Die Vorgeschichte des historischen Romans in der modernen englischen Literatur [Reprint 2020 ed.] 9783112341520, 9783112341513


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Die Vorgeschichte des historischen Romans in der modernen englischen Literatur [Reprint 2020 ed.]
 9783112341520, 9783112341513

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Britan nica In Verbindung mit dem Seminar für englische Sprache und Kultur an der Hamburgischen Universität herausgegeben von

Emil Wolff Heft 2

Buchdrudierel E. Beckstein, Inhaber 'Wilhelm Hlndtel, Werlhelm a. M .

Die Vorgesdiidite des historischen Romans in der modernen englischeo Lileratnr

Von

Gerhard Buck

I Friederichsen, de Gruyter & Co. m.b.H. / Hamburg 1931

Einleitung. Die Aufgabe der folgenden Arbeit ist die Untersuchung der VORGESCHICHTE DES HISTORISCHEN ROMANS IN DER MODERNEN ENGLISCHEN LITERATUR. Mit dieser Umschreibung des Themas sind die Grenzen des zu behandelnden Stoffs angedeutet. Den A b s c h l u ß wird das Erscheinen von Sir Walter Scotts „Waverley" (1814) bilden, denn mit diesem Werk tritt der erste echte, große historische Roman auf, und damit endet die Vorgeschichte der Galtung und ihre eigene eigentliche Geschichte beginnt. Willkürlicher ist demgegenüber die Festlegung des Zeitpunkts, mit dem die Darstellung e i n s e t z e n soll. Es bestände ja die Möglichkeit, in einem großen Längsschnitt durch das gesamte englische Schrifttum zu verfolgen, welche Rolle zu allen verschiedenen Zeiten das historische Element in der Prosadichtung gespielt hat. Ein solches Verfahren würde tatsächlich gleich zu Anfang in den Prosafassungen der mittelalterlichen Epen den interessantesten Forschungsobjekten begegnen; und wie sich gar zu Ausgang des 16. Jahrhunderts die Romanform endlich deutlicher herausbildet, da finden wir auch schon „historische" Erzählungen, die, abgesehen von Defoes „Journal of the Plague Year", das Bedeutendste sind, was vor Scott in dieser Art geleistet ist1. Auf diese beiden Gruppen oder besser: Entwicklungsreihen von „historischen" Romanen, die spätmittelalterliche und die elisabethanische, folgen vor dem Auftreten Scotts noch zwei weitere, die erste um die Wende zum 18. Jahrhundert, die zweite in der Zeit von 1762 bis unmittelbar hin zur Veröffentlichung „Waverleys". Wenn in der vorliegenden Arbeit nur diese beiden letzten Perioden in der Vorgeschichte des historischen Romans dargestellt werden, so war die Veranlassung ursprünglich, daß ja nur sie der m o d e r n e n Literatur angehören, deren nach landläufiger Auffassung durch eine kräftige Zäsur von allen früheren Entwicklungen geschiedenen Beginn man in die Mitte des 17. Jahrhunderts zu verlegen pflegt, sod'aß es gerechtfertigt schien, wenn die Untersuchung mit dieser Zeit begann. Die einmal vorgenommene Abgrenzung mußte wegen der schweren Zugänglichkeit des Materials und wegen der beschränkten Zeit, die für den Abschluß der Arbeit zur Verfügung stand, beibehalten werden, auch als sich herausstellte, daß sie nicht ganz natürlich und ungezwungen ist. 1 Nash's „Unfortunate Traveller", Deloney's „Jack of Newbury" und ..Thomas of Reading".

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Es zeigte sich nämlich, daß die erste der beiden hier zu beschreibenden Gruppen von „historischen" Erzählungen ziemlich enge Beziehungen zur elisabethanischen Literatur hat, während keinerlei Verbindungen zwischen ihr und den „historischen" Romanen der Zeit vor Scott bestehen. Soweit sich die „historische" Prosadichtung der Elisabethaner ohne nähere Untersuchung übersehen läßt, ist sie durch das Interesse des Bürgertums für die Vergangenheit des eigenen Landes, der eigenen Stadt und des eigenen Standes geweckt. Es ist bezeichnend, daß weder Lyly noch Sidney irgendwelche Ansätze zur Einführung geschichtlichen Materials in ihre Erzählungen machen, daß aber umgekehrt gerade Deloneys Werke den Höhepunkt der Bemühungen jener Zeit um den „historischen" Roman bilden, oder daß Thomas Lodge, der Sohn eines Lord-Mayor von London, sich einen bereits durch eine ältere Erzählung volkstümlich gewordenen Normanneriherzog und einen picaro aus der Londoner Stadtgeschichte zu Helden wählte, als er sich vorübergehend im historical romance versuchte2. Nur in Nashs rätselhaftem „Unfortunate Traveller" dürfte das historische Element nicht durch solche Zusammenhänge erklärbar sein. Dagegen wird das Interesse des Bürgertums an der Geschichte auch eine der wichtigsten Ursachen für die außerordentliche Fruchtbarkeit der Zeit im historischen Drama und überhaupt für die häufige Verwendung geschichtlichen Stoffs in der ganzen elisabethanischen Literatur sein. Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts fiel nun in einer Gegenbewegung gegen die gesamte Lage nach der Restauration ein Erwachen des englischen Nationalbewußtseins mit einem neuen Hervortreten des Bürgertums in politischen und literarischen Dingen zusammen, und das gab den Boden ab für eine abermalige Entwicklung „historischen" Schrifttums — eben die erste der hier zu besprechenden Gruppen —, eine Entwicklung, die sich diesmal freilich abgesehen von stärkerer Wirkung und sogar einigen Erfolgen im Drama lange auf die niedrigsten Bereiche der Literatur beschränkte. Immerhin erwiesen sich die neuen Tendenzen, bereits ehe die nötige eigene Form „historischer" Erzählungen entstanden war, als stark genug, um fremde, aber naheliegende Romangattungen, die aus Frankreich herübergekommen waren: den heroischen und den psychologischen Roman sowie 1 Die Fassung des Titels beider Werke ist aufschlußreich: „The Famous, True, and Historical Life of Robert Second Duke of Normandy, surnamed for his Monstrous Birth and Behaviour, Robin the Devil. Wherein is contained his Dissolute Life in his Youth, his Devout Reconcilement and Virtues in his Age. Interlaced with Many Strange and Miraculous Adventures. Wherein are both Causes of Profit, and Many Conceits of Pleasure"; „The Life and Death of William Longbeard, the most Famous and Witty English Traitor, Born in the City of London. Accompanied with many other most Pleasant and Pretty Histories".



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die künstlerische Geschichtsdarstellung in der Art Varillas' und Saint-Reals, zur Wiedergabe eigener Stoffe zu verwenden. Daneben entwickelte sich dann aber im kurzen erzählenden „historischen" chapbook manchmal mehr romanhafter, manchmal mehr scheinwissenschaftlicher Art eine geeignete eigene Erzählungsform, die den Elisabethanern auch schon vertraut gewesen, inzwischen aber zurückgetreten, wenn nicht ganz verschwunden war, und die nun die endgültige Gestalt annahm, in der sie bis ins 19. Jahrhundert weiterlebte. Die Stoffe, die behandelt wurden, waren fast ausnahmslos aus der volkstümlichen Ueberlieferung, mit Vorliebe aus den populären spätelisabethanischen broads sheet-Balladen geschöpft. Durch eine solche Uebersicht über einige wesentliche Eigenschaften dieser dritten Gruppe von „historischen" Erzählungen wird gleichzeitig von selbst die Verwandtschaft zu den entsprechenden Gebieten der elisabethanischen Literatur klar: die Herkunft aus der gleichen Gesellschaftsschicht, dem Bürgertum, und damit verbunden vor allem die gleiche Ursache und die gleiche Art des Interesses an der Geschichte; die wiederaufgenommene literarische Form; die ähnlichen Stoffe 3 . Demgegenüber grenzen aber auch bedeutende Veränderungen die neuen „historischen" Romane von den elisabethanischen ab. Die Anregung, die volkstümlichen Stoffe aus den Balladen und aus dem mündlichen Bericht in romanhafter Form nachzuerzählen, kam nämlich dem ausgehenden 17. Jahrhundert anscheinend großenteils von den verschiedenen schon erwähnten französischen Formen „historischer" Romane, die möglicherweise überhaupt für die ganze moderne Literatur das Vorbild zur Verwendung historischen Materials in der Prosaerzählung gegeben haben. Diese Bedeutung der französischen Romane für die wiedererstehenden historical tales der Engländer brachte es natürlich mit sich, daß oft auch andere sehr charakteristische neue Elemente mit hinüberverschleppt wurden: die Betonung des Erotischen oder die Freude an der oft sich zum Selbstzweck steigernden ausführlichen chronologischen Darstellung des historischen Hintergrundes4. Ueberhaupt bedingt die veränderte Art der umgebenden Literatur eine entsprechende Ver3 Die Stoffe, die um die Wende zum 18. Jahrhundert aus den Balladen übernommen wurden, hatten in der elisabethanischen Literatur fast alle vielfach Darstellung gefunden, wenn sie auch selbst damals noch nicht im „historischen" Roman erschienen waren. Die nahe verwandten Stoffe der (wenig zahlreichen) elisabethanischen „historischen" Romane selbst waren mit diesen völlig verschwunden; nur Deloney wurde noch lange gelesen, hatte aber was den Stoff betrifft verhältnismäßig wenig Wirkung. 4 Diese freilich zum guten Teil auch aus dem volkstümlichen Interesse an der Geschichte zu verstehende Neigung zeigt sich z. B. schon in dem spälelisabethanischen „George a Greene", cf. infra pp. 26 f. Doch ist ihre Zunahme um die Wende zum 18. Jahrhundert gegenüber der elisabethanischen Zeit auffällig, und sie dürfte mindestens eine Art literarischer Rechtfer-



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änderung des Stils der „historischen" Romane; in der elisabethanischen Zeit hatte sich nicht einmal Deloney dem Einfluß Greenes lind seiner Schüler entziehen können, die in jeder Erzählung eine D i c h t u n g in Prosa sahen; demgegenüber setzt sich jetzt die nüchterne Auffassung der späteren Franzosen, verbunden mit ihrem sachlichen, kühlen Stil, bis in die chapbooks hinein durch. Was aber vor allen Dingen die neuen Erzählungen von den elisabethanischen trennt, ist, daß sie zeitlich eng an die Entstehung des großen Romans heranrücken. Das sicherte ihnen zunächst trotz ihres geringeren Werts ein viel reicheres Nachleben als die elisabethanischen Romane es genossen hatten, denn es gab ihnen die Möglichkeit, als Lektüre der auch nach nichtreligiösem Prosalesestoff verlangenden niederen Volksschichten weiteste Verbreitung zu erreichen. Darüber hinaus führte es aber auch herbei, daß in ganz überraschender Weise ein wirklich großer Schriftsteller, Defoe, die hier liegenden Möglichkeiten aufnahm und in einigen Romanen zu Ende führte. Die letzte Entwicklungsreihe von „historischen" Romanen vor Scott beginnt mit Thomas Lelands „Longsword" (1762); zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreichte sie ihre größte Stärke, wenigstens was die Zahl der erscheinenden Werke anbelangt, und vegetierte weiter, bis der eigentliche historische Roman sie allmählich beiseite drängte, ohne daß es je zu bedeutenden Leistungen gekommen wäre. Im Gegenteil stellen diese Romane mit wenigen Ausnahmen das Seichteste und Kunstloseste dar, das überhaupt geschrieben werden konnte5, und auch von der vorausgehenden Gruppe gilt, abgesehen von den dahingehörigen Romanen Defoes, Gleiches; es ist nötig, das von Anfang an mit allem Nachdruck zu betonen, um der Gefahr vorzubeugen, daß zu eingehende Beschäftigung mit diesen Werken allmählich zu höherer ästhetischer Wertung verführt: allein im literarhistorischen Zusammenhang haben sie irgendeine Bedeutung. Auch diese „historischen" Romane aus der Zeit von Leland bis Scott interessieren sich für die geschichtliche Vergangenheit noch nicht um dieser selbst willen, ebensowenig wie die früheren scheinbar „historischen" Erzählungen. Wenn man jetzt den Romanen, die fast alle im Mittelalter spielen, einen historischen Hintergrund gibt — mehr ist es meist auch hier noch nicht —, so geschieht das, einige SeitenentwickTungen außer Betracht gelassen, weil sich dadurch die Möglichkeit bot, der Gegenwart zu entfliehen und in einer scheinwirklichen Vergangenheit eine Welt intensiveren, ereignisreicheren Lebens tigung dadurch erfahren haben, daß sie in der höheren (fast ganz aus Uebersetzungen aus dem Französischen bestehenden) Literatur so viele Vorbilder fand. 6 cf. Raleigh, The English Novel, p. 278 „ . . . the silliest, feeblest body of work, to be found in the annals of prose fiction". —

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zu erbauen, so wie es die eigene Sehnsucht erträumte. So fern sich auch Beide in ihrem Wesen stehen, so hat sich doch der eigentliche historische Roman aus dieser Gruppe sein äußerliches Material geholt — Scotts erste Anfänge in der Prosa gehören sogar direkt hierher und werden im Zusammenhang dieser Romane zu betrachten sein, und eine verhältnismäßig bedeutende unter diesen „historischen" Erzählungen (Strutts „Queenhoo-Hall") hat zusammen mit Maria Edgeworths irischen Romanen unmittelbar Pate gestanden bei der Entstehung „Waverleys". Aus so verschiedenen Gründen sich nun auch die den Gegenstand unserer Untersuchung bildenden Romane für die Geschichte interessieren, so haben sie doch das Eine gemein, daß sie sich mit der Vergangenheit durchweg nur aus irgendeiner Beziehung zur Gegenwart beschäftigen. Bald sehen sie in der Vergangenheit die Vorgeschichte der Gegenwart, bald den besseren Gegensatz zu ihr — immer liegt die letzte Teilnahme beim Heute, von dem die Verfasser dieser Romane sich nicht loslösen können, sodaß sie nie dahin streben oder gelangen, mit wirklichem historischem Gefühl eine andere Zeit aus deren eigenem Innern heraus nachzugestalten. Was auf diese Weise entsteht, kann niemals ein echter historischer Roman sein, sondern bestenfalls, um aushilfsweise den Terminus zu bilden, eine „h i s t o r i s i e r e n d e " Erzählung0. Deshalb ist es auch falsch, den historischen Roman irgendwo anders anfangen zu lassen als mit Sir Walter Scotts Werken, obgleich es immer wieder versucht wird7. 9 Bezeichnend für die bloße H i 1 f s Stellung, die das Geschichtliche in den historisierenden Romanen einnimmt, ist, wie leicht es gegen ein die gleiche Aufgabe erfüllendes geographisches Element ausgewechselt werden kann. In einigen Romanen Defoes übernimmt das Geographische genau dieselben Funktionen, wie sie zum Teil in anderen das Historische hat. In der Entwicklung des Geisterromans können bei Anne Radcliffe Schottland, die Provence, Italien oder Sizilien die gleiche Bedeutung in der Erzählung bekommen wie sie bei Walpole und Clara Reeve das Mittelalter hatte. Sogar bis zu den letzten historisierenden Romanen direkt vor Scott läßt sich noch verfolgen, daß gelegentlich das Historische durch Geographisches ersetzt wird, ohne eine andere Wirkung hervorzurufen. — Völlig neu ist demgegenüber die Beziehung zwischen Geographie und Geschichte im echten historischen Roman; darüber cf. Butterfield, The Historical Novel, pp. 39.ff. 7 Von dem bei solchem Bemühen entstehenden Wirrwarr geben folgende Proben ein Bild: Charlotte Morgan faßt im „Rise of the Novel of Manners" als „Historical Novels" eine Reihe von Romanen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zusammen, die sich zwar selbst auf dem Titelblatt so nennen, die aber heute, wo uns die weitere Entwicklung bekannt ist, niemals mehr diesen Namen bekommen dürften. Dottin, Daniel Defoe, p. 528, feiert Defoe als „createur du roman historique". Lelands „Longsword" (1762) wird öfters an den Anfang der historischen, Romane gestellt. Lord Ernle, The Light Reading of Our Ancestors, p. 286: „In spite of its absurdities, The Castle of Otranto (1764—65) was the real starting point



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Es ist nötig, als Ergebnis dieser Feststellungen besonders zu betonen, daß es eine allmähliche Entwicklung zum wirklichen historischen Roman, faßt man das Wesen desselben nicht rein vom Aeußerlichen her, n i e gegeben hat. Man ist eher versucht, statt an den naturwissenschaftlichen Begriff der Entwicklung an den der Mutation zu denken: ganz plötzlich ist der erste historische Roman da, und nur die Uebernahme äußeren Materials verknüpft ihn mit den vorausgehenden historisierenden Romanen. Uebergangsstufen gibt es nicht, und es kann sie ja dem Wesen der ganzen Frage nach überhaupt nicht geben, es sei denn, daß der historische Roman einige veraltete, aus dem historisierenden Roman stammende Elemente noch nicht abgestoßen hat und deshalb diesem äußerlich noch nahe steht. Es wird eine Aufgabe der folgenden Untersuchung sein, zu zeigen, wie auch scheinbare Annäherungen an den echten historischen Roman, z. B. in der kulturgeschichtlich einwandfreien, treuen Schilderung einer bestimmten Zeit in Strutts „Queenhoo-Hall", den Kern der Dinge völlig unberührt lassen und vom echten historischen Roman im Grunde noch ebenso fern sind wie alle anderen historisierenden Romane vor Scott. Und doch reiht man die ganzen historisierenden Romane von Leland an in die sogenannte Vorromantik ein8 und sieht damit auch in ihnen einen literarischen Ausdruck jener angenommenen allmählichen Vorbereitung der Romantik, die die wesentliche vorwärtsgerichtete geistige Bewegung in England während des zweiten und letzten Drittels des 18. Jahrhunderts sein soll. Es ist natürlich unmöglich, von einer einzelnen unbedeutenden Literaturgattung her Allgemeingültigeres zu sagen. Aber für den historisierenden Roman vor Scott gilt, daß er bis zuletzt gleichmäßig unromantisch bleibt, so wie er das historische Gefühl gleichmäßig vermissen läßt, dessen Vorhandensein allein im „historischen" Roman den Beweis echten romantischen Geistes erbringen könnte. Darf man es wagen, nach der geistigen Grundlage des „vorromantischen" historisierenden Romans zu suchen, so braucht man wohl kaum weiter zu gehen als bis zu der Annahme, daß dem vorausgehenden Rationalismus gegenüber ein Bedürfnis nach gesteigertem, intensiverem Leben sich geltend machte, und daß die historisierenden of the English historical novel". Aehnliche Ansprüche scheint Cross, Development of the English Novel p. I l l , für Sophia Lees „Recess" (1783— 85) zu erheben. Und schließlich hat Jane Porter in einer späteren Vorrede (1831) zu ihrem „Thaddeus of Warsaw" (1803) gesagt: „Sir Walter Scott did me the honour to adopt that style or class of novel of which Thaddeus of Warsaw was the first" . 8 Der Ausdruck „Vorromantik" selbst ist natürlich einwandfrei, wenn er nur die Z e i t v o r d e r R o m a n t i k und die besonderen Tendenzen dieser Zeit bezeichnen soll; nur in diesem neutralen Sinn wird er im Folgenden angewandt. —

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Romane der Ausdruck einer dem entgegenkommenden Tendenz sind9. Aus dem Gesagten ergibt sich für die folgende Arbeit eine Einteilung in zwei große Abschnitte: der erste behandelt die historisierenden Romane der Wende zum 18. Jahrhundert, während der zweite die Gruppe von Leland bis Scott zum Gegenstand hat. Innerhalb dieser beiden Abschnitte ist von jeder weiteren Kapiteloder Paragrapheneinteilung abgesehen, um zu versuchen, ob es nicht in fortlaufender Darstellung leichter möglich ist, die allmählichen inneren Veränderungen und das unauflösbar in sich verwobene Wachsen einer Dichtungsgattung nachzuzeichnen, als in der üblichen Art, die durch unnötige Abstraktion allzu leicht in Gefahr gerät, das Leben des Gegenstandes ihrer Untersuchung zu töten und zu falscher Begriffsbildung zu führen. Die Literatur über den „historischen" Roman vor Scott ist äußerst gering. Der historisierende Roman der Zeit um die Wende zum 18. Jahrhundert hat überhaupt noch keine Darstellung gefunden außer gelegentlichen Bemerkungen, vor allem in Charlotte Morgans freilich wenig zuverlässigem „Rise of the Novel of Manners"; manche der hierher gehörigen Texte sind bisher überhaupt ganz unbeachtet geblieben, wie sie es ja auch fast alle kaum anders verdienen; dagegen sind wir über Defoes „historische" Romane selbstverständlich sehr genau unterrichtet, am besten durch Dottins Monographie und durch Watson Nicholsons Untersuchung über die Quellen des „Journal of the Plague Year". Etwas besser als bei dieser Gruppe steht es um die Erforschung der „vorromantischen" historisierenden Romane. Sie sind sogar der Hauptgegenstand einer Sonderarbeit, „Historische Romane vor Sir Walter Scott" von Dora Binkert, die aber über Inhaltsangaben und eine sehr provisorische, wenn nicht geradezu widersinnige Einteilung kaum hinausgelangt. Weit kürzer, aber trotzdem weit belangreicher sind die Darstellungen bei Cross und in anderen Werken über die Geschichte des englischen Romans. Vor allem ist aber auf Lord Ernies Beiträge zu dem Thema hinzuweisen, sowohl auf die Abhandlung im Quarterly Review 1907 wie auch auf die Bemerkungen im „Light Reading of our Ancestors". Wenn auch beide Male die uns beschäftigenden Zeitabschnitte in der Entwicklung des historisierenden Romans nur kurz gestreift werden, so findet sich doch hier das Beste, was über diese Fragen gesagt ist. Freilich darf ich es nach solcher Nennung der Schriften, aus denen ich Anregungen empfangen habe, auch nicht unterlassen, wenigstens anzudeuten, wie sehr ich mich mit dem Wichtigsten dieser Arbeit über das aus Büchern Gewonnene hinaus vor Allem meinem Lehrer Professor Wolff tief verschuldet fühlen muß. 9 cf. z. B. die Auffassung der Vorromantik bei Olwen Ward Campbell, Shelley and the Unromantics, London 1924, pp. 249ff.: Some Suggestions on the Romantic Revival and its Effects, besonders pp. 259 f.



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I.

Das erste Buch der modernen englischen Literatur, das wirklich als historisierender Roman in Betracht kommt, — von ein paar vielleicht noch älteren chapbooks muß zunächst abgesehen werden — ist Roger Boyles „English Adventures". Wenn wir etwa in Heads und Kirkmans „English Rogue" 1 schon vorher eine historisierende Szene haben — es handelt sich um das zweite Kapitel des ersten Teils, wo der irische Aufstand von 1641 mit einiger Genauigkeit dargestellt wird — so bedeutet das wenig: wir haben darin nur eine neben vielen anderen realistischen Szenen im Ganzen des Romans zu sehen2, und sie als Hintergrund für das ganze vierbändige Werk zu bezeichnen, wie es versucht worden ist3, ist völlig unmöglich. Dazu steht die Stelle im Roman viel zu unorganisch da, dazu wird sie beim Weiterlesen viel zu schnell vergessen — und verliert so auch ihre angebliche Wirkung —, und vor allem wird im weiteren Verlauf der Erzählung niemals durch historische Namen o. ä. daran erinnert, daß sie an eine bestimmte Zeit gebunden ist. Der Szene kommt in Wahrheit nicht mehr Bedeutung zu als etwa der kurzen historisierenden Stelle im „Tom Jones" 4 , wenn sie auch ausführlicher ist. E s liegt in der Tradition des pikaresken Romans, gelegentlich eine Berührung mit der historischen Wirklichkeit herbeizuführen. Von den „English Adventures. By a Person of Honour" erschien 1676 der erste Band 6 , weitere sind ihm trotz des ausdrücklichen Schlußversprechens einer Fortsetzung nicht gefolgt, ebenso wie uns von Neuauflagen nichts bekannt ist. Den Inhalt des Buches bilden Liebesgeschichten vom Hof Heinrichs VIII. Im Mittelpunkt steht Isabella, um die sich der König, Howard und Brandon bewerben. Alle drei haben sie bei Gelegenheit einer Jagd 1 1665—71. gleichwertig etwa den Reiseberichten, Teil I cap. L X V I ff. 3 nach Binkert, „Historische Romane vor Scott", p. 34. * Buch XI, cap. 2. 5 Hinter der „Person of Honour" verbirgt sich nach allgemeiner Ansicht Roger Boyle, E a r l of Orrery, der Verfasser der „Parthenissa". Die Annahme geht auf eine handschriftliche Notiz zurück, die Thornton in dem Exemplar fand, das er für seine Otwayausgabe (die „Orphan" ist durch eine Szene in Boyles Buch angeregt) von Mr. Brindley, „Esq. of Somersethouse", entliehen hatte, cf. Otway, Works, ed. Thornton, London 1813, v. III, p. 325. Nur Jusserand äußert einige Zweifel, da ihm der Unterschied 2



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kennengelernt, bei der Brandon sie vor einem wütenden Hirsch rettet, während ihr ursprünglicher Begleiter feige flieht. Die Männer werden von ihr auf ein benachbartes Schloß eingeladen, wo auch sie zu Gast ist, und Brandon kann sogar länger dort bleiben, um sich von den Wunden zu erholen, die ihm der Hirsch versetzt hat. Aber Isabellas Liebe gewinnt auch er nicht, weil sie heimlich den Mann immer noch liebt, der im Wald geflohen ist —, doch weder Brandons Liebe noch die des Jünglings hindern sie, eine angebotene reiche Partie anzunehmen. Mit ihrem Gatten, dem Kaufmann Goodman, kommt sie nach London und ist so Howards und Heinrichs Bewerbungen frei ausgesetzt. Howard spielt eine Doppelrolle, dem König gegenüber ist er der sich für ihn bemühende Vertraute, Isabella gegenüber tritt er aber selbst als Liebhaber auf. Er erreicht auch, daß sie sich ihm hingibt, aber zunächst nur aus Abscheu und Piache gegen ihren feigen und treulosen Mann; bald entspinnt sich aber ein wirkliches Liebesverhältnis zwischen ihr und Howard. Der König bedient sich nach einiger Zeit eines anderen Vermittlers, der seinen wahren Rang verrät — bisher ist er immer nur als Prinz Tudor erschienen. Dieser Versuchung widersteht Isabella nicht, bei einem Fest gehört sie dem König und bald darauf wird sie während eines Brandes in ihrem Haus entführt und als Mätresse des Königs auf ein Schloß gebracht. Es folgen neue Intriguen Howards, durch die Isabella fast zur Untreue gegen den König verlockt wird, dessen sie allmählich überdrüssig ist — nur ein glücklicher Zufall rettet sie: der Page, den sie liebt, ist in Wirklichkeit ein verkleidetes Mädchen, und wie Isabella das im letzten Augenblick vor der Entdeckung merkt, kann sie vorgeben, sie habe ihre Liebe nur simuliert, um des Königs Eifersucht zu wecken. So kehrt der König, der schon ein neues Abenteuer (mit der historischen Lady Talboise) angesponnen hat, zu Isabella zurück. Der Band schließt mit dem Versprechen, nun mehr über Brandon zu erzählen. — Eingeschoben in die Haupterzählung findet sich der Bericht Brandons über seine früheren Erlebnisse 8 . Der Inhalt ist aus der „Orphan", die hierauf zurückgeht, bekannt. Brandon ist mit seinem Bruder und einer Waise aufgezogen, die beide Brüder gleich sehr lieben. Wie er eines Tages eine Verabredung zwischen dem Mädchen und seinem Bruder für die kommende Nacht bezwischen der „Parthenissa" und den „English Adventures" zu groß scheint, „The English Novel in the Time of Shakespeare", p. 388. Aber die Art der heroischen Romane ist im ersten Buch der „English Adventures" so deutlich — wie noch genauer auszuführen sein wird — daß man doch an Boyles Verfasserschaft festhalten und beobachten kann, wie er sich nur ganz allmählich von der Art der „Parthenissa" gelöst hat. a Den Inhalt dieser Jugendgeschichte Brandons hat Boyle vielleicht aus Robert Tailors Stück „The Hog hath Lost his Pearl" (1614) entnommen, wo eine ähnliche Fabel erzählt wird. —

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lauscht, schleicht er sich stattdessen bei ihr ein. Am nächsten Morgen erfährt das Mädchen, wer wirklich bei ihr gewesen ist, und ßrandon, daß sie und sein Bruder am Tag vorher heimlich geheiratet haben. Das Mädchen siecht schnell dahin, und ihr Mann iolgt ihr bald ins Grab; Brandon geht auf lange Reisen, um seine Reue zu überwinden. Wahrscheinlich hatte sich Boyle die Anlage des ganzen Buches so gedacht, daß er als Inhalt eine Promiskuität erotischer Abenteuer einer Reihe im Roman ziemlich gleichwertig nebeneinander stehender Personen ohne bestimmte Handlungsführung geben wollte. Das läßt sich aus dem Titel wie daraus schließen, daß schon im ersten Band der König und Howard in der Liebe Isabellas abwechseln, daß ferner nach dem Schlußversprechen nun wieder Brandon in den Mittelpunkt der Erzählung rücken soll, ebenso wie wir das Wiederauftauchen von Isabellas erstem Geliebten erwarten müssen, und schließlich daraus, daß am Ende des ersten Bandes eine neue Liebe des Königs angebahnt wird, die zwar dank der Versöhnung mit Isabella zunächst beiseite tritt, die Boyle aber später hätte weiterführen müssen, nachdem sie einmal erwähnt war, da sie ja historischen Tatsachen entspricht. Es läßt sich also keine im Mittelpunkt des Geschehens stehende Gestalt und keine bestimmte Richtung der Handlung angeben. Daß Isabella weiter die zentrale Stellung behalten hätte, die sie für den ersten Band innehat, ist kaum möglich; ihre Rolle geht mit dem ersten Band zu Ende, wie sie sich von der e i n e m Geliebten treu ergebenen Jungfrau zur Frau eines Mannes entwickelt hat, den sie nur um seines Geldes willen heiratet, dann zur Ehebrecherin aus Rache, zur Geliebten des Mannes, mit dem sie die Ehe brach, zur Mätresse des Königs und schließlich zu der von ihrer Sinnlichkeit besessenen Frau, die sich hemmungslos an ihren Pagen wegwerfen möchte. Die Weiterführung hätte einen richtigen harlot's progress ergeben und damit bald in eine Richtung geführt, die in diesem Roman denn doch unwahrscheinlich wäre. Es kann schon hier gesagt werden, daß die Darstellung dieses allmählichen Erwachens der Sinnlichkeit und aller schlechten Triebe in der ursprünglich so reinen Frau eine der verhältnismäßig stärksten Leistungen des Buches ist, so sehr sie freilich im Naheliegenden, Schematischen bleibt. Die „English Adventures" sind ein sehr merkwürdiges Uebergangs- und Mischungsprodukt und deshalb nicht einfach zu charakterisieren. In der Form sind die heroischen Romane7 das Vorbild; von ihnen stammt das offenbar auch hier vorgesehene gewaltige Ausmaß des Buches, das sich aus der beliebig zu er7 Alle bekannteren heroischen Romane waren seit den vierziger Jahren ins Englische übersetzt und auch ziemlich oft nachgeahmt, vor Allem von Boyle selbst in seiner „Parthenissa" (1654—69), cf. infra pp. 102 ff.



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weiternden Aufeinanderfolge der Geschehnisse und aus der Einschiebung von Nebenerzählungen ergibt, zu denen hier in Brandons Bericht über seine Jugend wenigstens der Ansatz vorhanden ist. Vom romance stammt aber darüber hinaus viel vom Geist des ersten Buches, das bis zu Brandons Aufenthalt auf dem Schloß von Isabellas Gastgeberin — ihr typischer Name ist „Utresia" — reicht. Das liebend im Wald wandernde Paar, Brandon rettet das Mädchen vor dem Hirsch, die wahrhaft überirdische Frau, deren Reizen keiner der drei Männer widerstehen kann, die Art, wie Brandon seine Geschichte erzählt, einiges an der Stimmung dieser Geschichte und der Charakter der Frauengestalt darin, die Szenen auf dem Schloß sind durchaus in der Art der romans héroïques oder ihr nahestehend, und von diesem ersten Band aus wird ja auch die den heroischen Romanen gleichende Form des ganzen Buches bestimmt. Daneben steht schon Anderes, etwa wenn der Geliebte der Heldin sie vor dem Angriff des Hirsches im Stich läßt, oder der Inhalt von Brandons Erzählung, und in den beiden weiteren Teilen des Buches ist dann dieser neue Geist allein herrschend geworden. Mit einem Mal sind wir in einem realistischen Roman, der in bürgerlichem Milieu bzw. auf einem ganz unromantischen Schloß spielt, im Gegensatz zum heroischen Roman, der für seine gewaltigen Abenteuer den Ausblick über weite Länder und Meere freiließ. Manche der Szenen sind so, daß man an den pikaresken Roman denkt; Sorels „Francion" scheint manchmal als Vorbild gedient zu haben, im Ganzen ist es aber schwer, für diesen realistischen Teil des Buches die Quellen festzustellen, die eine Anregung gegeben haben; gelegentlich scheint es so, als wäre hier ganz selbständig die Art der Restaurationskomödien in die Prosaerzählung übertragen. Während die obige Inhaltsangabe dem ersten Teil des Buches einigermaßen genau folgen konnte, mußte sie sich weiterhin mit einer ganz komprimierten Zusammenfassung der wie in den entsprechenden französischen und spanischen Romanen durch die Fülle der rasch wechselnden Ereignisse ausgezeichneten Handlung begnügen. Und wie verändern sich nun plötzlich die Charaktere! Isabella, anfangs die typische heroische Heldin, wird schnell immer menschlicher; das tiefste, plötzlichste Absinken ist, wie sie zu Anfang des zweiten Teils den Bürger Goodman heiratet. Auch in Howard hat man zunächst wenig geahnt von dem intriganten Höfling, als der er sich herausstellt. Und König Heinrich selbst hält am wenigsten, was die ersten Worte über ihn versprechen: „When King Henry ascended the throne, he was young, handsome, active, amorous, liberal, and valiant", Eigenschaften, von denen nur die des galanten Abenteurers überbleibt. Es ist klar, daß weder der heroische Geist des Anfangs noch der an die Restaurationskomödien erinnernde der weiteren Teile der „English Adventures" gerade geeignet ist, die Zeit Hein— Ii —

richs VIII. nach deren eigenem Wesen zu schildern. Aber das will Boyle ja auch gar nicht, sondern wovon er ausging, das war die typische Konzeption der heroischen Romane: der Verfasser will in seinen Romanhelden ein bestimmtes vorgefaßtes Bild vom Menschen zur Darstellung bringen, und um seinen unwirklichen Idealcharakteren den Schein der Wirklichkeit zu geben, verleiht er ihnen die Namen historischer Persönlichkeiten, deren geschichtlich überlieferte Eigenart dann im Roman natürlich zugunsten eben jener Idee vom „heroischen" Menschen verschwindet. Wenn sich das im Laufe des Buches verschiebt, wenn wir später unter den Namen Heinrichs und Howards sehr kleine, menschliche Menschen haben, so deshalb, weil Boyle die einmal aufgenommene äußere Form auch noch beibehalten mußte, als er bereits aus ganz anderem Geist heraus schrieb; er hätte wohl kaum seinem Buch einen historisierenden Hintergrund gegeben, wenn er gleich von Anfang an in der realistischen Art des zweiten und dritten Teils geschrieben hätte. Aber mit dem wirklichen Heinrich VIII. hat natürlich dieser Don Juan der zwei letzten Teile, der neben der Erotik überhaupt nichts kennt 8 , ebensowenig zu tun wie der ursprüngliche heroische Held. Von den heroischen Romanen hat Boyle aber nicht nur die allgemeine — illusionsbildende — Bedeutung des Historischen im Roman übernommen, sondern er hat von ihnen auch gelernt, wie die wirklichen Vorgänge und Tatsachen der Geschichte zu behandeln waren. Er griff zu einer umfassenden Darstellung der Zeit, in der sein Roman spielen sollte, und zwar war das Lord Herberts of Cherbury „Life and Reign of King Henry VIII.". Wenn überhaupt ein Buch über den König, dann mußte Boyle dieses benutzen, das damals das Standardwerk über den Gegenstand war. Aber es läßt sich auch im Einzelnen beweisen, daß Boyle tatsächlich gerade dieses Buch vorgelegen hat. Hier fand er die freundliche Auffassung der Gestalt Heinrichs; hier war ganz im Gegensatz zur Wirklichkeit Brandon als bloßer Hofmann behandelt, sodaß Boyle ihn mit etwas mehr Recht zu einem so aller Politik fernen heroischen Helden machen und ihm eine so völlig fiktive Vorgeschichte anhängen konnte 9 , während Howard — dessen Gestalt im Roman aus dem damals am Hof lebenden, aber sechsundsechzigjährigen zweiten und dem späteren dritten Duke, der zu der Zeit im Norden beim Heer diente, zusammengezogen ist — 8 Heinrichs angebliche Abneigung gegen die Staatsgeschäfte wird z. B. pp. 62 f. ausdrücklich hervorgehoben und gutgeheißen. 9 „Autobiography of Edward Herbert Lord Cherbury, and The Iiistory of England under Henry VIII. by Edward Lord Herbert", London 1870. Brandon wird nur auffällig selten erwähnt, nur pp. 141, 143, 147 und später einige Male als Duke of Suffolk, anscheinend ohne daß die Identität der Person erwähnt wird. Die erste Stelle ist die bezeichnendste und für die Auffassung der Gestalt bei Boyle wichtigste: „The gallants of the court



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doch wenigstens gelegentlich auch in seiner politischen Bedeutung erwähnt wird; bei Lord Herbert, der die in Wahrheit nur die wenigen Tage vom 22. April bis zum 9. Mai 1509 dauernde Zurückgezogenheit Heinrichs zur Zeit der Beerdigung seines Vaters relativ stark betont und die bald folgenden öffentlichen Feste im Gegensatz etwa zu Hall und Holinshed fast übergeht, fand Boyle schließlich auch die Rechtfertigung für seine den Ausgangspunkt der E r zählung bildende Behauptung, Heinrich habe sich nach dem Tode seines Vaters scheinbar zur Trauer, in Wahrheit aber für heimliche Vergnügungen und Liebesabenteuer zurückgezogen 10 . In den heroischen Romanen fand Boyle aber auch, auf welche Weise nun die in einer solchen Quelle gefundenen historischen Tatsachen im Roman zu benutzen waren. Gelegentlich muß Geschichtliches erwähnt werden, um nie die Verbindung mit der Realität zu verlieren. So wird am Anfang Heinrichs Thronbesteigung und seine Heirat mit Katharina von Aragonien, der Witwe seines Bruders Arthur, erwähnt, oder wir haben manchmal Stellen wie diese: „Howard ever after so signally served his king in his most celebrated actions and conquests, that nothing has more tarnished the lustre of that great monarch's reign than his severity (to give it the softest name) to that illustrious subject and his great son, the Earl of Surrey" — was aber sofort wieder in den Gesamtstil des Buches umgebogen wird: „which some attributed to his having discovered in process of time, how Howard had deluded him in his first amours" 1 1 . Im Uebrigen wird völlig willkürlich mit den historischen Tatsachen umgesprungen. Die beiden Dukes of Norfolk werden in einen zusammengeworfen; Brandon wird die unmöglichste Vorgeschichte angedichtet; Heinrich wird schon für die Zeit gleich nach seiner Thronbesteigung zu einem Don J u a n reinsten Wassers gemacht, während ihm etwa Froude gerade für d i e Zeit noch direkt „purity of life" nachrühmen kann 12 ; auch daß Heinrich direkt aus der strengen kirchlichen Zucht als künftiger Erzbischof von Canterbury heraus auf den Thron gekommen sein und daß er später ein solches Doppelleben geführt haben soll 13 , finding now the King's favours manifestly shining on Wolsey, applied themselves much to him: and especially Charles Brandon, who for his goodly person, courage, and conformity of disposition, was noted to be most acceptable to the King, in all his exercises and pastimes". 10 Shakespeares „Henry VIII.", der sonst natürlich absolut anders ist wie Boyles Roman, mag insofern als Quelle gedient haben, als seine ebenfalls nachlässige Behandlung Brandons zu Boyles Auffassung der Gestalt beigetragen haben könnte. Jedenfalls wurde das Stück nach der Restauration ziemlich oft aufgeführt (cf. A. Nicoll, Restoration Drama, Cambridge 19282, passim) und kann deshalb wohl eine solche Wirkung gehabt haben. 1 1 p. 87. 1 2 „History of England", London 1875, vol. I, pp. 175 ff. 1 3 Es scheint eine auch am chapbook vom „King and Cobbler" nachklingende Tradition von verkleideten Wanderungen des Königs unter sei— 13 —

sind für den Zweck der Geschichte erfundene Unrichtigkeiten; aber wie in den heroischen Romanen werden sie mit derselben Sicherheit erzählt und tun dieselbe Wirkung, wie wenn sie der Wirklichkeit entsprächen. Nur in einem, aber in dem ausschlaggebenden Punkt macht Boyle sich bei der Verwendung der Gcschichte vom Vorbild der iomans héroïques frei: er nahm seinen Helden aus der Geschichte seines eigenen Landes. Wenn überhaupt ein englischer König, dann lag natürlich der junge Heinrich VIII. für einen solchen Roman am nächsten, aber es bedeutet doch ein gewaltiges Abweichen von den inneren und äußeren Gesetzen des roman héroique, wenn Boyle seine Gestalten nicht aus dem alten Rom oder dem Reich der Inkas, sondern gerade aus England, dem eigenen Land, holte. Die „English Adventures" selbst bieten keine Erklärung für diese Erscheinung, denn die bloße Tatsache, daß sie zu größerem Realismus neigen, schließt nur in sich, daß sie solchen Neuerungen leichter zugänglich sein mußten. Wir dürfen annehmen, daß Boyle zu dieser Veränderung gegenüber seinen Vorbildern durch dasselbe Nationalgefühl wie seine weiterhin zu untersuchenden Nachfolger veranlaßt wurde — verlangt man eine Beweisführung rein von den „English Adventures" her, so muß die Frage offen bleiben14. Die Veränderung, die sich der heroische Roman so hatte gefallen lassen müssen — die Benutzung zur Erzählung eines Stoffs der heimischen Geschichte — erfuhren scheinbar schon zwei Jahre später auch die psychologischen Romane in der Art der Mme. de Lafayette und ihrer Nachahmer", die ja, angeregt durch die heroischen Romane und durch die historisierenden Novellen der italienischen Renaissance, ebenfalls oft ihre Geschichten vor einem meist sehr viel genauer als in den romans héroïques gezeichneten historischen Hintergrund hatten spielen lassen. Leider ist uns der 1678 erschienene „Tudor Prince of Wales" nur durch die Anzeige in den Term Catalogues bekannt16, aber aus dem Untertitel „An Historical Novel", der mit den psychologischen Romanen aus Frankreich herübergekommen war17, und aus der nem Volk, nach der Art Haruns al Raschid, bestanden zu haben, an die Boyle vielleicht auch gedacht hat. 14 Vielleicht wäre von den (für die vorliegende Arbeit nicht erreichbaren) heroischen Dramen Boyles her, die teilweise nationale Stoffe behandeln, zu einer Klärung der Frage beizutragen; E. Siegerts Schrift, „Roger Boyle und seine Dramen", Wien 1906, bietet nichts Einschlägiges. 16 Von diesen Romanen wurden fast vierzig ins Englische übertragen, einige sogar mehrfach. Auch gab es eine Reihe direkter, unveränderter Nachahmungen der französischen Vorbilder. 16 Easter Term 1678: „Tudor Prince of Wales. An Historical Novel. In Two Parts. In Twelves. Price, bound, I s . . . " (Arber's reprint, I, p. 312). 17 Er wurde in der englischen Literatur anscheinend zum ersten Mal 1676 in der Uebersetzung des „Tachmas, Prince of Persia" angewandt. — 14 —

Angabe, daß es sich um ein k l e i n e s , k u r z e s Buch gehandelt hat, können wir auf Nachahmung oder Einfluß der französischen psychologischen oder besser: erotischen Romane schließen, denn als erotische Romane erschienen, wie die Nachahmungen beweisen, die französischen Werke den wenig um die Aufnahme der psychologischen Feinheiten bekümmerten breiteren englischen Leserkreisen. Wir dürfen also annehmen, daß es sich im „Tudor Prince of Wales" um den ersten Roman dieser Art gehandelt hat, der bewußt einen englischen Stoff erzählte, wahrscheinlich mit Owen Tudors Beziehungen zu Katharina von Valois als Inhalt und mit ziemlich genau gezeichnetem historischem Hintergrund selbst da, wo geschichtlich von den recht unsicheren Tatsachen nichts Klares überliefert ist — so wie es auch in den französischen Vorbildern der Fall war. Wieder zwei Jahre später, 1680, kam ein dritter und diesmal sehr erfolgreicher historisierender Roman heraus: „The Secret History of the Most Renowned Queen Elizabeth and the Earl of Essex"18. Er erzählt von der Liebe der Königin Elisabeth zu dem jungen Grafen Robert Essex. Da aber die Neigung der Königin dauernd unerwidert bleibt, wandelt sich ihre frühere Gunst in Ungnade, ja sie duldet und unterstützt sogar die Bemühungen von Essex' Rivalen Cecil und der Gräfin Nottingham, die sich früher ebenfalls vergeblich um Essex beworben hat, ihn auf Grund angeblicher Verfehlungen in Irland zu beseitigen. Wir hören aus dem Mund der Königin die Geschichte ihrer unglücklichen Liebe, wie auch von dem Ring, den sie Essex als Zeichen ihrer höchsten Gnade geschenkt hat: wenn Essex ihn ihr zurückgibt, hat er eine Bitte frei, die ihm bedingungslos gewährt werden wird. Der dank den Intriguen seiner Gegner endlich ins Gefängnis gekommene Essex empfängt den Besuch der Königin und erreicht, indem er ihre Liebe und ihr Mitleid neu weckt, daß sie doch noch für den Seine Verwendung war damals nicht an die historische Vergangenheit, in der der Roman spielt, sondern an den genauer gezeichneten historischpolitischen Hintergrund schlechthin gebunden; er kann also auch für Gegenwartsromane erscheinen, die in einem „historischen" Milieu, am Hof, im Krieg, in den politisch tätigen Adelskreisen etc. spielen. So hat die Uebersetzung von Prechacs „Serasquior Bassa" den interessanten Untertitel: „An Historical Novel of the Times: Containing All that passed at the Siege of Buda". 18 Der Katalog des British Museum und nach ihm Charlotte Morgan, 1. c., p. 172, führen einen Druck von ca. 1650 auf. Das Exemplar sieht tatsächlich wie ein ziemlich früher Druck aus, aber es trägt das Druckerzeichen W. O. und den Buchhändlernamen C. Bates. W(illiam) O(nley) und Bates gehören aber Beide der Zeit um die Jahrhundertwende an (cf. Onleys 1706 datierten „Guy of Warwick"), und Esdaile, „A List of English Tal e s . . . ", p. 216, führt den Druck deshalb auch zwischen den Ausgaben von 1708 und 1725 auf. Daß ein Buch dieser Art um 1650 erschienen sein — 15 —

Freispruch sorgen will. Aber Essex' Frau, die er heimlich geheiratet hat, kommt an den Hof, um Gnade zu erbitten, und so erfährt die Königin, daß ihr Günstling sie immer noch hintergeht. Deshalb läßt sie das Todesurteil nun doch fällen, und da die Gräfin Nottingham Essex auch den Ring ablistet, der sein letztes Rettungsmittel wäre, wird die Hinrichtung tatsächlich vollzogen. Aber die Königin überlebt Essex nicht lange; von der in Reue sterbenden Gräfin Nottingham erfährt sie die Ringgeschichte, und sie bricht darüber zusammen und siecht langsam zu Tode. Schon der Titel der Erstausgabe — „The Secret History..." — zeigt, daß das Buch in engstem Zusammenhang mit den zeitgenössischen historischen Romanen in Frankreich steht. Genau wie es in einem französischen Roman über das Thema der Fall gewesen wäre, stehen im Mittelpunkt die Freude und das Leid der alten Königin, die den jungen Hofmann unglücklich liebt. Auch hier gilt das Interesse nicht der fremden Zeit oder der bestimmten historischen Persönlichkeit der Königin, ebensowenig wie in den entsprechenden französischen Werken, sondern eine bestimmte psychologische Situation, um derer willen der Roman geschrieben ist, wird1 am Beispiel des Verhältnisses von Essex zu Elisabeth exemplifiziert. Aber das Wichtige und den französischen Vorbildern gegenüber genau so Neue wie wenn Boyle Heinrich VIII. zum heroischen Romanhelden macht, — darüber hinaus, daß hier statt einer beliebigen geeigneten Tatsache aus der Geschichte irgend eines Volkes eine aus der Geschichte des eigenen genommen wird: das wäre bei diesen Romanen in Frankreich auch durchaus schon möglich —, ist vor Allem, daß der Stoff nicht mehr aus dier „wissenschaftlichen" Geschichtsschreibung, vielmehr aus der mündlichen, volkstümlichen Tradition entnommen wird: wiederum, wie in den „English Adventures" und vielleicht auch im „Tudor Prince of Wales", erwies sich das bürgerliche Interesse an der heimischen Geschichte als stark genug, um eine ganz bedeutende Veränderung bei der Nachahmung des französischen Romanvorbildes herbeizuführen. Der Verfasser des „Essex and Elizabeth" behandelt in seinem Buch eine im Bewußtsein des Volkes lebendige Ueberlieferung. Freilich ist sein Verhältnis zu den Berichten über Essex, wie sie von Mund zu Mund gingen, nicht völlig fest greifbar. Robert Essex war eine beim Volk beliebte Gestalt, Zeuge die beiden anscheinend um 1630 zuerst gedruck-

sollte, ist ausgeschlossen, und auch der Name „A Romance", den es im Untertitel trägt, bedeutete ja zu der Zeit etwas ganz Anderes. — Der Verfasser des anonymen Buches ist unbekannt. Wie Ch. Morgan, ibidem, auf die Angabe kommt: „Translated from the French of Devereux", ist unverständlich, es sei denn durch eine Verwechslung mit dem Familiennamen Lord Essex', der ja Devereux war. Das Buch ist zweifellos ein englisches Original und wurde umgekehrt 1787 ins Französische übersetzt, ebenso wie schon 1687 ins Deutsche. —

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ten Balladen „A Lamentable Ditty" und. „A Lamentable New Ballad", die freilich Beide nur seine Hinrichtung zum Gegenstand haben. Die Geschichte von der Liebe der Königin zu ihm war sicher beliebter Erzählungsstoff: bereits 1638 übernahm ihn La Calprenede für ein Drama nach Frankreich, wo er bis zu Boyers und Thomas Corneilles Stücken (beide 1678) selbständig weiterlebte 19 ; ja schon 1602 erzählten sich, wie wir aus Manninghams Tagebuch wissen, die Zeitgenossen von einem Ring, der zwischen Elisabeth und Essex eine Rolle gespielt haben sollte, den aber nach damaliger Darstellung Essex an die Königin gegeben hätte; 1651 verwarf Clarendon zwar in seinem „Difference and Disparity between the Estates and Conditions of George Duke of Buckingham, and Robert Earl of Essex, in Reply to Wotton's Parallel" solche Gerüchte als „a loose report", aber 1658 erzählte dann Osborne in seinen „Traditional Memoirs of Elizabeth" wenigstens die Ringgeschichte schon so, wie sie zwanzig Jahre später im Roman wieder auftauchte 20 . Aber abgesehen von solchen Einzelheiten wissen wir nicht, bis zu welchem Punkt die verschiedenen Ueberlieferungen sich entwickelt hatten, als die Prosaerzählung erschien, sodaß wir nur feststellen können, d a ß sie an die volkstümlichen Berichte angeknüpft hat, aber nicht, was sie aus Eigenem dazutat' 1 . Sicher aber stand für das Volk Essex im Mittelpunkt der Erzählungen, und wenn der Verfasser des Romans umgekehrt im Sinn seiner französischen Vorbilder sich vor Allem für Elisabeth interessierte, so beweist er damit, daß bei ihm die Verbindung mit der Volksüberlieferung noch nicht s o eng war, daß er nur die Volkserzählungen auf höherem Niveau hätte nacherzählen wollen, wie es später geschah. Ein anderes Abweichen des englischen Romans von den französischen Mustern zeigt in gleicher Weise, wie der Verfasser des „Essex and Elizabeth" den Weg zu wirklicher Teilnahme an der Geschichte seines Landes erst halb gegangen ist. Er bietet nämlich nur wenig historisches Material, ja er läßt seine Königin Elisabeth direkt sagen: „ I shall not give you an account of the in19

Der englische Roman stützt sich nicht auf diese französischen Dramen, wie ganz bedeutende Divergenzen des Inhalts beweisen. 20 cf. Dictionary of National Biography, re-issue, v. V. pp. 887 f. 21 Das Interesse für Essex blieb auch weiter sehr stark bzw. erfuhr durch den Roman einen neuen Antrieb. 1681 schrieb Banks, der Vorläufer Rowes, eine auf den Roman zurückgehende Tragödie „The Unhappy Favourite", von der es noch 1731 eine neu zurechtgemachte Fassung (von Ralph) gab. 1595 behandelte Crouch auch Essex in den „Unhappy Court Favourites", und 1729 nahm Croxall eine weiter unten noch genauer darzustellende neue Prosafassung in seine „Select Novels" auf. Schließlich erschienen um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch zwei neue dramatische Behanclungen des Stoffs, die erste (1750) von Henry Brooke, dem Verfasser des „Fool of Quality", die zweite (1753) von dem Iren Jones. — 17 —

terests of England other than what the Earl of Essex stands concerned in"22. Soweit ist also die Entwicklung noch nicht gediehen, daß wie etwas später im „Black Prince" irgend ein geschichtlicher Bericht aus der Vergangenheit Englands schon an sich Reiz gehabt hätte. Die Darstellungskunst des Romans ist äußerst gering, keiner der Charaktere wird lebendig, die Handlung ist langweilig, und auch die Liebe der Königin, um derer willen das Buch geschrieben ist, kann keine Teilnahme wecken. Trotzdem hatte der Roman einen sehr großen Erfolg. Schon 1681 folgte eine Neuauflage, dann weiter 1689, ferner 1692 in den „Modern Novéis", dieser Sammlung von Romanen aus dem Verlag Bentley, außerdem haben wir bis zur Jahrhundertwende vier Ausgaben, die nicht datiert sind, dann 1700?, 1703, 1708, drei undatierte Auflagen aus ungefähr derselben Zeit, 1725, 1739, 1740, 1761, 1765, 1780; das Buch sank immer mehr zum chapbook hinab, sodaß noch viele Ausgaben verloren sein mögen. Daß der Roman trotz seines geringen Wertes so gern gelesen wurde, und daß es gerade als Buch fürs Volk so viel abgedruckt wurde, beweist, daß es nicht als Kunstwerk, sondern wegen seines Stoffes interessierte: es wurde als die Geschichte Essex', des populären Helden, aufgenommen. Neben „Essex and Elizabeth" steht ein zweiter, zehn Jahre jüngerer Roman aus dem Liebesleben der Königin: „The Secret History of the Duke of Alencon and Queen Elizabeth"23. Der Herzog von Alencon ist zu seiner Bewerbung um die Hand Elisabeths nur durch Ehrgeiz veranlaßt. Liebe lernt er erst kennen, wie er Marianna, Katharinas von Aragonien nach der Scheidung geborene zweite Tochter, sieht, die geheim aufgezogen und zur Zeit Marias der Blutigen an den Hof gebracht ist. Elisabeth sieht in dem Mädchen eine vielleicht berechtigtere Anwärterin auf den Thron, und bald erkennt sie auch Alencons wahre Liebe. Bisher hat sie als die überlegene, gewissenlose Herrscherin Alencon und Leicester, den anderen Bewerber um ihre Hand, rücksichtslos gegeneinander ausgespielt, jetzt fühlt sie sich in die Verwicklung mit hineingerissen. Durch viele Intriguen erpreßt sie zunächst ganz das Geheimnis dieser Leidenschaft des französischen Grafen, dann beseitigt sie, von Eifersucht getrieben, Marianna durch ein Paar vergifteter Handschuhe. Aber Alencon, der sie durchschaut, kehrt voller Empörung in seine Heimat zurück. — Der anonyme Verfasser gibt sich als Augenzeuge der geschilderten Ereignisse aus, und zwar will er der Umgebung des jungen Herzogs von Norfolk angehört haben, der sich als Einziger nach dem Tode Marias der Blutigen für die Thronbesteigung Mariannas, die er liebt, eingesetzt habe. 22 23

p. 7 der Ausgabe 1689. 1691, außerdem 1692 in den „Modern Novéis". —

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Auch hier haben wir es wieder mit einem Roman nach fran zösischer Art zu tun; aber stand „Elizabeth and E s s e x " noch auf einigermaßen hohem Niveau, wenigstens was die künstlerische Absicht betraf, so ist „Elizabeth and Alençon" nun eine wirkliche „histoire sécrète", die schmutzige Skandalgeschichten aus dem Leben einer großen historischen Persönlichkeit erzählt. Was wir von Marianna — einer ungeschichtlichen Gestalt, bei deren E r findung wohl Mary Stuart und Lady J a n e Grey Pate gestanden haben — und von dem als vorbildlicher Prinz dargestellten Herzog von Alençon hören — in Wahrheit war er eine bizarre, allgemein unbeliebte, wohl pathologische Natur —, ist so gut wie ohne jede Beziehung zur Wirklichkeit in die Tatsache von Alençons Bewerbung um Elisabeth hineingefabelt, und zwar immer mit der Tendenz, ein möglichst ungünstiges Bild von der Königin hervorzurufen. E s wird aber auch kein Rest von guten Eigenschaften an ihr gelassen; sie spricht „with her usual dissimulation" 24 , und der Herzog sagt mit offensichtlicher Zustimmung des Autors zu ihr: „I do not envy you the fruit of your treachery and perfidiousness 2 5 ", oder weiter heißt es: „The Queen (Maria die Blutige) died suddenly in a few days after this conversation (mit Elisabeth). I will not teil you the judgments men made over the vexatious accident. As exasperated as I am against Elizabeth, I do not entirely believe the reports that went about of her" 26 . Zwei Morde und das gebrochene Herz des edlen Alençon sind es also immerhin, was Elisabeth in dem kurzen Roman auf dem Gewissen hat. Ein wärmeres Verhältnis zur englischen Geschichte, wie es für die vorausgehenden Romane spürbar schien, empfindet man beim Verfasser dieses Buches nicht. Wenn er das Verhältnis von Elisabeth zu Alençon zum Gegenstand seiner Erzählung nahm, so offenbar nur, weil er der Wirkung von Skandalgeschichten über so bekannte Personen sicher war. Interessant ist in unserem Zusammenhang nur, daß er dafür ein über hundert J a h r e in der englischen Geschichte zurückliegendes Ereignis benutzte und doch auf ebensoviel Erfolg rechnen konnte wie etwa der Uebersetzer der französischen Geheimgeschichten über die Gattin Jakobs II., obgleich er nicht einmal erotische Pikanterien zu bieten hatte. Tatsächlich ist ja gar kein Zweifel, daß während der siebziger Jahre das englische Nationaigefühl und dadurch auch das Interesse an der eigenen Geschichte plötzlich eine gewaltige Steigerung erfuhren, im Gegensatz zu dem engen Anschluß an Frankreich, den das geistige Leben in England vorher gesucht hatte. Vor 21

p. 94. fünfletzte Seite (die Seitenzahlen sind gegen Ende des Buches so verdruckt, daß nicht nach ihnen zitiert werden kann). 28 p. 96. 28

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Allem am Drama läßt sich diese Wendung ohne viel Mühe verfolgen, aber es hat sich wohl schon aus dem Vorausgehenden gezeigt, daß sie sich auch in der erzählenden Prosa offenbarte und zur Entstehung einiger nationaler historisierender Romane führte, dadurch daß vorhandene französische Romanformen zur Darstellung von Stoffen der englischen Geschichte benutzt wurden. 1682 wurden in der englischen Uebersetzung von d'Argence' „Comtesse de Salisbury" diese Zusammenhänge deutlich ausgesprochen27. Daß dieser Roman in England gern gelesen werden mußte, war klar, da er die in der elisabethanischen Zeit oft behandelte und in zwei Balladen weiterlebende Ueberlieferung von der Standhaftigkeit der Gräfin Alice von Salisbury gegenüber Eduard III. und die Geschichte von der Einsetzung des Hosenbandordens erzählte. Aber der Uebersetzer nahm einige Veränderungen an seinem Original vor, darunter, daß er häufig historische Darstellungen auf Grund von Bakers Chronik einschob. Die Veranlassung dazu gibt er im Vorwort wie folgt an: „There is another thing which I can hardly pardon myself for, which is that though I found the threads of the story so nicely drawn, that I made conscience of clogVig it with unnecessary particulars; yet the most glorious circumstances of our history offering themselves to view, I could not resist the temptation, gave them admittance and couched them in their due place, without minding my Frenchman's reflection or thinking it held good with us, namely that the remembrance of them would be a mortification to the reader. I must indeed confess, that I contented myself with the relations as I found them in Sir Richard Baker's Chronicle, without troubling myself to refine that author's description". Auf eine solche Wiedergabe der Darstellung Bakers beschränkt Spence, der Uebersetzer, sich freilich ganz, eigene Beschäftigung mit der Geschichte liegt ihm völlig fern. Deshalb konnte ihm ja auch z. B. solch ein Fehler unterlaufen wie der, daß er d'Argence nachsagt, er habe durch Verwechslung mit Alice Pierce den Namen seiner Heldin unrichtig als „Alice" angegeben, in Wirklichkeit habe sie „Joan" geheißen; in Wahrheit unterläuft das Versehen aber dem Engländer Spence, der an Joan the Fair Maid of Kent, die Gattin des Schwarzen Prinzen, denkt; aber auch mit „Joan" ist er nicht zufrieden, weil ihm das zu gewöhnlich klingt; so gibt er selbst der Gräfin den Namen „Philenia" — ein Zeichen, wie sehr er das Mittelalter noch im Geist der romances angesehen haben muß. Auch die alte Legende über die Entstehung des Hosenbandordens läßt er stehen, wie er sie bei d'Argence fand, weil sie „not ungenteelly done" sei. Aber er weiß dabei ganz genau, wie er selbst 2 7 „The Countess of Salisbury; or, the Most Noble Order of the Garter. An Historical N o v e l . . . Done out of French by Mr. Ferrand Spence. London 1683". Außerdem in den „Modern Novels" 1692.



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zugibt, daß sie durch Ashmole längst widerlegt ist. Was Spence, der Uebersetzer des Verlegers von Unterhaltungsliteratur Bentley, sollte und wollte, war eben nur, der tatsächlich vorhandenen Nachfrage der Leser nach Berichten aus der englischen Geschichte entgegenzukommen; daß sein eigenes Interesse daran nicht weit her war, ist offenbar. Im Jahre 1700 folgte ein weiterer historisierender Roman, zugleich der letzte, bei dem man eine direkte Umgestaltung französischer Vorbilder annehmen muß: „The Amours of Edward IV. An Historical Novel".28 Das Buch beginnt mit einer Schilderung der politischen Verhältnisse nach dem Tode Eduards IV. und erzählt die Flucht der Königin-Witwe Elisabeth in die Westminsterabtei. Dort erzählt sie ihrer Tochter ihr Leben und die politischen Ereignisse unter der Regierung des verstorbenen Königs, beides in enger Verflochtenheit miteinander, aber doch so, daß die eigenen Erlebnisse der Königin nur eine Art Belebung des gebotenen historischen Materials abgeben, auf dem das Hauptinteresse ruht. In dem vielen ununterbrochenen Grauen, von dem die Königin ihrer Tochter zu berichten hat, taucht zweimal als Hoffnungsschimmer die Aussicht auf eine künftige Ehe ihrer Tochter mit dem Herzog von Richmond auf, so wie sie ja tatsächlich geschlossen wurde und den Rosenkriegen ein Ende bereitete. Nachdem die Erzählung der Königin den weitaus größten Teil des Buches eingenommen hat, hören wir als Abschluß noch kurz, wie der kleine Herzog von York seiner Mutter abgenommen wird. Das Liebesleben des Königs spielt also im Gegensatz zu dem, was der Titel verspricht, fast gar keine Rolle. Sicher ist auch in diesem Buch Einiges, was aus den historisierenden erotischen Romanen stammt: Elisabeth Greys Liebe zum König, die heimliche Vermählung etc. werden natürlich genau geschildert, auch wird Warwick eine heimliche Leidenschaft für die spätere Königin angedichtet, die der wahre Grund zu seinem Uebergang von den Yorks zu den Lancasters gewesen sein soll. Aber auf den Titel „The A m o u r s . . . " hin erwartet man doch, daß König Eduards Liebeserlebnisse im Mittelpunkt der Erzählung stehen; in Wirklichkeit wird jedoch selbst Jane Shore nicht einmal dem Namen nach erwähnt. So hat der irreführende Titel wohl denselben Zweck wie die falsche Verfasserangabe: Käuferfang. Die wahre Art des Romans ist eine ganz andere; man geht wohl kaum fehl, wenn man in den „Amours of Edward IV." eine Nachahmung der künstlerischen, ein wenig zum Romanhaften 28 „By the Author of the Turkish Spy". Dieser Hinweis auf Maraña als Verfasser wird (sicher mit Recht) als Käuferfang angesehen und deshalb abgelehnt, cf. Esdaile, 1. c., p. 214; Morgan, 1. c., p. 57; Katalog des British-Museum.



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neigenden Geschichtsdarstellung Varillas' und Saint-Reals 20 sieht. Das ganze Buch besteht aus sachlichen, klaren historischen Berichten, die nur gelegentlich durch persönliche Dinge belebt sind und durch einen knappen Rahmen direkt im Roman geschehender Handlung eingefaßt werden. Freilich kann der Verfasser, in dem Charlotte Morgan sicher mit Recht irgend einen bedeutungslosen hack-writer sieht, von seinen französischen Vorbildern nur das Aeußerlichste nachahmen. An die inneren Vorzüge, die SaintReal auszeichnen, vermag er nicht heranzukommen. Sein Buch ist trotz der Kürze langweilig, und es schwingt sich nur einmal zu größerer Kraft auf, wie es sich an der Heldengestalt Warwicks entzünden kann, so wie Warwick überhaupt im ganzen Roman die einzige lebendige Figur ist. — Als Quelle hat Habbingtons „History of Edward IV." 30 gedient, wie sich abgesehen von Uebercinstimmung in auffälligen Einzelheiten aus der bis ins Kleinste gleichen Behandlung der Bewerbung Eduards um Elisabeth Grey ergibt und daraus, daß auch bei Habbington Jane Shore nicht erwähnt ist. Trotz der großen Sachlichkeit des Buches, das sich eng an die Quellen hält, hatten die „Amours of Edward IV" keinen Erfolg, und eine Neuauflage erschien nicht. Aber es ist bezeichnend, daß auch bei diesem anscheinend einzigen, vergeblichen Versuch, die romanhafte Geschichtsdarstellung Saint-Reals in England einzubürgern, sofort zu einem Thema der e n g l i s c h e n Geschichte gegriffen wurde. Die „Amours of Edward IV." waren auf ziemlich lange Zeit hinaus der letzte Roman, in dem sich die höhere Literatur mit einem Stoff aus der Geschichte des eigenen Landes beschäftigte, so dem allgemeinen Erwachen des englischen Nationalgefühls ihren Tribut zollend. Inzwischen hatte die Bewegung aber auch schon in der eigentlichen Volksliteratur selbst eingesetzt, wo sie naturgemäß bald sehr viel kraftvoller wurde als in den höheren Literaturschichten mit ihren paar im Vorausgehenden betrachteten nationalen Romanen. Wie echt und ursprünglich diese niedere historisierende Literatur des unteren Bürgertums um die Wende zum 18. Jahrhundert war, erweist sich daraus, daß sie, wie sich zeigen wird, in Vielem nur eine Wiederaufnahme und Verbreiterung alter, inzwischen vorübergehend eingeschlafener elisabethanischer Bestrebungen war. Wohl bereits in den sechziger und siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts haben wir kurze schriftliche Nacherzählungen von heiteren Anekdoten, die an bekannte historische Personen geknüpft sind, wie von „King Henry VIII. and a Cobbler"31 — der erste Teil 2 9 Varillas' „Minorité de St. Louis" wurde 1685 übertragen, SaintRéals „Don Carlos" liegt englisch sogar viermal vor. 3 0 1640. 3 1 „The Pleasant and Delightful History of King Henry VIII. and a



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der späteren ganzen Erzählung —, von „King Henry VIII. and the Abbot of Reading"32 oder von „Will Summers" 33 , wie sie die Eli sabethaner im „Tanner of Tamworth" oder im „Miller of Mansfield" auch schon gehabt hatten — damals freilich in Versen, jetzt in Prosa. Ebenso wurde ziemlich früh, wohl in den achtziger Jahren, Deloneys Ballade „A Mournful Ditty on the Death of Rosamond, King Henry the Second's Concubine", bereits in Prosa erzählt und gedruckt34. Auch die Ballade auf „Sir Richard Whittington" ging sogar schon 1656 in ein chapbook über, das später sehr erfolgreich wurde 35 . Aber bei solchen Anekdoten und auch bei der Geschichte der unglücklichen Rosamond handelt es sich noch nicht um historisch interessierte Berichte, sondern mehr oder minder um Erzählungen, die nur durch ihren rein menschlichen Gehalt zum Lachen oder zum Weinen reizen wollten. Die historischen Namen, an die sie zufällig gebunden waren, hatten — außer wohl beim „Whittington" — im Grunde für sie nur wenig Bedeutung. Aber wie sich in der höheren Literatur das erwachte Nationalgefühl zeigte, indem in Romanen französischen Musters Stoffe der englischen Geschichte erzählt wurden, so bemühte sich entsprechend die Volksliteratur sehr bald, mit wirklichem geschichtlichem Interesse die alten überlieferten Stoffe, soweit sie sich mit der Geschichte berührten, nun historisch genauer zu fundieren, oder sogar schlicht-sachliche Berichte aus der Geschichte zu erzählen. Man hatte ja nicht nur das Interesse für solche Stoffe, sondern man sah auch, wie in der höheren Literatur das historische Element eine immer größere Rolle spielte. Von dort her holte man sich eine gewisse Rechtfertigung für die starke Betonung des Historischen, wenn auch direkte Zusammenhänge zwischen der neuen historisierenden Volksliteratur und den französischen historisierenden Romanen nur selten nachzuweisen sind. Cobbler..." Blackletterdruck s. a. Dies chapbook hatte von allen wohl den größten Erfolg. 32 „The Pleasant and Delightful History of King Henry VIII. and the Abbot of Reading", Blackletterdruck s. a. 33 „A Pleasant History of the Life and Death of Will Summers. How he came to be known at Court, and by what Means he got to be King Henry VIII. Jester". Blackletterdruck 1676. Summers, Heinrichs VIII. Hofnarr, wurde bereits in der elisabethanischen Literatur sehr oft dargestellt, cf. Dictionary of National Biography, re-issue, v. XVIII, p. 668. 34 „The Life and Death of Rosamond, King Henry the Second's Concubine. And how she was poisoned to Death by Queen Elleanor". London s. a. Die Erscheinungszeit ist aus den Buchhändlernamen ungefähr erschließbar. 35 „The Famous and Remarkable History of Sir Richard Whittington.. Written by T. H". London 1656 u. ö. Ich habe dieses chapbook leider nicht zur Verfügung gehabt. — 23 —

Freilich, spürbar ist die Nähe der erotischen Romane doch, und in dem durchgehends außerordentlich sachlichen Stil, in dem die Volksliteratur Geschichte erzählt, kann man ebensogut einen Niederschlag des entsprechenden Stils der höheren Literatur sehen wie eine Auswirkung des Realismus des volkstümlichen Schrifttums, der schon bei Head im „English Rogue", als ein gleiches Thema anzufassen war, zu gleicher Darstellungsart und gleichem Stil geführt hatte wie sie jetzt üblich wurden. Es ist für die neue Richtung der Volksliteratur bezeichnend, wenn Nathaniel Crouch, dieser unermüdlichste, erfolgreichste Schriftsteller für die breiteren Kreise, neben seinen Nacherzählungen alter Romane und Fabeln, neben seinen Naturkundebüchern und seinen Darstellungen der jüngsten aktuellen Geschichte oder neben seiner „Female Excellency; or, The Ladies' Glory" auch über Gestalten und Dinge der englischen Vergangenheit eingehend berichten mußte. So erschienen etwa die „Historical Remarks on London and Westminster"36, „England's Monarchs from the Invasion of the Romans to this Time"37 etc., vor Allem aber die zunächst langsam, dann sehr stark sich durchsetzenden „Unfortunate Court Favourites of England... namely, Pierce Gaveston, Earl of Cromwell; Hugh Spencer, Earl of Winchester; Hugh Spencer the Son, Earl of Gloucester; Roger Mortimer, Earl of March; Henry Stafford, Duke of Buckingham; Thomas Wolsey, Cardinal of York; Thomas Cromwell, Earl of Essex; Robert Devereux, Earl of Essex; George Villiers, Duke of Buckingham; Thomas Wentworth, Earl of Strafford"518, denen in gleicher Art noch die „Unhappy Princesses. Containing, First, The Secret History of Anne Bullen, Secondly, The History of Lady Jane Grey"39 folgten. Schon beim Lesen des Titels ist deutlich, wie das eigentliche historische Interesse, das ausgehend wohl von solchen bekannten Namen wie Essex, Wolsey, Strafford doch auch fernerliegende Persönlichkeiten mit in sein Bereich einbezieht, gekreuzt wird von der sentimentalen Teilnahme an den „ U n h a p p y Princesses" und den „ U n f o r t u n a t e CourtFavourites". Noch klarer zeigt sich diese für volkstümliche Behandlung derartiger Themen ja beinahe selbstverständliche Mischung des Interesses, wenn man etwa in der Term-CatalogueAnzeige d/er „Unfortunate Court-Favourites" folgendes liest: „ . . . V. Henry Stafford, Favourite to Crook-Backed Richard; with that King's Secret Intrigues and Policies for Usurping the Crown, and Murdering his Two Innocent Nephews; Likewise, the Character of Jane Shore, by Sir Thomas More, who saw her .. ,"10. Nach3

« London 1681, 1684, 1703, 1722, 1730. " London 1685, 1691, 1694. 38 London 1695, 2. Auflage 1706, 6. Auflage 1729. 3 » London 1710, 3. Auflage 1733. 40 November 1694 (Arber's reprint v. II, p. 523). — 24 —

dem Crouch so in jeder erfolgversprechenden Weise die erwünschte Teilnahme an seinem Gegenstand erweckt hat, bietet er dann einen natürlich nicht einwandfrei richtigen, vor Allem nicht etwa den Quellen gegenüber kritischen, aber doch sachlichen und lesbaren Bericht über seine Themen 41 . Mit diesen Büchern steht Crouch am Anfang der vielen, im ersten Drittel des neuen Jahrhunderts sich mehrenden Bemühungen, der Nachfrage des mittleren und niederen Volks nach historischer Belehrung entgegenzukommen. Schon bald nach der Jahrhundertwende haben wir etwa die durch den Verlegernamen Bates ungefähr datierbare erste chapbook-Erzählung vom Schwarzen Prinzen, die die ganzen gegenüber den Nacherzählungen historisierender Anekdoten eingetretenen Veränderungen überraschend stark offenbart: „The Conquest of France, with the Life and Glorious Actions of Edward the Black P r i n c e . . . being a History, Full of Great and Noble Actions in Love and Arms, to the Honour of the English Nation, and the Encouragement of the Heroes of the Present Age". Den Inhalt bilden die französischen Kriege in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts; im Mittelpunkt steht die Gestalt des Schwarzen Prinzen, die Geschichte wird aber schon in der Zeit vor ihm angefangen und über seinen Tod hinaus weitergeführt. Alles Interesse liegt auf dem politischen Geschehen und den militärischen Unternehmungen, und eingehende Aufzählungen von Namen, Zahlen, Friedensbedingungen etc. werden gegeben, ohne daß der Verfasser zu langweilen befürchtet. Wieder wird in dem üblichen, sachlich-chronologischen Stil berichtet, etwa Folgendes kann jetzt breiteren Leserkreisen geboten werden: „The King being now informed, that John, the eldest son of the French King, had besieged the castle of Anguillon in Gasooigne, he took the Prince with him, and a considerable army, at the terror of whose approach the French raised the siege and fled; after this he passed into Normandy, took the rich city of Harflure without resistance, and bestowed the spoil on his soldiers; after this he spoiled the rich towns of Cherbourgh, Mountborough Quarantive, and the castle there; and increasing his army, took the great and rich city of Caen in Normandy, in which were the Earls of Pankerville, Ewe, and Guyers, who had brought forces thither; these were made prisoners to Sir Thomas Holland, an English knight with one eye12, who sold them to the King; and they (with the rich spoils) were sent prisoners to England; then the army marched to Lowers.. ."13. Zur Belebung, 41

Eine interessante, wohl vollständige Liste von Crouchs Schriften findet sich im Dictionary of National Biography, re-issue, v. III, pp. 466 ff., sub Robert or Richard Burton. 42 die einen persönlichen Ton in die Erzählung bringende Anekdote. 43

p. 9. -

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und gleichzeitig, um dem Interesse entgegenzukommen, Persönliches von den dargestellten Helden zu hören, werden in zweiter Linie auch unpolitische Dinge erzählt, so des Königs Bewerbung um die Gräfin von Salisbury mit besonderer Hervorhebung der Hosenbandgeschichte, und vor Allem die Liebe und Ehe des Schwarzen Prinzen und der Fair Maid of Kent. An solchen Stellen verfällt die Geschichte aber sofort aus dem sonstigen neutralen Ton in größere Bewegtheit; und auch das unbestimmt-mittelalterliche Milieu, in dem das politische und militärische Geschehen in dem Buch vor sich geht, verwandelt sich in eine Welt echter gepflegt-galanter Lebensart des 17. Jahrhunderts; man merkt mit einem Male die Nähe der historisierenden erotischen Romane: „The fair lady well noting these words (in denen der Schwarze Prinz die Ehrenhaftigkeit seiner Absichten beteuert), and observing his modest and courteous behaviour, now took courage, and welcomed his Highness to her father's house, ordering her woman to bring forth wine and other refreshments; but at his request discovered not to her woman that he was other than her cousin. The Prince having taken in a slender repast, ontreated her to walk with him in the garden, which she consenting to, and sitting down after a turn or two, in a cool arbour, he after some discourse about indifferent matters, fetched a deep sigh" 44 . E s ist hübsch zu beobachten, wie auch in den Abbildungen, die das Heft schmücken, die beiden, die Militärisches darstellen, einigermaßen möglich den Prinzen und seine Soldaten in Ritterrüstung und vor einer mittelalterlichen Burg zeigen; aber auf der dritten, auf der wir Eduard seine Geliebte in den Garten führen sehen, erscheint er mit einem Male in langem Jaclcett und Kniehosen, dazu Spitzenkragen und -manschetten, Perücke auf dem Kopf und einen Zierdegen umgeschnallt! Und Joan selbst erblicken wir mit Wespentaille, Schnabelschuhen und Fächer — kein Wunder, daß wir hinter einem solchen Paar einen französischen Park sich dehnen sehen45. 1706 wurde eine Geschichte von „George a Greene, Pindar of the Town of Wakefield" gedruckt. Sie ist kein eigenes Produkt dieser Zeit, sondern nur ein wenig modernisierter Abdruck eines p. 15. Eine Liste des Verlages Bates zeigt in interessanter Weise, in welcher literarischen Umgebung ein solches Buch wie der „Black Prince" erschien. Wir finden da außer dem „Black Prince" noch: „Hector, Prince of Troy"; „Guy of Warwick"; „Hercules of Greece"; „Valentine and Orson"; „ J a c k and the Giants"; „Egyptian Fortune Teller"; „Rich Robber"; „Merry Piper, or, Friar and Boy". — 1732 erschien ein mir nicht erreichbares Buch: „A Secret History of the Amours of Edward the Black Prince, and Alice Countess of Salisbury". Nach dem Titel ist es ein nationaler historisierender Liebesroman, wohl in chapbook-Form, vielleicht in etwas engerem Anschluß an die französischen Muster. Inhaltlich geht es zurück auf die alte, von 44

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spätelisabethanischen Manuskripts*6, das damals nicht zur Veröffentlichung gekommen war. Den Inhalt bildet das Leben Georges a Greene mit seinen Streichen, seiner Liebe zu Beatrice und seinem berühmten Streit mit Robin Hood, der den eigentlichen, auch als Ballade behandelten Mittelpunkt der George a GreeneSage bildet, Alles eng hineinverwoben in die politischen Geschehnisse eines angeblichen Baronenaufstandjes gegen Richard Löwenherz (es ist in Wirklichkeit der Aufstand Johanns ohne Land gegen seinen Bruder). Das Historische wird ziemlich sorgfältig dargestellt, aber wenn es sich mit George a Greenes Erlebnissen berührt, löst es sich natürlich sofort in reine Fabuliererei auf; als Quelle werden „our English annals" und besonders „Gerald tlie Chronicler" (Giraldus Cambrensis) genannt. Was das Buch für uns interessant macht, ist einmal, daß es in der elisabethanischen Zeit trotz seiner engen Beziehungen zu dem pseudo-Greeneschen Drama „The Pindar of Wakefield" nicht in den Druck gelangte, jetzt aber 1715 in zweiter und dann vielleicht noch einmal in undatierter dritter Auflage47 erschien, obgleich es in antiquierter Sprache geschrieben war, und zweitens die Tatsache, daß es unter den verwandten Büchern der Wende zum 17. Jahrhundert zwar durch eben diesen veralteten Stil auffällt, aber nur wenig durch seine Form und gar nicht durch sein Verhältnis zur Geschichte, obgleich es doch in Wahrheit ein elisabethanisches Werk war. Lehrreich ist außerdem der Vergleich mit einer früheren, recht erfolgreichen Erzählung über dieselbe Gestalt48. Die früher erschienene Fassung beschränkt sich auf eine pikareske Darstellung von Streichen George a Greenes — es habe damals keinen Streich „worth a fiddlestick" in Wakefield gegeben, „if George a Greene had not a hand in it" — und von seinem Kampf mit Robin Hood, ohne jede historische Verbrämung. Ist es nicht vielleicht doch mehr als Zufall, daß demgegenüber gerade jetzt die ältere Fassung zu ihrem Recht kam? Sehr klar zeigt sich die Entwicklung, die inzwischen vor sich gegangen ist, wenn man den ziemlich spät verfaßten zweiten Teil des „King and Cobbler"49 mit der ursprünglichen Erzählung verPainter und Drayton stammende Verwechselung zwischen Eduard III. und dem Schwarzen Prinzen als Liebhaber der Gräfin Salisbury, die zwar oft angedeutet, aber nie sonst in einem Roman durchgeführt ist (cf. Liebau, Eduard III. und die Gräfin von Salisbury. Literarhistorische Forschungen XIII. Berlin 1900). 46 Das MS. befindet sich noch im Sion College, London. Der Text von 1706 ist bei Thorns, Early English Prose Romances, London s. a., gedruckt. 47 Jaggard, Shakespeare Bibliography, Stratford 1911, p. 306. " 1632, 1633, 1635 (?) und noch einmal gekürzt s. a. Genaue Inhaltsangabe bei F. W. Chandler, Literature of Roguery, London 1907, v. I, pp. 73 f. 49 „The Second Part of the History of the King and Cobbler". Aellestes erhaltenes Exemplar: Edinburgh 1733. Es muß aber schon eine frühere - 27 —

gleicht. Der frühere, erste Teil hatte einfach erzählt, wie der König in Verkleidung den lustigen Schuhmacher kennenlernt, sich beim Trunk mit ihm befreundet und ihn zum Hof kommen läßt, wie der Schuster sehr erschreckt ist, als er im König seinen Zechgenossen wiedererkennt, wie der König ihn zum Hof mann macht, und wie der Schuster durch dies Glück auch seine zänkische Frau zu zähmen vermag. Demgegenüber stellt der zweite Teil eine sehr ungeschickte Wiederholung des Inhalts und des ganzen Handlungsplans des ursprünglich in sich abgeschlossenen ersten Teiles dar, aber er bringt doch im Sinn der späteren Zeit ein neues Element: die Königin und Wolsey erscheinen, das Siegel des Königs spielt eine Rolle, wir erleben ausgeführte Szenen am Hof, kurz, eine Tendenz zu historisierender Ausmalung macht sich bemerkbar. Da das freilich nur eine weitere Verschlechterung neben vielen anderen bedeutete (auch die im ersten Teil so natürliche und selbstverständliche Verherrlichung des Handwerkerstandes wurde unschön übertrieben), rief es mit hervor, daß der zweite Teil sehr viel weniger Erfolg hatte als der erste. Rowes Tragödien „Jane Shore" (1714) und „Jane Grey" (1715). Banks' schon 1685 geschriebene, aber erst 1694, 1715, 1719 gedruckte „Lady Jane Grey" auch etwa noch Bancrofts (Mountfords?) „Fair Rosamond" (1693) wiesen in den zehner Jahren die chapbook-Literatur auf neue — im Grunde freilich alte elisabethanische — Themen hin, die sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Rowe gründete sein Drama auf die pseudo-Deloneysche Ballade „The Woeful Lamentation of Jane Shore, a Goldshmith's Wife in London, and sometime King Edward IV. his Concubine"50; das erweist sich daraus, daß in der Ballade und der Tragödie viel gemeinsames Material zu finden ist, das den zahlreichen sonstigen älteren Behandlungen des Gegenstandes fehlt61. Der stoffliche Ursprung des Stückes ist also nicht literarischer, sondern durchaus volkstümlicher Art. Es rief sofort vier verschiedene chapbookLondoner Ausgabe gegeben haben, wenigstens muß London der Entstehungsort gewesen sein, da ohne weitere Erläuterungen auf einen „Cobbler's Acre" südlich vom Strand Bezug genommen wird. 60 Die bei A. Jackson, „Rowe's Historical Tragedies'", Anglia LIV, p. 314, n. 2, zitierte Quellenangabe ist falsch. Die dort gemeinte Romansammlung kann nur die von Croxall (cf. infra pp. 40 ff.) sein, in der die Geschichte von Jane Shore erst 1729 erschien. 51 In der elisabethanischen Literatur wurde Jane Shores Leben mindestens achtmal behandelt: 1. Thomas Churchyard, The Complaint of Shore's W i f e . . . in: Baldwin, Mirror for Magistrates, newly corrected, 1571; 2. Anthony Chute, Beauty Dishonoured, 1593; 3. Kyd (?) und Peele (?), Richard III., 1594 (cf. Jackson, 1. c., p. 313); 4. Drayton, England's Heroical Epistles: Edward IV. to Jane Shore, and Jane Shore to Edward IV., 1597; 5. History of the Life of Jane Shore (nicht erhaltenes Drama) 1599; 6. Hey—

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artige Erzählungen über Jane Shore auf den Plan. Eine, „Memoirs of the Lives of King Edward and Jane Shore. Extracted from the Best Historians", ist eine sehr fleißige fortlaufende Zusammenstellung des historischen Materials, die sich auf More, Hall, Stow, Speed stützt. Die durchgehende Tendenz ist, Jane Shore zu verteidigen; der Verfasser glaubt, daß genaue Beschäftigung mit den Quellen nur Gutes über sie zu Tage bringen kann. Die zweite Erzählung ist „The Whole Life and Character of Jane Shore. Being an Account of her Birth, Parentage, Education, Conversation, Marriage, Rise, Amours with King Edward IV., Disgrace, and Penance at St. Paul's Cathedral, and her Miserable Fall and Death. Set forth from the Best of Historians, especially the Famous Sir Thomas More". Im Gegensatz zur vorigen legt diese Fassung kaum Wert auf die historische Wahrheit, fabuliert vielmehr sogar oft frei darauf los. Was sie versucht, und was ihr gelingt, ist, einen lebendigen kleinen historisierenden Roman zu schreiben, der oft auffällig an die erotischen Romane der höheren Literatur erinnert und sicher zum Teil an ihnen geschult ist. Die Quellen sind More und die Ballade. Noch im selben Jahr wurde diese Erzählung einer anderen von einem anderen Verfasser zu Grunde gelegt: „The Life and Character of Jane Shore. Collected from our Best Historians, chiefly from Sir Thomas More, who was her Contemporary, and personally knew her". Auf weite Strecken folgt diese Fassung dem „Whole Life and Character" wörtlich, dazwischen finden sich aber einige längere Einschiebungen, häufig moralisierender Art, aber fast noch mehr Darstellungen des historischen Hintergrundes, wie sie in der Vorlage etwas zu kurz gekommen waren. Aber diese Neuerzählung verliert auf die Weise gleichzeitig die Einheitlichkeit, die das wirklich hübsche „Whole Life and Character" besessen hatte. Die vierte Erzählung des Stoffs ist sehr minderwertig: „The Life and Death of Jane Shore; Containing the Whole Account of her Amorous Intrigues with King Edward IV. and the Lord Hastings; her Penitence, Punishment, and Poverty. To which are added Other Amours of that King and his Courtiers with Several Ancient Love Poems, Written by the Wits of those Times. Also an Heroical Epistle from King Edward to Jane Shore, with her Answer52". Genau wie der vielversprechend-ziellose Titel ist das Buch selbst, bald übermäßig eingehend, bald summarisch, voll von Abweichungen, von jeder Laune getrieben zu Angriffen gegen andere Dichter, Zeitsatire oder Ausfällen gegen zeitgenössische Erziewood, Edward IV., 1599; 7. Deloney, A New S o n n e t . . . in: A Garland of Good Will (I, 2), ca. 1595; 8. A Woeful L a m e n t a t i o n . . . (die oben erwähnte Ballade), ca. 1603. Der Stoff erhielt sich in den beiden letztgenannten Balladen, aus denen er um 1700 wieder aufgenommen wurde. 62 Nach Drayton. — 29 —

hungsmethoden; es ist weder ein geschichtlicher Bericht noch ein Roman und besitzt nur den einen Vorzug einer gewissen kritischen Haltung gegenüber den Quellen, dank der z. B. die Ballade abgelehnt wird. Von den vier Erzählungen hatte nur die dritte, „Life and Character of Jane Shore", bleibende Wirkung. Sie liegt sowohl der späteren Fassung der Geschichte in Croxalls „Select Novels"53 wie der Nacherzählung von 1717 zu Grunde, die sich für längere Zeit durchsetzte: „The Unfortunate Concubines: The History of Fair Rosamond, Mistress to Henry the Second; and Jane Shore, Concubine to Edward IV., Kings of England. Showing how they came to be so. With their Lives, Remarkable Actions, and Unhappy Ends. Extracted from Eminent Records, and the Whole illustrated with Cuts Suitable to each Subject". Die in dieser Doppelerzählung gegebene Fassung der Jane Shore-Geschichte lehnt sich inhaltlich ganz und gar, stellenweise sogar wörtlich, an „The Life and Character" an. Die moralisierenden und historisierenden Abschweifungen der Vorlage werden zwar gekürzt, aber dafür wird die ganze Darstellung breiter, bis zu wörtlicher Wiedergabe der Gespräche. Als Neuerung kommt außerdem ein häufiges, sehr häßliches Uebergehen in „Verse" dazu. Ueberhaupt muß man von diesem Text sagen, daß jetzt auch die Prosaerzählung von Jane Shore zum Lesestoff der Kreise hinabgesunken ist, denen die Ballade gehörte oder die den „King and Cobbler" lasen, und dementsprechend ist die ganze Art der Darstellung. Ja, es entwickelt sich sogar dasselbe biedere Verhältnis zwischen dem König und den Bürgern wie es aus der Schuhmachergeschichte bekannt ist. Auf folgende Weise lernt der König Jane Shore kennen gelegentlich eines Besuchs, den er verkleidet bei ihrem Mann macht: „The King no sooner saw the object of his heart's desire, but he stepped forth and saluted her soft coral lips, impressing on them many balmy kisses; and so by her husband's desire she sat down, and the King drank to her, she pledged him, and passed it to her husband; and much pleasant discourse passed, by which the King perceived her not only of a merry, free temper, but also exceeding witty, which delighted him as much as her beauty and made him resolve at any way he would enjoy her"54. In der Einleitung wird dieser bürgerlichen Haltung entsprechend darauf hingewiesen, daß Jane Shore als Mätresse so ganz anders geblieben sei wie etwa die vornehmen Geliebten Karls II.; am Hofe Karls habe auch nur Neil Gwyn ihre Menschlichkeit bewahrt, und die sei eben auch die einzige Mätresse des Königs von niedriger Abkunft gewesen. — Die „Unfortunate Concubines" sind der eigentliche Ausgangspunkt der um die Jahrhundertmitte einsetzenden großen 53 54

cf. infra pp. 40 ff. p. 97. — 30 —

Entwicklung der chapbooks über Jane Shore; sie wurden 1748, 1753, 1770 und 1825 nachgedruckt, wenn nicht noch bedeutend öfter. 1750 wurde der Jane Shore-Teil danach neu nacherzählt, eine wenn auch grobe so doch lesbare Fassung, die vor Allem die Gedichte beseitigte: „The Life and Death of Mrs. Jane Shore"; viele Nachdrucke bis 1804 sind erhalten. Auf dies chapbook und auf die „Unfortunate Concubines" stützt sich endlich eine weitere Nacherzählung: „The History of Jane Shore, Concubine to Edward IV." (1785), und von da ab verzweigt sich dann die Entwicklung zu den zahllosen Nachdrucken und Nacherzählungen des 19. Jahrhunderts. Der Fair Rosamond-Stoff 55 besaß dank der beiden Balladen „A Mournful Ditty on the Death of Rosamond" (von Deloney) und „The Unfortunate Concubine; or, Rosamond's Overthrow" ebenso große Popularität wie die Geschichte von Jane Shore; er hatte schon früh eine Prosabearbeitung in einem Blackletterdruck gefunden 56 , und um die Jahrhundertwende ging auch er in die dramatische Literatur ein: die schon erwähnte Tragödie von Bancroft (oder Mountford) und Addisons sehr mäßiger Operntext (1707), der die Ueberlieferung freilich völlig verändert. In den „Unfortunate Concubines" geschah dann die naheliegende Vereinigung der beiden Geschichten, nur daß die Rosamondsage dort doch ein wenig besser erzählt wird als das Leben Jane Shores. 1740 setzte schließlich, von den „Unfortunate Concubines" ausgehend, die der Entwicklung des Jane Shore-chapbooks entsprechende vielfache Nacherzählung des Stoffes ein, die zu wohl gleich großem Erfolg führte. Lady Jane Grey57, deren Leben von Banks und Rowe dramatisiert wurde, fand 1714 eine Darstellung ihres „Life, Character, and Death", angeregt durch Youngs „Force of Religion", zu dem das Buch als historische Grundlegung und Ergänzung gedacht war. 1729 nahm Croxall auch diesen Stoff in seine Sammlung auf. Zum eigentlichen chapbook wurde die Geschichte aber erst später, gegen das Jahrhundertende. Den hier verfolgten Entwicklungen ist gemeinsam, daß um die Wende zum 18. Jahrhundert die bis dahin mündlich oder in Form von broad «heet-Balladen weitergegebenen Ueberlieferun55 Elisabethanische Behandlungen der Rosamondsage finden sich außer in den beiden Balladen in Warners Albion's England (1586), Daniels Complaint of Rosamond (1592) und Draytons Heroical Epistles (1597). 56 cf. infra p. 23. 67 Während der elisatbethanischen und nachelisabethanischen Zeit fand Jane Grey nur in geringem Maß Darstellung in der schönen Literatur: The Lamentation of Lady Jane G r e y . . . (1561); ein ungedrucktes Drama von Chettle, Heywood, Dekker und Webster (Biogr. Dram, nach Jackson, I. c., p. 323, n. 7); und allenfalls noch: The Life, Death, and Actions of Lady Jane Grey (1615 u. 1636).

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gen in Form von Prosaerzählungen niedergeschrieben wurden, teilweise erst durch vorhergehende dichterische, vor Allem dramatische Bearbeitungen angeregt. Weitere Stoffe kamen hinzu; so wurde etwa die „Chevy-Chase"-Ballade ca. 1700 in Prosa wiedergegeben58. Da der „Elizabeth and Essex"-Roman ebenfalls zum Volksbuch absank, blieb auch Essex als Held sowohl von Balladen wie einer Prosaerzählung populär. Fast alle diese Themen erhielten sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, vor Allem natürlich „Jane Shore" und „Fair Rosamond", dazu von den früher betrachteten „King and Cobbler" und „Whittington"; sie wurden gleichsam zu Kristallisationspunkten der so starken historisierenden chapbook-Literatur der späteren Zeit, und zugleich blieben sie die einzigen Reste der vergeblichen Versuche der Wende zum 18. Jahrhundert, einen nationalen historisierenden Roman zu schaffen. Noch größer ist ihre Bedeutung dadurch, daß sie in gewissem Sinn den Boden für die in den zwanziger Jahren vorübergehend einsetzende Entwicklung höherstehender historisierender Romane vorbereiteten. Aus dem Durchschnitt wertloser oder geringwertiger Bücher, die die große Zahl der historisierenden Romane in dieser Zeit ausmachen, erhebt sich nämlich wenigstens eine Dreizahl bedeutender Leistungen, von denen eine sogar fast zu den besten Werken der englischen Literatur gehört: Defoes „Journal of the Plague Year", daneben seine Bearbeitung von Captain Carle tons „Memoirs" und die „Memoirs of a Cavalier". Außerdem enthält auch noch sein „Colonel Jack" ziemlich umfangreiche historisierende Stellen. Die „Memoirs of a Cavalier; or, A Military Journal of the Wars in Germany, and the Wars in England, from the Year 1632 to the Year 1648"59 schildert die Erlebnisse eines jungen Edelmanns, der auf seinem grand tour durch Europa in den Dreißigjährigen Krieg hineingerissen wird; er dient unter Gustav Adolph, nach dessen Tod er zu einer Art Berater Horns und des Herzogs von Sachsen-Weimar wird. Da aber seine Ratschläge nur wenig beachtet werden, geht er nach England zurück, wo er bald auf royalistischer Seite an den Bürgerkriegen teilnimmt und fast bis zu Ende in ihnen mitkämpft. Diese romanhafte Handlung ist aber nur der Faden, der die in Wahrheit den Hauptinhalt des Buches ausmachenden Schilderungen der politischen und militärischen Ereignisse zusammenhält und ihnen eine gewisse Rechtfertigung gibt. Abgesehen von dem Anfang, der den grand tour erzählt, ist das Buch eine eingehende Darstellung der beiden Kriege, wie sie einem einzelnen Teilnehmer erscheinen mußten, 68 „The Famous and Renowned History of the Memorable but Unhappy Hunting on Chevy-Chase", London s. a. 69 1720, 1740, 1782, 1784, 1792 etc.

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der freilich sehr um Objektivität bemüht ist und ein besonderes Interesse für Strategisches und Politisches hat. Dennoch gelangt der Roman nie dahin, eine einfache, nüchterne Darstellung des Historischen zu werden, sondern ununterbrochen erinnern persönliche Reflexionen, Subjektivitäten bzw. b e w u ß t e Bemühungen um Objektivität daran, daß die Grundgestalt des Buches die von fiktiven Memoiren 80 ist, und vor Allem lassen die auf diese Weise auch in den historisierenden Roman eingeführte Ich-Form der Erzählung und die zahlreichen pikaresken Stellen 61 die Verwandtschaft mit Defoes reinen rogue stories nie vergessen. Direkt unter die Abenteuerromane des Dichters tritt das Buch aber an den Stellen, wo nicht mehr die Kriege im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern der in den Kriegen sich bewährende Kavalier. In solchen Abschnitten ersetzt dann das historische Geschehen ganz die Aufgabe des Exotischen etc. in den übrigen Romanen: es bildet den Anlaß zu den Abenteuern, durch die sich hier wie dort der Held durchschlagen muß. Das „Journal of the Plague Year" 62 verbindet in ähnlicher Weise eine Darstellung Londons während der großen Pest 1665 mit einem Bericht über die Erlebnisse eines einzelnen Menschen in jener Zeit. Wieder ist es einerseits eine sachliche Darstellung der tatsächlichen Lage im heimgesuchten London, die sich nicht genug tun kann an Zusammenstellungen, statistischen Berechnungen etc., und andererseits ein pikaresker Ichroman mit einer Fülle von Anekdoten und Erlebnissen. Im Gegensatz zu den „Memoirs of a Cavalier" sind hier aber beide Elemente völlig miteinander verschmolzen, und ihre Gegenüberstellung ist in diesem Fall nur das Ergebnis nachträglicher Analyse. Das sachlichnüchtern dargestellte London während der Pest bildet den Hinlergrund für die Erlebnisse des Sattlers aus Whitechapel, der die Geschichte erzählt, aber die Art der Darstellung ergibt sich ganz natürlich aus seinem nüchternen Temperament, und was er erlebt, sind nicht persönliche, sondern typische Erfahrungen, sodaß jede Zeile des Buches zum Gesamtbild der von der Pest ge60 Diese Form historisierender fiktiver Memoiren wird Defoe tatsächlich aus Sandras de Courtilz' „Mémoires d'Artagnan' '(1700) übernommen haben. Ich glaube aber im Folgenden nachweisen zu können, daß Defoe in seinen historisierenden Romanen vor Allem eine englische Tradition fortführt, sodaß die Bedeutung Sandras' für ihn nur die einer Förderung schon vorhandener Tendenzen und der Darreichung einer geeigneteren literarischen Form gewesen ist als die chapbooks sie zu bieten vermochten. Das gilt auch für „Captain Carleton" und „Colonel Jack", während dem „Journal of the Plague Year" das weitere Verdienst bleibt, diese Form in der allerzweckentsprechendsten Art nochmals umgestaltet zu haben. 61 Defoe, Novels and Miscellaneous Works (Bohn's Library), London s. a., v. II, pp. 6 f., 9 f., 24 f., 54 f. u. ö„ 144 ff., 178 ff. u. ö. 82 1722, 1754, 1769 etc.

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quälten Stadt beiträgt. Die beiden Elemente sind so völlig vereinigt, daß sie aus e i n e r gemeinsamen Quelle zu fließen scheinen. Wenn etwa die folgende lebendige Anekdote plötzlich ins Sachlich-Interessierte umgebogen wird, ohne daß man das Empfinden einer Brechung hat, dann zeigt auch solch ein Beispiel des Kleinsten, wie einheitlich das Buch ist: (eine Frau wird auf der Straße von einem Pestkranken überfallen und geküßt) „ . . . she was frightened enough before, being also young with child; but when she heard him say he had the plague, she screamed out and fell down in a swoon, or in a fit, which though she recovered a little, yet killed her in a very few days, and I never heard whether she had the plague or no"03. Diese innere Einheitlichkeit des Buches ist einer der Gründe, warum es einen so hohen Rang innehat. Das dritte Buch, die „Memoirs of an English Officer, who served in the Dutch War in 1672, to the Peace of Utrecht, in 1713. By Captain George Carleton"94, erzählt zunächst in ziemlich langweiligem Bericht Einiges vom Holländischen Krieg bis zum Frieden von Rijswick; der zweite Teil berichtet in viel interessanterer Weise über den Erbfolgekrieg der Engländer und Franzosen in Spanien; und der dritte hat die Kriegsgefangenschaft und die späteren spanischen Reiseerlebnisse des Verfassers zum Gegenstand. In diesem als Ganzes genommen recht primitiven, in Einzelheiten aber sehr schönen Buch vertragen sich die beiden Elemente des Romanhaften und des historischen Berichts so, daß wir im ersten Teil eine fast ausschließliche Beschränkung aufs Historische, im zweiten dasselbe Verhältnis wie in den „Memoirs of a Cavalier", im dritten aber einen reinen pikaresken Reisebericht haben ähnlich etwa dem „New Voyage round the World". „Colonel Jack"65 hat einen Untertitel, der einen weiteren historisierenden Roman zu versprechen scheint: who went into the Wars, behaved bravely, got Preferment, was made Colonel of a Regiment, came over, and fled with the Chevalier, is still abroad completing a Life of Wonders, and resolves to die a General". Aber wie so oft hielt sich Defoe nicht an den wohl im Voraus entworfenen Titel und bringt nur einige wenige historische Szenen. Jack erzählt uns nur unter den vielen Ereignissen seines Lebens auch die, daß er als Soldat in einem 1701—02 in Norditalien gegen Prinz Eugen kämpfenden irisch-französischen Regiment gedient, und daß er dann an einer nicht zu Ende geführten Landungsexpedition des Prätendenten Jakob III. nach Schottland teilgenommen hat. Als Ersatz für die vielen nicht erfüllten Hoffnungen, die der Titel macht, wird Jack dann gegen Ende •* 1. c., v. V, p. 127. •* 1728 (zweimal), 1741, 1743. es 1723 (zweimal), 1724, 1738, 1739 etc. — 34 —

des Buches noch einmal kurz mit dem jakobitischen Heer zur Zeit der Schlacht bei Preston in Berührung gebracht. Defoe war ein Autor, dessen Werke ganz zur volkstümlichen Literatur gehörten; er war ein Schriftsteller fürs Volk, der entsprechend dem Geschmack der breitesten Leserkreise des mittleren und unteren Bürgerstandes schrieb; aber er war vor Allem auch ein Schriftsteller a u s dem Volk, der in engstem Kontakt mit dem Geist des Volks lebte und aus ihm heraus sein Werk schuf. Dieser Tatsache entsprechend sind seine schriftstellerische Art und die literarische Tradition, an die er anknüpft, volkstümlich, und scheint er auch auf den ersten Blick merkwürdig isoliert dazustehen, so hat er doch in Wahrheit seinen Platz mitten in der vielfältigen Volksliteratur, über die er sich nur durch die Größe seiner Leistung, nicht durch die Art seiner geistigen Haltung erhebt. Im Zusammenhang dieser Arbeit braucht nur untersucht werden, wie sich das auch im historisierenden Element seiner Romane zeigt, und zwar sowohl in der Art und Weise, wie er Historisches darstellt, als auch in der Inspiration, die ihn zur Einführung des Historischen in seine Romane veranlaßt. Defoes Art der Wiedergabe des historischen Materials ist die der scheinbar größten Akribie. Er greift zurück auf die Quellen, deren für manche seiner Romane ganz überraschend lange Reihen zusammengestellt sind06, die er aber doch auch wieder mit jenem zu erwartenden halben Ernst, dem es auf ein paar Ungenauig• 6 Memoirs of a Cavalier: de Bürge, De Bello Suecico Gustavi Adolphi (oder ein ähnliches Buch); The Swedish Intelligencer, 1634 ff.; Spanheim, Le Soldat Suédois, Genf 1633; Fowler, History of the Troubles of Suethland and Poland, 1656; Puffendorf, Commentarium de rebus suecibus, Utrecht 1686, 1705 u. ö.; Clarendon; Memoirs of Ludlow, 1698; Whiteloclie, Memoirs of the Affairs of England from the Beginnings of the Reign of Charles I. to the Happy Restoration of Charles II., 1682; Rapin; Sprigge, Anglia Rediviva, 1647. Journal of the Plague Year: Hodges, Loimologia, 1672 (latein., übersetzt 1720); Mead, Short Discourse on Pestilential Infection, 1720; Graunt, Reflections on the Weekly Bills, 1665; Collection of very Rare and Valuable Pieces on the Last Pest of 1665 (ed. Roberts); viele kleinere Pamphlete. Watson Nicholson, der den Zusammenhang des „Journal" mit diesen Quellen entdeckt hat, gibt in seinen „Historical Sources of Defoe's Journal of the Plague Year" eine große Zusammenstellung und Proben der alten Texte, die Defoe vorgelegen haben, er zieht dann aber in seiner ersten Entdeckerfreude viel zu weitgehende und unhaltbare Folgerungen aus den von ihm neugefundenen Tatsachen. Captain Carleton: Außer Carletons Kriegstagebuch noch: Freind, The Earl of Peterborough's Conduct in Spain, 1706; ders., The Campaign of Valencia, 1707; Sir William Temple, Memoirs; Relation de Voyage d'Espagne, Paris 1699; Basuage, Annales des Provinces Unies, Haag 1719; Auvergne, Histoire de la Dernière Guerre dans les Pays-Bas espagnols; Sir George Rooke, Voyage to the Mediterranean, 1704. — 35 —

keiten nicht ankommt, behandelt. Doch liegt ihm sicher im Grunde an genauer Erkenntnis, wie die Dinge in Wirklichkeit waren, nur fehlt das letzte wissenschaftliche Verantwortungsbewußtsein. Für seine Bearbeitung von Carletons Erinnerungen hat er sich noch aus vielen anderen Büchern Rat geholt, um auch die geschichtlichen Teile durchsehen zu können. ( E s ist also nicht so, wie gelegentlich angenommen wird, daß das Historische in diesem Roman aus dem die Vorlage bildenden Tagebuch und nur das Romanhafte von Defoe stammt; Defoe hat vielmehr das Tagebuch zu einem Roman umgearbeitet, der ganz der Art seiner übrigen Erzählungen entspricht). (Erst nach Abschluß meiner Arbeit kommt mir A. W . Secord, „Studies in the Narrative Method of Defoe" (University of Illinois Studies in Language and Literature, vol. IX, 1; Urbana-Illinois 1924) in die Hand. Meine Feststellung — Einheitlichkeit des Verhältnisses zum Historischen im ganzen „Captain Carleton" und in allen Romanen Defoes, „Captain Carleton"eingeschlossen — bestätigt Secords Ergebnisse. Ueber die in meinem Text angenommene Entstehungsgeschichte des „Captain Carleton" hinaus beweist Secord wohl endgültig auch noch, daß von Carleton selbst höchstens ein noch unsubstantiellerer Bericht als ein wirkliches Tagebuch zu Defoe gekommen sein kann. Auf Grund der Kriterien, die ich übersehen kann, bin ich fest überzeugt, daß „Captain Carleton" ein einheitliches und in allem Wesentlichen von Defoe allein stammendes Buch ist. — Uebrigens weist Secord auch noch mehrere weitere wichtige Quellen zum „Captain Carleton" nach — außer den oben zusammengestellten.) Die Schilderung des Historischen erfolgt ganz unabhängig von der wirklich erreichten oder der vorgegebenen Genauigkeit mit der größten Kühle, Sachlichkeit und Nüchternheit. E s ist also bei Defoe die Behandlung des Historischen dieselbe, wie sie schon vorher in der Volksliteratur üblich war. E s ist dieselbe Art wie bei Crouch, in manchen der Jane Shore-chapbooks und vor allem im „Black Prince", an den Defoe am meisten erinnert; ja, bis zu den historisierenden Stellen im „English Rogue" kann man zurückdenken, um Parallelen zu finden. (Im „English Rogue" 67 hatte Defoe auch schon ein Vorbild, wie er die Buntheit des pikaresken Romans durch historisierende Szenen noch erhöhen konnte, so wie er es im „Colonel Jack" versuchte.) Aber noch mehr als in der Behandlung des historischen Materials steht Defoe durch die Inspiration, die ihn zur Beschäftigung mit Historischem veranlaßte, als wirklicher Schriftsteller des Volkes da. Die Grundtendenz fast aller historisierenden Romane seit Boyle war ja die Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Landes gewesen, und vor Allem in der Volksliteratur hatte sich das als sehr fruchtbar erwiesen. Defoe ist der Erbe dieser Ueber•7 6. Auflage 1701, 7. Auflage 1723.

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lieferung, und bei ihm erreicht sie ihren wertvollsten künstlerischen Ausdruck. Sogar für den scheinbar dem Interesse an der Geschichte des eigenen Landes fernsten Teil seiner historisierenden Darstellungen, für die Schilderung des Dreißigjährigen Krieges in den „Memoirs of a Cavalier", ist das nationale Interesse der ursprünglich treibende Faktor gewesen. Seine Entstehungsgeschichte war nämlich die folgende: 1714 hatte Defoe ein Pamphlet verfaßt, „The Scots Nation and Union Vindicated from the Reflections Cast on them in an Infamous Libel Entitled, The Public Spirit of the Whigs" 68 , in dem er zwei nach seiner von Dottin80 als richtig angenommenen Erklärung aus einem alten Manuskript stammende Listen der schottischen Offiziere und Colonels veröffentlichte, die unter Gustav Adolph gedient hatten. Schon damals scheint er sich dann an eine eingehende Darstellung gemacht zu haben, die etwa die „Geschichte der schottischen Brigade im Dienst Gustav Adolphs" behandeln sollte, denn ein fortlaufendes Interesse für den Gegenstand bezeugen die Bezugnahme auf Gustav Adolphs Taktik in den „Memoirs of the Church of Scotland" von 1717 und auf die Plünderung von Magdeburg in den „Further Adventures of Robinson" von 1719. Dieses Buch muß Defoe dann in die „Memoirs of a Cavalier" aufgenommen haben. Aber gleichgültig, oh diese Zwischenstufe wirklich bestanden hat oder nicht, auf jeden Fall ist der Zusammenhang zwischen den Listen des Pamphlets und dem endgültigen Roman durch die Wiederverwendung der dort aufgeführten Namen sicher. Doch mit diesen Feststellungen ist ja zunächst nur erwiesen, daß der A u s g a n g s p u n k t der Beschäftigung mit dem Gegenstand das Interesse an Ereignissen der Vergangenheit des eigenen Landes ist; aber auch was die uns vorliegende endgültige Romanfassung betrifft, ist dort der Gedanke der Darstellung des Dreißigjährigen Krieges von der englisch-schottischen Teilnahme an ihm ausgegangen, und zu diesem Punkt kehrt deshalb das Interesse immer wieder zurück. Aber die Möglichkeit, nur von dieser e i n e n Verbindung der Interesse für eine ausgebreitete Schilderung eines kontinentalen Krieges zu gewinnen, ist doch zu gering; deshalb tritt das Historische hier besonders häufig in die Funktion zurück, nur den Hintergrund für die Erlebnisse des Kavaliers abzugeben, oder aber eine ganz rationalistische Vorliebe für das Politische, Strategische und Militärische an sich ist die Grundlage. Deutlich tritt dagegen das Interesse an der nationalen Geschichte wieder zutage, wenn Defoe im zweiten Teil des Buches den Parlamentskrieg schildert oder wenn er von Carletons Teilnahme am Spanischen Erbfolgekrieg berichtet. Den Höhepunkt stellt auch hier das „Journal of von Swift. Dottin, Defoe, p. 558 f., wo überhaupt die oben wiedergegebene Entstehungsgeschichte der „Memoirs of a Cavalier" genau dargestellt wird. 88

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the Plague Year" dar. E s wurde veranlaßt durch die Pest, die 1720 in Marseille ausbrach und deren Uebertragung nach London drohte; damals wandte sich das allgemeine Interesse der letzten großen Pest von 1665 zu, und dadurch sah Defoe sich zu einem Roman angetrieben, an dem es sicher nicht den geringsten Reiz ausmachte, daß er vergangene und doch schrecklich zeitgemäße Dinge aus den Straßen und Stadtteilen erzählen konnte, in denen er und seine Leser selbst lebten. Wenn Defoes Werk so auf denselben geistigen Grundlagen gewachsen ist wie die Volksliteratur und deren Ueberlieferung weiterführt, so erhebt es sich doch zugleich weit über sie und führt erst das in ihr vorhandene Material und ihre inneren Bestrebungen bis zum höchsten Punkt, den sie erreichen konnten. Alle früheren historisierenden Romane dieser Zeit hatten letzten Endes nur wegen ihres Gegenstandes und nur für einen bestimmlen Leserkreis Interesse. Der eine große Vorteil, den Defoe voraus hatte, war, daß er seine Stoffe nicht mehr in Form kleiner flüchtiger Erzählungen geben mußte, sondern daß ihm bereits die große dauerhafte Form des R o m a n s wieder zur Verfügung stand; dieser Unterschied ist zugleich wohl einer der Gründe, warum seine Beziehungen zur zeitgenössischen Volksliteratur so leicht übersehen werden. Darüber hinaus besteht aber Defoes eigenes Verdienst darin, daß dank seiner großen Kunst der Darstellung und der Menschenschilderung und dank seiner Sprachkunst wenigstens im „Journal of the Plague Year" ein Werk entstand, das nicht mehr bloß durch das begrenzte Interesse einer soziologisch beschränkten Leserschaft Existenzberechtigung hat. Die Statistiken über die Londoner Pest und die vielen Einzelschilderungen über das Unglücksjahr erregen noch heute und außerhalb des Londoner Bürgertums Teilnahme, weil sie uns eine notwendige Folie zum Charakter des Sattlers aus Whitechapel sind, ja weil wir uns beim Lesen so in den Sattler hineinleben, daß die Dinge, die ihn interessieren, unumgänglich auch uns interessieren müssen. Wäre das scheinbar trockene historische Zahlen- und Tatsachenmaterial nicht vorhanden, so wäre der Leser ebenso unbefriedigt wie der Sattler, wenn er es nicht hätte erzählen dürfen. Keiner der historisierenden Romane vor dem „Journal of the Plague Year" ist solch ein in sich ruhendes und abgeschlossenes Kunstwerk — nur Defoes beide andere einschlägige Romane streben demselben Ziel zu —, keiner sonst ist deshalb noch heute wirklich lebendig. Historische Romane im modernen Sinn konnten Defoes Bücher natürlich noch nicht sein. Nicht als ob das Herankommen an die Geschichte vom Interesse an der Vorgeschichte des eigenen Landes her unbedingt die Entstehung echter historischer Romane unmöglich machte — Scott hat sich in seinen ersten Romanen auf diesem Weg der Geschichte genähert. Aber Defoe konnte noch nicht die innere Andersartigkeit der anderen Zeiten erkennen, er konnte — 38 —

noch keine „historische Atmosphäre" entwickeln. Sein Dreißigjähriger Krieg gleicht seinem Spanischen Erbfolgekrieg, und wäre die Pest 1720 in London wirklich ausgebrochen, so hätte sich kein anderes Bild ergeben als das, welches Defoe von der großen Pest 1665 zeichnet (soweit nicht die wörtliche Uebernahme von Berichten aus jener Zeit ungewollt deren Geist mit in den Roman hineinbringt). Aber das hindert Defoe natürlich nicht, seine aus dem Geist seiner Gegenwart lebenden Romane mit den genauen Zahlen und Ereignissen einer bestimmten fremden Zeit zu überkleiden — daß da ein Gegensatz klafft, empfand er nicht und konnte er nicht empfinden, ehe die Romantik kam. Dottin, der von einer nicht ausreichenden Definition des historischen Romans ausgehend in Defoe den „créateur du roman historique" sieht, hat doch sehr deutlich die innere Gleichartigkeit von Defoes historisierenden und seinen in der Gegenwart spielenden Romanen erkannt und ausgesprochen: „Revêtez Defoe de peaux de chèvres et placezle dans une île déserte; vous aurez Robinson. Prenez Robinson et plongez-le successivement dans la guerre de Trente ans et dans la Guerre Civile: vous aurez le Cavalier... un Cavalier, qui ressemble étrangement à un puritain" 70 . „N'oublions jamais que s'il plaça les exploits de son héroïne (Moll Flanders) au milieu du dix-septième siècle, c'était pour dérouter les recherches gênantes; en réalité, il nous montre l'Angleterre telle qu'il l'avait sous les yeux, au moment où il rédigeait son livre" 71 . „Après avoir erré dans les bas-fonds de Londres avec Moll Flanders et le Colonel Jack, après avoir fréquenté les nobles et les cours avec Roxana, après avoir vécu en imagination pendant la Guerre Civile avec le Cavalier et pendant l'année de la Peste avec le sellier de Whitechapel, après avoir traversé les mers et les continents inconnues avec Robinson et le marchand londonien du Nouveau Voyage, ne vous semble-t-il pas, que votre compagnon est, au fond, toujours resté le même, si différents que pussent être ses coutûmes ou si divers que pût être son entourage?" 72 . Hatte Defoe unbewußt die volkstümliche Literatur zu höherer Bedeutung emporgehoben, so versuchte ganz kurz nach ihm Samuel Croxall bewußt etwas Aehnliches von ganz anderer Seite her; aber schon die Art, wie er die Aufgabe anfaßte, verurteilte ihn von Anfang an zum Scheitern. Was er versuchte, war einfach, eine gute romanhafte Nacherzählung volkstümlicher Stoffe zu liefern, wie der „Jane Shore", der „Fair Rosamond", des „Essex". Aber er kam nicht, wie Defoe, selbst aus dem Volk und der Volksliteratur und trug diese Stoffe nicht einfach mit sich durch seine künstlerischen Fähigkeiten zu größerer Bedeutung empor, sondern 1. c., p. 578. 1. c., p. 685. « 1. c„ p. 795.

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er neigte sich von der höheren zur niederen Literatur hinab und versuchte die Themen, die er dort fand, nun in den Formen wiederzugeben, die er von wertvolleren Romanen, von der romanhaften Geschichtsdarstellung etc. her kannte. Dieses bescheidene Ziel erreichte er, aber zu bleibenden Ergebnissen konnte er auf diese Weise natürlich nicht gelangen. Croxall, einer der frühesten Spenserschüler des 18. Jahrhunderts, dessen Bemühen nach eigener Aussage es war, gegenüber der nüchternen Kunst seiner Zeitgenossen „a whole piece of rich glowing scarlet"'3 abzusetzen, veröffentlichte 1720/21 ein „Select Collection of Novels", in der neue Uebersetzungen kurzer Romane und Novellen von Cervantes, Aleman, Macchiavelli, La Fayette, Scarron, Bremond etc. und auch Saint-Reals „Carlos" und „The Conspiracy of the Spaniards against the Republic of Venice" zusammengestellt waren. 1729 erschien eine Neuausgabe unter dem veränderten Titel „A Select Collection of Novels and Histories74", in der außer einigen Romanübersetzungen folgende Erzählungen neu hinzukamen: „The History and Fall of Lady Jane Grey", „The History of Jane Shore", „The Loves of Henry II. and Fair Rosamond", „The Unhappy Favourite; or, The Fall of Robert Earl of Essex", „Memoirs of the Imprisonment of Mary Queen of Scots", „Memoirs of a Most Remarkable Revolution in Naples". Von diesen Erzählungen hat die letzte nur das Interesse einer romanhaften Geschichtsdarstellung über einen besonders interessanten Stoff; es ist eine lebendige Nacherzählung des im gleichen Jahr erschienen wissenschaftlichen Buchs über Masaniello von F. Midon. Aber auch das Maria Stuart-Thema ist nicht volkstümlichen Ursprungs. Es stammt aus Frankreich75, wo unmittelbar nach dem Tode der Königin eine große Anzahl Gedichte auf sie erschienen. Von Frankreich verbreitete sich die entstehende Legende in alle möglichen Länder — nach England nicht mehr als etwa nach Spanien oder Italien — ohne sich irgendwo fest anzusiedeln. 1675 wurde sie von Boisguillebert als „Marie Stuart Reine d'Ecosse" in der zeitgemäßen, leicht romanhaften Form der Geschichtsdarstellung erzählt, und dies Buch wurde 1725 zweimal ins Englische übersetzt, als sich in Schottland ein auch durch zahlreiche andere Werke aufweisbares Interesse für die Königin gebildet hatte, einmal von Eliza Haywood: „Mary Stuart Queen of Scots: Being the Secret History of her Life, and the Real Causes of All her Misfortunes"76, und dann von James Freebairn, 73

Nach E. Gosse, Eighteenth Century Literature, London 1891, p. 139. Nach Angabe des Dictionary of National Biography, re-issue, v. V, p. 248, erschien 1765 noch eine dritte Ausgabe unter dem Titel „The Novelist". 75 cf. J. Scott, A Bibliography of the Works Relating to Mary Queen of Scots, 1544—1700. Edinburgh, Bibliographical Society, 1896. 78 Die Annahme von G. F. Whicher in seiner Haywood-Monographie 74

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eine ausgezeichnete, von schottischem Nationalgefühl getragene Arbeit mit großem wissenschaftlichem Apparat, ganz im Gegensatz zu dem literatenhaften Buch der Mrs. Haywood. Auf F r c e bairns W e r k stützt sich Croxalls Nacherzählung, streckenweise wörtlich, meistens aber freier und gekürzt, mit einer neuen, ziemlich flachen Einleitung. Man darf, wenn m a n diesen Roman mit den übrigen genannten bei Croxall zusammenhält, annehmen, daß a u c h er hier aus Interesse an romanhaften Themen aus der Geschichte Englands aufgenommen ist — die Herkunft des Stoffs ist aber nicht volkstümlicher Art. F ü r die übrigen vier Geschichten ist die Entstehungsgeschichte des Stoffs j a schon u n tersucht; die Fassungen Croxalls gehen jeweils auf eine geeignete frühere volkstümliche Fassung zurück: „ E s s e x " auf eine der späteren Auflagen des Romans von 1680, „ J a n e Shore" auf das „Life and Character" von 1714, „ J a n e Grey" auf die Erzählung desselben J a h r e s ; nur „ F a i r Rosamond" benutzt neben den „Unfortunate Concubines" auch die ursprünglichen Quellen, von denen Holinshed und Higden genannt werden. W a s die neuen Nacherzählungen auszeichnet, ist, daß sie aus ihren Themen zwar nicht sehr wertvolle, aber lesbare, in sich geschlossene Romane machen; m a n merkt in ihnen einen gewissen künstlerischen Willen. Besonders deutlich ist das an der „ J a n e Shore", wo die vielen m o ralischen und historischen Abschweifungen der Vorlage beseitigt oder wirklich in den Roman einbezogen weiden. Vor allem geht jetzt auch die bis dahin allzu moralisch-didaktische D a r stellung des späteren Lebens der Heldin in die Handlung auf, und so entsieht ein guter, schlichter Bericht vom Glück und Unglück der berühmten Konkubine. W a s Croxall weiter kennzeichnet, ist ein merkwüidiges Hin und Her zwischen rationalistischer ZerS' tziing der alten Geschichten und künstlerischir Lust zu fabulieren, die ihn immer wieder zu ihnen zurückführt. E r setzt uns genau auseinander, daß er weder an llosninouds Irrgarten noch an die Ringgeschichte glaubt, aber das hindert ihn nicht, daß er ho im Erzählen dann doch unversehens in diese Legenden wieder hiueingleitet. Den Angriffen gegen die alten Ueberüeferungen liegt abti stets wirkliches Interesse für die W a h r h e i t der Geschichte zugrunde — die Rosamonderzählung endet mit einer fast rein wissenschaftlichen Polemik gegen Plots „History of Oxfordshire" über die verschiedenen Ansichten betreffend Rosamonds Grab. Der Gegensatz zwischen den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in der „Rosamond" und der völligen E i n s c h m e l zung des von der Vorlage gebotenen historischen Materials in die Handlung in der „ J a n e Shore", ist so groß, daß m a n an mehrere Verfasser — etwa mehrere hack-writers i m Sold Croxalls — den(New York 1915), p. 97, die „Mary Stuart" sei ein eigenes Werk der Mrs. Haywood, ist also ein Irrtum.

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ken würde, hätte man nicht die erwähnten Zwischenstufen, in denen der Kampf der beiden Elemente ganz deutlich zu Tage tritt. Aber selbst wenn man verschiedene Autoren anzunehmen hätte, so bleibt doch das eine unbestreitbare Verdienst bei Croxall, nämlich versucht zu haben, die volkstümlichen Stoffe so zu behandeln, daß sie wenigstens äußerlich mit Romanen von Cervantes und Mme. de L a Fayette zusammen erscheinen konnten. Leistungen wie die Defoes und Experimente wie das von Croxall standen natürlich außerhalb der allgemeinen Entwicklung. Rund um sie blieb die Volksliteratur auf ihrem alten niedrigen Niveau. Sie hatte ja jetzt auch kaum noch eine andere Aufgabe als die der Erhaltung des vorhandenen Materials, nachdem alle Themen behandelt waren und nachdem scheinbar der große nationale Impuls, durch den sie geweckt war, nachgelassen hatte. Aber wenn auch die eigentlich schaffende Zeit vorbei war, so hatte der nationale historisierende Roman doch noch gelegentlich Nachläufer, von denen wenigstens zwei um ihrer Verfasser willen genannt werden müssen. 1731 veröffentlichte Swift die Erinnerungen des Kapitains John Creichton, in einer Form, die an Defoes „Captain Garleton" erinnert": „The Memoirs of Capt. John Creichton, from his Own Materials, drawn up and digestecl by Dean Swift" 78 . Die Entstehung des Buches ist eine rein zufällige gewesen; Swift wollte dem in Not geratenen Offizier, der unter Karl II., Jakob II. und Wilhelm III. in Schottland gedient hatte, helfen, indem er ihm durch die Veröffentlichung seiner Memoiren die Geldmittel für einen ruhigen Lebensabend beschaffte. Das Buch ist in dem gewandten, schlichten Stil geschrieben, über den Swift verfügt; es kann auch wenigstens teilweise durch wichtige oder spannende Mitteilungen die Teilnahme des Lesers wecken; aber literarhistorische Bedeutung hat es nicht, da es nur zu einem ganz zufälligen Zweck eine alte Form des historisierenden Romans wieder benutzt. Ganz ähnliches gilt von der historisierenden Episode in Fieldings lukianischem „Journey from this World to the Next" 7 9 . Nachdem die ins Elysium eingegangene Seele bereits die Ueberraschung erlebt hat, dort nicht nur Cromwell sondern sogar J u lian Apostata zu treffen, begegnet sie auch dem Geist Anne Boleyns und hört die Lebensgeschichte der unglücklichen Königin. Fieldings Zweck war in dieser Einzelerzählung wie in dem ganzen Buch, satirisch zu zeigen, wie alle überlieferten gemeingültigen Werte vor dem wirklich ins Innere schauenden Blick sich 7 7 Auf Grund dieser Aehnlichkeit ist der „Captain Carleton" auch vorübergehend fälschlich Swift zugesprochen worden (cf. Dottin, 1. c., p. 783). 7 8 Nachdruck Glasgow 1768, außerdem u. a. in Sheridans Ausgabe von Swifts Werken. 7 9 1743.

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umwerten: auch die verrufene Anne Boleyn ist in Wahrheit ein wertvoller Mensch und wird vom Höllenrichter der Aufnahme ins glückliche Jenseits würdig befunden. In diesem Sinn wird Anne Boleyns Geschichte erzählt. Aeußerlich benutzt Fielding dazu die Form der alten historisierenden erotischen Romane80, die er so nur noch einmal zum Leben weckt, um sie für andersartige Zwecke zu verwenden. Um die Jahrhundertmitte hatte sich dann sogar der Begriff des „historischen" Romans gänzlich aufgelöst. Wir haben einen interessanten Beleg dafür in der seltsamen Verwendung des Namens „Historical Novel" in einem 1757 erschienenen Pamphlet. Robert Nugent, der uneheliche Sohn von Lord Cläre, dem Freund Goldsmiths, beschrieb damals seine Leiden im Fleetgefängnis, wohin ihn sein Vater wegen seiner dauernden Schulden und Geldforderungen gebracht hatte, unter dem Titel: „The Oppressed Captive, Being an Historical Novel Deduced from the Distresses of Real Life"; darin erzählte er denselben Stoff wie in einer Art Anklageschrift gegen seinen Vater, die er 1755 veröffentlicht hatte, nur jetzt in romancehafter Verkleidung der Namen; für Nugent tritt hier Nugenius ein, für Cläre Cleora — das ist alle Begründung, die zu der Zeit noch nötig ist für den Namen „Historical Novel"! Die Bemühungen der Jahrhundertwende um den historisierenden Roman — sei es um die Nachahmung der französischen Vorbilder, sei es um volkstümliche Erzählungen aus der Geschichte Englands — waren völlig erschöpft, und ein ganz neuer Anfang war nötig. 80

Möglicherweise bestehen auch inhaltliche Beziehungen zu Crouchs „Unhappy Princesses". — Auch Henry Fieldings Schwester Sarah hat einen historisierenden Roman geschrieben: „The Lives of Cleopatra and Octavia" (London 1757; Neudruck London 1928). Doch ist dies Buch noch deutlicher als die Erzählung bei Henry Fielding aus den Traditionen der histoires secrètes hervorgegangen, die keine autochthone englische Romangattung waren und deshalb hier nur insoweit zur Diskussion stehen, wie sie auf die englischen nationalen historisierenden Romane Einfluß ausübten.

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II. 1762 erschien Thomas Lelands „Longsword, Earl of Salisbury. An Historical Romance"1, der erste „vorromantische" historisierende Roman, der wie es scheint gleich ziemlich erfolgreich war. Es ist wenigstens in diesem einen Fall nötig, die Inhaltsangabe etwas breiter auszuführen, um einen Einblick in den Stoff und die Handlung dieser Erzählung zu ermöglichen, die in Vielem auch für die folgenden Romane typisch ist. Randolph, ein cornwallisischer Ritter, der sich während der Regierung Heinrichs III. wegen seines Alters auf seine Güter zurückgezogen hat, findet am Strand des Meeres eine kleine Schar, die eben zu landen im Begriff ist. In ihrem Führer erkennt er William Longsword Earl of Salisbury, den er im Meere umgekommen glaubte. Longsword erzählt seine Abenteuer, von dem Augenblick an, wo sein Schiff durch einen Sturm von der, aus Frankreich zurückkehrenden Flotte getrennt und ans Festland zurückgetrieben wurde. Er geriet dort in Kampf mit französischen Rittern, die ihn aber, nachdem sie ihn besiegt hatten, vor seinem eigentlichen Gegner Malleon retteten, weil er ihren Führer Les Roches im Einzelkampf geschont hatte. Von einem Bauern, den Les Roches Longsword als Begleiter auf der Flucht mitgab, wurde er aber verraten; Malleon setzte ihn gefangen, wie er es auch, freilich wegen dessen zu großer persönlicher Macht ohne Erfolg, mit Les Roches versuchte; so konnte der Longsword im letzten Augenblick vor der Ermordung im Kerker retten. Beide neuen Freunde brachen dann nach langen Auseinandersetzungen mit Malleon, die fast in einem Zweikampf geendet wären, nach Les Roches' Schloß auf, mit ihnen ein französischer Offizier, der sich angeblich mit seinem Vorgesetzten überworfen hatte wegen dessen Tücke gegen Longsword. Auf dem endlich erreichten 1 2 vols. Ein Nachdruck erschien noch 1831. Der Roman wurde 1775 ins Deutsche übersetzt (nach Binkert, Historische Romane vor Scott, p. 40). Hall Harston schrieb 1765 eine oft aufgeführte und neugedruckte, aber nicht sehr wertvolle dramatische Bearbeitung, „The Countess of Salisbury". — Der Roman erschien ursprünglich anonym, wurde aber 1799 im „European Magazine and London Review", v. 36, p. 75, dem Historiker Dr. Thomas Leland zugeschrieben, anscheinend auf Grund einer mündlichen Tradition. In der Ausgabe 1831 findet sich die falsche, aber oft wiederholte Zuerteilung an John Leland D. D., die wohl auf ein Mißverstehen derselben Tradition zurückgeht.

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Schloß sah Longsword sich plötzlich von seinem Freund alleingelassen; so glaubte er den Einflüsterungen von Malleons Offizier und floh mit ihm zu Chauvigny, einem heimlichen Freund der Franzosen, dem er sich verräterisch ausgeliefert sah. Bei ihm fand er auch Jaqueline, Les Roches' Tochter, wie sie den schwer verwundeten Sohn seines Gegners pflegte. E h e Longsword sich alles erklären konnte, fand er sich wieder durch Les Roches befreit; der hatte nämlich insgeheim das Schloß verlassen, um Jaqueline zu retten, die von Chauvigny geraubt, aber mit seinem Sohn, den sie liebte, geflohen und aufs neue gefangen war. W i e Alle wieder auf Les Roches' Schloß waren, machte der Schloßherr sich zu neuem Kampf gegen Chauvigny bereit; man hörte noch einige Male von ihm, dann brach jede Verbindung mit ihm ab; Longsword suchte ihn lange vergebens, dann kehrte er nach England zurück, wohin er die als Mann verkleidete Jaqueline mitnahm. — Randolph muß demgegenüber dem auf ein glückliches Wiedersehen mit Ela, seiner Gattin, hoffenden Longsword berichten, daß auf seiner Burg jetzt ein Mann namens Raymond lebt, der sich mit der Erlaubnis Huberts, eines Günstlings des Königs, und des Königs selbst um die freilich standhaft gebliebene Gräfin bewirbt. Longsword bricht auf diese Nachricht hin sofort zum Hof auf, um sein Recht zu verlangen, aber es ist noch dringendere Hilfe nötig, als er ahnt. Raymond, größtenteils mit Hilfe eines Vertrauten namens Grey, quält E l a derart, daß sie einen Fluchtplan hegt, den sie nur deshalb nicht ausführt, weil sie von der angeblichen Untreue ihres, wie man sagt, mit einem fremden Mädchen aus einem Schloß in Frankreich entwichenen Mannes hört. Doch gibt sie wenigstens ihren Sohn fort ins benachbarte Kloster Sarum — aber dadurch wird alles nur schlimmer: in Sarum lebt als Mönch Reginhald, Greys Bruder, und durch dessen Vermittlung wird das Kind in die Hände eines Freundes von Raymond weitergegeben. Zugleich wird nun zur Ueberlistung der Gräfin geschritten: im Kloster wird die Totenmesse für Longsword gelesen, und Reginhald will bereits die ohnmächtige Gräfin mit Raymond trauen — da kommen Longswords Boten mit der Nachricht von seiner Landung. Longswurd erfährt auf dem Weg zum Hof, Ela habe inzwischen Raymond geheiratet, wie man es seinen nicht vor die Gräfin selbst vorgelassenen Boten auf Schloß Salisbury erzählt hat — vom König hört er dann wieder, so weit sei es noch nicht, aber der König habe wirklich Raymond als Bewerber zugelassen. Lungsw>rd zieht weiter zu seinem Schloß; unterwegs trifft er den jungen Chauvigny, Jaquelines Geliebten. Nach dessen Bericht ist Les Roches damals in die Hände seiner Gegner gefallen, aber nach dem bald erfolgten Tod des alten Chauvigny hat der junge ihn freigegeben und ist zusammen mit ihm nach England aufgebrochen. Unterwegs ist Les Roches jedoch von Seeräubern ge— 45 —

fangen genommen worden, und Chauvigny hat eben gerade vom König die Erlaubnis erwirkt, die Piraten zu verfolgen. Auf seinem weiteren Weg kommt Longsword in die Wohnung eines Untergebenen von Raymond. Man empfängt ihn scheinbar freundlich, aber Reginhald, der ihn dort erwartet hat, reicht ihm vergifteten Wein. Im Augenblick, wo Longsword das Glas ansetzt, stürzt der Mönch davon, um die frohe Botschaft von der Beseitigung des Grafen nach Salisbury zu bringen. Doch erfährt dort Ela durch ein belauschtes Gespräch Greys und Reginhalds Taten; so wird die Bewerbung Raymonds trotz Salisbury angeblichem Tod völlig aussichtslos. Aber Longsword ist gar nicht vergiftet — er hat den Wein in freudiger Bewegung verschüttet, wie plötzlich Les Roches auf ihn zutritt, der sich inzwischen von den Seeräubern losgekauft hat. Einige Tropfen Gift sind freilich doch an den Lippen haften geblieben und zeigen ihre Wirkung, so daß Huberts und Reginhalds Tücke offenbar wird. Longsword zieht nun endlich nach Salisbury. Dort ist Raymond völlig verzweifelt; er hat seinen Verderber Reginhald hängen lassen, und sich selbst stürzt er ins Schwert, wie er Salisbury nun doch nahen sieht. Grey hat die Herrschaft im Schloß, und er schwankt, ob er vorteilhafter den nur von wenigen Leuten begleiteten Longsword an Raymond verraten soll oder umgekehrt, da ist er auch schon übermannt und wird neben seinem Bruder gehenkt. Endlich sind Longsword und Ela wieder vereinigt, auch Jaqueline und der junge Chauvigny finden sich wieder und werden getraut. Auf eine Rache an Hubert verzichtet Longsword, weil der inzwischen bereits des Königs Gunst verloren hat. In seinen Grundlinien erinnert der Inhalt des „Longsword" auffällig an den der Odyssee vom neunten Gesang an: der Held, der sich fast am Ende seines mühseligen Nostos sieht, erzählt seinem Gastgeber seine Erlebnisse; ehe er wieder mit seiner treu ausharrenden Frau vereinigt ist, muß er sie von einem intriganten Freier und dessen Helfershelfern befreien. Trotzdem ist es nicht klar, ob Leland Homers Epos bewußt nachgezeichnet hat. Nirgends findet sich eine Wiederholung einzelner Motive2, und man kann die Art des „Longsword" völlig verstehen, wenn man verfolgt, wie Leland den von seiner Quelle gegebenen Stoff® mit der (vereinfachten und in gewissem Ausmaß veränderten) Technik der heroischen Romane im Geist der „Vorromantik" behandelt hat. 2 Longswords Abenteuer in Frankreich sind wie die des Odysseus in Gesang 9 ff. aufgebaut nach dem Plan des von vielen Erlebnissen erschwerten Nostos. Es bestehen aber keine darüber hinausgehenden Einzelheiten, die auf Homer hinweisen, und so muß man in dieser Partie des Buches besser das alte Reisemotiv der Fielding und Smollet wiederfinden. 3 cf. infra p. 52.

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Die Bedeutung der romans héroïques4 ist für Lelands Roman noch weit größer, als sie für Boyles „English Adventures" gewesen war, weil ihre Wirkung sich hier nicht nur auf einen Teil des Buches oder auf gewisse Elemente in ihm erstreckt. Vielmehr gründen sich in dem ganzen Werk alle großen Veränderungen, die es gegenüber seinen Vorgängern und Zeitgenossen, den Romanen Richardsons, Fieldings, Smollets und Goldsmiths, zeigt — man darf den „Longsword" mit diesen Büchern vergleichen, nicht wegen irgend eines künstlerischen Wertes, davon kann keine Rede sein, sondern wegen seiner literarhistorischen Stellung — auf die heroisch-galanten Romane5. Zunächst ist „Longsword" ein Roman, der k e i n e d i d a k t i s c h e n oder s a t i r i s c h e n Z w e c k e verfolgt, dem vielmehr die Erzählung interessanter Ereignisse, die ihre Wirkung in sich tragen, genügt. Leland geht darin sogar noch weiter als Walpole, sein etwas zögernder Nachfolger9. Er sagt im Vorwort über diese Frage: „It is generally expected that pieces of this kind should convey someone useful moral: which moral, not always perhaps, the most useful or refined, is made to float on the surface of the narrative; or is plucked up at proper intervals, and presented to the view of the reader, with great solemnity. But the author of these sheets has too high an opinion of the judgment and penetration of his readers to pursue this method. Although he cannot pretend to be very deep, yet he hopes he is clear. And if anything lies at bottom worth the picking up, it will be discovered without his direction." Die Abwendung von der direkten Zweckbestimmtheit der Kunst vollzog sich zwar schon vorher vor Allem im Abenteuerroman und bei Sterne, aber die Verbindung des Künstlerischen als Selbstzweck mit dem P a t h e t i s c h e n, dessen Wiedereinführung die zweite große Neuerung Lelands war, ist ohne Vorbild im vorausgehenden englischen Roman, der entweder mit Richardson pathetisch, aber auch didaktisch war, oder mit Fielding humoristisch, wenn auch eher zur rein ästhetischen Auffassung neigend. Das Vorbild für eine Vereinigung beider Elemente, des Pathetischen und der Kunst ohne unmittelbare Zweckbestimmung, fand Leland in den pathetischen heroischen Romanen, die zwar einen bestimmten vorbildlichen Menschentyp dargestellt hatten, die aber doch nie direkt belehrend oder warnend hatten erziehen wollen. Und wenn schließlich Leland seinen „Longsword" 4 Die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nach England herübergekommenen französischen heroischen Romane erhielten sich in abnehmendem Maß als Lesestoff fast ein Jahrhundert lang, vereinzelt sind Spuren ihrer Wirkung sogar bis zur Wende zum 19. Jahrhundert nachweisbar, cf. infra pp. 102 ff. 5 Zum Folgenden ist die Untersuchung über Walpoles literarhistorische Stellung in Dibelius' „Englischer Romankunst", die sehr ähnliche Resultate hat, zu vergleichen. 6 cf. Vorwort zur Erstauflage des „Castle of Otranto".

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als h i s t o r i s i e r e n d e n Roman im Gegensatz zu allen großen Romanen seiner Zeit, die stets in der Gegenwart ihrer Verfasser spielen, in das dreizehnte Jahrhundert zurückverlegt, so schließt er sich auch darin, wie eine eingehende Analyse des historischen Elements in dem Buch noch zeigen wird, an die heroischen Romane an, nicht etwa an jene inzwischen vergessenen Romane aus der englischen Vergangenheit, die um die Jahrhundertwende geschrieben waren. Aber Leland nimmt so nicht nur in den großen grundlegenden Einstellungen die geistige Art der heroisch-galanten Romane wieder auf, sondern er hat von ihnen auch den größten Teil seiner Technik gelernt. Als durchgehendes Konstruktionsmotiv behält er wenigstens im Hintergrund das heroische Thema der treuen Liebe bei, die den Helden zum Teil seine Abenteuer und vor Allem die Heldin alle Bewerbungen und Gefahren überstehen läßt, wenn es auch unter dem Druck der von der Quelle gebotenen Tatsachen ein Ehepaar ist, das hier die Stelle der Liebenden in den romans héroïques übernimmt7. Die Geschehnisse des Romans sind auch bei Leland einfach hintereinander aufgereiht, und nur durch ihre Funktion als retardierende Elemente zusammengehalten. Das Ziel der Handlung ist bei Leland ebenso deutlich von Anfang an festgelegt wie dort. Ebenso finden wir auch hier die vielen weiter retardierenden eingeschobenen Berichte fast aller auftretenden Personen über ihre Vorgeschichte oder ihre inzwischen durchgemachten Erlebnisse, angefangen mit Salisburys großer Erzählung von seinen Abenteuern in Frankreich. Auch Lelands Art der Charakterzeichnung, die reine Schwarz-Weiß-Malerei ist, stammt aus den heroischen Romanen. Was freilich dort noch einen bestimmten Sinn hatte, geht bei Leland einzig auf eine durch die Hypertrophie des Handlungsgeschehens hervorgerufene Gleichgültigkeit gegenüber der Menschendarstellung zurück. Wir haben einerseits den edlen, tapferen Grafen und die edle, treue Gräfin, Jaqueline und den jungen Ghauvigny als die ebenso farblosen Wiederholungen dieses Paares, dazu den treuen Freund Les Roches, andrerseits die Schurken Malleon, Chauvigny, Hubert, Raymond, Grey, Reginhald8. All das sind vorbildliche, bezw. dem Vor7

Ueberhaupt erschwert die Tatsache, daß wir es mit einem von der Quelle in den Umrissen so scharf formulierten Stoff zu tun haben, die Feststellung der geistigen und literarischen Tendenzen Lelands. Mindestens darf man aber doch annehmen, daß Leland unter dem vielen Material, das sich ihm bot, gerade dies aussuchte, weil es zu einer vorgefaßten Idee vom Roman paßte. 8 Dibelius, 1. c., v. II, p. 448, nennt zwar mehrere Schurkengestalten aus den heroischen Romanen, aber ich glaube, daß man in der betonten Pflege dieser Figuren doch eine e i g e n e Schöpfung der „vorromantischen" Romane zu sehen hat, die nur auf Anregungen aus dem heroischen Roman basiert; denn es liegt im Wesen dieser Romane, das Extreme zu lieben, —

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bildlichen diametral entgegengesetzte Charaktere, pathetisch aufgefaßt und dargestellt wie in den heroischen Romanen. Neben diesen größeren Dingen müssen Einzelheiten zurücktreten; doch sollen wenigstens Motive wie die Seeräuber, die Les Roches entführen, die als Mann verkleidete Jaqueline, das Schloß Les Roches', das Longsword in so geheimnisvoller Weise empfängt, erwähnt werden, weil sie neben anderen die Verwandtschaft „Longswords" und der heroischen Romane zeigen. Doch darf man die Bedeutung der französischen Romane für Leland nicht überschätzen, wenigstens nicht was die Romantechnik betrifft. Dibelius9 hat für den Sensationsroman gezeigt, wie seine Technik im Grunde die des vorausgehenden Sittenromans, vor allem Fieldings, weiterführt, und durch die Einwirkung der französischen Vorbilder nur modifiziert und erweitert wird. Für Leland gilt ähnliches, wenn er auch den romans héroiques noch näher zu stehen scheint als Walpole und dessen Nachfolger. Der Roman hatte sich seit dem siebzehnten Jahrhundert gerade in Fortsetzung der alten anti-romances zu sehr entwickelt, als daß eine bloße äußere Nachahmung der heroischen Romane noch möglich gewesen wäre. Der Sittenroman hatte die Romantechnik unendlich vervielfältigt und verfeinert und hatte wirkliche Charakterschilderung und abwechslungsreiche Handlungsführung gelernt. So konnte auch Leland nicht mehr restlos die primitivere Art der heroisch-galanten Romane erneuern, nur weil er Vorbilder eines pathetischen, historisierenden Romans brauchte. Wenn während der französischen Abenteuer Longswords die Liebe als das ursprüngliche Konstruktionsmotiv zurücktritt und die durch das Thema der erschwerten Heimreise zusammengehaltenen Ereignisse durch sich selbst wirken, so mag das Vorbild Homer gewesen sein — ebenso wahrscheinlich ist es, wie schon gesagt wurde, daß wir eine Wiederaufnahme des Reisemotivs aus der Schule Fieldings und Smolletts vor uns haben. Wenn wir in geschickterer Handlungsführung, als das bei den französischen Schriftstellern der Fall gewesen war, des öfteren auf falsche Fährten gelockt werden, oder wenn verdeckte Handlung das eigene gleichgültig ob zum Guten oder zum Schlechten, während der heroische Roman den vorbildlichen Menschen bevorzugt. Die Ansicht von Eino Railo (The Haunted Castle, London 1927, pp. 173 ff.: The Criminal Monk), die Gestalt des schurkischen Mönchs sei erst von Lewis auf Grund französischer Vorbilder (cf. E. Estève, Le Théâtre 'monacal' sous la Révolution, in: Revue d'Histoire littéraire de la France, 1917, wo diese These auch von Frankreich aus schon vertreten wird) in dem Sensationsroman eingeführt, ist falsch, wie das Beispiel der schurkischen Mönche bei Leland, in Walpoles „Mysterious Mother" und bei dem von Lewis ebenfalls noch unabhängigen Stephen Cullen (cf. infra pp. 58 ff.) erweist (cf. auch J. Brauchli, Der engSchauerroman um 1800, pp. 81 ff.). • L c., v. 1, pp. 285 ff. — 49 —

Denken des Lesers in vergebliche Tätigkeit setzt, so sind das Elemente, die wie viele andere nach Mustern des realistischen Romans die Handlungsführung abwechslungsreicher machen. So läßt sich in vielen Einzelheiten die fördernde Einwirkung des Sittenromans auf die vom heroischen Roman stammenden Grundlagen beobachten, etwa auch noch in dem Hauptmittel von Lelands primitiver, aber wirkungsvoller Spannungstechnik, dem Mittel des suspense, das zwar z. B. in der „Clélie" bereits verwandt, im „Longsword" aber deutlich durch Anregungen aus den realistischen Romanen weiter entwickelt wird. Ebenso kann man schließlich in der Charakterzeichnung Lelands verfolgen, wie sich die heroischen Muster unter den neuen Einflüssen verändern. Vor allem sind Longsword und Ela ganz untypisch zu älteren, erfahrenen Menschen geworden. Die Schurken sind wenigstens versuchsweise gegeneinander kontrastiert; Raymond, der sich an seinem eigenen Werkzeug rächt, der in diabolischer Gemeinheit ruhig den Verrat an seinem Herrn erwägende Grey zeigen Ansätze zu individueller Charakterisierung. Eine Nebenperson, die geschwätzige Kammerfrau Ellinor, geht deutlich direkt auf Vorbilder im Sittenroman zurück, ebenso wie die vielen ähnlichen Gestalten im späteren Sensationsroman. In der Romantechnik verbleibt Leland also durchaus nicht bei den Mustern der französischen Romane, sondern er verändert und verbessert sie nach Anregungen aus dem novel of manners. Viel wichtiger aber sind die Veränderungen, welche die inneren Tendenzen des heroischen Romans durchgemacht hatten, als er bei Leland seine Wiederaufnahme fand. Aus dem preziösen Frühklassizismus, dem die romans héroïques ihre Entstehung verdankten, sind wir in die „Vorromantik" 10 gekommen, und aus deren Geist ist auch Lelands Buch zu verstehen. Der „Vorromantik" verdankt Leland seine später noch genauer zu untersuchende Auffassung der Geschichte. Von ihr hat er wohl den Hinweis auf Homer11. Von ihr hat er sein Naturgefühl, das die Geschehnisse des Romans sehr oft vorm Hintergrund der freien Natur spielen läßt, und das zu deutlichen Ansätzen ausgeführter Landschaftsdarstellung führt". Vor allem ist Leland aber „Vorromantiker" in seiner grundlegenden sentimentalen Sehnsucht nach einem intensiven, kraftvollen Leben, wie er es seinen Longsword und seine übrigen Helden führen läßt. Im heroischen Roman waren die vielen Abenteuer letzten Endes veranlaßt durch die Notwendigkeiten des Romans, der die bewerbende Liebe des Helden und weiterhin die treue Liebe des Helden und der Heldin ins Licht 1 0 Ueber die für diese Untersuchung notwendige vorsichtige Auffassung des Begriffs „Vorromantik" cf. supra p. 6. 1 1 Die „vorromantischen" Darstellungen Homers beginnen schon 1735 mit Blackwells „Enquiry into the Life and Writings of Homer". 1 2 pp. 1 ff. u. ö.

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rücken wollte. Demgegenüber sind bei Leland die Abenteuer von Anfang an der unumschränkte Mittelpunkt des Interesses, um ihretwillen ist der Roman geschrieben. Hieraus ergibt sich das schon beobachtete Zurücktreten der Liebe als Konstruktionsmotiv, die Ausgestaltung der Handlungsführung etc. Ebenso wird die Menschendarstellung durch diese Bevorzugung der Abenteuer auf geringere Bedeutung zurückgedrängt: die Charaktere Lelands werden, wie wir sahen, schemenhaft, zugleich aber Einflüssen aus dem Sittenroman zugänglicher. Vergleicht man die im Vorausgehenden versuchte Analyse des ..Longsword" mit der von Dibelius für das „Castle of Otranto" und seine Nachfolger durchgeführten 13 , so findet man ähnliche Ergebnisse, wenigstens was die konstituierenden Elemente betrifft; wenn dagegen die Bedeutung der einzelnen Bestandteile für Lelands Buch anders erscheint, so ist der Grund, daß für uns das Romantechnische nur einen von mehreren zu beobachtenden Faktoren bildet, und daß bei Walpole der Anteil des realistischen Romans größer ist als im „Longsword". Trotzdem wird durch die entsprechenden Ergebnisse die Stellung des „Longsword" innerhalb der literarhistorischen Entwicklung klar, die etwas dunkel bleiben muß, wenn man ihn allein an den nächsten, ein betontes historisches Element enthaltenden Roman, an Sophia Lees „Recess", heranrücken will, der erst über zwanzig Jahre später erschienen ist. Der „Longsword" ist seiner ganzen Art nach ein Vorläufer der Sensationsromane, mit denen er alles gemeinsam hat, außer dem freilich auf den ersten Blick so bezeichnenden Geisterelement. Gleichzeitig ist die von Leland ein für allemal festgelegte Formel, der Abenteuerroman vor geschichtlichem Hintergrund, die, welche bei allen Verschiebungen im Einzelnen für den historisierenden Roman vor Scott bestehen bleibt. Am allerdeutlichsten steht Leland in der „Vorromantik" in seinem Verhältnis zur Geschichte. Wie das der „Vorromantik" überhaupt, beschäftigt sein Interesse sich vorwiegend mit dem Mittelalter", und zwar einem' Mittelalter, das nach damaliger Auffassung von der spätangelsächsischen Zeit bis in die Tudorperiode reicht 15 . Mit einigen Ausnahmen, die ihre Sondererklärung finden, spielen alle historisierenden Romane von Leland bis zu Scotts Anfängen in einem so abgegrenzten Mittelalter. Man glaubte, daß in jeper unbestimmten Periode die Vorfahren das größere und buntere Leben geführt hätten, nach welchem man sich aus der Gleich13

1. c., pp. 285 ff. Auch als Forscher wandte Leland sich nach anfänglichen Studien aus der alten Geschichte der Bearbeitung des irisch-keltischen Mittelalters zu. 15 cf. R. Haferkorn, Gotik und Ruine (Leipziger Beiträge IV), Leipzig 1924, p. 1. 11



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mäßigkeit der Gegenwart sehnte. Den Anlaß zu diesem Glauben gaben die großen nachmittelalterlichen Epiker — Spenser, Ariost, Tasso16 — und Volksbücher wie „Guy of Warwick" und „Bevis of Hampton"17. Man übersah freilich, wie auch diese Werke nicht die Realität des Mittelalters, sondern gerade umgekehrt das Ideal der entschwindenden ritterlichen Zeit darstellen. Ob es nicht auf das enge Verhältnis zu dieser nachmittelalterlichen Literatur und auf das mangelnde Verständnis für deren wahre Art zurückgeht, wenn Walpole, Clara Reeve, Ann Radcliffe, Sophia Lee, Richard White u. a. ihre historisierenden Romane als mittelalterliche Originale ausgeben, im Glauben, sie hätten die Art jener Zeit so getroffen, daß ihre Bücher mitten unter die wirklichen alten Werke gestellt werden könnten? Der feste Glaube an die höhere Art des Mittelalters gab die Rechtfertigung, die gegenwartsfeindlichen Romane der „Vorromantik" in ein historisches mittelalterliches Milieu zu verlegen. Leland speziell gründete sein Buch auf eine zu romanhafter Darstellung dieser Art geradezu herausfordernde Stelle bei Roger de Wendover18, die er noch durch eine kurze Bemerkung in der Chronik des Klosters Dunstable ergänzt gefunden haben mag19. Hier wurde erzählt, wie Longsword 1225 auf der Rückfahrt aus Frankreich von der übrigen Flotte abgetrieben und nach der Ile de Re verschlagen wurde, wo Mauleon für König Ludwig den Befehl innehatte. Longsword fand Zuflucht in einem Kloster, wurde durch zwei von Mauleons Leuten erkannt und gewarnt, floh wieder und gelangte nach drei Monaten endlich nach Cornwall. Hier erfuhr er, daß er totgesagt sei und daß Hubert de Burgh sich für seinen Neffen Raymond um des Grafen Gattin Ela bewerbe, die dpn Freier aber wegen seines niedrigen Standes ablehne. Der König versöhnte die beiden Gegner, indem de Burgh sich mit vielen Geschenken freikaufte und Longsword sogar einmal als Gast bei ihm speiste. „Ut dicitur" wurde er dabei heimlich vergiftet; tatsächlich starb er ganz kurz danach. Es zeigt sich also, wie Leland die Grundlinien seiner Handlung in der Quelle fand, wie er aber alles im „vorromantischen" Sinn und nach den Bedürfnissen seiner Geschichte zurechtmachte. Weder daß Longsword de Burgh sich freikaufen ließ, noch daß Ela 19

Hurd beruft sich in seinen entwicklungsgeschichtlich so wichtigen „Letters on Chivalry and Romance" (London 1762) auf diese Dichter. 17 Zu diesen Romanen zeigt z. B. White im „Strongbow" ein besonders nahes Verhältnis, cf. infra pp. 75 f. 19 Roger de Wendover (ed. Engl. Hist. Soc.), London 1841, pp. 105 ff. und pp. 116 f. Die Stellen wurden später auch von Matthew of Paris in seine Chronik aufgenommen. 19 Annales Monastici (Brit. Rerum Medü. Aevi Script.), v. III, p. 99 (London 1864). Diese Stelle war für Leland in einer frühen Ausgabe der Chronik, London 1733, leicht zugänglich. — 52 —

Raymond vor allem wegen seines niederen Standes ablehnte, darf er erwähnen; er führt ganz andere, edle Beweggründe dafür ein. Daß er Longsword nicht an der Vergiftung sterben ließ, ergab sich um des happy end willen von selbst, auffälliger ist, daß er, der Historiker, Hubert de Burgh so zum bloßen Intriganten erniedrigen konnte, wo er in Wahrheit doch weit bedeutender war als Longsword. Am Vergleich des Romaninhalts mit der Stelle bei Roger de Wendover zeigt sich, wie Leland aus der geschichtlichen Anekdote einen Abenteuerroman gemacht hat. Tatsächlich sind ihm nur die geschichtlichen Namen wichtig; eine genauer ausgeführte Darstellung geschichtlichen Geschehens und eine direkte Verbindung des Romanhaften mit dem Historischen finden sich nur einmal 20 . Diese ausschließliche Verwendung des Historischen als Hintergrund einer großen Abenteuerhandlung ist umso auffälliger, als Leland Fachhistoriker war, aber auch in dieser Beziehung ist er für die ganze Zeit bis Scott vorbildlich. Steht Leland derart mit seiner eigentlichen Geschichtsauffassung und mit seiner Darstellung des idealen Mittelalters ganz in der „Vorromantik", so hat er doch auch hier das Technische vom heroischen Roman übernommen. Ganz abgesehen davon, daß diese Romane damals überhaupt fast als einzige das Vorbild zur Verlegung einer Erzählung in eine vergangene Zteit gaben, brauchte Leland wie sie die historischen Namen und gelegentlich historisches Geschehen, um die scheinbare Wirklichkeit seiner Geschichte aufrechtzuerhalten. Wie sie geht er tatsächlich auf geschichtliche Darstellungen der zu behandelnden Zeit zurück; daß er das freilich mit größerer Sachkenntnis tun konnte, und daß er sogar zu den Handschriften griff, liegt an seiner persönlichen Neigung als Fachhistoriker — wie überhaupt Lelands Beruf im Auge behalten werden muß, wenn man sein Buch verstehen und es etwa mit seinem Nachfolger, dem „Castle of Otranto", vergleichen will. Wohl nur für Leland war es möglich, in den alten Quellen eine solche für einen Roman geeignete Einzelanekdote zu finden; seine Nachfolger greifen deshalb auch alle wieder zu allgemeineren Stoffen. Im Geist der heroischen Romane ist es schließlich noch — so sehr auch die Vorreden in den Romanen der Scudery und ihrer Zeitgenossen das ableugnen — wenn Leland, ganz allgemein gesprochen, das Geschichtliche um seines Romans willen und nicht seinen Roman um der Geschichte willen schreibt 21 . Horace Walpoles „Castle of Otranto. A Gothic Story" 22 wird nur selten zu den historisierenden Romanen gezählt. Vergleicht 50

Die Stelle ist bei D. Binkert, 1. c., pp. 40 ff., in deutscher Uebersetzung abgedruckt. 21 cf. auch Dibelius, I. c., p. 294. 22 1 764. Deutsche Uebersetzung 1794. — „gothic" bedeutet zu jener Zeit meist einfach: mittelalterlich, cf. Longueil, The Word „Gothic" in Eigh— 53 —

man es aber mit dem „Longsword"23, so erkennt man die ähnliche Art: die großen Abenteuer vor historisierendem, mittelalterlichem Hintergrund, und dann sieht man, wie die Entwicklungslinie von Leland über Walpole zu den späteren historisierenden und Geisterromanen führt. Freilich tritt das historische Element bei Walpole zurück: er begnügt sich, seine Geschichte allgemein in die Zeit der Kreuzzüge zu verlegen und manchmal an unbestimmte histolische Ereignisse zu erinnern, sowie die Geschehnisse an die geschichtlich klingenden Namen fingierter italienischer Fürstenfamilien zu binden, die er sich aus den Namen wirklicher italienischer Städte: Otranto, Vicenza etc., gebildet hat. Bedenkt man, wie unbestimmt auch bei Leland das Geschichtliche ist und wie auch er, der Historiker, es vor allem zur Realisierung seiner im Sinn der „Vorromantik" erfundenen Handlung benutzt, so bleibt als einziger Unterschied bei sehr viel Gemeinsamem, daß Walpole seine Geschichte nicht an wirkliche historische Persönlichkeiten knüpft. Außerdem führte Walpole mit dem Geisterhaften ein so fruchtbares neues Element ein, daß man darüber die Aehnlichkeit mit Leland und den späteren historisierenden Romanen übersah. In Wahrheit ist das „Castle of Otranto" eine künstlerisch etwas wertvollere Weiterführung der bereits im „Longsword" zum Ausdruck gekommenen Tendenzen. Der Inhalt des „Castle of Otranto" ist so bekannt, daß er hier nur ganz kurz zusammengefaßt werden braucht. Die ziemlich breit ausgeführte, im Grunde nur novellistische Handlung ist der von vielen Wundern und übersinnlichen Erscheinungen begleitete Zusammenbruch der Familie, die Schloß und Herrschaft von Otranto usurpiert hat, und die Entdeckung und Einsetzung des echten Erben, der bis dahin als Bauernjunge in der Nähe des Schlosses gelebt hat. Auch wenn man Einflüsse von Lelands „Longsword" annehmen darf, so hat doch Walpole nach seiner eigenen Angabe in der in allen späteren Ausgaben nachgedruckten Vorrede zur zweiten Auflage seines Romans es selbständig noch einmal unternommen, den heroischen Roman durch Verschmelzung mit Elementen des Sittenromans neu weiterzuführen. Es wäre das ein Zeichen, wie sehr die Wiederaufnahme des pathetischen heroischen Romans und seine Fortführung als historisierender Roman in der Luft lag, derart, daß der Vorgang zweimal fast unabhängig von einander geschehen konnte; ja, möglicherweise wiederholte er sich zwanzig Jahre später noch ein drittes Mal bei der Entstehung von teenth Century Criticism (Modern Language Notes XXXVIII, pp. 453 ff.) und Oxford English Dictionary, sub „gothic" A 3 a. 23 Nach D. Binkert, 1. c., p. 40, wurde Walpole direkt von Leland beeinflußt, was sehr wohl denkbar ist, wenn auch eine besondere Begründung dieser Behauptung nicht zu finden war. — 54 —

Sophia Lees „Recess" 24 . Walpole sagt über sein Unternehmen Folgendes: „ I t was an attempt to blend' the two kinds of romance, the ancient a n d the modern. In the former, all was imagination and improbability; in the latter, nature is always intended to be, and sometimes has been, copied with success. Invention has not been wanting; but the great resources of fancy have been dammed up, by a strict adherence to common life. — But if in the latter species Nature has cramped imagination, she did but take her revenge, having been totally excluded from old romances. The actions, sentiments, conversation of the heroes and heroines of ancient days were as unnatural as the machines employed to put them in motion. — The author of the following pages thought it possible to reconcile the two kinds. Desirous of leaving the powers of fancy at liberty to expatiate through the boundless realms of invention, and thence of creating more interesting situations, he wished to conduct the mortal agents in his drama according to the rules of probability; in short, to make them think, speak, and act, as it might be supposed mere men and women would do in extraordinary positions . . ." Verglichen mit Leland übernimmt Walpole weit mehr aus dem Sittenroman, obgleich mir doch auch bei ihm der heroische Roman das grundlegende Element abzugeben scheint. Tatsächlich gibt ja Walpole selbst an, daß er seine Personen wie wirkliche Menschen handeln, denken und vor Allem sprechen lassen will, sonst aber will er der Phantasie volle Freiheit gewähren. E s soll nicht länger, wie es weiterhin heißt, ein „improbable event" von einem „absurd 1 dialogue" begleitet sein, wobei d a s erstere aus dem „ancient romances" angenommen, das letztere aus ihnen abgelehnt wird. Aber trotzdem hat Walpole sehr viel aus den Sittenromanen übernommen; im Einzelnen gilt das vor Allem von dem im Sensationsroman so überaus fruchtbaren Motiv des Geheimnisses der vornehmen Geburt des Helden* wie es sich vorher bei Fielding schon ebenso zentral findet, während es im heroischen Roman nur eine geringe Rolle spielt. Sehr oft hat Walpole Motive aus dem novel of manners aufgenommen, hat sie dann aber, den Art seines Romans entsprechend, ins Gewaltige gesteigert und gehäuft. Deutlich ist bei ihm die Veränderung der Personen gegenüber dem heroischen Roman; sie werden wie bei Leland menschlich, aber zugleich farblos, zeigen jedoch auch Ansätze zur Charakterzeichnung, vor Allem die deutlich von Vorbildern des Sittenromans beeinflußten Dienergestalten. Walpoles große Neuerung ist die Einführung des Geisterhaften als ein die Buntheit und Spannung des Romans weiter steigerndes Element. E s ist klar, wie sehr dieser Versuch im Sinn des „vorromantischen" Sensationsromans lag. Aber hier ist auch der Grund zu suchen, warum bei Walpole und seinen Nachfolgern 24

c;f. infra p. 67. — 55 —

von allzu genauer historischer Fixierung abgesehen werden mußte, his sie bei Ann Radcliffe und vor Allem Lewis ganz aufgegeben wurde: man konnte bekannten historischen Persönlichkeiten und bekannten historischen Ereignissen nicht die engsten Beziehungen zu geisterhaften Geschehnissen nachsagen, an die man selbst nicht glaubte. Aber Walpoles Erfindung blieb sehr fruchtbar und führte im vorromantischen Roman später zu den bekannten bedeutenden Leistungen. Es scheint, als sei Walpole bei dieser Einführung des Geisterhaften nur zum geringsten Teil durch fremde Vorbilder aus dem heroischen Roman angeregt25, vielmehr handelt es sich wohl um eine eigene, freilich durch einen bestimmten Traum26 herbeigeführte Erfindung. Merkwürdigerweise fanden Leland und Walpole vielleicht erst über zehn Jahre später27 eine Weiterführung ihrer Versuche, und zwar in Clara Reeves „Old English Baron"28. Das ebenso wie das 25

cf. Dibelius, 1. c., p. 333. Auch im englischen heroischen Roman des 17. Jahrhunderts gibt es ähnliche Spuren, so in der „Cynthia" (1687): „In my way homeward, my spirits began to grow dull and heavy, my mind became sad and melancholy, I found myself fearful, yet knew n o cause I had to fear. On the sudden, three drops of blood distilled f r o m my nose, a hare thwarted my way, and a night-raven came croaking and with her dismal note hovered over my head. This confirmed me in my augury, that something ominous and fatal did attend me." „Eliana" (1661), pp. 6 f.: ..Arterus and my servant had soon entered their living death, whilst my agitated thoughts had kept open the windows of my senses. But endeavouring to suppress the motions of my mind, I heard certain emotions within the cave, which gave a check to my thoughts and a stop to my desire of sleep, and attending what might ensue I perceived the noise to approach, and suddenly felt some blows, which I could not see acted, because of the obsurity of the place. This engaged me to rise, and with my sword to defend myself; the noise I made in striking (which lighted on nothing but the sides of the ground of the cave) awakened Arterus, who half amazed, and discomposed at being so suddenly awakened, had like to have offended more than my unseen adversaries, for hearing our blows he engaged himself in the dark, and with a forcible blow a little wounded my head; I made known to him his unseen perpetration, and gained him to retire, leaving me to defend myself from the unseen blows of m y unseen adversaries. I wondered when feeling the blows, they cut not, nor struck as if in the hands of a weaponist, and so confusedly both behind and before, as if I had dealt with many adversaries, that I knew not how to defend myself, nor offend them, for my blows though struck everyway, besides none answering to my demands, made me begin to think them some phantasms or some unknown terrene deities, which inhabited this island, these thoughts made me retire to the mouth of the cave, and not being pursued, I would not enter to disturb the sacred". (Ein Druide hatte, wie sich herausstellt, die Höhle mit Geisterhilfe verteidigt.) 28 Brief an den Rev. W. Cole vom 9. III. 1765. 27 A. L. Barbaulds mir nicht zugänglicher „Sir Bertrand" (1773) bildet vielleicht eine Ausnahme. (Fußnote 28 siehe nächste Seite)

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„Castle of Otranto" oft nachgedruckte Buch hat einen ähnlichen Inhalt wie der Roman Walpoles. Auch hier kommt es durch Geisterhilfe zu Tage, daß die jetzt das Schloß Lovel innehabende Familie die Herrschaft nur durch Mord und Usurpation besitzt; der gegenwärtige Schloßherr ist zwar unwissend und nicht mitschuldig, aber sein eigener Bruder hat die Tat begangen. Auf dem Schloß wächst unbekannt der wahre Erbe mit auf; er ist zunächst von Bauern erzogen, aber wegen seiner hervorragenden Eigenschaften ins Schloß aufgenommen worden. Die allmähliche Entdeckung des Verbrechens, die Bestrafung des Schuldigen und die Einsetzung des wahren Erben, der die Hilfe eines adligen Gönners findet, bilden den Inhalt des Buches. Nicht nur im Inhalt, sondern in seiner ganzen Art schließt Clara Reeves Roman sich eng an Walpole an. Aber es ist ihr gelungen, alles in der Erzählung und der Darstellung besser in Einklang zu bringen. Die Handlung ist weniger als bei Walpole auf den Zufall gestellt, sie läuft vielmehr mit innerer Notwendigkeit ab, freilich nun solcher Notwendigkeit, daß man schon nach einigen Seiten weiß, wie die Verknüpfungen sich lösen werden20. Auch die Einordnung des Geisterhaften gelingt Clara Reeve weit besser als Walpole; bei ihm hatte man immer noch den Eindruck, als ob er seine neue Erfindung nicht recht anzuwenden wüßte, so daß er sie in groteskem Ausmaß und bei den merkwürdigsten Gelegenheiten brauchte. Clara Reeve tut den großen Schritt, alle Geistererscheinungen an einen Ort, eben das Zimmer, wo der ermordete frühere Schloßherr begraben ist, zu binden. Auch sind die Geistererscheinungen nicht unvermittelt da, wir werden auf sie durch die allgemeine Stimmung vorbereitet, und dann steigern sie sich auch nur allmählich von geringen Anfängen empor. Diesem größeren Realismus entspricht es, wenn wir im „Old English Baron" dem „Castle of Otranto" gegenüber den Versuch zu einer etwas deutlicheren historischen Festlegung haben. Letzten Endes handelt es sich natürlich um dasselbe unbestimmte mittelalterliche Milieu wie in allen diesen Romanen, aber wir hören doch am Anfang, es sei gewesen „in the minority of Henry the Sixth, when the renowned John Duke of Bedford was Regent of France, and Humphrey, the good Duke of Gloucester, was Protector of England"; gelegentlich spielen die Kriege des byzantinischen Kaisers Johann VII. Palaeologos gegen die Türken andeutungsweise in 2 8 1777. Die Erstauflage trug den Titel „The Champion of Freedom", der erst später verändert wurde. 2 8 Es wird fast stets verkannt, daß Clara Reeve ihre Spannungstechnik gar nicht auf die Erwartung aufbaut: was wird geschehen?, sondern bloß darauf: wie wird der (dem Leser von Anfang an gefühlsmäßig bekannte) wahre Erbe zu seinem Recht kommen?, und auf der Teilnahme an seinem Schicksal. Gibt man dies als Mittelpunkt ihres Buches zu, so wird man sicher auch zu einer höheren Einschätzung kommen als üblich.

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die Handlung hinein. Gegenüber einigen Nachfolgern begeht aber Clara Reeve noch nicht den Fehler, die Handlung an bestimmte historische Persönlichkeiten zu knüpfen. Technisch stellt ihr Werk so einen wirklichen kleinen Höhepunkt dar, aber sie muß doch sogar gegenüber Leland und Walpole zurücktreten, weil sie eben die Nachahmerin ist, jene aber die Wegbereiter. Der eigentliche Geisterroman der späteren Zeit, also der Roman, der sich durch die bevorzugte Pflege des übernatürlichen Schauerelements kennzeichnet, gab sehr bald die historische Festlegung auf, allenfalls wurde er noch in ein unbestimmtes Mittelalter verlegt, wie Ann Radcliffes „Athlin and Dunbayne"; für die „Mysteries of Udolpho" haben wir als Handlungszeit das Ende des 16. Jahrhunderts, für „The Romance of the Forest" genauer 1658, für den „Italian" sogar 1760, also fast die Gegenwart der Autorin 30 ; aDer die Hauptwirkung wird durch das Geographische übernommen nur deshalb ist es auch möglich, daß der „Italian" fast ein Gegenwartsroman ist); Italien, Sizilien, die Provence, Schottland bilden den Hintergrund, der den Geschehnissen eine Scheinwirklichkeit gibt. Entwickelte sich derart der spätere Geisterroman in einer neuen Richtung, so fanden doch Walpole und Clara Reeve noch lange direkte Nachahmungen, freilich mit immer stärkerer Betonung des Historischen. Die untergeordneten Schriftsteller, die sich dem historischen Roman widmeten, sahen in der Verbindung des Historischen und des Geisterhaften nur eine Verdoppelung der Wirkungsmöglichkeiten. In Stephen Cullens „The Haunted Priory; or, The Fortunes of the House of Rayo. A Romance, founded partly on Historical Facts" 31 ist diese Entwicklung gerade bis zu dem Punkt gediehen, wo noch ein einigermaßen erträgliches Ergebnis herauskommen konnte. Da außerdem Cullen sehr spannend schreibt, auch die überlieferten Methoden der Behandlung des Geisterhaften geschickt benutzt, ist ein gut lesbarer Roman entstanden. Der Inhalt des Buches, den wohl nur Goldsmith in noch hilfloserer Weise auf Zufälligkeiten und Unmöglichkeiten hätte aufbauen können, ist wieder die Aufdeckung eines geheimen Verbrechens, und zwar eines Mordes, den der Graf Punalada unter Ausnutzung der anarchischen Verhältnisse in Spanien während der letzten Regierungszeit Peters des Grausamen an dem Erben des Hauses Rayo begangen hat, um die Frau des Toten für sich zu gewinnen. Die Entdeckung der Mordstelle geschieht mit Geisterhilfe in der Weihnachtsnacht, in der ein junger Adliger, der Held des Romans, in eine Kapelle über dem Gewölbe kommt, 30

Zusammengestellt bei Beers, English Romanticism in the 18. Century, p. 253. « 1794. — 58 —

in dem die Leiche des Ermordeten liegt32 — der Held ist, wie sich später durch ein Muttermal herausstellt, der Sohn des toten Rayo und nur durch eine Kindsvertauschung auf das Schloß gekommen, auf dem er als angeblicher Sohn des Schloßherrn heranwuchs. Die allmähliche Aufklärung des Verbrechens geschieht dann durch den Helden und einige Gönner und Freunde mit besonderer Erlaubnis des neuen Königs Heinrich Trastamare in vierfacher Durchsuchung des Gewölbes, bei denen nicht nur die Leiche gefunden und der Schuldbeweis gegen Punalada und einen Abt, seinen Gehilfen und Verführer, erbracht wird, sondern bei denen man auch noch lebend die Frau des ermordeten Rayo, um die sich der Mörder ihres Mannes bewirbt, dazu den in der Kinderzeit gegen den Helden vertauschten wirklichen Sohn des Mannes, bei dem der Held aufgezogen ist, und schließlich auch sogar noch die Amme findet, die die Vertauschung der Kinder vorgenommen hat. Bestrafung der Schuldigen und Wiedereinsetzung des Hauses Rayo beschließen das Buch. Abgesehen von dem Anfang, in dem die Jugend des Helden erzählt wird, der von dem alten, lange auf der Suche nach Sohn und Enkel vergeblich in der Welt umhergeirrten Vater des ermordeten Rayo im Waffenhandwerk erzogen wurde, ohne zu wissen, daß es sein Großvater ist, stehen neben der Haupthandlung zwei Nebenhandlungen: die erste ist unbedeutend und hat die Intriguen gegen den Helden zum Gegenstand, dessen Aehnliehkeit mit dem vervehmten Haus Rayo am Hof erkannt wird; die zweite erzählt von der Liebe des Helden zu einer unbekannten Frau, von der es sich herausstellt, daß sie die in Portugal erzogene Tochter seines Pflegevaters ist; er muß also zunächst glauben, es sei seine Schwester, wie sich aber seine wirkliche Abkunft herausstellt, ist doch seine Liebe zu ihr und beider Heirat noch möglich. Das Grundthema der Handlung ist ähnlich wie bei Walpole und Clara Reeve, ja, die Handlungsführung des „Old English Baron" wird ziemlich genau wiederholt. Gleich zu Anfang wird die Aehnliehkeit des Helden, dessen wahre Geburt verkannt ist, mit seinen wirklichen Vorfahren bemerkt, sodaß der Leser die Lösung bereits errät. Die Aufklärung geschieht dann durch den Helden selbst, der an einem bedeutungsvollen Tag (bei Clara Reeve: sein einundzwanzigster Geburtstag; bei Cullen: die Weihnachtsnacht) an den Platz kommt, wo die Leiche seines Vaters verborgen liegt; hingewiesen darauf wird er durch Geisterhilfe, und hier wie dort wird er im Traum zur Rache aufgefordert; die Aufklärung geschieht durch ein „Komitee der Guten", beide Male unter den größten äußeren Schwierigkeiten; diese allmähliche Aufklärung bildet den Mittelpunkt des Buches; vorher haben wir aber lange Strecken, die uns in die Lage einführen, hinterher noch weitere 32

Die Stelle ist bei ßinkert, 1. c., pp. 78 ff. teilweise abgedruckt.

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Verwicklungen. Cullens Aenderungen sind jedes Mal Verschlechterungen; daß er den Mord am eigenen Vater aufklärt, weiß der Held bei Gullen gar nicht; es ist zunächst nur ganz allgemein ein Geheimnis, das ihm begegnet, später handelt es sich scheinbar nur um Dinge, die seinen väterlichen Freund Graf Rayo angehen, wenn auch der Leser seine Zugehörigkeit zum Hause des Ermordeten ahnt. Die Erhellung der wirklichen Abstammung bleibt einem ziemlich überraschenden Zufall überlassen. Auch ob die Veränderung, daß der Held nicht unter niederen Verhältnissen heranwächst, sondern nur durch Vertauschung in eine gleich vornehme Familie kommt, eine Verbesserung bedeutet, kann bezweifelt werden: Walpole und Clara Reeve wecken die Teilnahme weit mehr, wenn sie den Helden unter unwürdigen Verhältnissen aufwachsen lassen. Die Art der Aufklärung durch einen reinen Zufall und durch Entdeckung eines Muttermals stammt natürlich aus dem „Castle of Otranto". Auch die Geistererscheinungen sind im wesentlichen nach Clara Reeves Vorbild dargestellt; sie erscheinen nur an dem einen Ort des Verbrechens und verschwinden, wie die Aufklärung des Mordes geschehen ist. Wie bei Clara Reeve werden sie auch durch die umgebende Natur vorbereitet und glaublicher gemacht. Im Linzeinen ist Einiges auch hier nach Walpoles Art, vor Allem die geisterhafte Riesengestalt mit dem ungeheuren Helmbusch, die den Helden zum Ort des Verbrechens führt. So ist es zwar sicher, daß Cullen die Tendenzen Walpoles und Clara Reeves fortsetzt, aber ganz hat er sich neueren Einflüssen doch nicht verschließen können. Wie der Geisterroman inzwischen das historisierende Element abgestoßen hatte, so war der historische Roman mittlerweile in seinen besten Leistungen umgekehrt zum Verzicht auf das Geisterhafte gekommen und zum realistischeren Abenteuerroman mit betontem historischem Hintergrund nach der Art Lelands zurückgekehrt. Von dieser Entwicklung hat Cullen, der Erbe des historisierenden Geisterromans, die gelegentliche Verwendung von Abenteuern, die mit dem Geisterhaften und der Geheimnisaufklärung nichts zu tun haben, wie die Liebe des Helden, die sich ja auch mit der Haupthandlung erst zuletzt berührt. Vor Allem hat er aber hier die direkte Hereinbeziehung des Historischen in die Handlung gelernt. Man muß ihm darin sogar ein ziemlich bedeutendes Geschick zubilligen. Der Niedergang des Hauses Rayo ergibt sich zwingend aus der politischen Lage zur Zeit des Aufstandes Heinrichs Trastamare und aus dem Charakter Pedros, und Punaladas Tat erscheint nicht so fürchterlich, wenn sie uns — wie Cullen es andeutet — als ein Ergebnis des allgemeinen Verfalls der Moral, vor Allem im Adel, unter der Regierung Peters des Grausamen erklärlich wird. Daß Cullen sich nicht eingehender mit dem Historischen befaßt hat, ist Idar, er ist ja vorsichtig genug, im Untertitel zuzugeben, sein Buch sei nur teil—

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weise geschichtlich fundiert. Aber er hat mit Geschick den richtigen historischen Hintergrund für sein Buch gefunden — dies ist übrigens wieder einer der Punkte, wo der Gegensatz zwischen dem wahren historischen Roman und diesen „vorromantischen" historisierenden Abenteuer- und Sensationsgeschichten besonders deutlich zu Tage liegt: sie suchen sich bestenfalls eine geschichtliche Zeit, die für ihre vorher entworfene Erzählung paßt; der historische Roman dagegen sucht eine Handlung, die typisch sein könnte für eine bestimmte, ihn zunächst beschäftigende geschichtliche Zeit. Es ist bezeichnend für die große Entwicklung, die Walter Scott bis zur Veröffentlichung „Waverleys" durchzumachen hatte, daß sein erster Versuch im Roman gerade im Anschluß an das „Haunted Priory" erwähnt werden muß, das den Anlaß zu einer solchen Gegenüberstellung des historisierenden und des historischen Romans gibt. Sein „Thomas the Rhymer" 33 sollte nach seiner eigenen Angabe im „General Preface to Waverley"34 werden „a tale of chivalry, which was to be in the style of the .Castle of Otranto', with plenty of Border characters and supernatural incidents". Das uns erhaltene Fragment bestätigt die hier angedeutete Verwandtschaft mit den historisierenden Sensationsromanen. Wir sehen den gewohnten vorbildlichen Männercharakter — „Arthur Fitz-Herbert', said the baron, ,that stroke has deferred thy knighthood for one year; never must that squire wear the spurs whose unbridled impetuosity can draw unbidden his sword in the presence of his master"35 — und auch die zarten, edlen Frauengestalten deuten sich an. Was bei Scott schon in diesem Fragment die bloße Schilderung großer Abenteuer vor dem Hintergrund eines idealen Mittelalters kreuzt, ist seine geschickte Verwendung der Geschichte. Aus den gespannten Verhältnissen im Grenzland zur Zeit Alexanders III. erwachsen die den Inhalt des Fragments ausmachenden Erlebnisse eines reisenden Ritters aus England; wie sich das Historische weiterhin mit dem noch zu erwartenden Auftreten des Geisterhaften vertragen hätte, bleibt zweifelhaft; nach dem Anfang möchte man aber an ein ähnliches Verhältnis wie bei Cullen glauben. Ein wirklicher Vorteil Scotts war die Mög33 Entstanden ungefähr 1800 oder etwas früher. Abgedruckt als Anhang zum „General Preface to Waverley". Ein weiteres Fragment aus derselben 7eit, „The Lord of Ennerdale" (ibidem), ist zu kurz und unverständlich, als daß sich über seine Art und Bedeutung etwas sagen ließe. Von „Waverley" schrieb Scott schon 1805 die ersten sieben Kapitel (cf. Waverley, Border-Edition, p. XX). Diese besitzen aber schon so den Geist des späteren ganzen Buches, daß ihre Untersuchung im Rahmen der historisierenden Romane nicht möglich ist. Scott hatte damals noch nicht den Mut, den Versuch, der auf Rat eines Freundes liegen blieb, zu Ende zu führen, s« Waverley, Border-Edition, p. XIX. « ibidem, p. XLII.



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lichkeit, die Geschichte in das ihm so vertraute Grenzland zu verlegen. So konnte er der Erzählung bereits eine geographische couleur locale geben, wenn auch noch nicht den historischen Charakter einer bestimmten Zeit. Auch bot ihm der Sagenschatz der mittelalterlichen Dichtung in dem Stoff von Thomas the Rhymer einen Gegenstand, dessen halb historische, halb unwirkliche Art die Verbindung von Geschichtlichem und Geisterhaftem weiter erleichtert hätte. Man geht wohl nicht fehl, wenn man diesen unvollendeten Versuch Scotts dahin versteht, daß der Dichter hier einen ihn interessierenden heimatlichen Stoff in der Art der historisierenden Geisterromane als der nächstliegenden Form nacherzählen wollte. Ein weiteres ziemlich spätes Beispiel eines historisierenden Geisterromans ist William Henry Irelands „Gondez the Monk. A Romance of the Thirteenth Century"30. König Robert the Bruce zieht sich nach der Niederlage von Methven auf Rat des ihm treu ergebenen Huberto Avinzo, eines schon als Kind unter merkwürdigen Umständen nach Schottland gekommenen Italieners, mit einigen Adligen auf die Hebrideninsel Oronsay zurück. Dort finden sie im Kloster St. Columba Zuflucht, aber das Verhalten des furchtbaren Abtes Gondez flößt ihnen von Anfang an Mißtrauen ein, dessen Berechtigung sich bald zeigt, ohne daß ihnen Gondez' Ziele klar werden; er kann ja nicht wissen, mit wem er es zu tun hat, da der König und seine Begleiter unter falschem Namen auf der Insel sind. Huberto ist der einzige, der Unternehmungsgeist behält; deshalb ist er es, der nachts in der Klosterkapelle ein Mädchen trifft, das dort gefangen gehalten wird, und das er auf den ersten Blick so liebt, daß er sich vornimmt, sie um jeden Preis zu befreien; deshalb ist er es auch, dem ein Mönch einen heimlichen Ausgang aus dem Kloster verrät. Infolgedessen können die Schotten sich gerade in dem Augenblick retten, in dem ein englisches Schiff kommt, um sie gefangen zu nehmen. Der Abt hat Bruce' falschen Namen durchschaut und ihn verraten wollen. Die Rettung des Mädchens ist zunächst nicht möglich. Aber sobald Bruce endgültig als König in Edinburgh eingesetzt ist, macht Huberto sich wieder zur Insel auf und befreit das Mädchen mit Hilfe eines Mönchs, der früher Gondez' Vertrauter war, aber inzwischen in Mißgunst geraten und zum Hungertod verurteilt ist, im letzten Augenblick, ehe Gondez mit ihr und seinen Schätzen aus Furcht vor Bruce' Rache nach Italien fliehen will. Gondez wird gefangen und in Edinburgh vors Gericht gebracht, ein Spruch wird aber nicht gefällt, weil durch zwei geheimnisvolle Boten die Inquisition den Abt für sich verlangt. So wird er nach 3 8 1805. 4 vols. Der Verfasser ist der bekannte Shakespearefälscher. Er veröffentlichte schon 1799 einen Roman „The Abbess", wohl ein dem „Gondez" ähnliches Werk.



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Italien geschafft und Huberto begleitet ihn. — Inzwischen hat der Leser schon viele in Italien spielende Abenteuer erzählt bekommen. Dort hat einige Zeit früher ein Kardinal alle seine Verwandten beseitigt, um so zu Geld für seinen Ehrgeiz, die Erlangung der Papstwürde, zu kommen. Unter seinen Opfern sind auch sein Neffe und dessen Frau; nur ihr Kind überlebt sie wie durch ein W u n der, und ein Freund bringt es nach Schottland: es ist Huberto Avinzo. Der Freund von Hubertos Eltern versucht es, die Taten des Kardinals ans Licht zu bringen, und nachdem er dafür lange im Gefängnis gebüßt hat, zieht er sich ins schottische Kloster St. Columba zurück: es ist der Mönch, der Huberto unterstützt. Der Haupthelfer des Kardinals war sein heimlicher Sohn; wie ihm nach dem Tode seines Vaters der Boden in Italien zu heiß unter den Füßen wird, geht er ebenfalls nach Schottland: es ist Gondez. Die endlich offenbar gewordenen Taten, die er mit dem Kardinal zusammen begangen hat, sind der Grund, weshalb die Inquisition ihn belangt und zum Feuertod verurteilt. Auf diese Weise stellt sich also auch Hubertos edle Abkunft heraus, Und so kann er das Mädchen, das er gerettet hat, und das aus edelster schottischer Familie ist, heiraten. — In diese durch die Gestalten Gondez' und Hubertos zusammengehaltene Doppelhandlung sind noch viele kürzere Geister- und Hexengeschichten sowie die Doppelerzählung der Liebe eines schottischen Mädchens zu einem Engländer und umgekehrt hineinverwoben. Auch die Geschehnisse im Kloster St. Columba sind von Geistererscheinungen begleitet. Auch Irelands Roman hat seine Grundzüge noch aus dem alten Walpole-Reeveschen Schema, wenigstens was den in unserem Zusammenhang weit wichtigeren schottischen Teil der Handlung betrifft; das Thema ist die Aufklärung eines Geheimnisses, und zwar sowohl der fürchterlichen Geschehnisse im Kloster St. Columba wie der Abstammung des Helden; die beiden sonst in eins verschmolzenen Themen sind also hier — eine Neuerung — getrennt. Die Aufklärung geschieht durch Geisterhilfe; das geisterhafte Geschehen ist an den Ort der Untaten lokalisiert (bezw. steht in einigen Fällen in Verbindung mit ihnen). Neu hinzugekommen ist aber mancherlei aus den späteren tales of terror: nach dem Vorbild von Lewis' „Monk" steht die Gestalt des schurkischen Mönchs im Mittelpunkt, und aus derselben Quelle ist das körperliche Auftreten der Geister übernommen, die nicht wie bei Walpole und Clara Reeve schattenhaft bleiben, sondern in der Handlung eine Rolle spielen — freilich im Gegensatz zu Lewis eine merkwürdig dar auf geklebte Rolle, sodaß man, wie oben geschehen ist, den ganzen Verlauf des Romans erzählen kann, ohne sie zu erwähnen 37 . Aber auch das Muster Ann Rad 37 Einmal greift „the Little Red W o m a n n " direkt in die Handlung ein, indem sie bei der Gefangennahme Gondez' hilft (v. III, p. 155).



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cliffes hat Ireland nicht ungenutzt vorübergehen lassen: von ihr hat er die Kunst, in dem Kloster St. Columba einen schon durch die Natur und die ganze Stimmung fürchterlichen Ort zu schaffen, in dem selbst die grausigsten Geschehnisse nicht mehr überraschen. Von ihr stammt aber auch der Schauplatz der Handlung: Schottland38 und Italien hatte ja auch sie mit Vorliebe dargestellt. Die zweite Haupthandlung des Romans, die in Italien spielt, kann nicht so einfach auf bestimmte Vorbilder zurückgeführt werden: sie spinnt die Vorgeschichte aus, die in den sonstigen Geisterromanen nur angedeutet war und sich im Verlauf der Aufklärung erst allmählich und indirekt vor dem Leser aufrollte. Diese ausführliche Erzählung der Vorgeschichte als gleichwertige zweite Handlung des Romans ist kein Fortschritt Irelands. Gezwungen war er dazu, weil inzwischen der historisierende Roman nach dem Vorbild Sophia Lees aus ganz anderen Bedingungen heraus sich bis zum Umfang von vier Bänden gedehnt hatte, und weil Ireland aus dem Material des Geisterromans etwas finden mußte, um sein Buch zu ähnlichem Format auszuspinnen. Auch in der Behandlung des Historischen ist Ireland im Grunde Schüler der Richtung Walpole—Reeve—Gullen. Der Leser wird zunächst in direkte Verbindung mit dem historischen Geschehen gebracht: die Niederlage bei Methven bringt die ganze Handlung in Bewegung. König Bruce spielt eine wenn auch ziemlich passive Rolle; späterhin wird aber nur noch durch gelegentliche Erwähnung historischer Ereignisse im geringsten nötigen Maß an die Zeit und vor allem an die Realität der Ereignisse erinnert. Bedeutung für den Roman hat es noch, wenn wir von der endgültigen Stabilisierung der Herrschaft Bruce'30 hören, weil dadurch Huberto vom Kriegsdienst befreit und ihm die Rückkehr nach Oronsay und später die Fahrt nach Italien ermöglicht wird. Weiterhin ergeben sich nur noch solche Berührungen wie die, daß Bruce die Gerichtssitzung über Gondez leitet, oder daß Hubertos Hochzeit in seiner Gegenwart stattfindet. Alles das hält sich also in den Grenzen, die der Geisterroman dem Historischen vorschrieb: er dient zur Fixierung der Handlung im Mittelalter und gibt ihr einen Schein von Realität. Auch hier kann aber Ireland neueren Einflüssen nicht ganz Widerstand leisten. Wenn Bruce 38

Ireland ist zu den Hebriden als Schauplatz seiner Handlung durch eine kleine geschickte Verschiebung gegenüber der Wirklichkeit gekommen. Bruce hat sich in Wahrheit nach der Schlacht bei Methven auf der an der irischen Nordwestküste fast einsam liegenden Insel Rathlin verborgen. Bringt Ireland ihn statt dessen nach Oronsay vor dem Firth of Lorm, so gewinnt er damit für sich alle Vorteile einer romantischen Landschaft im Inselmeer. Der romantische Zauber der Hebriden wurde zu allen Zeiten empfunden, selbst Pope hat ihm seinen Tribut gezollt (cf. Beers, History of English Romanticism in the 18. Century, pp. 114 f.). 39 v. II, c. 11. — 64 —

auf Oronsay an den Abenteuern teilnimmt, so ist das die Art von Sophia Lee, die den wahren historischen Persönlichkeiten die unglaublichsten Dinge anhängte 40 . Wert hat Irelands Buch natürlich nicht. Wessen Werk sich so völlig auf fremde Vorbilder zurückführen läßt, der vermag nichts Bedeutendes zu schaffen. Er erbte alles, was der Geisterroman vor ihm besaß: auch die schematischen Charaktere, auch die Unmöglichkeiten der Handlung. Aber wer bei Lewis in der Schule gewesen ist, kann wohl ein schlechtes, aber nie ein langweiliges Buch schreiben; wenigstens den in Schottland spielenden Teil der Handlung kann man mit Spannung durchlesen. Es muß doch erwähnt werden, daß der „Gondez" im selben Jahr veröffentlicht wurde, in dem Scott schon die ersten Kapitel seines „Waverley" schrieb. Ja, Ireland stand gar nicht allein, sondern war durchaus typisch. Nicht nur, daß fast alle anderen historisierenden Erzählungen Elemente aus dem Geisterroman aufweisen, das Grundschema: die Aufklärung eines Geheimnisses und speziell einer geheimnisvollen Abstammung blieb beliebt bis in die Zeit von Scotts großen Romanen, und wir werden ihm noch wiederbegegnen, wenn wir die Lage im historisierenden Roman zur Zeit des Erscheinens von „Waverley" untersuchen11. Neben den historisierenden Geisterromanen blühte um die Jahrhundertwende eine zweite Gattung historisierender Romane, die von Sophia Lees „The Recess; or, A Tale of Other Times"' 2 zuerst vertreten wurde, und deren Bemühen es war, erfundene sensationelle Abenteuer von bekannten historischen Persönlichkeiten zu erzählen, wie es vereinzelt vorher schon Leland getan hatte. Sophia Lee berichtet in ihrem Roman die Erlebnisse zweier Frauen, Matilda und Ellinor, Zwillingsschwestern aus einer angeblichen heimlichen Ehe Maria Stuarts mit Howard Duke of Nor4 0 E s ist bezeichnend für die unhistorische, gegenwartsbezogene Auffassung des Mittelalters, wenn hier und in so vielen entsprechenden Romanen das Interesse des Verfassers am „picturesque" mit ihm durchgeht, sodaß er seine mittelalterliche Handlung in einer Welt von Ruinen spielen läßt, während jene Zeit doch in Wirklichkeit die des neuen Bauens, der noch frisch dastehenden Gebäude warl 4 1 Nach dem Schema des historisierenden Geisterromans mit Geheimnisaufklärung als wichtigstem Konstruktionsmotiv sind z. B. noch gebaut: E. M. F.: „The Duke of Clarence". 1795. 4 vols. „A Northumbrian Tale. Written by a Lady". 1799. „The Lord of Hardivyle, an Historical Legend, of the Fourteenth Century". 1800. Ann Radcliffe, „Gaston de Blondeville", 1802 (cf. infra pp. 85 ff.). R. H. Wilmot, „Scenes in Feudal Times", 1809. Mary Hougthon, „The Border Chieftains", 1813 (cf. infra p. 96). 4 2 1783—85. Schon 1792 erschien die vierte Auflage, der Roman scheint also sehr erfolgreich gewesen zu sein.

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folk, von ihrer Erziehung in dem unterirdischen recess, von dem der Roman seinen Namen hat, bis zur verzichtenden Alterszurückgezogenheit Matildas. Den Hauptteil des Inhalts bilden das Liebesund Abenteuerleben der beiden Schwestern und der ihnen heimlich angetrauten Grafen Leicester und Essex. Die große Gegenspielerin der beiden Frauen ist Königin Elisabeth selbst, die ihre geheimgehaltene Abstammung entdeckt und deshalb in ihnen künftige Kronprätendentinnen fürchtet. Es gelingt ihr, Ellinor zu beseitigen — Ellinor wird geisteskrank und stirbt, wie sie von Essex' Verurteilung hört, der Verbindungen mit König Jakob von Schottland angeknüpft hat, um nach Elisabeths Beseitigung in Frieden mit seiner Frau leben zu können. Matilda muß nach Frankreich fliehen, erst nach dem Tod der Königin kehrt sie nach England zurück. Sie feiert sogar noch den Triumph, daß Henry, der Prince of Wales, sich mit ihrer Tochter verlobt. Aber die Treulosigkeit des Mädchens, die sich zur Geliebten des Grafen Rochester erniedrigt, jedoch von einer früheren Mätresse des Grafen aus Eifersucht vergiftet wird, und schließlich Henrys vorzeitiger Tod und die Ränke ihres Halbbruders, König Jakobs I., lassen ihr nur die Möglichkeit einsamer Zurückgezogenheit im Ausland43. Eine wirklich erschöpfende Inhaltsangabe des „Recess" ist nicht möglich. Dazu ist die Handlungsführung zu verwirrt, und die Szenenfolge zu rasch und zu bunt. Außer den erwähnten Personen treten an historischen Gestalten noch Tyrone, Sidney, die Gräfin Pembroke u. a. m. auf, ganz abgesehen von den vielen frei erfundenen Nebenpersonen des Romans. Und dazu die Form des Buches! Es hat die Gestalt eines einzigen langen (dreibändigen!) Briefes von Matilda an eine am Schluß ganz kurz in die Handlung eingreifende Person. Eingeschoben findet sich ein Brief Ellinors an Matilda und mehrere von ihr an die Gräfin Pembroke über ihr Leben, soweit es sich getrennt von dem Matildes abgespielt hat, dazu noch Berichte der Gräfin Pembroke, die Ellinor während ihrer Geisteskrankheit in Pflege hat. Das Charakteristische an diesem Buch, und die Art seiner Behandlung des Historischen ergibt sich aus der obigen Inhaltsübersicht. Wir hören von tatsächlichen Gestalten aus der Geschichte der elisabethanischen Periode, ja es sind die repräsentativen Namen des politischen Lebens jener Zeit — aber was für Erlebnisse sind ihnen angedichtet! In einem Wirbel der allerunmöglichsten, allen Tatsachen widersprechendsten Dinge schwimmt einiges Wahre: die Feindschaft Maria Stuarts und Elisabeths, die Thronfolge Jakobs nach Elisabeth; Essex' zweifelhaftes Verhalten gegenüber Tyrone (das aber hier nicht den Grund zu seiner Hinrichtung abgibt!), Elisabeths Besuch in Kenilworth — gerade soviel 43

Eingehendere Inhaltsangabe bei D. Binkert, 1. c., pp. 45 ff. —

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wie schlechterdings gegeben werden mußte. Man fragt sich, wieviel bei solcher Behandlung der Geschichte auf Sensations- und Spannungshascherei zurückgeht, und wieviel auf den Wunsch, in das persönliche Leben großer Gestalten vergangener Zeiten (hier das Leben Essex' und1 Leicesters) hineinschauen zu können und nicht bloß immer die Kulissen sehen zu müssen. Aber auch hier ist natürlich von historischem Gefühl keine Rede; es ist derselbe Vorgang wie in den historisierenden Geisterromanen: erst denkt man an die zu erzählenden großen Abenteuer, dann wird die dazu passende Zeit gesucht, das Mittelalter und zwar hier speziell das Nachmittelalter, weil in ihm eine solche Handlung am glaublichsten ist44. Wiö fruchtbar der Gedanke war, so von allbekannten Personen die unglaublichsten Dinge zu erzählen, erwies sich in der Folgezeit sehr bald. Sophia Lees Verfahren ist dem Lelands ähnlich, freilich ist es auch ungleich niedriger. Leland hatte zwar auch seinem Longsword alles Mögliche angedichtet, aber er hatte sich doch wenigstens den Umriß seiner Handlung aus der tatsächlichen Geschichte geholt und dann nur das dort kürzer Angedeutete durch seine Phantasie lebendiger gemacht; der „Recess" entnimmt dagegen aus der Geschichte nur die Namen der Helden und einige Tatsachen, die den realistischen Rahmen des Geschehens abgeben. Es scheint fast, als hätte Sophia Lee noch ein drittes und letztes Mal selbständig eine Modernisierung der heroischen Romane unternommen, so wie vorher Leland und Walpole. Ihre Abhängigkeit von Walpole beschränkt sich auf gelegentliche Uebernahme von Material des tale of terror45, und verglichen mit Leland steht sie in Vielem dem heroischen Roman, noch soviel näher, daß man sie auch nicht als Schülerin dieses Vorgängers ansehen kann; was sie mit Leland in der Behandlung des Historischen gemeinsam hat, muß sich durch die Uebernahme aus der gleichen Quelle, eben den heroischen Romanen, erklären. Dort fand sie ebenso wie Leland das Vorbild, die historischen Namen und Ereignisse für eine aus der Phantasie geborene Handlung zu benutzen. Sie behandelt Elisabeth, Essex, Leicester im Grunde nicht anders wie es früher mit dem großen Cyrus oder Pharamond geschehen war. Nur wirkt es bei ihr gröber und überraschender, weil bei ihr die H a n d l u n g des Romans im Vordergrunde steht, der Art der „vorromantischen" Romane entsprechend, sodaß man geradezu 4 4 Als fiktive Herausgeberin des Briefs von Matilda sagt Sophia Lee in der Vorrede: „A wonderful coincidence stamps the narration at least with probability, and the reign of Elizabeth was that of romance." 4 5 Abgesehen von dem anfänglichen Schauplatz der Handlung und dem Thema der geheimen vornehmen Abstammung, das hier aber völlig verändert gebraucht wird, cf. besonders v. I, pp. 23, 47 u. ö.

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auf die Widergeschichtlichkeit ihres Buches gestoßen wird, und weil sie ihre Erzählung nicht in eine märchenhafte Ferne, sondern an den Ausgang des Mittelalters verlegt40. Schon hierin steht Sophia Lee den heroischen Romanen näher als Leland, denn das Unternehmen des „Longsword", ein historisches Ereignis romanhaft darzustellen, ahmte ja die heroischen Romane nicht direkt nach. Doch auch in der Handlungsführung, die für Leland durch seine Quelle ungefähr vorgezeichnet war, stand Sophia Lee völlig unter dem Einfluß der heroischen Romane: das Konstruktionsmotiv ist dreimal echt heroisch zunächst die sich bewerbende, dann die verfolgte treue Liebe47. Freilich ist auch hier aus den Liebenden jedes Mal ein verheiratetes Paar geworden; aber das Grundmotiv bleibt das gleiche. Auch sonst sind viele Veränderungen im Sinne des bürgerlichen Geistes vorgenommen, und dementsprechend ist gerade Richardsons Einfluß sehr spürbar. Seine Schuld ist die unmögliche Verquickung der Briefform mit der fortlaufenden Erzählung der Handlung, wobei übrigens ebenfalls sehr viel deutlicher als bei Leland in den eingeschobenen Berichten und Briefen die vielen Nebenerzählungen der heroischen Romane noch beibehalten werden. Auf Richardson geht die die Stimmung des ganzen Buches durchziehende Sentimentalität48 zurück, und wenn die Liebe aller drei Paare tragisch endet, so ist dieser neue, in allen folgenden Romanen dieser Art beibehaltene Ausgang ein einzelnes Ergebnis dieser sentimentalen Grundhaltung. In der Darstellung der Charaktere zeigt Sophia Lee auffällige Bemühung um individuell differenzierte Zeichnung. Zwar sind Helden und Heldinnen, noch schemenhafte, heroische Gestalten, aber welch Gewinn gegenüber Leland, Walpole, Clara Reeve ist es, wenn Sophia Lee wenigstens versucht, Matilda und Ellinor als die tatkräftige, aktive und die zarte, zerbrechliche, passive Natur zu kontrastieren! Noch weiter geht sie, wenn sie erkennt, wie ganz anders ihre Männergestalten objektiven Betrachtern erscheinen müssen als den liebenden Frauen: wir hören Ellinors Urteil über Leicester, Matildas Geliebten4" und das der Gräfin Pembroke über Essex60 — da haben die Helden mit einem Mal 48 Es ist Sophia Lee natürlich zu Gute zu halten, daß ihr die elisabethanische Zeit weniger bekannt war als uns heute, und daß sie ihr deshalb ferner vorkommen mußte. 47 Ellinor-Essex, Matilda-Leicester und Maria Stuart-Howard (in der Geschichte der Königin, wie sie den Kindern im recess von ihrer Erzieherin erzählt wird). 48 Binkert, 1. c., pp. 44 ff. behandelt das „Recess" geradezu als Hauptvertreter der „stark sentimentalen Richtung" im historisierenden Roman. 4 » vol. II, pp. 160 f. 80 vol. III, p. 153.



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viel vom Heroischen verloren-, Elisabeth wird unfreundlich geschildert51, und Jakob I. gar erscheint unsympathisch und abstoßend52. Unter den späteren Romanen, die den von Sophia Lee eingeschlagenen Weg weiter beschritten, ist zunächst Francis Lathoms „The Fatal Vow; or, St. Michael's Monastery"53 nennenswert. Die Heldin des Buchs ist Richard Löwenherz' Geliebte, Matilda, wie sich im Verlauf des Buches herausstellt, die Tochter Rosamonds, der Geliebten Heinrichs II., aus der Ehe, in der sie lebte, ehe sie den König kennenlernte. Richard sieht Matilda zum ersten Mal, wie er unter falschem Namen zurückgezogen in einem Kloster lebt, um den Schmerz zu überwinden, daß sein Vater seine Braut verführt hat. Matilda wird in der Nähe von ihrem Vater, einem mürrischen Alten, erzogen, der ihr zwar das Bild ihrer Mutter gezeigt hat, sie aber schwören läßt, nie sich nach ihr zu erkundigen und sie nur anzuerkennen, wenn sie sie im Sterben findet (das titelgebende „fatal vow"). Nach dem Tode ihres Vaters kommt Matilda in ein Kloster, wo ihr jeder Verkehr mit Richard — dessen Liebe sie erwidert, obgleich sie ihn nur als „Reginhald" kennt — untersagt ist. Sie will fliehen, gerät in die Hände von Soldaten, besonders der Führer — es ist John Lackland — bedrängt sie, da kommt Richard, befreit sie, gibt sich zu erkenneil und nimmt sie als seine Braut an. Matilda kommt nun bis zur Hochzeit zur Königin Eleanor, und sie begleitet sie auch, wie Eleanor nach Woodstock Bower geht, um an Rosamond Rache zu nehmen, die ihr die Liebe des Königs entzieht. In der sterbenden Rosamond erkennt Matilda ihre Mutter. Sie zieht sich in ein Kloster zurück, denn sie muß ihre Liebe zu Richard überwinden: hat doch sein Vater ihre Mutter verführt, und seine Mutter hat sie er mordet. Richard bewirbt sich aber weiter um Matilda, auch wie er schon König ist; wie alle Versuche gescheitert sind, zieht er verzweifelt auf die Kreuzfahrt. Auf der Rückkehr wird er — in sehr eingehend geschilderter Szene — vom Herzog von Oesterreich auf

51 z. B. vol. II. p. 204: „Elizabeth finding threats and interrogations alike lost on a girl whose absent senses seemed to have wholly retired into her heart, now gave way to one of her violent transports; she threw a large book of devotion, which lay by her on the table, with so good an aim, that it struck me on the temple, and I sunk senseless on the ground". 52

zitiert.

Die in Betracht kommenden Stellen sind bei D. Binkert, 1. c., p. 53 i -r1 • : f.-'i.vjj

53 1807. 2 vols. Fünf Jahre vorher hatte Lathom den Roman „Astonishment!!! A Romance of a Century ago" geschrieben, der nach den Angaben bei D. Binkert 1. c., pp. 85 f. ein historisierender Schauerroman gewesen zu sein scheint, oder wenigstens starke Einflüsse von diesen zeigt, der aber in eine merkwürdig späte Zeit verlegt ist.

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Schloß Trevallis gefangen gesetzt. Die Angebote von des Herzogs orientalischer Geliebten, ihn zu befreien, lehnt er ab, weil er das mit seiner Liebe bezahlen soll. Aber die Nachricht von seiner Gefangennahme ist inzwischen nach England gekommen, und nun macht Matilde sich, als Minstrel verkleidet, in Begleitung des Ritters, der ihre Mutter in Woodstock Bower bewachte, auf, Richard zu suchep. Sie findet und befreit ihn, und hat nach der Rückkehr auch noch den größten Anteil an der Ueberwindung des Aufstandes von John Lackland; dann zieht sie sich wieder ins Kloster zurück. Obgleich über zwanzig Jahre der Weiterentwicklung dazwischen liegen, stellt Lathoms Roman, verglichen mit dem „Recess", kaum einen Fortschritt dar, wenigstens was die Behandlung des Historischen betrifft. Wieder haben wir einige Tatsachen — Richards Kreuzzug und die Gefangenschaft in Oesterreich, sowie Lacklands Aufstand, außerdem die Rosamond- und die Blondelsage", die Lathom ja auch als Ueberlieferungen vorlagen — denen aber völlig neue Beweggründe und ein völlig romanhafter Zusammenhang hinzugedichtet sind; aber die historischen Namen und die wenigen historischen Tatsachen geben dem Roman doch erst das wirkliche Interesse. Im Grunde wirkt die sentimentale Handlung hier noch unsinniger, wo sie ins rauhe Mittelalter verlegt ist, als bei Sophia Lee, wo man in der Bewegtheit des 16. Jahrhunderts schließlich auch über diese Note nicht erstaunt ist. Dagegen ist Lathoms Buch romantechnisch unbedingt weiter als das von Sophia Lee, das ein wenig primitiv blieb. E i n e Handlung ist an die Stelle der zwei Haupt- und mehreren Nebenhandlungen getreten; auch hält sich das Geschehen weit mehr im Bereich des Möglichen. Vor Allem findet man wenigstens unter den Nebenpersonen wirklich gut gelungene oder angedeutete Charaktere, so Prinz John, rauher Soldat und höfischer Lebemann in eins55, oder die Nonnen in dem Kloster, in dem Matilda einen kurzen Teil ihrer Jugend verbringt, deren Charaktere gut differenziert sind und dem entsprechen, wie man erwartet, daß verschiedene Frauen sich im Kloster entwickeln würden, vor Allem 5 * Die Behauptung, Rosamond sei bereits verheiratet gewesen, als sie die Mätresse des Königs wurde, und ihr Mann sei durch ihre Untreue aus dem bürgerlichen Leben herausgetrieben worden, ist wohl aus der Jane Shore-Sage herüberverpflanzt. — Die Blondelsage wurde 1771 zum ersten Mal von Goldsmith in seiner „History of England" als historische Tatsache berichtet, während sie bis dahin immer nur als Stoff der schönen Literatur erschienen war. Goldsmiths sehr verbreitetes Werk (8. Auflage 1800) mag also Lathom vorgelegen haben, oder auf Grund von ihm konnte Lathom allgemeine Bekanntschaft mit der Sage voraussetzen. Daß Blondel in Wahrheit eine Frau gewesen sein soll, ist natürlich völlig freie Erfindung von Lathom. 55

vol. I, pp. 150 f. — 70 —

die mannstolle Nonne, die von jeder Novizin lüsterne Liebesgeschichten hören will56. Solche Fortschritte sind aber weniger Lathoms eigenes Verdienst, als daß sie in der Zeit liegen; mit der größeren Entfernung vom heroischen Roman werden die historisierenden Romane labiler und damit den eigentlich selbstverständlichen Veränderungen ihrer Form und den Einflüssen der charakterschildernden realistischen Romane zugänglicher. Einem interessanten und, wenn man an seine literarische Herkunft denkt, überraschend guten Roman begegnen wir in Anna Maria Porters „Don Sebastian; or, The House of Braganza. An Historical Novel"57. Den Inhalt bildet das Leben des Königs Sebastian von Portugal, der in Wirklichkeit wahrscheinlich jung in Marokko gefallen ist, wenn auch später verschiedene falsche Sebastiane auftauchten und Identität mit dem gefallenen König für sich in Anspruch nahmen. Einen von ihnen, der als letzter von Venedig aus seine Rechte geltend machte, nahm Anna Maria Porter als echt an, und sie erzählt nun sein ganzes Leben: seine heldische Jugend, den Krieg in Marokko, in dem er gefangen genommen und totgesagt wird — in Wirklichkeit entflieht er mit Hilfe einer Marokkanerin, die ihn liebt. Er findet in Portugal seinen Thron usurpiert, seine Geliebte untreu; so kehrt er nach Marokko zurück und heiratet nach vielen Erlebnissen das Mädchen, das ihn befreit hat. Für sie und bald mit ihr erlebt er in Marokko, Persien und Brasilien unendliche Abenteuer. Sie bekehrt ihn zum Protestantismus, zu dem sie ebenfalls übergetreten ist. Das ist die große Schwierigkeit, wie er nach Europa zurückkehrt und von Venedig aus seinen Thron reklamiert; zunächst findet er durch geschickte Ausnützung der politischen Lage Unterstützung, aber wie sein Glaube bekannt wird, sieht er sich völlig verlassen, ja er wird dem jetzt auch über Portugal herrschenden König von Spanien ausgeliefert und als angeblicher Betrüger zur Galeere verurteilt. Zwar befreien ihn die wenigen Getreuen, die er noch hat, aber er vermag nur noch ein stilles Wanderleben zu führen, bis er am letzten Tage seines Lebens doch die Freude hat, sein Haus auf dem portugiesischen Thron wiedereingesetzt zu sehen. Wieder ist es also ein Roman, der einer bekannten historischen Persönlichkeit erfundene Abenteuer andichtet. Aber Sophia Lee und Lathom gegenüber hat Anna Maria Porter doch eine ganz bedeutende wertvolle Veränderung vorgenommen: sie schiebt nicht mehr Personen und Geschehnissen neue, angeblich bis dahin geheim gebliebene Motive unter, obgleich wir die wahren Verhältnisse genau kennen, sondern sie füllt eine von der strengen Geschichtsschreibung — nicht auch der apokryphen, wie sich 58 57

\ol. I, pp. 116 ff. 1809. 4 vols. Nachdruck 1831 und sicher noch öfter. — 71 —

zeigen wird — leergelassene Spanne im Leben ihres Helden vom Krieg in Marokko bis zum Wiederauftauchen in Venedig und nach der Venediger Zeit durch ihre Erfindungsgabe mit zwar reichlich romanhaften, aber doch nicht schlechterdings unmöglichen und der Wahrheit widersprechenden Abenteuern an. Zwar war ihr das durch ihren besonders günstigen Gegenstand leicht gemacht, und auch wo Sebastians Leben uns bekannt ist, da ergänzt sie es immerhin romanhaft, wie es nötig war. Aber sie besitzt doch Achtung vor den Tatsachen der Geschichte, die sie nur im nötigsten Fall verändert. So ist es nicht verwunderlich, daß sie als einzige in dieser Entwicklungsreihe sich mit den Quellen genauer befaßt hat. Sie führt im Vorwort allgemeiner die „general histories and accounts of particular periods" auf, spezieller außerdem das „Harleian Miscellany" und „a curious old tract published in 1602, containing the letters of Texere, de Castro and others" (über den Venediger Pseudosebastian)58 — hier fand sie einige phantastische Angaben über das Leben Sebastians nach dem Krieg in Marokko, die die Grundlage ihrer Erzählung bildeten. Anna Maria Porter selbst scheint übrigens an der Echtheit des Venediger Prätendenten nicht gezweifelt zu haben und wollte offenbar mit ihrem Buch zugleich eine Apologie für ihn liefern. Der andere, weit bedeutendere Fortschritt des „Sebastian" ist, daß in ihm die überlieferte beherrschende Rolle der Liebe beseitigt und ihr nur ein Platz neben Anderem eingeräumt wird. Das ist um so merkwürdiger, als Anna Maria Porter sonst vielleicht noch ein engeres Verhältnis zu den heroisch-galanten Romanen gehabt hat, denn die Art und das Ausmaß der Abenteuer, auch ihr ferner, großer Schauplatz, weiter die von Gefahren und Hemmnissen verfolgte Liebe der Marokkanerin und des Königs stehen dem Vorbild des roman heroique auffällig nah, ebenso wie manche Einzelmotive: Gefangenschaft, Schiffbruch etc., wenn sie auch zum Teil in den Quellen angedeutet sind. Aber auch die hier vorhandene heroische Liebe begründet und beherrscht durchaus nicht das ganze Geschehen des Buchs. Vielmehr ist es der Dichterin gelungen, Alles aus dem Charakter des Helden und seinen Wandlungen abzuleiten und so nicht nur den äußeren Ablauf, sondern auch den inneren Entwicklungsgang eines Lebens zu zeichnen. Aus dem kraftvollen, aber übermütigen Wesen des jungen Fürsten ergibt sich mit innerer Notwendigkeit das viele Unglück, das ihn verfolgt; wie er allmählich reifer wird, gestaltet 58 Es handelt sich um drei romanhafte Schriften des Portugiesen José Teixeira über Sebastian, die 1601, 1602 und 1603 in englischer Uebersetzung erschienen, und von denen die dritte im „Harleian Miscellany" (vol. V, pp. 461 ff.) erschienen ist; von ihnen hat Anna Maria Porter die zweite und die dritte gekannt. — Einen Zusammenhang ihres Romans mit dem 1683 übersetzten französischen über dieselbe Gestalt streitet A. M. Porter ab.

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sich auch sein Schicksal freundlicher; wie dann später freilich der allzu selbstlos, vertrauensvoll und gütig gewordene Mann sich gegen die halbe Welt durchsetzen will, hat er sich die alte, unbekümmerte Durchschlagskraft nicht erhalten können; so wird er von den Intriguen der Großmächte zermahlen; aber wie es seinem Wesen entspricht, bleibt ihm doch noch ein glückliches, ruhiges Alter, das sich freilich von der Politik fernhalten muß. Natürlich ist auch „Don Sebastian" ein Roman dritten Ranges, aber man möchte doch glauben, daß das zum Teil Schuld der ganzen Gattung gewesen ist, die zu widersinnig war, als daß in ihr gute Leistungen hätten gelingen können. Immerhin hat die Dichterin einen der Wege gefunden, auf denen hier am ehesten etwas hätte erreicht werden können. Neben Anna Maria Porters Werk blieb das Niveau der Abenteuerromane aus dem Leben historischer Persönlichkeiten das niedriger Unterhaltungsliteratur, die in diesen Erzählungen ein ebenso erfolgversprechendes Gebiet fand wie in den historisierenden Geistergeschichten. Im Einzelnen muß wenigstens noch Elizabeth Helme erwähnt werden, vor allem wegen ihres wohl besten Romans „St. Clair of the Isles; or, The Outlaws of Barra. A Scottish Tradition"59, in dem in interessanter Abenteuererzählung dem dritten Earl of Orkney, der zu einer ganz unhistorisch-romanhaften Gestalt wird, eine fast völlig erfundene Lebensgeschichte nachgesagt wird (er soll von Jakob I. nach Barra verbannt sein, von wo er mit seinen Getreuen Züge aufs Festland macht, bald um das ihnen vorenthaltene Geld einzutreiben, bald um eine junge, sehr reizend geschilderte Dame zu schützen, die St. Glairs Frau wird; später werden die Verbannten begnadigt und setzen sich auch in Schottland bald gegen ihre Gegner oder in Versöhnung mit ihnen durch; viele Einzelszenen sind geschickt in diese Haupthandlung hineinverwoben). Aber das Leben der Verbannten auf Barra ist so hübsch gezeichnet, daß man der Verfasserin ihre allzu rege Phantasie gern nachsieht60. 59 1804. 4 vols. Ein Nachdruck erschien noch 1867 in der volkstümlichen Sammlung „Notable Novels". Elizabeth Helmes beiden anderen Romane, „St. Margaret's Cave; or, The Nun's Story. An Ancient Legend", 4 vols., 1801, und „The Pilgrim of the Cross; or, The Chronicles of Christabelle de Mowbray. An Ancient Legend", 4 vols., 1805, sind anscheinend im großen Ganzen entsprechender Art. 60 Abenteuerromane von berühmten Persönlichkeiten der Geschichte waren z. B. noch: L. Armstrong, The Anglo-Saxons, 1806. cf. infra pp. 81 f. Jane Porter, The Scottish Chiefs, 1810. cf. infra pp. 92 ff. Sehr interessant, wenn auch wertlos, ist noch John Aggs „Edwy and Elgiva, an Historical Romance of the Tenth Century", 1811, 4 vols., in dem das populäre Thema von König Edwys Kampf mit den Mönchen um seine Geliebte Elgiva (1784 von Th. Warwick als Drama und 1808 von Robert Bland

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Eine eigenartige Veränderung machte der historisierende Roman nach der Art Sophia Lees in James Whites „Earl Strongbow; or, The History of Richard de Cläre and the Beautiful Geraida"81 durch. Strongbow wird als Knappe vom Herzog von Shrewsbury erzogen. Er liebt Geraida, des Herzogs Tochter, und wie es ihm gelingt, sie von einem Nebenbuhler zu befreien, der sie entführen will, hält er um ihre Hand an und wird auch angenommen unter der Bedingung, daß er sich vor der Hochzeit ritterlichen Ruhm erwirbt. So zieht er nach Wales, um an einem geplanten Turnier beim Grafen Llewelyn teilzunehmen. Unterwegs erlebt er viele Abenteuer; seine Nebenbuhler versuchen, ihn zu vergiften; er kommt auf ein altes Schloß, wo ein Ritter seiner Dame ewige Leichenwacht hält; er befreit einen unglücklichen Mönch von Räubern, und er gewinnt die Freundschaft eines fahrenden Ritters aus Spanien, der seine Heimat verlassen hat, weil er den Bruder seiner Geliebten erschlug, und dessen Geschichte wir ebenso hören wie die des Mönchs. Endlich erreicht Strongbow Llewelyns Schloß und gewinnt die erstrebten Triumphe. Aber ehe er heimkehren kann, nimmt er an der Rettung einiger von einem wallisischen Häuptling in einem Schloß festgehaltenen Ritter und Damen teil, für die eine Dame am Hof Llewelyns Hilfe erbeten hat. Dabei gewinnt er solchen Ruhm, daß er zum Führer eines Kriegszuges nach Irland gewählt wird; der König von Leinster ist nämlich ebenfalls, von seinem Thron vertrieben, nach Wales gekommen und hat um Hilfe gebeten. Nachdem aus ganz England Ritter zusammengekommen sind, bricht man auf; es wird zunächst die Stadt Wexford erobert, dann folgt die sich immer wieder in Einzelkämpfe der führenden Ritter auflösende Entscheidungsschlacht, in der die Engländer siegen; Strongbows Freund, der spanische Ritter, fällt. Der König von Leinster besteigt wieder seinen Thron. Auf dem Heimweg nach Shrewsbury begegnet Strongbow einer als Mann verkleideten Dame, die ihm nicht nur als Verserzählung behandelt) in Form eines geradezu phantastischen Abenteuerromans erzählt wird. 91 London 1789, 2 vols. Ins Französische und Deutsche übersetzt (1789 bezw. 1790). White schrieb außerdem zwei weitere historisierende Romane: „The Adventures of Richard Coeur de Lion", 1791, 3 vols. (1792 ins Deutsche übertragen), eine außerordentlich minderwertige Novellensammlung in einer Rahmenerzählung, die Richards Rückkehr aus Oesterreich nach England berichtet, mit starken Einflüssen aus den realistischen Romanen; doch zeigt das Buch in der Groteskheit und Albernheit vieler Szenen wohl schon Spuren der Krankheit, in der White einige Jahre später starb, so daß man es trotz mancher interessanter Einzelheiten am besten kurz übergeht, da es literarhistorisch keine Bedeutung hat. Schon ein Jahr vorher war der dritte Roman von White, „John of Gaunt", 1790, 3 vols. (1791 ins Deutsche übersetzt), erschienen, der in jeder Beziehung in der Mitte zwischen seinem Vorgänger und seinem Nachfolger steht. — 74 —

ihre eigene Geschichte erzählt (sie hat einen Mann geheiratet, von dem sie glaubte, er sei ein junger Ritter, aber es stellt sich heraus, daß es ein verfallener Greis ist, der in einer ausgestopften Rüstung geht), sondern auch, daß Geraida sich ins Kloster zurückgezogen hat, weil Strongbow angeblich die als Siegespreis ausgesetzte Tochter des Königs von Leinster geheiratet hat. Strongbow klärt Alles auf, und seine und Geraidas Hochzeit findet statt. Das Glück ist aber nur von kurzer Dauer; Geraida ertrinkt auf der Fahrt nach Strongbows Schloß. Strongbow trauert ihr lange nach, läßt sich aber schließlich überreden, wieder zu heiraten, und zwar nun doch die Tochter des Königs von Leinster. Nach dessen Tod wird er selbst König und regiert lange als Vasall des Königs von England. Nach seinem Tod wird er mit gewaltigem Pomp zur Seite seines Freundes, des spanischen Ritters, bestattet. — Diese Geschichte ist sehr ungeschickt in eine doppelte Rahmenerzählung eingebettet: der Verfasser selbst findet, wie er uns erzählt, ein Manuskript, und darin berichtet ein unter Karl II. in Chepstow gefangen gesetzter Edelmann über seine nächtlichen Unterhaltungen mit dem Geist Strongbows, der ihm seine den eigentlichen Inhalt des Romans (der entsprechend in „Nights" eingeteilt ist) ausmachenden Erlebnisse erzählt. Der Versuch, den White hier unternommen hat, und den ihm anscheinend niemand nachahmte, ist, die alten Ritterromane wieder aufleben zu lassen. Er scheint ein ziemlich enges Verhältnis zu den spätmittelalterlichen Ritterbüchern gehabt zu haben. Ein langes Gespräch darüber in der äußeren Rahmenerzählung gibt den Anlaß, daß er zu dem alten Manuskript kommt, in dem er die Geschichte von Strongbow gefunden haben will, und einmal schildert er uns auch in ziemlich anachronistischer Weise seine alten Ritter bei solcher Lektüre62. Er nennt an solchen Büchern außer den in der zitierten Stelle erwähnten „Amadis", „Sir Bevis of Hampton" und dem Karlsroman noch die pseudoturpinische 62 Die Stelle zeigt zugleich Whites eigenartig naive Darstellung so gut, daß man sie doch in extenso zitieren kann: (Strongbow besucht den durch einen unglücklichen Zufall verwundeten Grafen Northumberland) „1 found him sitting up in his bed and listening attentively to de Tracy, his squire, who was reading to him the History of Amadis de Gaul . . . We then conversed upon books of chivalry. The Earl informed me that to his infinite affliction he was approaching to the last page of Amadis de Gaul, and dispaired of meeting with any other history, which treated of deeds of arms in a style at once so affecting and sublime. 1 mentioned the romance of Sir Bewis of Hampton. ,Alas I', replied he, 'I have heard it read so often, that it is now engraved too deeply on my memory to afford any longer the delight of novelty. The achievements of Charlemagne and the twelve peers of France, would indeed be a delicious banquet to my soul; but unfortunately the manuscript is become so scarce that it is exceeding difficult to obtain a sight of it. There is but one of it, I believe, in all England, and that is in the abbey of Glastonbury' . . . 'I once offered', continued he,

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Karlsgeschichte83 und auch Geoffrey of Monmouth", ebenso wie er auch im „John of Gaunt" oft auf die Volksbücher etc. zurückkommt. Natürlich konnte Whites Versuch, diese Bücher nachzuahmen — wobei er sich anscheinend gern an die chapbook-Fassungen, die die spätmittelalterlichen Romane bis in seine eigene Zeit weiterführten, hielt — nur ihre äußere Form und das äußere ritterliche Milieu fassen. Dahinter verbirgt sich genau derselbe Geist, wie er Sophia Lee zu ihrem „Recess" führte, und auch in der äußeren Technik der Behandlung des Historischen gleicht er ihr. Wieder ist es eine historische Persönlichkeit, der erfundene Abenteuer nachgesagt werden — nur ein paar wirkliche Tatsachen halten die Geschichte auch hier im Bereich der Scheinrealität. Strongbow (gestorben 1176) hat tatsächlich Dermot, dem König von Leinster, beigestanden bei der Wiedereroberung Irlands, hat dessen Tochter Eva geheiratet und ist unter außerordentlichen Schwierigkeiten (durchaus nicht so reibungslos, wie White es hinstellt85) sein Nachfolger gewesen. Alles Uebrige hat White in diese Tatsachen hineingefabelt, wenn er auch in seiner wahrscheinlichen Quelle, jenem anglo-normannischen Dichter, der zu Ende des 12. Jahrhunderts eine normannische Verschronik der Eroberung Irlands schrieb, die wohl den historischen Tatsachen widersprechende freundliche Auffassung Strongbows fand68. Aber im Gegensatz zur Art Sophia Lees und der ihrer Nachfolger behandelt White das Leben seines Helden nicht im „heroischen" Sinn, sondern als das eines Artusritters, der ausfährt, für seine Dame Ruhm zu gewinnen; ritterliche Abenteuer der verschiedensten Art begegnen ihm; der Hof Llewelyns spielt dieselbe Rolle wie Artus' Tafelrunde. Trotz Allem blieb Whites Leistung nur ein interessanter Versuch, den er selbst später aufgab. Neben den historisierenden Geisterromanen und neben jenen, wie sie Sophia Lees „Recess" inaugurierte, bildete sich bald eine zahlenmäßig nur schwache, aber doch sehr wichtige Gruppe historisierender Romane, die die Geschehnisse einer bestimmten Zeit in getreuer chronologischer Darstellung, aber in romanhafter Verbrämung zu schildern versuchten. Das wenn nicht bedeutendste, so doch bekannteste Werk dieser Art ist Clara Reeves „Memoirs of Sir Roger de Clarendon, the Natural Son of Edward Prince of 'to pledge the barony of Warkworth to the monks of Glastonbury, for the loan of that splendid volume for one whole year, but so inestimable did they deem it, that my proprosal was rejected . . 83 vol. II, p. 98. 81 ibidem. 85 vol. II, p. 187: „the whole kingdom resounded with rejoicings" (als Strongbow den Thron bestieg). 88 Dort erschien Strongbow als „gentils" und „vailland", während die Hauptquelle, Giraldus' Expugnatio Hibernica, ihm direkt die ritterliche Qualität abspricht. — 76 —

Wales, commonly called the Black Prince; with Anecdotes of Many Other Eminent Persons of the Fourteenth Century"67. Der erste (später in anderem Zusammenhang kurz zu untersuchende) Band wird zwar von wirklicher romanhafter Handlung ausgefüllt, aber i m Weiteren dient das von Sir Roger de Clarendon berichtete Leben seines Vaters und die Geschichte seiner eigenen Erlebnisse fast nur noch dazu, einen Yorwand für die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse in England und Frankreich unter Eduard III., Richard II. und Heinrich IV. zu geben. Man glaubt sich zurückversetzt in die Zeit der „Amours of Edward IV." und des „Black Prince", wenn man liest, wie hier dem Leser über zwei Bände hinweg genau geschilderte Berichte, Listen der berühmten Engländer und Schotten jener Zeit, der ersten Ritter des Hosenbandordens, der Teilnehmer an der Schlacht von Crecy etc., und bis ins Einzelne gehende anekdotische Schilderungen aus den Kriegen vorgesetzt werden. Dieser Akribie der Schilderung entspricht die lange Liste wissenschaftlicher Quellen, wie sie ebenfalls aus jener früheren Zeit bekannt sind: Froissart, Walsingham, Holinshed, Hall, Stow, Harding, Speed, Baker, Joshua Barnes, Rapin, Smollett. Es wird Clara Reeves rationalistische Art gewesen sein, die sie zu solcher romanhaften Geschichtsdarstellung geführt hat, wie sie sie schon früher veranlaßt hatte, die Geisterweit Walpoles auf ein Maß zu reduzieren, das vor der Vernunft standhalten konnte, und wie sie sie ja auch später zu theoretischer Beschäftigung mit dem Roman führte („The Progress of Romance"), die ihr weit besser gelang als ihre Erzählungen selbst. Es ist interessant, zu beobachten, wie ein rationalistisches Temperament so sowohl den historisierenden wie auch den Geisterroman nach seinen Bedürfnissen umzugestalten verstand. Eine völlige Einheitlichkeit des entstandenen Werks gelang ihr freilich auf ihrer rationalistischen Basis nicht mehr. Waren schon ihre Geistererscheinungen im „Old English Baron" nicht mehr so recht grauenhaft gewesen — so sehr die Art ihrer Verwendung einen Fortschritt bedeutete — so klafft im „Roger de Clarendon" direkt ein gewaltiger Gegensatz zwischen der romanhaften Handlung, die beliebig gegen die bekannten Tatsachen anphantasiert, und der chronologischen Genauigkeit des historischen Hintergrundes. Dem Schwarzen Prinzen wird eine Liebe zu einem Mädchen aus Calais angedichtet, mit dem er in einem Lustschloß nahe Salisbury ein geheimgehaltenes idyllisches Leben führt, während die Ehe mit der Fair Maid of Kent als eine widerwillig geschlossene Zwangsehe geschildert wird, im Gegensatz zu der Clara Reeve bekannten, ausdrücklich das Gegenteil betonenden Angabe bei Froissart. Ueber Roger de Clarendon wissen die 67

1793. 3 vols. Eine ausführliche Inhaltsangabe findet sich bei D. Binkert, 1. c., pp. 60 ff. — 77 —

Quellen fast nichts 68 , Clara Reeve vermag uns umso mehr von ihm zu erzählen. In dieser Verwendung historischer Persönlichkeiten als Helden ihrer Geschichte folgt sie dem Brauch Sophia Lees, aber doch wohl auch dem der historisierenden Romane aus der Schule der Mme. de Lafayette, von denen sie z. B. den „Douglas" der Comtesse d'Aulnoy 68 kannte. Dieser Widerspruch zwischen der angestrebten Genauigkeit der historischen Berichte und der historischen Unzuverlässigkeit der eigentlichen Romanhandlung ist also der alte solcher Romane, aber bei Clara Reeve kommt gegenüber den psychologischen historisierenden Romanen der Franzosen zweierlei erschwerend hinzu: die alten Romane zeichneten den Hintergrund genauer, um die Handlung in einen realistischen Rahmen zu setzen, und es kam auf mehr oder minder vollständig erreichte Genauigkeit nicht so sehr an, wenn nur der Hauptzweck, die Handlung glaubhaft zu machen, erreicht war; ähnlich hatte es, freilich weniger ausgeprägt, mit dem wenigen historischen Material der Leland, Walpole, Sophia Lee gelegen; Clara Reeve schreibt dagegen hier ihre Romanhandlung nur, um ihre Geschichtsdarstellung zusammenzuhalten, und durfte deshalb nicht hierin plötzlich ihre Phantasie schrankenlos die ihr bekannten Tatsachen verändern lassen, wo doch der Zweck ihres Buches nicht eine interessante Abenteuererzählung, sondern ein genauer Bericht über die geschichtlichen Ereignisse einer bestimmten vergangenen Zeit war. Schlimmer noch ist es, wenn bei Clara Reeve neben der Nüchternheit der historischen Berichte plötzlich in der Handlung die größte Sentimentalität erscheint; sie neigt sogar in den erzählenden Teilen des Buches zum reinen Familienroman, und das gibt denn doch dem Buch für unsern heutigen Geschmack eine häßliche Unausgeglichenheit. Sehr viel geschickter verband in einem im gleichen Jahr erschienenen Buch eine anonyme Schriftstellerin die Elemente der geschichtlichen Darstellung und der Romanhandlung miteinander. Das Thema dieses Romans, der „The Minstrel; or, Anecdotes of Distinguished Personages in the Fifteenth Century" 70 heißt, ist im Grunde einfach: das fünfzehnte Jahrhundert. Im Vordergrunde steht wie bei Clara Reeve das Politische, das uns teils direkt, teils in Berichten und Gesprächen auftretender Personen dargestellt wird. Daneben wird aber auch versucht, ein lebendiges Bild der 68 Nur eine Stelle aus Walsinghams „Historia Anglicana" (Rolls Series) v. II, p. 249, hat Clara Reeve vorgelegen: „Suspensus est etiam eo t e m p o r e (1402) Rogerus de Clarindon, filius, ut dicebatur, nothus quondam nobilis principis Edwardi; et cum eo suus armiger et valectus; eo quod accusati de proditione, defecerunt in purgatione". 98 Nach Ausweis des „Progress of Romance", v. II, p. 60. Gegen die Lafayetteschen Romane steht Clara Reeve übrigens ablehnend (y. I, pp. 114—115). ™ 1793. 3 vols.

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Hauptpersonen zu geben, und auch Kulturgeschichtliches wird gelegentlich erwähnt, oder das London und! das Westminster jener Zeit werden beschrieben 71 . Die Handlung, die das Ganze zusammenhält, ist nun sehr geschickt ausgedacht. Wir werden medias in res in eine sehr lebhafte, nur auch sehr langweilige Auseinandersetzung zwischen Anhängern der Weißen und der Roten Rose hineingeführt. Aus dem politischen Interesse löst sich allmählich das Interesse für die Liebe eines Mädchens heraus, das seinen Liebhaber scheinbar verliert und vor einem ungeliebten Freier fliehen muß. Als Minslrel verkleidet geht sie in die Welt hinaus, und die Darstellung ihrer Zeit erfolgt nun mittels ihrer Erlebnisse, der Gespräche, die sie anhört, oder der Berichte über das politische Geschehen, die sie sich machen läßt, oder indem sie mit den großen Persönlichkeiten jener Periode in Berührung gebracht wird. Am Schluß findet sie doch ihren Geliebten wieder und heiratet ihn. Es ist schade, daß dieser interessante und gut ausgedachte Versuch, ein umfassendes Bild einer bestimmten Zeit zu entwickeln, mit ganz unzureichenden künstlerischen Mitteln vorgenommen ist, sodaß das Buch sonst in keiner Weise über dem Durchschnitt steht. Der dritte und letzte Roman dieser Reihe, Henrietta Mosse' „A Peep at our Ancestors. An Historical Romance" 72 steht vielleicht in direkter Verbindung mit Clara Reeves „Roger de Clarendon". Die Handlung ist etwas stärker betont, steht aber in einem ähnlichen Verhältnis zum Historischen wie bei Clara Reeve, und derselbe Gegensatz zwischen Sentimentalität und Nüchternheit ist vorhanden. Saintsbury 73 zitiert den schönen Ausspruch der „gentle elegant Adelaize", der Heldin dieses Romans aus dem 12. Jahrhundert: „And do I not already receive my education of thee, mama?" Das ist bezeichnend für die eine Seite des Buches, andererseits wird z. B., wenn etwa eine Kirchenglocke erklingt, in einer Anmerkung dazu gleich eine Rechtfertigung gegeben, dahingehend, daß nach Stow in England Kirchenglocken schon seit 612 benützt würden 71 . Die Verfasserin bemüht sich, wie die des „Minstrel" und Clara Reeve um Genauigkeit in der Wiedergabe des Tatsachenmaterials und dehnt das auch aufs Kulturhistorische aus; von der inneren Andersartigkeit der geschilderten Zeit hat sie keinen Begriff. Die Heldin des Buches ist eine frei erfundene Gestalt, Adelaize, die Tochter eines ebenfalls frei erfundenen Grafen Waltheof, angeblich ein Sohn jenes Waltheof, der 1076 auf 71

vol. II, pp. 70 ff. Verfaßt 1804, veröffentlicht 1807. 4 vols. Ein zweiter Roman von Henrietta Mosse (später Mme. Rouvi&re), „The Old English Baronet", 1808, dürfte durch seinen Titel wohl ebenfalls auf Beziehungen zu Clara Reeve hinweisen. 73 „The English Novel", London 1913, p. 176. 74 vol. I, p. 46. 72

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Anstiften seiner Gemahlin Judith hingerichtet wurde. Adelaize wird heimlich Gattin Roberts von Gloucester, des Führers der westlichen Barone gegen König Stephan (Gloucester war in Wirklichkeit mit einer Gräfin Mabel Filz Hammon vermählt). Die Geschichte ihrer Liebe, die sie gegen den nach Höherem strebenden Ehrgeiz ihres Vaters durchsetzen muß, bildet den Faden, durch den ihre Berichte über die historischen Ereignisse zusammengehalten werden, nachdem der erste Band direkt dargestellte Geschichte enthielt, aus denen sich allmählich und erst nach mehreren vergeblichen Ansätzen die Erzählung von Adelaizes Liebe herausentwickelt. Der Roman endet mit Adelaizes Tod. Die äußere Form des Buches ist die des Briefromans (Briefe von Adelaize an eine befreundete Nonne) nach einer einleitenden großen Beichte der Heldin an ihre Mutter. Die historische Darstellung, die vor Allem im ersten Band, aber auch weiterhin, im Vordergrund steht, greift bis in die Angelsachsenzeit zurück, interessiert sich weiterhin besonders für die Eroberung und konzentriert sich dann nach Schilderung der Zwischenzeit auf die Darstellung der Kämpfe König Stephans gegen Kaiserin Matilda und Gloucester. Ganz wie Clara Reeve schöpft die Verfasserin aus zahlreichen Quellen75, für deren Beschaffung sie in der Einleitung dem British Museum und dem Herald's Office ausdrücklich dankt. So sehr diese Romanchroniken verfehlt waren, und so sehr sie auch vorübergehende Erscheinungen blieben, so haben sie doch aus mehreren Gründen Interesse. Sie zeigen, was den breiteren Leserkreisen (die „vorromantischen" historisierenden Romane waren größtenteils Leihbibliothekslektüre) an nüchterner Geschichte zugemutet werden konnte. Außerdem beweisen sie, daß vom Publikum eine Beschäftigung mit dem Mittelalter erwartet werden konnte, auch wenn das Historische nicht bloß der angedeutete Hintergrund sensationeller Abenteuer war, sondern wenn es sich nur um die tatsächliche Wahrheit der geschichtlichen Ereignisse handelte. Und schließlich hat Jane Porter, als sie einige Jahre später den einzigen bedeutenderen, aus den verschiedenen Strömungen herausragenden historisierenden Roman der „Vorromantik" schrieb, ihre „Scottish Chiefs", auch die Art der Romanchroniken wieder aufgenommen und zu Ende geführt. Ein sehr eigentümlicher, trotz seiner ganz anderen Art nur im Zusammenhang der eine gewisse Zeit chronologisch in die Breite gehend darstellenden Romanchroniken zu untersuchender 75 Es lassen sich aus Zitaten und Angaben im Text und in den Anmerkungen die folgenden Quellen zusammenstellen: Matthew of Paris, Matthew of Westminter, Gloucester Chronicles, Gervasis Dorobornensis, William of Malmesbury, Stow, Camden, Baker, Hume, Strutt, Francis Grose' „Antiquities of England and Wales". Die Vorliebe für Gloucester stammt von William von Malmesbury.



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Roman ist Leslie Armstrongs „The Anglo-Saxons; or, The Court of Ethelwulphe. A Romance" 76 . Der Inhalt des Buches ist in verkürzter Form fast gar nicht wiederzugeben. Nicht ein bestimmter Held steht im Mittelpunkt der Ereignisse, sondern der Verfasser versucht, das ganze Leben am Hof König Ethelwulfs und zu seiner Zeit zu schildern, und zwar genauer um die Zeit der Kriege gegen die Briten in Wales und der ersten Aufstandspläne Ethelbalds. Wir hören von den Kämpfen gegen Dänen und Briten und von den Schicksalen Ethelbalds und Aethelstans, der Söhne Ethelwulfs, und vieler Adliger. Aber keine dieser Gestalten, zu denen noch Ethelwulfs Günstlinge Alstan und Swithun mit allen ihren Intriguen hinzukommen, nimmt in hervortretender Weise das Interesse in Anspruch; sie werden zwar alle, ebenso wie die drei Frauengestalten des Buchs, verschieden eingehend und mit verschieden großer Sympathie behandelt — aber keine wächst zum eigentlichen Helden der Erzählung heran. In ganz entsprechender Weise ahmt Armstrong aber weiter auch darin seine Vorgänger nicht nach, daß er nicht einen bestimmten Handlungsablauf bietet, etwa eine Haupthandlung mit an den passenden Stellen eingefügten, leicht zu übersehenden Nebenhandlungen; vielmehr bietet er der Vielfalt der Personen entsprechend eine Vielfalt der Handlung, indem die Erlebnisse der auftretenden Personen nebeneinander und durcheinander erzählt wierden. Gegenüber allen anderen bisher erschienenen Romanen, deren Ziel die Erzählung einer interessanten Handlung ist, und darin nur mit den Romanchroniken zu vergleichen, versuchte Armstrong eine in die Breite gehende Schilderung einer bestimmten Zeit. Sein Titel, „The Anglo-Saxons", ist für seine Art und sein Ziel sehr bezeichnend. Er hat tatsächlich versucht, nicht mehr eine abgeschlossene interessante Handlung zu geben, sondern das ganze Geschehen in einem bestimmten Kreis — dem Hof Ethtelwulfs — zu einer bestimmten Zeit — um 853 — darzustellen. Dementsprechend hat er auch im Vorwort sich genauer über die Geschichte und die Sitten der Zeit, die er behandelt, ausgelassen, wobei er sich wiederholt direkt auf die alten Quellen beruft". Mehr als dies Gefühl, daß es eine Möglichkeit und eine verlockende Aufgabe sei, eine Zeit in allen ihren Menschen und Ereignissen in die Breite gehend darzustellen, besaß Armstrong freilich nicht. Seine angelsächsischen Figuren gleichen einander und den heroischen Vorbildern noch fast völlig; nur bei den Frauen, besonders in dem Schwesternpaar Bertha und Adelburga, läßt 78

1 806. 4 vols. Angelsächsische Annalen, William of Malmesbury, Ethelweard, Matthew of Westminster, Chronica de Mailros, außerdem Stuarts „View of the Society in Europe". Für den Roman selbst scheint nicht mehr als das bei Rapin gefundene Material benutzt zu sein. 77



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sich eine durch den ganzen Roman durchgehende Kontrastierung verfolgen79, unter dem Einfluß von Goldsmiths auch für einige andere Romane vorbildlichem Schwesternpaar Olivia und Sophia. Wo sich bei den Männern Ansätze zu individueller Charakterisierung finden, da war der Druck der geschichtlichen Ueberlieferung so stark, daß er einen gewissen Zwang ausübte. Wo Armstrong mehr oder ganz auf seine Phantasie gestellt war, werden seine Menschen sofort traditionell-schemenhaft. Ein Beispiel, wie er literarisch überlieferte Charaktere übernimmt und bedenkenlos in seine Angelsachsenzeit verpflanzt, wobei er sie zugleich auf ein künstlerisch niedrigeres Niveau drückt, ist Enulph, der wohl von Lewis' Mönch Ambrosio angeregt ist: zuerst ist er der bewunderte, großartige Mensch, später entpuppt er sich als abgefeimter Schurke, der immer tiefer in seine Verbrechen sinkt; aber weder hat Armstrong ihn als großen gespaltenen Charakter dargestellt, noch auch nur als Charakter unter fremder Maske, sondern seine andere Seite offenbart sich ganz unmotiviert, überraschend und sinnlos. Genau wie mit den Charakteren steht es mit der Handlung. All die paar alten Motive: Liebe, Krieg, Intrigue, Aufdeckung einer geheimen Geburt, Geisterhaftes finden sich hier wieder, fast jedes mehrfach wiederholt, um Stoff für die geplante mehrfache Handlung zu beschaffen, aber auch hier keines irgendwie variiert, keines auch nur für die behandelte Zeit besonders zurechtgemacht. Armstrongs Buch liegt zeitlich verhältnismäßig spät. Schon vorher haben wir die chronologischen Romane und die gleich genauer zu untersuchenden kulturhistorischen Erzählungen, in denen die historischen Ereignisse einer Zeit bezw. ihre Sitten genauer geschildert werden. Da sich gerade in diesen Romanen die neue Möglichkeit entwickelte, eine Zeit in ihrem Z u s t a n d , in die B r e i t e gesehen, zu schildern — so wie es auch Armstrong mit seiner Schilderung der Zeit Ethelwulfs versuchte7" — und nicht nur als Hintergrund einer ablaufenden Handlung, ist es umso verwunderlicher, daß Armstrong in der Handlung und in der Milieuschilderung so ganz an den ältesten primitivsten Vorbildern haften bleibt: seine Vorstellung vom Mittelalter ist so undifferenziert, daß er seine Angelsachsen in spätmittelalterlicher Eisenrüstung 80 erscheinen und Turniere reiten läßt 81 . 78

Deutlich gleich bei der Einführung der beiden Frauen, v. I, pp. 35 ff. Der Zusammenhang mit den chronologischen Romanen zeigt sich in der gleichen Genauigkeit der Auseinandersetzung mit den Quellen. Was Armstrong an (ungenauen) Sittenschlderungen bringt, kann ebenfalls durch sie veranlaßt sein (cf. „Minstrel"). 80 vol. I, pp. 186 u. ö. 81 vol. II, pp. 150 ff. 79



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Schon im „Minstrel" hatten sich Ansätze gezeigt, das 15. Jahrhundert, dessen möglichst vielseitiger Darstellung das Buch gewidmet war, auch vom Kulturhistorischen her zu fassen, und in Henrietta Mosse' „Peep at our Ancestors" hatte sich diese Tendenz verstärkt wiederholt. Joseph Strutt, der bekannte antiquary, Verfasser vor allem der „Sports and Pastimes of the People of England", nutzte die hier liegende Möglichkeit zu einem kulturhistorischen Roman, dem „Queenhoo-Hall. A Romance" 82 aus. Er versuchte, an dem Faden einer ganz unbedeutenden, traditionellen Handlung, die er nicht einmal direkt, sondern größtenteils in den Gesprächen seiner Romangestalten erzählte, ein lebendiges Bild der Kultur Englands um die Mitte des 15. Jahrhunderts zu geben. Die Handlung ist dieselbe wie in all diesen Schauerromanen: Aufklärung eines Geheimnisses, Schauerelemente, Entdeckung eines Muttermals, durch das die wahre Abkunft der Heldin ans Licht gebracht wird, sind Motive, die ahnen lassen, woher auch Strutt seine Romanhandlung entlehnt hat. Doch tritt die Handlung völlig zurück hinter den kulturhistorischen Bildern, für die sich Strutt so ausschließlich interessierte, daß er alles Uebrige außer Acht ließ. Das Kulturhistorische ist dagegen ganz hervorragend ausgeführt, mit dem Ziel, daß eine umfassende Vorstellung des Lebens in England unter Heinrich VI. erweckt werden sollte. Im Ergebnis kam es freilich darauf hinaus, daß Strutt das Landleben mehr behandelte als das Stadtleben, die niederen Stände mehr als die hohen, und daß er vom politischen Geschehen der Zeit, den französischen und den Rosenkriegen, fast gar nichts sagte. So ist als Mittelpunkt der kulturhistorischen Darstellung eine ländlichbäuerliche Idylle herausgekommen mit einem schemenhaft gebliebenen Grundherrn, der patriarchalisch über sein Dorf herrscht. Von diesem Mittelpunkt aus versucht Strutt Ausblicke in andere Lebenskreise zu ermöglichen, ohne daß ihm das im Sinn eines ganz gleichmäßigen Darstellens aller Seiten der Gesellschaft jener Zeit gelungen ist. Schon der Verleger der Erstausgabe hat die Bevorzugung der unteren Kreise empfunden und sagt deshalb im Vorwort insbesondere: „It is also to be noticed that although the ancient dialect is observed with great accuracy (generally speaking) by the lower personages of the romance, yet the language and manners of the higher rank are not gothized, if the reader will permit the expression, in the same proportion". In welcher Weise Strutt die kulturhistorischen Schilderungen vornimmt, zeigen etwa solche Kapitelüberschriften wie „Descrip82

1808, 4 vols. Strutt starb Oktober 1802 und hinterließ den Roman unvollendet, so daß man annehmen darf, er habe ihn in dem Jahr geschrieben. Die Erstausgabe des jetzt sehr seltenen Buches stammt von Scott, der es auch kurz zu Ende führte. Scotts Anteil ist in den meisten „Waverley"-Ausgaben im Anschluß an das „General Preface" abgedruckt. — 83 —

tion of a May Game in the 15th Century" oder „A Scene at a Country Ale House", oder die Art, wie er etwa die Literatur jener Zeit dem Leser vorführt. Die alten romances of chivalry werden mit ironischem Abstand geschildert, indem ein Mädchen einem anderen eine romanhafte Liebe prophezeit und ausmalt, und dabei überhaupt in eine spöttische Schilderung dieser Bücher übergeht 83 . Gelegentlich hören wir weiter von einem Jongleur ein Trinklied 84 und eine Ballade bürgerlicher Art85. Als Beispiel eines späteren romance wird der „Squire of Low Degree" gebracht, indem die Geschichte erzählt und besprochen wird 88 , Der „Death of Arthur" 87 und „Sir Bevis"88 werden beide kurz charakterisiert, und im Anschluß daran hören wir dann noch von den „populär stories of witchcraft, goblins, haunted Castles, and other trumpery of romance" 89 . Weiter gibt es eine von einem „dissour" erzählte Novelle90 und schließlich noch die ebenfalls in extenso wiedergegebene Geschichte vom „Kleinen Schneider und seiner Gans"81. Strutt fügt in seinem Schluß dann noch den „Bridal Song" ein, „which has since been borrowed by the worshipful author of the famous history of Friar Bacon"92. Ebenso wird ein möglichst vielseitiger Blick in allerlei Berufe gegeben, indem Wirt, Barbier, Jongleur, Buchillustrator eine Rolle spielen, der letztere gleichzeitig, um das Bild von der zeitgenössischen Literatur zu vervollständigen, dadurch daß er von der Buchfabrikation eine Vorstellung vermittelt. Ein weiterer Kunstgriff ist, daß Strutt mehrere ganz verschiedene Personen ihre Lebensläufe erzählen läßt und so in die verschiedensten Kreise hineinleuchtet 93 . Man fragt sich, wie weit Strutts kulturhistorisch einwandfreie Schilderung einer bestimmten Zeit — daß die Schilderung einwandfrei ist, soweit das damals möglich war, wird uns durch Strutts unleugbare Kennerschaft auf dem Gebiet garantiert — einen Schritt vorwärts zum wahren historischen Roman bedeutet. Daraus, daß auch Strutt noch die völlig zeitlose, „gotische" Hand83

vol. I, pp. 91 ff. Die hübsche Stelle ist bei D. Binkert, 1. c., pp. 99 ff. abgedruckt. 84 vol. I, pp. 75 ff. 85 vol. II, pp. 224 ff. 88 vol. III, pp. 4 ff. 87 vol. II, pp. 15 f. 88 vol. II, pp. 16 ff. 89 vol. II, p. 41. 90 vol. III, pp. 190 ff. 91 vol. IV, pp. 1 ff. 92 vol. IV, pp. 76 ff. 93 Lady Emma (vol. I, p. 201 bis vol. II, pp. 192 ff. mit Unterbrechungen), Darcey (vol. II, pp. 65 ff.), der Buchillustrator (vol. II, pp. 203 ff.), der zum Mörder gewordene Hausknecht (vol. II, pp. 93 ff. innerhalb Darcys Geschichte). — 84 —

lung im Roman beibehält, läßt sich erschließen, daß auch das kulturhistorische Kostüm nur durch äußerst große Kennerschaft hervorgebracht, nicht durch ein inneres Nacherleben der dargestellten Zeit wirklich wieder lebendig geworden sein kann. Tatsächlich hat Strutt nach eigener Aussage im Vorwort vor Allem im Auge gehabt, aus dem Buch zu machen „a medium of conveying much useful instruction imperceptibly to the minds of such readers as are disgusted at the dryness usually concomitant with the labours of the antiquary, and represent to them a lively and pleasing representation of the manners and amusements of our forefathers, under the form most likely to attract their notice"04. Freilich hat Strutt darin, daß er nicht mehr eine interessante Handlung vorführen wollte, sondern eine Schilderung einer bestimmten Zeit, den denkbar wichtigsten Schritt bei der Vorbereitung für den kommenden wirklichen historischen Roman getan, indem er zur Statik eines in sich ruhenden Bildes, auf das Alles in der Schilderung sich zu beziehen bemüht ist, durchgedrungen ist. Deshalb konnte Scott gerade von Strutt soviel lernen, nicht nur wegen der äußerlichen Anregung zum antiquarianism im Roman. Neben „Queenhoo-Hall" steht ein zweiter, zufällig aus demselben Jahr stammender, scheinbar ähnlicher Roman, Ann Radcliffes posthum veröffentlichter „Gaston de Blondeville; or, The Court of Henry the Third Keeping Festival in Arden. A Romance"95. Wie es bei der im tale of terror zu so bedeutenden Leistungen gelangten Verfasserin zu erwarten ist, hält sich hier die Handlung, ebenso wie die Charaktere, noch enger an die überlieferten Muster als bei Strutt. Der Inhalt ist die während eines königlichen Festes in Arden stattfindende allmähliche, durch die Erscheinung des Toten als Geist unterstützte Aufdeckung eines Mordes, den der provenzalische, am Hof des englischen Königs lebende Ritter Gaston de Blondeville und der Prior des Klosters Kenilworth einige Jahre früher begangen haben. Die Aufklärung wird herbeigeführt durch die Anklagen eines bei diesem Ueberfall entkommenen Kaufmanns, wird aber lange hinausgezögert durch die Machinationen der beiden Täter und durch die Unwahrscheinlichkeit, daß ein Ritter und ein Prior solche Taten begangen hätten. Diese Handlung tritt aber wie bei Strutt völlig zurück hinter den kulturhistorischen Bildern, die ein königliches Fest, eine Hochzeit, eine feierliche Gerichtssitzung etc. schildern. Doch muß man Ann Radcliffe, der bedeutenden Künstlerin, zu94

Weitere Teile des Vorworts sind bei Binkert, 1. c., p. 97, zu finden. 1826 erschienen (2 vols, in den „Posthumous Works"); verfaßt 1802 im Anschluß an einen Ausflug nach Kenilworth („Memoirs" in den „Posthumous Works", vol. I, p. 89). cf. Jules Le Fêvre-Deumier, Célébrités Anglaises, Paris 1895. 95

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billigen, daß sie sehr viel geschickler als Strutt die Handlung aus dem dargestellten Milieu entwickelt hat, indem sie in ganz natürlicher Weise die Klage bei Gelegenheit eines königlichen Festes erhoben sein läßt und die Täter zu Mitgliedern jenes Milieus macht, das sie darstellen will, und indem sie die retardierenden Elemente ebenfalls direkt aus diesen Umständen ableitet. Doch hat das Geschehen des Romans im Grunde ganz wie bei Strutt nur die Bedeutung, die kulturhistorischen Bilder zusammenzuhalten — die Leser forderten eben vom Roman ein gewisses Maß von Handlung. Der große Unterschied gegenüber „Queenhoo-Hall" ist aber der, daß Ann Radcliffe sich nicht aus wissenschaftlichem Interesse an ihre Schilderungen machte, sondern aus Freude am Malerischen. Ihre große Kunst malerischer Darstellung besonders von Landschaften ging ja in ihren besten Romanen so Weit, daß man direkt Parallelen zu einem wirklichen Maler — Salvator Rosa — ziehen konnte. Jetzt in ihrem letzten Buch nahm diese Seite ihres Könnens sie völlig in Anspruch; sie erdachte sich ein ideales, farbenkräftiges Mittelalter, dessen Sitten in den besten Kreisen bei den feierlichsten Gelegenheiten — als das für farbenprächtige malerische Darstellung geeignetste Milieu — sie zu schildern unternahm. Daß bei solchen Absichten trotz eingehender Beschäftigung mit den Quellen96 keine Treue der Darstellung herauskam, versteht sich von selbst. Sie gibt selbst zu: „. . . several of the ceremonies of the court here exhibited were more certainly those of the fourth Edward, than of the third Henry, or the second Richard"97. Aber Ann Radcliffe hat sich nicht nur so ihre Vorbilder aus mehr als zweihundert Jahren zusammengesucht, sondern alles noch nach ihrem eigenen Sinn ins Farbige erhoben. Man kann für dies letzte Buch natürlich nicht mehr die Art des Landschaftsmalers Salvator Rosa als Parallele heranziehen, sondern müßte an irgend einen prunkvollen Historienmaler denken. Eine Stelle, die die Art Ann Radcliffes zeigt, ist die folgende: „At the Queen's board sat the countesses of Cornwall and Mountford, and the young baroness de Blondeville, and none other. A golden ewer, set thick with rubies, stood beside her highness, and a basin of the same, with damask-water, strewed with fresh-pulled lavender, was held to her to wash by one of her maidens, who duly sat at her feet under the board, the young baroness bearing the napkin. Which done, two of her Highness's maidens who waited behind the chair, delivered them to the Queen's pages. — 98 Vor allem Heinrichs VII. (I) „Royal Household Ordinances"; Pegge, ..Dissertation on the Obsolete Office of Esquire of the King's Body"; Madoc, „History of the Exchequer"; Matthew of Paris; de la Rue, „Marie de France"; Denis Pyramus; John Leland. 97 vol. Ill, p. 52.



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And now entered the hall Norroy, king-of-arms, heralds and poursuivants attending, all in their coats; the lord marshal, with his eight knights, and the steward, treasurer, and comptroller, walking before the first dish for the King's board; which was carried by the King's chief sewer, wearing his neck-towel; his carver, Harpingham, wearing the same, surrounded by esquires of the household bearing waxlights, and followed by sergeantsat-arms and esquires and pages. But when these had reached the middle of the hall, they all stood still and made reverence to the King, the lord steward with his wand, the carver with his great knife, and the sewer with his dish in his hand; and again, at the foot of the dais, they all stopped short, and bowed before him, the trumpets sounding the while. Would you know what the first dish was? It was a warner of shields of boar, in armour, with mustard, served with malmsey. When the warner was ended, the first course, and so was every other, was brought up by seven sewers, with like state and with due taking of assaye of the King's meat, and with divers ceremonies too tedious to relate" 86 . Ueberschaut man, statt die einzelnen Möglichkeiten des „vorromantischen" historisierenden Romans in ihrer Entwicklung zu verfolgen, einmal im Querschnitt die ganze historisierende Romanliteratur etwa um die Jahrhundertwende, wo sie zuerst in völler Ausbreitung dasteht, so findet man neben den historisierenden Geisterromanen, den Abenteuerromanen von historischen Persönlichkeiten und den chronologischen und den kulturhistorischen Romanen noch einzelne Werke, die außerhalb der allgemeinen Entwicklung stehen und1 doch so bedeutend sind, daß sie nicht übergangen werden können. Es verwenden z. B. einige, wie Godwins „St. Leon" und Jane Porters „Thaddeus of Warsaw" das historische Element ganz im Sinn der pikaresken Romane Defoes, um eines der vielen Milieus zu zeichnen, durch das sie ihre Helden führen, und um ihrer Fabel Realität zu geben. „St. Leon. A Tale of the Sixteenth Century" 99 , die Geschichte des durch die Bekanntschaft mit dem Geheimnis des Erwerbs ewiger Jugend und ungemessener Reichtümer vernichteten Menschen10", beginnt mit Anfangsszenen rein historischer Art: der Held stammt aus hohem französischem Adel, kommt infolgedessen mit den Fürsten seiner Zeit in Berührung, nimmt am oberitalienischen Krieg Franz' I. gegen Karl V. und an der Belagerung von Pavia teil, aber nach dem Mißerfolg des Unternehmens trennt er sich vom militärisch-politischen Leben. Doch werden in sehr geschickter Weise gelegentliche Berührungen mit dem Historischen beibe98

vol. II, pp. 39 ff. 1799, 4 vols. Oft nachgedruckt bis in die dreißiger Jahre. Uebersetzt ins Französische. 100 Ein im Schauerroman um 1800 öfters behandeltes Thema. 99

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halten: während St. Leon in Konstanz im Gefängnis ist, kommt Monluc, der bekannte Offizier und Verfasser der „Commentaires", dorthin, und St. Leon wendet sich um Hilfe an ihn101 u. ä. m. Oder wirklich geschickt ist es, wenn am Ende die ganze Handlung unauflöslich mit den politischen Verhältnissen in Ungarn (der Türkenkrieg etc.) verbunden wird und sich zum Teil direkt au$ diesen entwickelt. Diese Verwendung historischen Materials ist eins der Mittel, durch die erreicht wird, daß die phantastische Handlung des Buches einen Schein von Realität bekommt und daß man wirklich an St. Leons übernatürliche Kräfte glaubt, wo sie sich vor einem so realistischen Hintergrund entwickeln. Weil Godwin derart ganz andere Ziele verfolgte als der im Mittelalter eine erträumte Welt suchende historisierende Roman, zu dem er gar keine Beziehungen hatte, konnte er fast als erster wieder seine Handlung in eine nachmittelalterliche Zeit verlegen. Etwas anders liegen die Verhältnisse bei dem Roman von Jane Porter. „Thaddeus of Warsaw" 102 behandelt im ersten Teil die polnischen Freiheitskriege als Hintergrund der Jugend des Helden; im zweiten Teil wird nach dem Untergang Polens Thaddeus nach England verschlagen, wo er, der für große heldische Erlebnisse geschaffen ist, im täglichen Kampf ums Dasein völlig versagt, bis er seinen ihm bis dahin unbekannten Vater und eine Frau findet, die ihn liebt; durch ihre Hilfe gelangt er wieder in einen zu ihm passenden Lebenskreis. Der „Thaddeus" ist ein typischer sentimentaler Roman; Thakeray 103 sagt von ihm, es sei „more crying in .Thaddeus of Warsaw' than in any novel he ever remembered to have read". Zu Grunde liegt eine ganz pathetische, sentimentale Vorstellung von einem Jünglingsideal, das eine Mischung von Tom Jones und heroischem Helden ist. Zu Anfang und zu Ende des Buches wird Thaddeus in einem ihm gemäßen Wirkungskreis gezeigt, im Hauptteil des Buches, etwa vier Fünfteln des Textes, wie er den Schwierigkeiten eines Lebens in Armut begegnet, versagt er aber so völlig, daß zwar Jane Porters Sentimentalität darin tragisches Verhängnis sieht, daß aber der ferner siehende Leser dauernd auf das Erscheinen jenes bißchen ironischen Abstandes hofft, der aus dem Roman ein herrliches anti-romance machen würde. Wenn nun Jane Porter für einige Kapitel zu einem historisierenden Hintergrund greift, so scheint ein ganz persönliches Erlebnis allein die Ursache gewesen zu sein. Sie erzählt in ihrer Einleitung, welchen Eindruck in ihrer Jugend die unglücklichen polnischen Emigranten auf sie gemacht haben, ebenso wie später pp. 223 ff. (Ausgabe 1831.) 1803 u. ö., auch in neueren Nachdrucken. 4 vols. Uebersetzt ins Deutsche, Französische und Polnische. 1 0 3 Roundabout Papers: A Peal of Beils (Works, Cent. Biogr. Ed., vol. XX, p. 265, Anm. 2). 101 102



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die endgültig die Anregung zu dem Roman gebende Heldengestalt Kosciuszkos. Daß die Polen nicht wirklich so waren, wie es Jane Porter in ihrem romantischen Mädchenherzen träumte, daß sie vielmehr eine schon vorher in ihrem Gedanken lebende Heldenvorstellung in sie hineinsah, ist uns offenbar; aber durch dies E r lebnis wurde sie doch veranlaßt, dieses Heldenbild in dieser bestimmten Verkleidung darzustellen und so für einen Teil ihres Romans einen historisierenden Hintergrund zu schaffen. Beziehungen zum historisierenden Roman ihrer Zeit hatte sie damals offenbar noch nicht; ihr historisierendes Milieu war eine völlig eigene Schöpfung, und so konnte sie auch zu der irrtümlichen Ansicht kommen, ihr Roman sei der erste aus der Entwicklungsreihe gewesen, die zu Scott führte 104 . Auch bei den wenigen übrigen Romanen, die nicht im Mittelalter spielen, läßt sich zeigen, daß ein ganz bestimmter Grund die Veranlassung dazu gegeben hat, und zwar die Tatsache, daß wiles mit Tendenzromanen zu tun haben, die eine bestimmte nichtmittelalterliche Zeit für die Exemplifizierung ihrer Tendenz als besonders geeignet ansahen. Eine allgemeine Bemühung, das Mittelalter als die vorbildliche bessere Zeit der Gegenwart gegenüberzustellen, lag im Wesen des historisierenden Romans und tritt manchmal ganz direkt zu Tage. Der erste Band von Clara Reeves „Sir Roger de Clarendon" ist zum großen Teil ein bewußt bürgerlicher idyllischer Familienroman, der das offenbar vorbildlich gedachte Leben in einem ländlichen Haushalt des 14. J a h r hunderts darstellte, geschult an Goldsmiths Haus des Vicar Primrose 105 . Im Vorwort gibt sie direkt als Zweck ihres Buches an, der neuerdings propagierten Gleichmacherei das Bild eines gesunden, ständisch gegliederten Staates gegenüberstellen zu wollen. „That is the best governed and most likely to be permanent, that makes different ranks and degrees of men necessary to each other, and leads them to cooperate together in order to promote the good of the whole" 106 . Noch deutlicher, in antithetischer Formung, stellt White im „Strongbow" das vollkommene Mittelalter und die verderbte Gegenwart einander gegenüber und zeigt, welch Gegensatz ihm zwischen beiden zu klaffen scheint: „Such were the days of chivalry. Thy courtesy, o stranger, forbids thee to deride the opinions and the pastimes and the manners of those ages. We were warlike, we were magnificent, we were hospitable. We hated inactivity, we thirsted after fame; the smiles of the fair were the incentive and the recompense. I am sensible, nevertheless, from the intelligence we obtain in our nether regions cf. supra p. 6 Fußnote. Auch die Handlung des ersten Teils ist zum großen Teil der des „Vicar of Wakefield" nachgeahmt, vol. I, p. XVII. 101

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of what passes here on earth, that our system of life was in some degree objectionable. But alas! how is it with you of the present time? We handled the battle-axe, you wield the dicebox. We ran at the ring, you play at ombre. Our breakfast was beef and ale, yours is toast and chocolate. Instead of wigs, we wore helmets, and were oftener clad in a suit of steel than in one of cut velvet. We were a stately and robust race, you are an enervated and unmajestic generation. We made elaborate and delicate orations to high-born and virtuous ladies, as they sat in the gorgeous balcony of some castle; you jest with harlots in the chambers of some brothel . . . If many an ingenious baron could neither read nor write, are there not modern nobles who employ 1heir pens in writing down religion and undeifying their redeemer?"107, Diese moralisierende Vergleichung der Vergangenheit und der Gegenwart ist natürlich nicht nur jene bloße Flucht vor der Gegenwart, die eine Grundlage aller historisierenden Romane bildet. Sie will vielmehr unmittelbar bessernd und umgestaltend in die Gegenwart eingreifen, und es gibt einen Roman, der geradezu auf dieser Möglichkeit basiert, die modernen politischen Tendenzen durch eine romanhafte Herausstellung der Vorzüge der Vergangenheit zu bekämpfen. In ihren „Loyalists: An Historical Novel"108 unternahm es die in bewußtem Gegensatz zu Mary Woolstonecraft zu ihren politischen Anschauungen gekommene Jane West, den Wert der „from the days of Cressy and Agincourt" 109 sich bewährenden Einrichtungen Church and King zu zeigen, wenn sie sich auch klar war, daß man ihr das nur als „bigotry, superstitious adherence to existing institutions, exclusive partiality to a sect, and pertinacious resistance to the increase of liberal information" 110 auslegen würde. Sie glaubt, sie würde ihr Ziel am besten erreichen, wenn sie die überlieferten Formen des Staates, die sie verteidigen will, im Kampf um ihre Existenz zeigt, weil sie dann ihre stärksten Seiten offenbaren würden. Deshalb greift sie zu der Zeit der Parlamentskriege und schildert nun den Kampf zwischen König und Kirche einerseits und Parlament und puritanischen Sekten andererseits. Der Wert der beiden einander gegenüberstehenden Seiten soll sich dem Leser vor allen Dingen aus der Menschenart zeigen, die jeweils für sie eintritt. Daraus ergibt sich schon die SchwarzWeiß-Zeichnung der Freunde einerseits und der Feinde andererseits, die dem Buch im Grunde alle Beweiskraft raubt. So heißt es zum Beispiel von zwei auf Seiten der Puritaner stehenden Ge107 vol. I, pp. 94 f. los 1812, 3 vols. Ueber Jane Wests anderen Roman, „Alicia de Lacy", cf. infra p. 97. 108 vol. 1, p. 2. 110 vol. I, p. 19.

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genspielern: „,Didst thou ever hear of treachery so complicated, so deep, so totally void of even a twinkling ray of common rectitude?' ,1 knew but one character more vile and unnatural', returned Williams, ,and that is the Lady Eleanor' "111. Demgegenüber sind auf royalistischer Seite die Menschen ebenso unhistorisch in idyllischer, bürgerlich tugendhafter Art dargestellt: ein Landpfarrer, seine Frau, ein durch die Heimtücke eines früheren Freundes der Ehre und des Besitzes beraubter Adliger, der die Schwester des Pfarrers heiratet, und ihre Kinder. Man merkt in der Auswahl der Personen und in der ganzen Stimmung auch hier, wie bei Clara Reeve, das Vorbild Goldsmiths. Auch die Handlung ergibt sich — soweit sie nicht, wie in manchen Einzelmotiven, aus dem älteren historisierenden Roman übernommen ist — aus der Aufgabe des Buches, die royalistische Sache durch die Art und die Schicksale ihrer Anhänger in ihren Vorzügen zu zeigen. Wir sehen die Loyalisten in der Not, aus Amt und Würden vertrieben, der Pfarrer wird von einem puritanischen Geistlichen verdrängt, die Männer nehmen in gegenseitiger kameradschaftlicher Hilfe am aussichtslosen Krieg teil, werden dann zur Zeit des Commonwealth ganz unterdrückt, widerstehen aber in fester Treue zum König allen Verlockungen, bis mit der Rückkehr Karls II. endlich alles Unrecht wieder gutgemacht wird. Daß Jane Wests Roman letzten Endes ein Fehlschlag ist, ergibt sich aus der für einen Tendenzroman naheliegenden, aber doch falschen Auswahl des Themas. Jane West hätte wie Clara Reeve Königtum und Kirche vor dem Hintergrund einer Zeit darstellen müssen, in der sie unbestritten herrschten, sodaß sie ein objektives Bild mit den Licht- und Schattenseiten hätte zeichnen und das dann durch sich selbst hätte wirken lassen können. Statt dessen stellte sie die Ueberlieferung im Kampf um ihre Erhaltung dar, also neben einem Gegner, auf den ungestraft alles Schlechte abgeschoben werden konnte. Das Ergebnis ist, daß das Uebermaß tendenziöser Darstellung die erstrebte Wirkung des Buches unmöglich machte. Wie weitgehend für ganz spezielle Zwecke der historisierende Roman als Tendenzroman bald benutzt werden konnte, wie sehr sich also allmählich die Form des historisierenden Romans verfestigt hatte, beweist ein Buch von Isaac Disraeli, dem Vater des großen Politikers: „Despotism; or, the Fall of the Jesuits" 112 . Lord Ernie 113 sagt über diese Erzählung: „It has a political purpose. It sketches, with a romancer's imaginative license, the circumstances, which led up to the expulsion of the Jesuits from Portugal 111

vol. I, p. 101. 1811. Das Buch war für mich nicht zu erreichen, doch gibt Lord Ernies Bemerkung genug Anhalt über seine Art. 113 „The Light Reading of our Ancestors", p. 295. 112



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and Spain and their ultímate suppression, and was probably occasioned by their secret reestablishment by Pius VII."11*. Der einzige bedeutende „vorromantische" historisierende Romaji, der einzige, der wenigstens bis zur Wende zum 20. J a h r hundert noch öfters gelesen wurde, ist Jane Porters „Life of Sir William Wallace; or, The Scottish Chiefs"115. Hier wird in romanhafter Form der Freiheitskrieg der Schotten von der Gefangennahme König John Baliols bis zur Krönung Robert Bruce' erzählt. Im Mittelpunkt steht die Heldengestalt William Wallace'. Doch hören wir nicht nur von seinen politischen und militärischen T a ten, sondern auch Persönliches wird von ihm berichtet: die Ermordung seiner jungen Frau durch den Engländer Heselrigge treibt ihn zur Erhebung gegen die Eroberer, und die Bewerbungen der Frau seines Freundes Lord Mar um seine Liebe können ihn ebensowenig von der makellosen Bahn seines Lebens ablenken, wie ihn das Angebot der Königskrone veranlassen kann, sich zu mehr als zum Stellvertreter des vertriebenen Königs Baliol zu machen. Aber trotz der Unantastbarkeit seines Charakters erliegt Wallace den Intriguen der schottischen Adligen, die sich bald' nicht mehr von einem Emporkömmling regieren lassen wollen. Es gelingt ihm noch, den jungen Bruce auf die schottische Seite zu ziehen, dem außerdem von dem nach Frankreich vertriebenen Baliol in seiner Gegenwart das Anrecht auf den Thron abgetreten wird. Aber Wallace selbst findet sich an die Engländer verraten und wird im Tower hingerichtet, während das befreite Schottland sich in Bruce einen neuen eigenen Herrscher krönen kann. Während Jane Porters erster historisierender Roman, der „Thaddeus of Warsaw", fast unabhängig war von der sonstigen Entwicklung der Gattung, führen die „Scottish Chiefs" sowohl den chronologischen Roman nach der Art Clara Reeves wie auch den Abenteuerroman mit bekannten historischen Persönlichkeiten als Haupthelden, in der Art Sophia Lees, weiter. Auch Jane Porter 114 Ein recht hübscher historisierender Tendenzroman ist noch Hugh Murrays „The Swiss Emigrants. A Tale", 1804. Der Untertitel lautet: „The Deserted Village". Schon hierin zeigt sich die Abhängigkeit von Goldsmith, von dem das Thema, das idyllische Dorf und seine Zerstörung, übernommen ist. Die Veränderungen, die Murray vornimmt, stammen aus seiner philanthropischen Einstellung, die er in diesem Buch verteidigen wollte. Das Dorf, um das sich der Roman dreht, wird durch die bewußte erzieherische Tätigkeit eines Mannes zu der Blüte gebracht, aus der es — der veränderten Zeitlage entsprechend — nicht durch die dem Großgrundbesitz allein günstigen Gesetze, sondern durch den Krieg herausgerissen wird. Vor allem auf die kriegsfeindliche Einstellung kam es Murray an. Das im Grund zeitlose Geschehen des Romans wird am Beispiel der Eroberung der Schweiz durch die Franzosen 1798 exemplifiziert. 115

1810. 5 vols. Sehr oft nachgedruckt, bis in die neueste Zeit hinein. Uebersetzt ins Deutsche, Französische und Russische. — 92 —

schildert die ganzen historischen Ereignisse des schottischen Freiheitskrieges um 1300 mit aller Genauigkeit, mit allen Schlachten, taktischen und politischen Erwägungen etc. Dabei geht sie auch mit einiger Genauigkeit vor und beweist ihre Kenntnis der wirklichen geschichtlichen Verhältnisse, so wie es eine Voraussetzung dieser Art Von Romanen war. Daneben steht aber die eigentliche romanhafte Handlung um die Gestalt Wallace'; sie ist nicht bloß eine Nachahmung dessen, was auch Clara Reeve von ihrem Sir Roger de Clarendon oder was Henrietta Mosse von ihrer Adelaize zu erzählen für nötig hielt, um ihren chronikartigen Berichten eine persönliche Note zu geben; in den eigentlichen Romanchroliiken hatte es sich jedesmal um eine geschichtlich unbedeutende oder frei erfundene Persönlichkeit gehandelt, die vorsichtigerweise zum Helden des Romans gewählt war. Bei Jane Porter ist es dagegen die eine große, überragende Persönlichkeit der behandelten Zeit, die im Mittelpunkt steht. Das ist die Art Sophia Lees und ihrer Nachfolger. Wie sie hat denn auch Jane Porter keinen Anstoß daran genommen, ihrem Helden die unmöglichsten Abenteuer anzudichten. Daß Wallace in seinen Aufstand durch die Ermordung seiner Frau hineingetrieben ist, ist zwar wohl ungeschichtlich, stützt sich aber immerhin auf die Angabe in Jane Porters Hauptquelle, Blind Harrys „Sir William Wallace". Alles Weitere aber, die große Treue Wallace' zu seiner toten Gattin — einer Ueberlieferung nach fanden ihn die Engländer vielmehr „his leman by", als sie ihn gefangen nahmen —, die ränkevolle Liebe der Lady Mar und die stille, hingebende Liebe der Tochter Lady Mars zu ihm, seine Wanderung, als Minstrel verkleidet, zum Hof König Eduards, um Bruce zu seiner Pflicht zu rufen, die Bewunderung der englischen Königin für ihn, die Intriguen, die daraus gegen sie gesponnen werden, weiter die angebliche Fahrt Wallace' und Bruce' nach Frankreich, um Lord Mars entführte Tochter zu befreien, dabei endlich die Begegnung mit Baliol, der Bruce zu seinem Nachfolger ernennt: alle diese persönlichen Erlebnisse Wallace' sind völlig frei erfunden, meistens ohne jeden Anhalt in der wirklichen Geschichte, in manchen Fällen, wie bei Wallace' Frankreichreise, indem nach bekannten Mustern den historischen Tatsachen neue, angeblich sonst verschwiegene Beweggründe untergeschoben werden. Man wundert sich, daß bei Jane Porter nicht etwa wie in den vom Schwarzen Prinzen handelnden Teilen des „Sir Roger de Clarendon" die beiden Elemente des objektiven geschichtlichen Berichts und der frei erfundenen Abenteuer des Helden einander einengen, obgleich man auch bei ihr manchmal sich zu unvermittelt von der einen in die andere Art hinübergeworfen fühlt. Der Grund für diese Tatsache ist, daß Jane Porters Buch nicht aus Interesse an der Geschichte als solcher, auch nicht bloß aus dem Interesse des „Vorromantikers" an großen Abenteuern hervor— 93

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gegangen ist, sodaß je nachdem das eine oder andere Element hätte als Fremdkörper wirken müssen. Vielmehr wollte sie in ihren „Scottish Chiefs" einen schottischen Heimatroman liefern. Schottland war ja in den „vorromantischen" Romanen zuerst als eins von vielen als „romantisch" empfundenen Ländern erschienen und in diesem Sinn auch in einigen historisierenden Romanen aufgefaßt, etwa in Elizabeth Helmes „St. Clair" oder in Irelands „Gondez". Jetzt handelte es sich um etwas Anderes: das schottische Heimatgefühl hatte nicht nur zu der bekannten Blüte der Dialektdichtung und des in der Gegenwart spielenden Heimatromans geführt, sondern es hatte sich auch der Form des historisierenden Romans bemächtigt, um Geschichten aus der Vergangenheit des Landes zu erzählen: Mrs. Rice'„Monteith; aNovelFounded on Scottish History"110 dürfte vielleicht schon hierher gehören, sicher aber von Hector Macneil, dem bekannten Dialektdichter, die „Scottish Adventurers"117 und die anonyme Prosanacherzählung von Scotts „Lady of the Lake"118, die beide aus derselben Zeit stammen wie Jane Porters Roman116; auch an Scotts eigene oben besprochenen Anfänge im Roman muß man in diesem Zusammenhang wieder erinnern. Dies Interesse an der Geschichte Schottlands beseelte auch Jane Porter bei der Abfassung ihres Romans und war die Ursache, daß sie in gleicher Weise sich für die tatsächlichen geschichtlichen Vorgänge wie für die Heldengestalt Wallace' interessierte, von dem sie allerlei Abenteuer erzählt, um ihn dem Leser innerlich und menschlich näher zu bringen. Denn das ist der große Unterschied zwischen Jane Porter und etwa Sophia Lee: sie benutzt nicht willkürlich den Namen Wallace', um die unglaublichsten Abenteuer glaubhaft zu machen, sondern sie erzählt die erfundenen Abenteuer Wallace', um die sehr spärlichen Quellenberichte über ihn zu ergänzen, derart, daß doch ein lebendiges Heldenbild von ihm entsteht. Dieser Einstellung Jane Porters entsprechen die Quellen, die sie benutzt hat. Es ist sicher, daß sie auch geschichtliche Werke herangezogen hat, aber es ist durch ihre eigene Angabe bekannt, daß sie vor allem aus mündlicher Ueberlieferung und aus dem „Sir William Wallace" von Henry the Minstrel geschöpft hat120. Sie erzählte in ihrem Buch nur einen volkstümlichen Stoff nach 1805. 1812. 2 vols. 118 1810. 119 Auch die Blüte des in der Gegenwart spielenden schottischen Heimatromans fällt in die Zeit um 1810. Galts „Annais of the Parish" und Isobel Johnstones „Clan Albin" sind Beide schon um diese Zeit geschrieben, wenn sie auch erst später erschienen. 120 cf. D. Binkert, 1. c., p. 103. 117

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und bediente sich dazu der volkstümlichen Quellen121. Es ist interessant zu beobachten, wie Jane Porter so aus ganz ähnlichen Gründen zum historisierenden Roman gelangte wie die Zeit hundert Jahre vor ihr, und welch ganz andere Form doch ihr Werk hat als die damaligen, weil die Zeit sich geändert hatte und weil jetzt ganz andere Vorbilder romanhafter Geschichtsdarstellung maßgebend waren. Wenn es Jane Porter gelang, mit den „Scottish Chiefs" den Durchschnitt der historisierenden Romane um Einiges zu übertreffen, so ist ein Grund eben dieser geschickte Griff, die Gestalt Wallace' in den Mittelpunkt zu stellen und die Geschichtsberichte und die Abenteuererzählungen völlig auf ihn zu beziehen, sodaß sie weder in die Langeweile der Reimchroniken noch in die Widersinnigkeit der historisierenden Abenteuerromane verfiel. Darüber hinaus besitzt sie einige künstlerische Qualitäten, warme Teilnahme an ihren Gestalten, die sich dem Leser mitteilt, und vor Allem die Fähigkeit zu sehr lebhafter bewegter Darstellung. Wenn freilich Cross122 sagt — und Dora Binkert123 stimmt ihm zu — „Jane Porter sent to school to Strutt would have been a rival to Walter Scott", so ist das doch zuviel Lob, denn Strutts antiquarianism hätte in einem solchen Roman nur Langweile hervorgerufen. Etwas was Cross aber sehr richtig beobachtet hat, was jedoch durch den Einfluß Strutts nur äußerlich hätte beseitigt werden können, ist der völlige Mangel an historischer Treue, nicht den Tatsachen, sondern dem Geist der geschilderten Zeit gegenüber. Wallace ist ein sentimentaler Gesellschaftsmensch — Thakeray hätte ebenso gut die „Scottish Chiefs" wie den „Thaddeus of Warsaw" als den Roman hervorheben können, in dem am meisten geweint wird —, und die übrigen Gestalten entbehren überhaupt völlig der individuellen Charakterisierung. Daneben übersieht man gerne, daß auch das äußere historische Kostüm im Grunde zeitlos ist; es genügt dieses Fehlen der für den wahren historischen Roman unentbehrlichen Kunst der Charakterschilderung, um zu zeigen, wie fern Jane Porter dem echten historischen Roman steht und wie unmöglich der naheliegende Vergleich mit Scott in Wirklichkeit ist. Nur Dank besonders günstiger Umstände und Dank einiger persönlicher künstlerischer Fähigkeiten gelang es Jane Porter, so einen einigermaßen guten historisierenden Roman zu schreiben. Sie ist deshalb durchaus nicht für die ganze Gattung bezeichnend, und man darf nicht daraus, daß ihr Werk zeitlich ziemlich spät 121 Auch der „Wallace" von Blind Harry war volkstümlich, und zwar durch Hamiltons oft nachgedruckte Modernisierung des Epos (1722). 122 Development of the English Novel, p. 114. 123

1. c., p. 115. _

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liegt, auf eine tatsächliche allmähliche Emporentwicklung des historisierenden Romans schließen. Zwar wäre Jane Porters Leistung zwanzig oder dreißig Jahre früher nicht möglich gewesen, aber nur weil die verschiedenen Möglichkeiten des historisierenden Romans sich damals noch nicht genug geklärt hatten, sodaß sie ihr damals noch nicht so als leicht verwendbares Material zur Verfügung gestanden hätten, wie es später zu ihrem Vorteil der Fall war, und weil es damals noch nicht die Anregung zum schottischen Heimatroman gab, wie sie für die „Scottish Chiefs" nötig war. Wie die Lage im historisierenden Roman auch in der Spätzeit in Wirklichkeit war, zeigt eine Analyse von zwei der letzten vor „Waverley" erschienenen Erzählungen dieser Art124. Mary Houghtons „The Border Chieftains; or, Love and Chivalry"125 erzählt die Geschichte der Verdrängung und Wiedereinsetzung eines edlen Hauses mit den überlieferten Motiven der unbekannten vornehmen Geburt und des erst allmählich seine Aufklärung findenden geheimen Verbrechens. Der Schauplatz ist Northumberland, daneben die Provence, die Zeit das 14. Jahrhundert. Geschichtliche Ereignisse werden nur beiläufig erwähnt; so spielt die Schlacht bei Poitiers eine gewisse Rolle, der König, Königin Philippa und der Schwarze Prinz treten in Nebenrollen auf. Die Hauptpersonen sind frei erfunden. Mit anderen Worten, wir haben in dieser späten Erzählung noch einmal einen historisierenden Geisterroman vor uns, der zwar das Geisterelement abgestoßen hat, der aber in den Handlungsmotiven, in der Charakterdarstellung und in der Behandlung des Historischen die Art Clara Reeves oder Cullens oder Irelands fast unverändert weiterführt. Besonders zu Ann Radcliffe sind noch nahe Beziehungen vorhanden, die sich nicht nur an der Auswahl der Provence als Schauplatz der Handlung, sondern auch an der bis ins Einzelne genauen Nachahmung einiger Landschaftsdarstellungen zeigen. Freilich, die größte Kunst des Geisterromans, die geschickte, spannende Handlungsführung, hat Mary Houghton nicht geerbt. Die Verwicklungen des Romans werden dadurch gelöst, daß der junge vertriebene, aber heimlich zurückgekehrte Held auf einem traurigen Spaziergang nahe dem Schloß seiner Ahnen im Gebüsch ein Stöhnen hört und einen sterbenden Mann findet, der beichtet, im Auftrag eines feindlichen Hauses an der Ermordung von des Jünglings Vater teilgenommen zu haben. So sind durch einen Zufall mit einem Mal die ganzen Schwierigkeiten, die der Wiedereinsetzung des rechtmäßigen Schloßherrn im Wege standen, be124 Zwei weitere historisierende Romane aus dem Jahre 1814, W. H. Hitchener: „Towers of Ravenswold" und Regina Maria Roches „Trecothic Bower" führt Brauchli in seiner Liste als „Historische Schauerromane" auf, woraus man auf ihre Art Rückschlüsse ziehen kann. 125 1813, 3 vols. Deutsche Uebersetzung 1817.

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seitigt und der Roman eilt ohne innere Konsequenz dem happy end zu. Im gleichen Jahr wie „Waverley" erschien ein zweiter Roman von J a n e West, der Verfasserin der „Loyalists": „Alicia de Lacy" 1 2 0 . Der Inhalt dieses Romans ist die gut vor dem geschichtlichen Hintergrund der Baronenauf stände gegen Eduard II. und seinen Günstling Peter Galveston geschilderte Geschichte der Liebe und Ehe des Thomas von Lancaster und der Alicia de Lacy. Sie werden zunächst durch Lancasters Ernst und Alicias unreife Welt lichkeit auseinandergehalten, dann aber, wie sie endlich zusammenfinden, durch die Ränke des Lord Surrey, Alicias früheren Verlobten, der sie immer noch liebt und nach ihren Reichtümern strebt, wieder auseinandergerissen; Surrey läßt AHeia entführen, und nur unter unsagbaren Schwierigkeiten, wie sie kein heroischer Roman hätte grausamer erfinden können, gelangen die Liebenden doch noch zusammen, im letzten Augenblick, ehe dem wegen E r mordung seiner F r a u angeklagten Lancaster — so weit versteigt sich die Handlung — das Urteil gesprochen wird. Dieser Roman von Jane West ist zwar nicht so rein ein Abkömmling von den Romanen, die die fiktiven Abenteuer von historischen Persönlichkeiten behandelten, wie sich der von Mary Houghton auf die historisierenden Geisterromane zurückführen läßt — er zeigt Einflüsse des chronistischen und des kulturhistorischen Romans und kennt auch deren Bemühen, ein in die Breite gehendes Bild der dargestellten Zeit zu schaffen — aber das Wichtigste hat er doch dort gelernt. Die Auffassung Lancasters, die den historischen Tatsachen widerspricht, mag sich damit begründen, daß J a n e West ihre Anregung in der Heldengestalt fand, zu der er sich im Volksbewußtsein entwickelt hatte 127 . Aber daß sie ihm so maßlose Abenteuer anhängen konnte, beweist doch, daß auch bei ihr der historische Name und der Hintergrund des Mittelalters noch dieselbe Rolle spielten wie in allen den früheren „vorromantischen" historisierenden Romanen. 126 127

1814. 4 vols. Uebersetzt ins Deutsche (1821) und Französische. Als Quelle für das historische Material hat vor allem Rapin gedient.

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Bibliographie. 1. T E X T E . Für den ersten, die historisierenden Romane der Wende zum 18. Jahrhundert behandelnden Teil dieser Arbeit konnten alle in Betracht kommenden Texte benutzt werden, soweit das Gegenteil nicht in einer Anmerkung ausdrücklich gesagt ist. Eine besondere Bibliographie zu diesem Teil erübrigt sich deshalb. Dagegen hat für die Untersuchung der historisierenden Romane der „Vorromantik" nur etwas weniger als die Hälfte der erschienenen Werke zur Verfügung gestanden. Es folgt deshalb eine wenn auch wohl noch nicht ganz vollständige Liste der hierher gehörigen Romane. Sie gründet sich auf die frühere Liste von Cross, auf die Bibliographien von Allibone, Brauchli, Lowndes, Watt, auf die Kataloge des British Museum und anderer Bibliotheken, auf zeitgenössische Buchhändlerreklamen etc. Sie erreicht 78 (bezw. 85) Nummern, also etwas mehr als die Zahl, auf die Lord Ernle im „Light Reading of our Ancestors", p. 295, die „vorromantischen" historisierenden Romane schätzt („upwards of seventy"). Diejenigen Romane, die ich nicht selbst habe einsehen können, sind im Folgenden eingeklammert. Wo das Jahr der Abfassung und das Jahr der Veröffentlichung bedeutend auseinandergehen, sind die Bücher nach dem ersteren eingeordnet. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.

1762 L e l a n d , Thomas: „Longsword, Earl of Salisbury". 1764 W a l p o l e , Horace: „The Castle of Otranto". 1777 R e e v e , Clara: „The Old English Baron". 1783—85 L e e , Sophia: „The Recess". 1786 (anonym: „Warbeck"). 1787 (anonym: „William of Normandy"). 1787 ( F u l l e r , Anne: „Alan Fitz-Osborne"). 1789 ( F u l l e r , Anne: „The Son of Ethelwulfe"). 1789 W h i t e , James: „Earl Strongbow". 1790 W h i t e , James: „John of Gaunt". 1790 (anonym: „Historie Tales"). 1791 ( F o x , J.: „Tancred"). 1791 W h i t e , James: „Richard Coeur de Lion". 1791 (anonym: „The Duchess of York"). 1793 R e e v e , Clara: „Sir Roger de Clarendon". 1793 anonym: „The Minstrel". 1794 C u l l e n , Stephen: „The Haunted Priory". 1794 ( W a l k e r , George: „The Haunted Castle"). 1795 ( L a n d e l l , Sarah: „Manfredi, Baron of St. Osmond"). 1795 ( W a r n e r , Richard: „Netley Abbey"). 1795 (anonym: „The Duke of Clarence". 1795 (anonym: „Mountford Castle"). 1795 (anonym: „Arville Castle"). 1796 ( C u l l e n , Stephen: „The Castle of Inchvally"). 1798 (anonym: „The Knights"). — 98 —

26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39.

1799 anonym: „A Northumbrian Tale". 1799 ( I r e l a n d , William Henry: „The Abbess"). 1799 G o d w i n , William: „St. Leon". ca. 1800 S c o t t , Walter: „Thomas the Rhymer". (Unvollendet, erschienen 1827). ca. 1800 S c o t t , Walter: „The Lord of Ennerdale". (desgl.) 1800 (anonym: „The Spirit of Turretville"). 1800 anonym: „The Lord of Hardivyle". 1800 ( K e n d a l l , A.: „Tales of the Abbey"). 1801 H e l m e , Elizabeth: „St. Margaret's Cave". 1801 (anonym: „Midsummer Eve"). 1802 ( L a t h o m , Francis: „Astonishment 11!"). 1802 ( M i l l i k i n , Anna: „Plantagenet"). 1802 S t r u t t , Joseph: „Queenhoo-Hall". (Erschienen 1808.) 1802 R a d c l i f f e , Ann: „Gaston de Blondeville". (Erschienen 1826.)

40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72.

1802 ( H o r s l e y - C u r t i e s , J. T.: „Ethelwina"). 1802 (anonym: „Count Roderic's Castle"). 1802 ( P a r k e r , Mary Elizabeth: „Alfred"). 1803 P o r t e r , Jane: „Thaddeus of W a r s a w " . 1804 ( G o o d , Mrs. V. R.: „Sherwood Forest"). 1804 H e l m e , Elizabeth: „St. Clair of the Isles". 1804 M u r r a y , Hugh: „The Swiss Emigrants". 1804 M o s s e, Henrietta: „A Peep at our Ancestors". (Erschienen 1807.) 1805 H e l m e , Elizabeth: „The Pilgrim of the Cross". 1805 I r e l a n d , William Henry: „Gondez the Monk". 1805 ( M i l l i k i n , Anna: The Rival Chiefs"). 1805 L a t h o m , Francis: „The Fatal Vow". 1805 S c o t t , Walter: „Waverley". (Die ersten Kapitel des 1814 erschienenen ganzen Romans.) 1805 ( R i c e , Mrs.: „Monteith"). 1806 A r m s t r o n g , Leslie: „The Anglo-Saxons". 1806 ( L a t h o m , Francis: „The Mysterious Freebooter"). 1806 ( H o r s l e y - C u r t i e s , J. T.: „St. Botolph's Priory"). 1808 ( M o s s e , Henrietta: „The Old English Baronet"). 1808 ( M a x w e l l , C.: „Alfred of Normandy"). 1808 ( M a x w e l l , C.: „Lionel"). 1809 ( P a l m e r , Alicia Tindal: „The Husband and the Lover"). 1809 P o r t e r , Anna Maria: „Don Sebastian". 1809 W i l m o t , R. H.: „Scenes in Feudal Times". 1810 ( A p p l e t o n , Elizabeth: „Edgar"). 1810 ( B r a d s h a w , Mary Anne Cavendish: „Ferdinand and Ordello"). 1810 ( H o u g h t o n , Mary: „The Mysteries of the Forest"). 1810 P o r t e r , Jane: „The Scottish Chiefs". 1810 (anonym: „Anne of Brittany"). 1810 anonym: „The Lady of the Lake". 1811 A g g , John: „Edy and Elgiva". 1811 ( M i t c h e l l , Isaac: „Alonzo and Melissa"). 1811 ( D i s r a e l i , Isaac: „Despotism"). 1812 ( B y r o n , Mrs.: „The Borderers"). - 99 —

73. 74. 75. 76. 77. 78.

1812 1812 1813 1814 1814 1814

( M a c n e i l , Hector: „The Scottish Adventurers"). W e s t , Jane: „The Loyalists". H o u g h t o n , Mary: „The Border Chieftains". W e s t , Jane: „Alicia de Lacy". ( H i t c h e n e r , William Henry: „Tower of Ravenswold"). ( R o c h e , Regina Maria: „Trecothic Bower").

Außerdem gehören vielleicht noch die folgenden Bücher hierher: 79. 1773 ( B a r b a u l d , Anna Laetitia: „Sir Bertrand"). 80. 1798 ( D r a k e , Nathan: „Henry Fitzowen"). 81. 1799 (anonym: „Gothic Legends"). 82. 1800 (anonym: „Montrose"). 83. 1802 ( K e l l y , Isabella: „The Baron's Daughter") . 84. 1810 (Agg, John: „McDermot"). 85. 1811 ( L i d d i a r d , R. S. Anna: „The Sgelaighe"). Schließlich werden sich sicher noch einige weitere einschlägige Romane unter den 300 Nummern von Brauchiis Liste verbergen, ohne daß die Titel allein genug Anhalt bieten, daraus eine Auswahl der historisierenden Romane vorzunehmen. II.

STUDIEN.

Die nur für Einzelfragen benutzten Arbeiten, die im Vorausgehenden jeweils in den Anmerkungen angegeben sind, werden in der folgenden Zusammenstellung der benutzten Literatur nicht mit aufgeführt. A 11 i b o n e, Austin: A Critical Dictionary of English Literature, 5 v., London 1872—75. B a k e r , Ernest A.: The History of the English Novel, vols. I—III, London 1924—29. B e e r s , H.: A History of English Romanticism in the 18. Century, New York 1898. — A History of English Romanticism in the 19. Century, New York 1901. B i n k e r t , Dora: Historische Romane vor Sir Walter Scott. Berlin 1915. B i r k h e a d , Edith: The Tale of Terror. London 1921. B r a u c h l i , Jakob: Der englische Schauerroman um 1800. Dissertation Zürich 1928. B u t t e r f i e l d, H.: The Historical Novel, An Essay. Cambridge 1924. C h a r l a n n e , Louis: L'influence française en Angleterre au XVII. siècle. Paris 1906. C r o s s , Wilbur: The Development of the English Novel, New York 1908. D i b e l i u s , Wilhelm: Englische Romankunst, 2 Bde. (Palaestra XCII und XCVIII) Berlin 1910. D o t t i n , P.: Daniel Defoe et ses Romans. 3 vols. Paris 1924. D u n l o p , John: Geschichte der Prosadichtungen. (Uebers. Liebrecht). Berlin 1851. E s d a i 1 e, Arundel: A List of English Tales and Prose Romances Printed before 1740. (The Bibliographical Society Publ., I, 17.) London 1912. E r n i e , Lord (R. E. Prothero): The Growth of the Historical Novel, in: The Quarterly Review, Januar 1907. — The Light Reading of our Ancestors. London 1927. H a l l i w e l l - P h i l l i p p s , J. O.: A Catalogue of Chapbooks, Garlands, and Popular Histories in the Possession of . . . London 1849. —

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H a l k e t t , S. and L a i n g, J.: A Dictionary of the Anonymous and Pseudonymous Literature of Great Britain. Edinburgh 1882. J u s s e r a n d , J. J.: The English Novel in the Time of Shakespeare. Translated E. Lee. Revised and Enlarged by the Author. London 1903. K o e r t i n g , Heinrich: Geschichte des französischen Romans im 17. Jahrhundert. 2 Bde. Leipzig und Oppeln 1886—87. L o w n d e s , William Thomas: The Bibliographer's Manual, ed. Bohn. 11 vols. London 1857—64. M a i g r o n , Louis: Le Roman Historique ä l'Epoque Romantique. Essai sur ¡'Influence de Walter Scott. Paris 1898. M o r g a n , Charlotte E.: The Rise of the Novel of Manners. A Study of English Prose Fiction between 1600 and 1740. (Columbia University Studies in English, III, 2.) New York 1911. N i c h o l s o n , Watson: The Historical Sources of Defoe's Journal of the Plague Year. Boston 1919. P o l l a r d , A. W. and R e d g r a v e , G. R.: A Short Title Catalogue of English Books 1485 to 1640. London 1925. P h e l p s , William Lyons: The Beginnings of the English Romantic Movement. Boston 1893. P r i n s e n , J.: De Roman in de 18. eeuw in Westeuropa. Groningen 1925. R a l e i g h , W.: The English Novel. London 1901. S a i n t s b u r y , George: Essays in English Literature, 1780—1860. 2. Series. London 1895. — A Short History of English Literature. London 1898. — The English Novel. London 1913. S t o d d a r d , Francis H.: The Evolution of the English Novel. New York 1909. W a t t , Robert: Bibliotheca Brittanica, 4 vols. Edinburgh 1824. Cambridge History of English Literature. The Term Catalogues 1668—1709, ed. Arber. London 1903.

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l. Anhang. Die heroischen Romane in der englischen Literatur. Die Bedeutung der um die Mitte des 17. Jahrhunderts aus Frankreich herübergekommenen heroischen Romane ist für die Entwicklung der englischen Literatur außerordentlich groß gewesen. Die weitgehend auf ihnen basierenden heroischen Dramen haben größere Bedeutung gehabt und länger gelebt, als gewöhnlich angenommen wird; Richardsons Werke sind ohne ihren wenigstens indirekten Einfluß kaum denkbar; wie ausschlaggebend ihre Wirkung bei der Entstehung des „vorromantischen" historisierenden und, damit wenigstens äußerlich auch des späteren wirklichen historischen Romans gewesen ist, hat die vorausgehende Arbeit zu zeigen versucht. Darüber hinaus ist es aber richtig, und faßt erst ihre Hauptbedeutung, wenn Dibelius 1 in ihnen die Quelle" des pathetischen Elements in der ganzen modernen englischen Prosadichtung sieht. Gegenüber diesem gewaltigen Einfluß der heroischen Romane auf andere Literaturgattungen tritt ihre eigene Stellung in der Geschichte des englischen Romans freilich weit zurück. Ja, es läßt sich verfolgen, wie nicht einmal die englischen heroic romances des 17. Jahrhunderts die französischen Vorbilder direkt und unverändert nachahmen, sondern wie sie sie fast durchgehend nur als äußere Form für andersartige neue oder aus alten Quellen wiederaufgenommene Zwecke benutzen. Soviel die romans héroïques bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in England gelesen wurden, so scheint es doch ihr Schicksal gewesen zu sein, von Anfang an nur als Anregung oder Förderung anderer Literaturentwicklungen gewirkt zu haben. Bei den engen Beziehungen, die England und besonders den englischen Adel um die Mitte des 17. Jahrhunderts mit Frankreich verbanden, ist es kein Wunder, daß die heroischen Romane sich damals auch jenseits des Kanals bald durchsetzten. Wir wissen 1

Englische Romankunst, v. I, p. 288. Der Ausdruck „Quelle des pathetischen Elements" ist wohl, wenn man die Frage nicht allein im Zusammenhang des Romantechnischen behandelt, etwa durch „Vorbild in der Darstellung" des pathetischen Elements zu ersetzen, denn der innere Zwang zum Pathos war bei Richardson T. Leland, Walpole natürlich vorhanden, und nur um den geeigneten Ausdruck dafür zu finden, wandten sie sich zum heroischen Roman oder zu ihn weiterführenden Literaturformen zurück. 2



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aus den Briefen von Dorothy Osborne an Sir William Temple 3 , daß sie schon in den fünfziger Jahren den beliebtesten Lesestoff der vornehmen Kreise bildeten, und zwar zunächst noch in den französischen Originalen. Bald folgten aber auch die Uebersetzungen. Gombervilles „Polexandre" wurde als erster 1647 übertragen und schon 1648 noch einmal gedruckt. Von La Calprenèdes „Cassandre" erschienen 1652 nebeneinander zwei selbständige Teilübersetzungen, von denen die eine 1661 erweitert neu herauskam. 1667 lag dann endlich das vollständige Buch vor, und es brachte es noch zu drei weiteren Auflagen 1676, 1725 und 1737. Eine gekürzte Ausgabe wurde außerdem 1703 und 1705 gedruckt. „Cléopâtre" erschien als „Hymen's Praeludia" in einzelnen Teilen von verschiedenen Uebersetzern 1652 bis 1659, außerdem gab es die drei ersten Teile 1663 noch einmal in Neuauflage. Von da ab haben wir nur vollständige, Ausgaben, und zwar sind uns Exemplare mit den Erscheinungsjahren 1665, 1668, 1674, 1687 und 1731 erhalten. Der „Pharamond" ist etwas seltener englisch herausgekommen, nur 1662, 1677 und 1703. Auch die Romane der Geschwister de Scudéry stehen etwas zurück: „Le Grand Cyrus" 1653—55 in fünf und 1691 in zehn Bänden, „Almahide" nur 1677, „Ibrahim" nur 1652 und 1674, „Clélie" wieder häufiger: Teil 1 und 2 1655—56, Teil 1 bis 5 1656—61 und 1677—78. Schließlich wurden von Vaumorières Romanen — abgesehen von seinem Anteil am „Pharamond" — „Le Grand Scipion" 1660 und „Agiatis" 1686 übertragen. Nur selten waren diese Uebersetzungen aus künstlerischem Bemühen entstanden; Dorothy Osborne beklagt sich im Gegenteil, daß sie oft die ihr so vertrauten französischen Originale kaum wiedererkannte 4 . Man hat das Gefühl, als hätten die Uebersetzer möglichst leicht von ihrer langwierigen Arbeit loskommen wollen 5 ; oder waren sie, die ja wohl den die französische Lebensart und die französischen Salons in England pflegenden Kreisen der matchless Orinda und der Herzogin von Newcastle nahestanden, wie wir es z. B. von Cotterel, dem Uebersetzer des „Cassandre" und von John 3

The Letters from Dorothy Osborne to Sir William Temple, ed. Parry, Everyman's Library, London s. a., pp. 53, 56, 70, 80 u. ö.; cf. auch Pepys' Diary, passim. 4 1. c., p. 158: „I have no patience neither for these translators of romances. I met with Polexandre and L'Illustre Bassa both so disguised that I, who am their old acquaintance, hardly knew them; besides that they were still so much French in words and phrases that 'twas impossible for one that understood not French to make anything of them." 5 Wenn freilich Charlotte Morgan, The Rise of the Novel of Manners, p. 32, annimmt, die Uebersetzer hätten sogar ihre Vorlagen bedeutend gekürzt und auf die Wiedergabe der bloßen Erzählung sich beschränkt, so beruht das auf falschem Verstehen einer Stelle bei Charlanne, L'Influence française en Angleterre . . ., p. 388, und übertriebenen Folgerungen daraus. — 103 —

Davies of Kidwelly, der an der Uebertragung der „Cléopâtre" und der „Glélie" teilnahm, sicher wissen, soweit französisch geworden, daß sie gar nicht mehr nach reinem Englisch strebten? Die Aufnahme, die die heroischen Romane in England fanden, blieb freilich durchaus nicht immer so freundlich wie zu Anfang, wo sie in den gebildeten, eng mit Frankreich verbundenen Kreisen schnell eine ihnen gemäße Leserschaft gefunden hatten. Vielmehr lassen gelegentliche Bemerkungen darauf schließen, daß es schnell eine ziemlich starke puritanische Oppostion gegeben hat 9 . Dennoch fanden die heroischen Romane bald nicht nur Leser, sondern auch Nachahmer. Aber wie schon angedeutet, war es für diese Nachahmungen bezeichnend, daß sie fast durchweg das französische Schema nicht einfach beibehielten und wiederholten, sondern daß sie im Gegenteil versuchten, die äußere Form der romans héroiques, soweit sie ihr überhaupt einen Sinn gaben, für andersartige (größtenteils politische oder stilistische) Zwecke zu benutzen. Das muß an den einzelnen Werken, die in der Gefolgschaft der heroischen Romane in England entstanden, genauer untersucht werden, weil es zeigt, wie die romans héroiques in England zwar einerseits als anregend und entwicklungsfähig, aber andererseits auch als in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht voll befriedigend empfunden wurden. Für uns heute wie schon für die Zeitgenossen steht im Mittelpunkt der englischen heroischen Romane die „Parthenissa" 7 voir Roger Boyle, Earl of Orrery. Freilich ist gerade dieses Buch, das auch zeitlich ganz am Anfang steht und dessen Verfasser, abgesehen von sonstigen Beziehungen nach Frankreich, zum französisierenden Kreis der matchless Orinda gehörte, als einziges noch durchaus in der überlieferten französischen Art geschrieben, sodaß Dorothy Osborne ihm den Mangel an neuen und überraschenden Geschichten vorwirft 8 . Nur in der Sprache fällt ihr als neu eine gewisse Affektiertheit auf, die ihr aus ihrem bewunderten „Grand Cyrus" nicht bekannt ist; dabei bleibt die „Parthenissa" auch in dieser Beziehung noch Anfangswerk und geht nicht annähernd so weit wie manche ihrer Nachfolger. Was den Inhalt 9 betrifft, 0 So heißt es im Vorwort zur Eliana" (1661): „ . . . t h o s e who are prejudiced against such writings in general and count it a part of their creed to abhorr them and whatever of good that appears under the title of a romance . . . they will cry out, that romances are bewitching, frothy, and apt to withdraw the mind of the reader from graver studies . . . " 7 Teil 1—4: 1654—55; Teil 5: 1656; Teil 6: 1669; außerdem 1654 und 1655 je eine zweite Ausgabe von Teil 1 allein bezw. von Teil 1—4. Gesamtausgabe 1676. 8 1. c„ pp. 207 f. 9 Dunlop, Geschichte der Prosadichtungen, pp. 438 ff., Jusserand, The English Novel in the Time of Shakespeare, pp. 385 ff., Ch. Morgan, 1. c., pp. 138 ff. bieten Inhaltsangaben.

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so bleibt Boyle auch darin bei den französischen Mustern; auffällig ist freilich der Mut, mit dem er einen solchen anti-hero wie den Sklavenführer Spartacus zum Helden macht, indem er ihm eine romantische Vorgeschichte andichtet und, nach einer ziemlich genauen Darstellung seines Kampfes gegen Rom, die Ueberlieferung, Spartacus sei in Lukanien gefallen ableugnet, um so eine Weiterführung des Romans zu ermöglichen. Die „Parthenissa" hält sich also noch an die französischen Muster; nur ein wenn auch mißglücktes Bemühen um Pflege des Stils scheint aufzufallen; fast alle späteren heroic romances enthalten dagegen irgend ein Element, das der Gattung von Fall zu Fall einen neuen Sinn geben sollte, wie ihn die englischen Autoren anscheinend sonst an ihr vermißten. Zeitlich zuerst kamen die Romane, die unter der äußerlichen heroischen Verkleidung eine politische Allegorie verbargen. Das Vorbild der „Argenis" lag ja nahe — gleichgültig ob dies Buch nun wirklich eine politische Allegorie war oder ob dieser Sinn erst nachträglich durch die clavis onomastica der Ausgabe Leyden 1627 hineingetragen ist, — aber es ist doch interessant, daß bis zum Anfang der fünfziger Jahre englische Nachahmungen fehlen10. Auch als nun die eindringenden heroischen Romane sehr an Barclays Buch erinnern mußten, und obgleich die politische Lage eine ganz besondere Anregung zu solchen Schriften bot, wurde nur in genau zu verfolgenden Schritten allmählich gewagt, aus den heroic romances versteckte politische Allegorien nach der Art der „Argenis" zu machen. Bezeichnend dafür ist die Entstehungsgeschichte von „Cloria and Narcissus. A Delightful and New Romance, Embellished with Divers Political Notions, and Singular Remarks of Modern Transactions"11. In diesem Buch werden von ausgesprochenem Kavalierstandpunkt aus fortlaufend die politischen Ereignisse in dem Commonwealth dargestellt, verborgen unter heroisch-romanhafter Verkleidung — Cloria z. B. ist eine Tochter Karls I. Zunächst aber blieb dieser Versuch sehr tastend und die wahre Bedeutung der Romanereignisse offenbarte sich nur zurückhaltend hinter den unendlichen Verwicklungen der Abenteuer und Liebesbeziehungen. Ganz anders War es aber mit den beiden in der vollständigen Ausgabe neu hinzukommenden Teilen, die die Ereignisse bis zur glücklichen Rückkehr Karls II. erzählen. Hier bricht allmählich die politische Bedeutung der Geschichte durch und steht am Ende fast rein da. E s muß natürlich in Rechnung gestellt werden, daß der Verfasser erst nach der Restauration seine wahre Absicht frei zugeben konnte, aber das a l l m ä h l i c h e Zunehmen der Deut1 0 cf. Ch. Morgan, 1. c., p. 25. Nur Bissels „ I c a r i a " (1637) zeigt d a n a c h schon vorher einige geringe V e r w a n d t s c h a f t mit der .Argenis". 1 1 1653; erweiterte A u s g a b e 1661, in zweiter A u f l a g e 1665. f a s s e r ist unbekannt.

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Der Ver-

lichkeit seiner politischen Allegorie ist doch auffällig, besonders wenn man annimmt, daß er fortlaufend an seinem Buch geschrieben hat. Die ganze Veränderung, die mit dem Buch vor sich gegangen ist, zeigt schon der neue Titel der endgültigen Ausgabe: „The Princess Cloria; or, The Royal Romance"; dem alten Untertitel, der selbst beibehalten ist, ist noch hinzugefügt: „Containing the Story of the Most Part of Europe for Many Years Last Past". — Neben der „Gloria" steht ein zweiter Roman ähnlicher Art und Tendenz, Richard Braithwaites, des bekannten Royalisten, „Panthalia, or the Royal Romance. A Discourse Stored with Infinite Variety in Relation to State Government"12; der Inhalt, nicht weniger langweilig als der der „Cloria", ist, die kommenden Ereignisse vorausnehmend, wie Gharicles (Karl II.) Panthalia (England) befreit. — Und schließlich unternahm es Sir George Mackenzie, der Freund Drydens, in ziemlich engem Anschluß an Barclay die Beziehungen zwischen England und Schottland in Form eines heroischen Romans vorzuführen: „Aretina; or, The Serious Romance"13. — Daß in allen drei Büchern die Dinge gerade vom royalistischen Standpunkt aus dargestellt wurden, erklärt sich natürlich daraus, daß nur den Schriftstellern der aristokratischen Seite die Verwendung gerade der heroischen Romane als Verkleidung für politische Allegorien nahelag; romances überhaupt haben auch die Puritaner für ihre Allegorien benutzt, z. B. Sam. Gott in seiner vorübergehend fälschlich Milton zugeschriebenen Allegorie „Nova Solyma". Noch häufiger als diese Benutzung der Form der heroischen Romane für politisch-allegorische Zwecke ist die für ein beinahe unbeschränktes Austoben selbst des übertriebensten Stils. Die Stile Lylys und Sidneys, ursprünglich so deutlich verschieden, waren bei den Schriftstellern niederen Ranges inzwischen ja wohl ganz zu e i n e r widersinnigen, künstlichen Sprache zusammengeflossen, und aus dieser Quelle holten sich nun eine ganze Reihe von Verfassern heroischer Romane ihre recht dürftige Lebenskraft". Wichtig ist dabei, daß sie teilweise ganz offen zugeben, die heroic romances nur als Mittel für die Zwecke des Stils benutzt zu haben. So sagt Crowne im Vorwort zu seinem Roman „Pandion and Amphigenia; or, The History of the Coy Lady of Thessalia"15, seinem einzigen Prosawerk, das er in seiner Jugend schrieb, ehe er, Congreves Entwicklung auf niedrigerem Niveau vorausnehmend, zum 12

1659. Edinburgh 1660. 14 Conceits im Sinne des 17. Jahrhunderts finden sich vor Allem bei Crowne und in der „Eliana". 15 1665. Der Roman ist zum großen Teil eine Nachahmung der sonst so auffällig wenig nachgeahmten „Arcadiä", die durch die heroischen Romane so scheinbar ebenso nochmal zum Leben erweckt ist wie die „Argenis". 13



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Drama überging: „The benign reader's judgment will discern this fiction to be a hospital of lame conceits". Oder im Vorwort zur „Aretina" sagt Mackenzie ganz direkt: „If I satisfy not others, I shall at least satisfy myself, for it was to form to myself a style, that I undertook this piece". Ebenso spielen in der „Eliana" 16 der gewählte Wortschatz und der eigenartige Satzbau eine beherrschende Rolle, wenn man auch hier manchmal vor die Frage gestellt ist, ob man es bei den anscheinend kunstvoll gefügten Treppen- und Schachtelsätzen nun eigentlich mit bewußter Absicht oder mit Unfähigkeit zur Zusammenfassung zu tun hat. Bewußt sprachkünstlerisch ist dagegen sicher wieder die „Eromena; or, The Noble Stranger" 17 , ein ziemlich spätes Buch, das eine kurze Prosanacherzählung von Chamberlaynes heroischem Epos „Pharonnida" darstellt. Die Art der Stilkunst ist in den einzelnen Romanen ganz verschieden, sie steigt vom bloßen gekünstelten Wortschatz und der Unform der Sätze in der „Eliana" über Crownes conceits bis zu den affektierten Antithesen und Alliterationsreihen bei Mackenzie, die sich oft relativ rein an die Vorbilder Lylys und Sidneys halten: „Our father was one who lived rather to study than studied to live"18, oder: „Melancholy having lodged itself in the generous breast of Monänthropos, did by the chain of its charms so fetter the feet of his reason that nothing pleased him now but whereby he might please his passion" 19 . Was alle diese Bücher gemein haben, ist, daß sie bedenkenlos die Form der heroischen Romane als Träger ihrer gewagten Stilexperimente benutzen, ohne sich darum zu kümmern, ob nicht das Interesse sich auf etwas ganz Anderes konzentrieren müßte. Wenn nun so versucht wird, die heroischen Romane zu anderen Bestimmungen als seiner eigenen ursprünglichen zu benutzen, so bleibt das doch natürlich Stückwerk und greift die Substanz der heroischen Romane noch nicht wirklich an. Höchstens kann es ein äußeres Zeichen sein, daß diese Substanz sich schon selbst zersetzt und deshalb keine rechte Widerstandskraft mehr hat gegen Versuche neuer Sinngebung. Und das ist tatsächlich der Fall. In allen nicht ganz frühen heroic romances läßt sich deutlich eine Bewegung von den ursprünglichen übermenschenhaften Ausmaßen der Charaktere und Geschehnisse, für deren Notwendigkeit im heroischen Roman kein Verständnis mehr vorhanden ist, zu größerem Realismus, ja zu einer gewissen Bürgerlichkeit hin feststellen. Interessanterweise nimmt diese Ten16 1661. Dunlop und Charlotte Morgan schreiben das Buch ohne weitere Begründung Pordage, dem bekannten Boehme-Schüler, zu; Esdaile führt es ohne Verfasserangabe an; Halkett-Laing nennen es nicht. " 1683. 18 p. 6. " p. 1.

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denz öfters den Charakter einer Reaktion gegen die Art des „Amadis" an, in dem diese Dinge ja noch maßloser in Erscheinung traten, und der in England eine überaus große Verbreitung gefunden hatte. Es ist nötig, für diese so wichtige Veränderung einige Beispiele zusammenzustellen, und zwar zunächst einige Stellen aus den Vorreden, in denen die Verfasser sich selbst über ihre Absichten äußern. Schon im Vorwort zur „Birinthea"20 heißt es: „Such as can relish no romance that is not forced with extravagant impossibilities (no less ridiculous than improbable) will find little gusto and cold entertainment here; wherefore I wish such to stop at this preface, and make no further progress, for I have endued my heroes with no greater strength or courage than may reside in generous persons; nor do I fill their veins with streams of blood greater than those small channels could contain. I know indeed this were an easy task, if that were all that is required to gain applause, it being without dispute more facile to rough-draw a giant... who should singly rout whole armies in every page, than really disarm the veriest coward that dares but stand in the least defensive posture". Oder später, und der späteren Zeit entsprechend direkter, heißt es im Vorwort zum „Evagoras"21: „However, let me tell you, you will find in it nothing above the rank of probability, nothing which may seem either to be impossible, or contradictory to sense or nature... Had I given you a brother to Amadis of Gaul, you'd have had two or three fits of chollic, before you could have read the story half out". Ebenso nimmt schon vorher Mackenzie Stellung gegen die übertriebenen heroischen Taten des „Amadis" und des „Palmerin" und gegen die entsprechenden hohen Worte in der „Clélie"22. Aber auch im Text der Romane selbst ist eine Auflösung des französischen Vorbildes bald deutlich zu beobachten. Sehr typisch ist es schon, wenn keines der heroic romances nach der „Parthenissa" auch nur versucht, dem äußeren Umfang der französischen Vorbilder gleichzukommen; alles sind nur ein- oder zweibändige Werke. Was die Handlung der Romane betrifft, ist es z. B. auffällig, wenn die „Eliana", dieser ungewöhnlich form- und planlose Roman, die Liebe des Helden und der Heldin als alleiniges Handlungsmotiv verdrängt und als Ergänzung etwa noch Ruhmsucht 20

1664. Auf dem Titelblatt der meisten Exemplare nennt sich der Verfasser nur mit den Initialen J. B., einige Male dagegen mit dem ganzen Namen John Bulteel. 21 1677. Der Verfasser bezeichnet sich durch die noch nicht gedeuteten Initialen L. L. 22 Die Stelle bei Mackenzie ist nicht ganz klar, aber man geht doch wohl richtig, wenn man annimmt, daß der Vorwurf des „soaring pitch" der Sprache auch gegen Mlle. de Scudery erhoben werden soll. — 108 —

und Abenteuerlust einführt, was dem ganzen Buch einen lebendigeren, aber auch uneinheitlicheren Ton gibt. Welch Abrücken vom heroischen Vorbild und von den alten heroischen Idealen bedeutet es aber erst, wenn Crowne, der in seinem Verhältnis zu den heroic romances überhaupt zwischen Liebe und Spott hin und her geworfen zu sein scheint, etwa schreibt: „Having thus led my hero through all difficulties into the throne, and laid him in the lap of fortune, it may be expected, that to complete his happiness I should have placed him in the arms of his beloved Amphigenia. But they that know the tedious intricacy, and perplexing (but yet fiddling) difficulty there is in getting the love of a coy mistress, will I hope excuse me, if I give my pen a quietus est, after so long a pilgrimage. I esteem ambition a more tolerable and masculine distraction than love; and therefore I had rather place my hero in the more noble embraces of fortune, than in the effeminate arms of a lady; about which I have not impertinent thoughts enough to spend. Possibly I may also be thought too hard-hearted in leaving my other lovers succourless in their miseries, and not leading them out of their labyrinths by the thread of my discourse; but the vulgar rule of romances may solve all, that the knight must kill the giant and get the lady"". Bedenkt man diese Zeichen einer gewissen Verständnislosigkeit gegenüber dem heroischen Roman, so ist die Art der beiden letzten aus dieser Reihe nicht mehr so verwunderlich, wie sie es an und für sich wäre. Es handelt sich zunächst um die anonyme Erzählung „Cynthia, with the Tragical Account of the Loves of Almerin and Desdemona" 2 *. Dies Buch — das übrigens, wie die Fassung des Untertitels wahrscheinlich macht, auch von der chapbook-Literatur beeinflußt gewesen sein wird — stellt vielleicht eine Kreuzung zwischen dem heroischen Roman einerseits und der realistischen, durch die große Fülle der rasch wechselnden Ereignisse gekennzeichneten spanischen Novelle andererseits dar; so rückt es von den eigentlichen heroischen Romanen ab, ähnlich wie die Nachahmungen der „Argenis" und der „Arcadia". Was die „Cynthia" nun auszeichnet, ist, daß hier das Heroische nur noch wie ein Schleier über der wahren, durchaus bürgerlichen Natur des Buches liegt, vor Allem in der den Hauptinhalt ausmachenden Erzählung Almerins, während die Rahmengeschichte dem franPandion and Amphigenia, pp. 306 f. Im Term-Catalogue (Arber's reprint, v. II, p. 193) schon 1687 angezeigt, das älteste Exemplar ist aber erst von 1700, ferner 1703, 1709 („the fifth edition"), 1726 („the eighth edition"), dann noch zwei undatierte Ausgaben, von denen Esdaile die ältere („the tenth edition") auf vor 1740 datiert, der Katalog des British Museum aber erst auf ca. 1750; die jüngere wird auf 1750 angesetzt. Ueber eine spätere amerikanische Ausgabe (Nor thampton-Massachussets 1798) cf. D .Loshe, The Early American Novel. New York 1907, p. 17. 23

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zösischen Muster näher bleibt. Ganz ungewöhnlich ist auch die betonte pikant-erotische Note, die vorher nur in der „ B i r i n t h e a " schon gelegentlich spürbar war, während der bewußt reine eigentliche heroische Roman dergleichen streng ausschloß. Es ist schwer, Einzelbelege für den besonderen Charakter der „Cynthia" beizubringen, immerhin kann die folgende Stelle eine kleine Probe jenes Realismus, der in dem Buch auffällt, geben: „Although I was extreme feeble, yet I did endeavour to walk, and the first small journey I made was secretly to Desdemona. I had no sooner set iny face toward that part of the city, but mark the effects of love? though my body was weak, yet methought in every step I went towards her, I received new strength" 25 . Sicher war diese Mischung des Heroischen und des Bürgerlichen, durch die das eine vermenschlicht und das andere erhoben wurde, der Grund, warum gerade die „Cynthia", obgleich nicht wertvoller als die anderen Romane der Gruppe, es doch als einziger auf über zehn Auflagen brachte und sich bis ins nächste Jahrhundert erhielt. Ein ganz anderes Schicksal hatte die zeitlich und ihrer Art nach neben die „Cynthia" gehörige „Celenia; or, The History of Hyempsal, King of Numidia" 26 : obgleich schon 1680 geschrieben, erschien sie erst fast fünfzig Jahre später im Druck und hielt sich auch dann nur kurze Zeit. Vom echten heroischen Roman sind diesem Buch der geheimnisvoll-ferne Schauplatz und die großen Geschehnisse, auch die Namengebung, geblieben, aber der eigentliche Sinn der französischen Muster ist ebenso verloren gegangen wie ihre Reinheit und Erhabenheit; die Größe der Charaktere ist geschwunden, und die Motive, die die Menschen in dem Buch bewegen, sind niedrig geworden. Ueberall meint man auch hier die bürgerliche Natur des Buches durch die heroische Ueberdeckung hindurchzufühlen: „To-morrow, then, said he, let us go to Roxana. Which being agreed upon, they were called to dinner, and after it was over, retiring to the garden, Calomander, at Aristogenes' desire, thus pursued the thread of his story" 27 . 25

p. 31. 1 736, zweite Auflage 1742. Der erste Teil war schon vorher in den „Persian Letters Continued" (3. Auflage 1736) erschienen, die Halkett-Laing Lord Lyttelton zuschreiben, während das Dict. Nat. Biogr. diese Möglichkeit bestreitet. Mit Recht, wie sich vielleicht schon daraus ergibt, daß in der „Celenia" „Zelis of Persian", offensichtlich als ein Mann gedacht, das Vorwort unterzeichnet, während das in Lord Lytteltons echten Perserbriefen der Name der Frau ist, die Selim, der Briefschreiber, liebt. Die Angabe, daß es sich bei dem Roman um den Nachdruck eines MS. von vor 1680 handelt, findet sich ebenfalls im Vorwort. Sie ist sicher richtig, wie das Fehlen des in den romances des beginnenden 18. Jahrhunderts selbstverständlichen didaktischen Elements beweist. 27 p. 369. 26



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Mit der „Cynthia" und der „Celenia" war die Zeit der heroischen Romane in England vorbei. Freilich entwickelte sich in der Zeit von ungefähr 1710 bis zum Aufblühen des großen Romans in den vierziger Jahren im Rahmen eines allgemeinen neuen Hervortretens der romances auch noch einmal eines des heroischen Romans, das aber von den, französischen und nicht von den größtenteils vergessenen englischen Vertretern der Gattung ausging. Diese Erscheinung ist nicht ganz leicht zu erklären. Es ist sicher, daß die französischen romans héroiques in den in Betracht kommenden Gesellschaftskreisen immer noch viel gelesen wurden. Beweis dafür sind uns Addisons Schilderung von Leonoras Büchern im Spectator Nr. 37 oder die bezüglichen Stellen in Steeles „Tender Husband"; Popes Freundin Martha Blount ließ sich gern „Parthenissa" nennen 28 — ein Zeichen, daß wenigstens Boyles Buch noch manchmal gelesen wurde — und der Dichter schenkte den beiden Schwestern den „Grand Cyrus"29. Mit dem bloßen Weiterleben der heroischen Romane ist aber ihr neues Hervortreten noch nicht erklärt. Fénélons „Télémaque" mag ein erneutes Interesse an den romances überhaupt geweckt haben — aber er hatte sich gleich seit seinem ersten Erscheinen in England (1699) so stark durchgesetzt, daß man eine erst fünfzehn Jahre später eintretende Erscheinung nicht allein seiner Wirkung zuschreiben mag. Auch die Beilegung des Krieges mit Frankreich durch den Vertrag von Utrecht (1713) mag eine Rolle gespielt haben, wo die romances nun einmal, wie sie sich im letzten Jahrhundert entwickelt hatten, eine größtenteils französische Literaturgattung waren, doch reicht auch diese Tatsache nicht allein zur Erklärung hin. Aufs Ganze gesehen wird man vielmehr nicht fehlgehen, wenn man in der zunehmenden Bedeutung der romances im Grunde nichts sieht als ein Zeichen der beginnenden Entwicklung des großen Romans, der zunächst in den Formen der überlieferten Romangattungen erscheint, ehe seine eigene Form frei wird. Es ist bezeichnend, daß manche Schriftsteller, die sich zu typischen Vertretern des Sittenromans entwickelten, in dieser frühen Zeit mit romances anfingen; z. B. hat Eliza Haywood, die Verfasserin der „Betsy Thoughtless", in ihren Jugendromanen Gestalten wie Placentia, die nach Raleigh30 eine echte Verwandte der Clelia oder Parthenissa ist. Es ist für die in dies neue Hervortreten der romances eingeschlossene Nachblüte der heroischen Romane kennzeichnend, daß die älteren, um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts übersetzten französischen romans héroiques plötzlich wieder zu erscheinen beginnen 31 : „Cassandre" und „Cléopâtre" tauchen wieder 29

„Epistle to Miss Blount, on her Leaving the Town after the Coronation" (1715): „your s l a v e . . . sees the blush of Parthenissa rise". 28 cf. Works (Letters), ed. Elwin and Courthope, vol. XI, pp. 270 f. 30 The English Novel, p. 139. S1 cf. die Zusammenstellung supra p. 103. — 111 —

auf, dazu erscheint endlich die „Gelenia", und die „Cynthia" hat zwischen 1709 und 1740 noch fünf Auflagen. Gelegentlich kamen auch noch neue französische heroische Romane nach England, so Huets „Diana de Castro"32, ein posthum veröffentlichtes Jugendwerk des großen Geistlichen, oder Voitures „Alcidalis", die zwar 1678 schon einmal in einer Geschichtensammlung publiziert war, aber erst 1726 und 1736 („the third edition") in den Werken des Dichters größere Verbreitimg fand. Man sieht, es handelt sich um ein ganz deutliches, aber doch nur beschränktes und vorübergehendes Wiederaufleben der heroischen Romane. Ganz ähnlich liegt es mit den wenig zahlreichen, auch nicht bedeutenden, aber doch in ihrer Gesamtheit nicht ganz außer Acht zu lassenden englischen Originalerzeugnissen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa Lewis Theobalds, des Shakespeare-Herausgebers, „Loves of Antiochus and Stratonica"33 — historisch bedeutend sachlicher dargestellt als die alten romances es mit ihren Themen versucht hatten — oder als ziemlich spätes Werk John Lyttelton Costekers „Constant Lovers" 3 '. Wirklich im Mittelpunkt der Bewegung ist man aber erst mit den Romanen der Mrs. Jane Barker, die noch im Kreise der Mrs. Phillips („matchless Orinda") gelebt hatte und so direkt die Verbindung mit der Zeit und der Gesellschaft besaß, aus denen die heroischen Romane hervorgegangen waren. Aber wie hatten diese Romane ihren Geist verändert, als Mrs. Barker, veranlaßt durch das Wiederaufleben des Interesses an den romances und durch das in ihrem Fall ganz besonders wirksame Vorbild Fenelons, den Mut faßte, selbst in dieser Art zu schreiben! Es handelt sich vor Allem um ihren Roman „Exilius; or, The Banished Roman" 35 und außerdem um die vielleicht noch etwas älteren „Amours of Bosvil and Galesia"38, einen Liebesroman, der zur Zeit der Commonwealth in royalistischen Kreisen spielt. Beide Bücher hatten großen Erfolg und erschienen später noch dreimal zusammen in den „Entertaining Novels of Mrs. Barker" 37 . Was diese neuen sofort von den alten heroischen Romanen unterscheidet, ist — bei allem gleichbleibenden Bemühen um die Darstellung des „Idealcharakters" — Esdaile nimmt als Uebersetzungsjahr 1724 an. 1717. 3 4 1 731. Costeker hat interessanterweise auch ein Werkchen „The Fine Gentleman; or, The Complete Education of a Young Nobleman" geschrieben, das etwa an die Rolle des „Cortegiano" in der Gesellschaft, aus der der heroische Roman hervorging, oder an den „Complete Gentleman" von Peacham erinnert, der das entsprechende Buch der englischen Gesellschaft um die Mitte des 17. Jahrhunderts w a r — nur daß jetzt deutlich auch hier Findions Einfluß hinzugekommen ist. 3 5 1715. „Written after the Manner of Telemachus". 3 6 Nicht in Einzelausgaben, sondern nur in den Werken enthalten. 3 7 1 726 und 1736 in zweiter und dritter Auflage. 32

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zunächst äußerlich die gedrängte Kürze und dann vor Allem die bewußte, ausgesprochene Didaxis, die natürlich von Fenelon stammt. Die alten heroischen Romane waren ihrer Wirkung sicher genug, um nicht sagen zu müssen, was aus ihnen gelernt werden konnte — jetzt ist das ganz anders. Es ist auch insofern anders, als jetzt die dargestellten Charaktere nicht mehr schlechthin vorbildlich sind, sondern die Romane richten sich nun an eine ganz bestimmte beschränkte Gruppe, nämlich an die heranwachsenden gutbürgerlichen Töchter. So etwas kann in diesen Nachfolgern der heroischen Romane stehen: „I told him that whatsoever the gods might seem to consent to in their dubious oracles, a young lady ought to interpret their meaning according to the dictates of filial obedience, and to have no other will but that of her parents"»8. Das sagt eine junge Römerin! Oder so wird eine tragische Liebesgeschichte von einer Freundin, die sie anhört, kommentiert: „The only thing that I blame you for, is that you did not consult your mother, whose wisdom might have found out a way to have accomodated things to all your satisfaction"59. Daß die so der Zersetzung verfallenen heroischen Romane sich nicht mehr lange halten konnten, ist klar; sie wichen allmählich, aber unwiederbringlich dem novel of manners, oder gingen in ihm auf. Was blieb, war für einige Zeit noch die alte romantische Namengebung oder gelegentlich Spuren der heroischen Abenteuer und Charaktere*0. Hatte es sich so im Laufe der Zeit erwiesen, daß die heroischen Romane in ihrer ursprünglichen Art in England nicht mehr nachgeahmt werden konnten, so hielten sich die großen französischen Vertreter der Gattung doch noch weiterhin als Lesestoff, der gelegentlich gerne genommen wurde. Freilich auch hier scheint wenigstens mit den vierziger Jahren die beste Zeit vorbei gewesen zu sein. Clara Reeve sagt zwar im „Progress of Romance", die Satire des „Female Quixote" (1752) sei mindestens dreißig Jahre zu spät gekommen41 — aber die 1720 geborene Charlotte Lennox muß doch wenigstens in ihrer reiferen Jugend, also um die Wende zu den vierziger Jahren, noch stark mit den heroischen Romanen in Berührung gekommen sein, denn sonst hätte sie nicht ein ganzes und gar nicht einmal schlechtes Buch auf der Satire gegen sie aufbauen können. Und Miß Reeve läßt andererseits auch selbst eine der jungen Gesprächsführenden in ihrem (1785 erschienenen) Buch sagen: „You remind me of what my good aunts have often told me, that they, my mother, and a select party of relations and 38

„Exilius", p. 9. „Entertaining Novels", p. 202. 40 Ein Beispiel auch hierfür ist Nugents supra p. 43 besprochener „Oppressed Captive". 41 v. II, p. 6. 39

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friends, used to meet once a week at each other's houses to he-ar Ihese stories (die französischen romans heroiques) while the rest plied their needles" 42 . Auch das würde mindestens für die Wende zu den vierziger Jahren noch auf ziemliches Interesse an diesen Romanen schließen lassen. Dann war es freilich endgültig vorbei, und nur noch ganz gelegentlich finden wir die Romane La Calprenedes etc. als Lesestoff erwähnt. Nichts läßt sich daraus schließen, wenn Walpole (geb. 1717) im „Castle of Otranto" (1764) und noch bedeutend später Bage (geb. 1728) im „Hermsprong" (1796) ein engeres Verhältnis zu den heroischen Romanen zeigen; denn Beide verlebten ihre Jugend zu einer Zeit, wo die heroischen Romane noch verbreitet waren, und mögen ihre Eindrücke von daher beibehalten haben. Tatsächlich finden sich Erwähnungen der heroischen Romane, die Walpole gelesen hat, in Briefen aus den Jahren 1736, 1742, interessanterweise auch noch 1746 und 1747, aber nicht später 43 . F ü r ein tatsächliches Weiterleben der heroischen Romane sind die Belege weit seltener 44 : 1789 wurden „Cassandre" und „Cleopätre" noch einmal von einem Kritiker erwähnt 4 5 , und Scott selbst erzählt im „General Preface to Waverley", daß er als fünfzehnjähriger Junge, also 1786, noch in einer Edinburgher Leihbibliothek heroische Romane gefunden und gelesen hat — aber diese Bücherei war noch von Allan Ramsay zusammengestellt worden 46 . Im „Essay on Romance" sagt er dann freilich auch, sie seien „with few exceptions the most dull and tedious species of composition that ever obtained temporary popularity", und weiter stellt er fest: „they are now totally forgotten" 47 . Nach der J a h r hundertwende war also der bis heute beigebliebene Zustand erreicht, daß nur noch Vereinzelte der verketzerten Gattung Verständnis entgegenbringen — am bekanntesten ist Hazlitt mit seinem Aufsatz „Why the Heroes of Romances are Insipid" — daß sie aber irgend eine breitere literarische Wirkung oder gar Beliebtheit bei den größeren Leserkreisen nicht mehr hat. vol. II, p. 69. Die nur erschlossenen Beziehungen Lelands und der Miss Lee zu den 4 4 Die nur erschlossenen Beziehungen Lelands und der Miß Lee zu den heroischen Romanen können in diesem Zusammenhang natürlich keine Beweiskraft haben. 4 5 cf. Cross, Development of the English Novel, p. 110. 4 9 „Waverley", Border-Edition, London 1910, p. XVII. 4 7 Miscellaneous Prose Works, Edinburgh 1827, v. VI, pp. 254 und 256. 42

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2. Anhang. Ergänzungen zu Esdaiies „List of English Taies and Prose Romances Printed before 1740" p. 58:

p. 160:

p. 182: p. 183: p. 186:

p. 191:

p. 193: p. 194:

p. 217: p. 253: p. 255: p. 270: p. 305: p. 320:

Der „George a Greene" von 1706 ist nach einem spätelisabethanischen Manuskript gedruckt, das in der Bibliothek des Sion-College noch erhalten ist. Nach Jaggards „Shakespeare Bibliography", Stratford 1911, p. 306, scheint es außer den Auflagen von 1706 und 1715 noch eine dritte ohne Datierung gegeben zu haben, Das französische Original des „Fatal Beauty of Agnes de Castro" ist von Mlle. S. B. de Brillac (cf. Baker, History of the English Novel, v. III, p. 95). Die „Celenia" ist nach einem Manuskript von vor 1680 gedruckt; schon vor der ersten Einzelausgabe (1736) erschien sie in den pseudoLytteltonschen „Persian Letters Continued" (3. Auflage 1736). Welcher Grund besteht, anzunehmen, daß Chamberlayne auch die „Eromena", die Prosafassung seiner „Pharonnida", selbst verfaßt hat? Der „Scanderbeg the Great" von 1721 und 1729 ist eine Uebersetzung des Romans von Urbain Chevreau (cf. Georges Pétrovitch, „Scanderbeg, Essai de Bibliographie raisonnée", Paris 1881, p. 150). Der „Great Scanderbeg" von 1690 ist eine andere Uebersetzung derselben Vorlage. Mlle. La Roche Guilhelms „Scanderbeg" scheint also nicht ins Englische übertragen zu sein, Von Cotterels Uebersetzung des „Cassandre" liegen Teil 1—5 bereits 1652 vor. Außerdem gibt es auch 1661 schon eine Ausgabe in 6 Teilen. Schließlich erschien 1737 noch eine vierte Auflage von Cotterels Uebertragung. Die Pharamond-Uebersetzung liegt auch noch aus dem J a h r e 1703 vor (cf. Charlanne, L'Influence française en Angleterre v. II, p. 164). Zu den Memoiren von Captain Creichton hat Swift nicht nur die Einleitung geschrieben, sondern er hat das ganze Buch bearbeitet und für die Veröffentlichung zurechtgemacht (cf. The Prose Works of Swift, ed. Temple Scott, vol. XI, London 1907, p. 166). Der Verfasser des französischen Originals der „English Princess" bezeichnet sich mit den Initialen D. (t> P. Der zweite Teil der Uebersetzung von Labadies „Adventures of Pomponius" findet sich im Exemplar des British Museum mit dem ersten zusammengebunden, Von der Comtesse d'Aulnoy gab es 1708 auch noch ein „History of the Earl of Warwick, surnamed The Kingmaker" (British Museum). Die „Messalina" ist eine Uebersetzung aus dem Französischen (Cologne 1689), ebenso „The Royal Wanton . . . being the Second Volume of the Amours of Messalina", 1690 (British Museum), Zu den zwei oder drei von Esdaile nicht erwähnten Erzählungen über J a n e Shore cf. supra p. 29. Ueber die an dieser Stelle anzuführenden „Unfortunate Concubines" cf. supra p. 30. — 115 —

Die englische Biosrnphik der Tudor-Zeit von Dr. Marie

Schütt

(Band 1 der „Britannica" herausgegeb. von Emil Wolff) Oro&'Oktav, 162 Seiten, Rm. 10.

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Die Arbeit zeigt, was unter Biographie als Gegenstand literarhistorischer Betrachtung zu verstehen ist und wie der Begriff der Biographie zu bestimmen ist, damit alle ihre im Laufe der Zeit hervorgetretenen Formen damit erfaßt und historisch eingeordnet werden können. — Von diesen Voraussetzungen aus wird dann die Geschichte der englischen Biographik im 16. J a h r hundert eingehend betrachtet und gezeigt, wie sich auf Grund der veränderten geistigen und sozialen Verhältnisse, aber noch unter stärkster Beeinflussung durch die mittelalterliche und besonders die antike biographische Literatur, verschiedene neue biographische Formen herausbilden. Illlllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllillllllll^

F r i e d e r i c h s e n , d e G r u y t e r