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German Pages 80 [81] Year 1981
Schröder • Dürer - Kunst und Geometrie
Selbstbildnis Dürers aus dem Jahre 1498. Madrid Prado
EBERHARD SCHRÖDER
DÜRER Kunst und Geometrie Dürers künstlerisches Schaffen aus der Sicht seiner »Underweysung«
Mit 61 Abbildungen
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1980
Bildnachweis: Deutsche Fotothek Dresden (Abb. 31, 34, 39, 41, 45, 47, 55), Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Abb. 3)
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-1080 Berlin, Leipziger Straße 3 - 4 Lektor: Dipl.-Math. Gesine Reiher © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lizenznummer: 202 • 100/539/81 Gestaltung: Rolf Kunze, Großpösna Gesamtherstellung: VEB Druckhaus Kothen Bestellnummer: 762 736 1 (6555) • LSV 8126, 1009 Printed in G D R D D R 15,- M
INHALT
7 Vorwort 9 Kurze Inhaltsübersicht zur »Underweysung« 13 Dürers »Underweysung« im Spiegel des allgemeinen Wissensstandes zur Zeit der Renaissance 36 Rekonstruktionsanalysen an Kunstwerken Dürers, die vor der zweiten Italienreise entstanden 51 Dürers zweite Italienreise 53 Rekonstruktionsanalyse an dem Kupferstich »Hieronymus im Gehäuse« 64 Rekonstruktionsanalyse an dem Kupferstich »Melancholie« Schlußfolgerungen 76 Literatur 77 Wichtige Lebensdaten von Dürer 78 Jahreszahlen aus der Zeit der Renaissance
VORWORT
Das vorliegende Buch wendet sich an Fachleute sowie an interessierte Laien auf dem Gebiet der Bildenden Kunst, der Kunstgeschichte und der Geometrie. Die darin enthaltenen Reproduktionen, geometrischen Analysen und vergleichenden Betrachtungen bilden eine Zusammenfassung einiger populärwissenschaftlicher Vorträge und Veröffentlichungen. Über Albrecht Dürer existiert bereits ein sehr umfangreiches Schrifttum. Sowohl sein künstlerisches Gesamtwerk wie auch seine vielfältigen theoretischen Studien waren in den verschiedenen Epochen seit der Renaissance Gegenstand intensiver Untersuchungen. In der Dürer-Literatur vermißt man jedoch eine über konstruktive Analysen zu konkreten Aussagen führende Synthese aus dem schriftlich überlieferten Nachlaß des Meisters einschließlich seiner Bücher und Skizzenblätter und seinem künstlerischen Schaffen vor allem bezüglich der Anwendung von Gesetzmäßigkeiten der Zentralperspektive. Bei einer ersten Durcharbeitung von Dürers »Underweysung« beeindruckte mich besonders, daß der Künstler z.B. die synthetische Erzeugung von Kegelschnitten, die affine Transformation von Kreis in Ellipse, die Konstruktion regelmäßiger Polygone sowie die Darstellung der regulären und einiger halbregulärer Polyeder in sein Lehrbuch aufgenommen und mit Hilfe instruktiver Bilder beschrieben hatte. Ferner standen mir, allerdings nur aus der Sekundärliteratur, Dürers Londoner und Dresdner Skizzenblätter zur Verfügung. Hier faszinierten mich vor allem Dürers Diagonalverfahren zur Transformation des Normalrisses einer ebenen Figur in einen Zentralriß, eine Konstruktion mit Verwendung der Distanzpunkte, die konstruktive Umsetzung einer kartesischen Skala in eine projektive Skala und der Zentralriß eines abgestumpften Rhomboeders. Recht aufschlußreich ist fernerhin die zweite Auflage der »Underweysung« von 1538, die gegenüber der ersten einige bemerkenswerte Zusätze enthält. Die Urheberschaft Dürers für diese Ergänzungen läßt sich zweifelsfrei aus den Londoner Skizzenblättern belegen. Nicht voll ausgeschöpft scheint mir in der Dürer-Literatur das Bemühen des Meisters um die Beherrschung der Gesetzmäßigkeiten der Zentralperspektive und die Widerspiegelung dieser geistigen Auseinandersetzung in seinen Kunstwerken. Zum Beispiel gelangt man durch vergleichende Betrachtung einiger dieser Skizzenblätter mit Rekonstruktionsanalysen an dem Meisterstich »Melancholie« zu einer konkreteren Fassung der Aussagen, die Dürer etwas schwer erschließbar mit diesem einzigartigen Kupferstich verknüpft hat.
VORWORT 8
Meine Lichtbildervorträge zu den in diesem Buch behandelten Gegenständen fanden vor Hörern mit sehr verschiedenartiger Vorbildung stets eine positive Resonanz. Dies läßt mich hoffen, daß dieses Buch trotz mancher anspruchsvoller Abschnitte aufgeschlossene Leser finden wird, die bereit sind, auch weniger leicht verständliche Stellen durch aktives Mitdenken zu überbrücken. Zur Erstellung des Manuskriptes waren viele fachgerechte Vorarbeiten zu leisten. Die Technische Zeichnerin der Sektion Mathematik, Frau Ingeborg Tittel, fertigte alle Rekonstruktionsanalysen mit viel Sorgfalt und großer Genauigkeit an. Die Bildstelle der TU Dresden stellte von dem vorgelegten Bildmaterial vorzügliche Abzüge für das Manuskript her. Ferner half mir die Deutsche Fotothek in Dresden bei der Beschaffung von sonst nur schwer erreichbarem Bildmaterial. Allen Beteiligten danke ich an dieser Stelle für die erwiesene Hilfsbereitschaft und Unterstützung. Beim Akademie-Verlag brachte Herr Dr. Höppner als Verantwortlicher Lektor meinem Vorhaben von Anfang an eine große Aufgeschlossenheit entgegen. Fräulein Reiher betreute das Buchmanuskript als Lektorin. Herr Bellert, der Künstlerische Leiter des Akademie-Verlages, und Herr Kunze als Grafiker trugen Sorge für die künstlerische Gestaltung des Buches. Herr Professor Wußing von der Karl-Marx-Universität Leipzig schätzte den von mir gewagten Brückenschlag zwischen Bildender Kunst, Geschichte, Philosophie und Mathematik (Geometrie) von Anfang an positiv ein und ermutigte mich nach meinem zu diesem Problemkreis in Dresden gehaltenen Tagungsvortrag, diese Untersuchungen über Dürer in Buchform zu veröffentlichen. Ihnen allen gilt nach Abschluß der Arbeit mein aufrichtiger Dank. Dresden, im Mai 1980
Eberhard Schröder
KURZE INHALTSÜBERSICHT ZUR »UNDERWEYSUNG«
Für die Einschätzung des Lebenswerkes eines bildenden Künstlers aus vergangener Zeit ist eine grundlegende Voraussetzung, daß man sich mit den Ansprüchen vertraut macht, welche er an sich selbst in seinem künstlerischen Schaffen stellte. Vielfach sind diese Ansprüche bereits aus seinem Werk ablesbar, oder sie lassen sich aus dem Arbeitskreis erschließen, zu dem sich der Künstler hingezogen und dem er sich innerlich verbunden fühlte. Ausnahmen bilden solche Fälle, in denen der Künstler mit theoretischen Schriften seine eigenen Auffassungen ergänzend zu seiner künstlerischen Aussage dargelegt hat. Ein Phänomen einzigartiger Klarheit verkörpert in dieser Hinsicht zur Zeit der Renaissance Albrecht Dürer (1471-1528). Außer seinem umfangreichen Nachlaß an Kunstwerken sind Skizzenbücher, persönliche Aufzeichnungen, ein ausgedehnter Briefwechsel
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KURZE INHALTSÜBERSICHT ZUR »UNDERWEYSUNG« 10
mit befreundeten Künstlern, Gelehrten und Auftraggebern sowie drei von ihm verfaßte Lehrbücher überliefert, die Aufschluß über jene Ansprüche geben, denen er mit seinem Schaffen gerecht zu werden suchte. Von ganz besonderem Interesse für die folgenden Untersuchungen ist sein Lehrbuch mit dem Titel »Underweysung der messung / mit dem zirckel un richtscheyt / in Linien ebnen unnd gantzen corporen / durch Albrecht Dürer zusamen getzoge / und zu nutz alle kunstlieb habenden mit zu gehörigen figuren / in truck gebracht / im jar. M.D.X X V«. Im heutigen Sprachgebrauch würde man dieses Werk als ein Lehrbuch der angewandten konstruktiven Geometrie bezeichnen. Da Dürer kein Fachgelehrter war und bis dahin auch kein deutschsprachiges Lehrbuch der Geometrie vorlag, kann von ihm zur damaligen Zeit kein Geometrielehrgang mit einer logischen Gliederung des Stoffes und mit exakten Beweisen für geometrische Lehrsätze und Sachverhalte erwartet werden. Der Meister begnügte sich mit anschaulichen Demonstrationen einer großen Anzahl von Fakten, die ihm aus künstlerischer Sicht bei seiner vielseitigen Aufgeschlossenheit für theoretische Probleme wichtig erschienen. Oftmals berief er sich auf Euklids »Elemente«, wovon ihm ein Exemplar der späteren lateinischen Ausgabe seit 1506 als Eigentum zur Verfügung stand. Dürer war sich seines von der deduktiven Methode abweichenden Vorgehens wohl bewußt. Gewiß tat er dies mit Rücksicht auf die von ihm angesprochene Leserschaft. Die Autorität Euklids respektierend versah er zum Teil selbst erfundene Näherungskonstruktionen mit dem Prädikat »mechanice«, während exakte Konstruktionen durch das Wort »demonstrative« ausgewiesen sind. Auch aus Bauhütten überlieferte Konstruktionsregeln und gediegene eigene Schulkenntnisse hat er in das Werk einfließen lassen. Ferner trugen persönliche Kontakte zu namhaften Gelehrten seiner Zeit, wie Pirckheimer, Werner, Stabius, Heinfogel, Melanchthon, Tscherte, sowie italienischen Künstlern und Wissenschaftlern dazu bei, sein eigenes Wissen auch als gereifter Mann noch zu bereichern. Die Vielfalt des gebotenen Stoffes, die Anschaulichkeit der bildlichen Wiedergabe und die phantasievolle Umsetzung in die künstlerische Praxis verleihen dem Studium des Buches auch nach viereinhalb Jahrhunderten einen einzigartigen Reiz. Eine besonders aufschlußreiche Studienquelle ist die nach Dürers Tod im Jahre 1538 von sachkundigen Freunden und Mitarbeitern besorgte zweite Auflage. In ihr wurde noch vieles von dem aufgenommen, womit sich der Meister in seinen letzten Lebensjahren auseinandergesetzt hatte, ohne jedoch mit seinen Ideen zur vollen Ausreifung gelangt zu sein. Die späteren Auflagen der »Underweysung« sind Wiedergaben der ersten Auflage von 1525. Es wäre aber verfehlt, Dürer bezüglich seiner mathematischen Leistungen nur als einen geschick.
KURZE INHALTSÜBERSICHT ZUR »UNDERWEYSUNG« 11
ten Pragmatiker einzustufen und ihm eigenständige konstruktive Leistungen sowie mathematischen Erkenntnisdrang abzusprechen. Auf Dürers »Underweysung« und seine schöpferischen Leistungen auf geometrischem Gebiet hat man sich in Fachkreisen erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wieder voll besonnen, nachdem man ihn in den vorangegangenen Jahrhunderten zu einseitig als repräsentativen Maler der Renaissancezeit bewundert hatte. Die »Underweysung« besteht aus vier Büchern. Das erste Buch handelt vorzugsweise von den Linien. Dürer bietet darin mehrere originelle Leistungen zur Theorie ebener Kurven. Bemerkenswert sind die affine Transformation eines Kreises in eine Ellipse und die Erzeugung von Ellipse Parabel und Hyperbel durch Schnitte von Ebenen mit Drehkegeln. Beim konstruktiven Zugang zu den Kegelschnitten wird von zugeordneten Normalrissen'Xjebrauch gemacht. Zu einer Spirale wird eine Konstruktionsvorschrift angegeben, die diese als logarithmische Spirale ausweist. Das zweite Buch handelt - mit Dürer gesprochen - von den ebenen Feldern. Vieleckskonstruktionen, Ornamente und Parkettierungsprobleme, Flächenumwandlungen und genäherte Kreisquadratur sind Gegenstände der Betrachtung. Im dritten Buch werden »körperliche Dinge«, wie Säulen, Pyramiden und Schraubrohrflächen, behandelt. Bemerkenswert sind die Konstruktionsunterlagen für eine Sonnenuhr. Im vierten Buch endlich werden die fünf Platonischen Körper durch Grundriß, Aufriß und eine Netzabwicklung dargestellt und besprochen. Auch sieben der dreizehn möglichen halbregulären konvexen Polyeder fanden darin Aufnahme. Damit knüpfte Dürer an Berichte von Pappos an. Seine Ausführungen zur Zentralperspektive beschränken sich auf die letzten zehn Seiten des Buches. Die wiedergegebenen Zeichnungen bezeugen einen Einfluß von Brunelleschis Durchschnittsmethode. Die theoretischen Darlegungen dazu sind wegen des Fehlens eines entsprechenden Begriffsapparates unklar, verwirrend und im ganzen enttäuschend. So wird der Hauptpunkt (Fluchtpunkt der Tiefenlinien) von Dürer etwas konfus als Bild des Auges interpretiert. Allerdings enthält die »Underweysung« von 1538 ein sehr elegantes Verfahren zur Konstruktion zentralperspektiver Bilder räumlicher Objekte, welches Dürer vermutlich nur an zwei Kupferstichen in der künstlerischen Praxis angewandt hat. Die zugehörigen Manuskriptblätter - von Dürers Hand gezeichnet und geschrieben - befinden sich im zweiten der fünf Dürer-Bände des Britischen Museums. Dieses Diagonalverfahren wird an geeigneter Stelle ausführlich besprochen. Die Frage danach, in welchem Umfang Dürer seine Kenntnisse und Fertigkeiten auf dem Gebiet der Geometrie, soweit sie sich aus den nachgelassenen Schriften und Skizzen belegen lassen, in
KURZE INHALTSÜBERSICHT ZUR »UNDERWEYSUNG« 12
sein künstlerisches Schaffen einfließen ließ, scheint noch nicht erschöpfend beantwortet zu sein. Vor allem bei den hervorragenden Spitzenleistungen auch bezüglich der Zentralperspektive, nämich den Kupferstichen »Hieronymus im Gehäuse« und »Melancholie« aus dem Jahre 1514, gibt es keine überzeugende Auffassung, mit welcher Methode Dürer zu so exakt durchkonstruierten Bildern gelangte. Um hier einer Antwort näherzukommen, genügen nicht allein vergleichende Bildbetrachtungen und Studien seines schriftlichen Nachlasses. Wo Dürer ganz offensichtlich mit Zirkel und Lineal konstruiert hat, wird seinem Werk kein Unrecht zugefügt, wenn man Rekonstruktionsanalysen nach den Regeln der Zentralperspektive durchführt und aus den gefundenen Ergebnissen Rückschlüsse auf ein eventuell angewandtes Konstruktionsverfahren zieht. Ein solches Vorgehen ist nicht als Fehlersuche an den Werken dieser einzigartigen Künstlerpersönlichkeit auszulegen. Vielmehr soll hierdurch die Schwere des Weges ermeßbar werden, auf dem sich die Gesetzmäßigkeiten der Zentralperspektive - langsam von Süden nach Norden fortschreitend - gegen falsche Lehrmeinungen und Zeichenregeln durchzusetzen begannen und welche Rolle hierbei Dürer zuzuschreiben ist.
DÜRERS »UNDERWEYSUNG« IM SPIEGEL DES ALLGEMEINEN WISSENSSTANDES ZUR ZEIT DER RENAISSANCE
Zunächst mögen die umwälzenden Fortschritte, welche zu seiner Lebenszeit in Wissenschaft und Technik erzielt worden sind, durch Gegenüberstellung zweier Weltkarten dokumentiert werden. Die Grundkonzeption der aus dem Jahre 1470 stammenden Weltkarte, einer sogenannten Rad-
Abb. 2 Weltkarte aus dem Jahre 1470
DÜRERS »UNDERWEYSUNG« IM SPIEGEL DES DAMALIGEN WISSENSSTANDES 14
Abb. 3 Weltkarte aus dem Jahre 1527
karte, spiegelt noch die mittelalterliche Vorstellung des Menschen von der Erde wider. Die bis zu diesem Zeitpunkt erkundeten Erdteile sind in einen Kreis eingefaßt, dessen Mittelpunkt sich mit Jerusalem, dem Ausgangspunkt der christlichen Glaubenslehre, deckt. Trotz der ungewohnten Bildorientierung (Afrika liegt oben, Europa unten und Asien links) erkennt man die Konturen des Mittelmeeres, des Schwarzen und des Roten Meeres sowie den Lauf des Nils und einige Mittelmeerinseln. Diese in der Zeitzer Stiftsbibliothek in Thüringen aufbewahrte Karte wurde später beim Einpassen in einen Atlas an den Rändern links und rechts beschnitten, wodurch sie etwas von ihrer ursprünglichen Aussage verlor. Die zweite, in der Thüringischen Landesbibliothek zu Weimar aufbewahrte Weltkarte stammt aus dem Jahre 1527. Sie wurde von dem Portugiesen Diogo Ribeiro im Auftrag Karls V. angefertigt. Die Darstellung der Küstenlinien des Atlantik, des Mittelmeeres, des Schwarzen und des Roten Meeres sowie des Indischen Ozeans weisen bereits eine gute Übereinstimmung mit moder-
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nen Weltkarten auf. Auch von der Ostküste Amerikas hatte man zu dieser Zeit eine gute VorstelDie Entstehungsjahre der beiden Karten umspannen etwa Dürers Lebenszeit. Dazwischen liegen die Entdeckungsfahrten von Christoph Columbus 1492 und von Vasco da Gama 1497/98 sowie die erste Weltumsegelung durch die Mannschaft Magellans 1515/1522. Nürnberg als eine der wirtschaftlich am weitesten entwickelten Städte nördlich der Alpen hatte keinen geringen Anteil an den in dieser Zeit erzielten Fortschritten. Der Nürnberger Martin Behaim nahm 1484 in portugiesischen Diensten als Navigationsoffizier an einer Entdeckungsfahrt um Afrika teil und wagte 1492 den Versuch, die Erde auf eine Kugel abzubilden, d.h. als Globus darzustellen. Wichtige
Abb. 4 Stabius-Dürer-Karte aus dem Jahre 1515
DÜRERS »UNDERWEYSUNG« IM SPIEGEL DES DAMALIGEN WISSENSSTANDES
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Vorarbeiten für eine verbesserte Auswertung von Meßdaten in der Landesvermessung und von Forschungsfahrten in Übersee leistete der Mathematiker und Astronom Johannes Regiomontanus (1436-1476). Er übersetzte und kommentierte die Werke der altgriechischen Mathematiker, gab der ebenen und sphärischen Trigonometrie den neuzeitlichen Aufbau und führte konsequent die Dezimalschreibweise ein. Weiterhin verfaßte er astronomische Kalender und trigonometrische Tafeln. Dürer stand in persönlichem Kontakt und Gedankenaustausch mit den Mathematikern Werner und Stabius und wirkte bei der Gestaltung von Erd- und Himmelskarten für Stabius und Heinfogel nicht allein in Erfüllung künstlerischer Anliegen mit. In der hier wiedergegebenen Stabius-Dürer-Karte aus dem Jahre 1515 sind die Konturen der Erdteile Europa, Asien und Afrika gleichfalls in einen Kreis eingepaßt. Dieser Kreis stellt - im Gegensatz zur Karte von 1470 - den Umriß der Erdkugel bei einer genäherten Parallelprojektion dar. Durch diesen Abbildungsvorgang werden der Nordpol als Schnittpunkt der Meridiane und der Äquator sowie die Breitenkreise als Ellipsen sichtbar. Sieht man von den zeitbedingten Ungenauigkeiten bei der Wiedergabe der Küstenlinien ab, so unterstützt vor allem die Darstellung des Gradnetzes die Anschaulichkeit des Bildes der Erdkugel. Mit Erteilung des Druckprivilegs durch Kaiser Maximilian und der Aufnahme des Wappens von dem Salzburger Kardinalerzbischof Lang in der linken oberen Ecke der Karte war die Wiedergabe der Erde als Kugel durch weltliche und geistliche Macht sanktioniert. Zur Globusherstellung sind Näherungskonstruktionen erforderlich, für die Dürer in seinem
Abb. 5 Abwicklung der Kugelfläche aus der »Underweysung«
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Werk praktisch anwendbare Empfehlungen gab. In der dem zweiten Buch entnommenen Abb. 5 wird die Abwicklung einer Kugel in sechzehn Bogenzweiecke demonstriert. In der zweiten Auflage der »Underweysung« wird auch auf das Problem der Kreisrektifikation eingegangen. Darin wird
der Bruch 22/7 als Multiplikator empfohlen, um aus der Länge des Kreisdurchmessers die Länge des Kreisumfanges zu erhalten. Andererseits wird eine auf antikes Vorbild zurückgehende Konstruktion der Seite eines Quadrates geboten, das mit einem vorgegebenen Kreis inhaltsgleich sein soll. Diese Regel läuft auf die Verwendung der Zahl 25/8 als Approximationswert für n hinaus. Der innere Zusammenhang von Kreisquadratur und Kreisrektifikation wurde also noch nicht durchschaut. Die Aufnahme der drei nichtsingulären Fälle von Kegelschnitten in die »Underweysung« ist aus Dürers Drang nach einer soliden theoretischen Fundierung seines künstlerischen Schaffens zu verstehen. Einleitend zu diesem Abschnitt schreibt er: »Die alten haben angetzeigt / das man dreierley schnydt durch ein Kegel mag tun.« In allen drei Fällen stellt er den Drehkegel durch Grund- und Aufriß dar und schneidet diesen mit einer zweitprojizierenden Ebene. Von der Schnittlinie wird anschließend in einer Nebenkonstruktion die wahre Gestalt bestimmt. Für den Fall der Parabel wird die Fokaleigenschaft im Bild demonstriert. Bei Ellipse und Hyperbel finden sich keine Hinweise auf die Existenz von Brennpunkten. Bei der Ellipse ist ein offensichtlicher Fehler von Interesse, der sich wohl auf Grund einer vorgefaßten Meinung bezüglich der Gestalt
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Abb. 9 Parabolischer Schnitt mit Demonstration der Fokaleigenschaft der Parabel
dieses Kegelschnittes eingeschlichen hatte. Dürer erkannte der Ellipse nur eine Symmetrieachse zu, nämlich die den obersten mit dem untersten Scheitelpunkt verbindende Gerade. Da er der Kurve im oberen Scheitel eine größere Krümmung als im unteren zuschrieb, ging ihm die Nebenachse der Ellipse als Symmetrielinie verloren. Diese Fehleinschätzung der Gestalt der Ellipse führte bei Dürer - wie spätere Analysen zeigen - zu Unsicherheiten bei der Darstellung zentralperspektiver Bilder von Kreislinien, z. B. an Torbögen, welche nicht parallel, sondern senkrecht zur Bildebene liegen. Spätere Autoren von Geometriebüchern übernahmen zunächst die unrichtige Ellipsenform. Erst der Schweizer Mathematiker Paul Guldin (1577-1643) gab 1640 eine Berichtigung dieses Fehlers. Bemerkenswert ist, daß Dürer als erster Buchautor nördlich der Alpen die Kegelschnitte synthetisch mit den Mitteln der darstellenden Geometrie in deutscher Sprache abhandelte. Der Fehler bezüglich der Ellipsenform soll hier nicht überbewertet werden. Es ist jedoch falsch, diese Abweichung als eine Zeichenungenauigkeit in Dürers Konstruktion abzutun. Gegen eine solche Auffassung spricht auch sein Versuch, für die Ellipse eine deutsche Bezeichnung einzuführen. Er
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schrieb im erläuternden Begleittext: »Die Ellipsis will ich ein Eierlini nennen, darumb, daß sie schier einem Ei gleich ist.« Die Anregung zur Aufnahme der Kegelschnitte und Demonstration ihrer Erzeugung in die »Underweysung« dürfte auf den Mathematiker und Astronomen Johannes Werner (1468-1522) zurückgehen. Dieser hatte 1522 eine Kurzfassung der Kegelschnittlehre in lateinischer Sprache mit dem Titel »Libellus super viginti duobus elementis conicis« veröffentlicht. Dürers Empfehlungen, für Ellipse, Parabel und Hyperbel die ihm besser einleuchtenden Bezeichnungen Eilinie bzw. Brennlinie bzw. Gabellinie einzuführen, fanden in der Folgezeit keine Resonanz. Aufschlußreich sind einige weitere bei Dürer nachweisbare Zugänge zur Ellipse, wobei ihm die Identität der in verschiedener Weise erzeugten ebenen Kurven offensichtlich verborgen blieb. So
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Abb. 11 Affine Transformation eines Halbkreisbogens
wird in der »Underweysung« unmittelbar vor der Kegelschnittlehre eine affine Transformation des Halbkreises vorgeführt. Einleitend schreibt er dazu: »Vonnöten ist den Steinmetzen zu wissen, wie sie einen halben Zirckelriß oder Bogenlini in die Länge sollen ziehen, daß sie der ersten in der Höh und sonst in allen Dingen gemäß bleiben.« Dürer war gewiß klar, daß eine derart transformierte Kreislinie eine geschlossene Kurve mit zwei sich senkrecht schneidenden Symmetrieachsen ergibt. Diese konnte jedoch nach seiner Vorstellung vom elliptischen Schnitt eines Kegels keine Ellipse sein. In der Tat findet sich in diesem Abschnitt auch kein Hinweis auf die Ellipse. Entsprechend findet sich in seiner Kegelschnittlehre nirgends eine Rückverweisung auf diese affine Transformation. Trotz der dem heutigen Leser etwas handwerklich anmutenden Konstruktionsbeschreibung bezeugt das Bild von der affinen Kreistransformation, daß Dürer das Wesentliche einer Sache zu erfassen und darzustellen verstand und in seinem Werk schon wichtige Ansätze für spätere Entwicklungslinien in der Geometrie nachweisbar sind.
Abb. 12 Ebener Schnitt einer Kugel nach einem Großkreis
Abb. 13 Rasterkonstruktion der Ellipse als zentralperspektives Bild des Kreises
Zwei weitere, von ihm unveröffentlicht gebliebene Zugänge zur Ellipse sind Dürers Londoner Skizzenblättern zu entnehmen. Im ersten Blatt wird eine durch Grund- und Aufriß dargestellte Kugel von einer zweitprojizierenden Ebene geschnitten. Die Schnittlinie, ein Kreis, erscheint im Grundriß als Ellipse, von der hinreichend viele Punkte exakt konstruiert sind. Das sich senkrecht schneidende Achsenpaar ist gleichfalls eingezeichnet. Beim zweiten Skizzenblatt geht es um die Aufgabe, von einem in horizontaler Ebene liegenden Kreis das Zentralperspektive Bild bei Vorgabe des Hauptpunktes (Fluchtpunkt von Tiefenlinien) zu gewinnen. Dazu wird über den Kreis ein Raster von Quadraten gelegt und gemeinsam mit dem Kreis einer perspektiv kollinearen Transformation unterworfen. Das Raster dient als Stütze zur Übertragung von Kreispunkten in die Bildpunkte. Ein solches Vorgehen ist erstmals bei dem Florentiner Architekten und Maler Leon Battista Alberti (1404-1472) nachweisbar. Dürer dürfte auf seiner zweiten Italienreise mit Konstruktionen dieser Art bekannt geworden sein. Bemerkenswert ist auch die am Zentralriß des
Abb. 15 Kopfstudie mit ebenen Schnitten
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Rasters von Quadraten durchgeführte Diagonalprobe. Auf eventuell mögliche Anwendungen dieser Konstruktion in Bildwerken und Kupferstichen wird später eingegangen. Dürers Studien über Kegelschnitte entsprangen keineswegs einer persönlichen, etwas abseitig liegenden Liebhaberei. In den konstruktiv erzeugten Linien sah er Bildelemente für sein künstlerisches Schaffen. Eine Kopfstudie aus dem Dresdner Skizzenbüchlein stützt diese Motivation. Die ebenen Schnitte durch den als Schrägbild dargestellten Kopf liefern näherungsweise Ellipsen,
Abb. 16 Weiblicher Akt mit Ellipse
Abb. 17 Aktstudie eines Knaben in Frontalstellung
DÜRERS »UNDERWEYSUNG« IM SPIEGEL DES DAMALIGEN WISSENSSTANDES 24
in die zum Teil auch konjugierte Durchmesserpaare eingezeichnet sind. Durch Vorstudien dieser Art verstand es der Meister, sich von der Frontal- und Profildarstellung des menschlichen Kopfes zu lösen und räumliche Effekte an der Darstellung herauszuarbeiten. In Verbindung mit seinen Proportionsstudien gelangte er so zu den einzigartigen Gipfelleistungen bei der bildlichen Wiedergabe des menschlichen Körpers. Hier sei nur an das Bild und den Kupferstich von Adam und Eva erinnert. Ein Dresdner Skizzenblatt, einen nackten Knaben in Frontalansicht darstellend, verdeutlicht einprägsam, wie Dürer die Ellipse - von ihm hier als affines Bild des Kreises aufgefaßt - als Hilfsmittel zur Unterstützung der Raumwirkung einzusetzen verstand. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang ein weiblicher Akt mit Ellipse aus dem Jahre 1500 von Interesse. Der punktweise konstruierte Kegelschnitt dient in dieser Federzeichnung als schmückendes Beiwerk. !f r
S Abb. 18 »Spinnlinie«, Epizykloide aus der »Underweysung«
Auch Beispiele von Kurven höherer Ordnung und transzendenten Kurven hat Dürer in seine Untersuchungen einbezogen. Unter den von ihm betrachteten läßt sich eine auf Grund der angegebenen Erzeugungsweise als logarithmische Spirale identifizieren. Er schreibt zum Bild des in seinem Buch wiedergegebenen Kurvenausschnittes: »Diese Linie kann man der unendlichen Größe und Kleinheit halber nicht machen; ihr Anfang und ihr Ende sind nicht zu finden. Das faßt allein der Verstand.« Die in das Werk aufgenommene Epizykloide, von Dürer als Spinnlinie bezeichnet,
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besaß wegen des zu dieser Zeit noch herrschenden Ptolemäischen Weltbildes eine hohe AktuaMehr auf die Baupraxis ist offenbar die von ihm entworfene Muschellinie zugeschnitten. Bei der kinematischen Erzeugung dieser Kurve wird von einem rechtwinkligen Achsenkreuz ausgegangen. Auf jeder der Achsen befindet sich eine kartesische Skala. Die Verbindungsgeraden zugeordneter Punkte umhüllen eine Parabel, was allerdings von Dürer noch nicht bemerkt werden konnte. Er betrachtete vielmehr nur jene Kurve, die von einem auf der Verbindungsgeraden fixierten Punkt bei Ablauf der Bewegung im Sinne der auf den Skalen angebrachten Numerierung beschrieben wird. Die analytische Berechnung der Punktbahn führt auf eine rationale Kurve 4. Ordnung. Wie aus Skizzenblättern zu entnehmen ist, sah Dürer in Profilkurven von Turmhauben eine praktische Anwendungsmöglichkeit der Muschellinie. Das Bild inspiriert zwei Auffassungen für ebene Kur-
Abb. 19 Muschellinie mit Parabel als Enveloppe einer Geradenschar
ven, einmal als Menge von Punkten und zum anderen als Hüllgebilde einer Schar von Geraden. Damit ist das Dualitätsprinzip der projektiven Geometrie im Ansatz bereits vorhanden. Im ersten Teil des vierten Buches behandelt Dürer unter Anlehnung an Euklids »Elemente« die fünf Platonischen Körper. Einleitend dazu schreibt er: »Zum dritten sind corpora, die allenthalben gleich sind, von Feldern Ecken und Seiten, die der Euklides corpora regularía nennt; der beschreibt ihrer fünf, darumb, daß ihr nit mehr können sein, die in eine Kugel, darin sie allent-
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halben anrühren, verfaßt mügen werden.« Er stellt diese Körper in zugeordneten Normalrissen dar. Die beigefügten Netzabwicklungen sind eigenständige Leistungen des Künstlers. Sie sind mit als Anwendungen der von Dürer im zweiten Buch behandelten Konstruktionen regelmäßiger Vielecke anzusehen. Auch hier gibt er einen anregenden Ausblick auf die halbregulären konvexen,
Abb. 20 Pentagondodekaeder in Grund- und Aufriß mit Netzabwicklung
sogenannten Archimedischen Körper. In der Auflage von 1525 finden sich sieben, in der von 1538 neun Netzdarstellungen von den dreizehn möglichen halbregulären konvexen Polyedern. In der zweiten Auflage verdient das Netz des abgestumpften Ikosaeders (Ikosaedron truncum), welches aus zwölf regelmäßigen Fünfecken und zwanzig regelmäßigen Sechsecken gebildet wird, aus aktuellem Grund Beachtung. Dieses Polyedernetz findet in neuester Zeit bei der Fertigung von Fernsehfußbällen eine praktische Anwendung (vgl. Abb. 21). Die halbregulären Polyeder erregten in der Folgezeit das Interesse vieler Verfasser von Lehrbüchern. Johannes Kepler (1571-1630) nahm sämtliche dreizehn Körper - auf einen in lateinischer Übersetzung vorliegenden Bericht von Pappos fußend - in seiner »Harmonice mundi« (1619) auf. Er stellte die Körper im Schrägbild dar, bot jedoch keine Netzabwicklungen dazu. In Keplers
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»Harmonice mundi« findet sich lediglich ein Vermerk auf Dürers »Underweysung«. Bei der Auseinandersetzung mit der Konstruktion des regelmäßigen Siebenecks erwähnt Kepler die von Dürer gebotene Näherungskonstruktion für dieses Polygon. Vermutlich hat Kepler die »Underweysung« nur flüchtig kennengelernt und sich bezüglich der Geometrie an antiken Quellen und deren Übersetzungen orientiert. Hingegen sind Aussprüche von Kepler überliefert, in denen er seine Hochachtung vor Dürer als Mensch und Künstler bekundet. Es gibt zur Verwunderung Anlaß, daß der Meister bei seinen theoretischen Untersuchungen und Proportionsstudien nirgends auf die stetige Teilung einer Strecke - in der Publizistik allgemein als »Goldener Schnitt« bezeichnet - eingegangen ist. In Verbindung mit der Konstruktion des
DÜRERS »UNDERWEYSUNG« IM SPIEGEL DES DAMALIGEN WISSENSSTANDES 28
regelmäßigen Fünf- und Zehnecks hätte sich zwangslos eine Anknüpfung an seine Proportionsstudien herstellen lassen. Diese Teilung spielte im künstlerischen Schaffen der Renaissance vor allem bei den italienischen Meistern eine große Rolle. Der italienische Mathematiker Luca Paciuolo (1445-1517) verfaßte zu diesem Gegenstand eine Schrift mit dem Titel »De divina proportione« (1509), die auch Dürer nicht unbekannt geblieben sein dürfte. Bereits Euklids »Elemente« enthalten die Aufgabenstellung, eine Strecke AB der Länge a innerlich durch einen
Abb. 22 Stetige Teilung an einem Bauwerk aus der Zeit der Renaissance (Altes Rathaus in Leipzig)
DÜRERS »UNDERWEYSUNG« IM SPIEGEL DES DAMALIGEN WISSENSSTANDES 29
Punkt X so zu teilen, daß für die Längen a-x und x der Teilstrecken AX bzw. XB die Gleichung x2 =
a(a-x)
erfüllt ist. Wie Abb. 22 sofort erkennen läßt, teilt die Seite eines regelmäßigen Zehnecks den Radius des zu diesem Zehneck gehörigen Umkreises in der von Euklid geforderten Weise. Da Dürer zeitlebens um die geometrische Erfassung des ästhetisch Schönen und Harmonischen gerungen hat, vermißt man in seinen Schriften einschließlich seiner Proportionslehre von 1528 eine Stellungnahme zu dieser konstruktiv so einfach mit Zirkel und Lineal ausführbaren Streckenteilung. Am Ende des vierten Buches, von Dürer wohl als Krönung seines Werkes gedacht, werden auf zehn Seiten theoretische und praktische Erläuterungen zur Herstellung zentralperspektiver Bilder gegeben. Einleitend stellt er einen Würfel in zugeordneten Normalrissen frontal dar. Zusätzlich gibt er eine punktförmige Lichtquelle vor und konstruiert den auf der Grundrißtafel entstehenden Schlagschatten des Würfels. Ferner führt er eine bezüglich beider Risse projizierende Bildebene n und einen Augpunkt ein. Nun legt er vom Auge mittels der beiden Risse die Sehstrahlpyramiden konstruktiv an die Kanten des dargestellten Objektes und bringt die Strahlen zum Schnitt mit der doppeltprojizierenden Ebene n. Den in n erhaltenen Zentralriß des Würfels samt Schlagschatten führt er durch Distanzübertragungen in die Zeichenebene über. Ein besonders einfaches Beispiel aus der »Underweysung«, wie der Zentralriß eines in horizontaler Ebene liegenden Quadrates nach dem Durchschnittsverfahren konstruiert werden kann, zeigt Abb. 23. Das Bild der hinteren Seite des Quadrates hat er sich mit Hilfe eines Seitenrisses verschafft. Dieses bereits von Filippo Brunelleschi (1377-1446) praktizierte Konstruktionsverfahren zur Herstellung zentralperspektiver
Abb. 23 Konstruktion des Zentralrisses eines Quadrates mittels eines Seitenrisses nach Brunelleschis Durchschnittsmethode
D Ü R E R S »UNDERWEYSUNG« I M SPIEGEL DES DAMALIGEN WISSENSSTANDES 30
Abb. 24 Grundriß, Aufriß und Zentralriß eines Tores von Dürer, 1496
Bilder, auch Durchschnittsmethode genannt, verstand Dürer sicher zu handhaben. In einem seiner frühesten Bilder dieser Art aus dem Jahre 1496 findet man neben dem Zentralriß eines Bauwerkes auch dessen Grund- und Aufriß.
Abb. 25 Zentralriß eines Würfels mit Basisquadrat nach dem Hauptverfahren konstruiert (Hauptpunkt als Fluchtpunkt der Tiefenlinien)
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Vermutlich führten ihn Konstruktionen nach dem Hauptverfahren bereits damals zu der Einsicht daß der Hauptpunkt (Fußpunkt des Lotes vom Auge auf die Bildebene) zugleich der Schnittpunkt aller Tiefenlinien ist. Ferner ist ihm dabei wohl auch der Einfluß der Augdistanz auf die
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Abb. 26 Zentralriß eines Würfels mit Basisquadrat und Schlagschatten bei Zentralbeleuchtung. Das Bild läßt sich als Konstruktion mittels eines Distanzpunktes interpretieren. Im Begleittext der »Underweysung« wird das Bild als Konstruktion mittels eines Seitenrisses erklärt.
Bildwirkung klar geworden. Trotzdem darf nicht übersehen werden, daß die sich oft wiederholende Erklärung des Hauptpunktes als »Bild des Auges« von einer niemals ganz überwundenen Begriffsstutzigkeit zeugt. Erst in den sechs Büchern des italienischen Mathematikers Guido Ubaldus zur Zentralperspektive findet sich eine begrifflich klare Darbietung des allgemein gefaßten Fluchtpunktsatzes (Bologna 1600). Weniger durchsichtig sind die von Dürer anschließend nach einem anderen Verfahren gebotenen Konstruktionen der Zentralrisse von Quadrat und Würfel. In Abb. 26 sind die vordere Quadratseite (fg), der als Auge stilisierte Hauptpunkt, die Spur (aa/bb) der zusätzlich als Seitenriß angefügten Bildebene n mit dem Seitenriß des Bildbetrachters als gegeben anzusehen. Damit verfügt man auch über die Augdistanz. Auf den Tiefenlinien durch die Punkte f und g liegen die Bilder von zwei weiteren Quadratseiten. Das Bild des Grundquadrates ist noch nach oben durch die Parallele zu (fg) abzuschließen. Dürer löst diese Aufgabe durch Verbinden von g mit dem »fernen Auge« (Seitenriß des Auges). Richtig wäre hier, den Schnittpunkt (cc) dieser Verbindungslinie
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mit der Spur der Bildebene n nach der Durchschnittsmethode konstruktiv zu nutzen. Statt dessen verwendet er den Schnittpunkt e der Verbindungsgeraden von g mit dem »fernen Auge« mit der Tiefenlinie durch f. Diese Konstruktion wäre nur richtig, wenn sich die Tiefenlinie durch f mit der Spur der Bildebene n decken würde. Da die Spur der als Seitenriß angefügten Bildebene dicht am Hauptpunkt O vorbeiführt, fällt der Fehler in der Zeichnung kaum auf. Die widersprüchliche Konstruktion der das Bildquadrat nach hinten abschließenden Seite kann eine mißverstandene Wiedergabe eines Verfahrens sein, das von Leonardo da Vinci (1452-1519) und seinen Schülern bereits praktiziert wurde. In den bei Leonardo zu findenden analogen Skizzen liegt f auf der Spur der als Seitenriß angefügten Bildebene, und der Punkt cc ist konstruktiv richtig ausgewertet. Weiterhin ist merkwürdig, daß dem fehlerhaften Bild eine im Sinne der Durchschnittsmethode richtige Beschreibung zugeordnet ist. Der weitere Aufbau des Würfelbildes in Abb. 26 erfolgt fehlerfrei unter Verwendung des Hauptpunktes als Fluchtpunkt der Tiefenlinien. Da Dürer an anderen Stellen seine völlige Sicherheit im Umgang mit zugeordneten Normalrissen unter Beweis stellte, erhebt sich die Frage, was ihn beim Anfertigen dieser Bilder seines Buches irritiert haben mag. Interpretiert man das Auge des im Seitenriß dargestellten Betrachters als Distanzpunkt und läßt die Spur (aa/bb) der Ebene n weg, so ist die Konstruktion in Ordnung. Dürer hätte dann einen der Distanzpunkte unmittelbar konstruktiv genutzt. Mit Sicherheit ist diese Konstruktion von ihm nicht so gemeint gewesen, denn dies widerspräche der Konstruktionsbeschreibung und dem konstruktiven Aufwand. Außerdem ließe dann das von ihm gegebene Bild zwei sich widersprechende Längen für die Augdistanz zu. Vermutlich sind ihm auf seiner zweiten Italienreise Skizzenblätter zu Gesicht gekommen, in denen die Distanzpunkte konstruktiv richtig genutzt wurden. Die bestechende Einfachheit der Konstruktion hat ihm wohl imponiert, ohne daß er jedoch über das notwendige theoretische Rüstzeug für ihr Verständnis verfügte. Als Zeugnis dafür, daß Dürer sicher einmal Einsicht in Distanzpunktkonstruktionen genommen hatte, werde ein weiteres Blatt aus dem Dresdner Skizzenbuch herangezogen. In das Bild eines horizontal und frontal liegenden Quadrates ist das Bild eines zweiten Quadrates eingezeichnet, dessen Ecken die Seiten des ersten Quadrates im Original halbieren. Die Seiten des eingepaßten Quadrates liegen gleichfalls horizontal und sind unter 45° gegen die Bildebene geneigt. Die Bilder sich paarweise gegenüberliegender innerer Quadratseiten schneiden sich folglich in den Distanzpunkten. Der Hauptpunkt der Skizze ist als stilisiertes Auge wiedergegeben. In der Skizze sind auch zusätzliche Zeichenkontrollen erfüllt. Zum Beispiel gehen die Diagonalen des äußeren
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Quadrates ebenfalls durch die Distanzpunkte. Die Vermutung liegt nahe, daß dieses Skizzenblatt auf der zweiten Italienreise (1505/07) entstanden ist.
Abb. 27 Zentralriß zweier ineinandergefügter Quadrate mittels Distanzpunkten konstruiert, Dresdner Skizzenblatt
Der bereits oben erwähnte Florentiner Maler und Architekt Leon Battista Alberti nutzte als erster bewußt die Distanzpunkte (punto della veduta), um z. B. einen quadratisch getäfelten Fußboden perspektivisch fehlerfrei darzustellen. Er verstand es, mit Hilfe eines Distanzpunktes die Breitenlinien der frontal angeordneten Fußbodentäfelung richtig in der Tiefe zu staffeln und führte die Diagonalprobe als Zeichenkontrolle für solche Bildkonstruktionen ein. Dürer erkannte offensichtlich nicht die mit dieser Methode erschließbaren Möglichkeiten, die vor allem für den
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Abb. 28 Zentralriß eines horizontalen quadratischen Rasters mittels der Distanzpunkte konstruiert
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Maler wegen des geringen Platzaufwandes außerordentlich wertvoll sind. Gewiß hätte sonst eine ähnliche Figur wenigstens in der zweiten Auflage der »Underweysung« Aufnahme gefunden. Durch Hauptpunkt, Horizont und Distanzpunkte ist die erste Orientierung eines Bildes festgelegt. Mit diesen Vorgaben lassen sich an den dargestellten Objekten Rekonstruktionsanalysen durchführen, also wahre Größen von Strecken und Winkeln ermitteln. Umgekehrt kann aus dem Zentralperspektiven Bild eines beliebig in der horizontalen Standebene liegenden Quadrates die erste Orientierung gewonnen werden. Dürer hatte mindestens nach seinem zweiten Italienaufenthalt ein sicheres intuitives Empfinden dafür, mit welchen Mitteln er in seinen Bildern die erste Orientierung für den Betrachter verfügbar machen kann. Abschließend geht Dürer noch auf instrumentelle Methoden zur Herstellung zentralperspektiver Bilder ein. Diese sind mathematisch weniger gehaltvoll. Das Sehstrahlbündel wird durch eine fest verankerte Schnur vergegenständlicht, deren Ende an verschiedene charakteristische Punkte des darzustellenden Objektes zu führen ist. Der Durchstoßpunkt der Schnur durch eine fiktive Bildebene wird koordinatenmäßig festgehalten und in ein Zeichenblatt eingetragen. Steht von
Abb. 29 »Ein Mann zeichnet eine Laute« - Instrumentelle Methode zur Herstellung eines Zentralperspektiven Bildes aus der »Underweysung«
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Abb. 30 »Mann, eine Kanne durchzeichnend« - Demonstration eines instrumentellen Verfahrens zur Vergrößerung der Augdistanz aus der »Underweysung«
dem darzustellenden Objekt eine hinreichende Anzahl von Bildpunkten zur Verfügung, kann die künstlerische Arbeit beginnen. Das Bild »Mann, eine Kanne durchzeichnend« führt vor Augen, mit welchen Hilfsmitteln man die klassische Forderung nach einer großen Augdistanz zu erfüllen suchte. Ein Visierrohr wurde an einer Schnur befestigt, welche wiederum etwa zwei Meter hinter dem Zeichner in der Wand verankert war. Zwischen den Zeichner und den darzustellenden Gegenstand bringt man einen durchsichtigen Flor. Nun visiert der Maler verschiedene Punkte des zu zeichnenden Objektes durch das Visierrohr unter Beachtung der fluchtgerechten Führung von Schnur und Rohr an und trägt diese auf den Flor, seine Bildebene, ein. In dieser Weise entsteht zunächst das Gerüst für die bildhafte Darstellung. Dem Augpunkt entspricht hier die Stelle der Verankerung der Halteschnur und dem Hauptpunkt der Fußpunkt des Lotes von der Verankerung auf die Bildebene.
REKONSTRUKTIONSANALYSEN AN KUNSTWERKEN DÜRERS, DIE VOR DER ZWEITEN ITALIENREISE ENTSTANDEN
Im folgenden soll an einigen repräsentativen Kunstwerken gezeigt werden, wie Dürer sein geometrisches Wissen und konstruktives Können in die künstlerische Praxis umzusetzen verstand. Einleitend möge das Mittelbild des sogenannten Dresdner Altars unter Ausschluß von Spekulationen über dessen Entstehungsjahr einer geometrischen Analyse unterzogen werden. Das Bild der aus regelmäßigen Quadern zusammengefügten Fenstereinfassung eröffnet eindeutig den Zugang zu Hauptpunkt H und Horizont h des Bildes. Auch der mit quadratischen Fliesen ausgelegte Fußboden ist mit einer nur konstruktiv erreichbaren Exaktheit auf diesen Hauptpunkt eingefluchtet. Die Breitenlinien des Fußbodens sind in der Tiefe richtig gestaffelt, d. h., die Diagonalprobe ist mit hoher Genauigkeit erfüllt. Zur Augdistanzbestimmung gibt Dürer offensichtlich zwei Wege frei. Einmal erlaubt der quadratisch getäfelte Fußboden - etwa durch Zusammenfassen der Bilder von neun Fliesen zu einem Quadrat - eine konstruktiv zuverlässige Ermittlung der Distanzpunkte Di und D2 und damit
auch der Augdistanz d = HDU Bei Bezugnahme auf die Originalgröße des Bildes (96,5 X 117 cm) ergibt sich für d eine Länge von 85 cm. Für konstruktive Belange ist das um den Horizont in die
Bildebene geklappte Auge 0° von Interesse. Es ergibt sich, indem man das Lot auf dem Horizont
h im Hauptpunkt H errichtet und mit dem Thaieskreis über der Strecke D^D2 zum Schnitt bringt. Der Schnittpunkt ist das umgelegte Auge O 0 . Einen zweiten Zugang zur Augdistanz bietet das auf horizontaler Ebene im Fenster stehende Lesepult, dessen Basiskanten ein Rechteck bilden. Die Verlängerungen der Bilder der von C ausgehenden Basiskanten schneiden den Horizont h in den Fluchtpunkten F{ und F2. Die vom Auge O nach diesen Fluchtpunkten gezogenen Fluchtstrahlen bilden nach Voraussetzung einen rechten Winkel. Schlägt man also über der Strecke FtF2
den Halbkreis des Thaies, so schneidet
dieser das Lot auf h durch H in dem umgelegten Auge 0°, dem die Augdistanz d{ — HO® zugeordnet ist. Aus Abb. 32 ist zu entnehmen, daß zwischen den beiden über verschiedene Zugänge gewonnenen Augdistanzen d und dt offensichtlich ein Widerspruch besteht. Der zum Lesepult gehörige Bildausschnitt führt bei Bezugnahme auf die Originalgröße des Bildes auf einen Augabstand von 118 cm. Wollte man nur die Fußbodentäfelung zur Distanzbestimmung des Auges zu-
Abb. 31 Mittelbild des Dresdner Altars von Albrecht Dürer
lassen, so ergäbe sich für den bei C liegenden Winkel y die sehr unwahrscheinliche Größe von 108°. Bei Dürers Vorliebe für quadratische und kubische Grundformen in der Bildanlage liegt es nahe, den sichtbaren Kanten der als Fenstereinfassung benutzten Steine die Längenverhältnisse 1:1 bzw. 1:2 zuzuordnen. Aus dieser Annahme eröffnet sich ein dritter Zugang zur Augdistanz. Diese Entfernung stimmt mit der aus dem Lesepult resultierenden sehr gut überein. Bemerkenswert ist ferner, daß die Diagonalprobe für die senkrechten Mittelfugen der Fenstereinfassung erfüllt ist. Es sind tatsächlich Mittellinien der quaderförmigen Steine im projektiven Sinne. Die senkrechten Fugen sind in der Tiefe richtig gestaffelt. Das Entstehungsjahr 1496 für den Dresdner Altar ist in vieler Hinsicht umstritten. Die an diesem Werk registrierbare, im projektiven Sinne korrekte Tiefenstaffelung von Breitenlinien und die sichere Darstellung des gefliesten Fußbodens sprechen dafür, daß dieses Bild von Dürer nach
Abb. 33 Projektive Streckenhalbierung
REKONSTRUKTIONSANALYSEN AN WERKEN DÜRERS VOR DER ZWEITEN ITALIENREISE 39
seiner zweiten Italienreise mindestens noch einmal übermalt worden ist. Eine Fußbodentäfelung dieser feinen Art ist in seinen weiteren Bildwerken nicht wieder vorzufinden. In diesem Zusammenhang ist ein Skizzenblatt von Interesse, das in der Nürnberger Stadtbibliothek aufbewahrt wird. Die in Verbindung mit Proportionsstudien angelegte Skizze wurde als »Verkehrer« bezeichnet. Sie diente wohl auch zur Veranschaulichung dafür, wie drei gleichabständig auf einer Tiefenlinie angeordnete Gegenstände von gleicher Höhe im Zentralriß darzustellen sind. Eine im projektiven Sinne korfekte Staffelung der Bilder gleichabständiger Breitenlinien in der Tiefe setzte sich bei den Malern der Renaissance nur sehr schleppend gegen herkömmliche falsche Zeichenpraktiken durch. Einige wenige Belegstücke sollen daraufhin untersucht werden. Abb. 34 zeigt die von Albrecht Dürer vorgezeichnete und von Peter Vischer (1460-1529) in Nürnberg gegossene Grabplatte für Herzog Albrecht den Beherzten von Meißen (gest. 1500). Der darauf dargestellte Ritter steht auf einer mit Rechteckplatten ausgelegten Grundebene. Die Fugen bilden ein Netz von Tiefen- und Breitenlinien. Die Tiefenlinien sind exakt auf den Hauptpunkt eingefluchtet, und von den fünf Breitenlinien lassen sich die Längen genau ermitteln. Wendet man auf das von den beiden äußeren Tiefenlinien sowie der vorderen und hinteren Breitenlinie gebildete Trapez die Diagonalprobe an, so zeigt sich, daß die Mittellinie m unterhalb des Schnittpunktes D der Diagonalen des Trapezes liegt. In das Original übertragen bedeutet dies, daß m zu weit vorn liegt und das Rechteck nicht halbiert. Eine genaue Vermessung der Linien auf der Grabplatte führt zu der Feststellung, daß die Längen der zwischen zwei Tiefenlinien t\ und t2 liegenden Abschnitte von Breitenlinien annähernd den Gliedern einer geometrischen Folge entsprechen. Die Konstruktion kann nach der in Abb. 36 wiedergegebenen Zeichenregel erfolgt sein. Bei dieser Art des konstruktiven Vorgehens werden auf den Tiefenlinien geometrische Punktfolgen erzeugt. Bei einer Abbildung durch Zentralprojektion gehen Geraden wieder in Geraden über; d.h., die hierdurch hergestellte geometrische Verwandtschaft zwischen Original und Bild ist linear. Hingegen verdeutlicht die Diagonalprobe in Abb. 37, daß die Linearität des Abbildungsvorganges nach dieser Methode verletzt ist. Diese Konstruktion vermittelt daher keine Imitation des Sehens mit dem menschlichen Auge, sie ist im projektiven Sinne falsch. Dürers schriftlicher Nachlaß bietet einen Anhaltspunkt, wie er konstruktiv vorgegangen sein kann. Man findet im vierten Buch der 1538 aufgelegten »Underweysung« die Abb. 38 mit dem Problem der Würfelverdoppelung in Verbindung gebracht. Abschließend zu diesem Abschnitt schreibt er: »Item alle dise linien, die in diser erfindung gezogen werden, sind alle proportzen
Abb. 34 Grabplatte von Herzog Albrecht dem Beherzten von Meißen (gest. 1500)
Abb. 35 Diagonalprobe f ü r die Mittellinie m an der Grabplatte von Albrecht dem Beherzten; die Mittellinie liegt im projektiven Sinn zu weit vorn
REKONSTRUKTIONSANALYSEN AN WERKEN DÜRERS VOR DER ZWEITEN ITALIENREISE 41
Abb. 36 Tiefenstaffelung von Breitenlinien an der Grabplatte von Albrecht dem Beherzten durch Anlegen einer geometrischen Skala
Abb. 37 Diagonalprobe an einer Schar von Breitenlinien, die mittels einer geometrischen Skala in der Tiefe gestaffelt sind
Abb. 38 Anlegen einer geometrischen Skala in Dürers »Underweysung« von 1538
R E K O N S T R U K T I O N S A N A L Y S E N A N W E R K E N D Ü R E R S VOR D E R ZWEITEN ITALIENREISE 42
gegen ein ander, darumb vergleychen sie sich gegen ein ander ... Diß ist alles recht vnd woll von vielen demonstri [r]t worden vnd ist behend, nützlich vnd gut. Dise figur sichstu hernach aufgerissen.« Dürer erkennt die in dieser Figur bestehenden Proportionen, ohne sie explizit aufzuschreiben. Ferner erlaubt sein Text die Schlußfolgerung, daß hier eine für die verschiedensten Zwecke genutzte und weitverbreitete Teilungsregel vorliegt. Vermutlich wurde sie auch in der Werkstatt von Michael Wolgemut (1434-1519), dem Lehrmeister Albrecht Dürers, praktiziert. Bei Dürer
Abb. 39 »Heilige Familie im Gemache«, Holländische Schule Ende des 15. Jahrhunderts. Die Diagcnalprofce ist für den gefliesten Fußboden nicht erfüllt. Die Breitenlinien sind mittels einer gecir.etrkchen Skala in der Tiefe falsch gestaffelt
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ist keine kritische Auseinandersetzung mit dieser bis weit in die Zeit der Renaissance hinein geübten, im projektiven Sinne falschen Handwerksregel zu finden. Als Repräsentant für unzählige in dieser Weise angelegte Bilder möge ein Werk der Holländischen Schule vom Ende des 15. Jahrhunderts dienen. Bei oberflächlicher Betrachtung wirkt im Bild der geflieste Fußboden entsprechend den Regeln der Zentralperspektive dargestellt. Eine mit dem Lineal leicht ausführbare Diagonalprobe zeigt jedoch, daß die Linearität der Abbildung nicht gewahrt ist. Die Diagonalen scheren von vorn nach hinten immer stärker aus ihrer Richtung, was
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Abb. 40 Projektiv richtige Rahmenkonstruktion für kubischen Innenraum mit Balkendecke und gefliestem Fußboden
beim geübten Auge eine verzerrte Bildwirkung verursacht. Dieser Verstoß gegen die Gesetzmäßigkeiten der Zentralperspektive täuscht vor, daß sich der Fußboden im Bildhintergrund nach oben aufwölbt. In der niederländischen Malerei wird dieser grundlegende Fehler erst mit Vredemann de Vries um 1600 überwunden. Als zweites Belegstück für die bei Dürer vor der zweiten Italienreise noch bestehende Unsicherheit hinsichtlich der Tiefenstaffelung von Breitenlinien möge der Paumgartner Altar aus dem Jahre 1503 dienen. Hier sollen die Bilder der in einer vertikalen Ebene bezüglich der Bildebene befindlichen Torbögen einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Dürer gibt auch bei diesem mit hohem Zeitaufwand und künstlerischem Einsatz angefertigten Bild durch die architektonische Umrahmimg den Weg zur ersten Orientierung und damit für eine Rekonstruktionsanalyse frei. Zunächst lassen sich Hauptpunkt und Horizont aus mehreren Tiefenlinien eindeutig gewinnen. Die Augdistanz kann aus dem Torbogen der linken Bildhälfte leicht rekonstruiert werden. Hierzu
Abb. 41 Paumgartner Altar aus dem Jahre 1503
faßt man das Bild des Torbogens in ein Trapez aus zwei Tiefenlinien und zwei Senkrechten ein. Dies ist im Original ein Rechteck mit dem Seitenverhältnis 1:2. Das Bild des Rechtecks läßt sich leicht zu dem Bild eines Quadrates ergänzen. Da der Torbogen in einer zur Bildebene senkrechten Ebene liegt, schneiden die in das Bild eingezeichneten Diagonalen das im Hauptpunkt H auf dem Horizont h errichtete Lot in dem nach unten bzw. oben umgelegten Auge O0. Mit HO0 verfügman über die Augdistanz und damit über die erste Orientierung des Bildes. Nun kann man sich von der in der rechten Bildhälfte dargestellten Säulenreihe und den beiden Torbögen ein zum Original ähnliches Bild verschaffen. Hierzu faßt man die Säulenreihe mit den Bögen mittels der Punkte H und O0 gleichfalls in ein geeignetes Quadrat (Trapez) ein. Dieses Quadrat wird um seine vordere Spur in die Zeichenebene geklappt. Für die Punkttransformation leisten nun die in das Quadrat eingezeichnete Diagonale und die in das Trapez eingezeichnete Bilddiagonale wesentliche Dienste. Der zu transformierende Punkt P wird mittels einer Breiten-
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Abb. 42 Rekonstruktionsanalyse zum Paumgartner Altar unter Anwendung des Diagonalverfahrens
linie und einer Tiefenlinie angegittert. Die Breitenlinie durch P schneidet die Diagonale in Q, und die Tiefenlinie durch P schneidet die Spur s in R. Die Tiefenlinie durch Q schneidet die Spur in S. Ferner legt man ein Lot bezüglich der Spur s durch S. Dieses schneidet die Diagonale des Quadrates in T. Die Waagerechte durch R und die Senkrechte durch T schneiden sich im Bildpunkt P° von P (vgl. Abb. 43). Die nach diesem Verfahren in ähnlicher Größe rekonstruierten Torbögen lassen folgendes erkennen: 1. Die vordere Säulendistanz ist wesentlich kleiner als die hintere. 2. Die Säulenstärke nimmt von vorn nach hinten zu. 3. Die Scheitelpunkte der Torbögen sind nach hinten verschoben. Die Abweichung der rekonstruierten Torbögen von Kreisbögen kann mit der fehlerhaften Auf-
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fassung vom Zentralriß eines Kreises, wie er sich auch beim elliptischen Schnitt eines Drehkegels dokumentiert, in Verbindung gebracht werden. Der vom Auge an die Punkte des Torbogens gelegte Kegel von Sehstrahlen entspricht einem Kreiskegel, der von einer Ebene, der Bildebene, geschnitten wird. Die Verschiebung der inneren Säule aus der Mittellage nach vorn ist offensichtlich wieder damit zu erklären, daß die Tiefenstaffelung der drei Säulen durch geometrische Mittelbildung entsprechend Abb. 36 vorgenommen wurde. Die Diagonalprobe an der Grabplatte zeigte, daß das Bild der Mittellinie m fälschlich vor dem Mittelpunkt D lag. Hier findet sich also der gleiche prinzipielle Konstruktionsfehler, wie er an der Grabplatte von Albrecht dem Beherzten zu verzeichnen war.
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Abb. 43 Projektive Punkttransformation nach Dürers Diagonalverfahren
Diese Analyse wirft die Frage auf, ob Dürer das Problem des Anlegens einer projektiven Skala jemals beherrscht hat und ob er in der Lage war, die Breitenlinien eines ebenen Feldes in der Tiefe aus projektiver Sicht richtig zu staffeln. Zur Klärung dieser Frage kann die aus der »Underweysung « von 1538 entnommene Abb. 44 mit der entsprechenden Textstelle herangezogen werden. Erläuternd schreibt Dürer zu dieser Skizze: »Noch eyn ander meynung etlich vergleichlich linien gegen eynander zu finden. Die such also.« Es folgt die Konstruktionsbeschreibung. Eindeutig geht Dürer von der auf der Strecke ab abgetragenen kartesischen Skala aus. Der Punkt j wird auf der Senkrechten zu ab durch b beliebig angenommen, a mit j verbunden und zu ab die Parallele cb in beliebigem Abstand gezogen. Ferner wird j mit den Punkten 1,2,3 der kartesischen Skala verbunden. Mittels der Diagonalen bc gelingt es dann, die kartesische Punktreihe auf ab in eine projektive Punktreihe auf bb umzusetzen. Auf konkrete Anwendungen geht Dürer leider nicht ein. Er schreibt lediglich: »Durch dise figur
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ist auch vill zu machen. Die sichstu hernach aufgerissen.« Das hierzu gehörige Manuskriptblatt findet sich unter den Londoner Skizzenblättern. Auf Grund des Wasserzeichens im Papier ist es zeitlich nach 1525, also sehr spät einzuordnen. Von welcher Seite die Anregung zu dieser Skizze kam, wird wohl nicht mehr aufzuhellen sein. Immerhin muß Dürer sich hier - im Gegensatz zu seiner Skizze mit den Distanzpunkten - der Bedeutung der Teilungsvorschrift für die malerische Praxis bewußt gewesen sein, sonst wäre sie wohl nicht in sein Buch aufgenommen worden. Abbildung 44 kann jedoch nicht, wie in der Veröffentlichung von Dürers schriftlichem Nachlaß geschehen, unter Aufgaben eingeordnet werden, in denen zu zwei gegebenen parallelen Strecken
Abb. 44 Konstruktion einer projektiven Skala aus einer kartesischen Skala (»Underweysung« von 1538)
die mittlere Proportionale aufzusuchen ist. Hier stellt vielmehr, wie durch eine Rechnung leicht nachzuprüfen ist, die Länge von gfj das harmonische Mittel der Längen von ab und cb dar. Eine Anwendung dieser Konstruktion auf das künstlerische Schaffen ist bei Dürer auch nach der zweiten Italienreise nicht explizit nachweisbar. Zur richtigen Tiefenstaffelung der Bilder von Objekten im Raum bediente er sich vermutlich des noch zu besprechenden Diagonalverfahrens, welches er wohl auf seiner zweiten Italienreise kennengelernt hatte. Die in Abb. 42 zu verzeichnende Versetzung der inneren Säule nach vorn ist damit zu erklären, daß das hier konstruierte geometrische Mittel zweier Strecken unterschiedlicher Länge größer ist als das harmonische Mittel, welches nach den Gesetzen der Zentralperspektive eigentlich zu bilden ist. In Abb. 44 ist die Konstruktion des harmonischen Mittels zweier paralleler Strecken mit enthalten. Aus Dürers Bildzyklen zur biblischen Geschichte möge noch der Holzschnitt »Ruhe auf der Flucht« aus dem Marienleben einer kurzen Betrachtung unterzogen werden. Diese Darstellung aus
Abb. 45 »Ruhe auf der Flucht«, Holzschnitt aus dem Jahre 1504
dem Jahre 1504 soll mit dazu dienen, einzuschätzen, was Dürer bis zu seiner zweiten Italienreise von der Zentralperspektive bekannt war. Aus der Fülle des im Vordergrund Dargestellten heben sich deutlich rechteckige und quaderförmige Objekte ab, die auf einen eindeutig rekonstruierbaren Hauptpunkt eingefluchtet sind. Dieser Fluchtpunkt H liegt im unteren Teil der frontal aufgestellten Toreinfassung. In Abb. 46 sind die für eine Rekonstruktionsanalyse geeigneten Bildteile längentreu herausge-
zeichnet. Darin sind Senkrechte, Breitenlinien und Tiefenlinien vorherrschend. Einen Zugang zur Augdistanz bietet das am linken Bildrand gerade noch sichtbare Holzdach mit seinen Verstrebungen. Die frontal eingebaute Dachstrebe ist, wie leicht nachgemessen werden kann, unter einem Winkel von 45° gegen die Waagerechte geneigt. Diese Neigung ist dann auch von der in einer senkrechten Ebene zum Bild angebrachten Verstrebung sowie dem zugehörigen Holzdach zu erwarten. Diese Dachstrebe und die dazu parallele Dachkante bieten den Zugang zu einem
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Punkt des Distanzkreises. Errichtet man nämlich das Lot auf dem Horizont in H und bringt dieses mit den Verlängerungen der Dachkante und der Dachstrebe zum Schnitt, so liefert dies einen ausgezeichneten Punkt des Distanzkreises, nämlich den nach oben um den Horizont umgelegten Augpunkt 0°. Damit steht die erste Orientierung des Bildes zur Verfügung, die eine Rekonstruktionsanalyse - etwa in Form einer ähnlichen Wiedergabe des Bildgrundrisses - ermöglicht. Eine solche Analyse, die hier nicht durchgeführt werden soll, würde beispielsweise zeigen, daß der obere Treppenabschnitt mit der Türöffnung mehr als zweimal so breit ist wie der untere Treppenabschnitt. Diese Feststellung wird nur getroffen, um die zehn Jahre später von Dürer erzielten Höchstleistungen auf dem Gebiet der Zentralperspektive klarer gegen frühere Arbeiten herauszustellen.
DÜRERS ZWEITE ITALIENREISE
Bei den strengen Maßstäben, die Dürer an sich selbst setzte, war er sich der Unvollkommenheit seiner Kenntnisse und Fertigkeiten bezüglich der Zentralperspektive voll bewußt. Diese Unzufriedenheit mit sich mag ein wesentliches Motiv für seine zweite Italienreise von 1505 bis 1507 gewesen sein. Aufschlußreiche Zeugnisse dafür finden sich in Briefen aus Venedig an seinen Freund Willibald Pirckheimer (1470-1530). Von seinen persönlichen Verbindungen zu italienischen Malern scheint die zu Giovanni Bellini (1426-1516) am fruchtbarsten gewesen zu sein. In einem Brief vom 7. 2. 1506 bezeugt er seinen guten Kontakt zu diesem Maler (Sambelling) und schreibt weiter: »Er ist sehr alt und ist noch der best im Gemäl.« Für manche Wissensvermittlung durch Bellini spricht die Tatsache, daß er ein ausgezeichneter Perspektiviker war, zu dessen Schülern Giorgione, Tizian und Vecchio zählten. Wie schwer Dürer als einem Fremden der Zugang zu den vielfach eifersüchtig als Geheimnis gehüteten Kenntnissen der Perspektive gemacht wurde, mag durch eine andere Briefstelle belegt werden. Er schreibt an seinen Nürnberger Freund: »Ich hab viel guter Freund unter den Walchen, die mich warnen, daß ich mit ihren Molern nit es und trink. Auch sind mir viel Feind und machen mein Ding in Kirchen ab und wo sie es mögen bekummen.« In die letzten Geheimnisse der Zentralperspektive wurde Dürer offensichtlich auch von Bellini nicht eingeführt. Sonst hätte er nicht am 13. Oktober 1506 an Pirckheimer geschrieben: »Ich bin in 10 Tagen noch hie fertig. Dornoch wurd ich gen Polonia (Bologna) reiten um Kunst willen in heimlicher Perspektiva, die mich einer lehren will.« Dieser geheimnisumwitterte Abstecher von Venedig nach Bologna wird mit den verschiedensten Spekulationen verknüpft. Man vermutet eine persönliche Kontaktaufnahme zu Paciuolo, dem zur damaligen Zeit führenden Mathematiker Italiens. Er war viele Jahre ein Mitbewohner des Hauses von Leon Battista Alberti in Rom gewesen und gehörte zu den Schülern von Piero della Francesco (gest. 1492). Ferner war er mit Leonardo da Vinci bekannt. Eine Begegnung Dürers mit Leonardo da Vinci (1452-1519) wird gleichfalls nicht ausgeschlossen. Einer solchen Vermutung ist allerdings entgegenzuhalten, daß dieses Ereignis sicher irgendwo einen noch heute nachweisbaren schriftlichen Niederschlag gefunden hätte. Eine vergleichende Betrachtung von Dürers Manuskripten mit denen von Leonardo da Vinci und Piero della Francesco läßt die Folgerung zu, daß Dürer mindestens Einblick in deren Aufzeich-
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nungen oder Abschriften davon genommen hat. Piero della Francesco hatte nach seiner Erblindung das Manuskript zu einem Lehrbuch mit dem Titel »de prospectiva pingendi« seinen Schülern in die Feder diktiert. Diese Aufzeichnungen kamen damals nicht zum Druck, wurden aber zur Quelle vieler mündlicher Überlieferungen. Zu diesen Überlieferungen gehört höchstwahrscheinlich das erstmals bei Piero della Francesco nachweisbare Diagonalverfahren zur Herstellung zentralperspektiver Bilder. Bei Dürer findet es sich in einer geschickt abgewandelten Form, worauf im folgenden noch genauer eingegangen werden soll. Ein oberflächliches Bekanntwerden mit Konstruktionen unter Auswertung der Distanzpunkte könnte gleichfalls in dieser Zeit liegen. Auch mit der Frage nach der Tiefenstaffelung äquidistanter Breitenlinien bei Zentralperspektiven Abbildungen mag Dürer in dieser Zeit gerungen haben. Äquivalent damit ist das Problem der Umsetzung einer kartesischen Skalenteilung in eine projektive. Die Lösung bietet das in Abb. 44 wiedergegebene Londoner Skizzenblatt, welches aber nachweislich frühestens 1525 entstanden sein kann. Bei Dürers Drang zur Erprobung seiner Kenntnisse in der Zentralperspektive sollte man erwarten, daß er nach der Rückkehr von seinem Italienaufenthalt ab 1507 besonders in dieser Richtung wirksam würde. Aber sowohl in seinen Holzschnitten wie auch in den Kupferstichen besonders zur Passionsgeschichte ist eindeutig registrierbar, daß darin Breitenlinien nur gefühlsmäßig in der Tiefe gestaffelt sind und selbst der Hauptpunkt nicht eindeutig rekonstruierbar ist. Ein Grund für die geringere geometrische Sorgfalt in dieser Schaffensperiode mag sein, daß sich Dürer nach seiner Rückkehr von Italien erst wieder finanziell stärken mußte. Das im Auftrag der deutschen Kaufmannschaft in Venedig von ihm angefertigte Altarbild »Das Rosenkranzfest« hatte fast acht Monate seine Arbeitskraft gebunden, ohne ihm dann einen angemessenen finanziellen Ertrag zu bringen. So konnte er sich zunächst wohl keine zeitaufwendigen geometrischen Vorkonstruktionen für seine Bilder leisten. Es vergingen weitere sieben Jahre, bevor sich Dürer zu zwei Kunstwerken von höchstem konstruktivem Einsatz aufraffte, wobei ihm sein Wissen und Können bezüglich der Zentralperspektive zu größter künstlerischer Wirksamkeit verhalf. Dies sind die Kupferstiche »Hieronymus im Gehäuse« und »Melancholie« aus dem Jahre 1514.
REKONSTRUKTIONSANALYSE AN DEM KUPFERSTICH »HIERONYMUS IM GEHÄUSE«
In der Zeit des Humanismus und der Renaissance war der lateinische Kirchenvater Hieronymus (um 347-420) eine sehr populäre Persönlichkeit. Durch Dürer hat er mehrfach in verschiedenen Schaffensperioden künstlerische Gestaltung erfahren. Der Basler Holzschnitt von 1492 ist Dürers früheste Hieronymus-Darstellung. Dieses Bild hat der Meister in jungen Jahren offensichtlich ganz unbeschwert von den Forderungen der Zentralperspektive geschaffen. Hingegen ist die Ausführung des Kupferstiches von 1514 zum gleichen Thema nur unter dem Einsatz von tieferliegenden Kenntnissen zur Zentralperspektive erklärbar. Der Arbeitsraum des Schöpfers der Vulgata wird im Hauptverfahren dargestellt. Breiten- und Tiefenlinien beherrschen den Aufbau des Bildes und lassen eine eindeutige Rekonstruktion von Hauptpunkt und Horizont'zu. Der Hauptpunkt liegt hart am rechten Bildrand. Dadurch wird der Blick in die Fensternischen und auf die Wandbank der linken Bildseite besser freigegeben. Lediglich die schräg in den Raum gestellte Sitzbank lockert die strenge Anordnung der Gegenstände etwas auf und bietet einen gesicherten Zugang zur Augdistanz. Die gesamte Anlage des Bildes läßt es gerechtfertigt erscheinen, mit Hilfe von Sätzen und Regeln zur Zentralperspektive für den dargestellten Arbeitsraum eine Rekonstruktionsanalyse durchzuführen. Bekanntlich besteht zwischen dem Zentralriß einer in der horizontalen Standebene gelegenen ebenen Figur und deren Umklappung um die Standlinie nach unten in die Bildebene eine perspektiv kollineare Punktverwandtschaft. Dabei sind die Standlinie g die Kollineationsachse, der Bildhorizont die Gegenachse und das um den Horizont nach oben umgeklappte Auge O 0 das Kollineationszentrum. Für den vorderen Eckpunkt Qc des Arbeitstisches ist die Transformation des Punktes Q c (Zentralriß) nach Q° (in die Bildebene umgeklappter Grundriß) in Abb. 48 konstruktiv durchgeführt. Transformiert man sämtliche charakteristischen Punkte vom Zentralriß des Grundrisses in dieser Weise in die Umlegung, ergibt sich das Spiegelbild des Grundrisses. Aus diesem ist erkennbar, daß die Größenverhältnisse des Arbeitsraumes samt seinem Inventar SEITE 54/55 Abb. 47 »Hieronymus im Gehäuse«, Kupferstich aus dem Jahre 1514 Abb. 48 Rekonstruktionsanalyse zu dem Kupferstich »Hieronymus im Gehäuse«
REKONSTRUKTIONSANALYSE AN DEM KUPFERSTICH »HIERONYMUS IM GEHÄUSE«
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als angemessen angesehen werden können. Selbst kaum sichtbare Kleinigkeiten, wie etwa die durchgehend konstante Breite der längs der Fenster- und Hinterwand führenden Sitzbank, hat Dürer konstruktiv mit höchster Sorgfalt behandelt. An dem achteckigen Gehäuse der an der Hinterwand hängenden Sanduhr sind die unter 45° gegen die Bildebene geneigten Kanten von Interesse. Ihre auf dem Horizont liegenden Fluchtpunkte stimmen, soweit dies bei der Kürze der Strecken feststellbar ist, mit den Distanzpunkten überein. Mittels der Analyse macht man aber auch die überraschende Feststellung, daß der Grundriß des vorn links liegenden Trittsteines ein Quadrat bildet. Die Rekonstruktion dieses Bildteiles ist hier aus Platzgründen nicht mit ausgeführt. Diese Randverzerrung weist nun auf eine entscheidende Schwäche des Kupferstiches hin, die dem Betrachter im allgemeinen verborgen bleibt. Wie die Analyse zeigt, liegt der Hauptpunkt ungewöhnlich exzentrisch am rechten Bildrand. Außerdem ist die Augdistanz d sehr klein. Bezieht man sie auf die originale Bildgröße (25 x 19 cm), ergibt sich für d eine Länge von 13 cm. Dies hat für den linken unteren Bildrand außerordentlich starke perspektivische Randverzerrungen zur Folge. Dürer hat diese kaschiert, indem er den Hund, den Löwen und den Totenschädel nicht den diesen Bildbereichen zuzuordnenden perspektivischen Verzerrungen unterworfen hat. Dies hätte zu sehr entstellenden Wiedergaben dieser Objekte geführt. Es erhebt sich also die Frage, was Dürer dazu veranlaßte, die Augdistanz so klein vorzugeben und den Hauptpunkt des Bildes in eine solche Randlage zu bringen. Namhafte Künstler der Renaissance, wie z. B. Leonardo da Vinci, hatten eindringlich davor gewarnt, beim Anlegen von Bildern die Augdistanz zu klein zu wählen. Zunächst muß festgehalten werden, daß sich die Maler der Renaissancezeit nur äußerst selten und vorsichtig von dem über Jahrzehnte erprobten Hauptverfahren lösten. Quaderförmige Objekte wurden dabei vorzugsweise so angeordnet, daß ihre Seitenflächen senkrecht und parallel zur Bildebene lagen. Für eine konstruktive Beherrschung von nicht-frontal zur Bildebene ausgerichteten Quadern fehlte noch der Fluchtpunktsatz über parallele Geradenscharen bei beliebiger Richtung im Raum. Dürer interpretierte bis zuletzt den Hauptpunkt im Bild als Aufriß des Auges und nicht als Bild eines ausgezeichneten Fernpunktes. Der konstruktive Umgang mit den Bildern von Fernelementen bereitete den zeitgenössischen Malern rein begrifflich noch außerordentliche Schwierigkeiten. So wurden auch die vom Sonnenlicht erzeugten Schlagschatten derart dargestellt, als läge die Lichtquelle in nicht zu großer Entfernung. Diese Unsicherheit im Umgang mit den Bildern von Fernpunkten findet in der »Underweysung« und im »Hieronymus« von 1514 ihren Niederschlag. Erst der italienische Mathematiker Guido Ubaldus bot in seinen sechs Büchern zur Zentralperspektive (Bologna 1600) eine begrifflich klare und allgemeine Darstellung
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des Fluchtpunktsatzes. Das für die Malerpraxis besonders günstige Meßpunktverfahren zur Übertragung von Strecken vorgegebener Länge in Zentralperspektive Bilder entwickelte der Franzose Estienne Migon in seinem Büchlein »La perspective spéculative et pratique« aus dem Jahre 1643. Die Ursache für das Festhalten der Renaissancemaler am Hauptverfahren ist vor allem darin zu suchen, daß sie noch nicht über die Kenntnisse und Fertigkeiten für eine gelöstere Handhabung der Zentralprojektion verfügten. Im vorliegenden Beispiel verleiht der frontale Blick auf den Arbeitstisch und die Hinterwand des Arbeitszimmers des Kirchenvaters dem Bild zunächst eine strenge und kulissenhafte Wirkung. Dürer suchte dies dadurch aufzulockern, daß er den Fluchtpunkt der Tiefenlinien hart an den rechten Bildrand legte und die Augdistanz sehr klein wählte. Damit bot er dem Betrachter einen Einblick in die Fensternische mit den Butzenscheiben und auf die Bank mit alltäglichen Gebrauchsgegenständen. Aber bereits die Tischplatte, an der Hieronymus arbeitet, weist an der linken vorderen Ecke beträchtliche Randverzerrungen auf. Dists
Abb. 49 Malerregel der Renaissance über die Beziehung Distanzkreis - Sehkreis - Bildrand
In diesem Zusammenhang ist eine von den Malern der Renaissance aufgestellte Faustregel von Interesse, die einen Erfahrungswert als zulässige obere Schranke für das Verhältnis von Bildgröße zu Augdistanz angibt. Danach soll das Bild des dargestellten Gegenstandes innerhalb eines Kreises um den Hauptpunkt liegen, dessen Radius gleich der halben Augdistanz ist. Der mit der halben Augdistanz um den Hauptpunkt geschlagene Kreis wird Sehkreis genannt. Abb. 50] verdeutlicht, wie weit in dem vorliegenden Kupferstich von dieser Empfehlung abgewichen wurde.
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Bildrand Distanzkreis
Abb. 50 Beziehung Distanzkreis - Sehkreis - Bildrand bei »Hieronymus im Gehäuse«
Abgesehen von dieser aus geometrischer Sicht bestehenden Diskrepanz erhebt sich die Frage, welcher Hilfsmittel sich Dürer wohl bedient hat, um in der Gesamtdarstellung doch ein so hohes Maß an Genauigkeit und Wohlproportioniertheit, was hier durch die Rekonstruktionsanalyse offenbar wird, zu erreichen. Ein instrumentelles Vorgehen scheidet bei dieser Art von wiederzugebenden Objekten aus. Dürer hätte sich dann gewiß vom Hauptverfahren gelöst und die Augdistanz mit den von ihm in der »Underweysung« demonstrierten Mitteln vergrößert. Da der Grundriß und auch die linke Seitenwand des Raumes genau von quadratischer Form sind, wie sich mittels der Rekonstruktionsanalyse bestätigen läßt, liegt es sehr nahe, daß hier ein in der »Underweysung« von 1538 beschriebenes Verfahren angewandt worden ist. Nach diesem Verfahren geht man etwa vom Grundriß des darzustellenden Objektes aus. Diesen faßt man in der Zeichenebene in ein •Quadrat mit je einem Paar waagerechter bzw. senkrechter Seiten ein. An die obere, waagerecht liegende Quadratseite schließt man ein Trapez derart an, daß beide Polygone diese Seite gemeinsam haben. Das parallele Seitenpaar des Trapezes liegt waagerecht. Das Trapez selbst wird als zentralperspektives Bild des Quadrates interpretiert. Folglich entspricht das Paar nichtparalleler Seiten des Trapezes den zwei Tiefenlinien des Quadrates, und der Schnittpunkt der nichtparallelen Seiten ist der Hauptpunkt des zu konstruierenden Zentralrisses. Dieser Punkt führt in Abb. 51 entsprechend Dürers Interpretation als Bild des Auges - die Bezeichnung O (oculus). Nun wird in den Grundriß des Quadrates die Diagonale ac eingezeichnet. Ihr Bild ist die Diagonale fb des Trapezes. Diese beiden Diagonalen sind der entscheidende Schlüssel zur konstruktiven Trans-
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formation des Grundrisses der gegebenen Konfiguration in den durch das Trapez fixierten Zentralriß. Der Vorgang ist von Dürer in Abb. 51 durch Überführung des Punktes e in den Punkt n anschaulich demonstriert. Einleitend schreibt er dazu: »Wen du jn einem abgestolnen blanum ein puncten finden wilt, der dir jn einer rechten fierung fürrgegeben würdet, dem mustu also than: ...« Diese Punkttransformation wurde bereits bei der Rekonstruktionsanalyse des Paumgartner Altars in der umgekehrten Richtung angewandt. Ihre Vorteile liegen in der Anschaulichkeit bei geringem Platz- und Konstruktionsaufwand. Nach diesem Verfahren könnten der Grundriß und die linke Seitenwand des Arbeitsraumes von Hieronymus transformiert worden sein. Aus dem Zentralriß von Grund- und Seitenriß kann anschließend jeder beliebige Punkt des Arbeitsraumes etwa die Eckpunkte der Tischplatte - in das Zentralperspektive Bild gebracht werden. Man hat nur die senkrechten und waagerechten Ordnungslinien durch entsprechende Punktpaare miteinander zum Schnitt zu bringen. Als Bestätigung für ein solches konstruktives Vorgehen kann die folgende, das Diagonalverfahren näher erläuternde Textstelle aus der.»Underweysung« von 1538 herangezogen werden: »Vund zu gleycher weyß ist ein yetlicher für gegebner punckt in einem cubo zu finden, so man den cubum for mit zweyen blanen durch den für gegebnen punckten aufrecht vnd zwerchs zerschneydet. Dise zwen schnit geben jm aufreissen zwo linien. So du aber den cubum in das abgestolen bringest, so findet sich der punckt jm zwerchen schnit durch die weyß wie oben angezeygt ist.«
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Das hierzu gehörige Manuskript befindet sich unter den Londoner Skizzenblättern. Die Wasserzeichen des verwendeten Papiers lassen für die Entstehung der Zeichnung die Zeit zwischen 1513 und 1524 offen. Aus dem Vergleich mit Dürers künstlerischem Schaffen läßt sich die Entstehungszeit dieser geometrischen Skizze mit Erläuterung auf die Jahre 1513/14 einschränken.
Abb. 52 Transformation zweier unregelmäßiger Polygone vom Grundriß in einen Zentralriß nach Dürers Diagonalverfahren (zwei verblichene Tiefenlinien wurden zur Verdeutlichung des in diesem Dresdner Skizzenblatt zweifelsfrei angewandten Verfahrens retuschiert)
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Unter den Dresdner Skizzenblättern findet sich eine interessante Anwendung des Diagonalverfahrens. Nach Art eines Übungsbeispiels transformiert Dürer den Normalriß ebener Polygone in ein zentralperspektives Bild (Abb. 52). Dies erhärtet die Annahme, daß der Meister das Diagonalverfahren auch in der künstlerischen Praxis angewandt hat. Es besteht die Vermutung, daß die editorische Arbeit zu der um insgesamt durch 22 Figuren mit zugehörigem Text bereicherten sogenannten Formschneyder-Auflage von Thomas Venatorius geleistet worden ist. Dürers Urheberschaft ist für alle in die zweite Auflage eingearbeiteten Zusätze eindeutig gesichert. Ferner ist anzunehmen, daß auch Hieronymus Andreä, genannt Formschneyder, als ständiger künstlerischer Mitarbeiter die weiterführenden Ideen seines Meisters voll verstanden hatte und durch Aufnahme in die zweite Auflage zu würdigen wußte. Auf alle Fälle muß die Einarbeitung der Zugaben von sachkundiger Hand aus Dürers engstem Arbeitskreis besorgt worden sein. Zu dieser außerordentlich geschickten, von Dürer mehr in Rezeptform gegebenen Konstruktionsvorschrift, gelegentlich auch als Diagonalverfahren bezeichnet, findet sich bei Piero della Francesco ein Vorläufer. In seinem Malerbuch ist eine ähnliche Skizze aufgenommen, bei der sich allerdings - im Gegensatz zu Dürers Anordnung - die in das Quadrat und das Trapez als Hilfslinien eingezeichneten Diagonalen auf der Standlinie schneiden. Die Konstruktion des zu e gehörigen Bildpunktes n verläuft völlig analog (vgl. Abb. 53). Der Nachteil dieser Konstruktion für die Anwendung durch den Künstler besteht darin, daß
Abb. 53 Diagonalverfahren nach Piero della Francesco zur Konstruktion zentralperspektiver Bilder
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die zu den Punkten des Hintergrundes gehörigen Urbilder im Quadrat unten und die des Vordergrundes oben liegen. Der Künstler muß also von dem an der Mittellinie des Quadrates gespiegelten Grundriß ausgehen, um mittels dieser Transformation zum Zentralriß des Grundrisses zu
Abb. 54 Nachweis der Identität des Diagonalverfahrens von Piero della Francesco mit einer Perspektiven Kollineation
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gelangen. Diese von Piero della Francesco vorgeführte geometrische Punktverwandtschaft stellt eine perspektive Kollineation dar. Sie wurde bereits in Abb. 48 bei der Rekonstruktionsanalyse für Hieronymus angewandt und führte auf das Spiegelbild vom Grundriß des Arbeitsraumes. Bemerkenswert ist, daß man nach Pieros Konstruktion ohne das Kollineationszentrum auskommt. Der Vorteil liegt in dem geringeren Platzaufwand bei Umgehung schleifender Schnitte. Mit Abb. 54 wird demonstriert, wie durch die Vorgabe des Bildtrapezes der Horizont, die Augdistanz und damit auch das Kollineationszentrum (umgelegtes Auge) in der Zeichenebene festgelegt sind und wie das von Piero della Francesco gebotene Verfahren aus der bekannten Konstruktion mittels Kollineationszentrum, Kollineationsachse und Gegenachse hergeleitet werden kann. Abschließend erhebt sich die Frage, warum Dürer eine Konstruktion von so grundlegender Bedeutung für die Herstellung zentralperspektiver Bilder nicht selbst in seine »Underweysung« von 1525 aufgenommen hat. Hier kann nur vermutet werden, daß er diese Punkttransformation zwar rezeptiv beherrschte, ihm aber für eine plausible Begründung derselben gegenüber der jüngeren Malergeneration das notwendige geometrische Rüstzeug fehlte. Bei der Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit seiner Arbeitsweise wollte er offenbar nicht Dinge in sein Lehrbuch aufnehmen, die er nach seinem eigenen Gefühl selbst noch nicht richtig verarbeitet hatte. Weniger berechtigt scheint die Vermutung zu sein, daß er sein Wissen um diese Konstruktionsregel vorsätzlich für sich behielt, um seine überragende Stellung wenigstens unter den zeitgenössischen Malern zu sichern. Seine Grundhaltung in dieser Hinsicht spiegelt sich in einem Satz aus den Entwürfen zu dem geplanten »Lehrbuch der Malerei« wieder. Er schreibt: »Es ist not, daß wir all lernen und das getreulich unseren Nochkummen mitteilen.«
REKONSTRUKTIONSANALYSE AN DEM KUPFERSTICH »MELANCHOLIE«. SCHLUSSFOLGERUNGEN
In seinem Bemühen, das Diagonalverfahren zur Konstruktion zentralperspektiver Bilder über das rein Handwerkliche hinausgehend zu beherrschen, durchlebte der Meister offenbar eine Periode grüblerischen Suchens, hoffnungsloser Resignation und Unzufriedenheit mit sich selbst. Aus diesem Lebensgefühl heraus ist der gleichfalls im Jahre 1514 entstandene Kupferstich »Melancholie« zu verstehen, dem aus inhaltlicher und geometrischer Sicht das lebhafteste Interesse zukommt. Bei diesem Kupferstich erweckt zuerst die rechts im Vordergrund sitzende geflügelte allegorische Frauengestalt die Aufmerksamkeit des Betrachters. Der in die Ferne gerichtete Blick, das im Schoß liegende Buch und der von der Hand geführte Zirkel stützen die Annahme, daß Dürer hier ein ihm selbst zutiefst vertrautes geistiges Ringen um die Problematik der Wiedergabe des dreidimensionalen Raumes mit seinen verschiedenartigen Objekten in einer zweidimensionalen Bildebene versinnbildlichen wollte. Mit Recht glaubt man allgemein, in dieser Personendarstellung ein geistiges Selbstbildnis von Albrecht Dürer zu erkennen. In der Tat stellte sich der Meister in diesem Bildwerk auch eine Fülle von konstruktiv sehr schwer zu bewältigenden Problemen. Zunächst wird durch die Sicht auf das Meer der von Menschenhand unabhängige Horizont freigegeben. Der frontal zur Bildebene aufgebaute Turm bietet den Zugang zum Hauptpunkt des Bildes. Einen weiteren Blickfang bildet das an den Polecken abgestumpfte Rhomboeder. Durch Auswertung der Regularitäten dieses Körpers eröffnet sich eine Möglichkeit, die Augdistanz zu gewinnen und damit über die erste Orientierung des Bildes zu verfügen. Die linke obere Kante des Polyeders und damit auch die horizontale Diagonale der linken Seitenfläche sind Tiefenlinien, deren gemeinsamer Fluchtpunkt mit dem Hauptpunkt identisch ist. Nach dieser Feststellung lassen sich die horizontalen Diagonalen der drei oberen Seitenflächen des Körpers, die ein gleichseitiges Dreieck aufspannen, mit hinreichender Genauigkeit einzeichnen. Für die in der vorderen Seitenfläche liegende horizontale Diagonale kann das Bild des Halbierungspunktes M durch Verbinden von Punkten und Schneiden von Geraden exakt konstruiert werden. Verbindet man diesen Halbierungspunkt M mit dem linken hinteren Eckpunkt des horizontal liegenden gleichseitigen Dreiecks, so verfügt man über zwei sich unter einem rechten Winkel schneidende Geraden in horizontaler Lage. Daher liegen die Fluchtpunkte Ei und E2 dieser beiden Geraden auf dem Horizont. Der Halbkreis des Thaies über der Strecke E{E2 schneidet das Lot auf dem Horizont
Abb. 55 »Melancholie«, Kupferstich aus dem Jahre 1514
Abb. 56 Zweifache Bestimmung der Augdistanz aus dem Bild des abgestumpften Rhomboeders und des Mühlsteins
durch H im umgelegten Auge 0°. Damit steht wieder die Augdistanz d\ = HO\ zur Verfügung. Diese konstruktiv gefundene Länge wurde in mehreren voneinander unabhängigen Zeichnungen auf Verläßlichkeit und Fehlerschranken geprüft. Wohl nicht ohne Absicht hat Dürer in diesem Kupferstich einen zweiten Zugang zur Augdistanz verfügbar gemacht. Der an die Seitenwand des Turmes gelehnte Mühlstein steht nach Anlage des Werkes senkrecht zur Bildebene. Die Fluchtspur der von der Vorderseite des Mühlsteines bestimmten Ebene geht also durch den Hauptpunkt H. Von dem in dieser Ebene liegenden Kreis steht eine hinreichende Anzahl von Bildpunkten zur Verfügung, um die Bildellipse formgerecht vervollständigen zu können. Zurj Bestimmung der Fluchtspur der Mühlsteinebene legt man zunächst aus dem Hauptpunkt H die Tangenten an die vervollständigte Bildellipse. Die Originale dieser beiden Geraden sind zueinander parallele, horizontale Kreistangenten. Daher muß die Verbindungsgerade der Berührungspunkte dieser beiden Ellipsentangenten parallel zur Flucht-
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spur der Mühlsteinebene liegen. Auf Grund dieser Überlegungen kann nun die durch H gehende Fluchtspur der Mühlsteinebene eingetragen werden. Legt man weiterhin die zu dieser Fluchtspur parallelen Tangenten an die Ellipse, ergibt sich ein Tangententrapez. Dieses Viereck ist das Bild des Tangentenquadrates, von dem zwei Seiten frontal und zwei Seiten vertikal zur Bildebene liegen. Daher sind die Diagonalen des Trapezes Bilder von Geraden im Raum, die unter 45° gegen die Bildebene geneigt sind. Ihre Fluchtpunkte liegen einerseits auf der Fluchtspur der Mühlsteinebene, andererseits auf dem Distanzkreis des Bildes. Aus diesen Fluchtpunkten Dj und D2 ist also gleichfalls die Augdistanz ablesbar. Wie die Rekonstruktionsanalyse in Abb. 56 verdeutlicht, hält sich die Differenz der aus zwei verschiedenen Bildobjekten resultierenden Augdistanz in einer sehr strengen Anforderungen genügenden Grenze. Bezieht man die gefundenen Augdistanzen auf die Originalgröße des Kupferstiches (24,3 X 18,7 cm), so resultieren aus dem abgestumpften Rhomboeder 20,4 cm und aus dem Mühlstein 21 cm als Längen für die Augdistanz. Ganz offensichtlich bestand Dürers Gesamtanliegen bei diesem Kunstwerk darin, eine einmalige, besonders tiefliegende Aussage über sein persönliches geistiges Ringen mit einer künstlerischen und geometrischen Glanzleistung zu verknüpfen. Ein Teilproblem daraus, das abgestumpfte Rhomboeder nach den Gesetzen der Zentralperspektive fehlerfrei darzustellen, hatte ihn wohl über längere Zeit beschäftigt. Unter den Dresdner Skizzenblättern kann eine Zeichnung als Beleg dafür dienen. Man findet darauf das Spiegelbild des in der »Melancholie« dargestellten Polyeders (vgl. Abb. 57). Der Hauptpunkt ist als stilisiertes Auge ausgebildet, die verdeckten Kanten sind mit eingezeichnet und die Eckpunkte des Körpers durchnumeriert. An dieser Skizze führt die Distanzbestimmung zu dem gleichen Ergebnis, wie an dem oben analysierten Kupferstich. Das Polyeder steht auf einem Sockel mit quadratischer Grundfläche, dessen rechte vordere Ecke unter einem Neigungswinkel von 45° gegen die Bildebene abgeschnitten ist. Eine Zeichenkontrolle bestätigt, daß sich die Bilder der Diagonalen des Quadrates und die Schnittkante in einem Punkt D2 des Bildhorizontes schneiden. Auch aus dem Polyederbild läßt sich wie oben die zugeordnete Augdistanz bestimmen. Die beiden in dieser Skizze bereitgestellten Möglichkeiten zur Distanzbestimmung führen auf stark voneinander abweichende Ergebnisse. Entscheidend ist an dieser Studie jedoch, daß sich Dürer bereits hier mit der Problematik auseinandersetzte, die erste Orientierung eines Bildes aus zwei verschiedenen Bildobjekten widerspruchsfrei rekonstruierbar zu machen. Dieses Vorhaben ist ihm mit seiner »Melancholie« neben der damit verknüpften Aussagegestaltung in hervorragender Weise gelungen. Die hier noch bestehende Lücke beim Übergang vom Bild eines Quadrates zum Bild des dem Quadrat einbeschriebenen Kreises läßt sich durch andere Vorstudien (z.B. Abb. 13) überzeugend schließen.
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Wenn die Darstellungen der Kugel, des Hobels und anderer kleiner Arbeitsgeräte nicht genau der ermittelten Augdistanz angepaßt sind, so schmälert dies keineswegs die in dem Bild enthaltene geometrische Gesamtleistung. Gewiß war sich Dürer darüber klar, daß das Bild der Kugel in dieser Lage bezüglich des Hauptpunktes kein Kreis sein kann. Einerseits hätte er wohl mit der Darstellung der Kugel als Ellipse den Widerspruch seiner Zeitgenossen herausgefordert. Andererseits wollte er vermutlich auch die in diesen Bildbereichen bestehenden perspektivischen Randverzerrungen unterdrücken. Abschließend steht noch die Frage offen, wie Dürer den Zentralriß dieses Polyeders mit solcher Genauigkeit gefunden hat. Vielfach wird dieses Problem damit abgetan, er habe sich hierbei einer instrumentellen Methode bedient. Dem ist entgegenzuhalten, daß Dürer in seiner »Underweysung« instrumenteile Verfahren niemals auf ebenflächig begrenzte Körper angewandt hat. Ferner hat
Abb. 57 Vorstudie zur »Melancholie«, Dresdner Skizzenblatt
Kanten sowie zwei Diagonalen von Seitenflächen des Körpers sind Tiefenlinien. Vier weitere Körperkanten liegen frontal zur Bildebene, und die Achse des Körpers steht lotrecht. Diese spezielle Anordnung des Polyeders bezüglich der Bildebene spricht dafür, daß der Meister von dem Grundriß, Aufriß und Kreuzriß des darzustellenden Objektes ausgegangen ist. Nach Weglassen des Aufrisses hat Dürer zunächst den Grund- und Kreuzriß des Polyeders in je ein Quadrat eingefaßt. Weiter wurden an die obere Seite des Grundrisses und die linke Seite des Kreuzrisses je ein Trapez mit gemeinsamer Seite angeschlossen. Hierdurch waren der Hauptpunkt und die Augdistanz des Bildes eindeutig festgelegt. Anschließend hat er die Zentralrisse des Grund- und Kreuzrisses mittels seines Diagonalverfahrens konstruiert. Für die Anwendung des Diagonalverfahrens spricht zusätzlich, daß ein Teil der Körperkanten im Kreuzriß scheinbar parallel oder senkrecht zur Diagonalen liegen. Dies trägt wesentlich zur Vereinfachung der Eckpunkttransformation mittels der beiden Diagonalen in den Zentralriß des Kreuzrisses bei. Die Zentralrisse der Körperecken selbst ergeben sich aus den Zentralrissen von
Abb. 58 Augdistanzbestimmungen am Dresdner Skizzenblatt
1"=2"
3"
!"'
3"'
2"'
Abb. 59 Darstellung des abgestumpften Rhomboeders in Grund-, Auf- und Kreuzriß
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Grund- und Kreuzriß, indem man lotrechte bzw. waagerechte Ordnungslinien paarweise durch die einander zugeordneten Bildpunkte legt und diese miteinander zum Schnitt bringt. Die noch einzuzeichnenden Verbindungsgeraden, welche den vom Auge aus sichtbaren Körperkanten entsprechen, sind der Anschauung leicht zu entnehmen. Der von Dürer hier ausgewählte metrische Sonderfall eines abgestumpften Rhomboeders ist auch aus ästhetischer Sicht sehr wirkungsvoll. Die Proportionen des dargestellten Objektes lassen sich nach einer elementaren Zwischenrechnung wie folgt zahlenmäßig erfassen: An einem diesem Körper größenmäßig äquivalenten, aber nicht abgestumpften Rhomboeder verhalten sich in jeder Seitenfläche die Längen der Diagonalen wie 2: ]/ 3. Es wäre jedoch abwegig, Dürer in diesem Zusammenhang irgendwelche mystischen Zahlenspekulationen zu unterstellen.
Abb. 60 Konstruktion der Zentralrisse von Grund- und Kreuzriß nach dem Diagonalverfahrern
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Abb. 61 Konstruktion des Zentralrisses des Körpers aus den Zentralrissen von Grund- und Kreuzriß
Das hier dargelegte konstruktive Vorgehen entspricht genau einer von Dürer in der »Underweysung« von 1538 in Zusammenhang mit seinem Diagonalverfahren gegebenen Anleitung zur Konstruktion zentralperspektiver Bilder räumlicher Objekte (vgl. S. 59). Das zugehörige Manuskriptblatt, welches nach dem Wasserzeichen allein als Entstehungszeit die Jahre zwischen 1513 und 1524 offen läßt, befindet sich in der Sammlung des Britischen Museums. Es wäre absonderlich, wenn der Meister das von ihm empfohlene Verfahren nirgends einmal selbst erprobt hätte. Aus seinem gesamten künstlerischen Schaffen kommen dafür nur die hier aus geometrischer Sicht analysierten Kupferstiche »Hieronymus im Gehäuse« und »Melancholie« in Betracht. Die vorgelegten geometrischen Analysen und Quellenstudien lassen die Folgerung zu, daß Dürer mit seiner »Melancholie« keinesfalls eine allgemeine und unpersönliche Darstellung von einem der vier menschlichen Temperamente geben wollte. Es lag ihm vielmehr daran, einen ihn ganz persönlich betreffenden seelischen Zustand bildhaft zu gestalten, dessen Wurzeln in dem geistigen Ringen um die konstruktiven Grundlagen seines künstlerischen Wirkens, für das er sich in erster Linie berufen fühlte, zu suchen sind. So ist wohl auch dem Buch, welches er der allegorischen Frauengestalt in den Schoß legte, ein tieferer Sinn beizumessen, der sich in Zusammenhang mit
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dem abgebildeten Zirkel und Lineal leicht ergründen läßt. Ohne Zweifel ist darin eine Anspielung auf Euklids »Elemente« zu sehen, in deren lateinischer Ausgabe sich der Meister oftmals Rat suchte. Keinesfalls handelt es sich bei dem dargestellten Objekt um irgendein Buch, welches nur einen dekorativen Zweck zu erfüllen hat. Für die Aussage des Kupferstiches ist dieses Buch von großer Bedeutung. In den späteren Kunstwerken Dürers ist niemals wieder ein so hoher konstruktiver Aufwand erkennbar. Die ausgeprägten Gipfelleistungen der folgenden Lebensjahre liegen in einer anderen Richtung, die hier nicht Gegenstand der Betrachtung ist. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß Dürer nach 1514 seine Bemühungen um die Vervollkommnung seines Wissens und Könnens bezüglich der Zentralperspektive und der geometrischen Grundlagen seines Metiers aufgegeben hätte. Dies belegt unter anderem der Nachruf Willibald Pirckheimers für seinen Freund. Darin heißt es: »Wo ihme auch Gott sein Leben länger gefristet hätt, würd er noch gar viel wunderlichs, seltsams und künstlichs Ding an Tag gebracht und geben haben, zuvor der Kunst des Malens, Landschaft, Farben und dergleichen dienstlich; hat auch in sonders vorgehabt ein längere und klärere Perspectiv/dann er vor getan hat, zu beschreiben und ausgehn lassen.« Trotz der allseitigen Bewunderung und Volkstümlichkeit, die sich Dürer mit seinem künstlerischen Gesamtwerk über Jahrhunderte hinweg bewahren konnte, hat sich kein unmittelbar an ihn anknüpfender Nachfolger gefunden, der die Fülle der gegebenen Anregungen zur theoretischen Durchdringung des bildnerischen Schaffens über die »Underweysung« von 1538 hinausgehend eigenständig weitergeführt hätte. Die Akribie des Meisters bezüglich der für sein künstlerisches Schaffen bereitzustellenden geometrischen Grundlagen blieb in der Malerei eine Ausnahmeerscheinung. So hat in keinem der Werke des 16. und 17. Jahrhunderts zur Zentralperspektive für die Praxis des Malers das Diagonalverfahren von Dürer Aufnahme gefunden. Die im 17. und 18. Jahrhundert verbreitete Vedutenmalerei bediente sich instrumenteller Methoden (Zeichenkamera) zur Herstellung von naturgetreuen Stadtansichten und Landschaftsbildern. Auch von Seiten der Wissenschaften wurden die vielfältigen Ansätze zur theoretischen Fundierung mathematischer Anwendungsbereiche nirgends in der unmittelbaren Folgezeit aufgegriffen, systematisiert und sinnvoll weiterentwickelt. Zum Beispiel hätten das von Dürer perfekt beherrschte und konsequent angewandte Zweitafelverfahren, seine konstruktiven Beiträge über Kegelschnitte und verschiedene andere ebene Kurven seine geometrischen Transformationen und sein Diagonalverfahren zum Aufbau zentralperspektiver Bilder räumlicher Objekte - von einem Nachfolger
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aus rein wissenschaftlicher Sicht zusammengefaßt, geordnet und verständlich aufbereitet - die Fortschritte der Folgezeit in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik nicht unwesentlich zu beschleunigen vermocht. Die Untersuchung des auf die Gegenwart überkommenen schriftlichen Nachlasses macht die Vielschichtigkeit der Persönlichkeit Albrecht Dürers offenbar. Seine Universalität fordert ein vielseitiges Herangehen an sein künstlerisches Gesamtwerk, wobei der Geometrie keineswegs eine untergeordnete Rolle zukommt.
LITERATUR
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WICHTIGE LEBENSDATEN VON DÜRER
1471 1477 1484 1486 1491 1492 1493 1494 1495 1496 1497 1502 1504 1505 1506 1507 1508 1512 1514 1520 1521 1523 1525 1527 1528 1538
Am 21. Mai wird Albrecht Dürer als 3. Kind des Nürnberger Goldschmiedes Albrecht Dürer und seiner Ehefrau Barbara geboren. Besuch der öffentlichen Lateinschule in Nürnberg. Eintritt in die Goldschmiedelehre bei seinem Vater. Erstes Selbstbildnis, eine Silberstiftzeichnung. Albrecht Dürer tritt am 1.12. in die Lehre bei dem Maler Michael Wolgemut ein. Dürer in Basel. »Heiliger Hieronymus«, Holzschnitt für das Titelblatt einer Ausgabe der Briefe des Kirchenvaters. Aufenthalt in Straßburg, Selbstbildnis mit Männertreu. 18. 5. Rückkehr von der Wanderschaft, heiratet am 7. 7. Agnes Frey und richtet eine eigene Werkstatt ein. Im Herbst Antritt der ersten Italienreise. Naturstudien und Landschaftsaquarelle. Rückkehr nach Nürnberg. Dresdner Altar. Beginn der kunsttheoretischen Studien. Paumgartner Altar. Kupferstich »Adam und Eva« und Holzschnitt »Ruhe auf der Flucht«. Zweite Reise nach Italien, Aufenthalt vorwiegend in Venedig. »Rosenkranzfest« für die deutsche Kaufmannschaft in Venedig. Reisen nach Bologna und Ferrara, Briefe an Pirckheimer. Rückkehr aus Venedig. Beginn der Entwürfe für ein Lehrbuch der Malerei. Planung einer selbständigen Proportionslehre. Meisterstiche »Melancholie« und »Hieronymus im Gehäuse«. Kohlezeichnung der Mutter. Dürer reist mit Frau und Magd in die Niederlande und nimmt an der Kaiserkrönung Karls V. in Aachen teil. Tagebuch und Reiseskizzenbuch. Ausflüge nach Brügge und Gent, Rückkehr nach Nürnberg. Erste Fassung der Proportionslehre. Die »Underweysung« erscheint. Die »Befestigungslehre« erscheint. Abschluß der Proportionslehre. Am 6. 4. stirbt Albrecht Dürer. Die »Vier Bücher von menschlichen Proportionen« erscheinen. Die zweite Auflage der »Underweysung« erscheint. Sie enthält noch wichtige Zusätze aus Dürers schriftlichem Nachlaß.
JAHRESZAHLEN AUS DER ZEIT DER RENAISSANCE
1404
Leon Battista Alberti geboren, lebte bis 1472. Universaler, humanistisch gebildeter Künstler der Renaissance, tätig in Florenz und Rom. Er schrieb »Zehn Bücher über die Baukunst« sowie das Buch »Deila pictura« 1434/35, studierte die menschlichen Proportionen und konstruierte Zentralperspektive Bilder mit Hilfe der Distanzpunkte. 1416 Piero della Francesco geboren, lebte bis 1492. Italienischer Maler und wichtiger Vertreter der Renaissance. Er widmete sich besonders der Zentralperspektive und ist Verfasser der damals ungedruckt gebliebenen Schrift »De prospectiva pingendi«. 1445 Lucas Paciuolo geboren, lebte bis 1517. Bedeutendster zeitgenössischer Mathematiker Italiens und Schüler von Piero della Francesco. Er ist vermutlich ein Wissensvermittler über die Zentralperspektive an Albrecht Dürer bei dessen zweiter Italienreise. Die Begegnung erfolgte vermutlich 1507 in Venedig, wo sich Paciuolo wegen der Herausgabe seiner Schrift »De divina proportione« aufhielt. 1450 Der Mainzer Bürger Johann Gutenberg erfindet den Buchdruck. 1452 1453 1456
Leonardo da Vinci geboren, lebte bis 1517. Er verfaßte kunsttheoretische Werke, Schriften über die Gesetze der Proportionen und der Zentralperspektive. Er lebte und wirkte in Florenz, Mailand und Rom. Konstantinopel wird von den Türken erobert. Damit ging das Byzantinische Reich zugrunde. Erscheinen der ersten Bibel in Deutschland nach dem Druckverfahren von Gutenberg.
1470
Druckanstalt Anton Kobergers in Nürnberg wird das größte Unternehmen seiner Art in Deutschland. Dürers Freund Willibald Pirckheimer in Nürnberg geboren. Rasche Blüte des deutschen Silberbergbaus, Deutschland rückt ökonomisch an die erste Stelle in Europa.
1473 1474 1476 1478 1483 1485
Nikolaus Kopernikus, Schöpfer des heliozentrischen Weltbildes, in Krakau geboren. Er lebte bis 1543. Regiomontanus gibt seine »Ephemeriden« heraus. Erste Bauernunruhen im Bistum Würzburg unter der Führung des Hirten Hans Böheim. Türkeneinfall in Kärnten. Martin Luther geboren, lebte bis 1546. Matthias Corvinus erobert Wien. Wettinische Teilung, Aufteilung des Herrschaftsbereiches der Wettiner in albertinische und ernestinische Linie.
1486 1487
Maximilian I. wird deutscher König. Bartholomäus Diaz umsegelt das Kap der Guten Hoffnung und eröffnet den Portugiesen den Seeweg nach Indien. Thomas Müntzer geboren, wurde 1525 hingerichtet. Zunächst Lehrer, Prediger und Anhänger der Reformation Luthers, später Führer der aufständischen Bauern im Deutschen Bauernkrieg. Befreiung Wiens von der ungarischen Besetzung. Christoph Columbus entdeckt Kuba und Haiti.
1489 1490 1492
Der Nürnberger Martin Behaim stellt den ersten Erdglobus her.
J A H R E S Z A H L E N AUS D E R Z E I T D E R R E N A I S S A N C E 79
1498 1499 1500 1502
Vasco da Gama erreicht Indien auf dem Seeweg. Die Schweiz löst sich vom Reich. Erfindung der Taschenuhr durch Peter Henlein in Nürnberg. Columbus entdeckt das mittelamerikanische Festland. Gründung der Universität Wittenberg. 1505/06 Deutsche Kaufleute beteiligen sich an der ersten Handelsfahrt der Portugiesen nach Ostindien. 1508 Luther wird Theologieprofessor in Wittenberg. 1510 Reuchlin verteidigt sich in Köln gegen die Anklage der Ketzerei. 1513
1514 1515 1516 1517
1518 1519 1521 1523 1524 1525
1526 1529 1530
Bauernkrieg in der Schweiz. Joß Fritz organisiert neue Bundschuh Verschwörung. Machiavellis Buch »II principe« vollendet. Aufstand der im »Armen Konrad« vereinigten deutschen Bauern. Leonardo da Vinci zeichnet eine Weltkarte, in der für den neuentdeckten Erdteil erstmals der Name Amerika verwendet wird. Franz von T h u m und Taxis errichtet die erste regelmäßige Postverbindung zwischen Wien und Brüssel. Luthers Thesenanschlag in Wittenberg, Beginn der Reformation. Hutten veröffentlicht die »Dunkelmännerbriefe«. Erstes Fastnachtsspiel des Hans Sachs in Nürnberg. Luther auf dem Reichstag zu Augsburg, Melanchton Professor in Wittenberg. Maximilian I. gestorben, Karl V. wird deutscher König. Bann gegen Luther, Reichstag in Worms, Verhör Luthers, Luther auf der Wartburg, Müntzers »Prager Manifest«. Hans Sachs' »Wittenbergisch Nachtigall«. Beginn des Bauernkrieges, Müntzer in Mühlhausen und bei den aufständischen Bauern. Prozeß gegen die »drei gottlosen Maler« Georg Pencz, Hans Sebald und Bartel Beham in Nürnberg. Bauernkrieg erreicht nationale Dimensionen, Schlacht bei Frankenhausen, Niederschlagung der Bauern, Hinrichtung von Thomas Müntzer als geistiges Haupt der aufständischen Bauern. Luthers Schrift »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«. Melanchton zur Schulgründung in Nürnberg. Sieg der Türken bei Mohacz über ein böhmisch-ungarisches Heer. Marburger Religionsgespräche zwischen Luther und Zwingli. Türken belagern Wien. Melanchton verfaßt die »Augsburger Konfession«. Willibald Pirckheimer verstorben. Georg Agricola verfaßt das Buch »De re metallica«.