typen der Ordnung sollen zusammen mit den Symbolen ihrer Selbstauslegung in der Abfolge ihres Auftretens in der Geschichte erforscht werden.“87 Der Begriff „Symbol“ bezieht sich bei Voegelin auf die Erkenntnistheorie. Er versucht Webers perspektivistische Erkenntnistheorie,88 nach welcher kein Gegenstand ohne einen vorgegebenen Gesichtspunkt bzw. ein Bezugssystem betrachtet werden kann, auf den Bereich der politischen Theorie zu übertragen. Bedeutsamer ist jedoch, daß Voegelin den Begriff „Symbol“ verwendet, um die Schwäche des Begriffes „politische Religionen“ zu überwinden. Denn der Begriff „politische Religionen“ bleibt zwangsläufig unklar, insofern Voegelin in jeder Gesellschaft den religiösen Urgrund der Politik finden will. Es gibt – Voegelin zufolge – weder unpolitische Religion noch unreligiöse Politik. Auch Max Weber ist sich dieser unvermeidlichen Unklarheit bewußt, wenn er schreibt: „Irgendwelches Minimum von theokratischen oder cäsaropapistischen Elementen pflegt also mit jeder legitimen politischen Gewalt, welcher Struktur immer, sich zu verschmelzen, weil schließlich jedes Charisma doch irgendeinen Rest von magischer Herkunft beansprucht, also religiösen Gewalten verwandt ist, und also das ‚Gottesgnadentum‘ in irgendeinem Sinne immer in ihr liegt.“89 Voegelin sieht sich deswegen gezwungen, die Art und Weise des Verhältnisses von Politik und Religion zu thematisieren und demgemäß den Ordnungen typologisch nachzugehen.90

86

Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 17. Vgl. Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte, Bd. 1: Die kosmologischen Reiche des Alten Orients – Mesopotamien und Ägypten, München, 2002, S. 28. 88 Dies ist der Ausgangspunkt der Diskussion zwischen Eric Voegelin und Alfred Schütz. Vgl. Voegelins Brief an Schütz vom 30. April 1951, in: Eric Voegelin/Alfred Schütz/Leo Strauss/Aron Gurwitsch, Briefwechsel über „Die Neue Wissenschaft der Politik“, Freiburg/München, 1993, S. 67: „Wir sind ganz einig in der Anerkennung der Weber’schen Absicht, methodische Objektivität im Sinne der interpretationsmäßigen Relevanz zu erreichen.“ 89 WuG, S. 691. 90 In Ordnung und Geschichte unterscheidet Voegelin fünf Typen des Symbols. Im Einzelnen handelt es sich: 1.) „um die Reichsorganisationen des Alten Orients sowie um ihre Existenz in der Form des kosmologischen Mythos“, 2.) „um das Auserwählte Volk und seine Existenz in der Form der Geschichte“, 3.) „um die Polis und ihren Mythos 87

174

VII. Max Weber und der Totalitarismus

Voegelin zählt sechs Merkmale des Gnostizismus auf: – „[D]er Gnostiker [ist] mit seiner Situation unzufrieden“. – Diese Unzufriedenheit bezieht sich auf seine Überzeugung, „daß die Welt wesensmäßig schlecht organisiert ist“. – Der Gnostiker glaubt, „daß Erlösung vom Übel der Welt möglich sei“. – Daraus folgt, „daß die Seinsordnung in einem historischen Prozeß geändert werden müsse“. – Der Gnostiker ist also eine Art Aktivist, der glaubt, „daß eine Änderung der Seinsordnung, die Erlösungscharakter hat, im menschlichen Handlungsordnungsbereich liege“. – Der Gnostiker entwickelt „Rezepte zur Selbst- und Welterlösung“ und ist bereit, „als Prophet aufzutreten, der sein Erlösungswissen der Menschheit verkündet“.91 sowie um die Entwicklung der Philosophie als der symbolischen Ordnungsform“, 4.) „um die multi-kulturellen Reiche seit Alexander und die Entwicklung des Christentums“, 5.) „um die modernen Nationalstaaten und die Entwicklung der Gnosis als der symbolischen Ordnungsform“ (Voegelin, Ordnung und Geschichte, Bd. 1: Die kosmologischen Reiche des Alten Orients – Mesopotamien und Ägypten, S. 28). Das Phänomen des Totalitarismus bezieht sich auf den ersten Typ, die kosmologische Ordnung im Alten Orient, und den letzten Typ, die gnostische Ordnung, insbesondere in der Moderne. Die Schwäche des Begriffes der politischen Religionen liegt darin, daß sich aus dem Blickwinkel der Verquickung von Politik und Religion diese zwei Typen nicht unterscheiden lassen. Die Undifferenziertheit bzw. Amalgamierung ist gewiß ein wichtiger Ansatz (vgl. auch III. 3. b) der vorliegenden Arbeit, wo die Problematik der chinesischen Ordnung diskutiert worden ist). Der japanische Faschismus mag aus diesem Blickwinkel besser analysiert werden. So weist Masao Maruyama beispielsweise darauf hin: „In der undifferenzierten Vereinigung der Bindungen durch Autorität und Norm, durch subjektive Entscheidung und unpersönliche ‚Tradition‘, innerhalb deren sich überhaupt keine Alternativen ergaben, lag eben das Geheimnis des ‚umschließenden‘ und ‚uneingeschränkten‘ Charakters der mit Familie (ie), Sippengruppe (dôzoku) und Dorfgemeinschaft (kyôtô shakai – so Itô Hirobumi) verbundenen Tennôsystem-Ideologie“ (Masao Maruyama, Denken in Japan, Frankfurt am Main, 1988, S. 49). Es bedarf jedoch eines anderen Begriffes, um totalitäre Erscheinungen im Zusammenhang mit dem Zeitalter der Moderne beschreiben zu können. 91 Vgl. Eric Voegelin, Religionsersatz. Die gnostischen Massenbewegungen unserer Zeit, in: Der Gottesmord. Zur Genese und Gestalt der modernen politischen Gnosis, München, 1999, S. 107-108. Die vorliegende Arbeit diskutiert die Begriffe Gnosis und Gnostizismus werkimmanent im Rahmen von Voegelins Schriften, wobei gleichzeitig Webers Theorie berücksichtigt wird. Auf die Fachdiskussion über Voegelins Gnosisbegriff soll hier also nicht eingegangen werden (vgl. Gregor Sebba, History, Modernity and Gnosticism, in: Opitz/Sebba (ed.), The Philosophy of Order, pp. 190-241. Sebba analysiert die Affinität von Gnostizismus und Moderne im Werk Voegelins im Vergleich zu F. C. Bauer, Oswald Spengler, Hans Jonas und C. G. Jung). Ebenso findet Hans Blumenbergs Diskussion über Gnosis und Moderne sowie seine Kritik an Voegelin hier keine Berück-

3. Eric Voegelins Ansatz

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Für den Gnostiker ist die Welt kein „Kosmos“ im Sinne einer harmonischen Ordnung, „an welchen [...] die Anforderung gestellt wird, daß er ein irgendwie ‚sinnvoll‘ geordnetes Ganzes bilden müsse, und dessen Einzelerscheinungen an 92 diesem Postulat gemessen und gewertet werden“. Ihm erscheint die Wirklichkeit als durch und durch verderbte Welt, die es zu vernichten gilt. Daraus resultieren die dualistischen und eschatologischen Züge des gnostischen Denkens. Der gnostische Dualismus ist in den Augen Webers – neben der Prädestinationslehre und der indischen „Karman“-Lehre – eine der „systematisch durchdachte[n] Erledigungen des Problems der Weltunvollkommenheit“, nämlich der Theodizee.93 Wichtiger als die formale Vollkommenheit der Theodizee ist jedoch bei der Betrachtung des Gnostizismus im Zusammenhang mit dem Totalitarismus, daß der Gnostiker sich die Welt als einen geschlossenen Raum vorstellt. Für ihn ist sie – um Webers Metapher zu verwenden – „ein stahlhartes Gehäuse“.94 Mit dieser Metapher beschreibt Weber die moderne Gesellschaft: „Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur daß sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen und den Alltag ihres Arbeitslebens so beherrschend zu bestimmen, wie es tatsächlich in der Fabrik der Fall ist. Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamtenverwaltung und -versorgung

sichtigung (vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main, 1966). Und auch Voeglins Diskussion über den Gnostizismus im Bereich der politischen Wissenschaft liegt außerhalb des Themas der vorliegenden Arbeit (vgl. z. B. Robert Dahl, The Science of Politics: New and Old, in: World Politics, VII, 1955, pp. 479-489). 92 WuG, S. 275. 93 WuG, S. 318. Vgl. auch RS I, S. 572. Unter dem Begriff „Dualismus“ versteht Weber ein Phänomen, das „die spätere Entwicklung der zarathustrischen Religion und zahlreiche, meist von ihr beeinflußte vorderasiatische Glaubensformen mehr oder minder konsequent enthielten, namentlich die Endformen der babylonischen (jüdisch und christlich beeinflußten) Religion im Mandäertum und in der Gnosis, bis zu den großen Konzeptionen des Manichäismus, der um die Wende des 3. Jahrhunderts auch in der mittelländischen Antike dicht vor dem Kampf um die Weltherrschaft zu stehen schien“ (WuG, S. 318). 94 Vgl. Jacob Taubes, Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder Ein Streit um Marcion, einst und jetzt, in: Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft, München, 1996, S. 173-181; Kurt Rudolph, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Göttingen, 1994, S. 77.

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VII. Max Weber und der Totalitarismus

der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll.“95

Dies erklärt, warum gnostisches Denken gerade in der Neuzeit wieder in den Vordergrund tritt. Der moderne Kapitalismus ist „ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist“.96 Diesen Gedanken verdeutlicht Weber auf poetische Weise in seiner Protestantismusstudie: „Nur wie ‚ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte‘, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte“.97 Infolge dessen beherrscht die moderne Bürokratie den Menschen sehr viel rigoroser als die orientalische Bürokratie. Auch ist nicht zu übersehen, daß das heftige Verlangen nach dem Sinn des Lebens eng mit dieser Vorstellung von der Ordnung verbunden ist, wie Hans G. Kippenberg in seiner Arbeit über die antike Gnosis und Max Weber zu Recht feststellt: „Diese Sinnkrise sollte auf keinen Fall als Schwäche oder gar als Zerfall des Staates gedacht werden. [...] Je fester die staatliche Gewalt sich etablierte, wie dies in der Zeit der römischen Herrschaft in Judäa geschah, um so mehr gerieten auch die alltäglichen Institutionen der Familie, der Arbeit, des angestammten Rechtes unter die Zwecke der staatlichen Verwaltung und wurden von traditionsfreien Herrschaftsinteressen bestimmt. Eine solche Situation, wo die Lebensbedürfnisse nicht mehr in den herkömmlichen Institutionen verwirklicht werden konnten, setzen die antiken gnostischen Systeme voraus.“98 Die Bürokratisierung konsolidiert einerseits das Leben des Menschen. Zugleich parzelliert sie es jedoch durch ihre Eigendynamik. Auf diesen Aspekt weist Weber auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik von 1909 hin: „Die zentrale Frage ist [...], [...] was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale.“99 Die Sinnkrise des Lebens hat ihren Ursprung in der „Parzellierung der Seele“, die wiederum aus der Totalisierung der Bürokrati-

95

PS, S. 332. RS I, S. 37. 97 RS I, S. 203-204. 98 Vgl. Hans G. Kippenberg, Intellektualismus und antike Gnosis, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Studie über das antike Judentum, Frankfurt am Main, 1981, S. 215. 99 SS, S. 414. 96

3. Eric Voegelins Ansatz

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sierung und aus der damit verbundenen Verselbständigung sowie Antagonisierung der verschiedenen Sphären mit ihren jeweiligen Eigengesetzlichkeiten resultiert. „Alle ‚Kultur‘ erschien, so angesehen, als ein Heraustreten des Menschen aus dem organisch vorgezeichneten Kreislauf des natürlichen Lebens, und eben deshalb dazu verdammt, mit jedem Schritt weiter eine nur immer vernichtendere Sinnlosigkeit, der Dienst an den Kulturgütern aber, je mehr er zu einer heiligen Aufgabe, einem ‚Beruf‘, gemacht wurde, ein um so sinnloseres Hasten im Dienst wertloser und überdies in sich überall widerspruchsvoller und gegeneinander antagonistischer Ziele zu werden.“100

So ist das Sinn-Problem – wie das stahlharte Gehäuse – ein wesentliches Merkmal der Moderne. Aber zugleich haben beide Phänomene für den Intellektuellen überhistorischen Charakter.101 In dem Punkt, wo das Gehäuse der Gesellschaft und das Problem der Sinnfrage aufeinander treffen, liegt die Genese des gnostischen Denkens. Angesichts dieser Verbindung des stahlharten Gehäuses und der Sinnlosigkeit des Lebens entwickelt sich ein strikter Dualismus. Eine politische Organisation oder eine politische Idee verliert das Moment der Transzendenz, wenn sie im Gegensatz zur finsteren und unreinen Welt als licht und rein bezeichnet wird. Voegelin verwendet den Begriff „Re-Divinisation“, um den Verlust der Transzendenz anders auszudrücken. „Die gnostischen Erfahrungen in der ganzen Skala ihrer Varianten sind der Kern der Re-Divinisation der Gesellschaft, denn die

100

RS I, S. 570. Weber schreibt, daß „die vorderasiatischen Erlösungslehren des Manichäismus und der Gnosis beide ganz spezifische Intellektuellenreligionen [sind], sowohl was ihre Schöpfer wie was ihre wesentlichen Träger und auch was den Charakter ihrer Erlösungslehre angeht“ (WuG, S. 305). Er weist sodann darauf hin: „Eine Erlösungsreligiosität entwickeln sozial privilegierte Schichten eines Volkes normalerweise dann am nachhaltigsten, wenn sie entmilitarisiert und von der Möglichkeit oder vom Interesse an politischer Betätigung ausgeschlossen sind. Daher tritt sie typisch dann auf, wenn die, sei es adligen, sei es bürgerlichen herrschenden Schichten entweder durch eine bürokratisch-militaristische Einheitsstaatsgewalt entpolitisiert worden sind, oder sich selbst aus irgendwelchen Gründen von der Politik zurückgezogen haben, wenn also die Entwicklung ihrer intellektuellen Bildung in ihre letzten gedanklichen und psychologischen inneren Konsequenzen für sie an Bedeutung über ihre praktische Betätigung in der äußeren diesseitigen Welt das Uebergewicht gewonnen hat“ (WuG, S. 306). Diesen Aspekt hebt Kurt Rudolph als Webers Beitrag zur Gnosisforschung hervor: „Auf den Übergang von apolitischer Intellektuellen-Religiosität zur Erlösungsreligiosität hat zuerst M. Weber aufmerksam gemacht [...]. Diese Ausführungen tragen auch heute noch aktuellen Charakter und zeugen von einer hervorragenden Einsicht in die Probleme der Genese von Gnosis und Manichäismus und den anderen soteriologischen Kulten des Vorderen Orients“ (Kurt Rudolph, Randerscheinungen des Judentums und das Problem der Entstehung des Gnostizismus, in: ders. (Hrsg.), Gnosis und Gnostizismus, Darmstadt, 1975, S. 777, Anm. 17). 101

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VII. Max Weber und der Totalitarismus

Menschen vergotten sich selbst, wenn sie solchen Erfahrungen verfallen, und setzen die massiveren Arten der Teilhabe an der Göttlichkeit an die Stelle des Glaubens im christlichen Sinne.“102 Daraus ergibt sich, daß der politische Konflikt ethische und religiöse Züge annimmt. Der Kampf steht nun im Rahmen des Gegensatzes von Gut und Böse, wo er – sich mit dem Erlösungsbedürfnis verbindend – zum Vernichtungskrieg tendiert. Nach Voegelin kennzeichnet dieses Phänomen nicht nur den Nationalsozialismus, sondern auch die Moderne an sich, die vom Puritanismus103 über den Liberalismus,104 bis zum Marxismus105 reicht. Trotz aller Differenzen gibt es einen gemeinsamen Punkt: „Die wirkliche 102

Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 176. Vgl. auch ebd., S. 152. Im IV. Kapitel thematisiert die vorliegende Arbeit die Aufhebung des spannungsvollen Dualismus durch den Puritanismus im Vergleich zum Begriff des „Okzidents“ bei Weber. Dieser Aspekt steht in enger Verbindung mit der gnostischen Moderne im Sinne Voegelins. In der Tat versteht Voegelin in Die Neue Wissenschaft der Politik die „Reformation“ „als ein erfolgreicher Einbruch gnostischer Bewegungen in die westlichen Institutionen“ (ebd., S. 188). Auch Voegelin geht es um Spannung. Er weist darauf hin, „daß die Spannung zwischen einer differenzierten Wahrheit der Seele und der Wahrheit der Gesellschaft in der historischen Realität nicht dadurch beseitigt werden kann, daß man sich der einen oder der anderen Wahrheit entledigt“ (ebd., S. 218). 104 Die theoretische Radikalität, die Anlaß für die heftige Kritik an Voegelins Ansatz war, besteht darin, daß er unter den Begriff des „Gnostizismus“ auch den Liberalismus subsumiert. „Denn die Idee, die Charles Comte vertreten hat, die Idee, daß durch einen stetigen Reformprozeß das ‚Ziel‘ der Revolution ohne ihre unangenehmen Begleiterscheinungen erreicht werden könne, gehört auch in die gnostisch-utopische Klasse. Sie ist aufs engste verwandt mit der progressivistischen Idee des 18. Jahrhunderts, daß in einem Prozeß unendlicher Annäherung ein rationaler Endzustand der Menschheit erreicht werden könne, wie Kant und Condorcet sie vertreten haben. Auch dieser Endzustand der rationalen Menschheit kann nicht erreicht werden, weil der Mensch nicht nur rational, sondern noch manches andere ist. Der kommunistische Revolutionär hat also die révolution permanente des Liberalen nicht zufällig wieder aufgegriffen, denn auch im Liberalismus findet sich das irrationale Element eines eschatologischen Endzustandes, einer Gesellschaft, die durch ihr rationales Verfahren für immer einen Friedenszustand ohne gewaltsame Störungen herbeiführen wird: auch er ist ein Teil der revolutionären Bewegung“ (Eric Voegelin, Der Liberalismus und seine Geschichte, in: Karl Forster (Hrsg.), Christentum und Liberalismus, München, 1960, S. 24-25). Diesbezüglich ist Hannah Arendts Erwiderung auf Voegelins Besprechung ihres Werkes The Origins of Totalitarianism aufschlußreich. Obwohl sie keine Liberalistin ist, weist sie darauf hin: „[...] the point is that liberals are clearly not totalitarians. This, of course, does not exclude the fact that liberal or positivistic elements also lend themselves to totalitarian thinking; but such affinities would only mean that one has to draw even sharper distinctions because of the fact that liberals are not totalitarians“ (Hannah Arendt, A Reply, in: The Review of Politics, 15, 1, 1953, p. 80). 105 Vgl. Ernst Topitsch, Marxismus und Gnosis, in: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied, 1961, S. 235-270. 103

4. Weber aus dem Blickwinkel Voegelins oder Gnosis im Werk Webers

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Gefahr der heutigen Kriege liegt nicht in der technisch bedingten globalen Ausdehnung des Kriegsschauplatzes. Ihr eigentliches Verhängnis beruht vielmehr darauf, daß sie dem Wesen nach gnostische Kriege sind, d. h. Kriege zwischen 106 Welten, die sich gegenseitig vernichten wollen“. Im Zentrum des Totalitarismusverständnisses bei Voegelin steht der Begriff der „Vernichtung“. 4. Weber aus dem Blickwinkel Voegelins oder Gnosis im Werk Webers a) Webers Kampf und der gnostische Kampf Bezeichnet man den gnostischen Kampf, der im Rahmen des Entweder-Oder auf die Vernichtung des Gegners abzielt, als Merkmal des Totalitarismus, so ist die Theorie Max Webers unter diesem Aspekt zu untersuchen. Weber gilt – wie bereits mehrfach erwähnt – als der Denker, der das Moment des Kampfes in aller Radikalität betont. Es stellt sich nun die Frage, ob sein Begriff des Kampfes als „gnostisch“ im oben erläuterten Sinne gelten kann. Viele Weber-Kritiker sehen keinen Unterschied zwischen Webers Kampf und dem gnostischen Vernichtungskampf. „Die Geltung der Werte beruht auf Setzungen. Wer ist es nun, der hier die Werte setzt? Bei Max Weber finden wir die klarsten und insofern auch ehrlichsten Antworten auf diese Frage. Danach ist es das menschliche Individuum, das in voller, rein subjektiver Entscheidungsfreiheit die Werte setzt. [...] Die rein subjektive Freiheit der Wertsetzung führt aber zu einem ewigen Kampf der Werte und der Wertanschauungen, einem Krieg aller mit allen, einem ewigen bellum omnium contra omnes, im Vergleich zu dem das alte bellum omnium contra omnes und sogar der mörderische Naturzustand der Staatsphilosophie des Thomas Hobbes wahre Idyllen sind. Die alten Götter entsteigen ihren Gräbern und kämpfen ihren alten Kampf weiter, aber entzaubert und – wie wir heute hinzufügen müssen – mit neuen Kampfmitteln, die keine Waffen mehr sind, sondern scheußliche Vernichtungsmittel und Ausrottungsverfahren, grauenhafte Produkte der wertfreien Wissenschaft und der von ihr bedienten Industrie und Technik. [...] Daß die alten Götter entzaubert und zu bloß geltenden Werten geworden sind, macht den Kampf gespenstisch und die Kämpfer verzweifelt rechthaberisch. Das ist der Albdruck, den Max Webers Schilderung hinterläßt.“107

Dieser Text stammt von Carl Schmitt, der den Begriff des Politischen als die „Unterscheidung von Freund und Feind“ bestimmt. Auf der Grundlage dieser

106

Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 210. Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie. Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 1967, S. 54. 107

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VII. Max Weber und der Totalitarismus

Passage ließe sich das Thema „Schmitt und der Totalitarismus“ erneut diskutieren.108 Die vorliegende Arbeit möchte sich hier jedoch auf die Feststellungen beschränken, daß Schmitt die Theorie Webers mit dem gnostischen Kampf verknüpft, und daß es ihm gelungen ist, dessen Problematik in aller Klarheit sichtbar zu machen. In der Tat ist Webers Polytheismus stellenweise nicht leicht von dem auf die Vernichtung des Feindes abzielenden Dualismus zu unterschieden. So verweist er z. B. in „Wissenschaft als Beruf“ auf die Alternative: „Je nach der letzten Stellungnahme ist für den Einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches für 109 ihn der Gott und welches der Teufel ist.“ Voegelin hingenen äußert sich nicht explizit zum Verhältnis von Webers Theorie und dem gnostischen Kampf. Je weiter sich seine Ordnung und Geschichte entfaltet, desto seltener wird Webers Werk erwähnt.110 Es ist aber unverkennbar, daß Voegelin – trotz seiner heftigen Kritik an Weber – die Aufmerksamkeit auf das anti-gnostische Moment bei Weber richtet. In seinem Vortrag anläßlich des 100. Geburtstages von Max Weber (1964) spricht Voegelin von einer Epoche, die von vier bedeutenden Theoretikern geprägt ist: Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Max Weber. Voegelin erläutert einige Gemeinsamkeiten dieser Theoretiker111 und weist dennoch auf die besondere Stellung oder – mit seinen eigenen Worten – auf die „Größe Max Webers“ hin: „Dieser Jüngste unter den vier Großen [Weber] steht an der Grenze zum Neuen. Vor allem gibt es bei ihm keine Ideologie, keine revolutionäre Apokalypse, keinen revolutionären

108

Schmitt gilt gewiß als Theoretiker des Nationalsozialismus. In der Weber-Forschung hat man in der Tat häufig die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis Webers zu Schmitt gerichtet, um jene Verwandtschaft mit dem Totalitarismus deutlich zu machen. Dieser Interpretationsrahmen ist aber zu revidieren, wenn man den Totalitarismus unter besonderer Berücksichtigung des Begriffes „Vernichtung“ betrachtet. Schmitt beschäftigt sich vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Problem der „Vernichtung“ (vgl. Carl Schmitt, Theorie des Partisanen). Der oben zitierte Aufsatz „Die Tyrannei der Werte“, der vier Jahre nach der Theorie des Partisanen entstand, ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Die vorliegende Arbeit ist aber im Gegensatz zu Schmitts Interpretation der Ansicht, daß Webers Kampf von einem solchen „gnostischen“ Vernichtungskampf zu unterscheiden ist. 109 WL, S. 604. 110 Vgl. Peter J. Opitz, Max Weber und Eric Voegelin, in: Voegelin, Die Grösse Max Webers, S. 105-133. 111 Voegelin nennt drei Punkte: Sie versuchen zum einen, „den Menschen aus der Perspektive reduzierter Menschlichkeit zu deuten“. Es geht um den Klassenkampf bei Marx, den Willen zur Macht bei Nietzsche, die Libido bei Freud und die Zweckrationalität des Handelns bei Weber. Zum anderen ist ihnen das Bemühen gemeinsam, „die Werte als Masken für Interessen, Kampf und Triebleben zu enthüllen“. Schließlich kennzeichnet sie ein „Aristokratismus der Haltung“ (Voegelin, Die Größe Max Webers, S. 86-87).

4. Weber aus dem Blickwinkel Voegelins oder Gnosis im Werk Webers

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Aktivismus, kein revolutionäres Bewußtsein.“112 Diese Charakteristika, die Weber von den anderen Denkern unterscheiden, beziehen sich alle auf den Gnostizismus. Nach Die Neue Wissenschaft der Politik beschäftigt sich Voegelin – außer im Vortrag „Die Größe Max Webers“ von 1964 – kaum mehr mit Max Weber. Man kann also nicht weiter auf Voegelins Werk zurückgreifen, um den antignostischen Zügen bei Weber nachzugehen, die Voegelin in seinem Vortrag angedeutet hat. Die vorliegende Arbeit geht daher im folgenden direkt auf das Werk Max Webers ein.

b) Gnosis im Werk Max Webers aa) Akosmismus Auch bei Weber findet sich der Begriff „Gnosis“. Er bezieht ihn jedoch auf die asiatische mystische Religiosität besonders in Indien, während der Gnostizismus bei Voegelin für den Aktivisten steht, der die Welt radikal umzugestalten 113 trachtet. „Die asiatische Soteriologie führt den das höchste Heil Suchenden stets in ein hinterweltliches Reich rational ungeformten und eben wegen dieser Ungeformtheit göttlichen Schauens, Habens, Besitzens, Besessenseins von einer Seligkeit, die nicht von dieser Welt ist und doch in diesem Leben durch die Gnosis errungen werden kann und soll. Sie wird bei allen höchsten Formen des asiatischen mystischen Schauens als ‚Leere‘ [...] erlebt“.114 Aus dem gnostischen Denken der asiatischen Mystik, „welches den Tatsächlichkeiten der Welt als solchen im letzten Grunde indifferent gegenüberstand und jenseits ihrer, in der 115 Erlösung von ihr, durch Gnosis, das suchte, was allein not tat“, ist „keinerlei 116 Ethik für das Leben innerhalb der Welt abzuleiten“. Das gnostische Denken bedeutet bei Weber grundsätzlich „Akosmismus“.117

112

Ebd., S. 93. Vgl. RS II, S. 148, S. 170, S. 178, S. 365, S. 369. 114 RS II, S. 366. 115 RS II, S. 167. 116 RS II, S. 178. 117 „Akosmismus“ ist die Lehre von der Weltlosigkeit im buchstäblichen Sinne bzw. „die Ablehnung des antiken Kosmotheismus“ (Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München, 2000, S. 99). Es ist bekannt, daß Hegel weder Atheismus noch Pantheismus, sondern diesen Begriff heranzieht, um die Philosophie Spinozas zu charakterisieren. Die Zeitgenossen Webers verwenden diesen Begriff in unterschiedlicher Weise. Bei Windelband bezieht sich der Akosmismus auf die Eleaten (Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 15. Aufl., Tübingen, 1957, S. 34). Simmel charakterisiert Buddha mit diesem Begriff (Georg Simmel, Rembrands religiöse Kunst, 113

182

VII. Max Weber und der Totalitarismus

In Webers Typologie der Religionen stehen sich der weltbeherrschende Rationalismus (Askese) und der weltflüchtige Rationalismus (Mystik) diametral gegenüber. Es handelt sich um den Gegensatz von dem „Werkzeug Gottes“ und 118 dem „‚Gefäß‘ des Göttlichen“ bzw. von „Askese“ und „Kontemplation“. Es scheint auf den ersten Blick, daß der Gnostizismus bei Voegelin nichts mit Webers Gnosisverständnis zu tun hat. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß – Webers Religionssoziologie nach – jeder Erlösungsreligion die „Weltablehnung“ zugrunde liegt.119 Sei es bei der Beherrschung der Welt, sei es bei der Flucht vor der Welt, so stimmen die Erlösungsreligionen hinsichtlich ihrer negativen Stellung zur Welt überein.120 Dieser Aspekt ist vor allem wichtig, um die Askese bei Weber zu verstehen. Sie bezieht sich nicht nur auf die Weltbeherrschung. Sie ist vielmehr durch „das Doppelgesicht“ zu charakterisieren: „Weltabwendung einerseits, Weltbeherrschung kraft der dadurch erlangten magischen Kräfte andererseits“.121 In diesem Sinne gründen sich die Erlösungsreligionen auf den „Akosmismus“.122 „Die gesinnungsethische Sublimierung der religiösen Ethik wird der letzteren Alternative [in den beiden Gegenpolen entweder vom Erfolg oder von einem – irgendwie ethisch zu bestimmenden – Eigenwert dieses Tuns an sich] zuneigen: ‚der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘. Damit aber wird bei wirklich konsequenter Durchführung das eigene Handeln gegenüber den Eigengesetzlichkeiten der Welt zur Irrationalität der Wirkung verurteilt. Angesichts dessen kann die Konsequenz einer sublimierten Heilssuche zu einer Steigerung des Akosmismus bis dahin führen, das zweckrationale Handeln schon rein als solches, also alles Handeln unter den Kategorien: Mittel und Zweck, als weltgebunden und gottfremd abzulehnen, wie dies [...] in in: GSG 13, S. 78). Scholz versteht darunter „unirdisch“ (Heinrich Scholz, Religionsphilosophie, 2. Aufl., Berlin, 1922, S. 97) . 118 RS I, S. 538-539. 119 Vgl. Stefan Breuer, Weltablehnung, in: Hans G. Kippenberg/Martin Riesebrodt (Hrsg.), Max Webers „Religionssystematik“, Tübingen, 2001, S. 227-240. 120 Diesbezüglich weist Gedaliahu G. Stroumsa darauf hin, „daß der christliche Asket durch Entdeckung und Vereinheitlichung seiner Persönlichkeit den Weg sowohl für christliche Weltbeherrschung – die Max Weber der ‚innerweltlichen Askese‘ zuschrieb – wie für christliche Selbstbeherrschung ebnet, die eher dem Mystiker eignet. Tatsächlich ist die Mystik, entgegen Max Webers Ansicht, der Mystik und Askese an entgegengesetzten Polen ansiedelt, in der christlichen Geschichte sehr viel häufiger mit der Askese identisch, als dies nicht der Fall ist“ (Gedaliahu G. Stroumsa, Die Gnosis und die christliche „Entzauberung der Welt“, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Webers Sicht des antiken Christentums, Frankfurt am Main, 1985, S. 503). Aber dies bedeutet dem Verständnis der vorliegenden Arbeit nach kein Ungenügen der Typologie Webers. Die Problematik liegt vielmehr darin, daß der Gegensatz von Askese und Mystik ohne Bezug auf den Wertgesichtspunkt der Typologiebildung verallgemeinert wird. 121 RS I, S. 540. 122 Der Konfuzianismus ist der Definition nach keine Erlösungsreligion.

4. Weber aus dem Blickwinkel Voegelins oder Gnosis im Werk Webers

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verschiedener Folgerichtigkeit vom biblischen Gleichnis von den Lilien auf dem Felde angefangen bis zu den prinzipielleren Formulierungen, z. B. im Buddhismus geschah.“123

Akosmismus bedeutet bei Weber, daß in der absoluten Liebe, die durch die Entfremdung von der Welt in den Vordergrund rückt, die Welt radikal abgelehnt wird. Als religiöse Virtuosen nennt Weber „Buddha, Jesus, Franziskus“.124 Dies ist eng mit seinem Religionsverständnis verbunden. Bei Buddha,125 Jesus, 126 Franz von Assisi127 oder Tolstoi 128 steht die Religion als Akosmismus eigentlich in keiner Verbindung mit der Welt, insbesondere der Politik. Es ist freilich 123

RS I, S. 553. RS I, S. 571. Vgl. PS, S. 550. 125 Zum „unpolitischen“ Charakter des Buddhismus vgl. III. 3. a) der vorliegenden Arbeit. 126 Vgl. WuG, S. 380. Diesbezüglich schreibt Nietzsche: „Das Christentum ist möglich als privateste Daseinsform; es setzt eine enge, abgezogene, vollkommen unpolitische Gesellschaft voraus, – es gehört ins Conventikel“ (Friedrich Nietzsche, Nachlaß Herbst 1887 10 [135], in: KSA 12, S. 532). Vgl. auch Jacob Taubes, Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes, in: Karl Engisch/Bernhard Pfister/Johannes Winckelmann (Hrsg.), Max Weber. Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages 1964, Berlin, 1966, S. 191. 127 Vgl. Marianne Weber, Lebensbild, S. 510-512, S. 614, S. 710. Zu dieser Zeit wurde Henry Thodes Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien enthusiastisch rezipiert. Thode war als Heidelberger Kunsthistoriker Webers Kollege (vgl. Paul Honigsheim, Erinnerungen an Max Weber, S. 241-242). Es ist noch wichtiger, daß Franz von Assisi als Gegenbild des modernen Menschen gesehen wurde. Georg Simmel formuliert diesen Kontrast wie folgt: „So entsteht die typische problematische Lage des modernen Menschen: das Gefühl, von einer Unzahl von Kulturelementen umgeben zu sein, die für ihn nicht bedeutungslos sind, aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll; die als Masse etwas Erdrückendes haben, weil er nicht alles einzelne innerlich assimilieren, es aber auch nicht einfach ablehnen kann, da es sozusagen potentiell in die Sphäre seiner kulturellen Entwicklung gehört. Man könnte dies mit der genauen Umkehrung des Wortes charakterisieren, das die ersten Franziskaner in ihrer seligen Armut bezeichnete, in ihrer absoluten Befreitheit von allen Dingen, die irgendwie noch den Weg der Seele durch sich hindurchleiten und zu einem indirekten machen wollten: Nihil habentes, omnia possidentes – statt dessen sind die Menschen sehr reicher und überladener Kulturen omnia habentes, nihil possidentes“ (Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: GSG 12, S. 220). 128 In einem Brief an Robert Michels vom 4. August 1908 schreibt Weber: „‚mein Reich ist nicht von dieser Welt‘ (Tolstoj, oder der zu Ende gedachte Syndikalismus [...])“ (MWG II/5, S. 615). Diese Charakterisierung des Moralismus Tolstois ist zugleich als Definition des „Akosmismus“ zu verstehen. Weber weist hier auf „Leo Tolstojs Apolitismus“ hin (MWG I/10, S. 677). Bezüglich des Verhältnisses Webers zu Tolstoi vgl. Edith Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, Tübingen, 1993; Hartmann Tyrell, Intellektuellenreligiosität, „Sinn“-Semantik, Brüderlichkeitsethik – Max Weber im Verhältnis zu 124

184

VII. Max Weber und der Totalitarismus

festzustellen, daß der Akosmismus in diesem Sinne keinesweges mit dem Gnostizismus identisch ist. Mit anderen Worten: Der A-kosmismus ist kein Antikosmismus.129 Es ist aber unverkennbar, daß Akosmismus und Gnostizismus einen gemeinsamen Berührungspunkt haben, ähnlich wie Franz von Assisi durchaus in Beziehung zu seinen enthusiastischen Nachfolgern gesehen werden muß, obwohl er von diesen grundsätzlich zu unterscheiden ist. Man kann also mit Dante Germino sagen: „From Voegelin we learn that, although gnosticism does not inevitably lead to the cult of violence (for gnostic responses to the experience of world-alienation range all the way from pacificism to its opposite), gnosticism does provide the essential ingredient, the conditio sine qua non, of such a cult: the rejection of the order of Being as a prison from which one must escape.“130

bb) Gesinnungsethik Auch Webers Begriff der Gesinnungsethik ist im Zusammenhang mit dem Gnostizismus neu zu untersuchen, wenn sich Gnosis auf den Akosmismus bezieht.131 Denn die Gesinnungsethik entspringt ihrem Wesen nach dem „Liebesakosmismus“. „Je rationaler und gesinnungsethisch sublimierter die Idee der Erlösung gefaßt wurde, desto mehr steigerten sich daher jene aus der Reziprozitätsethik des Nachbarschaftsverbandes erwachsenen Gebote äußerlich und innerlich. Aeußerlich bis zum brüderlichen Liebeskommunismus, innerlich aber zur Gesinnung der Caritas, der Liebe zum Leidenden als solchen, der Nächstenliebe, Menschenliebe und schließlich: der Feindesliebe.“132 Diese Gesinnungsethik ist gewiß verwandt mit dem absoluten Pazifismus. Weber weist diesbezüglich darauf hin: „[...] ist alles ‚gesinnungsethisch‘ zur brüderlichen Liebesgesinnung systematisiert, dies Gebot ‚universalistisch‘ auf jeden, der jeweils gerade der ‚Nächste‘ ist, bezogen und zur akosmistischen Paradoxie gesteigert an der Hand des Satzes: daß Gott allein vergelten wolle und werde. Bedingungsloses Verzeihen, bedingungsloses Geben, bedingungslose Liebe auch des Feindes, bedingungsloses

Tolstoi und Dostojewski, in: Anton Sterbling/Heinz Zipprian (Hrsg.), Max Weber und Osteuropa, Hamburg, 1997, S. 25-58. 129 Vgl. Kurt Rudolph, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, S. 69: „Der gnostische Dualismus unterscheidet sich von diesen [anderen Typen des Dualismus] vor allem in dem einen wesentlichen Punkt, daß er ‚antikosmisch‘ ist, d. h., zu seinem Konzept gehört eine eindeutig negative Bewertung der sichtbaren Welt einschließlich ihrer Urheber; sie gilt als Reich des Bösen und der Finsternis.“ 130 Dante Germino, Eric Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, Occasional Paper VII, München, 1998, p. 48. 131 Der Akosmismus führt allerdings zum „Verzicht auf Erlösung“, wenn er sich zum innerweltlichen Aktivismus wandelt (RS I, S. 546). 132 RS I, S. 543. Vgl. auch RS I, S. 553.

4. Weber aus dem Blickwinkel Voegelins oder Gnosis im Werk Webers

185

Hinnehmen des Unrechts, ohne dem Uebel mit Gewalt zu widerstehen, – diese Forderungen an den religiösen Heroismus könnten ja Produkt eines mystisch bedingten Liebesakosmismus sein.“133 Die Lehre des Akosmismus birgt aber die Gefahr, daß sie sich zum Antikosmismus verwandelt, wie Voegelin kritisch anmerkt. Weber verkennt dieses Problem keineswegs, wenn er bezüglich des Zusammenhanges zwischen Gesinnungsethik und Gewalt sagt: „[...] hat sie[die Gesinnungsethik] logischerweise nur die Möglichkeit: jedes Handeln, welches sittlich gefährliche Mittel anwendet, zu verwerfen. Logischerweise. In der Welt der Realitäten machen wir freilich stets erneut die Erfahrung, daß der Gesinnungsethiker plötzlich umschlägt in den chiliastischen Propheten, daß z. B. diejenigen, die soeben ‚Liebe gegen Gewalt‘ gepredigt haben, im nächsten Augenblick zur Gewalt aufrufen, – zur letzten Gewalt, die dann den Zustand der Vernichtung aller Gewaltsamkeit bringen würde“.134

Die gesinnungsethische Perspektive, die sich im Punkt der reinsten Liebe zuspitzt, schneidet jegliche Beziehung mit dem Kosmos ab. Der „ethische[n] Rigorismus“ der Gesinnungsethik trägt in sich gnostische Züge, indem er andere Maßstäbe als mögliche ethische Perspektiven zu beseitigen und die Welt im Rahmen der Dichotomie von Gut und Böse zu beherrschen sucht.135 Weber erkennt den Kern des Problems des Gnostizismus, wenn er sagt: „Der Gesinnungsethiker erträgt die ethische Irrationalität der Welt nicht.“136 Webers Verantwortungsethik geht indes davon aus, daß die Welt nicht ausschließlich durch die Moral rationalisiert werden kann. Sie bezieht andere Werte mit ein, und ist sich in diesem Sinne der (ethischen) Irrationalität der Welt bewußt.137 An dieser Stelle zeigt sich der Unterschied zwischen dem gnostischen und dem Weberschen Begriff des Kampfes. Der Kampf wird vom Gnostiker und Gesinnungsethiker geführt, um die „Dummheit oder Gemeinheit [...]aus[zu]rotten“.138 Dieser Kampf wird immer als ein „Endkampf“ angesehen139 und mit dem Anspruch geführt, diese Offensive „sei die letzte, sie werde den Sieg und dann den Frieden bringen“.140 Dies korrespondiert damit, daß Voegelin die politische Theorie Thomas Hobbes für gnostisch hält. Denn Hobbes zielt darauf,

133

WuG, S. 380. PS, S. 553. 135 Vgl. WuG, S. 324. 136 PS, S. 553. 137 Vgl. V. 1. a) der vorliegenden Arbeit. 138 PS, S. 559. 139 WuG, S. 318. 140 PS, S. 553. 134

186

VII. Max Weber und der Totalitarismus

den Naturzustand als „Kampf aller gegen alle“ zu beenden.141 Webers Kampfbegriff ist dagegen nicht gnostisch. Er behauptet, daß der Kampf nicht zu beseitigen ist: „[...] nicht auszuscheiden ist aus allem Kulturleben der Kampf. Man kann seine Mittel, seinen Gegenstand, sogar seine Grundrichtung und seine Träger ändern, aber nicht ihn selbst beseitigen. Er kann statt eines äußeren Ringens von feindlichen Menschen um äußere Dinge ein inneres Ringen sich liebender Menschen um innere Güter und damit statt äußeren Zwangs eine innere Vergewaltigung (gerade auch in Form erotischer oder karitativer Hingabe) sein oder endlich ein inneres Ringen innerhalb der Seele des Einzelnen selbst mit sich selbst 142 bedeuten, – stets ist er da“. Diese These ist oft als kämpferischer Nationalismus ausgelegt worden. Es ist aber nicht zu übersehen, daß sie dem gnostischen Endkampf Einhalt gebietet, der den Kampf als solchen zu beseitigen sucht. Webers Verständnis des Kampfes, das sich auf seine polytheistische Perspektive des Wertes gründet, sieht die Welt nicht im Rahmen des dualistischen EntwederOder. Max Weber ist zwar bekannt als Theoretiker des „strenge[n] Entweder-Oder“.143 So schreibt er beispielsweise in einem Brief vom 13. November 1918: „Ich verstehe Sie einfach nicht. Entweder – oder! Entweder dem Uebel nirgends mit Gewalt widerstehen, dann aber: – so leben wie der heilige Franz und die heilige Klara, oder ein indischer Mönch, oder ein russischer Navordnik(?). Alles andere ist Schwindel oder Selbstbetrug. Es gibt für diese absolute Forderung nur den absoluten Weg: den des Heiligen. Oder: dem Uebel mit Gewalt widerstehen wollen, weil man sonst mitverantwortlich dafür ist.“144 Es ist dabei jedoch zu beachten, an wen diese Worte gerichtet sind. Wenn Weber die Alternative des Entweder-Oder hervorhebt, wendet er sich immer gegen diejenigen, die das Spannungsverhältnis von Moral und Politik mißachten, seien es Syndikalisten, seien es Hegelianer. Er schreibt im zitierten Brief weiter: „Daß gerade der Bürgerkrieg oder sonstige Vergewaltigung – wie jede Revolution mindestens, allermindestens als ‚Mittel‘ zum Zweck sie anwendet – ‚heilig‘ sein soll, gerechte 145 Kriegsnotwehr dagegen nicht, ist und bleibt mir schlechthin ein Rätsel.“ Was Weber hier anprangert, ist der heilige Krieg bzw. Glaubenskrieg, der gnostisch werden kann, indem der Zweck die Mittel uneingeschränkt heiligt. Die Alternative des „Entweder-Oder“ setzt Weber demjenigen entgegen, der die einzelnen

141

Vgl. Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 211-223. WL, S. 517. 143 Marianne Weber, Lebensbild, S. 614. Vgl. Edith Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende, S. 208. 144 Zitiert nach Marianne Weber, Lebensbild, S. 614-615. Vgl. auch PS, S. 142-145, S. 550-551; MWG II/5, S. 615-616. 145 Zitiert nach Marianne Weber, Lebensbild, S. 615. 142

4. Weber aus dem Blickwinkel Voegelins oder Gnosis im Werk Webers

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Wertsphären nivelliert. Er betont hingegen die Heterogenität der Wertsphären und richtet seine Aufmerksamkeit auf die Kategorien Konflikt und Kompromiß. So schreibt er in einem Brief an Wilbrandt vom 02. April 1913: „Ich halte den unausgleichbaren Konflikt, also die Notwendigkeit steter Compromisse, für das die Wertsphäre beherrschende; wie man die Compromisse machen soll, kann 146 Niemand, es sei denn eine ‚offenbarte‘ Religion, zwingend entscheiden wollen.“ Daraus ergibt sich, daß Max Webers Begriff des Kampfes den Gegenpol zum gnostischen Vernichtungskrieg bildet. Sein Plädoyer für den Kampf eskaliert die Machtpolitik nicht. Der Kampf ist das oberste Prinzip, das die Machtpolitik sowohl bedingt als auch relativiert.

c) Polytheistischer Rationalitätsbegriff als antitotalitäre politische Theorie Eric Hobsbawm nennt die Geschichte des „Kurzen 20. Jahrhunderts“ von 1914 bis 1991 „das Zeitalter der Extreme“. Es ist in der Tat offensichtlich, daß der Totalitarismus bzw. die gnostischen Vernichtungskriege im 20. Jahrhundert eng mit der Extremität der politischen und moralischen Positionen verbunden sind. Das dualistische gnostische Denken radikalisiert den Konflikt, und der so eskalierte Kampf drängt die politischen Gruppen in extreme Denk- und Verhaltensmuster. Gnostizismus und Extremität gehen Hand in Hand. Webers politische Theorie impliziert gewiß – wie viele Interpreten aufgewiesen – das Moment der Extremität. Er behauptet ausdrücklich: „Die ‚mittlere Linie‘ ist um kein Haarbreit mehr wissenschaftliche Wahrheit als die extremsten Parteiideale von rechts oder links.“147 Wolfgang Mommsen richtet sein Augenmerk auf diese Extremität und erklärt Webers Machtpolitik in diesem Zusammenhang.148 Für eine solche Interpretation spricht die Tatsache, daß Weber für die gesinnungsethischen Radikalisten eine nicht geringe Sympathie empfand, während er gleichzeitig heftig gegen sie polemisierte.149 Angesichts dieser Extremität bei Weber weist Leo Strauss darauf hin: „Wie vernünftig Weber auch immer als 146

Zitiert nach Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 47, Anm. 37. 147 WL, S. 154. Vgl. auch WL, S. 499. 148 Vgl, Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 42-43: „Alle, die Weber persönlich gekannt haben, sind von der außerordentlichen Schroffheit und Kompromißlosigkeit seines Machtdenkens fasziniert, nicht selten abgestoßen worden.“ 149 Diesbezüglich ist das Verhältnis von Max Weber und Ernst Toller zu berücksichtigen. Vgl. Dittmar Dahlmann, Max Webers Verhältnis zum Anarchismus und den Anarchisten am Beispiel Ernst Toller, in: Mommsen/Schwentker (Hrsg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, S. 506-524; Edith Weiller, Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen, Stuttgart/Weimar, 1994, Kap. IV.

188

VII. Max Weber und der Totalitarismus

praktischer Politiker war und wie sehr er auch den engstirnigen Parteifanatismus verabscheute, als Sozialwissenschaftler näherte er sich den sozialen Problemen in einem Geist, der nichts mit dem Geist staatsmännischer Kunst zu tun hatte und zu keinem anderen praktischen Zweck als der Bestärkung eines engstirnigen 150 Fanatismus dienen konnte.“ Hier ist freilich eine gewisse Nähe Webers zum Totalitarismus festzustellen. Jedoch steht der antagonistische Polytheismus bei Weber, wie schon dargestellt, im Gegensatz zum gnostischen Dualismus. Seine polytheistische Perspektive auf den Kampf unterbindet den Gnostizismus. Man kann also feststellen, daß der Kern des Weberschen Denkens darin liegt, daß die Extremität nicht mit dem gnostischen Denken verbunden ist. Max Weber ist insofern kein typischer Denker des 20. Jahrhunderts, sondern ein unzeitgemäßer Denker, dessen Aktualität erst heute, nach dem Ende des „Kurzen 20. Jahrhunderts“ sichtbar wird. In den „Soziologische[n] Grundbegriffe[n]“ von Wirtschaft und Gesellschaft bezeichnet Weber die „Menschenrechte“ als „extrem rationalistische Fanatismen“.151 Diese Feststellung erregt – als logische Konsequenz seines Verständnisses des Naturrechts – Wolfgang Mommsens Widerspruch: „Max Weber hielt die naturrechtliche Begründung der Demokratie und des liberalen Rechtsstaats für altes Eisen, das keine tragfähige Basis für eine moderne Staatslehre mehr abgeben könne. […] er hielt die naturrechtliche Axiomatik für nicht mehr imstande, unter den Bedingungen des Hochkapitalismus eindeutige Weisungen für eine gesellschaftliche Ordnung zu geben. Auch für ihn hatte ‚der alte individualistische Grundgedanke der unveräußerlichen Menschenrechte‘ unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft viel von seiner Überzeugungskraft verloren, und er scheute sich nicht, sich gelegentlich ausdrücklich über sie hinwegzusetzen.“152

Auf der Basis des Mommsen-Paradigmas läßt sich freilich nicht erklären, warum Weber den Begriff „rationalistisch“ mit dem Begriff „fanatistisch“ in Verbindung bringen kann, ja sogar muß. Webers Einsicht wird erst verständlich, wenn man das Problem aus dem Blickwinkel Eric Voegelins betrachtet. Es geht um den Sachverhalt, daß sich die Richtigkeit (oder Rationalität) einer bestimmten Perspektive, wenn sie sich verabsolutiert und substanzialisiert, in eine Unrichtigkeit (oder Irrationalität) verwandelt. Innerhalb Wolfgang Mommsens Interpretationsrahmen gibt es keinen Einhalt gegen den Fanatismus im Namen von Demokratie und Menschenrechten. Voegelin betrachtet – wie gesagt – kritisch den „dämonischen“ Charakter des Wertbegriffes bei Weber und stellt fest, daß aufgrund dieser „Irrationalität“ der

150

Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 69. WuG, S. 2. 152 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, S. 418-419. 151

4. Weber aus dem Blickwinkel Voegelins oder Gnosis im Werk Webers

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Rationalität der Ordnungsebene nicht mehr nachgegangen werden kann. Dennoch erklärt Voegelin – im Gegensatz zu Wolfgang Mommsen – die Begriffe Rationalität und Irrationalität nicht im Rahmen des Entweder-Oder. In seiner frühen Arbeit „Über Max Weber“ (1925) schreibt Voegelin: „Es gibt für unser Bewußtsein einen Punkt vor der Welt, an dem wir einsam sind, so einsam, daß keiner 153 dahin folgen kann – als der Dämon“. Der „Dämon“ ist, so Voegelin, ein konstitutives Element des menschlichen Bewußtseins. Das „Dämonische“ ist also keineswegs zu beseitigen. Es ist hier unverkennbar, daß Voegelins Auffassung über das „Dämonische“ mit seiner Gnostizismus-Kritik zusammenhängt. „Die gnostische Spekulation überwand die Ungewißheit des Glaubens dadurch, daß sie sich von der Transzendenz abwandte und den Menschen in seinem innerweltlichen Handlungsbereich mit dem Sinn einer eschatologischen Erfüllung ausstattete.“154 Wird ein Symbol seines Ursprungs beraubt, so führt das zur gnostischen Problematik der Hypostasierung des Symbols. Voegelins Stellung zum „Dämonischen“ ist also ambivalent. Wolfgang Mommsen geht von der dichotomischen Annahme aus, daß die Irrationalität von der Rationalität strikt zu trennen ist, und stellt die Wertrationalität des „Naturrechts“ dem totalitären Irrationalismus gegenüber. Dieser dualistische Interpretationsansatz zeigt sich in seiner Diskussion der „Universalgeschichte“, wo er schreibt: „Im Zentrum des universalgeschichtlichen Denkens Max Webers steht ein dualistisches Modell geschichtlichen Wandels, das in der Dichotomie von individuellem Charisma und anonymer Bürokratie seinen klassischen Ausdruck gefunden hat.“155 Eric Voegelin richtet dagegen seine Aufmerksamkeit darauf, daß eine Ordnung das irrationale bzw. „dämonische“ Moment in sich einschließt. Er hält also am Moment des „Sprunges“ fest.156 Die Irrationalität bildet nicht das Gegenteil der Rationalität, sondern ist Bestandteil derselben. Das dichotomische Schema von Rationalität und Irrationalität bzw. von Gut und Böse entspricht dem Gnostizismus. Aus dem Blickwinkel Voegelins betrachtet, läßt sich bezüglich des „stahlharten Gehäuses“ der Gesellschaft sagen, daß Weber diesem „Gehäuse“ nicht das Charisma, sondern seine pluralistische und antagonistische Theorie der Rationalität gegenüberstellt. Weber kritisiert

153

Voegelin, Über Max Weber, in: Die Grösse Max Webers, S. 27. Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, S. 181-182. 155 Mommsen, Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, S. 15. 156 Vgl. Voegelin, Ordnung und Geschichte, Bd. 1: Die kosmologischen Reiche des Alten Orients – Mesopotamien und Ägypten, S. 49: „Die vollkommene Einstimmung auf das Sein durch Umwendung ist nicht eine Steigerung auf dem bisherigen Niveau, sondern ein qualitativer Sprung.“ Hier stützt sich Voegelin auf Kierkegaard. Vgl. auch Voegelin, Autobiographische Reflexionen, S. 99. 154

190

VII. Max Weber und der Totalitarismus

die gegebene Gesellschaft, indem er sie nicht als einen geschlossenen „Kosmos“, sondern als „einen Komplex von faktischen Bestimmungsgründen“ erfaßt.157 Es geht weder darum, den Totalitarismus und den Fundamentalismus einseitig zu dämonisieren, indem man sich als Mitglied der „zivilisierten Gesellschaft“ identifiziert. Noch darum, die Gesinnungsethik vom verantwortungsethischen Standpunkt aus zurückzuweisen, um Webers Terminus zu benutzen.158 Wenn man sich der einen Seite dieser Dichotomien gegenüber verschließt, ist ein gewisser Bezug zum Totalitarismus nicht von der Hand zu weisen. Webers polytheistische Wertlehre bzw. seine Theorie der antagonistischen Rationalität ist nicht als Korrelat zum Totalitarismus, sondern vielmehr als anti-totalitär zu bewerten, insofern sie uns einer solchen Ambivalenz gegenüber empfindlich macht.

157

WuG, S. 181. Die Gleichrangigkeit von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bei Weber darf also nicht als Schwäche dem Totalitarismus gegenüber gedeutet werden, da dieses Gleichgewicht verhindern kann, daß eine gesinnungsethische Position im Namen der Verantwortungsethik vernichtet wird. Vgl. V. 4. der vorliegenden Arbeit. 158

VIII. Schlußfolgerung „[...] ganz universell ist jene Erscheinung: daß Kulturrezeptionen im allgemeinen gerade da ganz neue und eigenartige Gebilde erzeugen, wo sie Gelegenheit haben und genötigt sind, sich mit Vorstellungsreihen zu verschmelzen, welche ihrerseits noch unsublimiert und nicht durch priesterliche, amtliche oder literarische Prägung stereotypiert sind und also die Anpassung der alten rationalisierten Gebilde an ganz neue und relativ einfache Bedingungen erzwingen“ (Max Weber).1

1. Thesen Die vorliegende Arbeit hat den inneren Zusammenhang zwischen der okzidentalen Kultur und der antagonistischen polytheistischen Theorie der Politik bei Max Weber herausgearbeitet. Dieser Versuch bedeutet zugleich eine Auseinandersetzung mit den bis dahin in der Weber-Forschung vorherrschenden Annahmen. Es handelt sich dabei um die folgenden acht Thesen: i) Webers Theorie der Politik ist im Zusammenhang mit seiner Methodologie bzw. Wissenschaftslehre zu diskutieren, auf welcher seine gesamte Theorie basiert. ii) Die machtpolitische Theorie und der moderne okzidentale Rationalismus bei Weber können im Rahmen der Differenzierungstheorie interpretiert werden. iii) Asketischer Protestantismus, Okzident und Moderne bei Max Weber sind miteinander widerspruchsfrei verbunden. 1

RS III, S. 136.

192

VIII. Schlußfolgerung

iv) Weber steht der protestantischen Politik positiv gegenüber, da sie wesentlich zur Entstehung der modernen politischen Ideen beigetragen hat. v) Webers Perspektive auf den Kampf ähnelt Simmels „Soziologie des Streites“. vi) Weber gibt – im Gegensatz zur Gesinnungsethik – der Verantwortungsethik den Vorrang. vii) Webers Plädoyer für den Kampf ist eng verbunden mit seiner machtpolitischen Orientierung. viii) Webers politische Theorie ist verwandt mit dem Totalitarismus. Diese Aussagen müssen nun revidiert werden. Entsprechend lassen sich die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit in folgenden Thesen zusammenfassen: i’) Webers Theorie der Politik ist auf der Grundlage seiner vergleichenden Kultursoziologie zu interpretieren, welche die Aufmerksamkeit nicht auf einzelne Perspektiven bzw. Rationalitäten, sondern auf die gesamte Kultur, insbesondere auf deren Modus des Verhältnisses der verschiedenen Rationalitäten untereinander richtet (vgl. Kapitel I und II der vorliegenden Arbeit). ii’) Der okzidentale Rationalismus ist ein Ordnungsbegriff, der als Modus des Verhältnisses mehrerer Rationalitäten zu verstehen ist. Er kann als Spannungsverhältnis der Wertsphären charakterisiert werden, das von dem unvermittelten Nebeneinander der altindischen Gesellschaft zu unterscheiden ist. Die Machtpolitik bei Machiavelli und Weber ist nicht im Rahmen der Differenzierungstheorie, sondern vor dem Hintergrund dieser Ordnung zu interpretieren (vgl. Kapitel III). iii’) Webers Begriff des Naturrechts korrespondiert mit der „okzidentalen“ Ordnung, die durch das Spannungsverhältnis der Wertsphären charakterisiert werden kann. In dieser Hinsicht stehen sich „okzidentale“ Kultur und asketischer Protestantismus diametral gegenüber. Denn der Puritaner versucht, mit dem Spannungsverhältnis das Merkmal des „Okzidents“ zu beseitigen. Ebenso ist Webers Begriff des „Okzidents“ auch von der „Moderne“ zu unterscheiden, obgleich beide ohne Zweifel miteinander verbunden sind (vgl. Kapitel IV). iv’) Weber distanziert sich von der Politik des asketischen Protestantismus, denn er beurteilt den Glaubenskrieg kritisch als Versuch des Puritanismus, den in sich das Moment der Spannung einschließenden Dualismus als Merkmal der „okzidentalen“ Kultur zu beseitigen. Diese Perspektive ist auch im Zusammenhang mit dem Totalitarismus von Bedeutung (vgl. Kapitel IV).

2. Aktualität der Theorie Max Webers

193

v’) Die Konflikttheorien von Simmel und Weber unterscheiden sich auf der Ebene der ontologischen Grundannahmen. Simmel diskutiert den Streit auf der Grundlage des ästhetischen Pantheismus, während Weber sich vor dem Hintergrund des antagonistischen Polytheismus mit dem Kampf befaßt. Weber richtet die Aufmerksamkeit auf den Konflikt zwischen den Wertsphären, während Simmel den Streit unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik behandelt (vgl. Kapitel V). vi’) Gesinnungs- und Verantwortungsethik stehen einander als gleichrangige Prinzipien antagonistisch gegenüber. Dies gründet sich nicht auf den sog. Wertrelativismus, sondern auf die Verteidigung des Konflikts an sich (vgl. Kapitel V). vii’) Webers Plädoyer für den Kampf schlechthin ist als seine vorwissenschaftliche Einstellung zur Gesellschaft zu verstehen. Nur im Moment der Spannung findet er eine Menschenwürde für denjenigen, der sowohl das Fachmenschentum als auch die Mystik ablehnt. In seiner Theorie hat daher der Begriff des Kampfes einen signifikanteren Stellenwert als die sog. Machtpolitik, der es am „tragischen Moment“ fehlt. Webers Begriff des Kampfes ist nicht machtpolitisch, vielmehr beschränkt er die Monoperspektivität der Machtpolitik (vgl. Kapitel VI). viii’) Webers polytheistische Wertlehre ist kein Relativismus, sondern ein Anti-Gnostizismus im Sinne Eric Voegelins. In dieser Hinsicht ist seine Theorie der Politik als anti-totalitär zu bezeichnen. Sein antagonistischer Polytheismus steht im Gegensatz zum gnostischen „Vernichtungskrieg“ (vgl. Kapitel VII).

2. Aktualität der Theorie Max Webers Mit dem Ende des Kalten Krieges hat sich die globale Situation grundlegend verändert. Viele Begriffe und Konzeptionen werden dementsprechend überprüft, und die Geisteswissenschaften erfahren in der Tat verschiedene „Renaissancen“: 2 die Renaissance der Kultursoziologie, die Renaissance der Diskussion des We3 stens, die Renaissance der Konflikttheorie,4 die Renaissance der Totalitarismus-

2

Vgl. „Einleitung“ der vorliegenden Arbeit. Vgl. Herfried Münkler, Europa als politische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle Bedeutung, in: Leviathan, 19, 1991, S. 521-541; Jürgen Habermas/Jacques Derrida, Unsere Erneuerung – Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Mai 2003, Nr. 125, S. 33-34. 3

194

VIII. Schlußfolgerung

forschung5 usw. Unter Berücksichtigung dieser „Renaissancen“ hat die vorliegende Arbeit Max Webers Theorie der Politik interpretiert.6 Die oben aufgeführten acht Thesen sind das Ergebnis dieser Analyse. Schließlich soll die Aktualität der in diesen Thesen zusammengefaßten Theorie Max Webers im Kontrast zu Samuel Huntingtons Buch Kampf der Kulturen dargestellt werden, das als eines der einflußreichsten Paradigmen nach dem Fall der Berliner Mauer und vor allem nach dem 11. September 2001 gilt. Es ist schon in der „Einleitung“ der vorliegenden Arbeit auf die Affinität Webers zu Huntington hingewiesen worden. Bei beiden verbindet sich die Analyse der Kultur bzw. Zivilisation mit dem Aspekt des Kampfes. Trotzdem weichen Weber und Huntington in einigen zentralen Punkten voneinander ab. In bezug auf ihr Kultur- und Okzidentverständnis: Huntington setzt sich – wie Weber – mit der Kultur unter besonderer Berücksichtigung der Religion auseinander. „Von allen objektiven Elementen, die eine Kultur definieren, ist [...] das wichtigste für gewöhnlich die Religion [...] In ganz hohem Maße identifiziert man die großen Kulturen der Menschheitsgeschichte mit den großen 7 Religionen der Welt“. Ferner stehen bei beiden Theoretikern die Begriffe Kultur und Zivilisation nicht im Singular, sondern im Plural. Weber versteht den Begriff „Rationalismus“ als Ordnungskonzeption8 und verwendet ihn nicht nur zur Beschreibung der okzidentalen Kultur, sondern auch zur Analyse der chinesischen und indischen Kultur.9 Auch Huntington behandelt die einzelnen Kulturkreise nicht kontrastiv zum Begriff der „Barbarei“, sondern als gleichwertige Phänomene.10 Von dieser relativistischen Annahme ausgehend, weist Samuel Huntington vollständig die Universalität der okzidentalen Kultur zurück. Er vertritt die These: „Die westliche Kultur ist wertvoll nicht, weil sie universal wäre, sondern weil sie wirklich einzigartig ist.“11 Diesem Abrücken vom Postulat der Einzigartigkeit des Okzidents zugunsten eines universalistischen Konzepts liegt Hunting4

Vgl. Thorsten Bonacker, Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien – Einleitung und Überblick, in: ders. (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien, Opladen:, 2002, S. 10. 5 Vgl. VII. 1. der vorliegenden Arbeit. 6 Die Weber-Forschung bildet dabei keine Ausnahme. Vgl. Klaus Lichtblau, Die Renaissance des Politischen. Neuere Beiträge zum Werk Max Webers, in: Soziologische Revue, 23, 2000, S. 425-430. 7 Huntington, Kampf der Kulturen, S. 52. 8 Vgl. II. 3. d) der vorliegenden Arbeit. 9 Vgl. RS I, S. 452, S. 492, S. 512; RS II, S. 164. 10 Huntington, Kampf der Kulturen, S. 50. 11 Ebd., S. 513.

2. Aktualität der Theorie Max Webers

195

tons Überzeugung zugrunde: „In der entstehenden Welt ethnischen Konflikts und kulturellen Kampfes krankt der Glaube an die Universalität der westlichen Kultur an drei Problemen: er ist falsch, er ist unmoralisch, und er ist gefährlich.“12 Huntington ist sich vor allem des Zusammenhanges zwischen Universalismus und Imperialismus wohl bewußt. Max Weber will dagegen die okzidentale Kultur im „universalgeschichtlichen“ Zusammenhang verstehen.13 An dieser Stelle kann man freilich mit guten Gründen auf die Zeitbedingtheit der imperialistischen Epoche hinweisen. Man hat ferner die Problematik des „Orientalismus“ im Sinne Edward Saids zu berücksichtigen. Said weist in der Tat darauf hin, „that Weber’s studies of Protestantism, Judaism, and Buddhism blew him (perhaps unwittingly) into the very territory originally charted and claimed by the Orientalists. There he found encouragement amongst all those nineteenth-century thinkers who believed that there was a sort of ontological difference between Eastern and Western economic (as well as religious) ‚mentalities‘.“14 Dieser Unterschied zwischen Webers und Huntingtons Position ist aber nicht ausschließlich mit dem Aspekt des Imperialismus bzw. Eurozentrismus zu erklären. Er ist vielmehr als Differenz ihrer Ansichten über Kultur und Pluralität zu verstehen. Huntington betrachtet die westliche Kultur als eine relativ geschlossene Einheit. Er wendet sich also gegen den Multikulturalismus. „Die Multikulturalisten in Amerika [...] möchten [...] ein Land der vielen Kulturen schaffen, will sagen ein Land, das zu keiner Kultur gehört und eines kulturellen Kerns ermangelt. Die Geschichte lehrt, daß ein so beschaffenes Land sich nicht lange als kohärente Gesellschaft halten kann.“15 Dagegen konzipiert Weber die okzidentale Kultur als eine Ordnung, die in sich das Moment der Spannung einschließt. Das Naturrecht ist bei ihm – wie im IV. Kapitel dargestellt – das Prinzip einer so verstandenen

12

Ebd., S. 511. Vgl. RS I, S. 1, S. 10, S. 205, Anm. 1; RS III, S. 7. Vgl. Günter Abramowski, Das Geschichtsbild Max Webers. Universalgeschichte am Leitfaden des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, Stuttgart, 1966; Wolfgang Mommsen, Universalgeschichtliches und politisches Denken, in: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, S. 97-143 (vgl. VII. 2. b) der vorliegenden Arbeit). Es ist aber sehr umstritten, was Weber unter dem Begriff „universell“ versteht. Die vorliegende Arbeit möchte die Aufmerksamkeit auf eine Passage in der Judentumstudie richten, die am Anfang dieser „Schlußfolgerung“ zitiert wurde (vgl. RS III, S. 136). Darin erkennt Weber die Universalität nicht in der Gewißheit der theoretischen Grundlage, sondern vielmehr im Undogmatismus bzw. in der Nicht-Erstarrung der Elemente. Diese „okzidentale“ Universalität ist – Webers vergleichender Kultursoziologie nach – eng verbunden mit der antagonistischen Polyperspektivität. 14 Edward W. Said, Orientalism, p. 259. 15 Huntington, Kampf der Kulturen, S. 503. Vgl. ebd., S. 218-245. 13

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VIII. Schlußfolgerung

Ordnung, und seine Theorie der Politik gründet sich dementsprechend auf dieses Spannungsverhältnis. Sein Verständnis der okzidentalen Kultur korrespondiert damit, daß Weber trotz seines sehr „relativistischen“ Standpunktes am Moment der „Universalität“ des Okzidents festhält. Der von Weber konzipierte Okzident ist die einzige Zivilisation, die sich theoretisch mit der Pluralität auseinandersetzt und das Moment der Spannung und des Konflikts in sich einschließt. Wenn Weber sich mit Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ konfrontiert sähe, würde er vermutlich Karl Popper zustimmen, der in seinem Vortrag „Über den Zusammenprall von Kulturen“ sagt: Das Abendland entstand „durch den Zusammenprall der verschiedenen Kulturen am Mittelmeer und im Nahen Osten. Das gilt auch für die griechische Kultur, die wohl die wichtigsten Beiträge zu unserer gegenwärtigen abendländischen Kultur lieferte: ich meine die Idee der Freiheit, die Entdeckung der Demokratie und die kritische, die rationale Einstel16 lung, die schließlich zur modernen Naturwissenschaft führte.“ In bezug auf den Kampf: Der oben erwähnte unterschiedliche Entwurf der okzidentalen Kultur bei Weber und Huntington hängt auch mit einer unterschiedlichen Auffassung über den Kampf zusammen. Als Akteure des Kampfes versteht Huntington die miteinander im Kampf stehenden Kulturkreise, während es Weber vornehmlich um das Spannungsverhältnis der Wertsphären innerhalb einer Kultur geht.17 Huntingtons Prämisse von der Homogenität der Kultur verhindert, daß Wertkonflikte innerhalb einer Kultur (und einer Persönlichkeit) zutage treten, und führt zum Modell des Kampfes zwischen in sich geschlossenen Kulturen. Auch Weber spricht in „Wissenschaft als Beruf“ vom Konflikt „zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur“,18 der wissenschaftlich nicht zu entscheiden sei. In seiner frühen Phase schreibt er sogar: „Es sind vornehmlich deutsche Tagelöhner, die aus den Gegenden mit hoher Kultur abziehen; es sind vornehmlich polnische Bauern, die in den Gegenden mit tiefem Kulturstand sich vermehren.“19 Zumindest in der Freiburger Antrittsrede verbinden sich Kampf und Kultur in undifferenzierter Weise miteinander. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß im Verlauf seines wissenschaftlichen Lebens die Perspektive des Kampfes zwischen den Kulturen zurückgetreten ist, und das Konzept der Kollision der Werte an Bedeutung gewonnen hat.20 Weber versteht hierbei Kultur nicht als geschlossene Einheit,

16

Vgl. Karl R. Popper, Über den Zusammenprall von Kulturen, in: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München/Zürich, 1995, S. 132. 17 Vgl. III., IV. und V. 3. der vorliegenden Arbeit. 18 WL, S. 604. 19 PS, S. 6. 20 Vgl. VI. 4. der vorliegenden Arbeit.

2. Aktualität der Theorie Max Webers

197

sondern als einen „Komplex“ von Elementen. Auf diese Akzentverschiebung gründen sich seine Kultursoziologie und Verantwortungsethik. Was die Einstellung zum Kampf angeht, bemüht Huntington sich darum, den Kampf der Kulturen zu verhindern. Seine Weltsicht liegt parallel zu Thomas Hobbes’ Auffassung vom Naturzustand. Huntington entwickelt dazu „das Prinzip 21 der Gemeinsamkeiten“. Weber hält dagegen den Kampf für ein nicht zu vermeidendes Prinzip. Er betont nicht die Gemeinsamkeit, sondern das Spannungsverhältnis. Es geht ihm nicht darum, eine globale Gesellschaft ohne jenes Moment des Konflikts zu entwerfen. Sondern vielmehr darum, die verschiedenen Konflikte in einem Gleichgewicht der Spannung zu halten, das keine gegenseitigen Vernichtungskriege zuläßt. Zusammenfassend gesagt: Samuel Huntington thematisiert den Kampf bzw. Zusammenprall von Kulturen, wobei er die westliche Kultur als eine unter vielen relativiert. Max Weber richtet dagegen die Aufmerksamkeit auf das Spannungsverhältnis der Wertsphären und sieht darin die Besonderheit und „Universalität“ der „okzidentalen“ Kultur. Aus der Sicht der Theorie Max Webers wird die Problematik von Huntingtons These erkenntbar. Es geht um die Substanzialisierung der Kultur oder den Fundamentalismus. Die Homogenität der Kultur, von der Huntington ausgeht, kann – wie viele Kritiker angemerkt haben – nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Diese Annahme ist vor allem hinsichtlich ihrer politischen Implikationen in der gegenwärtigen Situation äußerst problematisch. Wer die asiatische Gesellschaft auf der Grundlage der Religions- und Kultursoziologie Max Webers untersucht, sieht sich mit dem Sachverhalt konfrontiert, daß sich der Partikularismus ohne Kontrolle entwickeln kann.22 Bezüglich der „patriarchalen Herrschaft“ stellt Weber fest, daß sie die „materiale[n] Prinzipien der sozialen Ordnung“ verfolgt, „seien diese nun politischen oder wohlfahrtsutilitarischen oder ethischen Inhalts“.23 In dieser Ordnung gilt der folgende Satz: „Alle Schranken zwischen Recht und Sittlichkeit, Rechtszwang und väterlicher Vermahnung, legislatorischen Motiven und Zwecken und rechtstechnischen Mitteln sind niedergerissen.“24 Die Problematik des Partikularismus, daß sich eine bestimmte Perspektive

21

Huntington, Kampf der Kulturen, S. 528. Vgl. III. 3. b) der vorliegenden Arbeit. In dieser Einsicht liegt vielleicht die Aktualität der Forschung der Weber-Rezeption in Japan, die im Rahmen der „ProtestantismusKapitalismus-These“ oder im Zusammenhang mit der „Modernisierung“ weitgehend übersehen worden ist. In diesem Kontext ist vor allem Masao Maruyama zu erwähnen. Seine Kritik an Robert Bellah ist auch undenkbar ohne seine Auseinandersetzung mit Webers Kulturvergleich (vgl. IV. 4. der vorliegenden Arbeit). 23 WuG, S. 486. Vgl. auch WL, S. 478. 24 WuG, S. 487. 22

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VIII. Schlußfolgerung

uneingeschränkt entwickeln kann, findet sich vor allem im Fundamentalismus. Der Fundamentalismus als modernes Phänomen stellt, so Martin Riesebrodt, „ein retardierendes Moment gegen den generellen Trend zur Entpatriarchalisierung und Versachlichung von Sozialbeziehungen dar, einen alternativen Entwurf, der die technische Seite westlicher Moderne mit je nach Kultur recht unterschiedlich ‚modernisierten‘ Versionen patriarchalischer Organisationsformen und 25 Sozialmoral verbindet“. In dieser Verbindung von Modernisierung und Patriarchalismus manifestiert sich die Problematik des Partikularismus in extremerer Weise. Gegen diesen Partikularismus ist Huntingtons Theorie nicht immun, wenn er die okzidentale Kultur als eine homogene Einheit neben anderen begreift. In dieser Hinsicht offenbart seine These eine gewisse Verwandtschaft mit dem fundamentalistischen Denkmodell.26 Als Gegenpol zum Partikularismus hat man immer versucht, den „Universalismus“ zu verteidigen, der mit Demokratie, Menschenrechten und Liberalismus in Verbindung gesetzt wird. Man darf aber an dieser Stelle nicht übersehen, daß die Problematik, welche Weber in der patriarchalen Herrschaft erkennt, nicht nur in der „traditionellen“ Despotie zum Tragen kommt. Ähnliche Strukturen entstehen immer da, wo es innerhalb einer Ordnung an Gegenprinzipien bzw. am Spannungsverhältnis fehlt. Dieses Verständnins hängt damit zusammen, daß Weber – wie Wolfgang Mommsen kritisch bemerkt – kein Demokrat ist. Im Partikularismus bzw. in der Unformalität, so Weber, „begegnen sich die Tendenzen einer souveränen Demokratie mit den autoritären Mächten der Theokratie und des patriarchalen Fürstentums“.27 Max Weber hebt auch in diesem Fall den Zusammenhang hervor, daß der Verlust der Gegnerschaft zur Tyrannei einer bestimmten „materialen“ Gerechtigkeit führt. Bei Weber hat die Perspektive der Wertkollision eindeutig den Vorrang vor der Demokratie. Ähnliches gilt auch für Webers ambivalente Stellung zu den Menschenrechten28 und zum Liberalismus.29 In beiden Fällen geht es ihm um die „Tyrannei“ einer Perspektive bzw. das Fehlen von Gegenprinzipien. 25

Vgl. Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung: amerikanische Protestanten (1910-28) und iranische Schiiten (1961-79) im Vergleich, Tübingen, 1990, S. 249. 26 Vgl. Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München, 2000, S. 29. 27 WuG, S. 471. Vgl. WuG, S. 454, S. 469. 28 Vgl. IV. 4. der vorliegenden Arbeit. 29 Vgl. Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, Kap. 5. Dies ist parallel zur kritischen Stellung Voegelins zum Liberalismus (vgl. VII. 3. b) der vorliegenden Arbeit). Gegen die islamische Kultur wird oft aufgrund ihrer Verschmelzung von Religion und Politik polemisiert. Das liberalistische Prinzip der institutionellen Trennung von Kirche und Staat ist zwar grundlegend; das bedeutet jedoch nicht, daß sich die angeblich liberalen

2. Aktualität der Theorie Max Webers

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Max Webers idealtypische Konstruktion der „okzidentalen“ Kultur, der sein antagonistischer Pluralismus zugrunde liegt, ist vor allem in diesem Kontext aktuell. Weber wendet sich gegen den fundamentalistischen Partikularismus einerseits und gegen den Gnostizismus im Namen des Universalismus andererseits, indem er die Aufmerksamkeit auf das Spannungsverhältnis der Wertsphären innerhalb einer Kultur richtet. Diese Perspektive auf den Kampf im Sinne Webers, die – wie schon wiederholt bemerkt – häufig im Zusammenhang mit der Machtpolitik verstanden worden ist, verhindert, daß Kulturen sich substanzialisieren und Konflikte zu Vernichtungskriegen eskalieren. Dieser Aspekt der Theorie Webers ist weitgehend übersehen worden, da man seine Schriften bislang fast ausschließlich im Rahmen der Modernisierungstheorie gelesen hat. Man sieht sich aber heutzutage mit der Situation konfrontiert, daß der Modernisierungsansatz die „Rückkehr der Religionen“ nicht erklären kann, und daß er angesichs des Zutagetretens des Fundamentalismus offenbar zu einem universalistischen Fanatismus zu führen scheint. Max Weber ist hier nicht als Theoretiker der Moderne, sondern vielmehr als Theoretiker des „Okzidents“ zu lesen, welcher als eine Ordnung verstanden wird, die in sich das Moment des Spannungsverhältnisses einschließt. Man darf in dieser Hinsicht Webers Kulturvergleich als „okzidentzentrisch“ bezeichnen. Es ist aber nicht zu übersehen, daß seine Theorie ein gewisses Potential birgt, selbst den „real-existierenden Westen“ in Frage zu stellen. Dabei liegt der Kern seines Begriffes des „Okzidents“ nicht in der Überlegenheit der modernen Technik, der Wirtschaft und der militärischen Stärke, sondern vielmehr in der Freiheit, die nur auf der Grundlage der antagonistischen Polyperspektivität erwachsen kann.

Staaten dem Problem der „politischen Religionen“ im Sinne Voegelins entziehen. Vgl. auch IV. 2. e) dieser Arbeit.

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Personenverzeichnis Adorno 125, 137 Arendt 105, 166, 168, 178 Aron 39, 46, 140 Baudelaire 120, 124±128, 135 Bellah 72, 105±106, 197 Berlin, Isaiah 45, 62, 114 Braun, Christoph 46, 68, 81 Breuer, Stefan 104, 116, 159, 182 Buddah 147, 181, 183 Calvin 98±100 Doderer 27 Dumont 37, 57, 113 Eisenstadt 72 Fichte 47±48, 59±61 Franz von Assisi 141, 147, 183±184, 186 Frisby 120, 126±128 Gephart, Werner 16, 37, 63, 76, 80, 82, 90, 97, 126, 130±131 Guizot 71 Habermas 29, 48, 124±128, 162, 193 Hegel 16, 23, 29, 38, 60, 137, 155, 181 Heidegger 64, 133, 167 Hennis 22, 25, 40, 95, 104, 112. 199 Hobbes 29±30, 74±75, 85, 95, 136, 140, 172, 179, 185, 197 Hobsbawm 156, 187 Honigsheim 69±70, 89, 112, 139, 151± 152, 183 Huntington 15, 17±18, 194±198

Jaspers 21, 24±25, 132±133 Jellinek 80, 97 Kautilya 45, 50±54, 57, 59, 63±64, 141 Kelsen 76, 167 Kierkegaard 112±115, 135, 137±138, 189 Klee 105 Lenk 27, 149 Lichtblau 15, 118, 120±121, 194 Löwith 16, 29, 137, 155 Luhmann 151 Lukµcs 26, 28, 34, 112, 117 Luther 100, 146 Machiavelli 20±21, 30, 45±54, 57, 59± 63, 68±70, 88, 102, 141, 192 Maier, Hans 154±155, 157, 172 Mannheim 137, 151 Maruyama 99, 105±106, 113, 174, 197 Meinecke 62, 77, 149±150 Mommsen, Wolfgang J. 13, 16, 21, 25, 29, 50, 59, 67, 72±76, 79, 82, 85, 88, 95, 105±106, 127, 140, 149, 155±166, 169, 172, 187±189, 195, 198 Montesquieu 38±39 Münch 42, 50, 79 Nietzsche 19, 21±26, 28, 37, 46, 64, 70, 82, 112, 120, 124±125, 128, 132±133, 135, 137, 140, 180, 183 Nolte, Ernst 156±157, 162 Opitz 157, 167, 169, 174, 180 Panofsky 31±32, 79 Platon 31, 125, 135

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Personenverzeichnis

Rickert 24±25, 37, 61 Riesebrodt 182, 198 Roth 16, 26, 97, 108 Rudolph, Kurt 175, 177, 184 Said 72, 195 Scaff 15, 150 Schluchter 13±14, 18, 24, 41±42, 48, 52, 56, 79, 81±82, 85, 90±91, 94, 102, 104, 116, 122, 137, 171, 176, 182 Schmitt, Carl 26, 29, 95, 107, 115, 136, 154, 160±161, 179±180 Schwentker 16, 25, 72, 82, 88, 99, 106, 127, 149, 187 Simmel 32, 49, 107, 112, 117±122, 124±130, 134±139, 147, 150±151, 181, 183, 192±193 Strauss, Leo 13, 26, 28±29, 32, 62, 74± 75, 95, 136, 139±140, 154, 163, 166± 167, 173, 187±188

Taubes 175, 183 Tolstoi 109, 183±184, 186 Troeltsch 15, 36, 77, 85±89, 94, 98, 100, 106 Voegelin 19, 26±27, 30, 94, 103, 112± 113, 138, 154, 157, 163, 166±174, 177±182, 184±186, 188±189, 193, 199 Vossler 46, 77 Wagner, Richard 68±70, 149 Warburg, Aby 139, 141±145, 148±149, 151 Weber, Marianne 14, 32, 39, 41, 46, 70, 81±82, 104±105, 110, 112±113, 119, 147, 149, 172, 183, 186 Weiû, Johannes 13, 35, 119, 143