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German Pages 411 [412] Year 1984
B U C H R E I H E DER A N G L I A Z E I T S C H R I F T FÜR E N G L I S C H E P H I L O L O G I E Herausgegeben von Helmut Gneuss, Hans Käsmann, Erwin Wolff und Theodor Wolpers 23. Band
GÖTZ SCHMITZ
DIE FRAUENKLAGE Studien zur elegischen Verserzählung in der englischen Literatur des Spätmittelalters und der Renaissance
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1984
Für
Margret
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schmitz, Götz: Die Frauenklage : Studien zur eleg. Verserzählung in d. engl. Literatur d. Spätmittelalters u. d. Renaissance / Götz Schmitz. - Tübingen : Niemeyer, 1984. (Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie ; Bd. 23) NE: Anglia / Buchreihe ISBN 3-484-42123-1
ISSN 0340-5435
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1984 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck: Sulzberg-Druck GmbH, Sulzberg im Allgäu Bindearbeiten: Heinrich Koch, Tübingen
Inhalt
VORWORT
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A . EINLEITUNG 1. Forschungsgegenstand und-Zeitraum 2. Stand der Forschung
L 1 6
B . DIDO. DIDAKTISCHE, HEROISCHE UND ELEGISCHE BEHANDLUNG EINES FRAUENSCHICKSALS
10
I. Die Stadtgründungssage II. Vergil, Aeneis, III. Ovid, Heroides,
11
IV
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VII
16
IV. D i d o in der englischen Literatur des Spätmittelalters 1. John Gower, Confessio Amantis, IV 2. Geoffrey Chaucer, House of Fame und 'Legend of Dido' 3. Anon.,'Letter of Dydo to Eneas'
19 20 22 27
C . OCTAVIA UND MATILDA. HEROISCHE BRIEFE IN ENGLAND
33
I. T h o m a s H e y w o o d , 'Paris to Hellen, Hellen to Paris'
35
II. Erwiderungen auf Ovidische Heroides 1. John Shepery, Hyppolitus Ovidianae Pbaedrae 2. F. L.,'Dido to Aeneas, Aeneas to Dido'
37 respondens
38 39
III. N a c h a h m u n g e n der Heroides 1. Alexander Boyd,'Octavia Antonio'
40 41
2. Samuel Brandon, 'Octavia to Antonius, Antonius to Octavia' 3. Samuel Daniel,'Letter from Octavia'
44 47
4. Michael Drayton,'King John to Matilda, Matilda to King John' 5. John Dickenson,'Epistola ad Matildam'
51 57
D . PHILOMELA UND CASSANDRA. M Y T H I S C H E FIGUREN
61
I. Philomela 1. George Gascoigne, Complaint of Phylometie 2. Patrick Hannay, The Nightingale
63 65 68
II. O e n o n e , Helena und Cassandra
73
1. Thomas Heywood, Oenone and Paris 2. John Trussell, Raptus I. Helenae 3. Richard Bamiield, Legend of Cassandra
76 78 82 V
E . H E C U B A UND LUCRETIA. F I G U R E N AUS DER KLASSISCHEN GESCHICHTE I. Troja 1. Thomas Fenne,'Hecuba's Mishaps' 2. John Ogle, Lamentation of Troy II. R o m 1. John Gower, Confessio Amantis, VII, und Geoffrey Chaucer, 'Legend ofLucrece' 2. William Shakespeare, Lucrece 3. Thomas Middleton,Ghost of Lucrece
85 85 87 89 91 94 101 106
F . R O S A M O N D AND V I R G I N Q U E E N . M Ä T R E S S E N UND H E R R S C H E R I N N E N AUS DER ENGLISCHEN G E S C H I C H T E I. Im Vorfeld des Mirror for Magistrates 1. Die populäre Tradition 2. Catherine Parr, Lamentation of a Sinner 3. William Forrest, History of Grisild the Second 4. George Cavendish,'Metrical Visions'
113 113 113 120 121 123
II. Mrs. Shore 1. Thomas More, History of King Richard III 2. Thomas Churchyard,'Shore's Wife' 3. Anthony Chute, Beauty Dishonoured
125 125 129 131
III. Schönheitspreis und Preis der Keuschheit 1. Samuel Daniel, Complaint of Rosamond 2. Michael Drayton, Matilda
138 138 148
IV. Königinnen 1. Thomas Sampson, Fortune's Fashion 2. Christopher Lever, Queen Elizabeth's Tears 3. Anon., Legend of Mary, Queen of Scots
155 155 160 166
G . SUSANNA UND M A G D A L E N A . BIBLISCHE F I G U R E N I. Altes Testament 1. Petrus Riga, 'De Sancta Susanna' und Alanus von Melsa, 'Tractatus Metricus de Susanna' 2. Anon., Susannah: or The Fistle of Susan
174 175 181
3. Thomas Garter, Comedy of Susanna 4. Robert Greene, Mirror of Modesty
183 184
5. Robert Roche, Eustathia 6. Robert Aylett,Susanna
186 189
II. Neues Testament 1. Omelia Origenis 2. Anon.,'Lamentation of Mary Magdalen' 3. Maria Magdalena in Drama und Legende 4. Robert Southwell, Mary Magdalen's Funeral Tears 5. [Gervase Markham], Mary Magdalen's Lamentations 6. Nicholas Bretons Seelenklagen VI
174
193 195 198 204 206 215 219
H . V l O L E N T A UND AMANDA. NOVELLENFIGUREN I. Bearbeitungen der Ghismonda-Novelle Boccaccios 1. Gilbert Banester, 'Legenda Sismond' 2. A n o n S t a t e l y Tragedy of Guistard and Sismond II. Bearbeitungen von Novellen Bandellos 1. Thomas Achelley, Spanish Gentlewoman Named Violenta 2. George Whetstone, 'Disordered Life of Bianca Maria' III. Englische Novellen 1. Thomas Churchyard,'Dolorous Gentlewoman' 2. Gervase Markham, Complaint of Paulina 3. Thomas Cranley, Amanda I.
227 228 229 233 235 237 240 240 244 248
'COMMISERATION' UND 'IMAGINATION'. ÜBERLEGUNGEN ZU W E S E N UND W I R K U N G DER FRAUENKLAGE I. 'commiseration' 1. Eingeschränkte Tragik: Mitleid statt Furcht und Bewunderung 2. Ohnmacht, Isolation und Wendung nach innen 3. Elegische Grundhaltung II. 'imagination' 1. Beschränkte Rhetorik: Apologetisches Ziel und rednerische Mittel . . . 2. Erinnerung, Entrückung und Flucht aus der Wirklichkeit 3. Exkurs zum Begriff der Sentimentalität 4. Das sanfte Pathos
J.
227
BIBLIOGRAPHIE SELTENER D R U C K E
K . K A N O N DER FRAUENKLAGEN UND VERWANDTER W E R K E L . LITERATURVERZEICHNIS I. Ausgaben (ohne Privatdrucke) 1. Sammlungen 2. Werke einzelner Autoren II. Sekundärliteratur 1. Nachschlagewerke, Bibliographien 2. Studien M.REGISTER 1. Liste der erwähnten Frauenfiguren 2. Autoren und Werke 3. Sachverzeichnis
256 256 256 262 267 270 270 275 278 280 286 3 73 378 378 378 379 381 381 382 391 391 393 399
VII
Vorwort
Die Anfänge dieser Studie liegen zehn Jahre zurück; das Fundament wurde Mitte der siebziger Jahre mit längeren Bibliotheksaufenthalten in London und Oxford gelegt; im Sommer 1979 war sie im wesentlichen abgeschlossen. Ich erwähne diese Daten nicht nur, um auf den langen Weg aufmerksam zu machen, den eine akademische Schrift bis zur Veröffentlichung zurückzulegen hat, sondern auch, um tagesgebundenen Erwartungen, die der Titel nahelegen könnte, vorzubeugen: die Welle der Frauenstudien hatte Deutschland (oder jedenfalls die rheinische Provinz) noch nicht erreicht, als ich die Studie entwarf. Die untersuchte Literatur ist zwar zum großen Teil aus weiblicher Perspektive geschrieben, und sie zeigt eine bisweilen ausgeprägt antinomische, d.h. der herrschenden (Herren-)Moral abgeneigte Tendenz, es ging und geht mir jedoch nicht um den Hinweis auf Frühformen feministischer Literatur (die es zweifellos gibt), sondern um den Nachweis der jederzeit vorhandenen Möglichkeit, bedeutendes Geschehen auf unorthodoxe Weise poetisch zu behandeln. Die Frauenklage der Shakespearezeit, auf die meine Untersuchungen zulaufen, ist nur die besonders auffällige Manifestation einer elegischen Erzählweise, die nicht an die Renaissance und auch nicht an den weiblichen Blickwinkel gebunden ist. Das zeigt der Rückblick auf klassische und mittelalterliche Vorläufer dieser Form, das könnten auch Seitenblicke auf verwandte Formen (von der altenglischen Elegie bis zum dramatischen Monolog des 19. Jahrhunderts) zeigen, in denen die gleiche Grundhaltung Kriegern oder Künstlern zugeschrieben wird. Auch in der Frauenliteratur der Shakespearezeit ist diese Erzählweise nicht beherrschend: neben der elegischen steht immer auch die heroische Verserzählung, die Mätresse ruft geradezu die Matrone, die Magdalena die Madonna auf den Plan. Diesem letzten Aspekt trug der weniger verfängliche, aber auch weniger griffige Titel Rechnung, unter dem die Arbeit 1981 von der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn angenommen wurde, „,Tragick plaints and passionate mischance': Frauenklagen IX
und Frauentragödien in der englischen Verserzählung des Spätmittelalters und der Renaissance". Es bleibt mir, allen denen zu danken, die am Zustandekommen, an der Verbesserung und an der Drucklegung der Studie mitgewirkt haben: den Bibliothekaren vor allem, und besonders denjenigen an der British Library und an der Bodleian Library, aber auch an der National Library of Scotland in Edinburgh, der John Rylands Library in Manchester, am Eton und am Stonyhurst College sowie beim Humberside County Council in Beverley, und nicht zuletzt am Englischen Seminar in Münster und an der Universitätsbibliothek in Bonn; der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ein Habilitationsstipendium und großzügige Reise- und Druckkostenzuschüsse; den Gutachtern am Englischen Seminar und an der Philosophischen Fakultät in Bonn, den Herausgebern der Buchreihe der Anglia; und ganz besonders meinem Lehrer Arno Esch für geduldige Förderung weit über den Rahmen dieser Arbeit und über die zehn Jahre hinaus. Bad Honnef, im Juni 1984
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Götz Schmitz
A. Einleitung
1. Forschungsgegenstand und -Zeitraum T. S. Eliot stellt in seinem Essay über Thomas Heywood die Heroine aus der Ehetragödie A Woman Killed with Kindness in eine sentimentale Tradition der englischen Literatur, die er bis in seine Zeit hinein verlängert sieht und der er ein ernsteres ethisches Interesse abspricht.1 Gegenstand der folgenden Untersuchungen sind frühe Ausprägungen dieser Tradition, die bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts meist in Form der Verserzählung, nicht des Dramas, begegnet und sich mit Vorliebe in Klagen tragischer Frauengestalten äußert. Die Quellen der Tradition sind in der Antike, vor allem den elegischen Werken Ovids, zu suchen. Sie versiegen auch im trockenen Mittelalter nicht: die Kirchenväter leiten das Bedürfnis nach emotionaler Anteilnahme auf biblische Figuren um; in der Renaissance des 12. Jahrhunderts stattet man Susanna und Maria Magdalena mit ovidisch verfeinerten Zügen aus; Chaucer schließlich läßt den Gefühlen seiner guten Frauen so ungehemmten Lauf, daß neuere Kritiker von seiner "pathetic tragedy" oder auch "pathedy" sprechen.2 Die Tradition setzt sich fort in den Chauceriana des 15. Jahrhunderts, die häufig an der Legend of Good Women anknüpfen (auf den ersten Blick so verschiedene Werke wie der anonyme 'Letter of Dydo to Eneas', Robert Henrysons Testament of Cresseid, die anonyme 'Lamentation of Mary Magdalen' und Gilbert Banesters 'Legenda Sismond' werden vom Autor oder vom Drucker der "legende of martirs off Cupide", wie Lydgate sie nennt, zugeordnet); sie entfaltet sich unter der Einwirkung klassizistischer und historischer, religiöser und novellistischer Literatur und bildet in jeder dieser Richtungen im Laufe des 16. Jahrhunderts eigene Zweige der Frauenklage aus, eines Genres, das mit Werken wie Thomas 1 2
T. S. Eliot, "Thomas Heywood", Selected Essays (London, 1951), pp. 1 7 9 - 8 0 . Paul G. Ruggiers, "Notes towards a Theory of Tragedy in Chaucer", Chaucer Review, 8 (1973), p. 92; John Nist, "The Art of Chaucer: Pathedy", Tennessee Studies in Literature, 11 (1966), 1 - 1 0 .
1
Middletons Ghost ofLucrece (1600), Samuel Daniels Complaint of Rosamond (1592), Gervase Markhams Mary Magdalen's Lamentations (1601) und Thomas Churchyards ,Tragical Discourse of a Dolorous Gentlewoman' (1593), um nur je ein Beispiel zu nennen, seine schönsten Blüten treibt. Diese elegische Tradition zerbricht unter dem Druck didaktischer und sentimentaler Bestrebungen, die das sanfte Pathos und den schlichten Stil der Klagen einerseits ins Heroische steigern, andererseits in Rührseligkeit tauchen; Beispiele sind Sir David Murrays Tragical Death of Sophonisba (1611), Michael Draytons Miseries of Queene Margarite (1627), George Ballards History of Susanna (1638) und Thomas Cranleys Amanda: or The Reformed Whore (1635). Sie geht jedoch nie ganz verloren; in den Frauendramen und der Briefliteratur der Restaurationszeit — den she-tragedies von John Banks und Nicholas Rowe und den Briefsammlungen im Gefolge der Lettres portugaises — leben der elegischen Verserzählung verwandte Formen und Motive wieder auf. Sie aber liegen schon jenseits der Grenzen dieser Arbeit, die ihren Schwerpunkt in der Blütezeit der eigentlichen Frauenklage, den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts, findet und Ableger der Tradition nur bis zum Beginn des Bürgerkrieges verfolgt. Gegenstand dieser Frauenklage im engeren Sinn ist das tragische Schicksal einer Frau, das leidend, nicht handelnd erfahren, mit sanftem, nicht hohem Pathos dargestellt, aus beschränkter Perspektive, meist im Rückblick gesehen und in erster Person vorgetragen wird. Fast immer geht es um Gestalten aus Sage und Legende, Figuren also mit historischem Anspruch, und ihr Auftritt ist stark von den geisterhaften Erscheinungen im Mirror for Magistrates bestimmt. Für die innere Form der Klagen ist der verengte Blickwinkel entscheidend. Die Klagenden, meist Opfer einer als tyrannisch empfundenen Männerwelt, zeigen sich außerstande, ihr Schicksal als notwendig oder sinnvoll im Geiste irgendeiner höheren Vernunft zu begreifen. Gelenkt durch die monologische Anlage bleibt ihr Blick auf das eigene Leid geheftet; der Zuhörer wird in einen Strudel widerstrebender Empfindungen hineingezogen; die dramatische Reinigung oder epische Überhöhung der Gefühle von Furcht und Mitleid ist erheblich erschwert. Das schafft die Gefahr, im bloßen Gefühl zu versinken, gibt aber auch die Gelegenheit, die Widersprüche zwischen privatem Ethos und öffentlicher Moral ins Bewußtsein zu heben. Äußerlich sind die Klagen meist in die gravitätische Form des Rime Royal gefaßt; diese Strophe war, so glaubte man, gewichtigen Gegen2
ständen angemessen.3 Schon durch diese Strophenform unterscheidet sich die Frauenklage von dem eng verwandten Genre des erotischen Epyllions, in dem die erotika pathemata mythischer Frauengestalten in leichter geschürzten Sixain-Strophen abgehandelt werden. Shakespeares Venus and Adonis (1593) ist das Muster für diese Art der Erzählung, die auch nach Inhalt, Aufbau und Gehalt von der Klage zu trennen ist: im Mittelpunkt steht jeweils ein Paar (von Thomas Heywoods Oenone and Paris, 1594, bis Francis Beaumonts Salmacis and Hermaphroditus, 1602), die Frau dominiert, der Hintergrund ist mythisch oder pastoral, das tragische Ende wird durch eine Verwandlung bis ins Komische gemildert. Das Epyllion neigt zu allegorischer oder satirischer, an festen Werten ausgerichteter Darstellung, wie schon die Untertitel zu Michael Draytons Endymion and Phoebe: Idea's Latmus (1595) und John Weevers Faunus and Melliflora: or The Origin of Our English Satires (1600) belegen; es reizt auch zur Parodie — schon eines der frühesten Beispiele, Thomas Lodges Scilla's Metamorphosis (1589), zeigt burleske Züge. Von Shakespeares Lucrece, dem düsteren Gegenstück zu Venus and Adonis, unterscheidet sich die eigentliche Frauenklage durch die Statik der Erzählsituation und den monologischen Vortrag. Shakespeares epische Erzählung lebt von der Auseinandersetzung zwischen Tarquinius und Lucretia; nur der zweite Teil ist von den Klagen der matrona virilis bestimmt, und diese Klagen werden nicht in auswegloser Situation gesprochen, sondern dienen der Vorbereitung einer heroischen, befreienden Tat. Elstred, Rosamond und Mrs. Shore klagen als Opfer am Rande der Geschichte — Lucretia rückt mit ihrem Selbstmord in den Mittelpunkt des politischen Geschehens, sie gibt das Signal zu einer bedeutenden historischen Wende. Den Figuren der Frauenklage ist ein so sinnvoller Tod und eine so beispielhafte Wirkung verwehrt. Ihr Leben — meist alles andere als beispielhaft oder staatserhaltend — ist vertan, es bleibt ihnen nichts, als sich in ihre Opferrolle hineinzusteigern und ihre Zuhörer um Verständnis und Mitleid zu bitten. Das gibt vielen Klagen den Charakter einer postumen, nur mehr um den Ruf einer öffentlich Verurteilten bemühten Verteidi-
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V. George Gascoigne, Certain Notes of Instruction (1575), Kap. 14 (ed. G. G. Smith, Elizabethan Critical Essays, Oxford, 1904, I, 54): "seruing best for graue discourses"; James IV., A Short Treatise on Verse (1584), ed. G. G. Smith, ibid., I, 222: "For tragicall materis, complaintis, or testamentis"; George Puttenham, The Art of English Poesy (1589), II, ii (ed. Smith, ibid., II, 68): "vsed by any rimer writing any thing of historical or graue poeme".
3
gungsrede; mit rhetorischen Mitteln soll nachträglich gerechtfertigt werden, was nach moralischen Gesetzen verurteilt wurde: Shores wife is g r a c ' d , and p a s s e s for a Saint; H e r Legend iustifies her foule attaint. 4
sagt Daniels Rosamond von ihrer Leidensgefährtin und verlangt ein gleiches Recht für sich. Nach ihrer poetischen, nicht rhetorischen, Grundhaltung lassen sich die Frauenklagen mit wenigen Strichen von einigen weiteren literarischen Formen abgrenzen: von dem verwandten ovidischen Genre des Heroischen Briefes unterscheiden sie sich durch den dramatischen Auftritt und den tragischen Ausblick (man vergleiche Draytons MatildaKlage mit dem entsprechenden Brief aus den Heroical Epistles desselben Autors); von der klassischen Totenklage durch das fehlende Ritual und den Mangel an Lob und Trost (aufschlußreich ist hier ein Vergleich zwischen Thomas Fennes 'Hecuba's Mishaps', 1590, im Untertitel 'Expressed by Way of Apparition' als Klage in der Mirror for Magistrates- Tradition ausgewiesen, und Sir John Ogles Lamentation ofTroy, 1594, das in der Tradition der Gefallenenklage steht); von der De casibus-Tragödie durch die Ohnmacht der Sprecherin und ihre geringe Fallhöhe (Giles Fletchers Richard III. verhöhnt deshalb die Klage der Mrs. Shore); von der petrarkistischen Liebesklage durch das Fehlen von Kasuistik und Galanterie, durch den geschichtlichen Hintergrund und den ernsten Ton (manche Autoren verdeutlichen diesen Kontrast, indem sie einer pastoral gefärbten Sonettsammlung die Klage einer historischen Figur beigeben, so zum Beispiel Samuel Daniel, der die Delia-Sonette zusammen mit der Rosamond-Klage veröffentlichte 5 — Spenser sah den Unterschied und sprach von "loues soft laies and looser thoughts" einerseits und "Tragick plaints and passionate mischance" andererseits in Daniels Frühwerk); 6 von der christlichen Legende durch fehlendes Heilsbewußtsein, Verzicht auf vollständige Vita und die Betonung menschlicher Schwächen (zwei Magdalenengedichte machen die Differenz schon im Titel klar: Gervase Markhams Klage Mary Magdalen's Lamentations for the
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Samuel Daniel, The Complaint of Rosamond, vv. 2 5 - 6 . Auf die rhetorischen Mittel solcher Verteidigungsreden, vor allem die Figur der pathopoeia, wird im Schlußkapitel näher einzugehen sein (v. pp. 270—5). Ihm folgen u. a. Thomas Lodge (Phillis ... with The Tragical Complaint of Elstred, 1593) und, mit charakteristischer Verspätung, noch der Schotte Sir David Murray (The Tragical Death of Sophonisba. Caelia, 1611). Colin Clout's Come Home Again, vv. 423, 427.
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Loss of Her Master Jesus, 1601, und Thomas Robinsons Legende The Life and Death of Mary Magdalen, 1620); von der Novelle durch die Aufmerksamkeit, die inneren Vorgängen, nicht unerhörten Begebenheiten gilt (Novellenstoffe in Klageform wirken entsprechend gedämpft, so Thomas Churchyards 'Pityful Complaint of Signior Anthonio dell Dondaldo's Wife', 1579). Eine schärfere Abgrenzung der Klage von verwandten Formen soll in den Kapiteln D—H, die jeweils ein benachbartes Genre berühren, versucht werden. Eine einheitliche englische Bezeichnung für die Frauenklage gibt es nicht; 7 von Zeitgenossen wird am häufigsten der Begriff 'complaint' verwendet; daneben sind aber auch so verschiedene Namen wie 'legend', 'lament', 'lamentation', 'elegy', 'history' und 'ballad' geläufig — einig ist man sich nur in dem Etikett 'tragisch', das der Bezeichnung des Genres beigeheftet wird. Wie schwebend der Wortgebrauch ist, zeigt ein Komplimentgedicht, in dem ein Bewunderer Gervase Markhams dessen Magdalenenklage in einem Atemzug "lamentation", "elegy" und "complaint" nennt. 8 Selbst ein so gattungsbewußter Autor wie Michael Drayton, der sich über die heroische Qualität seiner Briefschreiberinnen Gedanken machte (Vorwort zu den Epistles, 1598) und das Verhältnis der weltlichen Legende zum Epos zu klären suchte (Vorwort zu den Poems, 1619), nennt seine Matilda einmal "tragicall complaynt" (1594), dann "Legend" und "tragicall Historie" (1596). Auch die Terminologie in den Poetiken der Zeit ist sehr lose; es schien deshalb wenig sinnvoll, sie nachträglich zu vereinheitlichen. Allein der Terminus 'complaint' hätte mühsam von verwandten Begriffen wie der 'complainte' der französischen Liebeslyrik und des 'planctus', der meist satirischen Klage des lateinischen Mittelalters, abgelöst werden müssen; er wird im folgenden auf Klagen nach dem Muster des Mirror for Magistrates eingeschränkt. Aus den gleichen Gründen wird darauf verzichtet, der Frauenklage vorweg eine theoretische Basis mit Bruchstücken aus zeitgenössischen Handbüchern der Dicht- und Redekunst zu legen. Das in den einzelnen Kapiteln dieser Studie ausgebreitete Material wird hoffentlich eine ku-
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Am nächsten kommt unserem Begriff die etwas schiefe Bezeichnung 'feminine complaint', die Gary F. Bjork einführt: "The Renaissance Mirror for Fair Ladies: Samuel Daniel's Complaint of Rosamond and the Tradition of the Feminine Complaint", Diss. California, Irvine, 1973. Willard Farnham gab den Klagen im Gefolge von Churchyards 'Shore's Wife' den Titel "feminine tragedy" (The Medieval Heritage of Elizabethan Tragedy, Oxford, 1936, p. 311). 'Ad autorem', gez. W. F., Mary Magdalen's Lamentations (Ausgabe 1604), A3r"v; Markham selbst spricht von "pensive passion" und "lugubre carmen", A4V, B2 r .
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mulative Evidenz für die Herausbildung dieses Genres schaffen; einige Gedanken über seine wesentlichen Merkmale sollen dann im Schlußkapitel folgen. 2. Stand der Forschung Es gibt eine Fülle von verdienstvollen und hilfreichen Untersuchungen zu den einzelnen Gliedern der hier betrachteten Traditionskette. Sie haben die vorliegende Arbeit vielfach gefördert und sollen an entsprechender Stelle gewürdigt werden. Eine Zusammenstellung der verwerteten Titel findet sich im Literaturverzeichnis. Was fehlt, ist eine zusammenfassende Darstellung der Frauenklage als besonders auffälliger Unterart der neben lyrischer, epischer und dramatischer Gattung anzusiedelnden elegischen Verserzählung mit subjektiver Grundhaltung und gefühlsbetonenden Ausdrucksmitteln.9 Die Entstehung und Entwicklung dieser Art ist noch wenig erforscht; einschlägige Arbeiten, vor allem Dissertationen, beschäftigen sich meist mit den Complaints in der Mirror for Magistrates- Tradition und sehen ihre Ursprünge in der mittelalterlichen Fürstenspiegelliteratur. Sie können sich auf sichtende und ordnende Vorarbeiten von W. F. Trench und Willard Farnham stützen. 10 Daß sich die Frauenklage aus dieser Tradition löst und zu einer Gegenbewegung anschwillt, ist zwar gelegentlich bemerkt, selten aber begründet und in seiner Tragweite erfaßt worden. Shore's Wife scheint als Schutzherrin der Bewegung in voller Rüstung Churchyards Kopf ent-
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Von dieser selbständigen Art der Klage sind die unselbständigen Klagereden in Epos und D r a m a zu unterscheiden; letztere hat Wolfgang Clemen in seiner Untersuchung der Tragödie vor Shakespeare (Heidelberg, 1 9 5 5 ) , pp. 1 8 7 - 2 5 6 , ausführlich behandelt. Von alters her bestehen zwischen der Monodie und der elegischen Verserzählung enge, vor allem motivische Beziehungen, ohne daß man von direkter Verwandtschaft sprechen könnte. M a n nimmt aber an, daß Ovids Heroides von den Klagereden in Euripides' Frauentragödien, vor allem der Medea, beeinflußt sind (v. H o w a r d Jacobson, Ovid's "Heroides", Princeton, 1 9 7 4 , p. 3 4 2 , und cf. Helmut Hross, der in seiner Dissertation " D i e Klagen der verlassenen Heroiden in der lateinischen Dichtung", München, 1 9 5 8 , eine Fülle von Parallelen aufzeigt). Ein ähnliches Verhältnis besteht zwischen Seneca und Autoren wie Samuel Daniel und Samuel Brandon, die beide sowohl Heroische Briefe wie auch klassizistische Dramen verfaßten. Auf diese Zusammenhänge wird im Schlußkapitel noch einmal einzugehen sein.
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W . F. Trench, " A Mirror for Magistrates": Its Origin and Influence (Edinburgh, 1 8 9 8 ) ; Willard Farnham, " T h e Progeny of A Mirror for Magistrates", MP, 2 9 ( 1 9 3 2 ) , 3 9 5 — 4 1 0 . In jüngster Zeit hat Edwin D. Craun der Mirror-Tradition eine umfangreiche Monographie gewidmet, " T h e De casibus-Compla'mt in Elizabethan England 1 5 5 9 - 1 5 9 3 " , Diss Princeton, 1 9 7 1 .
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Sprüngen zu sein." Die antiken Elemente, die das mittelalterliche Tragödienverständnis befruchten mußten, damit aus der patriotischen Fürsten- eine pathetische Frauenklage hervorgehen konnte, blieben weitgehend unbeachtet. Ein Grund für dieses Versäumnis mag darin liegen, daß man dem Einfluß der antiken elegischen Literatur wenig Beachtung geschenkt hat — bis heute liegt zum Beispiel keine eingehende Untersuchung zum Nachwirken von Ovids Heroides in England vor. 12 Es fehlt außerdem eine umfassende Bibliographie der Klagedichtung, wie sie Douglas Bush für die mythologische und Francis Utley für die frauensatirische Literatur zusammengestellt haben. 13 Hier soll die angehängte spezielle Bibliographie von Frauenklagen und Frauentragödien eine Lücke schließen helfen. Ein weiterer Grund für den Mangel ist darin zu sehen, daß Untersuchungen zu Verstragödien und Complaints im Umfeld Chaucers und Shakespeares meist auf deren Hauptwerke ausgerichtet sind. Selbst wenn man sich kritisch mit Chaucers Frauenlegenden oder Shakespeares Verserzählungen beschäftigte, sah man sie gern als Fingerübungen eines epischen oder dramatischen Meisters an. Auch Robert W. Franks gründliche Studien zur Legend of Good Women zeigen diese Neigung.14 Sein Urteil nimmt Maß an den Canterbury Tales und findet bei allem Wohl11
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"thus creating a new genre of poetry - the pathetic complaint, to be further developed especially by Daniel, but also by Drayton and Lodge", heißt es in Esther Beith-Halahmis Abriß ihrer Dissertation "Angell Fayre or Strumpet Lewd: The Theme of Jane Shore's Disgrace in Ten Sixteenth-Century Works", Dissertation Abstracts International, 32 (1971), 2050 A, die unter dem Titel Angell Fayre or Strumpet Lewd: Jane Shore as an Example of Erring Beauty 1974 in Salzburg gedruckt wurde. Heinrich Dörries grundlegende Beschreibung der Heroides- Nachfolge, Der heroische Brief: Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung (Berlin, 1968), erfaßt die gesamte abendländische Literatur und hat ihr Schwergewicht in der Romania. Gretl Kuteks schwer zugängliche Untersuchung "Ovids Heroides und die englischen Heroidenbriefe von der Renaissance bis Pope" Diss. Wien (masch.), 1937, ist auf Withers Fidelia zugeschnitten, die als pastorale Variante außerhalb der tragischen Klageliteratur liegt. Nancy Deans Aufsatz, "Chaucer's Complaint: A Genre Descended from the Heroides", Classical Philology, 19 (1967), 1 - 2 7 , führt lediglich die förmliche, von der französischen Lyrik abgeleitete Liebesklage auf Ovids Briefe zurück. Douglas Bush, Mythology and the Renaissance Tradition in English Poetry (New York, 2. ed., 1963); Francis Lee Utley, The Crooked Rib (Columbus, Ohio, 1944). Robert Worth Frank, Jr., Chaucer and the "Legend of Good Women" (Cambridge, Mass., 1972). Frank hält als erster überhaupt die Erzählungen der Legend für eingehender kritischer Betrachtung würdig. Frühere Arbeiten konzentrieren sich meist auf den ergiebigeren Prolog. Beryl Rowland nahm erst in die zweite Auflage ihres Companion to Chaucer Studies (Oxford, 1979) ein Kapitel über die Legend of Good Women auf; John Norton Smith widmet ihr in seinem Überblick Geoffrey Chaucer (London, 1974) 16 Seiten, davon 10 dem Prolog.
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wollen nur schmales Lob für die Legenden als erzähltechnische Experimente. Dennoch birgt seine Monographie eine Fülle von Anregungen, und Frank ist einer der ersten, die Chaucers Legend als Bindeglied in einer Kette pathetischer Erzählungen begreifen, die von Ovids Heroides bis Hardys Tess of the d'Urbervilles reicht: We are, in fact, in attendance at the birth of a genre in English narrative
heißt es in seiner Interpretation der Lucretia-Legende, auf die in Kapitel E noch eingegangen wird. 15 Für die meisten Kritiker bringt die Zeit zwischen Chaucer und Shakespeare immer noch einen Bruch in der literarischen Überlieferung: das kritische Interesse an tragischen Verserzählungen wächst erst wieder, wenn sie sich mit der Entwicklung des elisabethanischen Dramas verknüpfen lassen, und richtet sich vornehmlich auf Novellen, Chroniken und Fürstenspiegel. C. S. Lewis drückt allem, was einem Complaint ähnelt, den Stempel 'Drab' auf, stellt aber Shakespeares Lucrece über das Epyllion Venus and Adonis;16 Douglas Bushs Aufmerksamkeit gilt vor allem den mythologischen Erzählungen unter dem Einfluß der Metamorphosen Ovids; entsprechend hoch stuft er Venus und Adonis und Hero und Leander ein. 17 Das ovidische Epyllion hat insgesamt sehr viel mehr Aufmerksamkeit gefunden als der tragische Complaint; hier gilt es, das kritische Gleichgewicht herzustellen. 18 Der wesensmäßige Unterschied zwischen mythologischer und tragischer Verserzählung ist selten erkannt und noch seltener behandelt worden. 19 Erwähnenswert sind neben verstreuten Hinweisen die Teilkapitel, 15 16 17 18
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Op. cit., p. 96. English Literature in the Sixteenth Century (Oxford, 1954), pp. 4 9 8 - 5 0 1 . Mythology and the Renaissance Tradition, pp. 1 3 7 - 5 5 . William Keachs Monographie Elizabethan Erotic Narratives (Hassocks, 1977) ist auf die mythologische Verserzählung beschränkt; Clark Hülse, Metamorphic Verse (Guildford, 1982), faßt Epyllien und Complaints unter dem Begriff "minor epics" zusammen und schlägt beide der Metamorphosen-Tradition zu. In den Streit um die Bezeichnung 'Epyllion' soll hier nicht eingegriffen werden; sie ist zwar unhistorisch, hat sich aber trotz des Einspruchs von Walter Allen, Jr., "The Non-Existent Classical Epyllion", SP, 55 (1958), 5 1 5 - 8 , zumindest für die Kleinepen der nachklassischen Zeit, etabliert. Erwähnenswert ist allerdings ein älterer Beitrag aus dem Bereich der klassischen Philologie, Richard Heinzes einflußreicher Aufsatz über "Ovids elegische Erzählung", in dem eine Unterscheidung zwischen der epischen Erzählweise der Metamorphosen und der elegischen der Fasti getroffen wird (Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse, 71 (1919), 7. Heft; rpt. Vom Geist des Römertums: Ausgewählte Aufsätze, ed. E. Burck, Darmstadt, 4. Aufl., 1972, 3 0 8 - 4 0 3 ) .
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die Anfang der fünfziger Jahre Louis R. Zocca und Hallett Smith in ihren breit angelegten Darstellungen elisabethanischer Dichtung den Complaints widmeten — der eine als Seitentriebe der Mirror-, der andere der ovidischen Literatur. 20 Das Zusammenwirken beider Traditionen (nicht allerdings der Metamorphosen, sondern der Heroides, und weniger der De cusibus-Tragödie als der Frauenlegende), die Herausbildung des Genres der Frauenklage und seine Ausstrahlung auf die religiöse und novellistische Verserzählung 21 soll in den Hauptkapiteln dieser Arbeit beschrieben werden.
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Louis R. Zocca, Elizabethan Narrative Poetry (New Brunswick, 1950); Hallett Smith, Elizabethan Poetry (Cambridge, Mass., 1952). Im Uberblick sind religiöse und novellistische Erzählungen der englischen Renaissance behandelt von Lily B. Campbell, Divine Poetry and Drama in Sixteenth-Century England (Cambridge, 1959) und Emil Koeppel, Studien zur Geschichte der italienischen Novelle in der englischen Literatur des sechzehnten Jahrhunderts (Straßburg, 1892).
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B. Dido. Didaktische, heroische und elegische Behandlung eines Frauenschicksals Das unglückliche Ende der phönizischen Königstochter Dido, die ihr Heimatland verläßt, weil ihr Bruder Pygmalion aus Habgier ihren Gemahl Sychaeus umbrachte, und die in Afrika die Festung Byrsa und die Stadt Karthago aufbaut, ist schon seit der Antike in zwei Versionen überliefert: einer legendenhaften Sage, nach der Dido ihr Leben opfert, um den Nachstellungen des Maurenfürsten Iarbas zu entgehen,1 und der tragischen Episode in Vergils Aeneis, in der die ältere Stadt- von der bedeutsameren Reichsgründungssage überlagert wird und nach der Dido den gestrandeten Aeneas aufnimmt ("animoque domoque", wie es später bei Ovid,2 "amicitia et lecto", wie es bei Boccaccio 3 heißt) und sich tötet, als er sie verläßt, um seinen göttlichen Auftrag zu erfüllen.4 Ovids Heroischer Brief schließt an die Aeneis an, läßt aber den Helden aus der Sicht der verlassenen Geliebten weniger als schicksalhaften Heros denn als treulosen Liebhaber erscheinen.5 Im Mittelalter treten zu diesen antiken Versionen die für authentisch gehaltenen "Augenzeugen"-Berichte des Dares Phrygius und des Dictys Cretensis über den Untergang Trojas hinzu, die Aeneas zum Verräter an seiner Vaterstadt stempeln; sie haben die hochmittelalterliche, vor allem deutsche und französische Trojaliteratur entscheidend geprägt und deren ovidische Neigung noch verstärkt.6 Im Zusammenhang der Frauenklage und der elegischen Verserzählung interessiert vor allem die letztere, ovidische Tradition; sie vermischt sich jedoch häufig mit den beiden anderen Möglichkeiten der Gestaltung,
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Justinus, Epitoma historiarum Philippicarum, 18; beruht auf wesentlich älterer Gründungssage. Metamorphosen, XIV, 78. Genealogia deorum, VI, 53. Aeneis, IV. Heroides, VII. Zu den mittelalterlichen Versionen der Didosage vor Chaucer v. L. B. Hall, "Chaucer and the Dido-and-Aeneas Story", Medieval Studies, 25 (1963), 1 4 8 - 5 9 .
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und es wird schwer, im einzelnen Fall historisch-legendenhafte, heroisch-tragische und elegisch-sentimentale Elemente zu trennen.
I. Die Stadtgründungssage Auf die Literatur des Mittelalters hat die Stadtgründungssage des Justinus den geringsten Einfluß gehabt, obwohl ihre Heldin als treuliebende Witwe und treusorgende Herrscherin für Exempelsammlungen oder historisch-geographische Kompilationen besonders geeignet scheint. In Dutzenden von Katalogen und Prozessionen von Beispielfiguren tritt sie immer nur als Liebende, zur Nachahmung oder Warnung, also in ovidischem oder vergilischem Gewände auf. 7 Erst der Frühhumanismus schafft der Sage Verbreitung: Boccaccio nimmt sie in seine beiden Tragödiensammlungen De casibus virorum illustrium und De claris mulieribus auf und begleitet ihren Weg mit geradezu kirchenväterlich mahnenden Kommentaren. 8 Was Hieronymus mit seiner Witwenpredigt9 und Augustinus mit seinem unter Tränen gesprochenen Verdikt 10 nicht bewirken konnten, leistet der Humanist: er begründet eine strikt moralische Ausrichtung der Dido-Geschichte. Ihm schließt sich ein anderer Humanist an: Petrarca greift in seinem Africa-Epos ebenfalls auf Justinus zurück; er weist auf die chronologische Diskrepanz zwischen der Gründung Roms und Karthagos hin und treibt damit einen Keil zwischen Aeneas-Mythos und Dido-Sage. 11 Die Quellenkritik ist auch als Kritik an Vergil zu verstehen, der fortan nur mehr poetische Wahrheit beanspruchen kann und deshalb für die historisch-exemplarische Literatur fragwürdig wurde. 12 7
8 9 10 11
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Anna Dermutz gibt im zweiten, dem Mittelalter gewidmeten Teil ihrer Dissertation „Die Didosage in der englischen Literatur des Mittelalters und der Renaissance", Wien, 1957, eine Fülle von Belegen. Auch Chaucer sieht in Dido, wie sich noch zeigen wird, vor allem die Liebende; sie fehlt deshalb in Dorigens Klage mit dem bekannten Katalog von Keuschheitsheiligen (,Franklin's Tale', 1 3 6 7 - 1 4 5 6 ) . Hieronymus, dessen Adversus Jovinianum der Katalog entliehen ist, führt sie dagegen unter den Proto-Märtyrerinnen auf (I, 43). De casibus, II, xvi—xvii; De mulieribus, XL. Adversus Jovinianum, I, xli—xlvi. Confessiones, I, xiii. Den Anachronismus bemerkt schon vor Petrarca John Ridevall in seinem AugustinusKommentar; v. Beryl Smalley, English Friars and Antiquity (Oxford, 1960), p. 130. Bei Petrarca ist diese Kritik ausgesprochen, bei Boccaccio lediglich impliziert, wenn in De casibus gerade die Tugend an der Königin gerühmt wird, die Dido nach Vergil (und Dante) verletzt hat: „ O foeminei pudoris decus laude perpetua celebrandum".
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Nach England wird die Sage von John Lydgate eingeführt, der in vielen anderen Gedichten Didos beispielhafte Liebe zu Aeneas gepriesen hatte, 13 sich aber im Fall ofPrinces auf die De casibus -Darstellung stützt und deren moralische Tendenz nicht nur durch Kommentare, wie sein Mittelsmann Premierfait, sondern auch durch Umgestaltung zu verstärken sucht. 14 Von Aeneas ist keine Rede; um das Bild der tugendhaften Witwe ganz makellos zu halten, verschweigt Lydgate sogar die kleinen Listen, mit denen die Phönizierin bei Flucht und Landnahme zu Werke geht: Dido tritt ihre Reise auf Rat ihrer Vertrauten an — bei Justinus (und bei Boccaccio) täuscht sie einen Verwandtenbesuch vor und zwingt ihre Begleiter zur gemeinsamen Flucht, indem sie scheinbar ihr ererbtes Vermögen auf hoher See versenkt und damit eine Rückkehr unmöglich macht. Lydgate läßt außerdem die zyprischen Jungfrauen (der Sage nach Venusdienerinnen, die sich am Strand prostituieren und die Dido zur Sicherung des Nachwuchses kurzerhand entführt) freiwillig mitfahren und verschweigt ihr Gewerbe; er übergeht den bekannten Trick mit der zerschnittenen Ochsenhaut und zerstört damit die aitiologische Grundlage des Zitadellennamens Byrsa. Umso sorgfältiger geht er mit den Details um, die sich auf Didos Tugend beziehen lassen. Er macht sogar aus dem Zeuspriester, der ihrem Unternehmen eine glückliche Zukunft weissagt, einen Propheten der Juno; Dido selbst wird nach ihrem Opfertod nicht nur von den Bewohnern der Stadt, besonders den Witwen, beweint, sondern als Göttin der Keuschheit verehrt. Auf Didos Standhaftigkeit, ihrer über den Tod hinaus dauernden Treue liegt der eine Schwerpunkt der Erzählung; in zwei verhältnismäßig breit ausgeführten Reden darf sie diesen Punkt unterstreichen. Der andere liegt auf ihren Herrschertugenden. Bis zuletzt denkt sie an ihre Stadt zuerst. Als das Drängen des Barbaren Iarbas unerträglich wird, ist sie sofort zum Tod entschlossen, es bedarf nicht einmal der üblichen Deliberationsrede. Sie erbittet sich Bedenkzeit, um die Stadtmauern verstärken zu lassen. Die Überzeichnung der tugendhaften Züge Didos macht die Figur nicht liebenswürdiger; vielleicht wäre es besser gewesen, ihr einige Schwächen zu belassen, vielleicht sogar wäre vergilisches oder ovidisches Kolorit einer Stärke Lydgates, dem liebevollen Ausmalen, entgegengekommen. Er schlug diese Möglichkeiten bewußt aus: gleich anfangs beteuert er, sich an Boccaccio halten zu wollen, weil es besser sei, Gutes als Schlechtes von den Menschen zu berichten. So bleibt das Porträt recht 13 14
Belegsammlung bei Anna Dermutz, „Didosage", pp. 6 3 - 8 . Fall of Princes, II. 1 8 9 8 - 2 2 3 3 .
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blaß, und auch der dramatische Hintergrund der Todesszene trägt nur wenig zur Belebung bei. Lydgate verlegt den Feuertod mit gutem Instinkt auf den höchsten Turm der Stadt, entzündet gewissermaßen ein Leuchtfeuer weiblicher Tugend, und dennoch wirkt die Szene nicht so ergreifend wie Ovids Bild der verzweifelt Ausschau haltenden Geliebten oder wie Vergils loderndes Rachefeuer. 15 Nach Didos Apotheose wird ein Preislied auf ihre Gattentreue gesungen, das refrainartig mit einer Fürbitte endet: "With liht off trouthe alle widwes tenlumyne" (Fall of Princes, 2177, 2184, etc.). Dieser allzu legendenhafte Schluß muß den Weiberfeind in Lydgate geweckt haben; er läßt einen weiteren Abgesang folgen, in dem den heutigen Witwen geraten wird, es bloß nicht Dido nachzutun und sich immer einen Vorrat an Liebhabern zu halten. Nun lautet der Refrain: "Contraire to Dido, that was queen off Cartage" (Fall, 2226, 2233). Hier hat Lydgate den moralischen Ernst Boccaccios16 in ironischen Schimpf verwandelt und ist unvermittelt in die Rolle der zynischen Alten aus de Meuns Teil des Rosenromans geschlüpft, die Didos Geschichte als Exempel für die Unzuverlässigkeit der Männer erzählt, gegen die man sich durch Risikostreuung wappnen müsse. 17 Jean de Meuns Hohn rief bekanntlich die streitbare Christine de Pisan auf den Plan, die mit ihrer Cité des Dames ein allegorisches Bollwerk gegen Frauenfeinde errichtete. 18 Dido ist am Bau dieser Festung gleich zweimal beteiligt. Sie tritt als kluge Herrscherin auf, wenn unter der Ägide der Göttin der Vernunft der Grundstein gelegt wird (Kap. 46), und sie bildet neben den Liebesopfern Medea, Thisbe, Hero und Ghismonda eine der Zinnen der Rechtschaffenheit der beinahe vollendeten Burg (Kap. 54). Satire und Legende, so scheint es, sind nur verschiedene Seiten derselben Medaille. Gemeinsam ist beiden die Gefahr, ein lebendiges Vorbild maskenhaft, sei es zur Fratze oder zur Ikone, erstarren zu lassen. Zu solcher Verhärtung eignet sich am besten die tugendfeste Königin der Justi15
Cf.Ken., IV, 408 ss., 586 ss.; Her., VII, 20. Solche Turmszenen sind ein bewährtes Mittel zur Steigerung pathetischer Momente: Medea bangt in einem Turmzimmer dem Ausgang des Drachenkampfes entgegen, Hero starrt vom Leuchtturm auf den Hellespont, Scylla erblickt Minos von der H ö h e eines Festungsturmes, Fiammetta überlegt, ob sie sich aus einem Giebelfenster stürzen soll, Rosamond besteigt einen Turm, um einen Blick aus ihrem Labyrinth werfen zu können.
16
Die Witwenschelte in De claris mulieribus ist frei von Spott und kann nicht Lydgates Vorlage gewesen sein, wie Anna Dermutz, pp. 68—83, annimmt. Roman de la rose, 13 1 7 3 - 1 3 210. Entstanden 1 4 0 4 - 5 ; tri. Bryan Anslay (London, 1521). Zur vergilischen Dido-Literatur in der Romania v. Eberhard Leube, Fortuna in Karthago (Heidelberg, 1969).
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nus- und Boccaccio-Tradition; sie wird denn auch am häufigsten zitiert, wenn es gilt, Exempel zu statuieren oder Warnschilder zu setzen. Noch in einer Zeit der Nachahmung römischer Klassiker glaubt Thomas Salter die englischen Frauen vor der anderen Dido Vergils und Ovids warnen zu müssen: wenn man den Mädchen einmal das Lesen beigebracht hat, wie kann man dann verhindern, daß sie zu den falschen Büchern greifen, "Lasciuious bookes, of Ouide, Catullus, Propercius, Tibullus, and in Virgill of Eneas, and Dido?" 1 9 Salter empfiehlt stattdessen die Heilige Schrift, die Werke Plutarchs, "made of suche renowmed and vertuous women as liued in tyme paste, and those of Boccas tendyng to the same sence" (C3V). Die Klassiker des englischen Mittelalters, Chaucer und Gower, sind weniger streng. Sie ziehen die ehrvergessene Dido der makellosen Elissa vor. Schon diese Wahl muß bei den Verfassern von Fürstenspiegeln und Frauenlegenden überraschen; noch erstaunlicher ist, daß sie vor allem auf die anstößige Version Ovids, nicht die erhebende des Vergil zurückgreifen. Darin liegt eine weitreichende, im Falle Chaucers wohl bewußt getroffene, also programmatische Entscheidung, denn in Vergils heroischem Epos und Ovids elegischer Epistel liegen grundverschiedene Möglichkeiten der Bearbeitung eines tragischen Frauenschicksals bereit. Das soll eine kurze Betrachtung der klassischen Texte erläutern.
II. Vergil, Aeneis,
IV
Thomas Salter, der etwas gegen Väter hat, die den Launen ihrer Töchter nachgeben ("effeminate" nennt er sie zu Beginn seines Traktats, B2V), findet nur die Dido-Episode der Aeneis verderblich. Gegen den Träger männlicher Tugenden, "pius Aeneas", translator imperii, hat er nichts einzuwenden. Ganz so einseitig hat nicht einmal Vergil seinen Helden gesehen. Aeneas, von den Göttern zum Ahnherren Roms bestimmt, muß sich zu seinem ruhmreichen Schicksal durchringen, manchmal gegen die eigene Neigung. Die größte Anfechtung tritt ihm in der Gestalt Didos entgegen, und wenn man das vierte Buch der Aeneis manchmal als Tragödie bezeichnet, 20 so könnte man das nicht ganz passende Etikett ebensogut Aeneas wie Dido anhängen. 19
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The Mirror of Modesty (1579), B7V; rpt. J. P. Collier, Illustrations of Old English Literature, I. Eduard Norden spricht in seinem Kommentar zum VI. Buch der Aeneis von einem „Dido-Drama", das ganz „auf heroische Größe und tragisches Ethos gestimmt" sei und 14
In Karthago werden ernsthafte Zweifel am schicksalhaften Auftrag und am imperialen Vermächtnis des Aeneas laut — nicht von Seiten des Helden, der in Afrika eine wenig ruhmvolle, recht passive Rolle spielt und mehrfach an seine Sendung erinnert werden muß, auch nicht von Seiten des Erzählers, der trotz spürbaren Mitgefühls letztlich eine olympische Stellung bezieht, sondern von Dido, die (im Gegensatz zur Sagengestalt) bereit ist, ihre Herrscherpflichten dem privaten Glück zu opfern; nach Ankunft der Trojaner bleiben die Arbeiten an der Stadtbefestigung liegen (Ken., IV, 86—9). Dido stellt den Auftrag des Aeneas ausdrücklich in Frage. Schon in ihrer ersten Scheltrede bezweifelt sie ironisch seine heroische Bestimmung: als ob die Götter nichts besseres zu tun hätten, als ihn Reiche gründen zu lassen: scilicet is superis labor est, ea cura quietos sollicitât, neque te teneo neque dicta refello: i, sequere Italiam ventis, pete regna per undas.
(379—81)
Als Aeneas Gefahr läuft, ähnlichen Zweifeln zu verfallen, und Fama das Versäumnis der Liebenden schon in alle Welt hinausposaunt, schaltet sich Jupiter ein und läßt den Helden mit dem Vorwurf der Unmännlichkeit und Pflichtvergessenheit zur Ordnung rufen („uxorius", „regni rerumque oblite tuarum", 266—7). Der Erzähler läßt erkennen, daß er dieser Maßregelung zustimmt; „regnorum inmemores turpique cupidine captos" (194), so verbringen sie in seiner Sicht den langen Winter ihres Liebesglücks. Schuld an diesem ,Verligen' trägt in erster Linie Dido. Bei allem Mitleid läßt der Erzähler von Anfang an durchblicken, daß er ihr Verhalten mißbilligt. Sie bricht den Treueschwur, den sie dem Sychaeus geleistet hat, und verletzt damit die weibliche Kardinaltugend der Scham (27, 55). Daß Aeneas ihr die Ehe versprochen habe, läßt der Autor sie nur behaupten: sie will damit ihr eigenes Vergehen bemänteln: „coniugium vocat, hoc praetexit nomine culpam" (172). Aeneas, der nicht viel redet im vierten Buch, bekommt Gelegenheit, jeglichen Gedanken an Heirat zu leugnen (337—9). Didos Liebe wird als unbändige Leidenschaft beschrieben, die ihre Trägerin um den Verstand bringt und sich zu dämonischem Rasen auswächst — eine sehr wirksame Steigerung, die Dido einiges Mitgefühl sichert und das Verhalten des Aeneas verständlich macht: bezeichnet dieses Drama an anderer Stelle als die einzige römische Tragödie, die diesen N a m e n verdiene; v. Carl Vossen, „Der Wandel des Aeneasbildes im Spiegel der englischen Literatur", Diss. Bonn, 1 9 5 5 , p. 3 5 .
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sie ist das Opfer infernalischer Mächte, und er darf sich nicht in den Abgrund reißen lassen. Im Tod kann Vergil der Königin sogar eine düstere Größe geben. Sie bleibt zwar im Liebeswahn befangen und nimmt Züge der rachsüchtigen Hexe Medea an, darf sich aber in lichteren Momenten ihrer heldenhaften Verdienste erinnern und gedenkt auch mit einer rührenden Geste der kurzen Zeit ihres Liebesglücks: „paulim lacrimis et mente morata, / incubuitque toro" ( 6 4 9 - 5 0 ) . In der schaurigen Schlußszene gerät Aeneas in den Schatten seiner unseligen Geliebten. Ihr Feuertod und seine hastige Flucht lassen seinen Heldenglanz verblassen. Auch moralisch ist er ins Zwielicht geraten; erst spätere Taten und die reinere Liebe zu Lavinia werden seinen Ruf wieder auffrischen. Aufs Ganze gesehen bleibt die Begegnung mit Dido eine Episode, aus der Aeneas erschüttert, aber nicht gebrochen hervorgeht. Es zeugt von Vergils Einfühlung und von der Empfindsamkeit folgender Epochen, daß diese pathetische Episode in ihrer Wirkung das Epos überstrahlte.
III. Ovid, Heroides,
VII
Diese Wirkung, vor allem auf das Mittelalter, wurde durch eine Nachdichtung gefördert, die so frei mit der Vorlage umging, daß man beinahe von einer Parodie sprechen kann, Ovids VII. Heroischen Brief. Eine dem Epischen widerstrebende Tendenz ergibt sich beinahe selbstredend aus der Anlage der Heroides: Eine Heldin in doppelt privater Situation schreibt an den entfernten Geliebten einen Klagebrief. Die Episode ist also aus dem epischen Gesamtrahmen herausgelöst, die Perspektive auf die völlig isolierte weibliche Hauptperson eingeengt, die Handlung in einem äußersten Moment eingefroren. Der weitgehend unbeteiligte, das Ganze überschauende Erzähler fällt weg, es spricht die der Zukunft noch ungewisse leidvolle Betroffene. Wie jeder Parodist bleibt Ovid an sein Vorbild gebunden; seine Möglichkeiten liegen im Kontrast, und die nutzt er mit der unbekümmerten, ans Unverschämte grenzenden Sicherheit des Nachgeborenen, der es sich erlauben kann, mit den Errungenschaften der Alten und den Erwartungen der Zuhörer sein Spiel zu treiben. 21 21
Cf. die /ieroiiies-Interpretation W. S. Andersons, der, ebenfalls ausgehend von dem Didobrief, Ovids elegische Gestaltung des Stoffes neben Vergils epische stellt, dem Autor aber antiheroische oder gar parodistische Intentionen abspricht; "TheHeroides", Ovid, ed. J. W. Binns (London, 1973), 4 9 - 6 8 .
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Oberflächlich betrachtet beschränkt sich Ovid auf die harmlose Verstärkung bei Vergil vorgegebener Züge. 22 Daß er die inneren Werte des Epos allmählich aushöhlt und schließlich zerstört, scheint ihm selbst gar nicht bewußt zu werden. Manchmal bewirken die Veränderungen eine weichere Zeichnung von Didos Charakter; sie wirkt fraulicher als in der Aeneis. Was sich die maßlos Enttäuschte bei Vergil als wünschenswerte Rache ausmalt, nämlich daß sie ihm als Gespenst in der Stunde seines Untergangs erscheinen möge, mildert die Briefschreiberin zur mahnenden Vision (Aen., IV, 382—7; Her., VII, 53—60). Drohung und Fluch werden zu Klage und Besorgnis. Wenn Dido im Brief um Aufschub der Reise bittet, so denkt sie zuerst an die Sicherheit des Aeneas (ihre Selbstlosigkeit mag berechnend sein); bei Vergil erbittet Dido nur eine Frist, um mit ihrer Enttäuschung besser fertig zu werden (Aen., IV, 433—6; Her., VII, 73—4); Ovids Heroine ist bereit sich zu erniedrigen, auf den Titel der Ehefrau zu verzichten und mit der Rolle einer Gastgeberin zufrieden zu sein, wo Vergils Heldin nur aufreizende Vorwürfe kennt (Aen., IV, 323—4; Her., VII, 167—8). Das besonders rührende Motiv des unschuldigen Kindes setzt Vergil kontrastiv ein: als Liebende wiegt Dido den Ascanius als Abbild des Vaters auf dem Schoß (84—5), als Rächerin würde sie ihn am liebsten wie Medea oder Progne dem Vater zum Schmaus vorsetzen (601-2), ein Kind von Aeneas bleibt Wunsch (327-30). Ovid steigert den Wunsch zur Möglichkeit; Dido führt dem Geliebten vor Augen, es könne mit ihr ein Baby sterben, und sie nennt das Ungeborene einen Bruder des Iulus (133—8). Bisweilen führt die Steigerung vorhandener Motive auch zu schrilleren Tönen. Didos Argumente können spitz und verletzend sein — so wenn sie unterstellt, Aeneas habe Creusa ebenso betrogen wie sie selbst (83—5). Manche Äußerungen sind von so ironischer Schärfe, daß sie wenig zu der hilflos Überrumpelten passen, wenn etwa Dido vorschlägt, Aeneas möge sie doch in Fesseln legen und dem Iarbas ausliefern (125). Häufig schafft Ovid mit wörtlichen Anklängen an den Text der Aeneis ein Echo, das Vergils Worte gebrochen oder verzerrt zurückwirft. Was Vergil nur andeutet, macht er zur Gewißheit: das Geheule unbestimmter Nymphen bei der Liebesgrotte wird den Furien zugeschrieben (Aen., IV, 168: „ulularunt... nymphae"; Her., VII, 95—6: „nymphas ululasse putavi — / Eumenides fatis signa dedere meis!"). Mit ähnlicher Wirkung 22
Howard Jacobson stellt eine Reihe von Parallelstellen zusammen, meist um zu zeigen, daß Ovid vergröbert oder verwässert (Ovid's „Heroides", pp. 7 6 - 8 4 ) .
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wird das „non ego cum Danais" des Vergil (425) aufgegriffen und verwandelt: wenn Dido schreibt, „non ego sum Phthias magnisque oriunda Mycenis" (165), so klingt das nicht nur wie Vergils vorwurfsvolles „Was hab ich dir getan?", sondern auch, durch den Verweis auf Achill und Agamemnon, wie eine Absage an alles Kriegerische und Heroische. 23 Darauf laufen viele der Veränderungen Ovids hinaus: begünstigt durch die häusliche Situation und die beschränkte Perspektive der Frau schrumpfen die heroischen Proportionen auf das Normalmaß einer ganz und gar menschlichen Liebesbeziehung. Der heilsgeschichtliche Horizont kommt gar nicht erst in den Blick, und so wird es unbegreiflich, was an dieser Liebe falsch sein soll. Dido kann in ihrem Verhalten keinerlei Fehl erkennen. Sie glaubt sich sogar vor ihrem verstorbenen Gemahl rechtfertigen zu können: Aeneas allein ist schuldig; hätte er Wort gehalten, gäbe es für sie nichts zu bereuen (105—10, 164). Nun ist es also Dido, die sich vom Schicksal verfolgt fühlt; selbst ihre früheren Leistungen, bei Vergil ein Katalog von Ruhmestaten, scheinen aus der Not geboren (Aen., VI, 6 5 5 - 6 ; Her., VII, 1 1 1 - 2 4 ) . 2 4 Entsprechend heftig sind ihre Vorwürfe gegen Aeneas. Schon Vergils Dido hatte Zweifel an seiner pietas und an seiner göttlichen Sendung geäußert (379—80; 598—9); die Rede des Aeneas, die objektiv berichteten Erscheinungen, die drei vorangegangenen Bücher hatten ihr jedoch widersprochen. Die Anwürfe im Brief sind ungleich schärfer: die Rettung des Anchises, die Bergung der Penaten, sie sind erlogen (79—80); der göttliche Auftrag ist erfunden, Dido gibt sich sogar überzeugt, daß Aeneas unter einem Fluch steht (87); sie macht den ,pius Aeneas' zum heillosen Lügner („inpia dextra" nennt sie seine Schwurhand), und ihr wird nicht widersprochen.25 Widersprüche tun sich dem aufmerksamen Leser des Briefes allenfalls in den Argumenten der Dido selbst auf. 26 Ovid läßt unklar, ob sich darin
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Cf. Her., V, 8 9 - 9 0 : „Denique tutus amor meus est; tibi nulla parantur / bella" (Oenone an Paris); wir werden dem Topos noch öfter begegnen, e.g., ins Heroische gewendet, in Samuel Brandons 'Octavia to Antonius', vv. 1 5 2 - 3 . Helmut Hross führt das Motiv der vorwurfsvollen Aufzählung eigener Verdienste auf Homers Calypso {Od., V, l i é ss.) und dieMedea des Euripides zurück (476 ss.); Ovid verwendet es mehrfach in den Heroides (II, 29, 1 0 7 - 1 6 ; XII, 21 ss., 97, 1 0 5 - 8 , 1 9 9 - 2 0 2 , etc.) und in den Metamorphosen (e.g. VIII, 108 ss.). Zur paradoxen Verwischung der Grenzen zwischen Tugend und Verbrechen v. R. A. Brower, Hero and Saint (Oxford, 1971), p. 132, und Jacobson, pp. 3 9 6 - 7 . Jacobson, pp. 81—2, weist auf solche Widersprüche hin, bescheinigt Dido jedoch später, p. 90, einen gesunden Menschenverstand, den Ovid bewußt gegen Vergils hohes Ethos ausspiele. Mir scheint, daß Jacobson die Gefühlswirkung des Briefes unterschätzt.
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die Verzweiflung einer Verlorenen offenbart, die mit allen, auch brüchigen Mitteln ihren Geliebten zu halten versucht, oder ob die Klagende schon halb von Sinnen vorzustellen ist. Die pathetische Wirkung übertrifft jedenfalls die ironische; gebrochene Sprache und verwirrte Argumentation sind auch in späteren Klagen häufig anzutreffende Stilmittel. 27 Es ist schwer zu sagen (und immer noch umstritten), ob Ovid in seinem Brief ernsthaft die alten, von Augustus und Vergil wiederbelebten römischen Ideale aushöhlen wollte, 28 ob er sich nur von seiner Neigung zu künstlerischem Spiel leiten ließ oder ob er mitleidig die Seele einer in die Enge getriebenen Frau auszuleuchten suchte. Der erzähltechnische Kunstgriff der Verengung von Raum, Zeit und Bewußtsein beraubt jedenfalls das Werk der epischen und ideologischen Einfassung, die bei Vergil die Episode überwölbt. So scheint der Autor nicht nur berechtigt, sondern aus Gründen des decorum geradezu gezwungen, Ethos durch Pathos, hohe Werte durch niedere Minne zu ersetzen. Die Liebe wird absolut gesetzt und darf sich im Recht fühlen, solange sie nicht mit übergeordneten Werten konkurrieren muß. Daß die rührende, verlassene Geliebte des Dido-Briefes keineswegs so naiv und verwirrt ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, und daß erst recht ihr Anwalt sie mit den raffiniertesten Mitteln verteidigt, steht auf einem anderen Blatt. Viele der ironischen Brechungen und subtilen Charakterzüge sind den Lesern der folgenden Jahrhunderte entgangen. Die grundsätzliche Möglichkeit aber, heroisches Geschehen aus dem Blickwinkel der ohnmächtigen Betroffenen zu sehen und darzustellen, wurde erkannt und genutzt.
IV. Dido in der englischen Literatur des Spätmittelalters Vor allem in England griff man immer wieder auf Ovid zurück, wenn es galt, die traurige Geschichte von Dido und Aeneas als historischen oder als höfischen casus nachzuerzählen. Ovid war die fraglos aner-
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W . S. Anderson streicht in seiner Deutung die raffinierten rhetorischen Mittel heraus, die Ovid seiner Heroine an die Hand gibt, und setzt Didos charmanten Stil von dem direkten, majestätischen der Tragödin Vergils ab („The Heroides", pp. 6 0 — 6 3 ) ; auch diese Interpretation scheint mir die rührenden Elemente des Briefes zu unterschätzen.
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Jacobson erwähnt (p. 9 0 , n. 2 6 ) , daß I. K. Horvath, „Impius Aeneas", Acta Antiqua, 6 ( 1 9 5 8 ) , 3 8 5 — 9 3 , in dem Didobrief, nicht in der Ars amatoria, den eigentlichen Grund für Ovids Verbannung sieht.
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kannte Autorität nicht nur in Liebesdingen (auf Ablehnung stieß er vor allem bei frühen Kirchenvätern und späteren Humanisten); die Ausstrahlung von Vergils Epos war dagegen verblaßt, sei es weil den Lesern das klassische Pantheon fremd oder das Liebesverhalten des Aeneas fragwürdig geworden war. 2 9
1. John Gower, Confessio Amantis,
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Kronzeuge für die treuherzige, um die zersetzende Wirkung ovidischen Gutes wenig bekümmerte Aufnahme der Heroides noch im späten Mittelalter ist John " m o r a l " Gower. 3 0 Seine Confessio Amantis steht gewissermaßen unter der Schirmherrschaft des "grete clerk Ovide" (CA, VIII, 2 2 6 6 ) , 3 1 dennoch hätte man erwarten können, daß der strenge Moralist ein Ohr für die kritischen Untertöne Vergils gehabt hätte. Vergil aber kommt in dem Werk nur als Liebestölpel und Zaubermeister vor; die Didogeschichte, im vierten Buch als Exempel für Saumseligkeit in Liebesdingen erzählt, schließt sich ganz an Ovids Heroides an (CA, IV, 77-137).32 Gower geht stellenweise recht frei mit seiner Vorlage um. Den Anfang des Briefes spinnt er zu einer kleinen, auf poetische Art skurrilen Szene 29
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Zum Wandel des Aeneasbildes v. Carl Vossens Dissertation. Heinrich Dörrie zeigt in seinen Ausführungen zur Rezeption der Heroides im Mittelalter, daß die Heroischen Briefe auch als historische Dokumente galten und in zahlreiche Geschichtswerke aufgenommen wurden (Der heroische Brief, pp. 339—57). Wie sehr Vergil in den Schatten der elegischen Tradition geriet, verrät noch Frances Meres' Meinung, die Dido-Episode sei eine Nachahmung der Ariadne-Klage Catulls (Palladis Tamia, 1598, ed. G. G. Smith, Elizabethan Essays, II, 316). Das Etikett stammt von Chaucer, Troilus and Criseyde, V, 1856. The English Works of John Gower, ed. G. C. Macauley, 2 vols. (Oxford, 1 9 0 0 - 0 1 ) ; Confessio Amantis im folgenden abgekürzt zu CA. Es ist sehr zweifelhaft, ob Gower Vergils Aeneis überhaupt aus erster Hand gekannt hat; die Forschung gibt auf diese Frage keine klare Auskunft. Gowers grimmiges politischsatirisches Mahngedicht Vox Clamantis, das in tierallegorischer Verkleidung den Bauernsturm auf Troynovant im Jahre 1386 schildert, beruft sich zwar ausdrücklich in Kap. 13 und 17 auf die in der Aeneis geschilderte Zerstörung Trojas, läßt aber in keiner Zeile eine wörtliche Vertrautheit erkennen. Stattdessen ist das Werk mit weit über 500 Zeilen aus Ovids Schriften, darunter den Heroides, durchsetzt (v. E. Stockton, The Latin Works of John Gower, Seattle, 1962, p. 27; nach neuerer Zählung enthält es sogar mehr als 750 Zeilen; v. F. C. Mish, "The Influence of Ovid on John Gower's Vox Clamantis", Dissertation Abstracts International, 34, 1974, 7198 A, Minnesota). Lediglich Handlungsführung und Namengebung entsprechen der Aeneis - Gower wird sie einer Nachdichtung entnommen haben. Das ist ein etwas überraschender Befund bei einem Autor, den ein Verehrer der folgenden Generation (wahrscheinlich Strode) mit Vergil verglich.
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aus, die mit Ovids Schwanenvergleich nur lose, mit der übrigen Erzählung aber eng verknüpft ist. Dido schreibt, sie werde in eine verzweifelte Lage geraten, wenn Aeneas nicht bald zurückkehre: Sehe scholde stonde in such degre As whilom stod a Swan tofore, Of that sehe hadde hire make lore; F o r sorwe a fethere into hire brain She schof and hath hireselve slain; As king Menander in a lay The sothe hath founde, wher sehe lay Sprantlende with hire wynges tweie, As sehe which scholde thanne deie F o r love of him which was hire make. (CA, IV, 1 0 4 - 1 3 )
Der liebeskranke Schwan, der sich mit einer Feder umbringt — das könnte als Emblem eine Heroides- Ausgabe zieren. Zweifellos will Gower jedoch mit der ausgefallenen Todesart eine Vorausdeutung auf Didos Tod durch das Schwert geben.33 Die Vorgeschichte ändert er mit Sinn für Praktisches ab: er läßt den Ritter Aeneas gleichsam per Schiff auf aventiure nach Italien reiten und sich dort übermäßig lange verweilen („in partes Ytalie a Cartagine bellaturum se transtulit, nimiamque ibidem moram faciens", heißt es in der Randglosse). Es wird also impliziert, daß er wie ein Kreuzritter zurückkehren wollte. Das macht den Mahnbrief plausibel und gibt Dido Grund, in den Tod zu gehen, als keine Antwort kommt: Thus whan sehe sih non other bote, Riht evene unto hire herte rote A naked swerd anon sehe threste, 33
Trotz der Mäander-Menander-Verwechslung, die in mittelalterlichen Handschriften der Heroides häufiger vorkommt, ist es unwahrscheinlich, daß Gower einer Fehlübersetzung aufgesessen ist. Dagegen spricht nicht nur die sorgfältige Verknüpfung mit dem Schluß, sondern auch die Tatsache, daß Gower an anderen Stellen durchaus korrekt den lateinischen Text zitiert und übersetzt. Die Heroides waren in Dutzenden von lateinischen Handschriften im gesamten europäischen Mittelalter verbreitet (v. H. Dörries „Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte von Ovids Epistulae Heroidum", Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahre 1960, Philologisch-historische Klasse, Göttingen, 1960, pp. 1 1 3 - 2 3 0 und 3 5 9 - 4 2 3 ; er bezeugt über 100 Handschriften aus dem 9 . - 1 4 . Jahrhundert). Dörries kritische „Probe-Edition" vonHeroides, VII verzeichnet keine Variante, die Gowers Auslegung hätte anregen können. Chaucer paraphrasiert die Stelle fast wörtlich (Legend of Good Women, 1355-65).
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A n d t h u s s e h e g a t h i r e s e l v e reste In r e m e m b r a n c e o f alle s l o w e .
(CA, IV, 1 3 3 — 7 )
Das klassische Thema der Reichsgründung klingt nur noch am Rande an und wird im ovidischen Sinn gewertet. Nicht die Vernachlässigung höherer Aufgaben wird Aeneas vorgeworfen (das ,Verligen' des Ritterromans), sondern ein Versäumnis in den Minnepflichten; die Liebeskunst ersetzt den Ehrenkodex. 34 Wie in den vielen anderen Erzählungen der Confessio Amantis entzündet sich Gowers künstlerisches Interesse erst an der Darstellung menschlich rührender Szenen, und dazu bieten die Frauengeschichten Ovids reichlich Gelegenheit.
2. Geoffrey Chaucer, House of Fame und 'Legend of Dido' Wenn Chaucer sich Ovid zuwendet, geschieht das weniger unbedacht als bei seinem Freund Gower. Chaucer kennt und schätzt seinen Vergil; in beiden Didoerzählungen beruft er sich auf sein Vorbild; im House of Fame zitiert er den Anfang der Aeneis (HF, 143—8), seine Dido-Legende leitet er mit einem Preis des Mantuaners ein: G l o r y e a n d h o n o u r , Virgil M a n t o a n , B e t o t h y n a m e ! a n d I s h a l , as I c a n , F o l w e thy l a n t e r n e , as t h o w g o s t b y f o r n , H o w Eneas to D i d o w a s forsworn.
(LGW, 9 2 4 - 7 ) 3 5
Die Betonung des Treubruchs legt den Verdacht nahe, daß Chaucer an eine ovidische Art der Nachfolge denkt und neben die heroischen auch sanftere Effekte setzen wird: In N a s o a n d E n e y d o s w o l I t a k e T h e t e n o r , a n d t h e grete e f f e c t e s m a k e .
{LGW,
9 2 8 — 9)
Chaucer rafft das Geschehen der Aeneis in beiden Erzählungen so, daß die Dido-Episode in den Mittelpunkt rückt; im ersten Buch des House of Fame füllt sie fast die Hälfte der epischen Handlung aus; die 'Legend of Dido' konzentriert sich natürlich auf die Geschehnisse in Karthago und 34
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Daß Gower wenig vom „petere regna per undas" hält, bestätigt wenig später sein Beichtvater, der sich über die "men of armes" lustig macht, die da glauben, immer neue Länder erobern zu müssen, "Somtime in Prus, somtime in Rodes, / And somtime into Tartarie" (CA, IV, 1 6 3 0 - 1 ) . Zitiert wird nach der Ausgabe von F. N . Robinson, The Works of Geoffrey Chaucer (London, 2 1957).
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faßt die Vorgeschichte in wenigen Zeilen zusammen. 36 Erzähltechnisch gesehen wirkt die Darstellung im House of Fame ungeschickter, nicht nur weil dem Leser das Mißverhältnis der einzelnen Teile bewußt wird, sondern auch weil die Geschichte in einen doppelten Rahmen eingespannt ist. Der Erzähler gibt vor, im Traum in den gläsernen Tempel der Venus versetzt worden zu sein und dort die Geschichte des Aeneas in Erz eingegraben gefunden zu haben. Die Erzählung ist also eigentlich eine descriptio, wie sie in der elegischen Tradition so beliebt wurde. 37 Der fiktive Rahmen wird in den stärker gerafften Teilen der Geschichte mit der Formel "Ther saugh I " am Anfang kleiner Erzählabschnitte immer wieder ins Gedächtnis gerufen. In der Dido-Episode fehlen diese Floskeln, und der Rahmen wird durch mehrere Erzählereinsprachen, die auf literarische Autoritäten verweisen, durchbrochen. Manchmal sind die Fingerzeige ironisch, wirken sie wie Seitenhiebe; immer schaffen sie Distanz und vergrößern noch den Abstand, der mit dem komplizierten Rahmenwerk ohnehin gegeben ist. In solchem Abstandnehmen hat man auch, sicherlich zu Recht, den Sinn der literarischen Erkundungsreise zum House of Fame gesehen: Abstand nicht nur von der klassischen Tradition, sondern auch von der mittelalterlichen. Es wird nicht nur der Heros Aeneas zum verlogenen Liebhaber gemacht (seine numinose Rechtfertigung, absichtsvoll an das Ende eines langen Katalogs untreuer Liebhaber gesetzt und damit von der eigentlichen Geschichte getrennt, verfehlt ihre Wirkung), auch mittelalterliche Erzählweisen, seien sie weitschweifig-romanzenhaft oder kurzatmig moralisierend, werden indirekt mit Fragezeichen versehen: die eine mit der Weigerung, sich bei den Präliminarien der Liebesbegegnung aufzuhalten, die andere durch den langen, mit wohlmeinenden Ratschlägen durchsetzten gnomischen Einschub, der in dem Tadel gipfelt, Dido habe sich allzu rasch mit einem fremden Mann eingelassen: AI this seye I be Eneas And D i d o , and hir nyce lest, T h a t loved al to sone a gest; Therfore I wol seye a proverbe, 36
37
Auf die Schwierigkeiten, die sich beim Kürzen ergeben haben, geht R. W. Frank, Jr., Chaucer and "The Legend of Good Women" (Cambridge, Mass., 1972), pp. 59—60, ausführlich ein. Er betrachtet die ganze Legendensammlung als erzähltechnisches Experiment. Auch die schon erwähnte Ariadne-Klage Catulls ist als Beschreibung einer Decke in die Haupterzählung von der Hochzeit des Peleus und der Thetis eingelassen (Catull, Carmen 64). Hier wie dort ist die Beschreibung zugunsten lyrischer und epischer Elemente aufgelöst.
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That "he that fully knoweth th'erbe M a y saufly leye hyt to his ye"; Withoute drede, this ys no lye.
(HF, 2 8 6 - 9 2 ) 3 8
Gerade in Didos Vertrauensseligkeit liegt aber auch der Grund für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem wohlbekannten Stoff. Es geht nämlich Chaucer um mehr als das Zurechtstutzen einer großen Vorlage; 39 er setzt den als brüchig erkannten alten Normen mit der Gestalt seiner Dido etwas Unverbrüchliches entgegen. Ihr Vertrauen ist nicht einfach dumm, es hat auch etwas Heiliges, das zu mißbrauchen ein unverzeihliches Verbrechen bedeutet. Chaucer verschont seine Heldin von der Ironie, die ansonsten das ganze Buch durchzieht; das zeigen die Klagereden, die er ihr in den Mund legt und die er ausdrücklich als eigene Zutat kennzeichnet. In höherem Sinne sind sie es auch, sie greifen zwar auf vergilische Argumente und ovidisches Sentiment zurück, haben aber nichts von der schneidenden Schärfe oder der katzenhaften Sanftheit der beiden Vorbilder. Sie sind vielmehr schlicht, direkt, und gerade deshalb ergreifend. Didos Klagen und Gesten sind durchaus konventionell (das Händeringen, v. 299; der Wunsch, nicht geboren zu sein, und die Sorge um den Ruf, " O wel-awey that I was born! / For thorgh yow is my name lorn" 345—6; die Hilflosigkeit gegenüber dem blendenden Verführer, "We wrechched wymmen könne noon art", 335); sie wirken dennoch rührend, weil sie nicht bloß auf Rührung abgestellt sind. Didos Schlichtheit weist auf die Schuld des betrügerischen Mannes und unterstreicht einen Grundwert menschlichen Zusammenlebens: trouthe als Richtschnur für das Sprechen wie das Handeln. Nicht Bindung an hehre Ideale oder Bewährung in den Augen der lady ist mit diesem immer wieder angesprochenen Begriff gefordert, sondern eine grundlegende Verpflichtung, notwendiger als Heldenmut und Höfischkeit. 40 Im House of Fame ist dieser Grundwert noch in recht allgemeine Wendungen gefaßt (,so sind die Männer', ,wir armen Frauen'), in den 38
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4,1
Die mißbrauchte Gastfreundschaft ist ein ovidisches Motiv, das in Klagen immer wieder auftaucht (v. Her., XVII, 191: „certus in hospitibus non est amor"; Fasti, II, 787: „hostis, ut hospes"). Die Lucretia in Enea Silvios De duobus amantibus vergleicht in einem Brief an den untreuen Liebhaber Euryalus ihr verwandtes Schicksal mit demjenigen Didos, Medeas und Ariadnes (v. Leube, Fortuna in Karthago, p. 168). Zu Chaucers Technik des Auswaschens traditionell heroisch oder romantisch gefärbter Stoffe v. W. Clemen, Chaucer's Early Poetry (London, 1963), pp. 8 0 - 7 . Clemen hat auf die leitmotivische Bedeutung der trouthe für Chaucers Gesamtwerk hingewiesen (Early Poetry, p. 87); er sieht in Dido jedoch nicht mehr als eine auf bürgerliches Maß zurückgeschnittene, balladeske Figur (p. 82); das wird ihrer pathetischen Wirkung nicht ganz gerecht. 24
besten Erzählungen der späteren Legendensammlung, und dazu ist die 'Legend of Dido' zu rechnen, wird er individueller und eindringlicher vorgestellt. Das ergibt sich schon vom Rahmen her, der ein klares Thema stellt und das Schicksal leidgeprüfter Liebesmärtyrer zum einzigen Gegenstand macht. Kein Wunder also, daß Dido noch weiter in den Vordergrund rückt und Aeneas am Ende als erbärmlicher Verräter dasteht. 4 ' Den Rahmen der Erzählung darf man nicht außer acht lassen; der herrscherliche Auftrag, ob historisch oder poetisch, stellt nicht nur das Thema, er bestimmt auch die Form: allzu kleinbürgerlich wird man die Königin von Karthago einer Königin nicht präsentieren dürfen. Auch das große Vorbild Vergil läßt sich nicht so einfach beiseiteschieben, und so erklärt es sich, daß Chaucer in der 'Legend of Dido' mit verhältnismäßig großem Aufwand und epischem Apparat die Vorgeschichte wiedergibt und die ersten Begegnungen der Liebenden detailreich begleitet. Essen, Feste und eine Jagd werden mit glanzvollem Zeremoniell beschrieben, und was der Erzähler an olympischer Pracht einspart, das fügt er dem höfischen Prunk hinzu. Die göttlichen Agenten setzt er ein wenig ins Zwielicht (so wenn er Venus sich ihrem Sohn gegenüber verleugnen läßt — das Lügen scheint in der Familie zu liegen, vv. 989; 998—9 — oder wenn er ihre späteren Manipulationen mehrfach in Frage stellt, 1020—2; 1139—45); die Freigebigkeit Didos läßt er umso heller scheinen (z.B. in dem langen Katalog kostbarer Geschenke, die sie Aeneas zukommen läßt, 1114—25). Zum Kern der Sache, den Ereignissen des vierten Buches der Aeneis, kommt er deshalb erst mit einiger Verspätung. Er folgt auch hier im wesentlichen der „Laterne" Vergils, läßt sich aber immer häufiger in den Schatten Ovids, der über dem ganzen zweiten Teil der Erzählung liegt, zurückfallen. Die Veränderungen sind zum Teil erzähltechnischer Natur. Vergil hatte sich in Grenzen bemüht, beiden Protagonisten gerecht zu werden, Ovid ließ die Frau zu Wort kommen und hielt sich selbst in wohlwollender bis ironischer Distanz, Chaucer mischt sich, zunächst leise, dann immer lauter, ein: er legt Skepsis gegenüber den Quellen an den Tag (1039—45), bezweifelt die Fähigkeiten der olympischen Götter
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V. Frank, Chaucer, pp. 7 6 - 8 . Frank ist der Ansicht, daß sich das Thema der unglücklichen Liebe und die Figur der betrogenen Frau nicht recht zu tragischer Gestaltung eignen. Die Dido-Erzählung schwanke deshalb auf merkwürdige Weise zwischen den Gattungen: die Heldin sei beinahe tragisch, der Held beinahe komisch zu nennen. Frank hätte seinen Eindruck auf die mittelalterliche Dichtungstheorie stützen können, nach der das elegische Genre zwischen Komödie und Tragödie anzusiedeln ist (v. infra, p. 267).
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(1020—2) und überführt oder bezichtigt seine Figuren der Lüge (Venus, v. supra, Aeneas 1295 — 1302). Der Liebesschwur, bei Vergil und Ovid nur von Dido behauptet, wird bei Chaucer feierlich geleistet (1232—5);42 ein Kind von Aeneas — bei Vergil ein Wunsch, bei Ovid eine Möglichkeit — ist bei ihm tatsächlich unterwegs (1323); die Bereitschaft Didos, sich zu erniedrigen, ist gegenüber Ovid und Vergil moralisch erhöht: sie hat keine Hoffnung, den Geliebten zu behalten, um ihres guten Rufes willen soll er nur ihr Bündnis legalisieren, dann mag er sie töten (1319-22). Die allmähliche Wandlung Didos von der großmütigen Gastgeberin zur bettelnden Geliebten und von der vergilisch-epischen zur ovidisch-elegischen Figur ist mit wenigen Strichen meisterhaft gezeichnet. Anfangs wird sie uns als mustergültige Herrscherin vorgestellt, ("of alle queenes flour, / Of gentillesse, of fredom, of beaute", 1009—10); dann sehen wir sie von den Qualen eines amor bereos gepeinigt (was Chaucer mit gewohnter Skepsis beobachtet — "She waketh, walweth, maketh many a breyd, / As don these lovers, as I have herd seyd", 1166—7), sie hat auch die Kraft, ihren amor, abweichend von der Vergilischen Vorlage, gegen den Willen Annas durchzusetzen (1182—3); in der Grotte aber fällt sie allzu vertrauensselig („sely Dido", 1237) auf einen falschen Liebhaber ("fals lovere", 1236) herein, und schon bald nach der Vermählung erleben wir sie als nächtlich verlassene Ehefrau ("in his bed she lyth a-nyght and syketh", 1292). Der Zusammenbruch erfolgt bei einer Aussprache, in der Dido sich zunächst noch einmal zu behaupten sucht ("I am a gentil woman and a queen", 1306), dann aber bereit ist, sich mit einem Leibeigenendasein zufriedenzugeben ("and profereth hym to be / His thral, his servant in the leste degre", 1312—3). Parallel zu dieser Entwicklung enthüllt Chaucer den falschen höfischen Liebhaber Aeneas. Schon in der scheinbar neutralen Beschreibung seiner Flucht aus Troja mutet es seltsam an, wie beiläufig ihm seine Frau Creusa abhanden kommt; der Verlust, in einen lakonischen Satz gefaßt ("And by the weye his wif Creusa he les", 945), wird überlagert von der Sorge um Vater und Sohn (941—4) und vor allem um die Gefährten (946—51), zu denen es ihn auch später nächtlich hinauszieht (cf. 1 2 8 8 - 9 ; "companye" 951 und 1327). An Didos Hof läßt der Erzähler den Aeneas dann im Glanz eines Romanzenhelden strahlen, legt aber Wert darauf, daß dies die Sicht der Königin ist ("he was lyk a knyght", 1066; "lyk to been a verray gentil man", 1068; "wel a lord he semede", 42
Von dem Sychaeus gegebenen Treuegelöbnis ist natürlich keine Rede mehr.
26
1074; cf. 1264 "Tak hede now of this grete gentil-man"): die verengte Perspektive ist außerordentlich geschickt genutzt. Daß Dido aus den edelsten Motiven einem falschen Liebesideal gefolgt ist ("hire herte hath pite of his wo, / And with that pite love com in also", 1078—9), macht der Erzähler dann nach dem Liebesschwur in der Grotte klar. Er gibt die Rolle des unbeteiligten Zuschauers auf und zeigt sich als der Freund der Frauen, den später Gavin Douglas nachsichtig-kopfschüttelnd mit Chaucer selbst identifizierte: 43 O sely wemen, ful of innocence, Ful of pite, of trouthe, and conscience, What maketh y o w to men to truste so?
(1254—6)
Hier spricht natürlich der bußfertige Erzähler des Prologs; es verstärkt sich aber auch die Skepsis, die dort gegenüber dem höfischen Liebestreiben zu spüren war, wenn im folgenden die Praktiken des Minnedienstes als falscher Schein entlarvt werden (1268—75) — und dahinter mag tatsächlich Chaucer selber stehen. Die Entwicklung der Erzählung von der romanzenhaft-heroischen Liebesbegegnung zum gemeinen Liebesverrat läßt Chaucer vor sorgfältig ausgesuchten Kulissen abrollen: das epische Panorama zu Beginn und der höfische Prunk in der Mitte werden am Ende ersetzt durch häuslichintime Requisiten. Man gewinnt den Eindruck, daß sich der Spielraum immer mehr verengt; das Geschehen verlagert sich nach den weiträumigen Anfangsszenen in die Abgeschiedenheit des Schlafzimmers, in dem schon die letzte, fruchtlose Unterredung mit Aeneas stattfand und aus dem sich der Verräter nun des Nachts wie ein Dieb davonstiehlt, nur ein Gewand und sein Schwert, die Reste seiner prächtigen Geschenke, in der Eile zurücklassend. Chaucer läßt Dido wie Ariadne im halbleeren Bett erwachen und den verbliebenen Fetzen liebkosen. Der Feuertod wird nur am Rande erwähnt; an den Schluß setzt der Autor die briefschreibende, mit ihren Erinnerungen allein gelassene Heroine Ovids — kein heroisches, sondern ein elegisches Bild. 3. Anon., 'Letter of Dydo to Eneas' Zu einer Zeit, als Vergils Aeneis in Schottland einen Übersetzer fand, der sich an modernen Ansprüchen messen läßt, entstand in England eine anonyme Übertragung von Ovids Dido-Brief, die ganz vom Geist der Leg43
"For he was evir (God wait) all womanis frend", 'Prologus in Virgilii Eneados', v. 449.
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end of Good Women geprägt scheint und auch als 'Letter of Dydo to Eneas' in Richard Pynsons Ausgabe der Werke Chaucers aufgenommen wurde. 44 Der Brief ist in eine Galerie von Frauenporträts einzureihen, die sich aus den Chauceriana des 15. Jahrhunderts zusammenstellen läßt; Pynson schließt ihn unmittelbar an die ebenfalls anonyme Magdalenenklage an, die später zu besprechen sein wird. 45 Der Verfasser des Briefes rahmt seine Versübertragung mit einem Vorund einem Nachwort und erklärt, nach einer französischen Vorlage gearbeitet zu haben: T o translate frenche / I am nat redyest N o marueyle is / sithe I was neuer yet In those parties / where I might langage gete
(F3V)46
Man muß in dieser captatio mehr als nur eine rhetorische Floskel sehen, und auch die traditionelle Forderung, Wort und Miene sollten beim Vortrag übereinstimmen, ist diesem Autor ernst gemeint: Folke discomforted / bere heuy countenaunce As ye haue cause / so order your chere 44
45
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(F3v)
Neben diesen beiden Gedichten wären Henrysons Testament of Cresseid, der anonyme 'Lament of the Duchess of Gloucester' und Banesters 'Legenda Sismond' zu nennen. Fast jeder der im folgenden vorgestellten Typen der Frauenklage ist also auf ein Werk in der Chaucer-Nachfolge zurückzuführen. "Thus endeth the complaynt of Mary magdaleyn / and herafter foloweth the letter of Dydo to Eneas" The Book of Fame (1526), F3 V . Eine genaue Beschreibung von Pynsons Ausgabe findet sich im bibliographischen Anhang (p. 336). Ethel Seaton schreibt das Werk, wie übrigens auch große Teile der Legend of Good Women, Sir Richard Roos zu und meint, der Autor habe seine wirkliche Quelle, die italienische Übertragung Filippo Ceffis, verbergen wollen (S/r Richard Roos, London, 1961, p. 365); den im Vergleich zur Legend ungelenken Stil erklärt Seaton damit, daß es sich um Fingerübungen des jungen Dichters gehandelt habe. Diese Vermutungen können nicht überzeugen. Gemeinsame Abweichungen vom lateinischen Text legen nahe, daß der Verfasser des 'Letter of Dydo' sich auf die französische Heroides- Übersetzung des Octovien de Saint-Gelais stützt (Cf. Her., VII,69 „coniugis . . . deceptae . . . imago" mit Octoviens „L'ymaige froide de ta femme deceue" und 'Letter' "The colde ymage / of your disceyued wife"; Her., VII, 1 8 5 - 6 „ensem, / qui iam . . . sanguine tinctus erit" mit Octoviens „Ton espee qui m'occira demain" und 'Letter' "the swerde / that shall kyll me tomorowe"). Octoviens Epistres d'Ovide entstanden im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts und waren schon vor 1526, dem Erscheinungsjahr von Pynsons Chaucer, in zehn gedruckten Ausgaben verbreitet (von vier dieser Ausgaben finden sich Exemplare in der British Library; v. Christine M. Scollen, The Birth of the Elegy in France 1500-1550, Genf, 1967, App. II, pp. 1 5 7 - 9 ; die Zitate aus den Epistres sind ebenfalls dieser Studie entnommen). Selbst wenn man die Abhängigkeit des 'Letter of Dydo' von Octovien nicht akzeptiert, kommt als Vorlage immer noch eher eine lateinische Ausgabe der Heroides in Betracht als eine italienische; E. Paratore, Bibliografia Ovidiana (Sulmona, 1960), verzeichnet über 4 0 lateinische Ausgaben der Heroides von 1470 bis 1500 (v. Scollen, op. cit., p. 20).
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Die Formulierung erinnert an ähnliche Wendungen in Chaucers und Henrysons Cressida-Gedichten.47 Wie die Erzähler dort widmet der Übersetzer seiner Einstellung zum gegebenen Stoff eine eingehende Erörterung. Ihm geht offenbar die ironische Distanz zum Gegenstand ab, von der die Erzählhaltung des Troilus und des Testament bestimmt ist. 48 Er ist selbst betroffen und fühlt sich von Didos Schicksal in zwingender Weise gerührt. Er geht nicht als Gelehrter und Mann der Vernunft an sein Werk heran, 49 For lernyng lacketh / and reason is nat clere
(F3V)
sondern als Mitfühlender, dem beim Schreiben vor Zorn und Mitleid die Hand zittert: T o purpose lo / thus wyse it is ment Bycause that I haue loued very long And haue no ioye / vnto this day present Constrayned me / to write this rufull songe Of poore D y d o / forsaken by great wronge Of false Ene / w h o causeth my hand to shake For great furye / that I ayenst hym take
(F3V)
Das entspricht der Haltung, die Chaucers Erzähler in der Legend of Good Women kennzeichnete. Natürlich wird man solche Beteuerungen nicht für bare Münze nehmen; es wird jedoch klar, daß sich der Autor mit seiner Selbstvorstellung in eine bestimmte literarische und stilistische Tradition stellt. Wenn er behauptet, bar aller Beredsamkeit zu sein ("For lyke as I / barreyne of
47
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Troilus and Criseyde, I, 1 2 - 4 T e s t a m e n t of Cresseid, 1—4; cf. George Cavendish, 'Metrical Visions', v. 63 (Zitat infra, p. 124). Die Formel geht auf Horaz, Ars poetica, 1 0 5 - 7 , zurück; Ovid verwendet sie in seiner Lucretia-Erzählung, Fasti, II, 758. Cf. Robinsons Anmerkung zu Chaucer, 'Squire's Tale', 103, und E. P. Hammonds zu Lydgates Fall of Princes, VI, 3144—50 (English Verse between Chaucer and Surrey, Durham, N. C., 1927, p. 528). Den gleichen ironischen Abstand wahrt bei allem Einfühlungsvermögen Ovid gegenüber seinen Heroinen; allzu oft verständigt er sich über den Kopf seiner Figuren hinweg augenzwinkernd mit seinem Leser. Diese Einstellung verrät Gavin Douglas in seiner keneis-Ubersetzung. "Se, quhou blynd luffis inordinate desyre / Degradis honour, and resson doith exile!", ruft er in der Präambel zum IV. Buch aus (vv. 2 5 0 - 1 ) . Douglas rückt Didos Liebe in die Nähe der christlichen Ursünde der Konkupiszenz: "Than is thi lufe inordinat, say I, / Quhen ony creatur mair than God thou luffis" (ibid., vv. 128 — 9). Sie bedeutet ihm Abkehr von den Gesetzen der Vernunft und Rückfall in eine triebhafte Existenz: „Fra nobylnes, welth, prudens and temperance, / In bruteil appetite fall, and wild dotage" (224—5). Er kann sich bei dieser Deutung auf gelehrte Humanisten wie Ascensius stützen.
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eloquence", F3 V ), so macht er nicht nur aus einer Not eine Tugend: er knüpft an bei dem schlichten Stil der Confessio Amantis und der Legend of Good Women und findet seinen Platz in der Entwicklung des piain style im späten Mittelalter. 50 Wie bei John Gower beschränkt sich für den Autor die Absage an die Rhetorik nicht auf den stilistischen Bereich; er sucht sie mit dem Thema seiner Übertragung zu verknüpfen: 51 "playnnesse is the waye of parfyte trust", heißt es am Ende einer Ermahnung zur Offenheit (F3V), und gegen eben dieses Gebot hat Aeneas verstoßen. Er ist ein Abtrünniger nicht nur von der Liebesreligion, sondern auch von dem Grundgesetz vertrauensvollen Zusammenlebens, das schon Chaucer so sehr betont hatte: Ah false vntrouth / vnkinde delyng 8c double M y hande quaketh / whan I write thy name
(F3V)52
Didos Unglück beginnt mit dem überaus einnehmend vorgetragenen Bericht des Aeneas über seine trojanischen Erlebnisse und die abenteuerliche Irrfahrt nach Karthago. Diese Szene, die im vierten Buch der Aeneis und in der siebten Heroide fast vergessen ist, stellt der englische Autor in den Mittelpunkt seines Briefes. Immer wieder läßt er die Gedanken Didos zu der ersten, entscheidenden Begegnung zurückkehren. Die erste Hälfte ihres Briefes übersetzt er ziemlich wörtlich, indem er die Distichen in jeweils zwei heroic couplets zu fassen versucht. Dann aber, gerade als in Didos Klage mit der eingebildeten Erscheinung des Sychaeus dramatische Bewegung kommt, weicht er von seiner Vorlage ab und läßt sie an die Stunde der Begegnung zurückdenken: I am nat the fyrst / I knowe for certayne W h o m your langage / hath caused to complayne But ye that were / well lerned for to lye H a u e abused me alas / through my folly your pitous wordes / whan I herd with myn eres M y eyes were moued to stände ful of teres so
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Folgerichtig verzichtet er auf eine epische Musen- und Götteranrufung: die Musen sind im Schmerz über Didos Schicksal versunken, und die Götter sind an ihrem Leid mitschuldig (F3V). Die enge Verknüpfung von Stil und Ethos in Gowers Hauptwerk habe ich in meiner Dissertation darzulegen versucht ("the middel weie": Stil- und Aufbauformen in John Gowers 'Confessio Amantis', Bonn, 1974). Den gleichen Zusammenhang stellt noch Daniel im Vorwort zu seinem 'Letter from Octavia' her: [Antony] "could not truly descend to the priuate loue of a ciuill nurtred Matron, whose entertainment bounded with modesty, and the nature of her education, knew not to clothe her affections in any other colours, then the plaine habit of truth"; ed. Grosart, Complete Works (London, 1885), I, 1 1 9 - 2 0 .
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After / my hert moche enclyned to pyte Was holly moued / to haue your amyte That redy wyll / and my defaut sodayne Shall n o w e be cause / of my later payne
(F4 V ) 53
"your langage" hat noch seine Entsprechung bei Ovid; dessen „tua ... lingua" (Her., VII, 81) aber, das die Unterstellung einleitet, Aeneas habe schon Creusa mutwillig dem Verderben überlassen, veranlaßt unseren Übersetzer, sich einfühlsam der Stunde zu erinnern, als Dido sich von dem abgerissenen Fremden einnehmen ließ. Der wehmütige Rückblick ersetzt den hinterhältigen Vorwurf, die elegische Stimmung wird verstärkt. Didos Schuld vermindert sich somit auf den Fehler, daß sie sich von ihrem Mitleid hat leiten lassen. Sie wird zum Opfer ihres weichen Herzens, nicht der Leidenschaft; statt von Liebe ist von „pyte" und „amyte" die Rede, die Begebenheit im Wald, bei Ovid noch einmal schaurigschmerzlich nachempfunden, wird völlig unterschlagen. Die Schuld des Aeneas dagegen wächst, da er die edlen Regungen der Königin schmählich mißbraucht hat. Didos Selbstbezichtigung schlägt folgerichtig in den Vorwurf der Hartherzigkeit um: I was to blame / to enclyne and reioyce In the swete wordes of your pitous voice Trustyng your true spouse to be But the fayntnesse of loue disceyued me Pardon ye me / of that I was so swyfte I dyde it nat for golde / nor for no gyfte One that semed kynde / louyng and honest Ouercame me / to f o l o w e his request His noble blode / and hir swete countenaunce Gaue me g o o d hope / & of mynde assuraunce I k n o w e no w o m a n / so g o o d nor so wyse That wolde the loue of suche one dispice For in hym is no defaut but one H e lacketh pyte / whiche causeth me to mone
(F5 r )
Nach dieser Gewissenserforschung bringt der Übersetzer den Brief rasch zu Ende. Didos Rückblick auf ihre heroische Vergangenheit fehlt ebenso wie der Ausblick auf eine königliche Zukunft. Dido malt sich 53
Die schicksalhafte Begegnung von mitleidigem Mädchen und erfahrenem Krieger hat noch viele spätere Bearbeitungen gefunden. Man denke nur an Shakespeares Desdemona und Othello oder Pineros Ellean und Captain Ardale in The Second Mrs. Tanqueray. 31
stattdessen ihren Tod mit Schwert und Flamme in allen Einzelheiten aus und enthüllt dabei neben etwas makabren Praktiken im antiken Ahnenkult auch das Innere eines Selbstmörders, der sich am Schmerz der Hinterbliebenen tröstet: W h a n I am deed / and brent to asshes colde Than shall ye serch / & with your handes vnfolde The pouder of my bones / and surely kepe In your chambre / there as ye vse to slepe
(F5 r )
In Pynsons Book of Fame, der einzigen, noch dazu nur in einem Exemplar erhaltenen Ausgabe des 'Letter of Dido to Aeneas', ist dem Brief als eine Art Andachtsbild ein Holzschnitt mit Didos Todesszene vorangestellt. Allzuviele Leser können es nicht gewesen sein, die sich in die Betrachtung versenkt haben, und in künstlerischer Hinsicht haben die übrigen nicht viel versäumt. Dennoch stellt der Brief aus künstlerisch ohnehin dürrer Zeit ein wichtiges Bindeglied zu späteren Bearbeitungen ähnlicher Stoffe dar. Offenbar lebten die Heroinen Ovids gerade auf der volkssprachlichen Ebene fort. 54 Das gebildete Publikum mußte auf eine wortgetreue Ubersetzung bis 1567 warten, als George Turbervilles The Heroical Epistles of Publius Ovidius Naso erschienen.
54
Das bezeugt auch eine Ballade mit dem Titel The Wandering Prince of Troy, die Aeneas und Dido besingt und viele ovidische Elemente bewahrt (Roxburghe Ballads, VI, 547—51); Anna Dermutz nimmt an, daß sie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden ist („Didosage", p. 116).
32
c. Octavia und Matilda. Heroische Briefe in England Der 'Letter of Dydo to Eneas' stellt sicherlich keine von klassischem Geist inspirierte Übertragung der ovidischen Epistel dar. Die Ausrichtung auf die menschlichen Grundwerte der trouthe und der pité steht geradezu im Gegensatz zum Relativismus der Werte in den Heroides und verbindet den Brief mit den mittelalterlichen Bearbeitungen des Stoffes bei Chaucer und Gower.1 Inspiration hatte der Verfasser ja auch vergeblich bei den klassischen Musen gesucht. Seine Beschwörung der antiken Leidensgenossinnen Didos war ebenfalls wenig hilfreich gewesen: W h a t remedy / where shulde I seke socour O f Niobe / of M y r r h a / o r of Byblis Of Medea or Lucrece / the romayne flour N o n e of them all / may graunt me helpe in this
(F3 V )
In zahlreichen Prozessionen ziehen die klassischen Figuren, Liebesheilige wie Liebesfrevler (Alcestis, Penelope, Portia — Myrrha, Canace, Semiramis), auf ein exemplarisches Schattendasein verkürzt, durch das Mittelalter. 2 Die Mischung von libertinae und matronae, in den Beispielreihen meist säuberlich getrennt, kann als richtunggebend gelten für den Weg, den spätere Ovid-Imitationen nahmen. Eine umfassende Darstellung dieser Nachahmungen in der englischen Literatur, so reizvoll die Aufgabe wäre, kann hier nicht gegeben werden. ' Mit der Beschränkung auf einen Brief und der selbständigen Behandlung erfüllt das Werk die Kriterien, mit denen Dörrie, Brief, pp. 94, 112, den Nachvollzug von der Übersetzung unterscheidet. Der Letter of Dydo allerdings ist Dörrie entgangen. 2 Man vergleiche nur den Katalog von Heroides-Figuren im Anhang zu Chaucers DidoErzählung im House of Fame {HF, 388 - 4 2 6 ) , die Liebesopfer im Venustempel des Parliament of Fowls (PF, 2 8 0 - 9 4 ) , den Reigen guter Frauen im Prolog zur Legend ofGood Women (LGW, F, 2 4 9 - 6 9 ) oder auch die Frauengruppe in der Liebesprozession am Ende der Confessio Amantis von John Gower (CA, VIII, 2 5 5 0 - 6 5 6 ) . Heinrich Dörrie führt ähnliche Beispiele aus Gottfrieds Tristan, Dantes ,Paradiso' und Boccaccios Fiammetta an (Der heroische Brief, pp. 3 5 0 - 5 ) .
33
D e r S t r o m ovidischen Einflusses schwillt bis z u m E n d e des 1 6 . J a h r h u n derts zu s c h w e r ü b e r s c h a u b a r e r Breite a n , er ist z u d e m eingebettet in ges a m t e u r o p ä i s c h e E n t w i c k l u n g e n , denen H e i n r i c h D ö r r i e in seiner g r u n d legenden B e s t a n d s a u f n a h m e der Heroides-Tradition
n a c h g e g a n g e n ist. 3
N o c h D r y d e n , ein — wie m a n a n n e h m e n sollte — eher heroisch-vergilisch gesinnter A u t o r , bedient sich einer Liste v o n F r a u e n f i g u r e n , u m O v i d als den M e i s t e r der sanfteren L e i d e n s c h a f t e n v o n Vergil a b z u s e t z e n , u n d m a r k i e r t so den Beginn einer nicht m i n d e r h o h e n W o g e der Ovidbegeis t e r u n g im Klassizismus des folgenden J a h r h u n d e r t s . 4 D e r Einfluß der Heroides
a u f die englische L i t e r a t u r des M i t t e l a l t e r s
u n d der R e n a i s s a n c e ist z u m Teil v e r d e c k t : so stehen in C h a u c e r s w i e in G o w e r s W e r k offene Ü b e r n a h m e n neben v e r s t e c k t e n Anleihen. F a s t jedes B u c h des Troilus
e t w a e n t h ä l t A n s p i e l u n g e n auf die B r i e f s a m m l u n g
O v i d s . P a n d a r u s zitiert aus d e m Schreiben O e n o n e s , d a ß gegen die Liebe kein K r a u t g e w a c h s e n sei (Tr. & Cr.,
I, 6 5 9 - 6 5 ; Her.,
V , 1 4 9 ) , 5 und
gibt m i t Blick a u f Briseis R a t s c h l ä g e , wie m a n einen Liebesbrief schreibe (Tr. & Cr.,
II, 1 0 2 7 ; Her.,
III, 3 ) ; C r i s e y d e s c h w ö r t T r e u e b e i m L a u f des
Simois wie O e n o n e bei d e m des X a n t h o s (Tr. & Cr.,
IV, 1 5 4 8 — 5 4 ;
Her.,
V , 2 9 — 3 0 ) u n d t r ö s t e t sich wie die n u r s c h e i n b a r entrüstete H e l e n a bei d e m G e d a n k e n , n i c h t die erste t r e u l o s e F r a u zu sein (Tr.
&
Cr.,
V,
3
Dörries verdienstvolles, breit angelegtes Werk ist im Bereich der englischen Literatur ergänzungsbedürftig (Hinweise auf Lücken finden sich auf pp. 33, 39, 41, 57, 61, 138 dieser Studie). Eine spezielle Abhandlung zu den englischen Heroischen Briefen liegt meines Wissens bisher nur in Form einer maschinenschriftlichen Dissertation vor (Greti Kutek, „Ovids Heroides und die englischen Heroidenbriefe von der Renaissance bis Pope", Diss. Wien 1937; besonders ausführlich zu Withers Fidelia, einer pastoralen Abwandlung des Heroischen Briefes). Eine Untersuchung englischer Heroides-Ubersetzungen von Linda van Norden soll als Manuskript existieren: "A rich and exhaustive study . . . still in manuscript" (John Dryden, ed. E. N. Hooker et al., Berkeley, 1956, I, 330); sie blieb wohl unveröffentlicht.
4
"Virgil speaks not so often to us in the person of another, like Ovid, but in his own; he relates almost all things as from himself, . . . Though he describes his Dido well and naturally in the violence of her passions, yet he must yield in that to the Myrrha, the Biblis, the Althaea, of Ovid; for, as great an admirer of him as I am, I must acknowledge that if I see not more of their souls than I see of Dido's, at least I have a greater concernment for them: and that convinces me that Ovid has touched those tender strokes more delicately than Virgil could." Vorwort zu Annus Mirabilis, in Of Dramatic Poesy and Other Critical Essays, ed. George Watson (London, 1962), I, 99; cf. Of Dramatic Poesy, an Essay, ibid., I, 41, wo ein ähnlicher Kontrast zu den Schreckensdramen Senecas behauptet wird. Die Unterscheidung zwischen heftigem und sanftem Pathos läßt sich auf englische Verhältnisse übertragen und wird im folgenden (vor allem pp. 2 8 0 - 5 ) noch eine Rolle spielen.
5
Cf. Ovid, Met., I, 523; Gower, CA, I, iii, 4. Eine nur als Handschrift erhaltene Klage des 16. Jahrhunderts (MS Add. 15 233, gezeichnet Thomas Pridioxe - Ethel Seaton schreibt auch sie Sir Richard Roos zu, Roos, pp. 362—3) überträgt den Topos auf Dido. 34
1067); Her., XVII, 41). 6 Handelt es sich bei diesen Stellen lediglich um Topoi und Motive, die sich schon frühzeitig aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst haben mögen,7 so übernehmen Chaucer und auch Gower, wie wir gesehen haben, an anderer Stelle ganze Briefpassagen und ordnen sie neuen künstlerischen Zielen unter. Ähnlich verfährt Lydgate, der unter anderem (unnötigerweise, wie Macaulay, der Herausgeber Gowers, meint)8 die skandalöse Geschichte von Macareus und Canace in seinen Fürstenspiegel aufnahm, 9 wahrscheinlich unter dem Einfluß Gowers, der den Fall als Beispiel für Melancholie erzählt und die Unschuld ahnungsloser Geschwisterliebe dem erbarmungslosen Wüten eines tyrannischen Vaters gegenübergestellt hatte. 10 Lydgate erzählt die Geschichte mit gleichem Akzent, um eine Frauenschelte Boccaccios abzumildern; er malt die rührenden Begebenheiten, vor allem eine Mutter-Kind-Szene, liebevoll aus, nimmt damit aber der Figur der Canace einiges von dem naiven Charme, den sie bei Gower besitzt. Wie später Churchyards Mrs. Shore ist Canace allzu sehr darauf bedacht, sich ins rechte Licht zu setzen; ihr Brief ist geprägt von der Furcht vor immerwährender Schande — ein Leitmotiv der tragischen Frauenklage im Stil des Mirror for Magistrates, das der Lage Canaces jedoch nicht angemessen ist. 11
I. Thomas Heywood, 'Paris to Hellen, Hellen to Paris' Bei Gower und Lydgate ist die Verfehlung des Mädchens Canace einer mittelalterlichen Tragödienauffassung untergeordnet: sie führt zum Fall eines Tyrannen und darf deshalb mit Nachsicht behandelt werden. In ei6
7
8 9 10
11
Cressidas Brief im 5. Buch des Troilus ist mit Anspielungen auf die Helena-MenelaosParis-Situation in den Heroides gespickt. Ähnlich dicht sind die Beziehungen zwischen dem Briefpaar Ovids und der Malbecco-Hellenore-Paridell-Episode in Spensers Faerie Queetie, III, ix, 26ss. Zum Fortleben solch kleiner Einzelzüge in der Vorrenaissance v. Leo Rick, „Ovids Metamorphosen in der englischen Renaissance", Diss. Münster 1915, p. 8. Zur Wirkung auf die euphuistische Prosa v. M. P. Tilley, " E u p h u e s and Ovid's Heroical Epistles ", MLN 45 (1930), 3 0 1 - 8 . John Gower's Works, I, 493. Fall of Princes, I, 6 8 3 3 - 7 0 4 2 . CA, III, 143—360. Boccaccio übergeht die Geschichte ganz, Premierfait erwähnt sie mit wenigen Sätzen. Eine ausführliche und sehr freundliche Würdigung der Canace-Erzählung gibt Alain Renoir, The Poetry of John Lydgate (London, 1967), pp. 20—3. Renoir hatte schon vorher versucht, Lydgate von dem Verdacht, ein Weiberfeind zu sein, zu befreien: "Attitudes Towards Women in Lydgate's Poetry", English Studies, 42 (1961), 1 - 1 4 .
35
ner anderen, aus dem Mittelalter übernommenen Form wird der private Fehltritt zur Belebung universalgeschichtlicher Abhandlungen eingesetzt. Ein spätes Beispiel ist Thomas Heywoods Troia Britannica (1609), eine Kompilation klassischen und biblischen historischen Materials, die auf Caxtons Recuyell of the Histories of Troy beruht und in die der Autor ein brillantes Jugendwerk, seine Übersetzung des Helena-ParisBriefwechsels, einbaute. 12 Heywood hatte sich in jungen Jahren intensiv mit Ovid beschäftigt — neben diesen Briefen übertrug er auch die Ars amatoria —, und er blieb dem Meister zeitlebens eng verbunden. Er bearbeitete noch den Oenone-Brief zu einem erotischen Epyllion und stattete nicht nur die Troia Britannica, sondern auch seine antikisierenden Dramenzyklen mit ovidischen Einlagen aus. Seine Übersetzung der HelenaParis-Briefe machte soviel Eindruck, daß der Verleger Jaggard sie 1612 in dem Sammelband The Passionate Pilgrim als Werk Shakespeares ausgab. Mittelalterliche Autoren hatten ihre Kompendien mit Briefeinlagen versehen, um die Authentizität des historischen Geschehens zu verbürgen. 13 Hey wood ist dafür zu gelehrt (das beweisen die Erläuterungen, die jedem Canto der Troia Britannica angehängt sind) und auch zu selbstbewußt. Er legt ebensoviel Wert auf künstlerische wie auf wissenschaftliche Qualität. These two Epistles being so pertinent to our Historie, I thought necessarie to translate, as well as for their elegance as for their alliance (X3r, p. 211) heißt es in seiner Begründung des Einschubs. In der Einleitung zur Geschichte des trojanischen Krieges (8. Canto) äußert sich das beinahe überhebliche Selbstverständnis eines Künstlers der englischen Renaissance: Poets are Makers, had great Homer pleasd Penelop had beene wanton, Hellen chast, The Spartan King the mutinous host appeasde, And smooth Vlisses with the home disgra'st, Thersites had the Imperiall Scepter ceasd, And Agamemnon in his rancke beene plast: 12
13
Ein früheres Beispiel ist die wahrscheinlich vor 1581 entstandene Tale ofTroy George Peeles, die ebenfalls Heroides- Motive in eine holprige, stark raffende, auf reines Geschehen erpichte Nacherzählung des Recuyell einflicht. Zu beiden Werken cf. J. S. P. Tatlock, "The Siege of Troy in Elizabethan Literature, Especially in Shakespeare and Heywood", PMLA, 3 0 (1915), 6 7 9 - 8 2 und 6 8 3 - 9 1 . V. Dörrie, Brief, pp. 3 4 5 - 5 0 , über die Verwendung von Material aus den Heroides in Troja-Romanen und Weltchroniken.
36
Oh! Homer,
t'was in thee Troy to subdue,
Thy pen, not Greece;
the Troyans
ouerthrew.
(Sl r , p. 1 7 1 )
Dieser frivole Umgang mit der heroischen Vergangenheit erinnert an Ovid; Heywood führt seinen Dichterstolz denn auch auf eine entsprechende Passage aus dem dritten Buch der Ars amatoria zurück. In der Gesamtanlage lehnt sich die Troia Britannica eher an die Metamorphosen an. Neben der Helena-, Phaedra- und Ariadne-Geschichte (letztere nach Ars amatoria, I, 527—68) sind Procris- und Medea-Erzählungen aufgenommen. Das episodische Rankenwerk überwuchert bisweilen die chronologische Struktur; das Ziel — wie in den Metamorphosen läuft das Werk auf eine Apotheose des Herrscherhauses hinaus — gerät manchmal aus dem Blick, verleiht dem Ganzen aber dennoch Halt und Gewicht. Heywood scheut sich nicht, heilsgeschichtliche Parallelen zu ziehen, um Aufmerksamkeit für das Schicksal Helenas zu wecken: W h o can describe the purity of those, Whose beauties are by Sacred Vertues guided, Or who their vgly pictures that oppose Their beauties against Chastity deuided, Proud Lucifer
an Angell was, but chose
Vice: Vertue to eschew: and from heauen slided: Women like him (in shape
Angellicall)
ar Angels whilst they stand, Deuils when they fall. ( T 6 \ p. 1 9 4 )
Der moralisierende Kommentar steht in merklicher Spannung zur wertvergessenen Haltung des folgenden Briefwechsels, die der junge Heywood in schwungvollen Versen nachempfunden hatte; der universalgeschichtliche Rahmen wirkt als Gehege für jugendliches Ungestüm. Man könnte das Motto des Titels umkehren: „Post lucem tenebrae"; 1 4 der spätelisabethanische Überschwang bricht sich an jakobäischer Zucht; Prudentia, die ebenfalls den Titel ziert, führt Regiment.
II. Erwiderungen auf Ovidische
Heroides
Trotz der Frivolität einzelner Formulierungen im Briefwechsel zwischen Helena und Paris legt ein Briefpaar von vorneherein eine ausgewogenere Darstellung nahe als der ganz aus einer Sicht geschriebene Einzelbrief. 14
" L U X POST T E N E B R A S " , heißt die Devise einer wappenähnlichen Titelverzierung der Ausgabe von 1 6 0 9 , aus der zitiert wurde (genaue Beschreibung des Titels im bibliographischen Anhang, p. 3 3 0 ) .
37
Ovid selbst, der seine drei Doppelbriefe erst später den fünfzehn Einzelschreiben der Heroides beifügte,15 weicht diesem Zwang aus, indem er die Briefpartner jeweils vom gleichen, und sei es, wie bei Cydippe, uneingestandenen Verlangen beseelt sein läßt. Spätere Autoren nutzten häufig die Gelegenheit, den als anstößig oder verhängnisvoll empfundenen Neigungen einzelner Briefschreiberinnen mit der Erwiderung des Mannes ein moralisches Gegengewicht zu geben. So kann der männliche, orthodoxe Standpunkt zu Geltung gebracht, die gefühlsbetonte Perspektive mit Vernunftargumenten entzerrt werden. 1. John Shepery, Hyppolitus
Ovidianae
Phaedrae
respondens
In diesem Sinne verfaßte der jung, zu Zeiten Heinrichs VIII. verstorbene John Shepery (oder Shepreve) einen Antwortbrief des Hippolytus auf das verwerfliche Ansinnen Phaedras. Der Herausgeber George Etherege vergleicht die Haltung des Jünglings mit der des jungen Joseph im Haus des Potiphar: De argumento operis, non opus est multa dicere, cum titulus satis indicet. N a m si e sacris literis hic aliquid petere licebit, cogita losephum quendam alterum adolescentem, Pharaonis vxori quae molesta olim erat & dicebat dormi mecum, hic respondere, & nefandum stuprum recusare.
(x8v)16
Sheperys Hippolytus tritt nicht nur als Vertreter einer reinen, keuschen Liebe seiner schamlosen Stiefmutter entgegen (und weist in seiner marmornen Kühle auf Shakespeares Adonis voraus, der sich ja ebenfalls der Avancen einer Dame zu erwehren hat, die seine Mutter sein könnte), 17 er untergräbt das ganze Genre, wenn er fragt, wie der Brief Phaedras überhaupt geschrieben werden konnte: Nil sane miror, quid enim mirabile fecit? Cur non horreret foeda nefanda loqui? H o c potius miro quöd talis conscia facti, N o n ruerit subito lapsa fragore domus. 15
16
17
(A4 r )
V. Dörrie, Brief, p. 78; zur literarischen Wertung v. W. S. Andersons Teilkapitel 'The Double Letters', in "The Heroides", pp. 6 8 - 8 1 . Hyppolitus Ovidianae Phaedrae respondens (Oxford, 1586). Der Josephsvergleich rückt die Erwiderung in die Nähe der ebenfalls als Gegengewichte zu den Ovidischen Briefen entworfenen Heroides sacrae, die gleichzeitig auf dem Kontinent entstanden; v. Dörrie, Brief, pp. 381 ss. Den Hippolytusbrief Sheperys behandelt ausführlich Wolfgang Mann, Lateinische Dichtung in England (Halle, 1939), pp. 137—48. Wie Adonis ist auch Hippolytus ein eifriger Jäger: „Est mihi iucundum ferro configere seruos" (Bl r ), und Liebe und Jagd sind unvereinbar: „Quisquis amat celebres sectari concitus apros, / Hic mellum veneris crimen amare potest" (Bl v ). 38
Die Liebesaffären der Götter, mit denen in der Kupplersuada immer wieder menschliche Leidenschaft entschuldigt wird (so z.B. auf dem Kästchen, das in Daniels Complaint der Rosamond zugestellt wird und das viele spätere Autoren nachahmen), weist Hippolytus als Dichtermärchen ab: Haeccine vera putem q u a e tarn scelerata feruntur, D e dijs qui coeli splendida regna tenent? Haeccine vera putem q u o d diui talia patrent, Q u a l i a mortalis nemo patraret h o m o ? N o n pudet haec nobis obtrudere falsa poetas? N o n tribuisse pudet talia facta Ioui? O genus insanum qui vos ab Apolline doctos Aonidùmque sacro fingitis esse choro. Nullus adest vobis cum scribitis impia Phoebus, Nulla mouet cytharam nulla Thalia fides.
(A5 r )
Ovid und Heywood gründen ihren Stolz auf solche Märchen — man sieht, wie bis in die poetologischen Wurzeln hinein hier eine Dichtart umgegraben wird. 2. F. L., 'Dido to Aeneas, Aeneas to Dido' Man kann Sheperys allzu weitschweifige, stilistisch und dichtungstheoretisch aber reizvolle Erwiderung in eine lange palinodische Tradition einreihen und sie den mittelalterlichen Parodien und Retractiones an die Seite stellen. Auch bei Ovid selbst läßt sich anknüpfen. Am Ende des Jahrhunderts verfaßt ein nur mit den Initialen F. L. bekannter Autor einen Antwortbrief des Aeneas auf die Epistel Didos und hängt beide Briefe seiner Übersetzung der Remedia amoris an. 1 8 Er verschreibt seiner liebeskranken Heroine zwar nicht so eine bittere Medizin wie Shepery, die therapeutische Absicht wird aber schon im Versargument deutlich: AEneas
read what Dido
wrote,
And sent her this replie; And sought to cure the curelesse wound, Which Dido
m a d e to die.
(G2 V )
Aeneas führt eine Reihe von Entschuldigungsgründen für sein Verhalten an, zählt seine Leiden und Verluste auf und beruft sich auf die Weisun18
Ovidius Naso His Remedy of Love (1600). Auch dieser Briefwechsel ist Dörrie entgangen; Beschreibung pp. 3 3 4 - 5 . 39
gen der Götter. Er mahnt Dido, an ihre königliche Ehre und das Urteil der Nachwelt zu denken, hat aber auch Verständnis für den Schmerz, den er ihr keineswegs leichten Herzens zufügt. Der Abschied fällt ihm schwer, und er wird ihrer mit Dankbarkeit gedenken: But thankfull still, that fame may so relate Me thankfull still, but stil infortunate. [•••] In sum, I can all paine with patience take, But not (o Queene) with patience thee forsake.
(H2r"v)
Die Nähe zu den Remedia macht sich in den Trostsprüchen am Ende des Briefes geltend. Aeneas rät der Geliebten, ihrem Zorn freien Lauf zu lassen: For mightie beasts, and mightie passions both, By following tam'd, by stop are made more wroth.
(H3 r )
Am Ende werde die Zeit alle ihre Wunden heilen. Wenn auch Aeneas sich als widerstrebender Held verabschiedet, so wird doch schließlich das Walten übergeordneter Mächte anerkannt: Religion, Honour, Destinies decree, Three by poor one, how can resisted bee?
Tout seule.
(H3V)
Am Schluß sind also beide einsam; Aeneas aber ist in einer Welt des Ruhmes und der Taten besser aufgehoben als die ehrvergessene Dido.
III. Nachahmungen der Heroides Die wenigen Beispiele genügen, um deutlich zu machen, daß jeder Versuch, den Ovidischen Brief mit Blick auf eine etablierte Moral zurechtzurücken oder abzustützen, dem Wesen der Form, die auf Brechungen fester Werte im individuellen Bewußtsein angelegt ist, zuwiderläuft. Dem strengen Blick der Vernunft halten die gefühlsbetonten Briefschreiberinnen nicht stand; ihr Denken ist allzu sehr vom persönlichen Wunsch bestimmt, als daß sie einen Sinn für das Walten allgemeiner Gesetze entwickeln könnten. Deshalb sind die Frauen der Heroides als Beispielfiguren, die anspornen oder abschrecken sollen, nur sehr beschränkt geeignet. Das Patheti40
sehe und das Tragische liefert keine Maximen, Furcht und Mitleid sind keine aktiven, lehrbaren Tugenden. Dennoch haben nicht nur mittelalterliche Autoren, sondern gerade auch klassizistische Imitatoren der ovidischen Gattung aus den Heroides Lehren zu ziehen und an ihre Leser weiterzugeben versucht. Sie verstehen Mimesis als nachahmenswerte Handlung, Katharsis als Ermunterung oder Warnung für das eigene Handeln. 1. Alexander Boyd, 'Octavia Antonio' Da die Seelenlandschaft der Heroides moralischer Vermessung nur schwer zugänglich ist, suchen viele humanistische Nachahmer ihr schon durch die Wahl der Figuren zu entkommen. Ovid fand seine Heroinen im urtümlichen Gelände von Mythos und Sage; einer seiner neulateinischen Nachfolger, der schottische Emigrant Alexander Boyd, begab sich auf das gesicherte Gebiet alter Geschichte; der Engländer Drayton schließlich beschränkt sich auf die heimischen Gefilde seines „anderen Eden". Boyd hatte zunächst Antwortschreiben auf die fünfzehn Einzelbriefe Ovids verfaßt, 19 wenige Jahre später veröffentlichte er dann eine Reihe von fünfzehn eigenen Heroiden unter dem Titel M. Alexandri Bodii epistolae heroides (Antwerpen, 1592). 2 0 Neben mythischen Figuren, meist den Metamorphosen entnommen (Atalanta, Eurydice, Clytia, Philomela, Thisbe), treten in dieser Sammlung mehrere Gestalten aus der — hauptsächlich römischen — Geschichte auf (Lavinia, Sophonisba, Paulina, Julia, Octavia). 21 Das Werk ist dem jungen schottischen König James 19
20
21
Epistulae quindeeim quibus totidem Ovidii respondet (Bordeaux, 1590); v. Dörrie, Brief, p. 108. Dörrie, Brief, p. 158, führt nur 14 Schreiben auf; der Thisbe-Brief fehlt in der von ihm benutzten Anthologie, Delitiae poetarum Scotorum (Amsterdam, 1637). Boyds Dichtung, die außerhalb des von Wolfgang Mann untersuchten Zeitraums liegt, verdiente eine sorgfältigere Würdigung, als sie hier möglich ist. Als Kostprobe für den deftigen Stil des Schotten mag der Anfang des Briefes dienen, den Silvia, Vestalin und Mutter der Zwillinge Romulus und Remus, an ihren Schänder Mars richtet: HAnc tibi Threiicio mittit tua Sylvia Marti, Infoelix furto facta puella tuo. Heu turnet ingrato vitiatus pondere venter! Et rubor ä nobis & decor omnis abest. Vbere dimoto turgent lactantia succo, Et lavat ineurvos uda papilla sinus. Et gradimur lente, foetaque retundimur alvo, Et fastiditus temperat ora eibus. (Delitiae, p. 148)
41
gewidmet und mag mit seiner eigenartigen Mischung aus derbem Detail und eleganter Form dessen Geschmack getroffen haben. Auf das England Elisabeths haben die Briefe wahrscheinlich wenig Einfluß gehabt; umso verwunderlicher ist es, daß die Wiederbelebung des Heroischen Briefs in London mit einer Figur verbunden ist, der auch Boyd eine Epistel zugeschrieben hatte: Octavia, der verstoßenen Frau des Marcus Antonius. Die Klassizisten Samuel Brandon und Samuel Daniel widmen ihr jeweils ein selbständiges Werk. 2 2 Die Vorzugsstellung, die dieser Frau eingeräumt wird, rechtfertigt eine genauere Betrachtung. Nicht ein Werk Ovids, sondern Plutarchs exemplarische Geschichte des Antonius ist die Quelle für alle drei Autoren — Ovid hätte sich wohl eher, wie Chaucer, der Rivalin Octavias, Cleopatra, angenommen. Dennoch hat Boyd versucht, der Gestalt, die bei Plutarch nur in Umrissen vorgezeichnet war, ein ovidisches Gewand umzulegen. Ihr Brief hebt wie der Didos mit einem Vogelvergleich an; V T rami referunt viduae lamenta palumbae, V t perit a m i s s a m f o e m i n a t u r t u r a v e m ;
wie Penelope lenkt sie den Blick auf die leere Hälfte des Ehebetts; 2 3 T e tua depereo faelix Octavia, tantüm Si p a r t e m lecti m e p a t e r e r e tui.
(Delttiae, p. 175)
fassungslos wie Oenone fragt sie nach ihrer Schuld und zählt wie Phyllis ihre Verdienste auf. 2 4 Wie Alcyone erlebt sie in einer alptraumhaften Vision den Tod ihres Mannes. 2 5 Anfangs scheint es auch so, als teile sie die verzweifelte Unterwürfigkeit mancher Heroinen Ovids, die wie Briseis bereit sind, sich mit der Rolle einer Nebenfrau oder Dienerin zufriedenzugeben, wenn sie sich nur die Nähe des Geliebten erhalten können: 2 6 22
23
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26
Brandon, 'Octavia to Antonius. Antonius to Octavia' (1598); Daniel, 'A Letter from Octavia to Marcus Antonius' (1599). Pathetische Heroinen werden häufig im oder am verlassenen Ehebett oder Liebeslager vorgestellt; z.B. Vergils Dido (Aen., IV, 6 4 8 - 5 0 ) , Ovids Penelope und Ariadne (Her., I, 7 - 8 ; X , 9 - 1 4 ) , Chaucers Dido, Lucretia und Ariadne ( L G W , 1 3 3 2 - 7 ; 1 7 1 9 - 2 0 ; 2210—3), Daniels Rosamond und Octavia (Complaint, 645—51; Letter, 7 7 - 8 0 ) , etc. Das Requisit kennzeichnet den privaten und häuslichen Charakter der Frauenklagen. Das quid feci ist (wie das quid faciam) ein T o p o s der Frauenklage; cf. Her., II, 27; VII, 164. Vielleicht ist dieser prophetische Traum auch dem Wunschtraum der Dido Ovids entgegengesetzt; cf. Boyd, " N e c to conturbent, toties meliora merentem, / Funerei vultus, sanguinolenta m a n u s " (p. 178), und Ovid, „coniugis ante oculos deceptae stabit imago / tristis et effusis sanguinolenta comis" (Her., VII, 6 9 - 7 0 ) . Didos Rachegelüste wären mit Octavias Sorge kontrastiert. V. Her., III, 7 5 - 6 ; cf. Dido, Her., VII, 167.
42
Q u a e te d e l e c t a n t , m e a l u x , mihi g r a t a , nec u n q u a m Q u a e t u a s u n t n o b i s g a u d i a c r i m e n erunt.
(p. 1 7 5 )
Sie schränkt jedoch gleich darauf ein: T a n t u m c o n n u b i o v i d e a r tibi j u n c t a p e r e n n i , N e c n o v u s antiqui v i n c u l a r u m p a t a m o r .
(p. 1 7 6 )
Octavia denkt nicht, wie manche Heldinnen Ovids, zuerst an sich selbst. Aus ihr spricht eine große Seele, die dem großen Kind, das Marcus Antonius in ihren (wie in Plutarchs) Augen ist, seine Streiche verzeiht, solange nicht die öffentliche Sicherheit gefährdet ist. Octavia führt die Heiligkeit der Ehe nicht ins Feld, um ihr privates Glück zu verteidigen, sondern um den Ruf ihrer Familie und den Frieden in Rom zu wahren. 2 7 Immer wieder weist sie Antonius auf die Verpflichtungen hin, die ihm seine Geburt und sein Stand auferlegen: Q u o s e n s u s a b e u n t i m p e r i o s e tui? Si g e n u s H e r c u l e u m r e p e t e s , & s y d e r a c a e l o , M o v i t h o n o r a t o s saepe puella D e o s . Si g e n u s A e n e a d u m , Phrygii si s e m e n Iuli, I n f i m a d e p o p u l o n o n e g o civis ero.
(p. 1 7 6 )
Sie stellt die Frage nach dem Heldenmut des Mannes nicht ironisch, sondern ernsthaft. Wenn Phyllis den Demophoon höhnisch an seine Abstammung von Theseus erinnert, will sie ihn als Liebhaber zurückgewinnen; 2 8 Octavia mahnt Antonius, damit er sich auf seine Pflichten als Herrscher besinnt. Diese Frau ist gänzlich frei von Rachsucht und Bosheit, selbst gegenüber der ägyptischen Rivalin, die lediglich mit einigen Seitenblicken erfaßt wird. Was Ovid aus einer ähnlichen Konstellation macht, zeigen die Verwünschungen, mit denen Medea ihre Nebenbuhlerin bedenkt. 2 9 Boyd schwebt ein ganz anderes Ziel vor Augen als seinem Vorbild. Er sucht Großmut und Sanftmut in der Person der verlassenen Frau zu verbinden, und er verwirklicht in Ansätzen ein Ideal, an dem viele seiner volkssprachlichen Nachfolger gescheitert sind.
27
28 29
Für sie sind also private und öffentliche Werte eins; selbst Aeneas schwankt zwischen amor und patria (Aen., IV, 347), und Antonius, den schon Cicero mit Helena verglich, stellt seinen amor über alles. Die bei Ovid vorgegebene Rollenverteilung ist völlig verkehrt. V. Plutarchs Anmerkung (Lives, tri. J. Sc W. Langhorne, London, s. d. pp. 6 2 5 - 6 ) ; cf. Didos " N o n ego sum Phthias" (Her., VII, 165). Her., II, 6 3 - 7 8 . Her., XII, 1 7 5 - 8 2 .
43
2. Samuel Brandon, 'Octavia to Antonius, Antonius to Octavia' Ob Brandon oder Daniel ihren schottischen Vorläufer gekannt haben, ist höchst zweifelhaft; es ist nicht einmal sicher, wer von ihnen den Octavia-Stoff als erster aufgriff. 30 Samuel Brandon veröffentlichte seinen Briefwechsel als Anhang zu dem klassizistischen Drama The Virtuous Octavia (1598). 31 Der Dramentitel könnte von Plutarch stammen; er setzte ja das versöhnliche, tugendhafte Wesen der Römerin dem intriganten und leichtfertigen Treiben der Cleopatra entgegen. Die moralische Wertung des Titels wird in der Widmung des Briefpaares aufgenommen und auf Antonius ausgedehnt; Brandon spricht dort in stark latinisierender Syntax von "the missive Epistles between the virtuous Octauia and the licentious Antony' (F7r). Damit sind die Pole gesetzt, zwischen die das Briefpaar gespannt ist. Ein unsicheres Schwanken wie in den ovidischen Episteln ist nicht zu erwarten. Schon in Octavias Brief wird der Abstand zum Formvorbild deutlich. Obwohl die Situation der verlassenen Ehefrau sie zur Heldin im Ovidischen Sinne prädestiniert, wirkt sie doch weniger verloren als eine der klassischen Heroinen. 32 Aus ihrem Brief spricht weniger eine erschütterte, zwischen Trostlosigkeit und falscher Hoffnung hin- und hergerissene Frau, als vielmehr die Verkörperung einer wohlbegründeten Institution, nämlich die der römischen Matrone; nicht Octavia persönlich ist durch die Untreue des Antonius verletzt, sondern die weibliche Tugend überhaupt. Ebensowenig wie die individuelle Person der Octavia ist der geographische Ort von Bedeutung. Octavia schreibt aus Athen, wo sie vergeblich auf Antonius gewartet hat (schon Plutarch läßt sie von gleicher Stelle einen Brief schicken), und man kann sich ausmalen, was Ovid oder auch Drayton aus der Lage einer zwischen Italien und Ägypten, Bruder und Ehemann gestrandeten Römerin gemacht hätten. 3 3 Brandon nennt Athen nur im Vorwort. Wenn im übrigen Orte erwähnt werden, erscheinen sie nahezu allegorisiert: der Schlamm des Nils ist Brutstätte der Affekte, über den Wassern des Tiber schwebt die Tugend. Ovids Heroinen wollen nichts als ihren Geliebten zurückgewinnen; Octavia scheint weniger besorgt, daß Antonius zu ihr, als daß er zu sich 30 31 32 33
Dazu spekulativ Pierre Spriet, Samuel Daniel, (Paris, 1968), pp. 306 ss. Malone Society Reprints (Oxford, 1909). Cf. Her., II, 27, 63 und Letter, 9 0 - 3 , 5 3 2 - 5 . Die Situation hätte eine Variante des Exil-Motivs anregen können (Ariadne auf Naxos, Rosamond im Labyrinth).
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selbst zurückfindet. Nur selten appelliert sie an seine Liebe, nur anfangs erinnert sie ihn an verflossenes Glück. Octavia versucht Antonius am Portepee zu fassen. Das Thema der Fürstenehre, das bei Ovid nur ganz verzerrt anklang und dann bei Boyd vernehmlicher wurde, spielt Brandon in mehreren Variationen durch. Octavius wird an seine heroischen Taten gemahnt wie Hercules, an seine vaterländischen Pflichten wie Aeneas und zusätzlich wie ein mittelalterlicher Ritter vor dem ,Verligen' gewarnt: Within the hauen of repose. D r o w n not thy conquering barke.
(vv. 152—3 ) 3 4
Am schärfsten sind die Vorwürfe gegen den Herrscher, der die Beherrschung über sich selbst verloren hat und sich von der Sinnlichkeit Ägyptens anstecken ließ: H e is no Prince, which his affects Cannot predominate. W h o for his pleasure poyson drinkes, Though mixt with things most sweete:
(336—9)
Auch Antonius wird also vornehmlich als öffentliche Figur gesehen, die Gefahr läuft, sich vor aller Welt zu kompromittieren D o but behold and view thy seife, [...] W h o publikly hast sould thy seife Vnto eternall shame:
(288, 2 9 0 - 1 )
und die deshalb in aller Offenheit zur Ordnung gerufen werden muß. Octavia besorgt das mit hämmernder Dringlichkeit, ganze Abschnitte ihres Briefes sind mit schimpflichen Attributen wie "shame" und "base" (e.g. 1 7 0 - 9 0 ) vernietet. Hinter diesen Fürstenspiegelelementen tritt das private Leid, aber auch das Mitleid, zurück. Octavia bringt keinerlei Verständnis für die als „schweinisch" bezeichneten Vergnügungen 35 ihres Gatten im Sumpf von Ägypten auf: 34
35
Cf. den Vorwurf ("Thou liuest secure" (v. 40), und beides mit den Lockungen der Briseis, „tutius est iacuisse toro" (Her., III, 117), und der Oenone, „tutus araor meus est" (Her., V, 89). "For why the swine do most delight, / The most defiled pray" (356-7). Octavia denkt wahrscheinlich an Circe; der Gedanke war allerdings sprichwörtlich geworden: Breton verwendet ihn in seinem Reuegedicht The Passion of a Discontented Mind, Str. 28. "pray" entspricht übrigens dem frz., 'pré'; das OED verzeichnet nur die Lautung 'pree'. 45
The heauens forbid my lowest thoughts, Should simpathize with thee.
(376—7)
In ihrer Rigorosität wirkt sie noch strenger als bei Plutarch; von der kopfschüttelnden Duldsamkeit der Octavia Boyds ist nichts zu spüren. Gründe, die man zur Entlastung des Antonius anführen könnte, etwa die Verführungskünste der Cleopatra, reizen Octavia nur zu längeren Lektionen über die Vergänglichkeit alles Schönen (430—53) und den Mißbrauch eines gewinnenden Geistes (398—429). Cleopatra erstarrt zur Unperson. Octavia verteufelt sie, spricht von ihr als Hexe, nimmt aber ihren Namen — einer der wenigen ovidischen Züge — nicht in den Mund. Angesichts solcher Strenge ist es fast verwunderlich, daß neben der hohepriesterlichen Vestalin auch die liebende Frau zu Wort kommt. Zu Anfang und Ende des Briefes, also an den Stellen, die ein Anlehnen an ovidische Formeln nahelegten, lernen wir ein betroffenes, nicht bloß entrüstetes menschliches Wesen kennen: die Geliebte, die von der Untreue wie vom Blitz getroffen wird, und die trotz allem Liebende, die am Ende beteuert, daß Antonius auf Vergebung hoffen darf, wenn er reuig zurückkehrt. Reue und Umkehr legt Octavia ihrem Mann mit den drastischsten Mitteln nahe. Sie führt ihm seine Todesstunde vor Augen, in der sie ihm als gespenstische Anklägerin (neben dem corpus delicti Cleopatra, "that queene", 508) vor einer Art Jüngstem Gericht erscheinen wird — eine passende Variante der Schreckensvisionen ovidischer Frauen, die aber eher an Didos düstere Drohungen in der Aeneis erinnert. Man kann es dem Antonius nachfühlen, wenn er es vorzieht, im amoralischen Ägypten zu bleiben. Brandon läßt seinen Helden jedoch einen so dreisten Antwortbrief schreiben, daß alles Mitgefühl rasch gefriert. Manche der Argumente des Antonius könnten durchaus einnehmend wirken. Er beruft sich mit dem üblichen Katalog von Jupiter-Seitensprüngen auf die Macht des Eros und scheint bereit, seiner Liebe Reich und Zepter zu opfern. Seine Bitte If euer fault may pardon get, O pardon faulty loue.
(759-60)
könnte Shakespeares Antony vorgetragen haben. Brandons Antonius aber versteigt sich bald darauf zu zynischen und beleidigenden Argumenten ad hominem und verdirbt den guten Eindruck: er meint, Octavia müsse doch am besten wissen, wie stark Liebesbindungen seien (853) und unterstellt wenig später, auch sie könnte während seiner Abwesenheit schwach geworden sein (873—96). 46
Es wird bald klar, daß zwischen diesen Eheleuten eine Versöhnung unmöglich ist. Da die Figuren keine Entwicklung durchmachen — dem steht schon die statische Briefform entgegen —, bleibt es bei wechselseitigen Vorwürfen und Unterstellungen. Durch die Anlage als Briefpaar wurde die Neigung zur moralischen Zuspitzung („vertuous Octauia" — „licentious Antony") noch gefördert. Brandon hatte im ersten Brief eine so strenge Octavia gezeichnet, daß er ihr nur einen hemmungslosen Antonius entgegensetzen konnte, wenn er nicht die betrogene Frau ins Unrecht setzen oder einem totalen Wertrelativismus das Wort reden wollte. 36 Die subjektiven Schranken des Einzelbriefes sind gefallen, Brandon geht es um eine Demonstration von Gut und Böse. Damit ist das Fürstenspiegelkonzept ins Extrem getrieben und droht sich selbst seiner Wirkung zu berauben: kein Betroffener schaut gern in einen so harten Spiegel, auch Antonius nicht, und er geht in der dritten Person auf Distanz zu dem Schreckbild, das Octavia ihm vorhält: And since thou knowest (O too too well) Antonius high disgrace: He must prouide of all the world, Not to beholde thy face. Thy face the lecture of his misse, The mirrour of his shame:
(909—14)
Brandon vermeidet eine bloß abstoßende Wirkung seiner Briefe, indem er seine Figuren die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkennen läßt. Es schwingt Bestürzung mit, wenn Antonius sich klar macht, daß die Kluft zwischen Octavia und ihm unüberbrückbar geworden ist. Aus dem Machiavell wird ein Mensch, er fällt unvermittelt aus der dritten in die erste Person zurück: The disproportion of our thoughts, Could neuer well agree: Thou still shouldst hate my faithlesnesse, I blush thy truth to see.
(917-20)
3. Samuel Daniel, 'Letter from Octavia' Es ist nicht allein klassizistische, an altrömischen Tugenden geschulte Gesinnung, die Brandon eine zwar Respekt, nicht aber Mitleid heischen36
Ersteres wäre bei einem sympathischen Sünder, letzteres bei einem überzeugenden Zyniker der Fall gewesen.
47
de, nach politischer Moral richtende Matrone vorstellen läßt. In eine öffentliche Rolle war Octavia wohl oder übel durch ihre Stellung zwischen den in politischer Spannung lebenden Triumvirn Antonius und Octavius gedrängt, und schon Plutarch berichtet, daß Octavius die Schmach seiner Schwester für politische Ziele ausschlachten wollte. Plutarch berichtet auch, daß Octavia sich gegen eine solche Vermarktung ihrer ehelichen Schwierigkeiten wehrte. Es ist Samuel Daniels Verdienst, die private Not der zwischen die Fronten der Politik geratenen Frau entdeckt und gestaltet zu haben. Er rückt seine Figur wesentlich näher an die ovidischen Heroinen heran als Brandon und nutzt auch die Briefform, die Brandons traktathaftem Werk nur übergeworfen scheint, ganz im ovidischen Sinne. Octavia bezieht wie Oenone und Medea die Rivalin in ihr Schreiben ein, indem sie unterstellt, Antonius werde den Brief in Cleopatras Armen liegend entgegennehmen; sie weist mit spontanen Interjektionen auf ihre erbarmungswürdige Lage hin („poore abused I " , v. 3 3 ; „poore heart", 5 3 , etc.), und sie stellt sich wesentlich biegsamer auf die Empfindlichkeiten des säumigen Ehemannes ein. Daniel setzt seine Heldin in eine häusliche Umgebung: Octavia schreibt ihren Brief aus der beinahe klösterlichen, gegen politische Ansprüche ihres Bruders verteidigten Zurückgezogenheit ihres Heimes. Öffentlichkeit, auch in Form von Anteilnahme, lehnt sie ab: Cannot the busie world let me alone, T o beare alone the burthen of my griefe, But they must intermeddle with my mone, And seeke t'offend me with vnsought reliefe?
(345—8)
Der private Ort ist als dramatische Kulisse wesentlich geschickter eingesetzt als bei Brandon. Es wird das verlassene Bett beschworen und das erinnerungsträchtige Zimmer als Tempel der Keuschheit beschrieben: The now sad Chamber of my once delight, Shall be the Temple of my pietie,
(85 — 8 6 )
Der äußeren, isolierten Lage entspricht die innere Verfassung Octavias: erst in der größten Verzweiflung und Verlassenheit greift sie zur Feder, sie hat lange nicht glauben wollen, daß Antonius sich endgültig von ihr abgewandt hat. Selbst als die Wahrheit nicht länger zu leugnen war, trat Octavia nach außen allen Verdächtigungen entgegen. Brandons Heldin wird wie der Blitz von der Unglücksnachricht getroffen, zweifelt 48
aber nicht lange an der Schuld des Verräters und bricht sogleich in Vorwürfe aus: 0 deep dissembling faithlesse man, That dost me thus beguile:
(42-3)
Daniels Octavia gibt ihren Mann nicht auf, noch ganz zum Schluß spricht sie ihm Größe zu (bei Brandon wurde immer wieder seine Erniedrigung hervorgehoben). Sie klagt nicht an, sondern sucht zu verstehen, was einen Mann wie Antonius zu solcher Selbstvergessenheit (ein schon im Vorwort erwähntes, wichtiges Thema) treiben kann. Ihr Bemühen um Verständnis geht so weit, daß sie sich in seine seelische Lage zu versetzen sucht (209—24) und seine aufgewühlten Gefühle nachempfinden will (297—304). Sie bleibt jederzeit bereit, Antonius zu vergeben (225—32, 361—8), sie argumentiert so selbstlos, daß man ihr — im Gegensatz zu manchen ovidischen Heroinen — glaubt, wenn sie beteuert, ihr gehe es in erster Linie um seinen Seelenfrieden: 1 do not onely seeke my good t'increase, But thine owne ease, and liberty:
(333—4)
Wenn sie Antonius bei seiner Ehre faßt, so ist es nicht seine Heldenehre, sondern die eines Mannes von Seelenadel, den es mit sich und der Welt zu versöhnen gilt — ein Ziel, das zu der geduldigen Mittlerin des Plutarch paßt, nicht aber zu der entrüsteten Matrone Brandons, und auch nicht zu den kratzbürstigen Mädchen Ovids. Daniel muß gespürt haben, daß man eine Figur wie Octavia nur ansprechend machen kann, wenn man sie nicht zu streng und nicht zu larmoyant auftreten läßt. Octavia verschmäht die Rolle eines Opfers. Ihre Isolation ist nicht erzwungen, sondern freiwillige Absonderung von einer unverständigen Welt. Sie weigert sich, mit ihrem Schicksal hausieren zu gehen. Ihre Tränen opfert sie auf dem privaten, häuslichen Altar ihrer Treue (81—8). Darin zeigt sich eine aristokratische, allerdings dünkelfreie Grundhaltung, die auch in dem Wunsch zum Ausdruck kommt, Antonius möge doch, wenn schon nicht um ihrer Liebe, so doch um des Ansehens der Familie willen nach Hause zurückkehren. Diese Bescheidenheit, die sich mit der Wahrung des decorum zufriedengibt, ist von der Strenge Brandons, dessen Octavia auf bedingungsloser Umkehr beharrte, ebenso weit entfernt wie von der Erniedrigung ovidischer Herrscherinnen (von den Hetären zu schweigen), die zu einem Sklavenleben bereit wären. Wie Boyd verbindet Daniel achtunggebie49
tende und rührende Züge und wahrt seiner Heldin eine durchaus gewinnende Würde. Neben der pathetischen gibt der Autor seiner Figur auch eine tragische Dimension, indem er zu den unlösbaren Widersprüchen vordringt, die sie zum Scheitern verurteilen. Daniels Octavia ist keine Frau, die sich Illusionen hingibt, in stumme Resignation versinkt oder mit Schelte ihre alte Rolle zurückerobern möchte. Sie scheint zu ahnen, daß ihr Schicksal besiegelt ist (der Traum am Ende des Briefes will nicht mehr aufrütteln, er deutet präzise die Katastrophe von Actium voraus) und daß es keinen Sinn hat, sich dagegen aufzulehnen. Sie versucht dennoch mit allen Kräften, dieses Schicksal zu ergründen, und sie kommt im Laufe ihrer verzweifelten Grübeleien den Ursachen näher als viele Leidensgenossinnen mit ihren Ausbrüchen gegen Fortuna und die Liebesgötter. Octavia sieht, von ihrer konkreten Lage ausgehend, ihr Schicksal als beispielhaft für ihr ganzes Geschlecht: so wie sie im eigenen Hause eingemauert lebt, so sind alle Frauen auf sich selbst verwiesen, ohne Möglichkeit, ihre inneren Schwierigkeiten mit äußeren Erfolgen auszugleichen: We, in this prison of our selues confin'd, Must here shut vp with our o w n e passions liue, Turn'd in vpon vs, and denied to find The vent of outward meanes that might relieue:
(137—40)
Daß diese Überlegungen tiefer dringen als zu der Einsicht in eine Herrenmoral, die dem Mann augenzwinkernd Seitensprünge erlaubt, sie der Frau aber verbietet, zeigt die an Shakespeares Lucretia erinnernde Frage, warum es gerade die Unschuldigen und Tugendhaften treffen muß: Distressed w o m a n kind, that either must For louing loose your loues, or get neglect: Whilst wantons are more car'd for then the iust, And falshood cherisht, Faith without respect: ( 1 7 7 - 8 0 ; cf. Lucrece,
1240-60)37
Octavia bleibt auch bei diesem Befund, der leicht zu trübsinniger Versenkung in das kollektive Leid hätte führen können, nicht stehen. Sie durchleuchtet zusätzlich das Verhalten der Männer (mit Ergebnissen, die an Shakespeares Sonett 129, "The expense of spirit in a waste of shame", denken lassen) und findet nicht nur Erklärungen, sondern auch Ver37
Auf die eigene Person bezogen, führt die Frage zum pathetischen quid feci- Topos ("What fault haue I committed", 209), bei dem sich Octavia nicht lange aufhält.
50
ständnis; dem "Distressed woman kind" wird ein männliches Pendant zur Seite gestellt. Wretched Mankinde, wherfore hath nature made The lawfull vndelightfull, th'vniust shame?
(321-2)
Man mag darin eine allzu rasche Versöhnung mit einem himmelschreienden Unrecht (und den männlichen Autor im Hintergrund) sehen; auf Octavias Zustand bezogen gewinnen diese Erkenntnisse eine tragische Ironie: die abgeklärte, vernunftbestimmte Schreiberin ist durchaus imstande, das Netz der Leidenschaft, in dem Antonius sich verfangen hat, zu entwirren; sie bringt sogar Verständnis auf für den Leichtsinn, mit dem er hineingeriet. Es ist ihr aber verwehrt, sich ganz in seine von irrationalen Bestrebungen gekennzeichnete Lage hineinzufinden. In dem Bemühen, seinen verschlungenen Gedankengängen zu folgen, trifft sie auf lauter Widersprüche, die sie ihm eher fassungslos als vorwurfsvoll entgegenhält: Better she fares in whom is lesse trust, And more is lou'd that is in more suspect. Which (pardon me) shewes no great strength of mind T o be most theirs, that vse you most vnkind
(181—4)
Antonius kann diese Widersprüche nicht durchschauen, weil sein Verhalten von Affekten bestimmt ist; mit ihren vernünftigen Argumenten redet Octavia an ihm vorbei. Wie bei Brandon bleiben sich die Figuren fremd; bei Daniel hat man allerdings weniger den Eindruck, sie seien vom Autor in eine starre Haltung hineingezwängt worden. Der tragisch-ironische Effekt wird durch die einseitige Perspektive des Briefes entscheidend gefördert. Die Schreiberin ist gezwungen, die Gedanken des Adressaten vorwegnehmend oder nachvollziehend in ihre Überlegungen einzuschließen. Daniel gewinnt dieser Notwendigkeit eine innere Dialektik ab, die näher an das Ziel der Läuterung und Erhebung heranführt, als die nach außen gewendete Demonstration unvereinbarer Standpunkte in Brandons Briefpaar.
4. Michael Drayton, 'King John to Matilda, Matilda to King John' Die kontrastive, ausgewogene Anlage drängt auch Draytons English Heroical Epistles weiter von der klassischen Vorlage weg, als es der Eh51
rentitel des englischen Ovid, den es seinem Autor eintrug, nahelegt. 38 Die historischen, der englischen Geschichte entnommenen Stoffe lenken ebenfalls von einer auf innere Vorgänge konzentrierten Darstellung ab. Drayton glaubt, sich nicht auf das Liebesthema beschränken zu dürfen, because the worke might in truth be iudged brainish, if nothing but amorous h u m o r were handled therein, I have inter-wouen matters historicall (Ausg. 1 5 9 8 , A2 V )
und obwohl er einen großen Teil der Fakten auf Randbemerkungen verlagert, wächst das Gewicht des historischen Materials doch zunehmend an und wird in den Briefen, die der eigenen Zeit am nächsten stehen, zum Ballast, der das Einzelschicksal der Korrespondenten zu erdrücken droht. In den Briefen König Johanns und Matildas, die nach Heinrich II. und Rosamond den Reigen eröffnen, beschränkt sich Drayton auf Andeutungen zum historischen Hintergrund, was ihm umso leichter gefallen sein muß, als er seine Leser schon in der 1594 erschienenen Legend of Matilda mit der Geschichte vertraut gemacht hatte. Daß er sich für diese Zurückhaltung dennoch gleich zweimal entschuldigt, spricht für sein überaus quellenbewußtes Vorgehen. "This Epistle of King John to Matilda, is much more Poeticall then Historicall", 39 heißt es in einer Anmerkung zum Brief des Königs, und auf Matildas Schreiben folgt eine ähnliche Erläuterung. Sucht man nach der Quelle für Draytons poetische Behandlung des Stoffes, so wird man zunächst an Ovid denken, auf den sich der Autor im Vorwort ausdrücklich beruft, und auch gleich an mehreren Stellen 38
39
Bekannt sind Ben Jonsons Zeilen, die Draytons Sammelband The Battle of Agincourt (1627) vorangestellt wurden: "But then, thy 'epistolar Heroick Songs, / Their loues, their quarrels, iealousies, and wrongs, / Did all so strike me, as I cry'd, who can / With vs be call'd, the Naso, but this man?" (A5V — das Blatt ist nachträglich eingebunden worden). Zu dieser Zeit war der Titel schon zum Etikett geworden. Als erster benutzte ihn wohl Joshua Sylvester in der Anrufung zu seiner Du Bartas-Übersetzung The Second Week (1598), vv. 3 9 - 4 0 : "And our new NASO, that so passionates / Th'heroik sighes of love sick Potentates." Cf. The Works of Michael Drayton, vol. V, ed. Kathleen Tillotson & B. H. Newdigate (Oxford, 1941), p. 97. Schon Richard F. Hardin hat zur Vorsicht bei der Anwendung des Titels 'English Ovid' geraten, weil in den Heroical Epistles die elisabethanische, vom Tudor Myth geprägte Geschichtsauffasssung das ovidische Sentiment überdecke ("Convention and Design in Drayton's Heroicall Epistles", PMLA, 83, 1968, 3 5 - 4 1 ) . The Works, vol. II, ed. J. William Hebel (Oxford, 1932), p. 152. Quellen und Varianten zu den mehrfach aufgelegten Heroical Epistles behandeln Kathleen Tillotson und B. H. Newdigate im V. Band der Ausgabe (Anmerkungen zu den Briefen Johanns und Matildas pp. 1 0 4 - 6 ) .
52
fündig werden. Besonders der Phaedra-Brief aus den Heroides und der Byblis-Brief aus den Metamorphosen haben in Form und Inhalt für die zynischen Argumente Johanns und die ängstliche Erwiderung Matildas Pate gestanden. Matildas zitternde Hand und ihr zögerndes Schreiben lehnen sich eng an entsprechende Stellen der Byblis-Erzählung an; wenn Ovid neun Verben in zwei Zeilen packt, um die Fahrigkeit seiner Heldin einzufangen, bringt Drayton deren achtzehn in zwei Couplets unter: Incipit et dubitat, scribit damnatque tabellas Et notat et delet, mutat culpatque probatque (Met., IX, 5 2 3 - 4 ) I I I I
write, indite, I point, I raze, I quote, enterline, I blot, correct, I note, hope, despaire, take courage, faint, disdaine, make, alledge, I imitate, I faine: ('Matilda to John', vv. 3 5 - 8 )
Der von Leidenschaft geschüttelten halbwüchsigen Byblis ist solches Verhalten auf den Leib geschnitten; zu der standhaften Nonne Matilda will es nicht recht passen. Gestik und innere Haltung fallen bei Drayton auseinander, er übernimmt Ovids Form, ohne sich seinen Gehalt zu eigen zu machen. Man wird deshalb überprüfen müssen, ob Draytons Anspruch und das Urteil der Nachwelt, seine Dichtung sei von ovidischem Geist durchdrungen, tatsächlich zutrifft. Der Begriff des Heroischen, mit dem beide Briefsammlungen überschrieben sind, liefert hierfür einen Anhaltspunkt. Drayton erläutert sein Verständnis des Begriffs im Vorwort zu den Epistles in umfassender Weise: And though (heroicall) be properly vnderstood of demi-gods, as of Hercules and Aeneas, whose parents were said to be the one celestial, the other mortal, yet is it also transferred to them, who for the greatnes of mind come neere to Gods. For to be borne of a celestial Incubus, is nothing els but to haue a great and mighty Spirit, far above the earthly weakenesse of men, in which sence Ouid (whose imitator I partly professe to be) doth also vse heroicall. (Ausgabe 1598, A2 r )
Die Definition von 'heroisch' ist zutreffend, die euhemeristische Umdeutung eine gelungene Anpassung an aufgeklärte Zeiten, die Berufung auf Ovid dagegen fragwürdig. Es ist zweifelhaft, ob Drayton an eine bestimmte Äußerung Ovids denkt. In den Heroides, seinem unmittelbaren Vorbild, jedenfalls ist von heldischer Gesinnung wenig zu spüren; wie 53
wir gesehen haben, wird dort gerade Hercules und Aeneas die heroische Statur immer wieder abgestritten. Selbst die episch breit angelegten und in heroischem Versmaß vorgetragenen Metamorphosen beziehen einen Großteil ihrer Wirkung aus den Schwächen der Helden und Götter. 40 Ovid selbst nennt seine Frauenbriefe ,epistulae', 41 und auch der erweiterte Titel Epistulae beroidum dürfte sich eher auf den Stoff (die Frauen stammen aus mythischer Zeit und sind Heroen verbunden) als auf den Gehalt beziehen. Das elegische Versmaß galt als ungeeignet für die Darstellung heldischer Affekte, und der Brief als Abbild der Seele war persönlichem Austausch vorbehalten. All dies kann einem so gebildeten Autor wie Drayton nicht verborgen geblieben sein. Das Fehlverständnis kann auch nicht nur auf einem Mangel an Stilempfinden beruhen. Es geht so tief, daß man ein bewußtes, schöpferisches Mißverstehen annehmen muß. Ähnlich wie die christlichen Autoren des ovidischen 12. Jahrhunderts bedient sich Drayton nur mehr der klassischen Hülle, um einen radikal umgewerteten Kern zu präsentieren.42 Das soll an einigen weiteren Punkten des Matilda-Briefes näher erläutert werden. Ovid hat eine Vorliebe für libertinae, Frauen und Mädchen wie Medea, Phaedra oder Helena, die bereit sind, Familie und Ehre ihrem amor zu opfern. Draytons Augenmerk gilt den Jungfrauen und Matronen, denen ihre Ehre über alles geht oder die (wie Rosamond) ihrer verlorenen Ehre nachtrauern. Er läßt Matilda in eine Schelte auf Dichter („Lascivious Poets", v. 135) ausbrechen, die sich gefallener Mädchen annehmen, und zählt neben Myrrha und Scylla, Leucothoe und Callisto auch Byblis auf, nach deren Geschichte in den Metamorphosen doch große Teile ihres Briefes geformt sind. Richtet sich diese Liste gegen Ovid, so ist der Wunsch, die schöne Rosamond hätte besser wie sie selbst den Schleier wählen sollen, auf Daniel gemünzt, den Freund und Rivalen, der wohl eher als Drayton den Titel eines englischen Naso verdiente: H a d R O S A M O N D (a Recluse of our sort) Taken our Cloyster, left the w a n t o n Court, 40
41
42
R. A. Browers Hero and Saint hat ein ausgezeichnetes Kapitel über das Verständnis von Heroik in den Metamorphosen, "Metamorphoses of the Heroic. i. Dark Philosophie of Turned Shapes", pp. 1 2 0 - 4 1 . Die Bezeichnung ,heroides' (für die Briefe) benutzt als erster Priscian, Gram. Lat., II, 544,4 (Beleg aus Walther Kraus, „Ovidius Naso", in Ovid, ed. M. von Albrecht und E. Zinn, Darmstadt, 1968, p. 89). Eine solche Umsetzung, „deren Autor eine von Ovid weit abweichende Tendenz verfolgt", müßte man mit Dörrie Adaption statt Imitation nennen, {Brief, p. 91).
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Shadowing that Beautie with a holy Vale, Which she (alas) too loosely set to sale,
(165—8) 4 3
Man könnte meinen, hier spreche die Nonne Matilda in character, also aus einer übersteigerten sittlichen Empfindlichkeit heraus. In der Tat grenzt Matildas Keuschheitsdenken an Besessenheit. Liebe ist für sie nichts als krankhafte Einbildung, Schönheit ein gefährliches Virus, an dem sich diese Krankheit entzündet. 44 König Johanns Liebeswerbung löst bei ihr nur Ekel aus, das Ziel seiner Anstrengungen umschreibt sie in ängstlichen Wendungen: Like that which thy lascivious Will doth crave, Which if once had, thou never more canst have; Which if thou get, in getting thou do'st waste it, Taken, is lost, and perish'd, if thou hast it:
(83—6) 4 5
Gegen eine dramatische Auffassung solcher Stellen spricht die Tatsache, daß Rosamond und Mrs. Shore, die dem Typus der libertina am nächsten kommen, in ihren Briefen ähnlichen Abscheu zeigen. Von Liebe ist auch in Rosamonds Schreiben weniger die Rede als von Schande, und dies, obwohl die Affäre mit Heinrich gerade erst ihren Scheitelpunkt erreicht hat. Mrs. Shore fragt wenig kokett, was denn an ihr noch anziehend wirke, da sie schon durch die Hände eines Krämers gegangen sei; auch sie beschließt ihre Ablehnung des Liebesspiels mit einem Seitenhieb auf Ovid: Romes wanton OVID did those Rules impart, O, that your Nature should be help'd with Art! ('Mistres Shore to Edward the Fourth', 103—4)
Die im ursprünglichen Wortsinn parodistischen, auf Zurechtweisung bedachten Elemente der Briefe rücken das Werk in die Nähe der puritanischen Ovid-Kritik und lassen das Schicksal der Heroine zu einem ausgeklügelten Exempel verblassen. Die polarisierende Anlage tut ein übriges, aus dem lüsternen John einen fürchterlichen Tyrannen und aus Ma-
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44
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Drayton steht hier auf einer Stufe mit dem Moralisten Richard Brathwait, der beklagt, daß Rosamond überhaupt geboren wurde, und Dichtern, die ihrer teilnahmsvoll gedenken, Liebedienerei vorwirft (The Golden Fleece, 1611, F 8 v - G l r ; Analyse und Exzerpt infra, pp. 3 0 3 - 4 ) . Matilda ist ins Kloster gegangen, um ihre Schönheit zu begraben. In den frühen Fassungen des Briefes führt sie Johann detailliert den Verfall ihrer äußeren Vorzüge vor Augen; v. die Varianten in Works, V, 106. Die Zeilen erinnern wieder stark an Shakespeares Sonett 129.
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tilda eine vielfach bedrohte Unschuld zu machen. 4 6 Angesichts solcher Schwarzweißkunst fällt es schwer, Ben Jonsons Enthusiasmus nachzuempfinden. Auch das preziöse, der petrarkistischen Tradition entnommene Beiwerk — so ein ausgedehnter Schiffs- und Sturmvergleich — möchte man am liebsten mit Matildas Bemerkung zur überspannten Phantasie aller Liebenden übergehen: Th'over-watched weakenesse of the sicke Conceit, Is that which makes small Beautie seeme so great; ('Matilda to King J o h n ' , 4 6 - 7 )
Was Drayton vor seinem Zeitgenossen Brandon auszeichnet, und was manchem seiner Heroischen Briefe einen besonderen Reiz gibt, nämlich das geschickt eingesetzte Lokalkolorit (das Schreiben des Schwarzen Prinzen an die Gräfin von Salisbury, die einer schottischen Belagerung in Warwick standgehalten hatte, strotzt vor Festungsbildern, und Eduards Werbung um Mrs. Shore, die Frau eines Londoner Goldschmieds, glitzert förmlich vor Juwelen), kommt in Matildas Brief nicht recht zur Geltung. Die Klostermauern hätten den Hintergrund für eine pathetische Klage abgeben können; Drayton läßt aber nur Abstrakta in stereotyper Landschaft aufmarschieren: Fled I first hither, hoping to have ayd, Here thus to have mine Innocence betrayd? Is Court and Countrey both her Enemie, And n o place found to shrowd in Chastitie? Each House for Lust a H a r b o u r , and an Inne, And ev'ry Citie a Receit for Sinne?
(125—30)
Der plötzliche Übergang von der persönlichen zur unpersönlichen Redeweise ist ebenso bezeichnend wie das Absehen vom konkreten Ort: die Person Matildas ist auf eine Eigenschaft reduziert, ihr selbstgewähltes Gefängnis zur Allerweltsbühne stilisiert. 47 Das rührende Motiv der ein-
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John wird als Krokodil, Schlange, Basilisk, Hyäne und Sirene bezeichnet, Matilda macht sich als Witwe, Waise und Jungfrau zur Dreigestalt typischer Gewaltopfer. Der Vergleich des Mannes mit einer Sirene ist aufschlußreich: er macht die Umkehrung des üblichen Verhältnisses zwischen Konkubine und König deutlich; John Lydgate stellt Eleanor Cobham, die Geliebte des „guten" Herzogs Humphrey, als Meerjungfrau dar ('Complaint for my Lady of Gloucester', Str. 7), Daniels Rosamond vergleicht ihre verhängnisvolle Schönheit mit der einer Sirene (Complaint of Rosamond, 127); cf. infra, pp. 117, 143.
47
„Citie", „Court and Countrey" sind Versatzstücke der Satire. Drayton hätte sie wirksamer, etwa zum Aufbau einer moralischen Landschaft (verderbte Stadt - geweihtes Kloster), nutzen können.
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gemauerten Schönheit hat Drayton ganz bewußt zugunsten der erhofften moralisch-erbaulichen Wirkung ausgelassen: And all doe pittie Beautie in distresse; If Beautie chaste, then onely pittielesse:
(131—32)
Weil die in ihr Labyrinth gesperrte Rosamond Daniels so viel falsches Mitleid weckte, muß Draytons Matilda darauf verzichten. 5. John Dickenson, 'Epistola ad Matildam' Großmut und Heldensinn beweisen sich für Drayton in einer Standhaftigkeit, die, gemessen an Boyd und Daniel, schon wieder kleinlich und engstirnig erscheinen mag. Dennoch hat sein Briefwechsel zwischen Matilda und König Johann wenige Jahre später in dem neulateinischen Dichter John Dickenson einen Nachahmer gefunden.48 Dickenson hatte großen Erfolg mit seinem in Holland veröffentlichten Speculum tragicwn, einem Fürstenspiegel, dessen lakonische Prosatragödien an die 'Monk's Tale' erinnern. 1605 erschien in Leyden eine erweiterte Fassung dieses Werkes unter dem Plutarch nachgebildeten Titel Parallela tragica, in dem Matilda sich zweimal kurz vorstellen darf, einmal an der Seite Sophonisbas, ein andermal neben dem in der 'Vita Demetrii' erwähnten athenischen Knaben Democles. Ein Jahr darauf publizierte Dickenson am gleichen Ort seine Miscellanea ex historiis anglicanis, in denen er sich ausführlich mit der keuschen Nonne beschäftigt; die Sammlung enthält neben ihrem Briefwechsel mit König Johann noch weitere Heroische Briefe der harten, männlichen Art, die historische Schicksale nicht im sentimentalen Licht einer Liebesbeziehung, sondern in politisch-exemplarischem Rahmen behandeln. 49 Auch ein zweiter Frauenbrief, den die Herzogin von Burgund an ihren unglücklichen Schützling Peter Warbeck schickt, ist ein politisches Mahnschreiben, in dem Margaret ihren falschen Neffen zu entschlosse48
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Es ist nicht geklärt, ob dieser John Dickenson mit dem Verfasser einiger euphuistischer Romanzen (Artsbas, 1594; The Shepherd's Complaint, 1596; Greene in Conceit, 1598) identisch ist, der in den neunziger Jahren in London gelebt haben muß. Die lateinischen Werke John Dickensons erschienen bis auf ein Frühwerk in den Niederlanden. A. B. Grosart, der die englischsprachigen Werke John Dickensons herausgegeben hat, hält die beiden für eine Person und druckt in seiner Einführung Ausschnitte aus dem Brief König Johanns mit eigener Blankversübersetzung ab (Prose and Verse by John Dickenson, Manchester, 1878, pp. X I V - X V I ) . A. H. Bullen bezweifelt im DNB die Identität; der British Library Catalogue führt die beiden getrennt auf. E. g. "Haraldi Angliae tyranni ad Gulielmum Normanniae Ducem epistola'; 'Richardi Nevilij (postea Comitis Varvicensis) ad Richardum Ducem Eboracensum epistola'. Die Sammlung ist Dörries Aufmerksamkeit entgangen; genaue Beschreibung p. 326.
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nem Handeln auffordert. Nur die Schlußwendung ist ovidisch; sie entspricht der Bitte Penelopes an Odysseus, klingt aber in Margarets Mund wie eine Drohung: Nil mihi rescribas iubeo. tua facta loquentur, Responsique loco, quid prosint ista, docebunt. (H3 r ; cf. Her., 1,2)
Die Fakten des erbärmlichen Unternehmens sprechen dann ja so klar, daß diese Zeilen als grimmige Vorausdeutung zu lesen sind. Auch der Johann der 'Epístola ad Matildam' ist wesentlich härter, fordernder gesehen als der Lüstling bei Drayton. Er erinnert eher an den ruchlosen Tarquinius bei Shakespeare als an den raffinierten Verführer der Heroical Epistles. Wie Tarquinius ist dieser Tyrann wild entschlossen, sein Ziel zu erreichen, und sei es auf Kosten seiner Krone. Da er weder mit Geschenken noch mit Drohungen vorankommt und Matilda sich ihm durch den Eintritt in das Kloster entziehen will, schickt er ihr einen Brief mit einem tödlichen Gift und stellt sie vor die Wahl zwischen Schande und Tod. Die Situation ist also zugespitzt; Drayton läßt seinen Herrscher werben, nicht drohen, von Gift war bei ihm keine Rede. Dikkensons Johann ist hinterhältig und brutal, seine Drohungen richten sich auch gegen Matildas Verwandte, und er macht von Anfang an klar, daß man ihn nicht abweisen kann, nicht einmal durch Klostermauern: Falleris, ah! nimium, si te monachalia claustra Servatura putes. offensi regis asylum Agnoscunt irae nulluni: sunt omnia iußis Pervia, cumque libet, colitur pro lege voluntas.
(B4V)
Von der Widerstandsfähigkeit Matildas denkt er entsprechend gering; ihr Freitod kommt für ihn völlig überraschend. Seiner Sache sicher, fragt er am Ende seines Briefes: quis sponte peribit? Quis dulces ultro demens efflaverit auras?
(Cl r )
Dickenson läßt auf den Drohbrief nicht wie Drayton ein Antwortschreiben folgen, sondern gibt Matildas letzte Worte vor dem tödlichen Trunk wieder. In einem Zwischenbericht wird die Szene gesetzt: credamus licet, cyathum labijs admoturam huiusmodi in verba prorupuisse. (Cl r )
Die Zuspitzung auf den äußersten Moment wirkt weniger elegisch als dramatisch; die Rede mit dem Giftbecher in der Hand entspricht eher 58
dem Entscheidungsmonolog des Senecadramas als der Briefsituation der
Heroides. Matilda erkennt sofort, daß es aus ihrem Dilemma nur einen Ausweg gibt: sie wird sterben müssen. Der Entschluß fällt ihr umso leichter, da sie weiß, daß mit ihrem T o d auch der König aus den Fesseln der Leidenschaft befreit wird. Schon will sie in beinahe heiterer Gelöstheit den letzten Schritt tun, da besinnt sie sich, daß man nichts überstürzen soll, schon gar nicht eine so irreversible T a t : 5 0 Si talem vitae statuerunt sydera finem, Saltem lente adeas. renovantur tempora: soles Descendunt, redeuntque: vices mortalibus illas Fata negant: exuta semel, non ante resumes C o r p o r e a m vestem, quam septimus undique clangor Evocet, atque animis e pulvere membra reiungat.
(Clv)
Unüberlegt hatte J o h a n n gehandelt, als er ihr Brief und Gift sandte, und er wird dafür zu büßen haben. Sein Schicksal mit rascher H a n d zu entscheiden, ist ein Privileg des starken Geschlechts; 5 1 Matilda muß sich Zeit zur Besinnung nehmen. Ein Selbstmord hinter Klostermauern ist ja auch nicht unproblematisch: 5 2 einer N o n n e ist es verwehrt, mit stoischem Lächeln in den T o d zu gehen; als Braut Christi hat sie heilige Eide geschworen, die sie unmöglich brechen kann. Gleichsam zum T r o s t legt ihr Dickenson eine sicher nicht ganz orthodoxe Definition des Martyriums in den Mund, die den Gifttrank in seligmachenden N e k t a r verwandelt: Quin bibis ergo alacris, nec tanquam triste uenenum, Plena beatifico sed t o x i c a nectare credens? H a e c te nempe animis sociam foelicibus addent: H i n c tibi martyrij sertum. nam martyris h o c est; Malle Deo praestare fidem, quam cedere mundi Illecebris hominumque minis, mortique paratae. Sic erit. elegi sortem. rex Iane valeto,
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(C2 r )
Der rasche Wechsel affektiver und rationaler Regungen ist typisch für Ovids wie für Senecas Frauenmonologe. Cf. O. Regenbogen, „Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas", Vorträge der Bibliothek Warburg 1927/28 (1930), 1 6 7 - 2 1 8 . 'fortes Fortuna adiuvat', ist das Motto des Tereus bei Ovid, des Tarquinius bei Livius, Gower und Shakespeare, des Troilus bei Chaucer und der Alten in George Ballards History of Susanna (1638). Die Fragen, ob es bedrängten Frauen gestattet sei, sich das Leben zu nehmen, wird von den Kirchenvätern lebhaft diskutiert und für die frühchristlichen Märtyrerinnen meist bejaht; v. das Stellenverzeichnis im Index der Patrologia Latina (Migne, PL, 220,
860-1).
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Damit sind alle Bedenken ausgeräumt; der Gedanke an das Ende Rosamonds und die Sorge um den Ruf der Familie bestärken sie in ihrem Entschluß. Matilda stirbt mit dem Wunsch, Johann möge sich vor Giftmischern hüten. Die Warnung wird nicht beachtet: Dickenson weiß Berichte anzuführen, nach denen der König von einem diabolischen Mönch vergiftet worden sei; es handelt sich um einen Akt poetischer Gerechtigkeit: Sui sceleris prius ultor quam fuit actor; D u m faciendo luit, quod facit ipse malum.
(C2 V ) 5 3
Dickensons Stil, von dem Bullen meint, er sei leicht und elegant, 54 unterscheidet sich von anderen Nachahmungen der Heroides durch eine fast chronikalisch wirkende Nüchternheit. Die historischen Schattenrisse werden nicht durch weiche Linien gemildert, es gibt keine Tränen, keine Koketterie, wohl aber offene Drohung und nacktes Entsetzen. Wo Drayton das ovidische Muster petrarkistisch verbrämt, taucht Dickenson es in die düsteren Farben der Seneca-Tragödie. Dem heroischen Geist, den beide zu vermitteln suchen, wird Dickensons Verfahren eher gerecht. Der Tod als Befreiung ist ein Element des heroischen Dramas der Antike wie des 17. Jahrhunderts; vor die Wahl zwischen Tod und Entehrung oder Abtrünnigkeit gestellt, entscheiden sich heidnische wie christliche Heroinen immer für den Tod. Dickensons Matilda denkt stoisch, wenn sie es unerträglich findet, ihren Ruf zu überleben („Et spirare potes famae Matilda superstes?", Cl v ), sie denkt christlich, wenn sie die Gottesüber die Menschenliebe stellt („taedasque repellent / Divinas turpes terreni regis amores?", C2 r ) und sie wirkt trotz ihres Heldenmutes menschlich, weil der Autor sie weniger unbedacht ihren Weg finden läßt als die von keiner Frage gequälte Heroine Draytons.
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Ein ähnlich unhistorisches, nur von der poetischen Gerechtigkeit diktiertes Ende findet der treulose Aeneas in der Ballade 'The Wandering Prince of Troy'. Der heroische Abgang Matildas läßt sich mit der sprezzatura Sophonisbas in Boccaccios Fiammetta vergleichen. Die Karthagerin nimmt mit „verachtender Seele" und „tief verachtenden Worten" den Giftbecher (Fiammetta, ed. W. Bahner, pp. 2 9 0 - 1 ) . DNB, V, 937. 60
D.
Philomela und Cassandra. Mythische Figuren
Neben den Heroides haben auch die Metamorphosen Ovids anregend auf die Frauenklagen späterer Jahrhunderte gewirkt. Aus der üppigen Fülle bewegter und bewegender Frauenfiguren in diesem Werk kamen allerdings längst nicht alle für eine auf Mitleid und Erschütterung bedachte Behandlung in Frage. Ovid hatte wohl bewußt für seine Briefsammlung Gestalten aus dem Schattenreich zwischen Mythos und Sage gewählt; die weitaus meisten Schreiberinnen sind in ein heldisches oder kriegerisches Geschehen verstrickt, auf das sie nur passiv, leidend und klagend, reagieren, dem sie aber nicht entrinnen können. 1 Der Brief Phaedras fällt wegen seiner Aggressivität ein wenig aus diesem Rahmen; er reizte deshalb auch, wie sich gezeigt hat, am ehesten zu einer palinodischen, zurechtweisenden Nachahmung. 2 Mulieres sceleratae aber wie Phaedra gibt es in den Metamorphosen mehrere (Draytons Matilda hat mit Byblis, Myrrha und Scylla die wichtigsten genannt). Die Hemmungslosigkeit, mit der sie die heiligsten Bindungen des Blutes und der Familie zerreißen, um ihre Leidenschaften zu befriedigen, weckten eine Entrüstung, die nicht selten von einem Augenzwinkern begleitet war; ihre Dreistigkeit ließ sie als Opfer der eigenen, nicht der männlichen Willkür erscheinen, und das machte sie für das wesentlich apologetische Genre der Frauenklage weniger geeignet. Umso mehr empfahl es sie für burleske oder schimpfliche Rollen wie die der alternden Venus in Shakespeares erotischem Epyllion oder als Zielscheibe für den Spott der Weibersatire. Die Empfindung, die in solchen Stücken geweckt wird, ist
' Das gilt insbesondere für die ersten 14 Briefe, die den Grundstock der Sammlung bilden. Das Schreiben Sapphos und die Briefpaare wurden wegen ihrer abweichenden Konzeption erst spät dem Kanon zugerechnet; v. Dörrie, Brief, p. 80. 2 Neben Sheperys lateinischer Erwiderung, Hyppolitus Ovidianae Phaedrae respondens, ist Richard Brathwaits 'Epistle of Hyppolitus unto Phaedra' (in Love's Labyrinth, 1615) zu erwähnen. Auch dieser Brief fehlt in Dörries Übersicht; Beschreibung p. 305.
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Schadenfreude oder eine lüsterne Abart von Mitgefühl; nicht selten wird die Grenze zur Obszönität überschritten.3 Eine andere Gruppe von Figuren aus den Metamorphosen bilden die Opfer göttlicher, insbesondere Zeusscher Liebesabenteuer, die in der Dichtung zur Warnung oder Ermutigung in Scharen heraufbeschworen werden. Sie beleben in Form von Beispielreihen oder descriptiones auch manche Klage, werden aber selten in den Mittelpunkt gestellt; hier mag eine gewisse Ratlosigkeit vor den klassischen Gottheiten entgegengestanden haben, 4 vielleicht auch das tröstliche Ende ihrer Affären: meist werden diese Frauen ja für die schreckliche Begegnung mit der Gottheit reich entschädigt, und es gibt nichts zu beklagen. Daß ein Gott aus sexueller Not oder unter schicksalhaftem Zwang handelt, ein unerbittliches Gesetz also die harmonische Angleichung in der Metamorphose verhindern könnte, kam erst Rilke oder Yeats in den Sinn. Das glückliche Ende vollzieht sich bei Ovid in der Verwandlung, und in diesem segensreichen Eingehen in das Werden und Vergehen der Natur, oft als Erhörung eines Stoßgebetes dargestellt, liegt das größte Hemmnis für eine Gestaltung als Brief oder Klage, die ja an die verzweifelte Situation gebunden sind. Vielleicht hat schon Ovid wegen der engen Verbindung mit aitiologischen Mythen darauf verzichtet, so rührende Figuren wie Alcyone und Philomela in den Kreis briefschreibender Heroinen aufzunehmen; Ariadnes Rettung und Apotheose werden in den Heroides verschwiegen, in den Metamorphosen dagegen berichtet. Spätere Verfasser von Klagegedichten verspürten jedenfalls Hemmungen vor den Verwandlungen, auch wenn sie sich nicht durch die Form des
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Zwischen Erotik und Pornographie bewegen sich die Myrrha-Epyllien von William Barksted, Mirrha, the Mother of Adonis ( 1 6 0 7 ) , und H . A., The Scourge of Venus ( 1 6 1 3 ) . Die erotische Literatur in der Ovidnachfolge behandelt William Keach, Elizabethan Erotic Narratives (Hassocks, 1 9 7 7 ) ; eine Fülle unveröffentlichten Materials erschließt D. O. Frantz, " C o n c e p t s of Concupiscence in English Renaissance Literature", Diss. Pennsylvania, 1 9 6 8 . In diesem Genre wurde das Verkehren von Normen zur Regel eines unverbindlichen Spiels. Barksteds Mirrha etwa wird von einem Bewunderer so empfohlen: " F o r thou doost chaunt incestuous Myrrha forth with such delight, / And with such goulden phrase gild'st ore her crime / T h a t what's most diabolicall, seemes deuine." (A4 V ).
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Sheperys Erklärung, die Seitensprünge des Zeus seien kretische Lügengeschichten, wurde oben schon zitiert. William Hubbard streicht in seiner Ceyx &c Alcyone-Ballade den Götterapparat und macht das Schicksal des Königs zum Exempel für den Frevel, den das Befragen eines heidnischen Orakels darstellt: " K i n g Ceyx disposed thus to goe to this fonde God, / Dame Fortune hath provided, loe, this scourging r o d . " The Tragical and Lamentable History of Two Faithful Mates, Ceyx ... and Alcyone ( 1 5 6 9 ) , ed. J. P. Collier, Old English Lit., Ill, N o . 3.
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Briefes oder des Monologs an eine eng begrenzte Situation banden; die Autoren erotischer Epyllien dagegen dichteten ihren Heldinnen mit viel Phantasie immer neue aitiologische Motive an. Barksted, zum Beispiel, erklärt, die Sonne erröte jeden Morgen, seit sie Myrrha aus dem Zimmer ihres Vaters habe schleichen sehen; die Wohlgerüche Arabiens führt er auf ein Mißgeschick Hebes zurück: sie habe bei einem Göttermahl Nektar über Panchaea verschüttet.5
I. Philomela Ablehnung und Zurückhaltung, auf die Verwandlungen bei den Verfassern tragischer Verserzählungen stießen, lassen sich am Beispiel der Philomela belegen. Chaucer verstärkt in seiner 'Legend of Philomela' die rührenden Elemente, verweilt lange beim tränenreichen Abschied seiner "sely Philomene" von ihrem Vater Pandion (LGW, 2 2 7 9 - 2 3 0 7 ) und schließt mit dem ergreifenden Wiedersehen der beiden Schwestern in einem Kerker: And thus I la te hem in here sorwe dwelle.
(2382)
Rache und Verwandlung behandelt er nicht, auch Progne bleibt, ganz im Sinne des Legendenrahmens, gute Frau, "With al humblesse of wifhod, word and chere" (2269). 6 Gower übernimmt zwar die grausige Rache, bei der Progne den aktiven Part spielt, hüllt sie jedoch in ein Netz von Rechtfertigungen, die das Gräßliche der Handlung mildern sollen. Tereus verliert wie Pandion ein geliebtes Kind, Progne ist bei ihrer Tat von Sinnen wie Tereus bei der seinen, sie vergißt Mutterliebe, Mitleid und Gottesfurcht wie ihr Gemahl Vernunft, Gattenpflicht und Erbarmen vergessen hatte. So bekommen auch die Metamorphosen moralische, nicht aitiologische Bedeutung, das Wunderbare wird zum rationalen Beleg für das Walten einer ausgleichenden Gerechtigkeit. Auch Caxton, der sich auf den Ovide moralisé stützt, rationalisiert
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Mirrha, ed. Miller, pp. 143, 147. Die Beliebigkeit solcher Erfindungen läßt sie in ernsthafter Umgebung fragwürdig erscheinen. Darin mag auch ein Grund liegen für das Unbehagen, das Shakespeares Blutgerinnungs-Aition in der Lucretia-Erzählung auslöst (Lucrece, 1 7 3 7 - 5 0 ) . Cf. die ausführliche Interpretation von R. W. Frank, Chaucer and "The Legend of Good Women", pp. 1 3 4 - 4 5 .
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den Mythos und erklärt in einem Anhang über den „sens hystorial" das Eingreifen der Götter als fabelhafte Zutat. Rache und Verwandlung werden nicht unterschlagen; Caxton sucht wie sein französischer Gewährsmann nach natürlichen Erklärungen und glaubt, aus dem Gesang der Nachtigall ein „Occi" herauszuhören, das er als Aufforderung deutet, alle untreuen Liebhaber zu töten. 7 Die Nähe zum Gesang gibt den eigentlichen Philomela-Klagen oft eine liedartige, manchmal auch arienhafte Qualität — eine Verwandtschaft, die sich in der Klageliteratur überhaupt bemerkbar macht. Noch in jüngerer Zeit meldeten sich Stimmen, die vermuteten (vielleicht angeregt durch das Motiv des Schwanengesangs zu Beginn des Didobriefes), Ovids Heroides seien für den Gesang bestimmt gewesen,8 und es ließen sich sangliche Parallelen zu den Frauenklagen von der klassischen Mo-
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Die Philomela-Erzählung ist abgedruckt in Selections from William Caxton, ed. N. F. Blake (Oxford, 1973), pp. 6 1 - 7 2 . Die Deutung einzelner Strophen des Nachtigallenschlages hat ihre eigene lange Tradition, die von Aischylos, in dessen Agamemnon der Chor „Ityn! Ityn!"-Rufe aus dem Gesang des Vogels heraushört, bis zu T.S. Eliots Waste Land reicht, in dem der Vogellaut '"Jug Jug' to dirty ears" (v. 103) obszönen Nebensinn erhält. (Man könnte in der ganzen 'Game of Chess'-Szene im Waste Land mit ihren Anspielungen auf Dido und Cleopatra ein spätes Bruchstück der Tradition des ovidischen Kleinepos sehen; die Wandbemalung mit dem Raub der Philomela entspricht genau der in diesem Genre üblichen descriptio). Eliot enttäuscht die Erwartung, daß dem Lied der Nachtigall (und dem Gesang allgemein) eine tröstliche Kraft innewohne; auf diese Diskrepanz von Mythos und Wirklichkeit hatte schon Aischylos' Cassandra, mit deren düsteren Prophezeiungen der Chor die Nachtigallenklage verglichen hatte, hingewiesen: O schönes Los der süßtönenden Nachtigall! Es hüllten deinen Leib in zartes Gefieder ein Die Götter, und dein Leben ist den Tränen fern. Doch mich wird man zerhauen mit der Doppelaxt. (zitiert nach: Aischylos, Tragödien und Fragmente, tri. Ludwig Wolde, Leipzig, 1938, vv. 1145—8). Auf diese Stelle bezieht sich bekanntlich Eliots andere, ebenfalls schmutzige Nachtigallenanspielung in 'Sweeney Among the Nightingales', "And let their liquid siftings fall / To stain the stiff dishonoured shroud" (vv. 39—40). Eliots desillusionierende Wendungen des Motivs sind Ausnahmen von der Tradition; meist gilt der Gesang der Nachtigall als Beweis für den Trost, den die Klage bringen kann. Philomela wird häufig von trostsuchenden Klagefrauen angerufen, die ihr Leid im Lied vergessen möchten, so zum Beispiel von den leidenden Frauen in Shakespeares Werken: Lucretia denkt an sie nach ihrer Vergewaltigung (Lucrece, 1 1 2 8 - 4 8 ) , und Imogen liest ihre Geschichte am Abend, bevor Iachimo in ihr Zimmer schleicht (Cymbeline, II, ii). Zu dem Eindruck, den Ovids Philomela auf Shakespeare machte, cf. R. A. Brower, Hero and Saint (Oxford, 1971), pp. 1 3 1 - 6 . V. M. P. Cunningham, "The Novelty of Ovid's Heroides", Classical Philology, 44 (1949), 1 0 0 - 6 . Schon Erwin Rohde wies auf die Nähe der elegischen Dichtung zum balladenhaften Gesang hin (Der griechische Roman, 1914, rpt. Darmstadt, 1974, pp. 1 4 9 - 5 1 ) .
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nodie über die italienische Oper des 17., das französische Monodrama des 18. bis zum englischen Melodram des 19. Jahrhunderts aufweisen.9 Die Verfasser von selbständigen Bearbeitungen des Philomela-Stoffes nehmen häufig die Gelegenheit wahr, versöhnlichen Naturmythos und tröstlichen Gesang zu vereinen, indem sie ihre Gedichte in einen natürlichen Rahmen einbetten und vorgeben, im Frühling eine Nachtigall belauscht und ihren Klagegesang niedergeschrieben zu haben. So gehen — ohne daß der eine vom anderen sichtbar beeinflußt wäre — sowohl Gascoigne als auch Patrick Hannay, deren Philomela-Gedichte etwas näher betrachtet werden sollen, an ihren Gegenstand heran. 10 Der altertümlich anmutende Natureingang ist bei beiden Autoren dem Zeitgeschmack angepaßt; wer also eine zarte Frühlingsszene nach Art des Prologs der Legend ofGood Wotnen erwartet, wird enttäuscht. Gascoigne trägt seine Geschichte in bänkelsängerischer Aufmachung vor, und Hannay präsentiert sie in der Art eines üppig ausgestatteten Singspiels. Gerechtigkeit und Rache spielen im Unterschied zu Chaucer eine große Rolle, das Tudor-Publikum war an Moral, das jakobäische an Vergeltung interessiert. 1. George Gascoigne, Complaint
of
Phylomene
Gascoigne begegnet seiner Nachtigall an einem Abend im April und hört sie zunächst über ihre leichtfertigen gefiederten Nachbarn schimpfen. Fortan will sie sich noch weiter absondern und nur noch für gleichgestimmte Liebesopfer singen. 11 Von der folgenden Liebesklage versteht der Lauscher nur Bruchstücke: „Tereu, Tereu", „fy, fy, fy, fy, fy", „Jug, 9
So manches künstliche oder manierierte Detail besonders der barocken Klagen (angefangen bei Shakespeares Lucrece) ließe sich in diesem Zusammenhang, der eine eigene Untersuchung wert wäre, besser verstehen. Ein Beispiel für die Verbindung von Klagegedicht und Musik in barocker Zeit ist William Cartwrights 'Ariadne Deserted by Theseus in the Island Naxos', mit dem der Komponist Henry Lawes seinen ersten Band Airs and Dialogues (1653) eröffnete. Hier ist die Klage in unregelmäßige Rhythmen aufgelöst, die zwischen wehmütiger Erinnerung, spontanen Haßausbrüchen und ekstatischer Erwartung angesichts des nahenden Gottes hin- und herschwingen. Neben Ovids Brief (Her., X) ist Catulls Kleinepos (Carm., 64) Cartwrights Vorbild gewesen. Die Nähe des Ariadne-Stoffs zur Oper ist mit zahlreichen Vertonungen von Monteverdi bis Richard Strauß belegt.
George Gascoigne, The Complaint of Phylomene (1576); Patrick Hannay, Philomela: The Nightingale (1622). Eine weitere balladeske Bearbeitung (allerdings in würdevollen Rime R o;y