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German Pages 375 [376] Year 1984
Ulf Eisele · Die Struktur des modernen deutschen Romans
Ulf Eisele
Die Struktur des modernen deutschen Romans
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1984
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Eisele, Ulf: Die Struktur des modernen deutschen Romans / Ulf Eisele. Tübingen : Niemeyer, 1984. ISBN 3-484-10470-8 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1984 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz und Druck: Maisch + Queck, Gerlingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhalt
VORWORT
VII
1 D E R M O D E R N E DEUTSCHE R O M A N ALS NACHREALISTISCHER DISKURS
1.1 D e r Roman des Diskurses
1
1.2 Literarische Epistemologie
16
1.3 Wahrer und poetischer Diskurs - konstituierende Elemente des modernen deutschen Romans 44
2 D E R GESPALTENE DISKURS - M O D E L L A N A L Y S E N
2.1 Hermann Broch. »Die Schlafwandler« 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5
Erzählen-Sehen 60 Sezierte Totalität 68 Bertrand, die »passive Hauptperson« Die Idee als >Erzähler< 95 Literarische Ideologie? 101
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2.2 Robert Musil. »Der Mann ohne Eigenschaften« 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6
2.3 Thomas Mann. »Der Zauberberg« 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
114
Ein Literaturroman 114 Ulrich oder Die Problematik eines Protagonisten 117 Diskurserotik 122 Dissoziierung des Wahren und des Poetischen 127 Suspendierte Identität 134 Aporetischer Idealismus 141 151
6/7: Hans Castorps poetische Sendung 151 Roman-Abenteuer 159 Die Metamorphosen des Bleistifts 172 Literarisches Über-Leben 189
2.4 Bertolt Brecht. »Dreigroschenroman«
210
2.4.1 Literarische Ideologiekritik: Kritik der Literatur 2.4.2 Kein Detektivroman 219 2.4.3 Bruch mit der idealistischen Literaturkonzeption
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3 D E R M O D E R N E DEUTSCHE R O M A N ALS G E G E N - D I S K U R S
3.1 Tatort Sprache
257
3.2 Negative Erkenntnistheorie
278
3.3 Kritik der poetischen Identität: »Das Schloß«
LITERATURVERZEICHNIS
PERSONENREGISTER
VI
361
341
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Vorwort
Nach wie vor »mangelt es sowohl an den ästhetischen als auch an den literaturwissenschaftlichen Grundbegriffen zur Erforschung der neueren Romanliteratur«, 1 zumindest was den deutschen Sprachraum anlangt. Zwar gibt es eine Unzahl von Einzeluntersuchungen, die sich mit bestimmten begrenzten Aspekten beschäftigen, eine konsistente, an den Werken selbst entwickelte und sie in genügendem Maß berücksichtigende Theorie jedoch existiert, soweit ich sehe, nicht. Die vorliegenden größeren Darstellungen konzentrieren sich entweder in erster Linie auf die Roman theorie oder bieten eher notdürftig verknüpfte Interpretationen eines Kanons von Texten, die nicht von einem ausreichenden theoretischen Fundament getragen werden. Sicherlich ist der skizzierte Tatbestand nicht zufällig, präsentiert sich das zu bearbeitende Gebiet doch als schier endloses Gelände, zumal es sich bei Romanen in aller Regel nun einmal um ausgesprochen lange Texte handelt. Der Versuch, eine fundierte Geschichte des modernen deutschen Romans zu schreiben, wäre wohl zum Scheitern verurteilt. Anders verhält es sich bei einer Strukturanalyse, ohne die im übrigen der literarhistorische Zugriff, soll er mehr erreichen als einen abrißhaften Überblick, gar nicht auskäme. Eine Untersuchung, die über gängige Formeln wie zum Beispiel »Bewußtseinsroman« oder »Simultaneität«, die im Zusammenhang mit der Prosa der Moderne im Schwange sind, hinausführt beziehungsweise ihnen einen anderen - relativierten - Stellenwert zuweist, muß, will sie die Art der Veränderung präzise benennen, Schwerpunkte setzen, qualitative Akzente. Die Theorie, in ihren zentralen Zügen neu, soll >bei der Arbeit< gezeigt werden, nur durch die praktische Anwendung kann sie sich legitimieren. Das Kernstück des Buches bilden daher detaillierte Analysen von fünf Texten, die in struktureller Hinsicht repräsentativ sind für die literarische Moderne, für ihre Spannungen wie ihre Spannweite. Die Schlafwandler, Der Mann ohne Eigenschaften, Der Zauberberg, der Dreigroschenroman und Das Schloß figurieren als >Spitzen< in der Topographie des modernen Romans, als Fixpunkte, an denen sich mit besonderer Deutlichkeit die für den deutschen Sprachraum spezifische Problematik und die Versuche zu deren Lösung ablesen lassen. Jeder dieser Texte besetzt und markiert eine wesentliche Position im Spektrum des modernen deutschen Romans, alle zusammen sind zu verste1
Werner Welzig, Der deutsche Stuttgart 1970, S. 5.
Roman
im 20. Jahrhundert,
2., erweiterte Auflage,
VII
hen als Stationen der Entwicklungsmöglichkeiten seiner Struktur. Ihrer Bedeutung entsprechend - nicht zuletzt auch im Vergleich zur Situation in England oder Frankreich - , habe ich mich bei diesen Werken um Gesamtanalysen bemüht, keinesfalls sollten sie als bloßes Belegmaterial dienen. Zwar macht - Hugo Friedrich zufolge - »der Begriff der Struktur [...] Vollständigkeit des geschichtlichen Materials überflüssig«,2 die (übliche) Beschränkung auf Interpretationskapitel brächte indessen eine Verengung der Perspektive mit sich, würde den herrschenden »Strukturzwang«3 nicht - zumindest nicht deutlich genug - hervortreten lassen. Überdies können im Rahmen der Modellanalysen nicht alle strukturell wichtigen (Zwischen-)Stufen erfaßt werden. Deshalb sind die Interpretationsteile verbunden mit allgemeinen Abschnitten (1 sowie 3.1 und 3.2), die sich auf eine breite, bis zur Gegenwart reichende Textbasis stützen. Bewußt verzichtet habe ich auf eine abgehobene Diskussion des Begriffs »modern«. Dessen Bedeutung hinsichtlich des behandelten Themas sollte aus der Sache selbst hervorgehen. Wo historische Wegmarken keine ausschlaggebende Rolle spielen, hätte es wenig Sinn, starre Grenzlinien zu ziehen. Zwar bietet die Jahrhundertwende eine gewisse Orientierung, doch fügt sich die literarische >Zeit< nicht der allgemeinen Chronologie; sie ist weit eher mit dem Terminus Nachrealismus zu umreißen. Der so hergestellte Zusammenhang, die Verbindungslinien, Übergänge, Verwerfungen und Bruchstellen sind Gegenstand dieses Buches. Einen Teil der notwendigen finanziellen Mittel stellte die Deutsche Forschungsgemeinschaft zur Verfügung. Zu danken habe ich meiner Frau: Sie hat meinen Monologen über den Roman des Diskurses (meist) geduldig zugehört.
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Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, erweiterte Neuausgabe, Hamburg 1967, S. 10. A . a . O . , S. 141. VIII
1
Der moderne deutsche Roman als nachrealistischer Diskurs
1.1 D e r R o m a n des Diskurses Der Mahnung Erich v. Kahlers, Literatur sei »weniger denn je bloß Literatur«, 1 bedarf es längst nicht mehr, ist sie doch mittlerweile zum exekutierten Urteil geworden. Der Kontext jeglicher Art und Couleur geht um in den Texten der Schriftgelehrten und füllt sie aus schier bis zum Rande. Im Zeichen von Sozialgeschichte, Rezeptionsästhetik, Sprechakt- und Handlungstheorie(n) scheint es eher an der Zeit, daran zu erinnern, daß Literatur wie deren Geschichte nicht zuletzt mit sich selbst zu tun haben. Angesichts der weitausholenden Gebärde einer auf Kultur generell zusteuernden Literaturwissenschaft ist - wenigstens vorderhand - mit Nachdruck auf der »Regionalität« 2 ihres Objekts zu beharren, soll diese Disziplin nicht endgültig in der Produktion (selbst-)legitimierender Ideologeme verkommen. Der insbesondere in Deutschland verbreitete »geile Drang aufs große Ganze« 3 läßt in der neueren Germanistik keineswegs mehr, wie von Benjamin 1931 diagnostiziert, einen »Exorzismus von Geschichte«4 befürchten, vielmehr blieb auf den Trampelpfaden der historizistischen Gegenreformation weitgehend die Literatur auf der Strecke. Mehr denn je gilt es, »Kunstwerke von innen, in der Logik ihres Produziertseins zu sehen«. 5 Nicht von einer »modernen Welterfahrung«6 schlechthin wäre auszugehen, sondern von spezifisch literarischem Bewußtsein sowie seiner Problematik 7 - und das nicht nur in der Moderne. Solch allgemeine Maximen erweisen ihre strikte Notwendigkeit bei der Beschäftigung mit dem Gegenstand dieses Buches, tritt hier doch an die Stelle des Schreibens von Abenteuern das »Abenteuer der Schreibweise«.8 Zu Trug1
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Erich von Kahler, »Untergang und Übergang der epischen Kunstform« (in: Ε. v. K., Untergang und Übergang. Essays, München 1970, S. 7-51), S. 7. Gerhard Plumpe, »Ästhetik oder Theorie literarischer Praxis?« (in: alternative 106, Februar 1976, S. 2-9), S. 7. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankf. a. M. 1972, S. 286. A . a . O . , S. 289. Theodor W. Adorno, »Valerys Abweichungen« (in: Th. W. Α . , Noten zur Literaturl, Frankf. a. M. 1961, S. 42-94), S. 43. Vgl. Erwin Theodor Rosenthal, Das fragmentarische Universum. Wege und Umwege des modernen Romans, München 1970, S. 11 ff. Dagegen erklärt v. Kahler, »Die Verinnerung des Erzählens« (in: Untergang und Übergang, S. 52-197), S. 52: »Literaturgeschichte wird hier betrachtet als eine Form von Geschichte des Bewußtseins« - schlechthin. Jean Ricardou, Problimes du nouveau roman, Paris 1967, S. 111, konstatiert: »Ainsi un roman est-il pour nous moins l'ecriture d'une aventure que l'aventure d'une ecrilure.«
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Schlüssen muß es führen, »die moderne Dichtung mit Maßstäben zu beurteilen, die noch weitgehend aus der klassischen Ästhetik stammen«, 9 und, was schwerer wiegt, offen oder verdeckt Kategorien des Realismus auf sie anzuwenden, 10 sich so einen sachgerechten Zugang versperrend. Es scheint, als stünden selbst die professionellen Leser dieser Texte, von Ausnahmen abgesehen, ganz im Banne des »Realismuseffekts«. 11 Dies mag insofern verständlich sein, als, wie Adorno schreibt, der Realismus dem Roman von seinem Beginn an »immanent« war, 12 doch ist es beinahe schon eine Binsenweisheit, daß eine beträchtliche Anzahl von Texten des 20. Jahrhunderts eben diese traditionelle Befindlichkeit der Gattung in Frage stellen, indem sie deren Basis, das Erzählen im herkömmlichen Sinn, problematisieren. Ihnen gegenüber bedeutet eine >realistische< Lektüre mehr noch als in anderen Fällen intellektuelles Fehlverhalten. Zwar hat man konstatiert, daß die »moderne dichterische Welt [...] keinen festen Punkt mehr kennt, keine Einheit der Persönlichkeit, des Raums, der Zeit«, 13 die notwendigen Konsequenzen aus solchen Einsichten jedoch wurden kaum, zumindest nicht im notwendigen Umfang gezogen.14 Bezeichnenderweise sind denn auch die zur allgemeinen Erzähltheorie ausgearbeiteten Konzeptionen fast ausschließlich oder doch größtenteils orientiert an klassischen, romantischen und realistischen Werken, während sie den Bereich der Moderne weitgehend ausblenden. 15 »Figur«, »Geschehen«, »Zeit« und »Raum« gelten weiterhin als die grundlegenden »Konstitutionsmerkmale des Erzähltextes«. 16 Auch den im Zeichen von Semiotik, Kommunikations9
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Wilhelm Emrich, »Die Struktur der modernen Dichtung« (in: W. E., Protest und Verheißung. Studien zur klassischen und modernen Dichtung, Frankf. a. M./Bonn 2 1963, S. 111-122), S. 111. Freilich ist die realistische Konzeption nicht ohne die klassische denkbar. Vgl. Etienne Balibar/Pierre Macherey, »Thesen zum materialistischen Verfahren« (in: alternative 98, Oktober 1974, S. 193-219), S. 216. Theodor W. Adorno, »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman« (in: Th. W. Α . , Noten zur Literatur 1, Frankf. a. M. 1958, S. 61-72), S. 61. Emrich, a . a . O . , S. 120. Es genügt nicht, wie Giwi Margwelaschwili (in: Erzählte Welt. Studien zur Epik des 20. Jahrhunderts, hg. v. Helmut Brandt u. Nodar Kakabadse, Berlin und Weimar 1978, S. 290-319) dies tut, lediglich die »Inkohärenz« der »Hauptkategorien der Sujetwelt« in »modernen Romanstrukturen« nachzuweisen. Ausnahmen, die die Regel bestätigen, stützen sich noch nicht einmal vorwiegend auf Texte des 20. Jahrhunderts. So legt Käte Hamburger bei der Entwicklung ihrer Logik der Dichtung (Stuttgart 21968) den Anfang von C. F. Meyers Jürg Jenatsch zugrunde; Gerhart von Graevenitz, Die Setzung des Subjekts. Untersuchungen zur Romantheorie, Tübingen 1973, betreibt »Erzählertheorie anhand eines möglichst unmittelbar betrachteten Sprachverlaufs« (S. 34) ausgehend von Goethe, und Helga Gallas, Das Textbegehren des >Michael KohlhaasMichael Kohlhaaslebendig< zu machen versteht. 64 Und nicht von ungefähr kommt die Bedeutung der Mundart für Realismus- und Naturalismuskonzeptionen älterer wie neuerer Provenienz. Als dezidiertes Sprechen - freilich nur als solches - erhält der Diskurs Heimatrecht. Zu konstatieren bleibt letztlich doch die Abnahme und Zurückdrängung der autochthon poetischen Bildlichkeit zugunsten des Akustischen. Die Statuen fangen an zu sprechen. Waren es im 19. Jahrhundert (und auch zuvor schon) in erster Linie Maler, die den Romanciers als Paradigma des Künstlers 57
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Preisendanz, S. 230f. stellt mit Blick auf Fontane fest: »Der Dialog gewinnt hier eine Ausdehnung und Bedeutung wie bei keinem andern deutschen Erzähler vorher, und zumal in den spätesten Romanen dominieren die Gesprächssituationen vollkommen.« Mary-Enole Gilbert, Das Gespräch in Fontanes Gesellschaftsromanen, Leipzig 1930, S.4. Eberhard Lämmert, Nachwort zu Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 564. Tzvetan Todorov, »Poetik« (in: Einführung in den Strukturalismus, hg v. Frangois Wahl, Frankf. a.M. 1973, S. 105-179), S. 129. Alfred Döblin, »Bemerkungen zum Roman« (in: A . D . , Aufsätze zur Literatur, Ölten und Freib. i.Br. 1963, S. 19-23), S. 22. Oswald Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman, Reinbek bei Hamburg 1969, S. XXXIV. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankf. a.M. 1974, S. 38. Das dokumentieren auch Verfilmungen realistischer Romane oder Erzählungen, in denen eine den Text vorlesende Stimme bruchlos in die anschaubare Handlung übergeht.
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dienten - man denke nur an Heinses Ardinghello, Tiecks Sternbald, Mörikes Maler Νölten, an Stifter, Kellers Grünen Heinrich, Balzacs Le Chef-d'oeuvre inconnu oder Zolas Cezanne-Roman Das Werk so tritt an deren Stelle im 20. Jahrhundert mehr und mehr der Musiker. Romain Rollands Johann Christof, Hans Henny Jahnns Gustav Anias Horn aus der Trilogie Fluß ohne Ufer und Thomas Manns Doktor Faustus wären zu nennen, auch Heinrich Manns Kleine Stadt. In Wassermanns Gänsemännchen zieht der Komponist Daniel Nothafft bei den Schwestern Rüdiger als Nachfolger des Malers Anselm Feuerbach ein... Dessen Berufskollege in Carl Einsteins Bebuquin hört auf den Namen Heinrich Lippenknabe. Auch wenn diese Umorientierung nicht schematisch und keineswegs als gänzliche Ablösung des einen durch das andere (miß-)verstanden werden darf, 65 deutet doch vieles darauf hin, daß das, was man den »Maltraum der Schriftsteller« genannt hat, 66 erkennbar im Schwinden begriffen ist. Muß die schon im (Spät-)Realismus und Naturalismus zunehmende >Dramatisierung< des Epischen zunächst, sozusagen in der ersten Phase, noch auf das Konto der konsequenten Einlösung und Vollendung der Tendenz zur literarischen Anschaulichkeit gebucht werden, so erweist sich das Vordringen der Stimme im weiteren Verlauf als wesentlicher Faktor, um das traditionelle Literatursystem zu unterminieren. Als Fazit kann gezogen werden, »daß eine gewisse Tendenz des modernen Schreibens nicht die Absicht hat, uns irgend etwas sehen zu lassen: sie ist nur Rede, und man kann sie nur hören.«61 Elias Canettis »Ohrenzeuge« 68 wäre hierfür ebenso geltend zu machen wie die »Tropismen« der Nathalie Sarraute. 69 Letztere freilich deuten auch an, zu welch merkwürdigen und zugleich aufschlußreichen terminologischen Kompromißbildungen es kommen kann, da das Dogma der Visualität noch keineswegs vollständig außer Kraft gesetzt ist. So gibt es bei Arno Holz eine »Mimik der Rede«, 70 und Canetti entwickelt die Konzeption der »akustischen Maske«. 71 Die paradoxe Wendung des »Ohrbildes« (Arno Holz)72 formuliert wohl am besten den hier und anderwärts sich vollziehenden Übergang. Dessen erzähltechnischer Zeuge ist der innere Monolog. In Schnitzlers Leutnant Gustl etwa hat das Sprechen von der gesehenen Realität das evozierte Bild der Wirklichkeit tendenziell abgelöst. Zunehmend gerät der Diskurs selbst ins Visier. Auf besonders markante und instruktive Weise geschieht dies in Brochs Tod des Vergil, wo der Titelfigur eine >Vision< zuteil wird, in der »das 65
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Gegenbeispiele sind Ε. T. A. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler auf der einen und Robert Walsers Geschwister Tanner auf der anderen Seite. Roland Barthes, S/Z, Frankf. a.M., 1976, S. 60. Todorov, »Poetik«, S. 130. Vgl. Elias Canetti, Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere, München 1974. Vgl. Nathalie Sarraute, Tropismen, deutsch von Max Hölzer, Frankf. a.M. 1972. Arno Holz, Das Werk, Bd. 10, Berlin 1925, S. 254. Vgl. hierzu Manfred Durzak, Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen, Frankf. a.M. 1976, S. 95ff. Holz, S. 659.
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Sichtbare« »verschwunden« ist und an seine Stelle akustische Phänomene treten. 73 Die »Prävalenz des rein Klanglichen«, die Broch an Ulysses konstatiert und ausdrücklich als »die Domination des Sprachlichen« versteht, 74 widerfährt seinem Protagonisten in einer Art Epiphanie. Er »hörte nicht, er sah die Stimme«. 75 Der monologisierende Vergil repräsentiert eine Erscheinung und einen Vorgang von größter literarhistorischer Bedeutung. An einem >normalen< Leben gehindert, in reduzierter Körperlichkeit - er muß, in einer Sänfte, getragen werden - ist er schon von den äußeren Voraussetzungen her wie geschaffen, einen für das Gebiet des modernen deutschen Romans fundamentalen Umsturz wenn nicht zu initiieren, so doch zu indizieren, nämlich die Umkehrung des traditionellen Verhältnisses von Romanperson und (zugehörigem) Diskurs. Die Tatsache, daß der Text zu einem sehr großen Teil aus mehr oder weniger zusammenhängenden Gedanken(fetzen) Vergils besteht, könnte einen dazu verleiten, die These bestätigt zu finden, die epische Form im 20. Jahrhundert werde wesentlich, ja entscheidend durch das geprägt, was Erich v. Kahler als »Verinnerung des Erzählens« bezeichnet hat. 76 Diese recht verbreitete Ansicht77 kann sich u.a. auf ein Urteil aus der Zeit um 1900 stützen, das besagt, »das eigentliche Epos« habe »sich nach innen geflüchtet«. 78 Und in der Tat scheinen ja literarische Techniken wie die sogenannte erlebte Rede oder gar der innere Monolog, durch die der avantgardistische Roman des ausgehenden 19. und vor allem der des 20. Jahrhunderts nicht zum geringsten geprägt wird, durchaus in diese Richtung zu zeigen. Unbestreitbar sicherlich auch, daß »sich eine Art Verlagerung des Schwerpunkts der Person von außen nach innen« vollzieht, »die der moderne Roman immer stärker akzentuiert hat«. 79 Freilich wäre dann der Beginn dieser Entwicklung - ganz im Sinne Kahlers übrigens - erheblich früher anzusetzen; es käme nahezu der gesamte deutsche 73 74 75 76 77
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Hermann Broch, Der Tod des Vergil, Frankf. a.M. o. J., S. 242. Hermann Broch, James Joyce und die Gegenwart, Frankf. a.M. 1972, S. 33. Broch, Der Tod des Vergil, S. 243. Vgl. v. Kahler, »Die Verinnerung des Erzählens«, a.a.O. So spricht Werner Hoffmeister in seinen Studien zur erlebten Rede bei Thomas Mann und Robert Musil, London/The Hague/Paris 1965, S. 163f., von dem »Prozeß der Verinnerlichung, den der moderne Roman durchlaufen hat«. Vgl. weiter Fritz Martini, Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn, Stuttgart 6 1970, S. 414, Walter Müller-Seidel, »Literatur und Ideologie. Zur Situation des deutschen Romans um 1900« (in: Dichtung, Sprache, Gesellschaft. Akten des IV. Internationalen Germanisten-Kongresses 1970 in Princeton, hg. v. Victor Lange u. Hans-Gert Roloff, Frankf. a.M. 1971, S. 593 - 602), S. 598f., sowie v. Graevenitz, Die Setzung des Subjekts, S. 140. Leo Berg; zitiert nach Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland seit 1880, hg. v. Eberhard Lämmert u. a., Köln 1975 (im folgenden Romantheorie 2), S. 60. Nathalie Sarraute, »Von Dostojewski zu Kafka« (in: N. S., Das Zeitalter des Mißtrauens. Essays über den Roman, Frankf. a.M. 1975, S. 13-39), S. 31.
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Bildungsroman in Betracht, dessen Mitbegründer Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman schon 1774 dem Romanautor ganz dezidiert »das Innre des Menschen« als Aufgabenbereich zuweist.80 Vor allem aber trifft die auf »Verinnerung« abzielende Argumentation keineswegs ins Zentrum des zu analysierenden literarhistorischen Wandels um die Wende zum 20. Jahrhundert. Ihre Hauptschwäche besteht darin, nach wie vor die Kategorien einer scheinhaften empirischen Realität zugrunde zu legen und somit innerhalb der Grenzen einer realistischen Lektüre zu bleiben, die insbesondere den Texten der Moderne ganz und gar unangemessen ist. Selbst die ihnen vorangehende literarische Praxis und die aus ihr abzuleitenden Theoreme ergeben, betrachtet man sie etwas genauer, wie wenig stichhaltig die dabei gemachten Voraussetzungen sind. Goethes Wanderjahre zum Beispiel wenden sich gegen eine Dichtung, »die nur das Innere darstellt, ohne es durch ein Äußeres zu verkörpern«. 81 »Verinnert« werden soll - der Diskurs. Deutlicher noch kommt dies bei einem Programmatiker des »poetischen Realismus« wie Otto Ludwig zum Ausdruck. Er unterscheidet »Rhetorik - als eine besondre Form der Poesie im weitern Sinne betrachtet - und eigentliche Poesie« derart, »daß jene direkt und diese indirekt zu Werke geht; daß jene direkt ausspricht, was sie meint, und diese auf dem Wege der Darstellung. Es darf die mehrfache Bedeutung des Wortes >Darstellung< nicht irren, wonach auch jenes direkte Aussprechen darstellen genannt wird. Will man überdeutlich werden, so sage man, jene stellt durch Aussprechen, diese durch Darstellung dar; in jener spricht der Autor in seinen leicht maskierten Personen, in dieser der Autor durch die innere Selbständigkeit seiner Personen mit dem Publikum, was den Schein gewinnt, als sprächen die Personen selber und hätten keinen andern Autor, als ihr Autor selbst - die schaffende Natur.« 82 Die Verhältnisse stellen sich demnach genau umgekehrt dar, als es die Verfechter des Kahlerschen Diktums glauben machen wollen. Wenn schon von »Verinnerung« die Rede sein soll, dann hat sie statt im Realismus, nicht in der Moderne, ist sie zu beziehen auf Romanfiguren, nicht auf reale Menschen. Es geht daher auch nicht an, schlicht als »Realitätsverlust« abzuwerten, was der beschriebenen Tendenz zuwiderläuft. Die von einem auf den Spuren der Lukäcsschen Theorie des Romans wandelnden Kritiker des modernen Romans konstatierte »Prävalenz des Bewußtseins«83 muß vor dem Hintergrund nicht etwa der Realität schlechthin, sondern eben jener vorgetäuschten, gleichsam halluzinatorisch erzeugten Wirklichkeit gesehen und begriffen werden, die die Literatur, und in besonderem Maße die realistische, allererst hervorbringt. Kein Text besitzt Wirklichkeit (es sei denn seine eigene), er imitiert sie höchstens. Nicht eigentlich Realität geht hier also verloren, vielmehr beginnt 80 81 82
83
Blanckenburg, S. 356. Goethe, Wanderjahre, S. 317. Otto Ludwig, Gesammelte Schriften, 6 Bde., hg. v. Adolf Stern, Leipzig 1891, Bd. 5, S. 268. Vgl. Jürgen Schramke, Zur Theorie des modernen Romans, München 1974, S. 59ff.
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deren Illusion sich allmählich aufzulösen und den Diskurs wieder in seine Rechte einzusetzen. Das hervorstechende und zu akzentuierende Faktum ist die Diskursunterdrückung, wie sie die realistische Literaturkonzeption im extremen Maß praktiziert. Hiervon, das heißt von einer dezidiert negativen Bestimmung muß ausgegangen werden. Was sich als »Romankrise« 84 darbietet, ist in erster Linie die Krise des realistischen Literaturbewußtseins und seiner Manifestationen, deren vorherige genaue Analyse somit zur strikten Notwendigkeit wird. Die scheinbar destruktiven Erscheinungen sind - so gesehen - in ihrer Positivität wahrzunehmen, nicht zuletzt nämlich als der - zum Teil unfreiwillige - Versuch, Verschüttetes freizulegen. Die Situation, die der Roman um 1900 vorfindet, ist gekennzeichnet durch die Tendenz zur Negierung des diskurshaften Charakters von Literatur, speziell dieses Genres, und die Identität der sich formierenden Gegenbewegung besteht wesentlich in dem Bemühen, jedenfalls vom Ergebnis her, eben dies rückgängig zu machen. Der Roman, der sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert mehr oder weniger bewußt vom Realismus abhebt, ist entschieden Roman des Diskurses. Diese wie es scheinen könnte tautologische Bezeichnung verweist auf eine Praxis, die die grundlegenden Bedingungen von Literatur unterschlägt, verdrängt. Es wäre somit von einer Negation der Negation zu sprechen. Etwas wird vom Kopf auf die Füße gestellt.85 Veräußerung, >Diskursivierung< steht dem Prinzip der möglichst vollkommenen Immanenz (des Diskurses) entgegen. Nicht daß der persönliche oder allwissende Erzähler abgeschafft würde, ist das hervorstechende Merkmal der Moderne 86 - das besorgt schon weitgehend der Realismus - , sondern das Faktum, daß das zuvor so sorgsam verpackte Diskursive (wieder) hervortritt. So bedeutet der innere Monolog das Gegenteil von »Verinnerung«, mit ihm wird die Rede explizit. Die vielberufene Sprachkrise oder auch Sprachskepsis setzt das Akzeptieren der Sprache als eigenständige und für die Literatur schlechterdings konstitutive Wirklichkeit unabdingbar voraus. Dabei ist der ausgesprochen nacfcrealistische Charakter des modernen deutschen Romans zu berücksichtigen, vor allem eben die damit verbundene Aufhebung der Sprachnegierung. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob die Diskurshaftigkeit, wie in der Romantik, im Grunde als Selbstverständlichkeit gilt oder ob sich diese Einsicht erst wieder durchsetzen muß. Sehr wohl auf deutsche Verhältnisse läßt sich übertragen, was für die französische Literatur festgestellt worden 84
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Vgl. Dietrich Scheunemann, Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland, Heidelberg 1978, eine Arbeit, die freilich den hier skizzierten strukturellen Wandel gerade nicht thematisiert. Vgl. in diesem Sinn auch Gerhard Butters, »Abenteuer des Schreibens, statt des Schreibens von Abenteuern. Jean Ricardou zur Theorie des nouveau roman« (in: Erzählforschung 3. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik, hg. v. Wolfgang Haubrichs, Göttingen 1978, S. 275-292), S. 285. Ein äußerst beliebter Topos in der Literatur zum modernen (deutschen) Roman wenigstens seit Wolfgang Kayser, Entstehung und Krise des modernen Romans, Stuttgart 1954.
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ist: »Die klassische Kunst konnte sich nicht als eine sprachliche Ausdrucksform fühlen, sie war Sprache.« 87 Das Charakteristikum des modernen Romans ist nicht so sehr, den Diskurs zu entdecken, sondern weit eher, ihn zu rehabilitieren. Dem realistischen Roman wie im Grunde auch seinen Vorläufern ging (und geht) es darum, so schnell wie möglich die Illusion eines lebendigen Menschen aufzubauen, um sich ihm buchstäblich in den Mund legen zu können, durch ihn - und am besten nur durch ihn - zu sprechen. Das Prinzip der Integration beinhaltet dasjenige des Delegierens in der Selbstnegierung. Unübertrefflich formuliert Thomas Mann im Erwählten diesen Prozeß, den der Romandiskurs durchläuft, wenn er sich, »Geist der Erzählung«, materialisiert: »So geistig ist dieser Geist und so abstrakt, daß grammatisch nur in der dritten Person von ihm die Rede sein und es lediglich heißen kann: >Er ist's.< Und doch kann er sich auch zusammenziehen zur Person, nämlich zur ersten und sich verkörpern in jemandem, der in dieser spricht und spricht: >Ich bin es. Ich bin der Geist der Erzählung, der, sitzend an seinem derzeitigen Ort, nämlich in der Bibliothek des Klosters Sankt Gallen im Alamannenlande, wo einst Notker der Stammler saß, zur Unterhaltung und außerordentlichen Erbauung diese Geschichte erzählt [.. ,].«88 In der Moderne, beginnend mit dem Spätrealismus, kehrt dieser Vorgang sich um. Mehr und mehr wird das Sprechen zu einem Modus, durch den eine literarische Figur sich überhaupt erst konstituiert. »Menschen, mit denen kaum etwas vorgeht, werden Gestalt durch ihr eigenes Wort.« 89 Die in ihrer Körperlichkeit weitgehend reduzierten Gestalten Becketts nähern sich - ähnlich wie der Brochsche Vergil - der bloßen Stimme an, nicht zu reden von den Sprachfiguren der Joyce, Faulkner oder Virginia Woolf. Die Spezies der Maulhelden fängt an, sich auszubreiten. Ihr ist Raabes Stopfkuchen ebenso zuzurechnen wie Schnitzlers monologisierender Leutnant Gustl, in gewissem Sinn auch Heinrich Manns »Untertan«, Diederich Heßling. Stellt Johannes Schlafs Ein Dachstubenidyll noch die Geschichte eines »skizzenhaften Helden« dar, eines Kindes nämlich, das sich dem ihm zugedachten Erziehungsroman 87
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Barthes, »Am Nullpunkt der Literatur«, S. 9. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Silvio Vietta, Sprache und Sprachreflexion in der modernen Lyrik, Bad Homburg v . d . H . / Berlin / Zürich 1970, S. 196: »Erst seit der Romantik wird Kunst zur Reflexion über Kunst, und erst im 20. Jahrhundert richtet sich diese Reflexion auch in den literarischen Texten auf den >Stoff< dieser Texte: die Sprache.« Thomas Mann, Der Erwählte (in: Th. M., Werke. Taschenbuchausgabe in zwölf Bänden, Frankf. a.M. und Hamburg 1967, Bd. 2), S. 282. Lämmert, Bauformen des Erzählens, S. 233; gemeint sind Die Poggenpuhls. Vgl. auch Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1969, S. 94: »Dostojewskijs Held ist keine objekthafte Gestalt, sondern ein vollgewichtiges Wort; er ist reine Stimme. Wir sehen ihn nicht, wir hören ihn. Alles, was wir über sein Wort hinaus sehen und hören, ist unwesentlich. Es geht im Wort auf.« 13
durch einen frühen Tod entzieht (gar nicht weit entfernt von Hanno Buddenbrook), so demonstriert der auf dieser Vorlage basierende Papa Hamlet die Dominanz der Sprache über den (Haupt-)Sprecher. Niels Thienwiebel, Großmaul wie es im Buche steht, läßt sich beherrschen vom - falschen - Pathos seiner Rolle, des Hamlet, und eröffnet damit die Reihe jener Heldendarsteller, an denen in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts kein Mangel herrscht. Diskursökonomie ersetzt realistische Psychologie. Während Sesemi Weichbrodt oder Tony Buddenbrook an einer noch recht langen Leine periodisch wiederkehrender Redewendungen geführt werden, gibt es in Döblins frühem Roman Der schwarze Vorhang bereits ein Wort mit »befehlenden Kräften«, das »seinen Willen haben« muß gegen den Protagonisten. 90 Über Robert Walsers Erzählungen schreibt Musil in einer Rezension: »Er heißt plötzlich seine Figuren schweigen und die Geschichte reden, als wäre sie eine Figur.«91 Brochs Methodologische Novelle (1918) bringt die Personen, den Helden Antigonus und sein Komplement Philaminthe erkennbar hervor, »konstruiert« sie. So geschieht es, daß allmählich »die Sprache Subjekt des Sprechens« wird,92 »die Autorschaft« an sie übergeht. 93 Quantität schlägt um in Qualität. Der Roman eines geschwätzigen Protagonisten macht dem Roman des Diskurses Platz, womit freilich nur die >naturgemäße< Ordnung wiederhergestellt ist. Aus der »Rede des Helden« 94 wird die Rede als Held: »Ich bin eine Geschichte.« 95 Statt einer Figur geht »die Sprache [...] auf Reisen und bringt die Welt zum Menschen«. 96 Hiermit bahnt sich eine sehr viel weiterreichende Entwicklung und ein einschneidenderer Wandel an als derjenige, den Lucien Goldmann im Auge hat, wenn er - im Hinblick vor allem auf den Nouveau Roman Robbe-Grillets - das »Erscheinen des Romans ohne Helden« konstatiert, 97 gekennzeichnet durch ein immer stärkeres Übergewicht der Welt der Dinge, richtiger: durch deren Beschreibung, wobei der Protagonist tendenziell eliminiert wird.98 Der 90
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Alfred Döblin, Der schwarze Vorhang. Roman von den Worten und Zufällen, Berlin 1919, S. 84. Robert Musil, Gesammelte Werke in neun Bänden, hg. v. Adolf Frise, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 9, S. 1468. Vietta, S. 201. A. a. O. Zwar ist beides in bezug auf die - moderne - Lyrik formuliert, besitzt aber nicht weniger Gültigkeit für den Roman. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, S. 205. So die erste Zeile des Textes »Roman« von Helmut Heißenbüttel; in: Η. H., Das Textbuch, Neuwied und Berlin 1970, S. 38. Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen, Bad Homburg v . d . H . / Berlin / Zürich 1970, S. 186f. Lucien Goldmann, Soziologie des Romans, Neuwied und Berlin 1970, S. 205. A. a. O., S. 35, spricht Goldmann von »fortschreitender Auflösung« und dem schließlichen »Verschwinden des individuellen Helden«.
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entscheidende, durch eine solche Formel" nicht erfaßte und auch gar nicht erfaßbare Punkt aber besteht, wie schon gesagt, in der Umkehrung des traditionellen Verhältnisses von Romanperson und Romandiskurs. Die vielberufene »Krise des Helden« 100 ist in erster Linie nicht als Zurückdrängung des Heroischen, 101 sondern strukturell zu begreifen. An die Stelle eines menschlichem Subjekts tritt als dezidiertes Organisationszentrum des Textes der Diskurs selber. »Der Roman des problematischen Helden« 102 wird abgelöst durch den Roman des in dieser seiner Eigenschaft problematisch gewordenen Protagonisten. »Nicht mehr von einem Helden handelt die Erzählung, sie handelt von sich selbst anhand eines Helden.« 103 Es zeigt sich, daß der Realismus, indem er es unternimmt, die Sprache zu integrieren und zu domestizieren, damit zugleich seinen eigenen Untergang ins Werk setzt. Die Revolte findet im Innern der literarischen Formation selbst statt, in einem nur scheinbar stabilen Gefüge, und sie vollzieht sich ausgerechnet mit den bereits vorhandenen, zur Abwehr solcher Gefahren zurechtgelegten Mitteln. Wenn es stimmt, daß im Zentrum des Romans »der sprechende Mensch«104 steht, berühren die skizzierten Erscheinungen und Entwicklungslinien vor allem den Protagonisten als das einstige »Terrain des Einverständnisses« und machen ihn zu einem Gegenstand des Argwohns.105 Umgekehrt aber sind die »Symptome« für die »Auflösung oder Entnaturalisierung der plastischen Romanfigur« 106 geeignet, das Genre in seinen Grundlagen zu erschüttern.
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Vgl. auch Karl Migner, Theorie des modernen Romans. Eine Einführung, Stuttgart 1970, S. 70ff.: »Der reduzierte Held.« Weiterhin: Paul Konrad Kurz, Über moderne Literatur. Standorte und Deutungen, Frankf. a.M. 1967, S. 23ff.: »Der Abschied vom Helden«, und Sean O'Faolain, The Vanashing Hero. Studies in Novelists of the Twenties, London 1956. Vgl. Karl Reinhardt, »Die Krise des Helden«, in: K. R., Tradition und Geist, Göttingen 1960, S. 420-427. Nach dem Muster von Hans Henny Jahnns Perrudja, der mit dem Satz beginnt: »In diesem Buche wird erzählt ein nicht unwichtiger Teil der Lebensgeschichte eines Mannes, der viele starke Eigenschaften besitzt, die dem Menschen eigen sein können - eine ausgenommen, ein Held zu sein.« (Η. H. J., Werke und Tagebücher in sieben Bänden, hg. v. Thomas Freeman und Thomas Scheuffelen, Hamburg 1974, Bd. 1, S. 55). Vgl. auch Alfred Döblin, »>Ulysses< von Joyce« (in: Aufsätze zur Literatur, S. 287-290), S. 290. Goldmann, S. 37. Gerda Zeltner-Neukomm, Was ist ein moderner Roman? Versuch einer Standortbestimmung. In: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Jg. 1971/72, Nr. 2, S. 12f. Die Formulierung bezieht sich auf Gides Paludes. Vgl. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, S. 219 ff. Nathalie Sarraute, »Das Zeitalter des Mißtrauens« (in: Das Zeitalter des Mißtrauens, S. 41-54) S. 43. Käte Hamburger, »Erzählformen des modernen Romans« (in: Der Deutschunterricht 11, 1959, Heft 4, S.5-23), S. 6. 15
1.2 Literarische Epistemologie Der moderne deutsche Roman, der Roman des Diskurses, ist nach alledem vor allem ein Diskurs über den Roman. Dies belegt das Teufelsgespräch in Thomas Manns Doktor Faustus ebenso wie die Erörterung zwischen dem Dichter der Äneis und Augustus in Brochs Tod des Vergil, nicht zu reden von einem Extremfall wie Walter Jens' Herr Meister, im Untertitel ausgewiesen als »Dialog über einen Roman«. Nicht allein auf die ausdrückliche Thematisierung, wie sie die genannten Beispiele betreiben, beschränkt sich jedoch die Diskussion der Romankunst, der Lage des Epischen in der Moderne, vielmehr geraten die Texte als solche zu »Abenteuern der Schreibweise« (Ricardou), was Thomas Mann zu Anfang seines Josephs-Romans bestätigt, wenn es heißt: »Wer erzählt, erwandert unter Abenteuern manche Station.«107 Auf diese Weise wird »der Held des Romans der Roman selbst. Er erzählt seine eigene Geschichte«.108 Kurzum, so scheint es: »Das Erzählen wird erzählt.«109 Mit der Feststellung, daß viele dieser Bücher »zugleich Romane um die Produktion eines Romans, Kunstwerke über die Herstellung der Kunst« sind,110 beginnt das zu untersuchende und zu lösende Problem freilich erst, ist lediglich die Ausgangslage benannt. Wenn nämlich Kunst, speziell die des Romans, in der Moderne gleichsam »transzendental« wird,111 kann es nicht genügen, die Akten mit dem gängigen Pauschalurteil, das auf Selbstbezüglichkeit lautet, zu schließen. Vielmehr ist die Frage zu stellen, ob nicht eben diese unübersehbare und unbestreitbare autoreferentielle Struktur weit eher selbst als Symptom zu betrachten wäre. Symptom nämlich für die generelle Beziehung der Literatur zur (außerliterarischen) Realität, die hier, im modernen deutschen Roman eine paradigmatische Behandlung erfährt, weil diese Relation höchst problematisch geworden ist, ja, aufs höchste gefährdet erscheint. Sie gilt es zu untersuchen. Einem repräsentativen Mißverständnis folgt die von Peter Szondi in seinem Traktat »Über philologische Erkenntnis« aufgeworfene Alternative, wonach »einzig die Betrachtungsweise dem Kunstwerk ganz gerecht wird, welche die Geschichte im Kunstwerk, nicht aber die, die das Kunstwerk in der Geschichte
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Thomas Mann, Joseph und seine Brüder, 3 Bde., Frankf. a. M. und Hamburg 1967 ( = Th. M., Werke, Bd. 6 - 8 ) , Bd. 1, S. 37. Claude Levi-Strauss, Mythologica III. Der Ursprung der Tischsitten, Frankf. a.M. 1973, S. 135. Vgl. Reinhard Baumgart, »Das Erzählen wird erzählt«, in: R. B., Literatur für Zeitgenossen. Essays, Frankf. a.M. 1966, S. 83-106. C. Α. M. Noble, Sprachskepsis. Über Dichtung der Moderne, München 1978, S. 12. Peter Pütz, »Thomas Manns Wirkung auf die deutsche Literatur der Gegenwart« (in: Thomas Mann 1875-1975. Vorträge in München - Zürich - Lübeck, hg. v. Beatrix Bludau, Eckhard Heftrich und Helmut Koopmann, Frankf. a.M. 1977, S. 453-465), S. 464. 16
zu sehen erlaubt«. 112 Weder um das eine - das die Historie >enthaltende< Kunstwerk - noch um das andere - die allgemeine Geschichte - geht es; was die Texte bestimmt, sie strukturiert und bewegt, ist das Verhältnis, in dem die Literatur zur Gesellschaft (und deren Entwicklung) sich befindet, in das sie sich selbst zu dieser setzt. Als im Ansatz verfehlt muß daher betrachtet werden, ein »Transformationsmodell, das die Gesellschaftsstruktur in die Textstruktur überführen« soll, 113 zu entwerfen. Ausgangspunkt bleibt vielmehr das Faktum eines dezidiert literarischen Bewußtseins 114 als schlechterdings fundamentale Gegebenheit. Den gängigen »Weltbild«-Theorien ist eine sehr viel spezifischere Sicht entgegenzuhalten: »Der Blick auf die Welt wird in die Kandare genommen von der Literatur.«115 Deren Interesse(n) kommt eine grundlegende Bedeutung zu. Gerade eine materialistisch sich begreifende Wissenschaft hätte diese Einsicht in Rechnung zu stellen, die Brecht in die Worte kleidet: »den Schriftsteller interessiert vor allem das Schriftstellern. (Auch gegen den Weltuntergang hätte er nichts einzuwenden, wenn er nur sicher wäre, daß sein Buch darüber noch herauskommen kann.)« 116 Ein solches, zunächst noch recht grobes Raster kann und muß im einzelnen verfeinert werden, beginnend etwa mit der Feststellung Sklovskijs: »Das Bewußtsein des Schriftstellers wird durch das Sein der literarischen Form bestimmt.« 117 Freilich sollte es, beherzigt man diese Voraussetzung, nicht um eine allgemeine, sozusagen neutrale »Literarität« gehen, vielmehr müssen die 112
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Peter Szondi, Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankf. a . M . 1970, S. 22. Peter V. Zima, Textsoziologie. Eine kritische Einführung, Stuttgart 1980, S. 108; vgl. außerdem a . a . O . , S. 112. Von »literarischem Bewußtsein« spricht auch Felix Vodicka, Die Struktur der literarischen Entwicklung. Beiträge zur Literaturwissenschaft, hg. v. der Forschungsgruppe für strukturale Methoden in der Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz, München 1976, S. 68, zielt dabei jedoch auf literarische Normen im engeren Sinn ab. So Uwe Johnson in: Erste Lese-Erlebnisse, hg. v. Siegfried Unseld, Frankf. a . M . 1975, S. 107. In derselben Richtung argumentiert Wolfgang Theile, Immanente Poetik des Romans, Darmstadt 1980, S. 2: »Als Bemühung, sich der Wirklichkeit zu nähern (und nicht mit ihr >fertig< zu werden), ist darum beim Dichter die poetologische Tätigkeit das Vorausgehende, das ihn von der in alltägliche Handlung umgesetzten Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitserfassung anderer Menschen unterscheidet.« Brief Brechts an Michail Kolzow von Ende Mai/Anfang Juni 1935; in: Bertolt Brecht, Briefe, 2 B d e . , herausgegeben und kommentiert von Günter Glaeser, Frankf. a . M . 1981, Bd. 1, S. 251. Ähnlich läßt sich Max Frisch vernehmen: »Natürlich hat man Meinungen, manchmal sogar leidenschaftliche, die moralischen und die politischen Interessen als Mensch und Staatsbürger; das Interesse des Künstlers aber gilt der Dichtung.« (Max Frisch, Öffentlichkeit als Partner, Frankf. a . M . 1967, S. 61.) Zitiert nach Jurij Striedter, »Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution« (in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. v. J. S., München 1971, S. IX-LXXXIII), S. XXXIV. Vgl. auch Gallas, S. 14.
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von ihrem spezifischen Interesse, was die Tendenz zur Selbstreproduktion einschließt, gelenkten literarischen Denkstrukturen in den Blick gerückt werden. Nicht eine »ästhetische Erfahrung« 118 gilt es zu postulieren oder zu verteidigen: Der Literatur zu ihrem Recht zu verhelfen - und zwar nicht weniger angesichts derer, die sie zu negieren immer mehr sich anheischig machen, als gegenüber ihren allzu unkritischen Apologeten-, kann nur bedeuten, die von ihr selbst gesetzten Rahmenbedingungen überhaupt erst einmal wahrzunehmen und analytisch in den Griff zu bekommen. Das heißt, an die Stelle von Ästhetik oder Poetologie im herkömmlichen Sinne hätte eine Theorie der besonderen literarischen (Ap-)Perzeption zu treten. Auch und gerade in der Literaturwissenschaft sollte die Zeit für eine kognitive Wende gekommen sein. Dies zu belegen, erscheint wiederum der moderne deutsche Roman als höchst taugliches Objekt. Die mit und in ihm sich vollziehenden Veränderungen nämlich sind unzulänglicher noch als andere direkt von der außerliterarischen Realität her zu verstehen, 119 sondern nur über seine eigene Konstitution in bezug auf jene Wirklichkeit. So wenig die literarischen Techniken von vornherein als wertfrei zu betrachten sind, es eine rein immanente literarhistorische Entwicklung gibt, so wenig können die poetischen Fakten einem bestimmten realhistorischen bzw. realgesellschaftlichen Substrat ohne weiteres zu- oder gar untergeordnet werden. Auf die einfache Formel »Roman und Wirklichkeit«120 läßt sich das äußerst komplexe Verhältnis gewiß nicht bringen. Vielmehr muß gerade das dabei Ausgesparte die Relation zwischen beiden Größen - ins Zentrum des Interesses gelangen. 121 Denn die »grundsätzliche ästhetische Problematik«122 moderner Dichtung, insbesondere der epischen Form, beruht auf dieser Beziehung, eben der »spezifisch literarische Aspekt« 123 ist epistemologisch motiviert und struktu118
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Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten von Hans Robert Jauß, insbesondere Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz 1972, sowie Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd. 1: Versuch im Feld der ästhetischen Erfahrung, München 1977. v. Kahler beispielsweise meint, »die Verwandlung der Kunstformen als einen Ausdruck der Verwandlung unserer Wirklichkeit aufweisen« zu können (»Die Verinnerung des Erzählens«, S. 52). Vgl. das Buch von Frank Trommler Roman und Wirklichkeit. Eine Ortsbestimmung am Beispiel von Musil, Broch, Roth, Doderer und Gütersloh, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1966, das bereits in seinem Vorwort zu verstehen gibt, mit einer epistemologisch fundierten Klärung des apostrophierten Verhältnisses nicht allzuviel im Sinn zu haben, auch wenn der Text selbst dann das eine oder andere Problem berührt. Eben sie bleibt für Durzak letztlich ein blinder Fleck, wenn er »die zentrale Relation, die zwischen ästhetischer und vorgegebener Wirklichkeit besteht«, zwar anspricht, als Konsequenz daraus aber nicht mehr als ein wechselseitiges Verhältnis von »Erkenntnis der Form« und »Orientierung an der Wirklichkeit« ableitet (Manfred Durzak, Gespräche über den Roman, S. 32). Wilhelm Emrich, »Zur Ästhetik der modernen Dichtung« (in: W. E., Protest und Verheißung, S. 123-134), S. 129. Käte Hamburger, Wahrheit und ästhetische Wahrheit, Stuttgart 1979, S. 110.
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riert. Dies bleibt zu berücksichtigen, gerade wenn man »die Entwicklung des modernen Erzählens als spezifisch dichtungsgeschichtlichen Strukturwandel zu begreifen und zu deuten sucht«124 oder die »Geschichte des Romans als eine sich selbst zum Problem gewordene Kunstform« 125 sieht. Die im modernen deutschen Roman unverkennbare Dominanz des Literarischen, leicht als bloße Koketterie mißzuverstehen, resultiert aus dem problematisch gewordenen Wirklichkeitsbezug. Schon hier liegt ein gravierender Unterschied zur Romantik, mit der man die Moderne gern in Verbindung zu bringen pflegt. Die Frage nach der Erkenntnisfunktion und -problematik von Literatur schlankweg auszublenden, wie es eine sich selbst »Diskursanalyse« nennende Richtung will,126 hieße demnach, die Basis des literarischen Diskurses, insbesondere aber die Lage der epischen Kunstform im 20. Jahrhundert schlechterdings zu verfehlen. Nicht weniger verkehrt erscheint mir jedoch, eine »Wahrheit der Dichter« 127 zu unterstellen, um diese dann aus ihren Werken herauszudestillieren. Epistemologie zu betreiben, bedeutet nicht, sich dem vorhandenen Wahrheitsanspruch zu fügen, sondern just diesen (und die mit ihm verbundene Struktur) kritisch unter die Lupe zu nehmen. Das heißt, es geht um die Untersuchung der explizit und (wichtiger noch) implizit in den Texten enthaltenen Erkenntniskonzeptionen. m Ohnehin stellt die Literatur über weite Strecken mehr oder weniger heimliche Epistemologie dar. Kaum eine (traditionelle) ästhetische Kategorie, die hiervon nicht betroffen wäre. Identifikation etwa, vielleicht der literarische Modus überhaupt, beruht geradezu auf einem Wahrheitskonzept. Manche dieser Gegebenheiten sind von der Literaturwissenschaft auch durchaus gesehen worden, allerdings nur sporadisch und unsystematisch. Noch dazu verbinden sich damit meist lediglich Postulate wie: 124 125
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Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 9. Eberhard Lämmert, »Vorbericht« zu Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620-1880, hg. v. Eberhard Lämmert u. a., Köln / Berlin 1971 (im folgenden Romantheorie 1), S. XX. Horst Turk und Friedrich A. Kittler konstatieren in ihrer Einleitung zu Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, hg. v. Friedrich A. Kittler und Horst Turk, Frankf. a.M. 1977, S. 40: »Mit solchen Beschreibungen verabschiedet die Diskursanalyse, was die Literaturwissenschaft die Erkenntnisfunktion von Literatur genannt hat.« Vgl. Wolfgang Kayser, Die Wahrheit der Dichter. Wandlung eines Begriffes in der deutschen Literatur. Hamburg 1959. Präziser zu fassen wäre also, was Jürgen Peper, »Über transzendentale Strukturen im Erzählen« (in: Zur Struktur des Romans, hg. v. Bruno Hillebrand, Darmstadt 1978, S. 455-488), S.485, so formuliert: »Die abendländische Ästhetik und die Romanästhetik war stets Erkenntniskritik. Das liegt schlicht daran, daß es in Kunst - wie in Philosophie und Wissenschaft auch, nur in jeweils anderer Weise - um Wahrheit geht, in der von Faktentreue befreiten Kunst (und Philosophie) sogar um besonders grundsätzliche Wahrheit, nämlich um deren Erkenntnisprämissen und -formen.« Die beiläufig geäußerte Ansicht von Theile, S. 117, »daß Kunst und Literatur eigentlich nichts anderes sind als materialisierte Erkenntnistheorie«, trägt, ganz abgesehen von ihrer Pauschalität, dem zu untersuchenden Problem höchstens deskriptiv Rechnung. 19
»Dichtung hat immer Erkenntnis des Wirklichen zu sein.«129 Oder: Dichtung sei »geformte Wahrheit der menschlichen Welt«.130 Wenn es richtig ist, daß »die ästhetische Erfahrung eine kognitive Erfahrung« und »als eine Form der Erkenntnis zu begreifen« ist,131 erscheint eine Analyse der Literatur unter erkenntnis/:ntoc/iew Vorzeichen nachgerade unabdingbar. Freilich sollte es sich dabei nicht allein und, wie ich meine, auch nicht in erster Linie um eine »Epistemologie des Schreibens«132 handeln, sondern um eine solche der Schriften. Ein solches Verfahren ist darauf gerichtet, Literatursoziologie - was die Werke anlangt - in die Schranken zu weisen, denn die >Basis< der Literatur bildet nicht eigentlich die Gesellschaft (oder Teile davon), sondern der (gedachte, intendierte) Bezug der Texte zu jener. Wenn Adorno meint, es sei »auszumachen, wie das Ganze einer Gesellschaft, als einer in sich widerspruchsvollen Einheit, im Kunstwerk erscheint«,133 so ist dem entgegenzuhalten, daß es nicht darum geht oder gehen sollte, die Beschaffenheit der Realität aus den Büchern herauszulesen, sondern diese daraufhin zu prüfen, ob, wie und warum sie behaupten, ein angemessenes, >wahres< Bild der Sozietät, der Wirklichkeit überhaupt zu vermitteln. Literatur ist meist weniger auf Erkenntnis aus als vielmehr auf die Propagierung und Durchsetzung ihrer Vorstellung von und ihres Anspruchs auf Erkenntnis. Die Frage der Legitimation spielt dabei sicherlich eine Hauptrolle. So vor allem kommt die >Anlehnung< der Literatur an den, wie Foucault ihn nennt, »wahren Diskurs« zustande, der »Druck und Zwang«, den dieser ausübt. 134 Nun ist diese Prägung für den Roman als Gattung ohnehin gewissermaßen konstitutiv. Wenn »von der Erkenntnisabsicht im umfassendsten Sinne als dem Urpunkt des Romans« die Rede ist,135 so kann sich diese Ansicht auf ein breites Spektrum von Belegen stützen, die in eben diese Richtung zielen. Spätestens seit Gotthard Heideggers Mythoscopia (1698) mit ihrem Kernsatz »wer Romans list / der list Lügen«136 kreist die (Gattungs-)Diskussion immer wieder um die Frage der Wahrheit. Für Goethe soll »der Roman [...] eigent-
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Rosenthal, S. 7. Emrich, Vorwort zu Protest und Verheißung, S. 7. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankf. a.M. 1973, S. 263. Vgl. Henri Meschonnic, »Für eine Epistemologie des Schreibens« (in: TheorieLiteratur-Praxis. Arbeitsbuch zur Literaturtheorie seit 1970, hg. v. Richard Brütting und Bernhard Zimmermann, Frankf. a.M. 1975, S. 123-143). Theodor W. Adorno, »Rede über Lyrik und Gesellschaft« (in: Noten zur Literatur 1, S. 73-104), S. 76. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 13f. Vgl. zum »Begriff der literarischen Wahrheit« auch Galvano della Volpe, Kritik des Geschmacks. Entwurf einer historisch-materialistischen Literaturtheorie und Ästhetik, Darmstadt und Neuwied 1978, S. 55. Gerhard Haas, Studien zur Form des Essays und zu seinen Vorformen im Roman, Tübingen 1966, S. 144. Zitiert nach Romantheorie 1, S. 55.
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lieh das wahre Leben sein, nur folgerecht, was dem Leben abgeht«.137 Umstandsloser formuliert Joseph Roth, wenn er die Literatur, insbesondere den Roman, als »den einzigen wahren Ausdruck des Lebens« bezeichnet. 138 Es wäre falsch, angesichts solcher Äußerungen dem Roman von vornherein zuzugestehen, er sei »die welthaltigste und welthafteste Gattung«. 139 Weder das eine noch das andere kann Literatur überhaupt sein. Es handelt sich nicht um Realität(en), sondern um Effekte. Der »Fundierungszusammenhang« ist demnach kein solcher »von Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans« (Blumenberg), als Achse, um die sich alles dreht, fungiert vielmehr der Literaturbegriff selbst. In ihm ist auch und gerade das den Texten (von ihnen selbst) zugeschriebene Verhältnis zur - übrigen - Gesellschaft installiert. Nicht um >Realität< an sich geht es, sondern um das Mit-der-Realität-Übereinstimmenwollen, wie besonders eindringlich die realistische Illusionspoetik zeigt. Überspitzt formuliert fällt Sozialgeschichte, die sich des epischen Genres mit Vorliebe anzunehmen pflegt, auf den von diesen Texten produzierten Sozialeffekt herein. Sie nimmt für bare Münze, als >Ausdrucke was in Wahrheit nur Mimikry ist. Eine begründete Soziologie des Literarischen wird den gesellschaftlichen Anspruch des Sozialen, den die Bücher stellen, unbedingt zu berücksichtigen haben, mehr noch: Sie müßte von diesem Punkt, das heißt letztlich von einer Epistemologie der literarischen (Denk-)Formen sogar ausgehen. »Anerkennung« 140 versuchen die Texte als solche zu erlangen, und sie tun dies eben vor allem gerade dadurch, daß sie sich als - zumindest scheinbar - wahr(e) statuieren. 141 Schlagender, da gewissermaßen greifbarer Beweis für die epistemologische Textstruktur sind in erster Linie die sogenannten Bildungs- und Entwicklungsromane. 142 Insbesondere in jenen der realistischen Art erweist sich das richtige Erkennen der Realität als zentrales Moment. So kreist Kellers Grüner Heinrich von Beginn an um die »Inkongruenz von Vorstellung und Wirklichkeit«,143
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Goethe, Rezension der Gabriele von Johanna Schopenhauer (in: Werke, Bd. 14, S. 319-322), S. 319. Zitiert bei David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, Köln 1974, S. 447. Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans« (in: Nachahmung und Illusion. Kolloquium Gießen Juni 1963, Vorlagen und Verhandlungen, hg. v. H. R. Jauß, München 2 1969, S. 9-27), S. 21. Vgl. hierzu Gallas, insbesondere S. 102ff. Auch Kleists Kohlhaas, den Gallas als Paradigma anführt, will auf den Gestus der Beglaubigung nicht verzichten, wie schon die Parenthese unter dem Titel zeigt: »(Aus einer alten Chronik)«. Man könnte geradezu sagen: Die Affinität der deutschen Romanliteratur zum Bildungs- beziehungsweise Entwicklungsroman und ihre epistemologisch-idealistische Prägung sind zwei Seiten einer Medaille; beide Aspekte bedingen einander wechselseitig. Wolfgang Preisendanz, »Gottfried Keller: >Der grüne HeinrichWirklichkeit< - diese Substitution154 gilt es vor allem in bezug auf das Identitätssyndrom zu beachten, wo die Überlagerung der Ebenen des >Realen< und des Epistemologischen in besonderem Maße die Verhältnisse kompliziert. »So objektiviert sich die formbestimmende Grundgesinnung des Romans als Psychologie der Romanhelden: sie sind Suchende.«155 Auch Lukäcs, der auf diese Weise den Sachverhalt nicht schlecht erfaßt, kommt, ungeachtet seiner weiter oben zitierten Feststellung, zu einem Ergebnis, das die epistemologische Funktion des Protagonisten bestätigt, wenn er nämlich keinen Zweifel daran läßt, daß die Frage, die den Helden - buchstäblich bewegt, die der Übereinstimmung von Subjekt und Objekt ist, mithin die erkenntnistheoretische: »Der Prozeß, als welcher die innere Form des Romans begriffen wurde, ist die Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst, der Weg von der trüben Befangenheit in der einfach daseienden, in sich heterogenen, für das Individuum sinnlosen Wirklichkeit zur klaren Selbsterkenntnis.« 156 Die geschichtsphilosophische wie die psychologische Problematik ist der epistemologischen untergeordnet, muß als deren Teil(bereich) betrachtet werden. 157 Der psychologisch-pragmatische (Handlungs-)Aspekt von Wahrheit heißt Sinn. »Die Opposition von Kunstwerk und Wirklichkeit« - so geht aus all dem hervor - kann also keineswegs, wie man gemeint hat, als »unfruchtbar« oder »untauglich« abgetan werden, 158 sie ist vielmehr, wie sich unschwer zeigen läßt, 151
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Vgl. hierzu Ulf Eisele, Der Dichter und sein Detektiv. Raabes »Stopfkuchen« und die Frage des Realismus, Tübingen 1979, S. 10. Th. Mann, Joseph, Bd. 3, S. 1286. Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, Frankf. a.M. 1964, S. 9. Damit entfällt das Hauptargument, das Käte Hamburger in ihrem Buch Wahrheit und ästhetische Wahrheit gegen eine Epistemologie literarischer Texte ins Treffen führt, nämlich, »Wahrheit« sei »eine Kategorie der Realität« (S. 47) und daher dem Kunstwerk unangemessen. Lukäcs, Die Theorie des Romans, S. 58. A . a . O . , S. 79. Im Gefolge von Lukäcs akzentuiert Durzak, Gespräche über den Roman, S. 22, die geschichtsphilosophische Seite. Johannes Anderegg, »Fiktionalität, Schematismus und Sprache der Wirklichkeit. Methodologische Überlegungen« (in: Erzählforschung 2, hg. v. Wolfgang Haubrichs, Göttingen 1977, S. 141-160), S. 145.
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gerade für die Praxis des modernen deutschen Romans, der sie thematisiert und als Problem erfaßt, von schlechthin grundlegender Bedeutung. Eben wenn man den »historischen Wandel in der Bestimmung und Auffassung von Kunst«159 herausarbeiten will, wird man sich stets wieder und unabdingbar auf diese Problematik verwiesen finden. Ihre Basis stellt zweifellos die realistische Literaturkonzeption dar. 160 Hier und extremer noch im Naturalismus verwirklicht sich der Wahrheitseffekt als Realitätseffekt, fällt dieser mit jenem scheinbar zusammen. 161 Worum es geht, umschreibt ein Diktum Fontanes, wonach ein Roman »uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen« lassen soll.162 Und weiter: »Aufgabe des modernen Romans scheint mir die zu sein, ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Widerspiel des Lebens ist, das wir führen. Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren, ähnlich wie manche Träume sich unserer mit gleicher Gewalt bemächtigen wie die Wirklichkeit. Also noch einmal: darauf kommt es an, daß wir in den Stunden, die wir einem Buche widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist.«163 Vergleichbares legt Fontane dem Grafen Petöfy in den Mund, wenn er ihn den französischen Nationalcharakter wie folgt beschreiben läßt: Der »füllt die Hälfte seines Daseins mit Fiktionen aus, und wie die Stücke sein Leben bestimmen, so bestimmt das Leben seine Stücke. Jedes ist Fortsetzung und Konsequenz des andern, und als letztes Resultat haben wir dann auch selbstverständlich ein mit Theater gesättigtes Leben und ein mit Leben gesättigtes Theater. Also Realismus! Auf der Bühne gewiß, aber auch weitergehend in der Kunst überhaupt. Welche Lust, ein französisches Schlachtenbild zu sehen, auf dem die Säbel nicht angeklebt sind, sondern wirklich geschwungen werden, 159 160
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A.a.O. Zu Recht vermerkt Preisendanz, »daß das Realitätsproblem, wie es sich mit der Dichtung des letzten halben Jahrhunderts stellt, ohne die Einbeziehung des Realismusproblems kaum zu erörtern ist« (W. P., »Das Problem der Realität in der Dichtung«, in: W. P., Wege des Realismus, München 1977, S. 217-228; Zitat S. 220); vgl. weiter a . a . O . , S. 220ff. Vgl. hierzu auch Martini, Das Wagnis der Sprache, S. 200: »Im Naturalismus legitimierte sich der Anspruch der Kunst, die Wahrheit zu geben, durch die möglichst getreue Wiedergabe der Natur.« Theodor Fontane, Nymphenburger Taschenbuch-Ausgabe in 15 Bänden, München 1969, Bd. 14, S. 177. Zitiert nach Theodor Fontane. Der Dichter über sein Werk, 2 Bde., hg. v. Richard Brinkmann in Zusammenarbeit mit Waltraud Wiethölter, München 1977, Bd. 2, S. 687.
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Elan auch da, Leben und Wirklichkeit. Und nun gar erst der Roman!« 164 Bei der Teil-Aufführung in Kellers Grünem Heinrich bewegt man sich »wie aus der Wirklichkeit heraus« und trifft »wie von selbst an den Orten zusammen [...], wo die Handlung vor sich ging«.165 In Storms Aquis submersus überträgt der Maler Johannes seinen soeben ertrunkenen Sohn in ein Bild.166 Das (Sich-)Wiedererkennen bezieht sich also auf den Modus der Literatur schlechthin und als solcher. Die Texte, statt von jener prinzipiell unterschieden zu sein, werden auf derselben Ebene angesiedelt wie die außerliterarische Wirklichkeit. Deshalb ist Kunst etwas, was man - in der Realität - findet. Dortchen Schönfund in Kellers Grünem Heinrich, die nicht nur heißt, wie sie heißt, sondern auch konstant »das schöne Wesen« genannt wird,167 ist nur eine besonders beredte Zeugin für dieses Denken. 168 Es gilt der realistische Grundgestus des Aufdeckens, der Detektion. 169 Der »Sinn der Inschrift« ist das »Geheimnis der Vergangenheit«. 170 Der Autor (oder auch der Erzähler) fördert buchstäblich zutage: »Wieder liegt ein recht maulwurfsartiges Suchen und Wühlen hinter uns, und vor uns liegen die Materialien der sehr wahrhaften Begebenheiten, deren Zusammenstellung wir jetzt unternehmen.« 171 Die Schwierigkeiten des Erzählens erscheinen somit lediglich als Probleme des Abstands, nicht etwa als Fragen des kategorialen Unterschieds zwischen Literatur und (außerliterarischer) Realität. Das ist bereits am vorrealistischen Roman zu beobachten, wo der Narrator sein Verhältnis zur (erzählten) Hand164 165 166
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Fontane, Graf Petöfy (= Werke, Bd. 6), S. 172. Keller, Der grüne Heinrich, S. 342. Vgl. auch noch Arnold Zweig, Erziehung vor Verdun, Frankf. a.M. 1974, wo es (S. 203) heißt: »Künstlerischer Abstand und die Lösung vom ungeformten Leben verlangten Umsetzung wie in den Rahmen eines Bildes.« Vgl. Keller, a . a . O . , S. 1044, 1075, 1092. In Zusammenhang mit Gotthelf schreibt Keller (G. K., Aufsätze zur Literatur, herausgegeben und kommentiert von Klaus Jeziorkowski, München 1971, S. 38), es handle sich darum, »in der gemeinen Wirklichkeit eine schönere Welt wiederherzustellen durch die Schrift«. Vgl. auch Friedrich Spielhagen, »Finder oder Erfinder?« (in: Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, S. 1-34). Vgl. hierzu Ulf Eisele, Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literarischen Theorie nach 1848 am Beispiel des »Deutschen Museums«, Stuttgart 1976, S. 48ff., sowie Der Dichter und sein Detektiv, S. 1 ff. Theodor Storm, »Aquis submersus« (in: Th. S., Sämtliche Werke in zwei Bänden, München 1951, Bd. 1, S. 943-1015), S. 948. Wilhelm Raabe, Abu Telfan (in: W. R., Gesammelte Werke, drei Bde., hg. v. Hans Jürgen Meinerts, Bd. 1, Gütersloh o. J., S. 471-739), S. 476. Sehr deutlich wird auch ein Brief Flauberts an Louise Colet vom 25./26. Juni 1853, in dem es heißt: »Der Künstler muß alles emporheben; er ist wie eine Pumpe, er hat ein großes Rohr in sich, das bis in die Eingeweide der Dinge hinabreicht, bis in die tiefsten Schichten. Er saugt und läßt in riesigen Strahlen ins Sonnenlicht emporschießen, was flach unter der Erde verborgen war und was man nicht sah.« (Zitiert nach Mario Vargas Llosa, Die ewige Orgie. Flaubert und >Madame BovaryWirklichkeit besteht, zugunsten einer bloß visuellen Distanz auf ein und derselben Ebene. So erscheint alles allein als eine Frage des Sehens. Conrad Ferdinand Meyer begründet seine »Neigung zum Rahmen« damit, er halte sich »den Gegenstand gerne vom Leibe oder richtiger gerne so weit als möglich vom Auge«.177 Und für Spielhagen ist der »Held« »gewissermaßen das Auge, durch welches der Autor die Welt sieht«.178 Nicht umsonst heißt der Detektiv in Raabes Stopfkuchen ausgerechnet Schaumann. Verständlich wird vor diesem Hintergrund auch die häufig wiederkehrende Rede vom Vorhang, der Text und Wirklichkeit trenne. Wieland, in Agathon,179 bedient sich ihrer ebenso wie Goethe 180 oder später Thackeray. 181 Hierin findet
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Christoph Martin Wieland, Sämmtliche Werke, Leipzig 1853, (Bd. 4 - 6 , Geschichte des Agathon), Bd. 5, S. 159. Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre ( = Goethe, Werke, Bd. 7), S. 81. Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte (in: L. T., Werke in vier Bänden, hg. v. Marianne Thalmann, Bd. 1, Frühe Erzählungen und Romane, München 1963, S. 699-986), S. 722. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart (in: J. v. E., Werke, hg. v. Wolfdietrich Rasch, München 1971, S. 537-834), S. 545. Vgl. auch Jean Paul, Hesperus oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung (in: J. P., Werke, hg. v. Norbert Miller, Bd. 1, München 1960, S. 471-1236), S. 506ff. Raabe, Abu Telfan, S. 479 bzw. 483. Briefe Conrad Ferdinand Meyers, hg. v. Adolf Frey, 2 Bde., Leipzig 1908, Bd. 2, S. 340. Spielhagen, »Der Held im Roman«, S. 72. Vgl. Wieland, Agathon (Werke, Bd. 4), S. 197. Goethe/Schiller, »Über epische und dramatische Dichtung« (in: Goethe, Werke, Bd. 14, Schriften zur Literatur, S. 367-370), S. 369: »Der Rhapsode [dem der epische Erzähler gleichgestellt wird; U. E.] sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst erscheinen, er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im allgemeinen zu hören glaubte.« Vgl. William M. Thackeray, Jahrmarkt der Eitelkeit oder Ein Roman ohne Held, übersetzt von Theresia Mutzenbecher, München 1975, S. 7f.: »Vor dem Vorhang«. Der abschließende Satz dieser Introduktion lautet: »Und nun zieht der Spielleiter
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die Vorstellung der Konvertibilität von Literatur und Realität ihren Ausdruck, die ein Raummodell der Erkenntnis postuliert. So wird die Sprache zur Zeitmaschine: »[...] und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt.«182 Zu Beginn von Stifters Mappe meines Urgroßvaters ist zu lesen: »Mit dem an der Spitze dieses Buches stehenden lateinischen Spruche des seligen, nunmehr längst vergessenen Egesippus führe ich die Leser in das Buch und mit dem Buche in mein altes fern von hier stehendes Vaterhaus ein.«183 Heinrich Waser schaut buchstäblich zurück, wenn die Jugendgeschichte des Jürg Jenatsch erzählt wird. 184 Nach wie vor erweist sich Literatur als ihren magischen Ursprüngen verhaftet, wohnt ihr ein prinzipieller Idealismus inne, 185 der ideologiekritisches Vorgehen nicht nur rechtfertigt, sondern geradezu herausfordert. Einmal mehr zeigt sich, daß die >Realität< im Roman (generell: im literarischen Text) ein Diskursproblem darstellt, und zum zweiten, daß das Negieren des Diskurscharakters, von dem alle erwähnten Beispiele wesentlich geprägt sind, in erster Linie epistemologisch motiviert ist. Die Realitätsillusion, d i e scheinbare - Gegenständlichkeit, fällt in eine entschieden erkenntnistheoretische Kategorie. 186 Was es damit auf sich hat, spricht der programmatische Realist Julian Schmidt mit aller Deutlichkeit aus, definiert er doch »die >äußere< Wahrheit«, für ihn das »neue Prinzip« des Realismus, ausdrücklich als »die Übereinstimmung mit der >sogenannten< Wirklichkeit«.187 Stifters Heinrich Drendorf, der erwartet, »eine erlogene Geschichte vorgespielt«188 zu bekommen, erlebt eine Lear-Aufführung als »die wirklichste Wirklichkeit«.189
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sich mit einer tiefen Verbeugung vor seinen Gönnern zurück, und der Vorhang geht auf.« ( A . a . O . , S. 8.) Kritisch-analytisch greift Adorno (»Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman«, S. 67) nach der »Vorhang«-Metapher, ohne freilich die epistemologischen Zusammenhänge und Implikationen klar herauszuarbeiten. Theodor Storm, Immensee (in: Storm, Werke, Bd. 1, S. 20-50), S. 21. Adalbert Stifter, Die Mappe meines Urgroßvaters (in: A. S., Studien, München 1966, S. 381-578), S. 383. Conrad Ferdinand Meyer, Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte (in: C. F. M., Sämtliche Werke in zwei Bänden, München 1968, Bd. 1, S. 363-573), S. 369. Zu Recht bezeichnet Trommler, S. 19, den deutschen Roman als »Hüter unbedingter Wahrheit«, übersieht dabei jedoch die auch den westeuropäischen Gesellschaftsroman prägende idealistische Struktur. Dieses grundlegende Faktum entgeht Manfred Smuda in seiner Untersuchung Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur. Zitiert nach Hans-Joachim Ruckhäberle/Helmuth Widhammer, Roman und Romantheorie des deutschen Realismus. Darstellung und Dokumente, Kronberg 1977, S. 208. Adalbert Stifter, Der Nachsommer. Eine Erzählung, München 1964, S. 138. Vgl. auch ein Diktum Grillparzers aus dem Jahr 1834: »Das Drama lügt eine Gegenwart.« (Zitiert nach Heinz Politzer, Grillparzer oder Das abgründige Biedermeier, Wien / München / Zürich 1972, S. 268.) Der Nachsommer, S. 141.
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Der epische Urzustand, »das geschehende Sich-selbst-Erzählen der Geschichte«, 190 das zu restituieren die Realisten bemüht sind, 191 ist Wahrheit in Form von Mimikry der Wirklichkeit, ein Wahrheitseffekt qua Realitätseffekt. D i e sogenannte Fiktion funktioniert als epistemologische Situation: Gegenständlichkeit, erzeugt durch eine im scheinbar reinen, von Zusätzen jeglicher Art unverfälschten Objekt sich realisierende Subjekt/Objekt-Identität, ist das Korrelat der Selbstnegierung des Diskurses, 192 einer Basis, die sich selbst verschüttet. Der Sprachcharakter von Literatur wird dabei ebenso negiert wie deren Produkthaftigkeit überhaupt, was sich wohl am extremsten in Spielhagens Postulat einer vollständigen Ausschaltung von >Eingriffen< und Reflexionen des Autors ausgeprägt hat. 193 Nicht nur die Literaturtheorie seit Hegel wird weitgehend von der erkenntnistheoretischen Problematik beherrscht, insofern die Frage nach der Übereinstimmung des Erkenntnissubjekts Literatur mit dem Erkenntnisobjekt Realität fast stets im Mittelpunkt steht. 194 Im realistischen Roman ist die Garantie, nach der Erkenntnistheorie verlangt, prinzipiell, da strukturell verankert, vorgegeben: Subjekt und Objekt gelangen zur Deckung in und aufgrund der Realitätsillusion. Die Spiegelform der Erkenntnis 195 wird vor allem durch die Person des Protagonisten gewährleistet, ja, sie erscheint in ihm - als der Identifikationsfigur schlechthin - geradezu institutionalisiert. Epistemologische Kategorie und Gegebenheit, der er ist, allein schon dadurch, daß sich mit ihm der Erkenntnis-
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Th. Mann, Joseph, Bd. 3, S. 1316; vgl. auch a.a.O., S. 1315. Fr. Th. Vischer redet in seiner Ästhetik vom »selbständigen Leben des Gegenstandes« (zitiert nach Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 12), und für Fontane ist »ein Werk [...] um so stilvoller, je objektiver es ist, d. h. je mehr nur der Gegenstand selbst spricht, je freier es ist von zufälligen oder wohl gar der darzustellenden Idee widersprechenden Eigenheiten und Angewohnheiten des Künstlers« (zitiert nach Preisendanz, a.a.O., S. 220). Unübertrefflich formuliert dies Alfred Döblin, »An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm« (in: Döblin, Aufsätze zur Literatur, S. 15-19), S. 17: »Das Ganze darf nicht erscheinen wie gesprochen, sondern wie vorhanden.« Sprache steht also, insbesondere im Realismus, unter dezidiert epistemologischen Vorzeichen. Dies nicht zu erkennen (oder zu berücksichtigen), ist die fundamentale Schwäche der Position Käte Hamburgers. Wohl erzählt der Text nicht >wirklich< von etwas (vgl. Anm. 25), doch bietet er alle Mittel auf, um einen solchen Eindruck zu erwecken. Die Subjekt-Objekt-Struktur wird suggeriert, sie existiert als - beabsichtigter - Effekt. Nichts anderes besagt im übrigen die vor allem im 19. Jahrhundert verbreitete Tendenz zur >VersöhnungsubversivesWirklichkeit, statt auf die (von den Texten) hypostasierte Wahrheitskonzeption.
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ansiedelt, wird später eben diese Identität ins Subjekt hineinverlagert, wozu der Ich-Roman ein erster Schritt ist. Wenn man das Problem so, das heißt epistemologisch faßt, läßt sich für die Zeit des Spätrealismus und danach in der Tat von einer Tendenz zur »Subjektivierung« sprechen. 206 Den Umschlag von der >objektiven< Abbildung zum >subjektiven< Sehen erheben Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge zum Kardinalthema, wenn der Protagonist, immerhin ein Dichter, gleich zu Anfang konstatiert: »Ich lerne sehen.« 207 Und die Verlagerung der Identitätsbestrebung hin zur Subjektseite, die für diesen Vorgang konstitutiv ist, formuliert - hypothetisch der Kaiser Khien-lung in Döblins Wang-lun: »Eine Bauersfrau, wie die dort drüben, wirft das weiße Korn in den Boden; ein Knabe führt eine Karre hinter ihr her mit Jauche. Lerchen singen, Herbst. Man hat keinen Anlaß, diesen Anblick - zu dichten; er ist unübertrefflich vorhanden. Immerhin könnte ich in die Versuchung kommen, ihn zu dichten, aber dann übernehme ich eine Verpflichtung gegen - den Anblick.« 208 Den »Anblick [...] zu dichten«, diese Überlegung Khien-lungs bezeichnet eine Generaltendenz in der Weiterentwicklung des nachrealistischen Romans, der sich - immer noch auf Visualität (und das gilt insbesondere auch für Döblin) als der Grundlage von Dichtung eingeschworen - von der geschauten Gegenständlichkeit weg und hin zum anschauenden Subjekt orientiert. So heißt es in dem programmatischen Vorwort Otto Flakes zu Die Stadt des Hirns, einem Roman, der, ungeachtet des Döblinschen Verdikts, 209 als durchaus symptomatisch für den Übergang zur literarischen Moderne angesehen werden darf, 210 ganz prononciert, geradezu ein Resümee dieser Problematik ziehend: »Anschaulichkeit wird überwunden, an ihre Stelle tritt Anschauung, der Roman als Projektion.« 211 Flake ist es auch, der - an gleicher Stelle - die mit diesem Übergang verknüpfte epistemologische Entwicklung zumindest implizit darstellt, wenn er, die herkömmliche Romanform mit der angestrebten neuen konfrontierend,
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Die von Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2 1966, aufgestellte »Subjektivierungs«-These meint im wesentlichen eher Atomisierung, eine Tendenz, die gegen Ende dieses Buches behandelt werden wird, da erst dort ihr poeto-logischer Ort ist. Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, München 1962, S.8. Alfred Döblin, Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman, mit einem Nachwort von Walter Muschg, München 1970, S. 279. Bereits in Kellers Grünem Heinrich (S. 391) heißt es: »[...] und der Seher ist erst das ganze Leben des Gesehenen.« Vgl. Alfred Döblin, »Reform des Romans«, in: Aufsätze zur Literatur, S. 32-48. Vgl. zu Flake auch Schramke, S. 62f., der freilich den Akzent auf »subjektiv« setzt, statt auf das (epistemologische) Subjekt. Otto Flake, Die Stadt des Hirns, Berlin 1919, S. 11. 31
schreibt: »Was war der Roman soweit er nicht als verbreiterte Erzählung auftrat? Eine Kunstform in der die Gestaltung des Weltbilds versucht wurde. Seine höchste Form war der Entwicklungsroman, es ging einer durch die Fülle der Erscheinungen und unternahm es ihren Sinn zu finden. Guter Gedanke aber das Machtverhältnis war falsch gesehen: mächtig real gegeben die Verhältnisse Zustände der Welt, schwach demütig gehorsam der Wandrer durch sie. Deutlicher gesagt: die Romane waren dualistisch angelegt, ein moralischer theologischer Sinn in den Erscheinungen, das Apriori, einerseits - der Sucher des Sinns andrerseits. War er aufsässig und empfand Vielheit oder Gleichzeitigkeit der Gesichtspunkte, blieb ihm nichts übrig als zum Mittel des Nacheinander zu greifen wobei ihm stets passierte, daß er den letzten Gesichtspunkt doch als den wahren erklärte - nachgebend durch Resignation oder Harmonie machte er seinen Frieden, der Roman war aus und nichts gesagt, Gleichzeitigkeit nicht gestaltet. Verworfen Dualismus, proklamiert Monismus der mit Aufklärung der Naturwissenschaft nichts zu tun hat. Der Sinn ist nicht in den Erscheinungen, er ist im Wandrer der ihn in sie trägt. Aber es erhebt sich die entscheidende Frage, ob der so hineingetragene Sinn Willkür sei oder nicht vielmehr auch er das Ergebnis der Beschäftigung mit den Erscheinungen der Existenz also doch Reflex des Sinns den man in dem Phänomen Existenz zu finden glaubt. Ganz recht: der Sinn den man zu finden glaubt, den man also mitbringt, aus dem die Produktion erst entspringt - es handelt sich um einen Zentralismus von noch nicht erreichter Intensität, es entrollt die Welt einem Hirn als Vorstellung.« 212 Mit am aufschlußreichsten und eindrucksvollsten überhaupt wird die hier theoretisch postulierte Umorientierung wohl in Musils Törleß beschrieben, wo die Titelfigur die erkenntnistheoretische Wendung vom Objekt zum Subjekt 213 wie folgt ausdrückt: »[...] nicht diese Dinge leben, nicht Basini hatte zwei Gesichter, - aber in mir war ein zweites.«214 Was sich hier abspielt - »Das große - Ereignis: die Welt in - einem - Kopf!« 215 -, ist, prinzipiell, schon bei Hegel angelegt, der nicht nur den »Humanus« als das alles umfassende dichterische Subjekt ins Visier nimmt,216 sondern auch dezidiert von der Poesie fordert, »daß sie die äußere vorgefundene Gelegenheit nicht als den wesentlichen Zweck und sich dagegen nur als ein Mittel betrachtet und hinstellt, sondern umgekehrt den Stoff jener Wirklichkeit in sich hineinzieht und mit
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A . a . O . , S. 10. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 86ff., (»Der Held im polyphonen Roman«) arbeitet für die russische Literatur diesen Übergang am Beispiel Gogols und Dostojewskijs heraus. Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (in: R. M., Sämtliche Erzählungen, Reinbek bei Hamburg 1968), S. 137. Walter Höllerer, Die Elephantenuhr, Frankf. a.M. 1973, S. 296; vgl. auch a . a . O . , S. 84. Hegel, Ästhetik, Bd. 1, S. 581.
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dem Recht und der Freiheit der Phantasie gestaltet und ausbildet«.217 Bei Flake liest sich das so: »Material ist alles außer mir, alles werde Geist. Aus Material die Stadt des Hirns aufbauen.«218 In der Tat: »Der vorstellende Akt und das vorgestellte Etwas bilden ein unauflösliches Ganzes.« Keinesfalls jedoch hat es »auf diese Unauflöslichkeit« erst »der moderne Künstler abgesehen«.219 Die Wirklichkeitsillusion als Ausdruck der kategorialen Konvertibilität von Literatur und Realität, bestimmendes Moment des Realismus, basiert nicht weniger auf der Subjekt/ObjektIdentität, freilich mit anderer Gewichtung. Um den Unterschied beider Konzeptionen zu markieren, wird daher im folgenden je nach Sachlage entweder von Subjekt-Objekt oder aber von Subjekt-Ob)tki die Rede sein. Als eine Art Grenzscheide zwischen ihnen fungiert der Ich-Roman. Idealistische Epistemologie liegt im einen wie im andern Fall zugrunde. Nur expliziert die Moderne, was der Realismus - Geist in der Flasche - nach Möglichkeit verschlossen hielt. Zumal die Romane Döblins bestätigen den Sachverhalt nachdrücklich, indem sie ihn zum fortwährenden Thema machen, als wollten sie ihn, wie in einem Ritual, stets aufs neue hervorkehren. Berge, Meere und Giganten ist ein Buch vom Verschlingen und Verschlungenwerden ebenso wie Wallenstein, wo sich zu Beginn Kaiser Ferdinand in einer veritablen Freßorgie alles irgend Erdenkliche einverleibt, um am Ende seinerseits im Wald zu verschwinden, buchstäblich in ihn einzugehen, wie vor ihm schon Wang-lun und nach ihm die Konquistadoren in Amazonas: Übergänglichkeit.220 Ähnliches, in mancher Hinsicht vielleicht sogar noch Aufschlußreicheres findet sich in der Stadt des Hirns. Über den Protagonisten Lauda heißt es da: »Er rückte den Diwan in die Mitte, entblößte den Oberkörper und streckte sich aus; nun fraß ihn die Sonne, legte sich wie Mund auf ihn, verschlang. Aufgezehrt werden, stofflich in ein andres Übergehn, stärkster Vollzug der Hingabe, Mysterium des Kannibalismus. Wir fressen selbst, dachte er, und haben den Geschmack der Dinge, intimste letzte Kenntnis, die Menschen möglich ist: sie ist Erkenntnis.«221 »Ich«, erklärt der Erzähler des Butt, »das bin ich jederzeit.«222 Und weil »die Köchinnen in« ihm sind, wollen sie »raus alle neun oder elf«. 223 Wiederum bleibt festzuhalten: Nicht »Verinnerung«, sondern (idealistische) Konvertibilität der verschiedenen Bereiche hat statt. Durchaus nicht setzt »der Erkenntnis-
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A . a . O . , Bd. 2, S. 361. Flake, Die Stadt des Hirns, S. 27. Karl August Horst, Das Spektrum des modernen Romans. Eine Untersuchung, München 2 1964, S. 180. Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem auch Alfred Döblin, Berge, Meere und Giganten, München 1980, S. 9f.: »Zueignung«. Flake, Die Stadt des Hirns, S. 58. Günter Grass, Der Butt, Darmstadt und Neuwied 1977, S. 9. A . a . O . , S. 13.
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anspruch des Romans«, wie man gemeint hat, erst mit dem Auftreten von »Reflexion und Essayismus« ein, 224 vielmehr sind diese Erscheinungen lediglich besonders markante Manifestationen einer lange vorher schon bestehenden und auch in ganz anderen Formen noch enthaltenen literarischen Epistemologie. Diese freilich gewinnt nun, in der nachrealistischen Situation, eine neue Qualität. Die Verlagerung vom Objekt zum Subjekt ist, bedenkt man die Konsequenzen, mehr als nur die Verschiebung eines Akzents. Aus der (insbesondere von den Realisten) so häufig apostrophierten Lebenswahrheit wird die Wahrheitsproblematik des erlebenden Subjekts. Erlebte Rede und, stärker noch, innerer Monolog, am konsequentesten in Schnitzlers Leutnant Gustl, belegen diese Tendenz, versuchen, die Identität im sprechenden Subjekt bruchlos zu realisieren. Das Erinnerte, ein Hauptstrukturmerkmal realistischer Texte, weicht dem Akt des Sicherinnerns, wie vor allem Prousts Recherche oder Rilkes Malte demonstrieren. Bezeichnenderweie kommt es um die Jahrhundertwende zum Postulat eines lyrischen Romans, 225 das in gewisser Weise Brochs Tod des Vergil tatsächlich einlöst.226 Plausibel wird in diesem Zusammenhang auch, daß und warum die Theorien Ernst Machs in diesem Zeitraum eine so zentrale Bedeutung für die Literatur geradezu erlangen mußten, behauptet er doch, »das Ich« könne »so erweitert werden, daß es schließlich die ganze Welt umfaßt«. 227 Die Lösung des epistemologischen Problems scheint somit von der Subjektseite her ein für alle Male gelungen. Im selben Sinn läßt sich Hermann Bahr vernehmen, wenn er, um die verlorene »Einheit« (von Subjekt und Objekt) wiederzugewinnen und »wahr« zu werden, fordert: »Wir haben nichts als das Außen zum Innen zu machen, daß wir nicht länger Fremdlinge sind, sondern Eigentum erwerben.« Denn die Wahrheit »ist da, draußen. Wir wollen sie einführen in die Seele - der Einzug des auswärtigen
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Schramke, S. 149 ff. Auch Martini, Das Wagnis der Sprache, S. 439, schreibt »Dichtung als >ErkenntnisDie wilde JagdGanze< aneignet, oder aber durch den Anspruch, wie auch immer - die gesellschaftliche Totalität darzustellen. Umgekehrt konstatiert Döblin, »>Ulysses< von Joyce«, S. 288, »die Zusammenhanglosigkeit [...] des Daseins überhaupt« sei »der Kernpunkt der sogenannten Krisis des heutigen Romans«. Brief an Frau D. Brody vom 16. Juli 1930; in: Materialien zu Hermann Brochs »Die Schlafwandler«, hg. v. Gisela Brude-Firnau, Frankf. a.M. 1972, S. 50; beim Autor kursiv. Ausdrücklich konfrontiert Broch den »erkenntnistheoretischen Roman« mit dem »psychologischen« (a.a.O.). Vgl. zur »erkenntnistheoretischen Aufgabe« des modernen Romans auch Durzak, Gespräche über den Roman, S. 17f. Ebenfalls betont diese Prägung Schramke, S. 59ff., und Migner, Theorie des modernen Romans, eruiert »Wahrheitsfindung« als »vorrangiges Ziel« (S. 59). Uwe Johnson, »Berliner Stadtbahn«, in: Romantheorie 2 (S. 334-337), S. 337. »Wahrheitsfindung zu betreiben« ist die erklärte Absicht auch des »Verf.« in Heinrich Bolls Gruppenbild mit Dame (München 1974, S. 311). 37
vielleicht, daß ich die Zusammenhänge besser ergründe oder richtiger auslege - schreibe ich mein Wissen nieder.« 243 Das Verlorene tritt prononciert hervor im Ritus der Beschwörung. Döblins Giganten-Roman transponiert die angestrebte Kongruenz von Subjekt und Objekt gleichsam in Handlung, macht sie selbst zum Gegenstand des Erzählens: »Die fleischernen blühenden welkenden Menschenwesen lagen über dem südlichen Faltenland Europas.« 244 Und von G, dem Semiologen in Höllerers Elephantenuhr heißt es: »Er sucht, Nase am Boden, Lupe in der Hand, ein Auge zugekniffen, seine Spur.«245 Die »Frage der Synchronisation«,246 schon anfangs aufgeworfen, ist gleichbedeutend mit der erkenntnistheoretischen Problematik. Während Buddenbrooks, die mit einem akzentuierten »Was ist das?« einsetzen, noch mit der trotzig bestimmten Antwort »Es ist so« aus dem Munde der Sesemi Weichbrodt enden, die, wie das weitere Werk Thomas Manns zeigt, nicht zuletzt dem Erzählen selbst gilt, das sich hier - mit fast programmatischer Emphase - soeben noch einmal zu bestätigen vermag, wird das epische »So war es«247 in der Folge zunehmend brüchig. Was zuvor >gestaltet< und somit verborgen war, tritt jetzt ans Licht. Dezidierte Erkenntnistheorie anstelle von (bloß) realisierter Epistemologie. In diesem Sinn ist das Frage- und Antwortspiel im Dritten Buch über Achim zu verstehen: »1st das genau wie Achim es gesagt hat? Das ist nach Gedächtnis aufgeschrieben.« 248 So auch die Problematisierung des Ich-Erzählers und seiner scheinbar Authentizität verbürgenden Rolle in Thomas Manns Doktor Faustus.249 Wenn Die Elephantenuhr mit dem Satz beginnt: »Es ist richtig, d. h. für eine andere Annahme gibt es keinen zureichenden Grund«, 250 so liefert dieser Anfang gleichsam das abstrakte Muster des erkenntnistheoretischen Romans, der die Frageform durch die, wie sich herausstellt, nur scheinbar gesicherte Aussageform hindurchscheinen läßt, ein Verfahren, das sich im weiteren Verlauf des Textes mit dem periodisch wiederkehrenden »ich sehe« - variiert durch »Es ist richtig« - fortsetzt.
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Hans Henny Jahnn, Fluß ohne Ufer (Η. H. J., Werke, Bd. 2), S. 199. Döblin, Berge, Meere und Giganten, S. 511; vgl. auch a . a . O . , S. 510. Höllerer, Die Elephantenuhr, S. 235. A.a.O., S.7. Thomas Mann, »Die Kunst des Romans« (in: Th. M., Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie 2, Frankf. a.M. u. Hamburg 1968, S. 350-360), S. 351. Uwe Johnson, Das dritte Buch über Achim, Frankf. a.M. und Hamburg 1969, S. 69. Vgl. auch a . a . O . , S. 35: » [ . . . ] ist das so, kann man das so sagen?« Serenus Zeitblom vermerkt ausdrücklich: »Bei meiner Darstellung, meinen Berichten möge der Leser nicht fragen, woher denn das einzelne mir so genau bekannt ist, da ich ja nicht immer dabei, dem verewigten Helden dieser Biographie nicht immer zur Seite war« (Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Werke, Bd. 9, S. 149). Höllerer, Die Elephantenuhr, S. 7.
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Selbst Autoren, die das traditionelle Erzählen prolongieren oder doch jedenfalls zu prolongieren sich bemühen, meinen, auf den Gestus der Bekräftigung, zweifelsfreies Symptom einer Krise, nicht verzichten zu können. So ist in den Grasschen Hundejahren zu lesen: »Brauksei hat sich also, wie vorgesehen, übers Papier gebeugt, hat, während die anderen Chronisten sich gleichfalls und termingerecht über die Vergangenheit gebeugt und mit den Niederschriften begonnen haben, die Weichsel fließen lassen.«251 Die als Kongruenz erscheinende Übereinstimmung von Literatur/Schreiben (Subjekt) und Realität (Objekt) fungiert hier sozusagen als Selbstverständlichkeitstopos, der sich der insistierenden Nennung bedient. Auffällig thematisiert wird Erkenntnis ebenfalls bei Heimito von Doderer, einem Romancier, der sich bewußt an Spielhagen und dessen Theorie anschließt. Das prononcierte Realisieren von Wahrheit, von Wahrheitsmomenten, das so vielen seiner Figuren widerfährt,252 zeigt, daß und wie sehr selbst solche Texte in den Sog der allgemeinen literarhistorischen Problematik geraten, die die Veränderungen mitzumachen, sich eigentlich sträuben. Auch die »Schwierigkeiten«, die Siggi Jepsen, Protagonist von Siegfried Lenz' Deutschstunde mit dem Erzählen hat, sind im Wortsinn erkenntnistheoretische, wie die Metaphorik seiner Einlassung ausweist, »daß der Anker der Erinnerung nirgendwo faßte, die Kette straffte, sondern nur rasselnd und polternd, bestenfalls Schlamm aufwirbelnd über den tiefen Grund zog, so daß keine Ruhe eintrat, kein Stillstand, der nötig ist, um ein Netz über Vergangenes zu werfen«.253 Die hier ex negativo bestätigte Entwicklung kündigt sich im Grunde schon im Realismus an, jedenfalls in dessen Spätphase. In den Geschichten C. F. Meyers geht es fast stets mehr oder weniger ausdrücklich um Wahrheit. Und wenn am Ende von Raabes Prinzessin Fisch die Rede ist von »dieser wahrhaftig wahren Geschichte«, 254 macht die Tautologie die Fragwürdigkeit der getroffenen Aussage nur allzu deutlich. Bis zu einem gewissen Grade signalisiert wird dieser Prozeß auch durch die Figur des Detektivs, die Erkennt-
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Günter Grass, Hundejahre, Neuwied und Berlin 1963, S. 19. Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre (München 1979), S. 185, beschreibt die auch für diesen Autor gültige Ausgangssituation: » [ . . . ] plötzlich ist da wieder ein Loch, zwischen einem Begriff etwa und dem was wir damit meinen (ein Unruhe schaffender Fall) oder zwischen einem Menschen und seinem Namen.« Daher bedarf es erklärtermaßen der »Apperception« ( a . a . O . , S. 284). Bei Doderer ist so etwas wie eine Thematisierung realistischer Denkmuster festzustellen. So in der Strudlhofstiege, wenn »man durch einen verborgenen Eingang in die schattige Unterwelt des Vergangenen« steigt (S. 285) oder der Blick ins Hintergründige dringt ( a . a . O . , S. 286). Im Roman No 7. Erster Teil: Die Wasserfälle von Slunj (München 1971) kommt das »Wieder-Erkennen« zur Sprache (S. 188), und gegen Ende erfährt man über eine der mitwirkenden Personen: »Ihm war plötzlich, als sollte jetzt viel mehr noch sichtbar werden als ein bekannter Wasserfall, als ritte er einer Entschlüsselung oder Aufdeckung entgegen« (S. 384).
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Siegfried Lenz, Deutschstunde, München 1973, S. 13. Vgl. zudem a . a . O . , S. l l f . Wilhelm Raabe, Prinzessin Fisch, Stuttgart 1980, S. 209.
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nis (und zwar auf der Subjekt-Seite zentrierte) geradezu hervorkehrt und die mit und nach dem Realismus immer häufiger anzutreffen ist. 255 So erweist sich die Krise des Protagonisten als »eine Krise der Berichterstattung« 256 im strukturellen Sinn. Nun zeigt sich, wie wenig das »mythische Analogon« in Wirklichkeit als »zersetzt« 257 gelten kann. Waren die Helden des traditionellen, vor allem des realistischen Romans gleichsam praktische Philosophen, Personen nämlich, die mit ihrer literarischen Existenz sinnlichanschaulich Epistemologie betreiben, die Frage nach der Übereinstimmung von Subjekt und Objekt mit ihrem Leben stellen, erproben und (auf-)lösen, so wird jetzt, im Nach-Realismus, der Protagonist sozusagen von der Aussage- in die Frageform überführt. Heinrich Manns Henri IV. vollzieht diesen Wandel nahezu paradigmatisch: »Daher kam es, daß er am Handeln verzweifelte vor La Rochelle und sich dem Philosophieren ergab.« 258 »Was weiß ich?«, das Kardinalproblem von Henris Lehrer Montaigne, 259 ist dementsprechend ein dezidiert erkenntnistheoretisches. »Was ist Wahrheit?« will schon C. F. Meyers Pescara wissen. 260 Aus den herkömmlichen Romanhelden werden erklärtermaßen »Wanderer nach der Wahrheit«, wie in Thomas Manns Joseph der Urväter Abraham 261 oder John D e e in Meyrinks Engel vom westlichen Fenster, der ein »Leben rastlosen Suchens nach der Wahrheit« führt. 262 Umgekehrt gilt: Weil der Gott Abrahams »nicht zu erkennen brauchte«, gibt »es nichts von ihm zu erzäh-
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Sieht man von Poe und dem einen oder anderen Vorläufer ab, stehen Dickens und Collins am Anfang der Entwicklung. Conan Doyles Detektivgeschichten beginnen ab 1891 zu erscheinen. Auch bei Karl May finden sich Detektive: Tante Droll (in Der Schatz im Silbersee, 1894) und Old Shatterhand in Winnetou II. Offenbar existiert ein Zusammenhang zwischen einem Realismus, der seine beste Zeit bereits hinter sich hat, und der Blüte des Kriminalromans. Auf seine Art belegt dies sicherlich am nachhaltigsten Raabes Stopfkuchen (1891), ein Text, der im Grunde schon gegen das Genre gerichtet ist und gerade auf diese Weise seine relative - Modernität dokumentiert (vgl. hierzu Eisele, Der Dichter und sein Detektiv, insbesondere S. 62ff.). Umgekehrt sind es im 20. Jahrhundert vorwiegend der Tradition verpflichtete Romanciers, die sich der kriminalistischen Gattung bedienen: Jakob Wassermann etwa mit Der Fall Maurizius (im weiteren Sinn auch mit Kaspar Hauser); Joachim Maass' Der Fall Gouffe wäre ebenso zu nennen wie eine Reihe von Werken Heinrich Manns (vgl. hierzu 2.4.3) oder auch Arnold Zweigs Erziehung vor Verdun. Daß freilich selbst in diesen Fällen einer >positiven< Nutzanwendung des detektivischen Prinzips das Verhältnis zu dessen Grundschema als keineswegs mehr ungebrochen gelten kann, wird noch zur Sprache kommen. Nicolas Born, Die Fälschung, Hamburg 1979, S. 241. Vgl. Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, Frankf. a. M. 1976, S. 52 ff. Heinrich Mann, Die Jugend des Königs Henri IV, Düsseldorf 1976, S. 388. A.a.O., S. 391; vgl. weiter S. 392f. Conrad Ferdinand Meyer, Die Versuchung des Pescara (in: C. F. M., Werke, Bd. 1, S. 692-797), S. 794. Th. Mann, Joseph, Bd. 3, S. 1085. Gustav Meyrink, Der Engel vom westlichen Fenster, München / Wien 1975, S. 249.
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len«.263 Die (Haupt-)Figuren deklarieren sich und damit zugleich die Texte, in denen sie agieren, als das, was sie eigentlich (im kaum verborgenen) immer schon waren: detektivische Sonden. Figuren wie die des »Verf.« als »Rechercheur« in Bolls Gruppenbild, des »Berichterstatters« in Nossacks Der Fall d'Arthez, des den Maler Strauch observierenden Studenten in Thomas Bernhards Frost, nicht zuletzt natürlich der Journalist Karsch in Johnsons Drittem Buch über Achim belegen dies nachdrücklich. Aus Zeugenaussagen setzt sich das Bild Konrads in Bernhards Kalkwerk zusammen - oder auch nicht-, ebenso steht es mit den bereits zur Formel geronnenen Mutmaßungen über Jakob. Erzählen(können) heißt, daß Literatur und (außerliterarische) Realität sich in Einklang befinden, sich - prinzipiell zumindest - decken, daß der Weg vom einen zum andern möglich und gangbar ist. Über das Erzählen zu reflektieren, direkt oder indirekt, hingegen bedeutet, daß das Verhältnis, das (als erkenntnistheoretisches, als Spiegelrelation) grundsätzlich ein Kongruenzverhältnis ist, nicht nur als gestört angesehen werden muß, sondern daß darüber hinaus die Tendenz besteht, den alten Zustand, den der Kongruenz also, wiederherzustellen. Erzählen fungiert mithin als literarische Epistemologie, die sich als solche nur nicht zu erkennen gibt, erst im Stadium ihrer Problematisierung zutage tritt. Die zahlreichen Spiegel in den Texten um die Jahrhundertwende (und danach) sind vorzugsweise auf die epische Kunst selbst gerichtet, und zwar auf das »sinnliche Scheinen« (Hegel) des sich entfaltenden Begriffs, wie es der klassisch-realistische Roman praktiziert. Unter diesem Blickwinkel zuvörderst ist die Selbstreflexion zu betrachten, die der Nachrealismus betreibt. Keinesfalls also darf »die weithin versäumte Aufnahme erkenntniskritischer Mittel, die eine Darstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft gestattet hätten«, als »verursachendes Moment der Romankrise« 264 um und nach 1900 verantwortlich gemacht werden. Vielmehr muß gerade die »Auflage, Spiegel der zeitgenössischen Lebensverhältnisse zu sein«,265 das heißt eben die Fortsetzung der auch vorher schon bestimmend gewesenen Epistemologie, 266 zu Schwierigkeiten bei der epischen Produktion führen. Die Fragen, die sich dem modernen Romancier stellen, sind prinzipiell dieselben, die bereits der Realismus zu bewältigen hatte. 267 Mit diesem wurde die erkenntnistheoretische
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264 Joseph, Bd. 1, S. 322. Scheunemann, Romankrise, S. 102. 265 A . a . O . Von einer »Aufhebung der vorgegebenen Erkenntniskategorien« im modernen deutschen Roman, wie Wilhelm Emrich, »Formen und Gehalte des zeitgenössischen Romans« (in: Emrich, Protest und Verheißung, S. 169-175), S. 171, meint, kann also keine Rede sein. Es handelt sich eben nicht um die »Destruktion der überlieferten Romanform« einfach zugunsten einer »differenzierenden Beschreibung und Analyse der dargestellten Phänomene selbst« (a.a.O., S. 169). Daher beginnt mit einem Autor wie Flaubert in mancher Hinsicht die Moderne, können Fontane und Raabe (zumindest in ihrem Spätwerk) als Vorläufer der im 20. Jahrhundert virulent werdenden Probleme gelten.
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Problematik dominierend. Die >objektiven< Gegebenheiten, mit denen sich der moderne deutsche Roman vor allem auseinanderzusetzen hat, sind die Aporien, die ihm jene Literaturkonzeption als Hinterlassenschaft bescherte. Die angestrebte Gegenständlichkeit als Lebenswahrheit entpuppt sich mehr und mehr als Chimäre. In Johnsons Mutmaßungen über Jakob wird das rapide Abnehmen von »Erlebbarkeit« konstatiert: »Die Mehrwertrate ist genauso eine wissenschaftliche abstrakte Einsicht, die an den wirklichen Personen und Umständen kaum anzubringen ist, wie die Theorie vom notwendigen Sieg des Sozialismus, und die ist das vielleicht noch mehr insofern als der Sozialismus noch nicht wirklich ist und nur in den Anstalten zu seiner Einführung vorhanden: ablesbar.« 268 Einige Zeit früher hatte Brecht formuliert: »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache >Wiedergabe der Realität< etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der A E G ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.«269 Das unsichtbar gewordene Wesen sehen wollen: darin liegt das (Haupt-) Problem. Der Realismus, der in erster Linie Essentialismus ist, löste es (oder glaubte doch, es zu lösen), indem er, wie er meinte, in die Realität eindrang und deren Kern von seiner inessentiellen Schale befreite. 270 Im Nachrealismus hat sich die Situation insofern erheblich verändert, als eben diese Penetration nicht mehr möglich erscheint, jedenfalls aber das gewünschte Resultat nicht zeitigt. Die Ansicht, daß »Augenzeugen [...] das Lügen nicht kennen«, 271 beginnt zu schwinden. Was Lukäcs in der Theorie des Romans ausführt, ist demnach nicht, wie er annimmt, Charakteristikum des nachepischen Erzählens überhaupt, sondern bezeichnet die Lage der Moderne im engeren Sinn: »Das Nicht-hineindringen-Können der Ideen in das Innere der Wirklichkeit macht diese zum heterogenen Diskretum.« 272 Ähnlich läßt sich Döblin vernehmen, der als »Gegenstand des Romans [...] die entseelte Totalität« eruiert. 273 Und Der Tod des Vergil stimmt ein Klagelied an: »Oh, der ungeheure Felsberg der Wirklichkeit, der unbezwingbar sich jeglichem Eindringen widersetzt und höchstens ein Abtasten gestattet; oh, der ungeheure Wirklichkeitsfels, über dessen glatte Weglosigkeit der Mensch nur hinwegkriechen kann, angeklammert an die Glätte, immer im Absturz, immer vom Absturz gefährdet.« 274 Das »Problem der >AbbildbarkeitAugenblicks< und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der modernen Literatur«. 43
1.3 Wahrer und poetischer Diskurs - konstituierende Elemente des modernen deutschen Romans Fr. Th. Vischer stellt in seiner Ästhetik die - gut klassische - Behauptung auf: »Alles Schöne ist wahr.«284 Eben diese Gleichung aber steht zu der Zeit, in der sie formuliert wurde, durchaus in Frage, ist Postulat, nicht eigentlich Zustandsbeschreibung. Es geht nämlich - mindestens seit dem Realismus - ganz entschieden um die Möglichkeit von Kunst als Wahrheit. Daher die literarische Epistemologie, die der nachrealistische Roman, wie zu sehen war, mit solchem Nachdruck betreibt. Die Konzeption des literarischen Realismus (wie sie um 1850 definiert und diskutiert wird) sieht solches freilich nicht vor. Sie unterstellt, jedenfalls prinzipiell, das Poetische sei mit dem Wahren identisch. Deshalb führen die zeitgenössischen Theoretiker und Kritiker einen so hartnäckigen und lautstarken Kampf gegen alles, was ihnen als »Reflexion« erscheint. Diese nämlich sprengt die angenommene Einheit von Begriff und Kunst, wie sie etwa in einem Diktum Kellers aufscheint, wonach »das Volk, sobald es Luft bekommt, sogleich poetisch, das heißt es selbst wird«.285 Vor allem der Roman gewinnt mit dem Realismus geradezu seine Identität durch die Domestizierung des Abstrakt-Begrifflichen, was paradoxerweise mit Selbstnegierung einhergeht. Das Poetische - wie jeder Diskurs - erlischt tendenziell in scheinhafter Realität. Johannes Wachholder, der Erzähler von Raabes Chronik der Sperlingsgasse, will ausdrücklich keinen Roman schreiben. 286 Wie schon Wilhelm Meister lebt Kellers »Grüner Heinrich« »als Künstler [...], um zu entdecken, daß [er] keiner sei«.287 In dem Augenblick, in dem er dem Schönen in leibhaftiger Gestalt begegnet, Dortchen Schönfund 284
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Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 6 B d e . , München 2 1922, Bd. 1 . S . 9 0 . Gottfried Keller, »Die Romantik und die Gegenwart« (in: Keller, Werke, Bd. 3, S. 1017-1020), S. 1019. Vgl. Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse, S. 34. Schon der Erzähler von Wielands Agathon (Bd. 1, S. 192) will ausdrücklich kein »Romandichter« sein; vgl. auch a . a . O . , S. 84f. Serenus Zeitblom, der Narrator von Thomas Manns Doktor Faustus, spricht von »Aufzeichnungen« (Doktor Faustus, S. 284) und betont, er schreibe »keinen Roman« (a.a.O., S. 331). In Johnsons Das dritte Buch über Achim (S. 88) heißt es lapidar: »Zum andern ist dies keine Geschichte.« Trotz der zuletzt erwähnten Fälle, wobei derjenige Thomas Manns (wie natürlich auch Wieland) ohnehin der Rubrik des Ironischen zuzuordnen ist, läßt es sich nicht vertreten, den »Topos der Abschwörung«, die »Leugnung des Romans durch den Roman« (Welzig, Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert, S. 3) als charakteristisch für die Moderne anzunehmen, vielmehr gehört er in den Rahmen des Realismus und seiner Ausläufer, wozu das Beispiel Johnson nicht gar so schlecht paßt. Keller, Der grüne Heinrich, S. 1015. Vgl. auch a . a . O . , S. 910, den »Abschied von der Kunst« sowie (S. 1093) Lees »Entschluß, der Kunst zu entsagen«. Bezeichnend das »Flötenwunder« (S. 943ff.): Heinrich tauscht das Musikinstrument, das Mittel der Kunst also, gegen Geld, das Mittel zum Leben.
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nämlich, beschließt er, mit der Malerei aufzuhören. Kunst lediglich als Irr- und Umweg zum (unmittelbaren) Leben. Als »poetisch« gelten die Dinge, wenn sie »der Widerspiegelung« wert sind. 288 Die Aufhebung dieses Zusammenhangs, somit auch des Effekts der Diskursnegierung, ist das charakteristische strukturelle Merkmal des modernen nachrealistischen deutschen Romans schlechthin. C. F. Meyer exponiert in seinen Novellen sowohl das Wahre als auch das Schöne, avisiert mithin deren Trennung. »Erzähle und deute«, verlangt das Mädchen Palma in der Richterin.2*9 Thomas Buddenbrook, der zu reflektieren beginnt, nämlich Schopenhauer liest, verliert an epischer Qualität und das heißt an realistischer Lebenskraft. Aus ihm wird eine Art Schauspieler. 290 Uwe Johnson empfiehlt dem Romancier, »die schwierige Suche nach der Wahrheit« vorzuführen und »nicht für reine Kunst« auszugeben, »was noch eine Art der Wahrheitsfindung ist«. 291 War zuvor - das Keller-Zitat liefert das Paradigma - Identität poetisch, so besteht jetzt, wie es in Joseph und seine Brüder heißt, »die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind«. 292 Läßt sich über den realistischen Roman (wie den Stifters) sagen, daß »der Vorgang des Erkennens [ . . . ] als solcher im Erzählen verständlich« wird, 293 so notiert Robert Musil in seinem Tagebuch: »Der Dichter heute erzählt den Leuten Geschichten, die er ihnen erst erklären muß. Das ist (wenigstens dem Grad nach) ein Unterschied gegen früher. Und ist eine Abweichung vom Ursinn des Erzählens.« 294 Nicht minder deutlich kommt die hiermit ausgesprochene Divergenz der Diskurse zum Ausdruck in Musils Erzählung Die Amsel, in der der eine Gesprächspartner dem andern erklärt: »Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind.« 295 Damit ist nun in der Tat der »Ursinn des Erzählens«, der Benjamin zufolge konstitutiv mit der Kategorie und der Möglichkeit von Erfahrung zusammenhängt, 296 in sein Gegenteil verkehrt. 297 Wurde früher eine Geschichte erzählt, um auf diese Weise die Wahrheit zu sagen, werden hier und jetzt eben dieser Vorgang und die damit verbundenen Probleme buchstäblich gegenständlich. Das Erzählen als solches gerät im Akt der Selbstversicherung zu einem im engeren Wortsinn erkenntnistheoretischen, und umgekehrt bedeutet Reflexion Selbstthematisierung. Poetischer 288 289 290 291 292 293
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A . a . O . , S. 392. C. F. Meyer, Die Richterin, S. 344. Vgl. Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie ( = Werke, Bd. 1), S. 466. Uwe Johnson, »Berliner Stadtbahn«, S. 337. Th. Mann, Joseph, Bd. 1, S. 94. Victor Lange, »Adalbert Stifter. Der Nachsommer« (in: Der deutsche Roman, Bd. 2, S. 34-75), S. 70. Robert Musil, Tagebücher, hg. v. Adolf Frise, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 897. Robert Musil, Die Amsel (in: Musil, Sämtliche Erzählungen, S. 313-327), S. 318. Vgl. Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows« (in: Walter Benjamin, Über Literatur, Frankf. a.M. 1969, S. 33-61). In Max Frischs Gantenbein (S. 14) heißt es höchst aufschlußreich: »Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu.«
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und wahrer Diskurs stehen sich (etwa in Gestalt von »Aeins« und »Azwei« in der Amsel) im Streitgespräch gegenüber und demonstrieren, indem sie die Einheit wiederzugewinnen versuchen, ihr Gespaltensein. Was in Musils Erzählung angesprochen wird, fungiert als Kardinalthema des modernen deutschen Romans und beschreibt zugleich dessen Besonderheit im Vergleich mit den im außerdeutschen Sprachraum entstandenen Texten. Literarische Epistemologie als Folge und unter den Bedingungen der Divergenz - oder zunächst nur: Inkongruenz - des wahren und des poetischen Diskurses. Geschichten und deren Deutung, Erzählen und Erklären, werden zu konstituierenden Elementen. Das gilt für Kafkas Prozeß (mit der »Türhüter«-Parabel) ebenso wie für Berlin Alexanderplatz, an dessen Anfang die »Belehrung durch das Beispiel des Zannowich« steht, und Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende, wo es zu einer Konfrontation des Poetischen mit der - psychoanalytischen - Interpretation kommt. Serenus Zeitblom, der Biograph des Komponisten Adrian Leverkühn, führt sich ausdrücklich als »Gelehrter« ein. 298 Vergleichbares, wenn auch (noch) etwas weniger die in solcher Personenkonstellation sich abzeichnende Dichotomie betonend, geschieht bereits in einigen (späten) Romanen Raabes (Stopfkuchen, Die Akten des Vogelsangs), die ebenfalls schon die Doppelung in einen (dem Wissenschaftler angenäherten) erzählenden und einen (dem Artisten zumindest verwandten) >erzählten< Part kennen und auf diese Weise demonstrieren, daß die integrale Einheit der sprechenden und denkenden - als solche >lebendigen< - Romanperson nicht mehr ohne weiteres gewährleistet ist. Mit der Immanenz des Logos, die der realistische Erzählakt zum Dogma erhebt, geht es zu Ende. Die >Menschen< in den nachrealistischen Texten fangen an, Stimmen zu hören. Konrad in Thomas Bernhards Kalkwerk plant eine Studie über das Gehör, »das philosophischste aller Sinnesorgane«.299 Während die Konzeption des Naturalismus die Diskurskongruenz des Wahren und des Poetischen noch einmal (natur-)wissenschaftlich begründen konnte, dies zumindest versuchte - »Es ist ein Gesetz, daß jedes Ding ein Gesetz hat« lautet der einschlägige Kernsatz von Arno Holz300 - , postuliert ein 298
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Th. Mann, Doktor Faustus, S. 7. Somit wäre die geheime Identität, von der Thomas Mann in der Entstehung des Doktor Faustus spricht, nicht zuletzt auf die Diskursverhältnisse zu beziehen. Thomas Bernhard, Das Kalkwerk, Frankf. a.M.1973, S. 66. Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (zitiert nach Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892, hg. v. Erich Ruprecht, Stuttgart 1962), S. 201. Vgl. auch a . a . O . , wo Holz einen »einzigen, riesenhaften Organismus« ins Treffen führt, »dessen kolossale Glieder logisch ineinandergreifen, in dem jedes Blutskügelchen seinen Sinn und jeder Schweisstropfen seinen Verstand hat«. Fast schon naturalistisch läßt Stifter seinen Freiherrn v. Risach im Nachsommer (S. 320) die »Unendlichkeit des Geistes« beschwören, die »in der Endlichkeit einzelner Dinge liegt, in einem Sturme, im Gewitter, in der Fruchtbarkeit der Erde mit ihren Winden, Wolkenzügen, in dem Erdballe selber«. Ganz ähnlich beschreibt Fontane den Realismus: »Er umfängt das ganze reiche
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Autor des 20. Jahrhunderts wie Thomas Mann, daß zwar »der Erzähler der Raum der Geschichte ist, die Geschichte aber nicht seiner, was für ihn die Möglichkeit bedeutet, sie zu erörtern«. 301 Oder auch - für weniger dem Spielerischen zugeneigte Naturen - Notwendigkeit und Verpflichtung. Schon Spielhagen sieht der Poesie, dem Roman »die furchtbare Konkurrenz der Wissenschaften« 302 erwachsen. Es geht also nicht einfach darum, daß der moderne Roman »die anschauliche und die begriffliche Welterfassung zu vereinigen strebt«, 303 auf der Tagesordnung steht allenfalls ihre Merferverbindung. Für die Romantik gilt: »Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.« 304 Der Moderne nach dem Realismus ist dieser Zustand bereits (literar-)historisch geworden. 305 Wer dem Roman im 20. Jahrhundert vorhält, daß er, »während er dazu beitragen soll, die krisenhafte zeitgenössische Wirklichkeit zu durchdringen und zu bewältigen, [ . . . ] er doch überwiegend mit der kritischen Beobachtung seiner eigenen prekären Lage beschäftigt« sei, 306 verkennt die fundamentale Problematik, in der sich die Literatur (in der gegebenen Situation) befindet; diese besteht nämlich darin, daß die Notwendigkeit des zweiten - die Beobachtung der »eigenen prekären Lage« - aus der Unmöglichkeit des ersten - »die krisenhafte zeitgenössische Wirklichkeit zu durchdringen« - schlechterdings resultiert. So kommt es, daß Musil Mühe hat, einen »denkenden Menschen« darzustellen, 307 daß Benn - sich - fragt, warum man denn Gedanken in jemanden »hineinkneten« solle. 308 Das apostrophierte Dilemma 309 ist nicht voluntaristisch zu lösen,
Leben, das Größte wie das Kleinste: den Kolumbus, der der Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wassertierchen, dessen Weltall der Tropfen ist.« (Theodor Fontane, »Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848«; in: Fontane, Werke, Bd. 14, S. 115.) »Der sich allgemein durchsetzende empiristische Wahrheitsbegriff der Naturwissenschaften desavouiert den Anspruch von Kunst und Literatur auf Welterkennen« somit nicht, wie Klaus-Michael Bogdal (Schaurige Bilder. Der Arbeiter im Blick des Bürgers am Beispiel des Naturalismus, Frankf. a. M. 1978, S. 10) annimmt, vielmehr garantiert er ihn zunächst sogar eher noch einmal. 301 302
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Th. Mann, Joseph, Bd. 3, S. 963. Friedrich Spielhagen, »Das Gebiet des Romans« (in: Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, S. 3 5 - 63), S. 40f. Schramke, S. 155. Friedrich Schlegel, »Kritische Fragmente« (in: Fr. Schlegel, Kritische Schriften, hg. v. Wolfdietrich Rasch, München 2 1964, S. 5 - 2 4 ) , S. 22. Das übersieht auch Heißenbüttel, der (in: Helmut Heißenbüttel / Heinrich Vormweg, Briefwechsel über Literatur, Neuwied und Berlin 1969, S. 64) von »einer historisch progressiven Vermittlung zwischen Philosophie und Roman« spricht. Schramke, S. 166. Vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (in: R. M., Gesammelte Werke in neun Bänden, hg. v. Adolf Frisi, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 1), S. 111. Vgl. Gottfried Benn, Roman des Phänotyp. Landsberger Fragment, 1944 (in: G. B . , Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. v. Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1968, Bd. 5, Prosa, S. 1324-1376), S. 1326. Schramke, a . a . O .
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die Aufmerksamkeit und das analytische Interesse sind vielmehr auf die Problematik als solche zu richten, auf die, wie Thomas Mann den Teufel im Doktor Faustus feststellen läßt, »geradezu unüberwindlichen Schwierigkeiten heutigen Komponierens«, 310 das heißt der Kunst überhaupt. Jene seien ausdrücklich - »nicht auf gesellschaftliche Zustände« zu schieben, sondern: »Die prohibitiven Schwierigkeiten des Werks liegen tief in ihm selbst.«311 Anders als in der Romantik, die zu Unrecht allzu oft und allzu leicht(fertig) mit ihr in Parallele gesetzt wird, findet in der Moderne eine Ontologisierung des Kunstproblems statt. An die Stelle einer Literaturauffassung, die sich als angewandte Gesellschaftskritik versteht, muß daher buchstäblich Literaturkritik treten, im Sinne einer Kritik der Literatur, ihrer Ideologie, was den herkömmlichen literatursoziologischen Ansatz zwar nicht ausschließt, ihm aber doch einen anderen, bescheideneren Rang zuweist. Dieses Postulat, von der Literatur her zu denken, was nicht mit Ästhetizismus zu verwechseln ist (ganz im Gegenteil: dessen fundamentale Kritik beinhaltet), braucht durchaus nicht auf das Gebiet der literarischen Moderne, gar des modernen deutschen Romans eingeschränkt zu werden, erweist sich in diesem speziellen Fall jedoch als besonders notwendig und fruchtbar. Wieder liefert Thomas Manns Faustus die - detaillierte - Begründung, ersetzt man nur Musik durch Literatur: »Seit vierhundert Jahren hat alle große Musik ihr Genügen darin gefunden, diese Einheit als bruchlos geleistete vorzutäuschen, sie hat sich darin gefallen, die konventionelle Allgemeingesetzlichkeit, der sie untersteht, mit ihren eigensten Anliegen zu verwechseln [...] durch die unermüdliche Aussöhnung ihrer spezifischen Anliegen mit der Herrschaft der Konventionen hat sie an dem höheren Schwindel gleichwohl nach Kräften teilgenommen. Die Subsumtion des Ausdrucks unters versöhnlich Allgemeine ist das innerste Prinzip des musikalischen Scheins. Es ist aus damit. Der Anspruch, das Allgemeine als im Besonderen harmonisch enthalten zu denken, dementiert sich selbst.«312 Deshalb steht am Ende der Geschichte des »deutschen Tonsetzers« die Anrufung, die die Spaltung von spezifisch Biographischem, zugleich der Kunst, und der generellen Historie in Szene setzt, gerade indem sie beides gemeinsam nennt. 313 Der Roman des Diskurses wird also nicht allein zum Diskurs über den Roman, sondern mehr noch: zum Roman der Diskurse. Nach der Auflösung ihrer Kongruenz entsteht ein dezidiert literarischer Text, als dessen nunmehr erkennbare und unterscheidbare Elemente die Instanzen des Wahren und des Poetischen fungieren. 314 Das »Abenteuer der Schreibweise« (Ricardou) voll310 311
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Th. Mann, Doktor Faustus, S. 242. A . a . O . , S. 241. »Das Komponieren selbst ist zu schwer geworden, verzweifelt schwer.« ( A . a . O . , S. 240.) 313 A . a . O . , S. 242. Vgl. a . a . O . , S. 510. Den Terminus »poetischer Diskurs« verwendet auch della Volpe (Kritik des Geschmacks, S. 13f., 55), freilich in einer anderen, den wahren Diskurs implizierenden Bedeutung.
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zieht sich als Relation und Problematik der Diskurse, >erzählt< wird, was sich abspielt bei und nach ihrer Trennung. Zugleich gerinnt so die zuvor bestehende Poetologie, idealtypisch repräsentiert durch den realistischen Text, zur Vorgeschichte, auf die der nachrealistische Roman zwar ständig Bezug nimmt und ohne die er nicht zu denken ist, mit der er aber andererseits nicht verwechselt werden darf und deren Literatur als >Wirklichkeit< fetischisierende Kategorien prinzipiell keine oder jedenfalls keine vorrangige Gültigkeit mehr bei seiner Analyse beanspruchen können, statuieren sie doch, was er gerade in Frage stellt. Anders formuliert: Es sind eben diese Kategorien selbst (auch die Möglichkeit ihres Weiterbestehens), die zum bewegenden Moment der Texte und damit notwendigerweise zum Thema von deren wissenschaftlicher Betrachtung werden. D a ß das Erzählen sich selbst zum Gegenstand erhebt im modernen Roman des 20. Jahrhunderts kann gewiß nicht als neue Einsicht gelten; aber wie es das tut, in welchem (bisher erheblich unterschätzten) Maße und unter welchen in der Beschaffenheit des literarischen Diskurses liegenden Bedingungen, ist ein noch nicht einmal abgestecktes, geschweige denn bearbeitetes Feld. So dürfte das, was man gelegentlich mit dem Hilfsbegriff der Allegorie oder auch »Allegorisierung« als zentrales Strukturmerkmal des modernen Romans dingfest zu machen versucht hat, 315 im Rahmen und mit Hilfe der hier entwickelten und im weiteren Verlauf zu konkretisierenden Diskurstheorie erheblich präziser zu fassen sein. Die sogenannte Krise des Romans wird im kritischen Diskurs, den dieser beziehungsweise seine einzelnen Elemente mit sich selber führen, in ihrer spezifischen Qualität erkennbar. Adrian Leverkühn, Thomas Manns »Doktor Faustus«, faltet die beiden Diskurse (des Wahren und des Poetischen) auseinander, wenn er sagt: »Kunst [ . . . ] will Erkenntnis werden.« Wenig später: »Und wie will Kunst als Erkenntnis leben?« 316 Freilich sind solche Zweifel ebenfalls alles andere als originell, vielmehr hat das Thema Literatur, genauer: Roman als Wahrheit, eine keineswegs kurze Geschichte, wie die lang andauernde Gattungsdiskussion zu zeigen vermag. Nicht generell begriffslos, wie ein weit verbreitetes Vorurteil besagt, trat die Poesie, schon gar im Roman, durch Jahrhunderte auf, sondern, was etwas vollkommen anderes ist, begriffsverhüllend.3" Die klassische Definition
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Vgl. etwa Gunter Reiß, »Allegorisierung« und moderne Erzählkunst. Eine Studie zum Werk Thomas Manns, München 1970, oder auch Schramke, S. 149, der meint: »Die hier nur angedeutete allegorische Struktur des modernen Romans verdiente eine eingehendere Untersuchung.« Th. Mann, Doktor Faustus, S. 181. Als einziger, so weit ich sehe, betont v. Graevenitz »die ganz ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Reflexion und Epik« (Die Setzung des Subjekts, S. 141) mit der gebotenen Zielrichtung. Er schreibt: »man kann sagen, der Essay im Roman sei die gegenüber der Illusion selbsttätige Begrifflichkeit, sie kann darum gar nicht Fremdkörper im Roman sein, es sei denn, dieser werde nur vom Standpunkt der kaschierten Begrifflichkeit der Illusion aus gewertet.« ( A . a . O . )
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symbolischer Kunst, die bis tief ins 19. Jahrhundert hinein bestimmend bleibt, belegt die These von den - kaschierten - zwei Diskursen eindrucksvoll genug.318 Danach sollte der Dichter »im Besondern das Allgemeine schauen [...]. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.«319 Hegels fundamentale Bestimmung des Schönen als »sinnliches Scheinen der Idee«320 formuliert im Grunde denselben Sachverhalt, zumal wenn man seine weiteren Ausführungen zu diesem Thema berücksichtigt. So schreibt er, das Kunstwerk solle »einen Inhalt nicht in seiner Allgemeinheit als solchen, sondern diese Allgemeinheit schlechthin individualisiert, sinnlich vereinzelt vor die Anschauung stellen«.321 Und weiter, speziell über den literarischen Text stellt er fest, daß »die Poesie nicht das Allgemeine in wissenschaftlicher Abstraktion zu ihrem Gegenstande hat, sondern das individualisierte Vernünftige zur Darstellung bringt«.322 Besonders der zuletzt geäußerte Gedanke belegt die Notwendigkeit literarischer Epistemologie, da die Erkenntniskonzeption buchstäblich als Basis von Kunst fungiert. Das scheinbar nichts als Mimetische erweist sich als ausgesprochene Diskursfrage. Aus allem spricht das Postulat der Kongruenz des Wahren und des Poetischen, wobei letzteres stets als Überlagerndes gedacht wird. Was seit der Klassik unter der Flagge der Übereinstimmung von Form und Inhalt segelt, beschreibt diesen Zustand durchaus präzise. Auch Friedrich Schlegel schließt sich nicht aus, wenn er, im »Brief über den Roman«, »die Zauberworte der Poesie« vom »heiligen Hauch« »durchdrungen und beseelt« sein läßt. 323 Am markantesten ausgeprägt ist diese Vorstellung zweifellos in dem, was man die hegelianische Linie der Literaturgeschichte nennen könnte (wobei immer in Rechnung zu stellen bleibt, daß diese sich nicht direkter Einwirkung verdankt, sondern lediglich als spezieller Fall sehr viel allgemeiner verbreiteter Vorstellungen zu betrachten ist). Der Meister selbst dekretiert in aller wünschenswerten Klarheit: »Wahrhafte Kunstwerke sind eben nur solche, deren Inhalt und Form sich als durchaus identisch erweisen.«324 Einige Jahrzehnte später konstatiert Spielhagen: »Was ist also ein Kunstwerk? Eine zur 318
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Zum Symbol als >verhülltem< Begriff vgl. auch Wilhelm Emrich, »Symbolinterpretation und Mythenforschung. Möglichkeiten und Grenzen eines neuen Goetheverständnisses« (in: W. E., Protest und Verheißung, S. 67-94), insbesondere S. 93f. Johann Wolfgang Goethe, »Maximen und Reflexionen« (in: Goethe, Werke, Bd. 9, S. 497-677), S. 529. Hegel, Ästhetik, Bd. 1, S. 117. A . a . O . , S. 60. Hegel, Ästhetik, Bd. 2, S. 343. Friedrich Schlegel, »Gespräch über die Poesie« (in: Kritische Schriften, S. 473-529), S. 513. Vgl. auch Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, S. 562, wo der Dichter - nach den Worten des Grafen Friedrich - »den ewigen Geist Gottes [ . . . ] durch rechte Worte und göttliche Erfindungen verkünden und verherrlichen« soll. Hegel, Wissenschaft der Logik; zitiert bei Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankf. a.M. 1966, S. 10.
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Erscheinung gebrachte (objectivierte) Idee.« 325 Kategorisch verlangt er vom Romandichter »die absolute Kongruenz zwischen Idee und Form«. 326 Noch Adorno bestätigt in seiner Ästhetischen Theorie ex negativo den Grundsatz der Diskurskongruenz, wenn er, das Ästhetische abgrenzend, betont: »Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis.« 327 Schon der anschaulich dargebotene Kausalnexus, den Blanckenburg zu einem Eckpfeiler seiner Romantheorie macht, ist prinzipiell, das heißt hinsichtlich des darin sich äußernden literarischen Denkens, nicht gar so weit entfernt von Hegels »sinnlichem Scheinen der Idee«. In und mit dem Realismus aber erfährt diese Forderung ihre Radikalisierung. Das Schöne (in der Natur wie in der Kunst) müsse »vorher gedacht« sein, heißt es in Kellers Grünem Heinrich?2* Bei Raabe, in der Chronik der Sperlingsgasse, treibt der »Weltgeist« sein Wesen. 329 Die poetischen Lokalitäten, darunter eben die Sperlingsgasse, später, in Stopfkuchen, die »Rote Schanze« oder das Stiftersche »Rosenhaus« im Nachsommer, sind zugleich Orte des Essentiellen, an denen das Artifizielle mit dem Wahren sich trifft. 330 Nur wo beides bruchlos vereinigt ist, gilt authentische Kunst als geleistet. Der Logos spielt die erste Geige, aber er hat sich bedeckt zu halten. Es ist diese Konzeption von Literatur, des Romans, aufgrund derer Spielhagen an Goethes Wahlverwandtschaften moniert, sie seien weniger poetisch als etwa Fontanes E f f i Briest.231 Die Stimme, die von außen kommt und auf sich selbst verweist - »Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter« - , verfällt dem Verdikt. Daher auch, um das >positive< Korrelat zu bezeichnen, die verbreitete Hochschätzung des Dramas, für das (bei der Aufführung) in und mit den Schauspielern eben das konstitutiv ist, was als literarisches Ideal erscheint: die Kongruenz von Körper und Stimme. Auch die Frage des sogenannten persönlichen Erzählers, dessen Verschwinden Wolfgang Kayser zum Hauptsymptom für die neuzeitliche »Krise des Romans« erklärt hat, dürfte mit diesem Denken aufs engste zusammenhängen. Erzählen (als die Grundform des Epischen schlechthin) beruht ja auf (der Illusion) der
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Zitiert nach Romantheorie 1, S. 354. Zitiert a . a . O . , S. 358. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 191. Keller, Der grüne Heinrich, S. 300. Vgl. auch den »weltlichen Geist« a. a. O., S. 327. Vgl. Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse, S. 78, 143f. Besonders deutlich wird dies im Nachsommer durch die Statue, die - an zentralem Ort - im Rosenhaus steht. Treffend bezeichnet Emil Staiger (»Adalbert Stifter: Nachsommer«, in: E. S., Meisterwerke deutscher Sprache aus dem neunzehnten Jahrhundert, München 1973, S. 163-176; Zitat S. 172) als das »Glück des Rosenhauses« das »Wohnen in der Wahrheit«. Auch im 20. Jahrhundert fallen in Räumen wie der »roten Kammer« in Musils Törleß oder dem »Zimmer« in Leonhard Franks Die Räuberbande, wo nicht umsonst gerade Literatur zu finden ist, wahrer und poetischer Diskurs zusammen. Vgl. hierzu Friedrich Spielhagen, Die epische Poesie und Goethe. Festvortrag (Sonderdruck aus dem Goethe-Jahrbuch Bd. 16, 1895). 51
lebendigen Stimme, die Realität anschaulich und gegenwärtig macht, so wie es in der epischen Ursituation durch den Sänger oder eine andere erzählende Instanz geschieht. Umgekehrt dürfte das sogenannte Erzählerproblem wesentlich auf die Nicht- beziehungsweise die nicht vollständige Integrierbarkeit der Stimme zurückzuführen sein. Der Akt der literarischen >Verlebendigung< funktioniert als gegenläufige Analogie zur Schöpfung; statt der Beseelung der Materie vollzieht sich die Verkörperung des Geistes. Der Autor versteht sich als Leibgeber. 332 Reflexionen und mehr noch der sogenannte Essayismus bedeuten somit ein Überlappen des wahren Diskurses gegenüber dem poetischen. Sie sind, wie gesagt, nicht eigentlich Fremdkörper, sondern vielmehr der dem literarischen Corpus nicht eingefügte oder einzufügende Diskurs. Der notorische »Halbbruder des Dichters« verdankt diesen Status vor allem der ungenügenden Kongruenz seines Produktes mit dem poetischen Diskurs, das geht aus einschlägigen Äußerungen Schillers deutlich hervor. 333 Wie es richtig ist, demonstriert dagegen Herr Reinhart in Kellers Sinngedicht. Besorgt »um seine Augen stellte er sich alle die guten Dinge vor, welche man mittelst derselben sehen könne, und unvermerkt mischte sich darunter die menschliche Gestalt, und zwar nicht in ihren zerlegten Bestandteilen, sondern als Ganzes, wie sie schön und lieblich anzusehen ist und wohllautende Worte hören läßt«.334 Ein Bild von einem Protagonisten. Denn »der lebendige Mensch selber, das sprechende Individuum allein ist der Träger für die sinnliche Gegenwart und Wirklichkeit eines dichterischen Produkts«. 335 So bietet der Romanheld, eine epistemologische Konstruktion, wie sich gezeigt hat, gleichzeitig die Gewähr dafür, daß sich - im Rahmen des erzählerischen Textes - das Literarische in seiner spezifischen, von anderen Diskursarten signifikant abgehobenen Weise überhaupt verwirklichen kann. Vor allem in seiner idealtypischen realistischen Gestalt fungiert er als Schnittpunkt von Abstrakt-Allgemeinem und KonkretBesonderem, ist Exponent und Inbegriff ihrer Überlagerung.
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Conrad Ferdinand Meyer schreibt in einem Brief an Friedrich v. Wyß vom 19. 12.1883 (Briefe Conrad Ferdinand Meyers, Bd. 1, S. 90) über die historiographische Vorlage zu Das Leiden eines Knaben: »Das Geschichtchen rührte mich, und ich gab ihm Leib. Voilä tout.« Auch Jean Paul setzt in der Vorschule der Ästhetik ( = J. P., Werke, Bd. 5, München 1963), S. 43, »Körper« und »Form« des »geistigen poetischen Stoffs« gleich. Die Romanform sei »schlechterdings nicht poetisch«, äußert Schiller anläßlich des Wilhelm Meister; »sie liegt ganz nur im Gebiete des Verstandes, steht unter allen seinen Foderungen und partizipiert auch von allen seinen Grenzen« (Briefwechsel Goethe-Schiller, Goethe, Werke, Bd. 20, S. 443). Gottfried Keller, Das Sinngedicht (in: Keller, Werke, Bd. 2, S. 933-1186), S. 937. Hegel, Ästhetik, Bd. 2, S. 398f. Bachtin (Die Ästhetik des Wortes, S. 223f.) bestätigt diese Ansicht: »Um aber zum künstlerischen Bild zu werden, muß die Sprache zur Rede im sprechenden Mund werden, wobei sie sich mit dem Bild des sprechenden Menschen verbindet.«
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Man kann sagen, die Existenzform des Protagonisten klassisch-realistischer Provenienz verdankt sich geradezu der Kongruenz des Poetischen und des Wahren; und zwar geschieht dies dadurch, daß das erstere das zweite vollständig einschließt. So entsteht der Schein beziehungsweise die Vorstellung des sprechenden Menschen: Einerseits der Logos, der zur (menschlichen) Stimme säkularisiert und konkretisiert worden ist, andererseits der Körper, als dessen Innerlichkeit eben jene Stimme gedacht wird. Zentrale epistemologische Instanz, Mittelpunktsfigur, stellt der Held Wahr-Scheinlichkeit buchstäblich dar, ist er Wahrheitseffekt in Form eines Realitätseffekts. Der Dualismus von Körper und Stimme entspricht demjenigen des wahren und des poetischen Diskurses, expliziert im Verhältnis von Täter und Detektiv: So wie der erste nicht nur entlarvt werden, sondern diesen Sachverhalt auch noch durch sein Sprechen (das Geständnis) bestätigen muß, ebenso ist es Sache des zweiten, beides herbeizuführen: Der Täter muß als solcher sichtbar und hörbar sein. Wahrheit (und Wahrheitsfindung) ist im traditionellen, zumal im realistischen Roman prinzipiell verkörpert. Der Protagonist, als dessen markanter Prototyp der Detektiv gelten kann, fungiert gewissermaßen als existentieller Beweis dafür, daß der Diskurs im Wortsinn personalisiert ist, daß er figuriert. Zugleich garantiert die zentrale Romanfigur, von außen betrachtet, die Einheit des Diskurses, der in Wirklichkeit aus zwei verschiedenen, aber eben kongruenten Teilen besteht. Die erzählte Erfahrung des Helden ist mehr oder weniger identisch mit der Wahrheit, die der Text zu verkünden hat. In ihrer Kongruenz erzeugen die beiden Diskurse die Illusion gegenständlicher Realität. Während der Hegelianer Karl Rosenkranz diesen Tatbestand als »Vereinigung von Wahrheit und Dichtung« beschreibt, wodurch »ein Roman sich eben als Ideal« erweise, »so daß er, obgleich ein Werk der subjectiven Phantasie, demnach den Schein objectiver Wirklichkeit habe«, 336 wird ihn Arno Holz später in die berühmt-berüchtigte Formel fassen: »Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein.«337 Für Kellers Grünen Heinrich, wo ja ohnehin, wie schon im Falle Wilhelm Meisters, Franz Sternbalds oder Heinrichs von Ofterdingen, Lebens- und Künstlergeschichte in eins fallen, 338 ist »etwas Poetisches [...] gleichbedeutend« mit »etwas Lebendigem und Vernünftigem«. 339 Und in Ingeborg Bachmanns Malina sagt die Erzählerin zu ihrem anderen Ich: »Was du und ich zusammenlegen können, das ist das Leben.« 340 Stellt der Realismus (in Theorie und Praxis) mit seinem Postulat der Übereinstimmung von Literatur und Wirklichkeit, der Suggestion, der Text sei
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Zitiert nach Romantheorie 1, S. 266. Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze, S. 211. Vgl. auch a.a. O., S. 210. Besonders deutlich tritt dies zutage im Grünen Heinrich, wenn der Dichter Schiller als nachgerade idealer Protagonist erscheint; vgl. Keller, Der grüne Heinrich, S. 938f. A . a . O . , S. 392. Bachmann, Malina, S. 308.
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Realität und nicht Kunst, 341 zweifellos den Paradefall dieser Konzeption dar, so beginnt sich die Kongruenz der Diskurse bereits im Spätrealismus zu lösen, die beiden Teile fangen an, fast unmerklich zunächst, sich gegeneinander zu verschieben. Raabes Stopfkuchen benennt die explizit nichtbegriffliche Bestimmung des Poetischen, 342 die der realistische Roman, würde er seiner eigenen Poetik konsequent treu bleiben, lediglich und ausschließlich erfüllen müßte. Und über seinen Stechlin, den anderen bedeutenden Referenztext des deutschen Romans beim Übergang zur Moderne, schreibt Fontane, dieser sei »eigentlich bloß eine Idee, die sich einkleidet«.343 Damit wird - jedenfalls verbal - getrennt, was für den herkömmlichen und insbesondere für den realistischen Roman konstitutiv eins ist, zumindest so erscheinen sollte. Im Stechlin selbst bedarf es schon eines Paktes zwischen dem >Fabelwesen< Melusine und dem Pastor Lorenzen, um die beiden auseinanderdriftenden Diskurse soeben noch einmal zu verbinden. Ein ganzes Stück weiter in der Gefahrenzone entwirft Thomas Mann gleichsam eine Mythologie der Diskurskongruenz, wenn er, in Joseph, von einem »Roman der Seele« zu berichten weiß, »der dort mit den dafür zur Verfügung stehenden Worten kurz referiert wurde: der Urmenschenseele, die, wie die ungestalte Materie, eines der anfänglich gesetzten Prinzipien war, und deren >Sündenfall< die bedingende Grundlage für alles erzählbare Geschehen schuf. Von Schöpfung kann hier wohl die Rede sein; denn bestand der Sündenfall nicht darin, daß die Seele, aus einer Art von melancholischer Sinnlichkeit, die bei einem der Hochwelt angehörigen Urprinzip überrascht und erschüttert, sich von der Begierde überwältigen ließ, die formlose und an ihrer Formlosigkeit sogar sehr zähe hängende Materie liebend zu durchdringen, um Formen aus ihr hervorzurufen, an denen sie körperliche Lüste gewinnen könnte? Und war es der Höchste nicht, der ihr bei ihrem weit über ihre Kräfte gehenden Liebesringen zu Hilfe kam und die erzählbare Welt des Geschehens, die Welt der Formen und des Todes schuf?«344 341
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Gewiß schimmern, da es sich nicht um ein Faktum, sondern um einen (nie vollständig zu verwirklichenden) Effekt handelt, die Segmente immer wieder durch; an der Existenz und der Bedeutung der Tendenz zur Realitätsillusion ändert dies indessen nichts. Vgl. Wilhelm Raabe, Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte (in: Raabe, Werke, Bd. 2, S. 583-728), S. 663, wo der Erzähler Schaumann »Anschauung« entschieden gegen den »Begriff« ausspielt. Fontane in einem Brief an Adolf Hoffmann vom Mai/Juni 1897; zitiert nach Theodor Fontane. Der Dichter über sein Werk, Bd. 2, S. 474. Dasselbe Dokument stellt klar, daß und wie sehr gerade Der Stechlin der (freilich aufs höchste gefährdeten) poetisch-essentialistischen Topographie zugerechnet werden muß, wenn nämlich Fontane von der »halb rätselhaften Verbindung« des Sees »mit der zweiten Welt draußen« spricht: »so macht der >StechlinEs sind Bilderund wenn du dreitausend davon hättest, sähst du vielleicht ein Zipfelchen von der Wahrheit^« 345 Der Grassche Butt als eine Art Hegelscher Weltgeist ist mit dem sich als Schriftsteller deklarierenden Erzähler-Ich zwar liiert, zugleich aber deutlich von ihm unterschieden. Malina, der Allwissende, fordert gar die (Ich-)Erzählerin zum Mord an Ivan, dem »Schönen«, auf.346 Handelt es sich im realistischen (Entwicklungs-)Roman allein um die Hindernisse, die sich der (Selbst-)Erkenntnis des Helden in den Weg stellen, so stößt im nachrealistischen, »erkenntnistheoretischen« Roman bereits die Konstituierung des epistemologischen Mediums selbst, des Protagonisten, auf Schwierigkeiten. Er ist nicht - mehr - fraglos gegeben, sondern muß erst produziert werden. Der prämoderne Roman geht von einem (zumindest potentiellen) Subjekt aus, sein Nachfolger will und soll zu einem solchen erst kommen, und er trägt die Male dieses Prozesses. So ist, was in der Moderne so aussieht wie ein auktorialer Erzähler, in der Regel nichts anderes als der nicht mehr vollständig personal integrierte Diskurs, das heißt Ausdruck und Resultat der nachrealistischen literarischen Situation. Die Existenz eines Narrators verbindet ansonsten so verschiedenartige Texte wie Raabes Stopfkuchen, Thomas Manns Doktor Faustus und Höllerers Elephantenuhr. »Ich und Er«347 darf nicht psychologistisch mißverstanden werden, sondern ist eine literaturtheoretisch zu untersuchende Problematik. Der Roman bildet nicht einfach die Befindlichkeit beziehungsweise Krankheit eines Menschen oder der Gesellschaft ab, sondern die seiner selbst in bezug auf die Realität. Die Diagnose muß also lauten: literarische >Schizophrenieinhaltliche< Aspekt im Vordergrund. In der Moderne dagegen kommt es zu einer qualitativen Veränderung. Fungierte das beschriebene Leben zuvor als Modell von Erkenntnis, identifizierte sich die Literatur im Realismus selbst mit der Realität, partiell jedenfalls, mit deren Essenz, so wird jetzt eine Distanz erkennbar, erscheint die Hauptinstanz, der Protagonist, geradezu als epischer Hinderungsgrund: »Es ist Malina, der mich nicht erzählen läßt.«352 Wohl formuliert ein Buch wie die Grasschen Hundejahre die alte erkenntnistheoretische Sicht noch einmal explizit: »Wer immer zentral steht Phänotyp, selbstpunktbesessen - dessen Fragen sind nie um Antworten verlegen.«353 Aber daß dies ausgesprochen wird, ist sicher kein Zeichen von Selbstgewißheit. Kaum einem der zur Debatte stehenden Autoren des 20. Jahrhunderts gelingt es noch, ohne Bedenken einen Roman zu schreiben. Das gilt selbst für jene, die in der Tradition des Realismus stehen; ja, bei ihnen erweist sich die vielberufene Romankrise sogar besonders deutlich als eine epistemologisch bestimmte und ausgelöste. Jakob Wassermann etwa greift zu Beginn seines Etzel Andergast Einwände, die, wegen des eingetretenen Subjekt· Verlustes, gegen das Erzählen gerichtet sind, ausdrücklich auf, 354 und Siggi Jepsen, (Ich-)Erzähler der Lenzschen Deutschstunde, hat Schwierigkeiten mit dem Essentiellen, mit dem, was als solches zu bewerten sei.355 Zu konstatieren ist: Die Diskurskongruenz wird von der epistemologischen Seite, der des wahren Diskurses also, aufgebrochen. Zugleich aber folgt daraus, daß sich auch die Subjekt/Objekt-Problematik des Romans verschiebt. Nämlich, wie besonders das Beispiel von Hofmannsthals Andreas zeigt, in die >Präexistenz< des Protagonisten, und damit auf die Ebene des Autors, auf die der Schreibweise selbst. Es zeichnet sich ab die Tendenz zu einem dezidierten 349
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A . a . O . , S. 103. Zu Recht warnt Richard Alewyn, »Andreas und die »wunderbare Freundinklinischen< Interpretation des Andreas: »Nicht auf die psychologische Analyse kommt es an, sondern auf die Konfigurationen.« Als paradigmatisch kann gelten Nathalie Sarrautes 1948 erschienenes Portrait d'un inconnu. Zu Cicile vgl. Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 188 sowie S. 514, Anm. 70. Bachmann, Malina, S. 279. Grass, Hundejahre, S. 477. Vgl. auch a . a . O . , S. 431. Wassermann, Etzel Andergast, S. 9f. Siegfried Lenz, Deutschstunde, S. 342f.; vgl. zudem a . a . O . , S. 11.
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Kunsf-Subjekt, das den Platz des personalen, in die Form des Helden gekleideten einnimmt. Es kommt demnach in der Tat zu einer »Inversion des ursprünglichen ästhetischen Modus«356 im Roman, oder, wie Kahler es anläßlich des Doktor Faustus ein wenig pathetisch ausdrückt: »Die neue Kunst selbst in ihrer tragischen Situation wird zum Protagonisten der Erzählung.« 357 Heißenbüttels Text »Roman«, der die Gattung gleichsam auf den Begriff bringt, liefert Anschauungsmaterial für diese These. War es zuvor der literarische Diskurs, der, scheinbar wenigstens, lediglich als Medium der Handlung fungierte, so steht jetzt eben diese Handlung, das Geschehen, im Dienst der Literatur. Prinzipiell in Einklang mit dem Leben, sind die Kategorien des Realismus denjenigen der >Wirklichkeit< assymptotisch angenähert. Im Nachrealismus wird offenbar, daß sie immer schon literarische waren. Dennoch tendiert der Roman der Moderne nicht eigentlich »auf eine Weise zur Selbstbespiegelung, die uns das alte, liebliche Bild des Knaben associieren läßt, der sich entzückt über den Widerschein seiner eigenen Reize neigt«.358 Die sich bereits im späten Realismus anbahnende Selbstthematisierung, 359 der Versuch und die Notwendigkeit, (sich) über die eigenen Konstitutionsbedingungen aufzuklären, deren äußere Erscheinungen Exkurse und Essayismus bilden, vollzieht sich in ihren entscheidenden Stadien nicht in narzißtischer Selbstgenügsamkeit. Die zahlreichen Reflexionen in Tiecks Sternbald etwa (oder auch in Goethes Wander jähren), die ästhetischen zumal, bekräftigen den bestehenden Poesiebegriff, sind demnach grundsätzlich anders zu bewerten als dem Anschein nach ähnliche Phänomene im modernen Roman, wo gerade die Existenz solcher Momente Ausdruck einer krisenhaften Situation ist. Poetologie im Text bedeutet hier nicht wie in der Romantik Potenzierung, sondern signalisiert die Bedrohung des Artistischen. Herr Meister betreibt Theorie des Romans, statt ein Roman zu sein. Der autoreferentielle Zug ist ebenso strukturell wie selbstkritisch begründet. Es handelt sich dezidiert um /kMnsi-Problematik. Der lupenreine Künstler oder gar der Dichter als (Roman-)Held ist im 20. Jahrhundert eine eher atypische Erscheinung, wirkt fast obsolet. Gegenbeispiele, wie sie sich gehäuft bei Arno Schmidt finden, 360 Bruno Franks Cervantes, Feuchtwangers Tüverlin
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Marianne Kesting, »Der Schwätzer und der Voyeur. Figurationen des Erzählers im modernen Roman« (in: Μ. K., Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste, München 1970, S. 13-40), S. 13. v. Kahler, »Untergang und Übergang der epischen Kunstform«, S. 39. Th. Mann, Lotte in Weimar (Werke, Bd. 3), S. 79. Vgl. hierzu Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema, S. 64ff., die Graf Petöfy als (Selbst-)Reflexion der Romanform deutet. Zu kurz kommt dabei allerdings die Problematik, die den Übergang zur Moderne anzeigt und die in anderen Texten dieses Autors, insbesondere dem Stechlin, noch stärker herauszuarbeiten wäre. Wohl ist Schach von Wuthenow der Ästhet vor dem Spiegel, aber eben als solcher verfällt er der Kritik. Bis hin zu Abend mit Goldrand (1975) sind seine Texte voll mit Literatenfiguren.
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oder Arnold Zweigs Werner Bertin bestätigen nur die Regel. Bloom, nicht Stephen Dedalus ist die Hauptfigur von Ulysses. Das heißt freilich keineswegs, daß die literarische Perspektive und Problematik ihre zentrale Rolle eingebüßt hätte, ganz im Gegenteil. Diese ist nur - im Wortsinn - erheblich schwerer auszufüllen. Denn: »Ich-Geschichten gibt es nur dort, wo einer für alle anderen steht.« 361 Und solches für den Poeten zu reklamieren, gerät allerdings immer mehr zu einem nahezu aussichtslosen Unterfangen. Bereits Spielhagen hatte Mühe, den Dichter im Protagonisten nicht zum Vorschein kommen zu lassen. 362 In der Erziehung vor Verdun muß der Schriftsteller Bertin schon - schier demonstrativ - zum Detektiv werden. Danach erst kann er eine Novelle über den Fall Kroysing schreiben. 363 Nicht metaphorisch 364 sollte man insgesamt nennen, was mit der Literatur im modernen deutschen Roman geschieht. Risse, nicht problemlose Substitution, charakterisieren ihr Verhältnis zur Realität. Zusehends weniger leicht wird es, den »spezifisch literarischen Fehler« zu begehen, »für allgemein« zu »halten, was einzeln ist«. 365 Kaum mehr will es gelingen, »eine Essenz in der Form eines Artifiziellen zu liefern«. 366 Ein Krisensymptom gilt es zu registrieren, wo das Poetische derart sein Haupt erhebt, und - vorderhand wenigstens keine Renaissance. Die realistische Maske ist zu kurz geworden. Sie bedeckt nur noch Teile. 3 6 7 Das wirklich Wahre enthüllt sein Clownsgesicht, und mit den Diskursen zerfließt die Schminke.
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Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied, Frankf. a.M. 1972, S. 188. Vgl. Spielhagen, »Finder oder Erfinder?«, S. 19ff. Vgl. Arnold Zweig, Erziehung vor Verdun, S. 198. Für eine solche Charakterisierung käme mit weit größerer Berechtigung das Drama der deutschen Klassik in Frage. Marianne Kesting, die freilich vor allem die Lage in Frankreich im Auge hat, führt aus: »Nicht mehr erzählt der Erzähler ein außer ihm liegendes Geschehen, sondern das Romangeschehen wird zur Metapher für die Situation der Literatur, für das Schreiben und das Verhältnis des Schriftstellers zur Wirklichkeit. Darum kann der Schriftsteller selbst zur Hauptfigur des Romans werden, der Akt des Schreibens und Wahrnehmens zur >HandlungZoologischeninneren Auge< entsteht ein primär optisch gerichtetes Wahrnehmungsfeld, in dem alles vorbereitet ist für das Auftreten von Personen aus Fleisch und Blut. Noch wo der Text von sich selbst spricht, scheinbar geradezu demonstrativ die eigene Existenz ins Spiel bringt wenn er nämlich den »Beginn unserer Erzählung« apostrophiert-, geschieht dies keineswegs zum Zweck der Illusionsdurchbrechung, vielmehr dient auch dieses Einsprengsel, wie es sich für einen realistischen Roman gehört, dazu, Erwartungen zu erwecken und Neugier zu erzeugen im Hinblick auf das, was hinter dem vordergründig Erkennbaren liegen könnte. Den empiristisch realistischen Grundgestus des Aufdeckens inauguriert die Beschreibung einer Oberfläche, die als solche ausgewiesen wird. Nicht umsonst ist die Rede von der Vermutung, »daß hinter dieser Kulisse noch etwas anderes verborgen sein müsse«. 8 Das vorläufige Nichtwissen hat lediglich die Funktion, zu einem anderen, buchstäblich tiefer dringenden Sehen überzuleiten, so wie ein »Hundegeblaff« vor allem - um nicht zu sagen: nur - deshalb Erwähnung findet, um daran die Feststellung zu knüpfen: »Wo dieser Hund eigentlich steckte, das entzog sich freilich der Wahrnehmung.« 9 Kein Zweifel, man wird diesen hier nur >rückgeschlossenen< Hund im weiteren Verlauf der Geschichte leibhaftig vorgeführt bekommen. Ganz anders stellt sich die Situation zu Beginn der Schlafwandler dar. »Im Jahre 1888 war Herr v. Pasenow siebzig Jahre alt.« (11) Schier undenkbar, daß ein Roman Fontanes, überhaupt ein realistischer Text, so anfangen könnte. Die notwendige zeitliche Situierung erfolgt auf ganz und gar unsinnliche Weise, durch die Nennung einer bloßen Jahreszahl, der es an jeglicher >Einkleidung< fehlt, etwa durch einen »der letzten Maitage«, mit schon sommerlichem Wetter, wie in Frau Jenny Treibel.10 Diese Tendenz setzt sich fort in der lakonischen Altersangabe, die dem Namen folgt. Den Aufbau einer Realitätsfiktion fördert dies kaum. Statt sich aufgrund der gegebenen Daten ein Bild Pasenows zu machen, beginnt man schon eher nachzurechnen und überlegt, 5
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Walther Killy, »Abschied vom Jahrhundert. Fontane: >Irrungen, WirrungenVerinnerungInnereReale< in einen gemalten (eingerahmten) Gegenstand transformieren. Danach kann er diesen Gegenstand von der Wand nehmen, ihn aus seinem Gemälde herausnehmen: mit einem Wort: ihn ent-malen.« 17 Damit ist ein Textanfang wie der von Irrungen, Wirrungen recht genau gekennzeichnet, 18 und auch zur Interpretation des Pasenow-Bcginns hat man auf die Metaphorik des Malens zurückgegriffen. So schreibt Kreutzer dem Roman die paradoxe Absicht zu, »in seinem ersten Abschnitt [...] ein Porträt des alten Pasenow zu zeichnen, ein Versuch, der auf sein Scheitern angelegt ist«.19 Denn das Objekt, Pasenow, entziehe sich, es wolle »sich nicht mit einem Blick erfassen lassen, ja nicht einmal Porträt sitzen«. Kaum daß der »Porträtist« sich in seiner »Arbeitsszenerie« eingerichtet habe, sei »der Sessel leer, das Objekt hat sich der ruhigen Beobachtung entzogen. Wenn der Porträtist überhaupt noch irgendwelche Daten gewinnen will, muß er ihm auf die Straße folgen, den Spuren nachgehen, die es dort hinterlassen hat.« 20 Bei aller scheinbaren Plausibilität verfehlt solche Darstellung doch das Wesentliche des zu untersuchenden Vorgangs. Es trifft nämlich nicht zu, daß »das Objekt und sein Abbild zerfallen«, 21 vielmehr entsteht weder das eine noch das andere wirklich. Um diesem Modell »folgen« zu können, müßte es zuvor lebendig geworden sein. Das aber ist keineswegs der Fall. Der Prozeß des Malens ist nicht, wie Kreutzer annimmt, sekundär, sondern unabdingbare Voraussetzung, und er darf - zumindest zu diesem Zeitpunkt - durchaus nicht als abgeschlossen gelten. Das heißt, der alte Pasenow schleppt noch immer den Rahmen mit sich herum. Eine Leinwand, die sich nicht füllen will, das Negativ eines Protagonisten. An die Stelle des vom realistischen Roman praktizierten synthetisierenden Verfahrens tritt ein ausgesprochen analytisches. Um im Bild zu bleiben: Nicht auf einen zu Porträtierenden wird die Aufmerksamkeit primär gelenkt, sondern auf das Porträtieren an sich, auf den - freilich erst gar nicht begonnenen Malvorgang. Und auch dies vollzieht sich nicht >direktadliger Gutsbesitzer« 25 nicht geradezu aufdrängen; die fehlende Identität aber hat ihre Entsprechung im Begriff des Gehens selbst, der alles umspannt, in den sich nicht nur jedes beschriebene Detail einfügt - von Stock, Fuß und Fußspitze heißt es gleichermaßen, sie würden »gehen«-, er steuert darüber hinaus auch noch die sich anschließende Reflexion. Nur das personelle »Zentrum zerfällt«, 26 besser gesagt: Es wird in seine Bestandteile zerlegt vorgeführt, jedoch nicht, um einem völligen Vakuum Platz zu machen oder einem lediglich von Fliehkräften beherrschten Chaos; vielmehr gruppiert sich alles - als sei sie eine Mitte - um die Vorstellung des In-Bewegung-Seins. Vom menschlichen Gang über den Paßgänger bis hin zu dem >gehenden< Dreifuß zwingt sie das Disparateste zusammen, ist selbst einbezogen, läuft gleichsam nebenher: als Assoziation. Die Abstraktheit, die den Roman von seinen ersten Worten an prägt, setzt sich also fort, nicht allzu fern manchen Erscheinungen in der modernen Malerei. Der Blick fungiert nicht mehr wie bei Fontane und anderen Realisten als bloßes Hilfsmittel, als Medium, das möglichst unscheinbar bleiben will, sondern wird selbst in den Vordergrund gerückt. Sehen, das dem Erzählen dienlich ist, verwandelt sich in erzähltes Sehen. Die damit verbundene Vermittlung des Gesehenen, das nicht als ein scheinbar Unmittelbares vor den Augen des Lesers auftaucht, als sei dieser selbst eine Romanperson, diese demonstrative Künstlichkeit, die doch ebenso unverkennbar (noch) mimetische Ansprüche stellt, der Realität sozusagen hinterherläuft, ohne sie doch je erreichen zu können, und die damit immer den Abstand, der sie von eben dieser Realität trennt, mitproduziert, statt, wie zum Beispiel in einem Film, die Differenz zu verwischen,27 all dies gilt es zu bedenken, wenn man feststellt, daß Pasenow (wie auch Esch) ein Buch voller Bilder ist, präziser, gesehener Bilder: Vorstellungen, Erinnerungen, Träume. 23 27
24 25 26 A.a.O. A.a.O. A.a.O. A.a.O. Treffend vergleicht Kreutzer (a. a. O., S. 80) diese Technik mit der des Zeichentrickfilms.
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Die prononcierte Visualität geht einher mit einer Art doppelter Optik, verweist somit auf einen Punkt, der, obwohl nahe genug liegend, unter diesem Aspekt offenbar noch nicht betrachtet worden ist: auf die Titelmetapher selbst nämlich. Der Schlafwandler wird gesehen, ja, dies ist schlechterdings unumgänglich, wenn er als solcher überhaupt bezeichnet werden soll. Für ihn gilt im höchsten Maße: esse est percipi. Dabei ist die Spiegelrelation aufgehoben, die Subjekt/Objekt-Identität verschoben. Später, in Huguenau, stehen die Leute um den Maurer Gödicke »herum, der am Rande des Mistbeets saß, und schauten zu, wie er den Kaffee schlürfte. Und bloß Gödicke sah etwas anderes« (543). Wenn der alte Pasenow durch die Straßen von Berlin geht, verhält es sich kaum anders. An keiner Stelle findet sich eine Andeutung, daß er in irgendeiner Weise bewußt auf seine Umgebung reagieren würde, sie auch nur wahrnähme. »Dreibeinige Zielgerichtetheit«, »Geradlinigkeit«, »Vorwärtsstreben«, »geradliniges Zickzackgehen« sind Vokabeln, die an eine Puppe denken lassen, an einen Automaten, der, mit gleichsam geschlossenen Augen, seine vorgeschriebene Bahn zieht, als sei er aufgezogen worden - oder eben an einen Schlafwandler. 28 Zu fragen bleibt nach der Bedeutung, die die verschiedenen Momente, die unter dem Oberbegriff des erzählten Sehens zusammengefaßt wurden, für Pasenow haben und welche Folgerungen hieraus im Hinblick auf den literaturgeschichtlichen Ort dieses Textes und darüber hinaus der gesamten Trilogie zu ziehen sind. Wie schon die Eingangssätze deutlich machen, setzt sich diese Introduktion von realistischen Romananfängen ab, behält sie dabei aber stets im Visier, das heißt erhebt sie zum Thema wie die ganze »Guckkastenmanier«29 in der Szene im »Kaiserpanorama« gegen Ende des Romans. 30 Vor diesem Hintergrund ist das Agieren Pasenows als Demonstration zu verstehen, bei der die Fiktion in ihrem Funktionieren vorgeführt wird (was bereits auf ein Nicht-mehr-Funktionieren hinausläuft). Zwar darf der alte Herr noch nicht geradezu als Anti-Held bezeichnet werden, aber er zeigt, wie eine Roman(haupt)figur nicht mehr aussehen kann. Sein Status ist die sukzessive 28
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Thomas Koebner, Hermann Broch. Leben und Werk, Bern/München 1965, S. 42, begreift den Schlafwandler als »Seitenstück und Erbe der in der Romantik so beliebten Figur der Marionette: dem Lebendigen ähnlich und doch nicht lebendig, gesteuert von einer außen liegenden, unbekannten Macht, ausgeliefert dem Durchbruch des Irrationalen, ins Traumhafte versenkt«. Mit solchen Überlegungen durchaus vereinbar ist die Feststellung von Hartmut Reinhardt (Erweiterter Naturalismus. Untersuchungen zum Konstruktionsverfahren in Hermann Brochs Romantrilogie »Die Schlafwandler«, Köln/Wien 1972, S.22), den älteren Pasenow betreffend: »Derjenige, dem die Beobachtung gilt, erscheint rein für sich gar nicht.« Vgl. Hermann Broch, »Denkerische und dichterische Erkenntnis« (in: Η. B., Schriften zur Literatur 2. Theorie, hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankf. a.M. 1975, S. 4349), S. 47. Vgl. Die Schlafwandler, S. 165ff.
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Demontage. Gehen: Die Grundbewegung, der Modus des Protagonisten schlechthin. Pasenow jedoch passiert als entschiedener Anti-Flaneur, »eigentliches Schlendern lag ihm ferne« (13). »Seine dreibeinige Zielgerichtetheit«, »diese Geradlinigkeit und dieses Vorwärtsstreben« (12) deklarieren seine Bewegungsart als durchaus unepisch. In ihrer knochigen Diskursivität entbehrt sie aller retardierenden Momente (mit Ausnahme eines leichten Hinkens). Aus dem Lebensweg eines herkömmlichen Romanhelden ist ein Gang geworden, der »auf das Nichts gerichtet« (12) erscheint. Mit ihm hat das Erzählen seine Unschuld verloren. Der böse Blick, dem der alte Mann ausgesetzt ist, trifft ihn nicht allein, er gilt auch und besonders der Darstellungsweise, in der diese Romanfigur auftritt, die er - ein wandelnder Anachronismus - wie seine ganze »mit liebevollem Haß zergliederte« Person in einen Raum hinüberträgt, der ihre prinzipielle Unangemessenheit sichtbar macht. Ein in jeder Beziehung geschrumpfter Dubslav von Stechlin, wird Pasenow nicht etwa in seinem sozialen Ambiente aufgesucht und beschrieben, sondern buchstäblich herbeizitiert. Eine Kunstform im Exil.31 Der Gang als literarhistorischer Übergang. Abschied vom Realismus. Die Zuschauer, die es überall zu geben scheint, ohne daß ihr Standort auch nur annähernd zu bestimmen wäre, bezeugen das kulissenhaft Gestellte der Szenerie, ihren Tribunalcharakter. Das erzählte Sehen eröffnet nicht nur die Sicht auf die Konstitutionsbedingungen des Erzählens selbst, sondern deutet an, daß es mit dem Erzählen überhaupt zu Ende geht. 32 »Das, wovon man weiß, daß man es bald nicht mehr vor sich haben wird, das wird Bild.«33 Die Schlafwandler »erweitern« den »Naturalismus«34 nicht, sie schreiben ihn, in des Wortes doppelter Bedeutung, fort. 35 Diesem zweifachen Zweck dient Pasenow. Der Stock, auf den er sich stützt, schlägt, als drittes Bein, den Takt der Fortsetzung. »Jetzt«, so heißt es über den Alten, »befand er sich auf dem Wege zu seinem jüngeren Sohn, dem Premierleutnant Joachim v. Pasenow.« (13)
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Zu Beginn von Heinrich Manns Roman Der Atem (1949) befindet sich die in Nizza lebende österreichische Gräfin Traun auf einem Gang, der dem Pasenows in mancher Hinsicht vergleichbar ist. Ähnlich konstatiert Sally Sears, The Negative Imagination, New York 1968, S. 127, über Henry James: »The basic pattern of James' work is the creation and collapse of the fiction, its failure.« Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankf. a.M. 1974, S. 86. Vgl. hierzu vor allem Reinhardt, der, sich auf ein Diktum Brochs stützend, (s)ein ganzes Buch, wie schon der Titel - Erweiterter Naturalismus - sagt, auf dieser These aufbaut. Reinhardt (S. 119) berücksichtigt nur die eine Seite, wenn er schreibt, daß Pasenow sich »der naturalistischen Erzählform als Folie bedient«.
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2.1.2 Sezierte Totalität Strenggenommen löst Brochs Trilogie die Form der Erzählung nicht auf,36 diese kommt erst gar nicht zustande. So gesehen ist der Anfang von Pasenow das Szenario eines ungeschriebenen Romans. Zumindest vollzieht sich der Zerfall nicht atomistisch,37 sondern verläuft in durchaus geordneten Bahnen, nämlich als eine Art Selbstsezierung des Textes. »Erzählen des Erzählens«38 diese Formel erweist sich zur Charakterisierung der Schlafwandler als letztlich nicht ausreichend, als zu harmlos. Nicht einen »Roman des Romans« (Jauß) im Sinne der Proustschen Recherche hat man vor sich, einen »Preroman« (Barthes), der lediglich als Stufe der Vorbereitung auf das >eigentliche< Werk zu verstehen wäre; vielmehr wird in der Tat »die Unmöglichkeit des modernen Romans, eine Totalität zu geben, sinnfällig repräsentiert«.39 Somit steht schon, ja gerade in Pasenow das Epische selbst zur Disposition. Reinhardt, der berechtigterweise gegen die übliche Isolierung des Huguenau Stellung bezieht, greift zu kurz, wenn er - wie diesem - den beiden vorangehenden Romanen lediglich zuschreibt, sie brächen »mit traditionellen Normen des Erzählens«.40 Demgegenüber gilt: »die veranschaulichung ist die autopsie des falles.«41 Broch gelingt in den Schlafwandlern und zuvörderst mit deren erstem Teil, sicherlich ohne daß ihm dies bewußt gewesen wäre (oder er es gar angestrebt hätte), so etwas wie die Anatomie des Realismus. Das heißt zugleich: Im Gegensatz zu einem realistischen Text, der, indem er Figuren zum >Leben< erweckt, die Literatur sterben läßt, wird hier, wo von Beginn an alles im Zeichen der Mortalität sich bewegt, indem Menschen - tendenziell jedenfalls zu Tode gebracht werden, das vergangene Leben der Literatur in seinem Funktionieren durchschaubar. Die Handlung der Schlafwandler ist daher anders zu beurteilen, als es für die (Roman-)Literatur davor angängig sein mag. »Das Thema wird einfach zur Funktion des Dichterischen.«42 Oder richtiger: von dessen Problematisierung. Text und Kontext vertauschen ihre Stellung. Die in erster Linie zu berücksichtigenden Fakten sind nicht der Realität zu entnehmen, in der die Trilogie entstand, sondern dem zugrunde 36 37 38
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Vgl. Brinkmann, S. 408. Den gegenteiligen Eindruck erweckt Brinkmann, S. 396. Brinkmann, S. 408. Dennoch ist der damit freilich nur angedeutete produktionsästhetische Ansatz dem rezeptionsästhetischen, wie ihn etwa Dagmar Barnouw, »Autorenstrategie und Leser im Gedankenroman. Zu Fragen von Perspektivik und Bedeutung« (in: Erzählforschung 3, S. 2 2 3 - 2 5 5 ) , vertritt, im Prinzip allemal vorzuziehen, da dem Gegenstand angemessener. Brinkmann, S. 408. Reinhardt, S. 138. O. Wiener, Die Verbesserung von Mitteleuropa, S. X C . Hermann Broch, »James Joyce und die Gegenwart« (in: Η. B . , Schriften zur Literatur 1. Kritik, hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankf. a . M . 1975, S. 6 3 - 9 4 ) , S. 76. Vgl. in diesem Sinn auch Mandelkow, S. 71f.
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liegenden literarischen System, seinen Kategorien und Schwierigkeiten. Erstere bietet das Anschauungsmaterial für letzteres. Nicht das Ästhetische vermittelt das Zeithistorische, sondern umgekehrt: Dieses transponiert jenes. Der literarische Code dominiert. Verschwiegene literarische Gesellschaft, die sie von Beginn an darstellen, können, ja müssen Die Schlafwandler als Phänomenologie der (Grund-)Problematik des nachrealistischen deutschen Romans gelesen werden; daher stehen sie am Anfang der hier vorgelegten Interpretationenreihe. Ihr mehr oder weniger geheimes Kardinalthema bildet die (Un-)Möglichkeit des Erzählens in der Moderne. Nicht »das Dazwischen« ist demnach die »konstitutive Haltung der Trilogie«,43 sondern ein Danach: Aktive Destruktion, Dekomposition von (herkömmlicher) Ästhetik, Figuration der Auflösung des literarischen Systems. Es handelt sich nicht um Romane des Zerfalls schlechthin, sondern - präziser - um Texte, deren Voraussetzung es ist, daß der Zerfall der vorgegebenen realistischen Form des Romans als Zerfall der Realität überhaupt gedacht und dargestellt wird.44 Dieser vollzieht sich als Dissoziierung der insbesondere im Realismus nahezu ununterscheidbar vereinigten (Teil-)Diskurse des Wahren und des Poetischen, als deren Inbegriff der sich mit der (Um-)Welt auseinandersetzende, >lebendige< Protagonist zu gelten hat. Nun kann bereits der alte Pasenow - bei seinem Gang durch die Straßen Berlins-, um es paradox zu formulieren, als Verkörperung dieser Konstellation verstanden werden, nämlich derart, daß in und mit ihm der Konnex der beiden Diskurse aufgelöst und die >menschliche< Person gleichsam in ihre literarischen Bestandteile zerlegt gezeigt wird. Mit Pasenow, dem Älteren tritt das dezidiert Unästhetische in die Welt des Romans, das Un-, ja GegenSchöne: So »streckt er seinen kleinen Bauch ein wenig vor, man könnte fast sagen, daß er ihn vor sich hertrage, ja daß er damit seine ganze Person irgendwohin trage, ein häßliches Geschenk, das niemand will« (12). Sein einstiges gutes Aussehen, das er künstlich aufrechtzuerhalten sucht, ist nur noch für ihn selbst - aufgrund einer Selbsttäuschung - im Spiegel sichtbar. Dort erblickt er sozusagen das Protagonistenideal, von dem er sich doch mit seiner ganzen Existenz immer weiter entfernt, dem er, gestützt auf seinen Stock, buchstäblich zuwiderläuft. Häßlichkeit ist, wenn der blanke Begriff durchscheint. Daß es sich um einen postästhetischen Zustand handelt, erweist sich vor allem bei der Begegnung des schon etwas zu kurz geratenen Patriarchen - »Die Mutter war größer als der Vater, und alles auf dem Hofe gehorchte ihr« (14) mit seinem Sohn Joachim. Sie spielt sich ab, als hätte sie die These zu belegen,
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Reinhardt, S. 198, Anm. 153. Die Realität des Textes verhält sich demnach konträr zur gängigen Forschungsmeinung - vgl. ζ. B . Brinkmann, S. 4 0 6 - , die, Brochs »Zerfalls«-Philosophie folgend, unterstellt, eine wie auch immer sich >auflösende< Wirklichkeit sei Ursache für gleichgeartete formale Phänomene.
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wonach der Logos, als das männliche Prinzip, im Abnehmen begriffen ist, nicht mehr überall hinreicht, keineswegs alles deckt, was er sich vornimmt. Ein Wiederse/ien im Wortsinne findet bezeichnenderweise nicht statt. Der Sohn nämlich hat ganz anderes im Auge: »Immer wenn Joachim v. Pasenow mit seinem Vater zusammentraf, stiegen Jugenderinnerungen auf, das verstand sich nur von selbst, doch vor allem wurden die Ereignisse wieder lebendig, die seinem Eintritt in die Kadettenanstalt Culm vorangegangen waren.« (13) Auch in ihrem Verhältnis zueinander sind Vater und Sohn Pasenow Schlafwandler, Leute also, die sich selbst wie auch einander nicht als aktuelle Subjekte zu begreifen vermögen. War der Alte - bei seinem Gang im ersten Abschnitt des Romans - das lediglich gesehene Objekt, so wird Joachim im Gegensatz hierzu als aktiv Sehender eingeführt. Doch kommt es eben nicht zu der Spiegelsituation, die eine solche Konstellation vielleicht erwarten ließe; und das - im Sinne der Romanstruktur - aus gutem Grund. Denn die Blicke, die sich nicht treffen, sind auf den Protagonisten gerichtet, der sich nicht herstellen will, auf jene Hauptperson, die zwar ihrer beider Namen trägt, der aber jede Voraussetzung dafür fehlt, sich selbst (wieder) zu erkennen. Immer noch hat der Roman keinen Helden. Was er vorführt, ist vielmehr das Fehlen eines solchen. Die realistische - Diskurskongruenz, das deutet sich hier bereits an, zeigt sich figural aufgespalten: In der Droschke, auf dem Weg »zu dem obligaten Bummelabend«, sitzen die beiden Pasenows »steif, ihre Stöcke zwischen den Knien, stumm auf den schwarzledernen brüchigen Sitzen« (18). Getrenntsein, in Szene gesetzt. Diese Situation gleich zu Beginn der Schlafwandler wiegt um so schwerer, als, wie man etwas zugespitzt sagen kann, der (ausgehende) Realismus geradezu auf einer Familienästhetik basiert, oder anders ausgedrückt: auf dem Modell der Familie als der (Vor-)Bedingung für das Fortbestehen des Ästhetischen. Das gilt in besonderem Maße für einen Text wie den Stechlin, dem es wesentlich darum zu tun ist, die Ehe zwischen Armgard und Woldemar zustande zu bringen, womit der für die Existenz der Kunst unverzichtbare »Zusammenhang der Dinge«45 gesichert werden kann. Man muß gar nicht auf die spekulativen Ausführungen Hegels46 zurückgreifen, um den engen Konnex von literarisch/künstlerischer Totalität und Familienschema zu begründen und zu beleuchten. In einem (»Ideen«-)Fragment schreibt Friedrich Schlegel mit wünschenswerter Klarheit: »Willst du die Menschheit vollständig erblicken, so suche eine Familie. In der Familie werden die Gemüter organisch Eins, und eben darum ist sie ganz Poesie.«47 Die 45 46
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Fontane, Werke, Bd. 13, S. 279. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 157f.: »In den Kindern wird die Einheit der Ehe, welche als substantiell nur Innigkeit und Gesinnung, als existierend aber in den beiden Subjekten gesondert ist, als Einheit selbst eine für sich seiende Existenz und Gegenstand, den sie als ihre Liebe, als ihr substantielles Dasein, lieben.« Friedrich Schlegel, Kritische Schriften, S. 108.
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literarische Praxis ist dieser Anweisung bald zwei Jahrhunderte hindurch gefolgt. Von Immermanns Epigonen bis hin zu den Tolms in Bolls Fürsorglicher Belagerung (1979) wurde immer wieder die Familie bemüht, um die (gesamt)gesellschaftliche Realität essentialistisch in den Griff zu bekommen. 48 In dieser sozialen Parzelle erscheint das Allgemeine mit dem Besonderen verbunden, soll das Ganze zu repräsentativer Darstellung und Gültigkeit gelangen. Im modernen (deutschen) Roman kommt es, auf Grund seiner spezifischen, die eigenen Strukturgesetze in Augenschein nehmenden Beschaffenheit, weniger darauf an, den »gesellschaftlichen Funktionswandel der Literatur« (Peter Bürger) zu beachten, als vielmehr den Funktionswandel der Gesellschaft wie ihrer (einzelnen) Sektionen für die und in der Literatur. Die sozialen Formen und Kategorien, die in diesen Texten auftauchen, sind allesamt literarisch/ästhetisch imprägniert, und zwar in einem noch stärkeren, da qualitativ veränderten Maße, als sie es zuvor, in anderen Epochen, auch schon waren. 49 Wenn sich also Broch in Pasenow des Familienmodells bedient, es sogar zum zentralen Handlungskomplex macht, so ist damit ein wichtiger Indikator für die hier sich vollziehende Problematisierung herkömmlicher Kunst gegeben. Gerade unter negativen Vorzeichen bewährt sich die Affinität von Familie und Realismus. Während im Kind Sexualität zum ebenso einheitlichen wie gegenständlichen Produkt wird, Verkörperung tabuierter Tätigkeit, es sich demnach gewissermaßen um ein natürliches Sublimat handelt, das nahezu als Inbegriff realistischer Symbolisierungsbestrebungen gelten kann, ist in Fontanes Ehebruchgeschichten, nicht anders als im Fall der Madame Bovary, die sich durch ihre Romanlektüre verführen läßt, häufig genug in irgendeiner Form die Kunst im Spiel. Fungiert in L'Adultera,50 ähnlich wie in Unwiederbringlich,51 ein Gemälde als Auslöser der Untreue, so weist in E f f i Briest eine Theateraufführung den Schritt vom Wege. 52 Lief schon in Buddenbrooks der »Verfall einer Familie« parallel zur Zersetzung des Ästhetischen, 53 einer bestimmten Form davon jedenfalls, so ist dieser Zusammenhang im einleitenden Teil der Schlafwandler noch erheblich intensiviert, wie sich beim ersten Zusammentreffen der beiden Pasenows bereits unübersehbar andeutet, wo an die Stelle der Sukzession ein - buchstäbliches - Sichabsetzen tritt.
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Es genügt, an Zolas »Rougon-Macquart«-Zyklus zu erinnern. Vgl. zum literarischen Familienmodell auch Manfred Durzak, Der deutsche Roman der Gegenwart, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 2 1973, S. 66. So besitzt, um nur ein Beispiel zu nennen, der Adel nicht erst im Oeuvre Fontanes, sondern bereits etwa in Goethes Lehrjahren zweifellos ästhetische Valenz. Vgl. Fontane, Werke, Bd. 6, S. 12ff. Vgl. Fontane, Werke, Bd. 10, S. 152. Vgl. Fontane, Werke, Bd. 12, S. 146f. Man braucht nur an den Poeten Jean Jacques Hoffstede einerseits und an den literarisierenden Makler Gösch andererseits zu denken. 71
Dabei liegt eine prinzipiell mit einem spätrealistischen Text wie dem Stechlin durchaus vergleichbare Situation vor. Was dort die Barbys waren, sind hier die Baddensens. Aber genau an diesem Punkt setzt auch der entscheidende Unterschied ein. Diente nämlich bei Fontane die Verbindung der beiden Familien - der Stechlins und der Barbys - in Gestalt der Ehe zwischen Woldemar und Armgard gerade der Fortführung, ja, der Rettung von Totalität, so stellt sich im Gegensatz hierzu die bevorstehende Heirat der Elisabeth von Baddensen als Modell von deren Bedrohung, mehr noch: Auflösung dar. Der Park, den sich ihr Vater, wie Elisabeth meint, über die ganze Welt ausgedehnt wünscht (81), ist unverkennbar Chiffre ästhetischer Ganzheit, 54 explizit die Familie mit dem Schönen verbindend: »Würde man mit allen Menschen verwandt sein, so wäre die Welt wie ein gepflegter Park und einen neuen Verwandten bringen, hieße eine neue Rosensorte in den Garten setzen« (82f.). 55 Die Ehe aber bedeutet notwendig die Revision von Elisabeths Überzeugung, daß sie »definitiv beisammen waren und ihr Kreis ewiglich geschlossen« (81). Knüpft sich das Ästhetische - eine keineswegs singuläre Erscheinung - dezidiert an die Semantik der Kindheit, seine Gefährdung an deren Ende, so verweist andrerseits die ausgeprägte Sammelleidenschaft der Familie Baddensen auf den Versuch, Totalität additiv herzustellen, Ganzheit als sekundäre künstlich wieder aufzubauen, vergleichbar dem selbstgeschaffenen Ambiente des Freiherrn von Risach in Stifters Nachsommer. Auf diese Weise freilich werden die Rollen vertauscht, ist die >natürliche< Ordnung - die des Romans zumal - verkehrt: Elisabeth von Baddensen, die für Joachim von Pasenow vorgesehene Frau, stellt bereits für sich eine ästhetische Existenz dar, statt erst - durch die Verbindung mit einem Mann - zu einer solchen zu werden oder doch darauf vorzubereiten. Niemand darf an sie rühren. Nicht auf den Realismus zu bewegen sich die Figuren der Trilogie, sie haben ihn im Rücken wie einen Hintergrund, von dem sie sich abheben. Besonders Pasenow ist - dem Status der Schlafwandler entsprechend - ein Buch des Abschieds, nicht des Widererkennens: »Als Joachim zurückfuhr, dunkelte es vollends. Das letzte, was er von Elisabeth gesehen hatte, war ihr Schatten auf der Terrasse; sie hatte den Gartenhut abgenommen und im Zwielicht des verlöschenden Tages stand sie gegen den hellen Himmel, der von rötlichen Streifen durchzogen war. Deutlich sah man ihren schweren Haarknoten im Nacken und Joachim fragte sich, warum er dieses Mädchen so schön fand, so schön, daß die Süße Ruzenas dagegen aus seinem Gedächtnis schwinden wollte. Und doch sehnte er sich nach Ruzena und nicht nach der Reinheit Elisabeths. Warum war Elisabeth schön?« (101). Die Blicke tauchen nicht
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Schon Jean Paul vergleicht in seiner Vorschule der Ästhetik (J. P., Werke, Bd. 5, hg. v. Norbert Miller, München 1963), S. 43, den Dichter mit einem »Parkgärtner«, der seinen »Kunstgarten« pflegt. In die >Tat< umgesetzt hat diese Vorstellung Heimito von Doderer in seinem Roman Die Merowinger, der nicht umsonst »die totale Familie« im Untertitel führt.
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ineinander. Das Objekt der (realen) Begierde hat sich abgewendet, es wird zum ästhetischen Sublimat, 56 zum Gegenstand der Reflexion. Zwischen den Pasenows steht der Streit um den potentiellen Nachkommen. Joachim empfindet als »Schmach«, was sein Vater wünscht, nämlich daß er »mit Elisabeth einen Enkel zeuge« (132). Der alte Pasenow artikuliert die nackten Tatsachen. Indem er das Innere hervorkehrt, manifestiert sich seine Stellung im Text: patriarchalisch-phallischer Diskurs zu sein und (dabei) die schützende Hülle ästhetisch-symbolischer Verbrämung zu zerstören. 57 Er fungiert und geriert sich als Herr des Tausches, der Verkehrsformen jeglicher Art, letztlich jener Konvertibilität also, die dem Roman des Realismus den Stempel aufdrückt und die dort auch weitgehend problemlos funktioniert. Nicht nur will er, daß ihm jedermann (vor allem aus seiner Familie) schreibt, er selbst hat geradezu »eine Leidenschaft für die Post« (74). 58 Die Verletzung des Briefgeheimnisses seiner Untergebenen erscheint ihm »wie ein selbstverständliches jus primae noctis« (73), ähnlich dem Privileg, es mit seinen polnischen Mägden treiben zu dürfen. In Pasenow, dem Älteren exhibiert sich der - äußerst weltlich gewordene Logos in greller, beinahe schon demonstrativer Schamlosigkeit, bricht die herkömmliche ästhetische Totalität auf. Alles an ihm ist Ausdruck. Er hat eine »halbschräge Kurrentschrift, die so sehr an seinen Gang gemahnte, daß man geradezu von einer Dreibeinigkeit dieser Schrift hätte sprechen können« (67). Da er selbst so ganz und gar symbolische Existenz ist, besteht für Joachims Vater die Grenze zwischen Symbol und dem dadurch Symbolisierten nicht. Diskurs und Realität fallen ihm zumindest tendenziell in eins. Insofern ist der schließlich ausbrechende Wahnsinn (den das Fehlen eben dieser Unterscheidung kennzeichnet) nur noch die letzte - äußere - Bestätigung eines längst vorhandenen Zustands. Man muß noch einen Schritt weitergehen: Der Alte zerstört die Symbole und damit die Struktur dessen, was bis dahin, insbesondere im Realismus, idealtypisch als Literatur gegolten hatte; er betreibt in seiner direkten Art, die essentielle Realität, die blanke Wahrheit freizulegen, ungewollt die Destruktion dessen, was er fortzuführen beabsichtigt. Es ist, als wolle er dafür sorgen, daß der Begriff (oder auch das Klischee) eines adligen Gutsbesitzerssohnes, der beim Militär dient und sich neben der in Aussicht stehenden guten Partie eine Geliebte aus den >unteren Schichten< hält, erfüllt werde, wenn er, bevor er auf Joachims Heirat mit Elisabeth von Baddensen drängt (28), ihm bei ihrer gemeinsamen abendlichen Sauftour durch Berlin das Mädchen Ruzena »kauft« 56
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Joachims Bild von Elisabeth verbindet sich mit der Musik, die »rein und klar über allem andern schwebte wie auf einer Silberwolke und kalte, reine Tropfen aus der göttlichen H ö h e ins Irdische fallen ließ« (104). Als dezidiert »häßlich« empfindet Joachim, in welcher Weise sein Vater von »dem Projekt der Heirat« spricht (69). Ausdrücklich ist von »Briefbeschau« (73) die Rede, und: »Mit der Post hatte es Herr von Pasenow stets gehabt« (75).
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(22). Pasenow der Ältere zerrt ans Licht und beredet, mehr noch: zerredet, was in einem realistischen Roman, Irrungen, Wirrungen etwa, als Handlung abläuft. Daß der Vater dem Sohn in dieser Weise zu nahe tritt, verwandelt die Sukzession des Geschlechts in ein schroffes Gegeneinander: »In der Droschke saßen Vater und Sohn nebeneinander, steif, die Stöcke zwischen den Knien, feindlich« (23). Diese Konstellation, nämlich die der Trennung des Wahren und des Poetischen, ihre Dissoziierung in zwei verschiedene Figuren, wiederholt sich in Joachims Verhältnis zu seinem Bruder Helmuth. >Verkörperte< schon der alte Pasenow bei seinem einleitenden Gang durch Berlin den sich von sich selbst entfernenden Realismus, so entwickeln seine Söhne die Auflösung dieser Literaturform noch, fördern deren gleichsam negative Genese. Mit ihnen spaltet sich der einst einheitlich homogene Diskurs weiter und gibt so zusätzliche Bestandteile seines >Innenlebens< preis. Helmuth verfügt über einen >Inhalt< (oder strebt doch jedenfalls einen solchen an) in Gestalt einer, wie er selbst formuliert, »höheren Idee«, der er sich unterzuordnen wünscht (46). Was ihm, der als Bauer auf dem Gut seines Vaters lebt, fehlt, ist offenbar die zugehörige >FormSinn< zuständig, so Joachim für den anderen Teil der herkömmlichen (ästhetischen) Ganzheit. Die ausgesprochene Formlosigkeit seines Vaters konterkariert er mit einem dezidierten Formalismus, mit dessen äußerem Zeichen, der Uniform, er eine Art Kult treibt. Ohne wirkliche Substanz - Joachim empfindet durchaus »das Zirkusmäßige des Dienstes« (127) - vermag sie dem »Leben zwar keinen Inhalt, wohl aber Haltung« zu geben (27), Gegenposition zur Existenz des Bruders. Was zusammengehören sollte, hat sich getrennt und ist, jedes für sich, überpointiert, übersteigert. Die beiden (Diskurs-)Hälften haben sich in den Pasenows zu Partialtrieben reduziert und auseinanderentwickelt, die den Bestand der auf Einheitlichkeit beruhenden (Roman-)Kunst nicht mehr zu gewährleisten imstande sind. Anders als sein Vater, der als ihr Inbegriff gelten kann, perhorresziert Joachim die Konvertibilität: »Es graute ihm, weil einer durch den andern zu vertreten war« (64). Die plakative Direktheit des alten Pasenow, die notorisch »geschäftige Geradlinigkeit, die ihm eigentümlich« (19) ist und mit der er stets unverblümt zum >Wesentlichem zu kommen pflegt, wird - gleich bei dessen erstem Auftreten - mit der unverkennbaren Neigung seines Sohnes zur Abschweifung, zur Assoziation konfrontiert: »Regellos flöß Wichtiges und Unwichtiges durcheinander« (13). So bedeutet das Zusammentreffen der beiden Pasenows in Berlin, Antagonismus der Diskurse im Gewände des Generationenkonflikts, das Auseinanderbrechen von Abstrakt-Allgemeinem und Konkret-Besonderem, wenn man so will: den Gegensatz von Prosa und Poesie. Während der V a t e r , für den der
Text bezeichnenderweise keinen Vornamen bereithält, vom Land in die 74
(Groß-)Stadt hineingeht, nimmt der Blick seines Sohnes die umgekehrte Richtung: »Er stand vor der Börse. Er sehnte sich nach dem Lande« (58). Joachim stellt sich dort, zu Hause, einen poetischen Ort vor, der die Züge eines bürgerlichen locus amoenus trägt, gesellschaftsfreie Natur und Liebe. »Hankels Ablage« ist zum Traum geworden: »Schön wäre es, von all dem nichts zu wissen und mit Ruzena durch einen stillen Park und an einem stillen Teich zu wandeln« (58). Aber: »Der Verkehr toste um ihn herum; oben donnerte die Stadtbahn. Er blickte die Passanten nicht mehr an, wußte er auch, daß sie fremdartig und unheimlich aussahen. Er wird diese Gegend fortab vermeiden« (58). Wieder ist der Blickkontakt nicht nur gestört, sondern überhaupt negiert. Hier erkennt man sich nicht wieder. Joachims Romantik, wie die des Pasenow generell, ist diejenige dessen, der sich verschlagen sieht in eine unpoetische Gegend, nostalgischer Rückblick auf den Realismus und, darüber hinaus, auf den epischen Urzustand schlechthin. Ein »Mann vom Lande«, widersetzt sich der jüngere Pasenow dem »Gesetz« der Stadt, das die individuelle Besonderheit zerstört und jeden zum letztlich austauschbaren Stellvertreter eines anderen degradiert. 59 Der Kampf um die eigene Geschichte, der nicht zu gewinnen ist, bringt Joachim den Status einer allerdings gefährdeten Mittelpunktsfigur ein, ohne daß er dadurch zum Helden würde. Nicht eigentlich geschaffen zum Repräsentanten taugt er doch als Demonstrationsobjekt für die Krise des Repräsentativen, vor allem einer Kunst, die solchen Anspruch erhebt. 60 In der mehr oder weniger ausgeprägten Nicht-Identität des Schlafwandler-Personals spiegelt sich nicht primär die entfremdete Gesellschaft, 61 jene, soweit sie im Text erscheint, reflektiert vielmehr die Befindlichkeit des mit sich nicht identischen Romans, der >unterwegs< ist, weg von sich selbst und einem Protagonisten, der keiner mehr sein kann. Zu konstatieren bleibt das allmähliche Zugrundegehen einer zu poetischer Funktion (vor-)bestimmten Figur. (Am Ende der Trilogie, in Huguenau, ist Joachim von Pasenow wirklich dem Tode nahe.) Ähnlich wie die Baddensens verficht Joachim ein defensives ästhetisches Konzept, oder anders gesagt: Er vertritt das Prinzip des Artistischen konservativ. In diametralem Gegensatz zu seinem Vater ist er bestrebt, die Realität 59
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Neben dem der »erzählten Stadt« (vgl. Volker Klotz, Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, München 1969) gilt es in der Moderne vor allem, den Topos der nicht erzählbaren Stadt zu beachten. Und schon Renate v. Vitzewitz in Fontanes Vor dem Sturm (Werke, Bd. 2, S. 42) findet, die »großstädtischen Herren« seien »schlechte Erzähler«. Wie Gisela Brude-Firnau, »Wilhelm II oder Die Romantik. Motivübernahme und -gestaltung bei Hermann Broch« (in: ZfdtPh 93,1974, S. 238-257), S. 241, anmerkt, ist Joachim v. Pasenow mit Kaiser Wilhelm II gleichaltrig. Seine »wilhelminisch grundierte Gestalt« (a.a.O., S. 251) zeigt aber gerade, wovon er sich unterscheidet, daß die Identität von Besonderem und Allgemeinem nicht (mehr) statthat. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß Joachim, als er an der Borsigfabrik vorbeikommt, die Arbeiter exotisch erscheinen, »nicht viel anders als das Volk der Böhmen« (68).
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durch Symbole und symbolische Handlungen zu verhüllen oder verhüllt zu halten. So stilisiert er Elisabeth nicht nur zu einer Kult-, sondern beinahe schon zu einer Kunstfigur. Der »Traum von weißen Spitzen« (39), den er ihr zudenkt, verdeckt sorgsam, was seine Freundin Ruzena, ungewollt hart und direkt, da der deutschen Sprache nicht völlig mächtig, als Gruß so formuliert: »Schickt viele Pussi«; »ein Wort«, das für den Empfänger »die Sanftheit ihrer Küsse zu entweihen schien« (78), gesellt sich die Böhmin auf diese Weise doch zu Pasenow, dem Älteren, entblößte Vagina, die dem zur Schau gestellten Phallus entspricht. »Das Ästhetische für das Ethische nehmend, wie jeder Konservativismus es tut« (714), begreift Joachim Erkenntnis stets als diejenige des Geschlechts und macht den Vater zum Träger von »Geheimnissen«, die er als unenträtselbare postuliert (105). 62 So definiert Elisabeths zukünftiger Ehemann, ins Zentrum des Hauses Baddensen gelangt, das für den Text gültige Verhältnis von Kunst und Wahrheit: »Denn nun stand vor seinem Auge, hier vor aller Augen, unverborgen vor Elisabeth, die er von solchem Wissen belastet und vergewaltigt fühlte, Bett an Bett, bereit zur Sexualfunktion der Baronin, die er nun zwar nicht nackt, aber undamenhaft und wie aufgerissen vor sich sah, stand dieses Schlafzimmer, und dies Zimmer erschien ihm nun plötzlich als der Mittelpunkt des Hauses, als sein versteckter und doch öffentlich sichtbarer Altar, um den alles andere herumgebaut war. Und ebenso plötzlich wurde ihm klar, daß in jedem der Häuser der langen Villenreihe, die er durchschritten hatte, ein ebensolches Schlafzimmer Mittelpunkt ist und daß die Sonatinen und Etüden, hinausgesendet aus den geöffneten Fenstern, hinter denen der Frühlingswind die weißen Spitzen vorhänge sanft bewegt, bloß den wahren Sachverhalt verschleiern sollen« (38). Prononciert der alte Pasenow ebenso wie Ruzena, die zur Hure wird, das Erotische, so entspricht dem auf Seiten des Sohnes die Exhibition des Ästhetischen; Kunst als Verbrämung, im Wortsinn: Verkleidung von Sexualität. Eben diese Funktion erfüllt die Uniform, mit deren Hilfe Joachim »das Anarchische, das allen gemeinsam ist« (26), im Zaum zu halten versucht. Sie hat für ihn eindeutig poetische Valenz, während das Zivil, in dem er bezeichnenderweise seinen Vater »begleiten mußte« (28), kaum weniger unverkennbar prosaisch gefärbt ist. Nicht umsonst erscheint es ihm »völlig ungereimt«, daß der Alte von ihm verlangt, »er möge Elisabeths halber den Dienst quittieren« (68), was ja nichts anderes heißt, als die Uniform auszuziehen, von der er »fast hätte [...] wünschen mögen, daß« sie »wie eine direkte Emanation der Haut wäre« (26). Auf seinem Verhältnis zum Artifiziellen basiert Joachims Verweigerung von Sexualität. So wenig wie an Elisabeth darf man an ihn rühren, soll nicht die kunstvolle Hülle zerstört werden. Unglück ist in Pasenow fast immer mit
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Nicht von ungefähr taucht in diesem Zusammenhang die Erinnerung an den Bruder auf, der im Sinne der Nachfolge des Vaters, der Frau, Elisabeth, zugeordnet wird.
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irgendeiner Form des Verkehrs verbunden, 6 3 mit dem Verlust einer Statik also, die den ästhetischen Zustand aufrechterhält. 6 3 " Daß Joachim das »Geheimnis« des Vaters nicht ergründen will, bedeutet, daß er sich weigert, selbst Vater zu werden. »Hartnäckig« schiebt sich ihm das »Kinderporträt« Elisabeths »vor die lebende Erinnerung« (121). Statt, wie es einem ordentlichen Protagonisten anstünde, in der Fortsetzung seiner selbst Identität zu gewinnen, flieht er in die Regression und sucht das »Einheitliche« in der Kindheit (119), dem U r s p r u n g nicht aber dem Ziel - von Kunst. Sexualität und Ästhetik fügen sich in dem der Moderne vorangehenden Roman weitgehend nahtlos in der Darstellung von Begebenheiten, die um Liebe, Ehe und (potentielle) Nachkommenschaft kreisen. Fast könnte man sagen: Jede dieser Geschichten wird erzählt, damit eine andere (demselben Muster folgende) geschrieben werden kann, dient perspektivisch der Erzeugung eines neuen Protagonisten, ein Status, den der alte Romanheld genau an diesem Punkt einbüßt. In aller Regel sind daher die Hauptfiguren Liebende und nicht etwa Väter (oder Mütter). Auf das Kind als den Fluchtpunkt des Textes wirkt der ältere Pasenow von Beginn an hin. Die Beschaffung eines Erben muß als sein wesentliches Motiv gelten. Der Sohn aber sträubt sich, das Prinzip des Patriarchalisch-Diskursiven zu verkörpern, womit er an die Stelle des Vaters träte. Penetration heißt zugleich Selbstentblößung. Joachim ist ein Ende, von dem allenfalls noch, über das hinaus jedoch nicht (mehr) erzählt werden soll. Jeder für sich ein Residuum des Ästhetischen, können er und Elisabeth im Grunde, das heißt unter den Voraussetzungen des Romans, unmöglich zusammenkommen. Folgerichtig bietet ihre Hochzeitsnacht - der Zipfel eines Kissens wirft nicht umsonst einen »häßlichen Schatten« (174) - das nachgerade groteske Schauspiel ihrer Unvereinbarkeit. Statt die Ehe zu vollziehen, inszeniert Joachim einen ästhetisch-spirituellen Akt, über dessen Lächerlichkeit nicht die Funktion übersehen werden darf, die ihm im Rahmen eines Textes eignet, dessen Handlung (und Intention) darauf gerichtet ist, literarische Totalität im überkommenen Verstände zu sezieren beziehungsweise als zerstückelte vorzuführen. So schließt der erste Teil der Schlafwandler-Tfilope mit einer Orgie des Getrenntseins. Nach einem »schweigenden Kniefall vor dem Bette« Elisabeths (176) legt sich Joachim in voller Montur - lies: Uniform - neben seine Frau. Keiner aus dieser Sippe, so wird hiermit endgültig klar, ist imstande, die Protagonistenrolle auszufüllen. Zu der (Roman-)Hauptfigur, die sein Vater nicht mehr abgibt, vermag Joachim erst recht nicht zu werden. Pasenow: Das
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Auf dem Pasenowschen Gut hält sich »hartnäckig das Gerücht, daß der Alte durch irgendwelche Machinationen mit der Post eine Heirat und das Glück seines Sohnes zerstört habe« (74). Elisabeth stellt sich vor, Joachim (84), später auch Bertrand (115) werde von einem Zug überfahren. Daher weiß Elisabeth, ist sie schon gezwungen, Verkehrsmittel zu benutzen, wenigstens »den häßlichen Anblick einer gebückt ins Coupe kletternden Dame geschickt zu kaschieren« (69).
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ist nicht mehr der »Adel, wie er [...] sein sollte«, um eine Formulierung Fontanes mit Blick auf den Stechlin zu zitieren, 64 womit die Kunst zumindest mit gemeint war. Diese Herrschaften repräsentieren eine Ästhetik, die nicht mehr sein kann. Statt (neues) Leben zu initiieren, gerät die Eheschließung Elisabeths und Joachims nur zu einer weiteren Station jenes Totentanzes, dessen Auftakt der Gang des alten Pasenow durch die Straßen Berlins bildete und dessen Höhepunkt und Abschluß der große Krieg in Huguenau sein wird. Bereits die offizielle Brautwerbung hat man mit »einer Sterbeszene« verglichen, 65 und als Ergebnis der Hochzeitsnacht ist zu registrieren: »Sie lagen regungslos und sahen zur Decke des Zimmers, darauf sich gelbe Lichtstreifen von den Spalten der Fensterjalousien abzeichneten, und es glich ein wenig den Rippen eines Skeletts« (178). Die Ästhetik der Fortpflanzung scheitert. 66 Schon der Plüschfauteuil, den die Baronin Baddensen in ihren Garten stellen läßt und auf dem Joachim und Elisabeth zusammen sitzen, hat die Farbe »einer verwelkenden schwarzroten Rose« (37).67 Das von dem Paar später doch noch gezeugte Kind, ein negativer Euphorion, bezeugt in erster Linie das Sterben des Romans. In diesem Sinne tot geboren, braucht es im weiteren Verlauf der Trilogie nicht einmal totgeschwiegen zu werden, es spielt schlicht keine Rolle, kommt nicht mehr vor. Seine Funktion geht auf in dem Nachweis, daß »nicht mehr erzählt werden« kann, nicht »muß«, wie es im Text heißt (179). Diesem Schluß lediglich »Illusionsbruch« zu attestieren, 68 genügt nicht, bedeutet er doch die Bankrotterklärung einer ganzen Poetik. »Nichtsdestoweniger hatten sie nach etwa achtzehn Monaten ihr erstes Kind. Es geschah eben. Wie sich dies zugetragen hat, muß nicht mehr erzählt werden. Nach den gelieferten Materialien zum Charakteraufbau kann sich der Leser dies auch allein ausdenken« (179). Statt dem Roman ein Ende zu setzen und Platz zu schaffen für einen neuen, anderen, dient die Nachricht von der Geburt des Kindes lediglich als Gelenkstelle innerhalb des Textes, die >papierenVerkehrsForm< zu betrachten, die sich die - eigentlich grundlegende - Problematik des Literarischen selbst verleiht. Nicht - oder doch jedenfalls nicht in erster Linie - der Verfall des Feudalsystems72 steht zur Debatte, wird beschrieben und dargestellt, sondern weit eher das durch das Feudale, den Adel repräsentierte, ja akzentuierte literarische System. Auch schon die Barbys bei Fontane leben in Berlin und vorher sogar in London, aber es gelingt, sie - in Gestalt von Woldemars Braut Armgard - in den ländlich-epischen Bezirk des Stechlin zu reintegrieren. Bertrand hingegen verschwindet »im Dunkel der Großstadt« 70
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Hermann Broch, »Methodologischer Prospekt. Der Roman >Die Schlafwandler« (in: Materialien, S. 7 - 1 0 ) , S. 9. Kreutzer, S. 78. Vgl. a . a . O . , S. 76ff.
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(57). Es zeigt sich, daß der Gang des Alten nach Berlin herein nicht zuletzt ihm gegolten hatte. Könnte er Bertrand auf seinem Gut ins Auge fassen, er würde den jungen Mann sehen, der er selbst einmal gewesen war. In Form der Erbfolge stellt sich demnach auf der pragmatischen (Text-) Ebene wiederum die Frage nach dem Protagonisten, eine ästhetisch motivierte Heredität, fungiert doch der ältere Pasenow geradezu als >Vater< des Romans. Seine auf Bertrand gemünzte Feststellung, »daß der Schlingel ausgesprungen sei« (22), ist unter dem Aspekt des um die eigene Kontinuität besorgten Epischen zu verstehen, dem die Luft auszugehen droht. Die einleitenden Überlegungen zur Theorie des modernen Romans ergaben, daß das Diskursgefüge, betrachtet man es vom Standpunkt des realistischen Status quo, dadurch in >Unordnungrealistische< Lesart und Auffassung dieser Figur - und sei sie noch so modifiziert - scheidet demnach prinzipiell aus. Ebenso verbietet es sich, in ihr die Verkörperung oder Symbolisierung allgemeiner Tendenzen zu sehen. 74 Wäre Bertrand dies, die ganze Trilogie hätte ungeschrieben bleiben können, bildet doch eben das Nicht(mehr)gelingen von Verkörperung und Symbolisierung - zumindest im herkömmlichen Sinn - ihr konstitutives Thema. Mit Bertrand kehrt der Roman sein Innerstes nach außen, diskutiert sich selbst. Somit sollte, vor allem mit Blick auf ihn, nicht das »bestimmende Gestaltungsgesetz« 75 aufzuspüren versucht werden in einem Text, der das literarische Grundprinzip >Gestaltung< fundamental in Frage stellt. Statt, wie in der Brochliteratur weitgehend der Fall, die »Einheit von >Darstellungsmittel< und >Darstellungsgegenstand«< 76
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A . a . O . , S. 159. Kreutzer (S. 122) hält Bertrand für die »Verkörperung« des »Überrationalen«, nach Ansicht von Dorrit Ciaire Cohn (The Sleepwalkers. Elucidations of Hermann Brock's Trilogy, The Hague/Paris 1966, S. 99) ist er »the personification of the >geistige SubstanznachzuweisenIrrationalen< gegen das >RationaleSinn< ihres Zusammentreffens, ihrer Konfrontation, ist eben, die irreversible Dichotomie erkennen zu lassen, die den Modus der Realitätsillusion gerade verhindert. In Esch und Bertrand begegnen sich keine lebendigen Menschen. D a ihm die Möglichkeit, zu einer >ganzen< Figur zu mutieren, verschlossen ist, wird Esch - eine kleinbürgerliche Christusfigur, ans Kreuz einer untergehenden Ästhetik geschlagen 118 - zum Bilderstürmer. Es gilt, das »drohend« erhobene »Bild Bertrands, des schweinischen Präsidenten«, »diese vergrößerte und eigentlich unvorstellbare Gestalt« (268), zu zerstören. Entsublimierung ist die (unbewußte) Parole des verhinderten Protektors der Kunst, und das bedeutet konkret, daß Esch die homosexuelle Veranlagung Bertrands mittels einer »Anzeige« publik macht (357). Anders ist dem Sich-abgewandt-Habenden nicht (mehr) beizukommen. Unschwer sind in dieser »Anklage« Züge der Projektion zu erkennen, war es doch von Anfang an des Buchhalters Bestreben, sich mit dem Präsidenten zu vereinigen. 119 Der Rufmord ist - wie jeder Mord - ein umgekehrter Liebesakt, Sühne und Ersatz zugleich für die nicht zustandegekommene Identität. 120 Esch tötet Bertrand symbolisch, da er sich in ihm nicht verkörpern kann, allerletzter Versuch, sich diesem deus absconditus als Sohn anzutragen, und schon sein Mißlingen eingestehend. Das Geheimnis des Vaters ist in den Schlafwandlern, so war schon in ihrem ersten Teil zu lesen, das Geheimnis der Sexualität. Im Gegensatz zu Joachim von Pasenow, dem Konservator des Ästhetischen, der es gewahrt wissen wollte, betreibt Esch seine Enthüllung und zeigt mit Fingern auf Bertrand, »der sich auch immer« »versteckt« hält (245). Wie der ältere Pasenow beginnt auch er mit der Destruktion der Symbole - indem er sie einlöst. Esch klagt Bertrand seiner Homosexualität wegen an, statt die dahinter verborgene tiefere Bedeutung des Artistischen wenn nicht zu erkennen so doch zu respektieren. Er tötet den Präsidenten am Ende >wirkliche denn er treibt ihn in den Selbstmord (363): außerdem heiratet er Mutter Hentjen und avanciert somit zu einer Art realem Ödipus. Auf die Szene, in der er mit der Witwe einig geworden ist, folgen die Sätze: »Er klopfte die Decke zurecht und sorgsam zog er sie auch über Mutter Hentjens Schulter. Hierauf griff er nach dem messing118
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In seinem Dialog mit Bertrand gebraucht Esch selbst die Formel »Ans Kreuz geschlagen«, die von seinem Gegenüber sogar noch wiederholt wird (339). Zudem taucht in Verbindung mit dem Buchhalter auffallend oft das Wort »Essig« auf (274, 306), der Trank, der dem gekreuzigten Christus gereicht wird; vor allem: »Mit Amerika war's also Essig.« (371) Kaum ohne Hintergedanken (des Textes) dürfte sein, daß Esch gleich zu Anfang bei seiner plötzlichen Entlassung »nichts anderes als das Götzzitat eingefallen« war (183). Vgl. hierzu auch Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Bd. 2, Männerkörper Zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 314, wonach »der aggressive (>tötendekünstlerischen< Aktivitäten Eschs - von den Modellen des Eiffelturms, der Freiheitsstatue und des Schillerdenkmals, wozu noch eine Ansichtskarte aus Badenweiler kommt (334), über das Messerwerfen bis hin zu den Damenringkämpfen - dem Kitsch verfallen und somit aufs Scheitern angelegt. Die Kinderlosigkeit, in Pasenow erst angedeutet, wird in Esch Realität. Die Unfruchtbarkeit Mutter Hentjens, deren Teil »Sachlichkeit« ist122 und die dem Buchhalter auf eben diese Weise begegnet, 123 erzeugt ein Buch: den dritten Teil der Trilogie, Huguenau. 2.1.4 Die Idee als >Erzähler< Daß die Schlafwandler an dieser Stelle - mit dem zweiten Roman - nicht enden, liegt wesentlich an der Fortexistenz von Esch. Zwar ist der Präsident, als der für die Misere (Haupt-)Verantwortliche, tot, doch in der anderen Diskurshälfte, die zu jenem gehört wie das Negativ zum Positiv, in geringerem Maß auch in dem übrigen Personal (Joachim v. Pasenow, Mutter Hentjen), das sich um Bertrand gruppiert hatte wie um eine Hohlform, schleppt sich die noch keineswegs bereinigte literarische Problematik weiter.
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Schließlich findet man »an der Stelle von Hentjens Bild einen weißen Fleck, an dessen Rand Spinnweben hingen« (362). Vgl. Die Schlafwandler, S. 302, 305. »Sie empfing ihn weich und sachlich und ließ ihn allein in seiner Einsamkeit.« (378)
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Wenn die These stimmt, daß Esch und Bertrand (wie zuvor schon Joachim und Eduard) nur in wechselseitiger Abhängigkeit möglich und denkbar sind, so muß es auch zu dem »Überlebendem in Huguenau ein Äquivalent geben. Und in der Tat: Der mittlerweile zum Zeitungsredakteur (und -besitzer) gewordene ehemalige Buchhalter ruft Bertrand noch einmal auf den Plan, in Gestalt eines Wiedergängers: als Dr. phil. Bertrand Müller. Beide jedoch haben keinerlei direkte Berührungspunkte mehr; der eine lebt in einem kleinen Moselstädtchen, der andere in Berlin als - Schreibender, Autor jenes Exkurses, der unter der Überschrift »Zerfall der Werte« den dritten Teil der Schlafwandler periodisch durchzieht und so etwas wie die theoretische Explikation des Geschehenen bildet. Was der erste Bertrand tut, indem er sich entzieht, erläutert der zweite. Es hat um diese von Broch erst spät eingeführte Figur ausgiebige Diskussionen gegeben, und man wollte aus ihr gar »das Erzähl-Ich der ganzen Trilogie« machen.124 (Als hätte sie nicht schon genug mit der Hinterlassenschaft ihres Vorgängers zu tun.) Doch Bertrand Müller ist die Folge, das Resultat von Eschs Scheitern bei dem Versuch, den Protagonisten wiederherzustellen durch die Verbindung mit Eduard v. Bertrand. Er kann nicht als das retrospektive Erzählersubjekt gelten, das sich erst jetzt zu erkennen gibt, vielmehr stellt sich gerade in und mit ihm die von den Schlafwandlern thematisierte Problematik des Erzählens nochmals in prononcierter Form. Bertrand Müller versucht sich nämlich quasi als Romancier. Neben dem »Zerfall der Werte« verfaßt er noch einen zweiten sukzessive aufscheinenden Text, die »Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin«, die Ereignisse aus seinem unmittelbaren Lebensbereich schildert. Müller will, wie er dort berichtet, eine Ehe stiften zwischen dem Heilsarmeemädchen Marie und dem Juden Nuchem, ein Vorhaben, das getrost romanesk genannt werden darf, ist diese epische Großform doch traditionellerweise geradezu als Liebesgeschichte definiert.125 Am Ende aber laufen ihm die Figuren buchstäblich davon, und er kommentiert diesen Vorgang mit den Worten: »[...] selbst Nuchem und Marie sind mir fremd, sie, denen meine letzte Hoffnung gegolten hat, die Hoffnung, daß sie meine Geschöpfe seien, die unerfüllbare süße Hoffnung, daß ich ihr Schicksal in die 124
Lützeler, S. 74. Mit Nachdruck vertritt Jean Paul Bier, »Die formtheoretische Bedeutung des Bertrandproblems in Die Schlafwandler von Hermann Broch« (in: Revue des Langues Vivantes 1968, S. 5 0 8 - 5 1 3 ) , S. 510, die These, Bertrand Müller sei »in Wirklichkeit der Erzähler der ganzen Trilogie«. Ebenso argumentieren Theodore Ziolkowski, Strukturen des modernen Romans. Deutsche Beispiele und europäische Zusammenhänge, München 1972, S. 150ff., und Cohn, S. 164.
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Das tut schon Pierre Daniel Huet in seinem Traiti de l'origine des romans (1670). In der Bettszene zwischen Nuchem und Marie will Gisela Brude-Firnau, »Die 9. Episode der »Geschichte des HeilsarmeemädchensErzähler als Idee< und nicht minder die Sprache, mit der er das Darstellungsobjekt beschreibt, als Darstellungsmedien hineingehören. Was er zu schaffen trachtet, ist eine Einheit von Darstellungsgegenstand und Darstellungsmittel im weitesten Sinne genommen, eine Einheit, die manchmal wohl so aussieht, als würde das O b j e k t durch die Sprache, die Sprache durch das O b j e k t bis zur völligen Auflösung vergewaltigt werden, die aber trotzdem Einheit bleibt.« 1 2 7 E b e n dies geschieht im Falle Bertrand Müllers nicht. Die Subjekt/Ob]ektIdentität, die der Konzeption des »Erzählers als Idee« zugrunde liegt, zerbricht ja gerade, erweist sich als trügerisch. Die Schlafwandler werden von einer a n d e r e n , wenn man so will: avancierteren Problematik bestimmt. Nicht das W e r d e n des Erzählens stellen sie dar, sondern dessen (Ab-)Sterben. Und zwar tun sie dies nahezu im Hegeischen Sinne, wonach die Kunst aus ihrer Position absoluter Erkenntnis von der Wissenschaft verdrängt wird. 128 Statt einen »Erzähler als Idee« eruieren zu wollen, geht es darum, das durch die Textstruktur zu belegende F a k t u m der Idee als >Erzähler< zu akzeptieren und bei der Analyse dementsprechend zu verfahren. Nur so läßt sich der in und mit den Schlafwandlern vorliegende Tatbestand eines sich selbst zersetzenden, gleichsam zu T o d e bringenden R o m a n s angemessen formulieren. Die nicht erst in Huguenau festzustellende Dominanz des literarischen Codes mündet keineswegs in Poetisierung. Ganz im Gegenteil, es ist, von Beginn des Pasenow an, eine ausgesprochene Partialisierung und Reduzierung des poetischen Diskurses im Vergleich mit dem wahren zu konstatieren. 1 2 9 U n d diese äußert sich paradigmatisch in der ständig, von Band zu Band zunehmenden Diskrepanz von Gestalt und Stimme. Alle drei Teilromane zeigen Personen auf der Suche nach d e m verlorenen Diskurs. Das, ein fundamental literarisches, beinahe schon romantechnisches Problem ist das Kardinalthema der Trilogie. 126 127 128
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Vgl. Lützeler, S. 79. »James Joyce und die Gegenwart«, S. 78. Zumindest in groben Zügen läßt sich in der Trilogie eine Analogie zum Gang des Hegeischen absoluten Geistes feststellen: In Pasenow herrscht die zerfallende Kunst, in Esch tritt das Thema Religion verstärkt zutage, und in Huguenau dominiert die Wissenschaft. Vgl. hierzu auch Mandelkow, S. 157, der auf die »Prävalenz der Erkenntnisintention vor der Gestaltungsintention« im Roman des 20. Jahrhunderts verweist.
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Schlafwandeln, Umschreibung auch hierfür, bedeutet, daß die Figuren nicht (mehr) das Gesetz des Handelns in sich haben, sondern sich dem außerhalb ihrer befindlichen Logos anzunähern gezwungen sind,130 wie die Drift hin zu Bertrand in Pasenow und Esch demonstriert. Der Immanenz des Sinns beraubt, wendet sich schon Joachim der Religion zu, eine Linie, die Esch fortführt. Dabei indiziert das (religiöse) Thema hier, wie so oft im modernen (deutschen) Roman, vor allem die Exterritorialität des wahren Diskurses. Die Rechtsanwaltsgattin Hanna Wendling in Huguenau hört eine »Stimme«, die ihr Befehle erteilt (678ff.). Was es hier zu konstatieren gilt, ist nicht Schizophrenie im klinisch-psychologischen Verstand; die Diagnose muß unter Berücksichtigung der literarisch/literaturtheoretischen Symptome und deren Anamnese gestellt werden. Wohl trifft zu, daß Schlafwandler mit sich nichtidentische Personen sind (zumal wenn sie Stimmen hören), so wie der somnambule Schauspieler Zrcadlo in Meyrinks Walpurgisnacht, der »nie bei sich« ist,131 und dessen Name soviel wie Spiegel bedeutet. Aber die (verlorene) Identität, um die es hier (und im modernen Roman generell) geht, ist nicht eine solche realer Menschen, sondern es handelt sich um jene Protagonistenexistenz, die sich der Kongruenz von poetischem und wahrem Diskurs verdankt. Die Schlafwandler erweisen sich somit als nicht eigentlich erkenntnistheoretischer Roman, fragen sie doch nicht den (Vor-)Bedingungen der Realisierung von Kunst nach, sondern konstatieren deren Unmöglichkeit, machen sie zum Handlungsgegenstand. Zur Aufführung gelangt ein Nachspiel. Das zentrale Motiv des Gehens, der Reise, 132 erscheint gleichsam in zweiter Potenz. Statt einem Lebensweg oder auch einer Bildungsgeschichte als Medium zu dienen, beschreibt es die Geschichte des Romans, seine Problematik. Wie sehr in Brochs Trilogie das Epische selbst zum - allerdings auf dem Rückzug befindlichen - Helden geworden ist, erhellt allein schon aus der Tatsache, daß der Zeitraum des Geschehens, von 1888 bis 1918, die erzählte Zeit also, genau jene dreißig Jahre umfaßt, die einem ordentlichen Protagonisten von Rechts wegen als Alter zustünden. 133 Der Schlußteil der Trilogie ist bevölkert von beschädigten, Versehrten, buchstäblich reduzierten Figuren. Ob nun der Hauptmann Jaretzki, der im Krieg einen Arm verloren hat, oder Hanna Wendling, der ihr Mann abhanden gekommen ist, (fast) allen fehlt irgend etwas - Bertrand, so wäre zu ergänzen. Hanna Wendling, deren Leben »weitgehend aller Substanz entleert« ist (422),
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Insofern ist Koebner (Die mythische Dimension, S. 44f.) zuzustimmen, wenn er konstatiert: »Die Thematik des Romans läßt sich als Suche nach dem verlorenen Absoluten beschreiben.« Gustav Meyrink, Walpurgisnacht, München 1977, S. 45. Vgl. hierzu Hartmut Steinecke, Hermann Broch und der polyhistorische Roman. Studien zur Theorie und Technik eines Romantyps der Moderne, Bonn 1968, S. lOlff. Vgl. hierzu Ziolkowski, S. 225ff.: »Der Roman des Dreißigjährigen«.
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wohnt in einem »halbzertrümmerten >Haus in RosenRationalem< und >Irrationalempositiven< Protagonisten. Da die Figuren mit ihrem Versuch gescheitert sind, sich mit dem allgemeinen Diskurs zu verbinden, somit das Wahre und das Poetische wieder zu vereinen, tritt der Kommentar in den Vordergrund und übernimmt die Führung des Textes (die er im >geheimen< freilich immer schon innehatte). Die Idee, die keine Verkörperung findet, wird zum >ErzählerManifestationerzählt< die Idee buchstäblich ihren Zerfall mit dem Körper - und damit denjenigen des Erzählens-; jener nämlich unterwirft sich einer »dauernden Unterernährung« (635), die ihm »in einer Art Wirklichkeit zweiter Stufe zu leben« gestattet, in »einer Art unwirklicher Wirklichkeit, wirklicher UnWirklichkeit«: »Es war eine Art Schwebezustand zwischen Noch-nicht-Wissen und Schon-Wissen, es war Sinnbild, das sich nochmals versinnbildlichte, ein Schlafwandeln, das ins Helle führte« (635). Entkörperung, Enrealisierung ist der Preis für die noch einmal erzwungene momentane Subjekt/Objekt-Identität: »In dieser schwebenden Wirklichkeit strömten die Dinge auf mich zu, sie strömten in mich ein, und ich mußte mich nicht um sie bemühen« (635). Doch wird diese neue, im Wortverstand sinnvolle Realität begleitet von der »Überzeugung, daß die Einheit von Denken und Sein nur im bescheidensten Rahmen zu verwirklichen ist [...] Denken und Sein beides auf ein Minimum reduziert« (636). Übrig bleibt, Müller selbst spricht es aus, »ein in die eigene Autonomie eingesponnener Mensch« (688).
2.1.5 Literarische Ideologie? Mit der Figur des ausgesprochenen Nicht-Romanciers Bertrand Müller, mit der die Trilogie am Ende doch noch - und beinahe unverhüllt - expliziert, was sie >im Innerstem bewegt, aber auch sprengt: nämlich die zugrunde liegende Literaturproblematik, widerlegt der Autor, der sein Opus »am liebsten [...] einfach >Historischer RomanEpochengeisteserkenntnistheoretischen< Romans«152 nicht begriffen, höchstens dessen - fragwürdige - Intention beschrieben werden. Der Dichtung die Aufgabe zuzumessen, »die Kräfte der Zeit zu erschauen und sie zu versinnbildlichen«,153 ist keine selbstverständlich zu nehmende, allgemeingültige Definition, sondern formuliert lediglich eine bestimmte literaturtheoretische Position, der unbesehen sich anzuschließen nichts anderes bedeutet, als der damit suggerierten Ideologie gleichermaßen zu verfallen. Daß der allgemeine Epochenstil »im Kunstwerk faßlich in Erscheinung tritt« (462), 149
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Manfred Durzak (Gespräche über den Roman, S. 33) sieht in den »werttheoretischen Reflexionen, die zum Teil in den dritten Teil der >Schlafwandler< eingearbeitet wurden, die Lukäcsschen Gedanken« - der Theorie des Romans - »konsequent weitergeführt und den Verlust der Sinnesimmanenz in der modernen Wirklichkeit mit der geschichtsphilosophischen Formel vom >Zerfall der Werte< charakterisiert«. Vgl. außerdem Manfred Durzak, »Hermann Broch und James Joyce. Zur Ästhetik des modernen Romans«, in: DVjS 40 (1966), H. 3, S. 391-433. Rosenthal, Das fragmentarische Universum, S. 61. Kreutzer, S. 186. A.a.O. »James Joyce und die Gegenwart«, S. 91.
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darf nicht als auf Die Schlafwandler schlankweg zu übertragendes Resultat verstanden werden, solche Feststellung ist vielmehr als petitio principii zu betrachten, der die Schwierigkeiten des Romans mit sich selbst - und damit eben seine >Handlung< - vor allem zu >danken< sind. Der literarische Essentialismus funktioniert nicht mehr reibungslos, er wird thematisch. So enthält die Trilogie zwar - mit dem Exkurs über den »Zerfall der Werte« - (bis zu einem gewissen Grade) ihre eigene Theorie, mit der scheinbar identischen Forderung eines Romantikers wie Friedrich Schlegel 154 aber hat dies nichts gemein; der »Epilog« spricht dezidiert vom »Schweigen des Logos« (716). Unter solchen Vorzeichen gilt es für die Trilogie, ihre immanente Problematik zu bereinigen, die eigenen Überstände zu beseitigen. Denn wenn auch Eduard v. Bertrand gleichsam zu Tode erzählt worden ist und in Bertrand Müller so etwas wie (s)eine Transzendierung erfährt, für das restliche Personal, für die Pasenows, Mutter Hentjen und - allen voran - Esch, stellen die Ausführungen und Einsichten des »Zerfalls der Werte« durchaus keine Lösung dar, sind sie kein rechter Schluß. Diese Leute bleiben als Figuren in einer sinnentleerten Welt, haben keine eigentliche Existenzberechtigung mehr. Mit dem »Exkurs« ist das Dilemma der Schlafwandler lediglich benannt und theoretisch dargelegt, nicht aber (auf)gelöst. Die Trilogie vermag auf diese Weise nur zu versanden, nicht wirklich zu enden. Bertrand Müller kann an diesem Zustand nichts ändern. Sein Weg führt eindeutig aus der Sphäre materieller Wirkung(smöglichkeit) heraus. Nach eigener Wertung Platoniker (618), ausgestattet mit einer »Passivität«, die »von Tag zu Tag« wächst (615), 155 merkliches Verbindungsglied zu seinem >Vorgänger< Eduard v. Bertrand, existiert keinerlei >reale< Beziehung zu den anderen, aus den beiden ersten Romanen überkommenen (Haupt-)Personen. Müller weiß zwar vieles, aber dieses Verhältnis bleibt rein kontemplativ. Selbst wenn man seine Einführung als »die Introduzierung des ideellen Beobachters in das Beobachtungsfeld« (623) gelten ließe, als solcher käme er doch nur für Berlin, für Nuchem und Marie in Betracht, keinesfalls aber für die übrige Handlung des Schlußteils. 156 Notwendiges Produkt dieser Situation ist Wilhelm Huguenau, eine Figur, von deren Einschätzung einiges abhängt, nicht zuletzt auch die Beantwortung der mit der Überschrift zu diesem Abschnitt gestellten Frage. Diese wiederum folgt aus der genauen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Huguenau und Bertrand Müller. Zunächst ist auf das spiegelbildliche (Aufeinander-)Bezogensein der beiden Namen zu verweisen, die mehrere Gegensatzpaare enthalten. Da ist einmal die Polarität französisch/deutsch, wobei im ersten Fall der Nachname, im zweiten 154 155
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Vgl. Friedrich Schlegel, »Gespräch über die Poesie«, S. 516. Müller meint, »die einzig wahre Aktivität« sei »die kontemplative Aktivität des Philosophierens« (615). Vgl. hierzu auch Cohn, S. 59, die klarstellt: »In Huguenau, Bertrand is non-existent in the fictional world of the other characters«.
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der Vorname französisch lautet, und umgekehrt verhält es sich mit dem deutschen Namensteil. Eine zweite, mit der ersten verknüpfte Opposition ist die von gewöhnlich/ungewöhnlich, einheimisch/fremd sowie allgemein/besonders, von wo es nicht weit ist zu dem Begriffspaar poetisch/prosaisch, denn unzweifelhaft eignet den Namen Bertrand und Huguenau ebenso ein poetischer Zug, wie Wilhelm - trotz der Namensgleichheit mit dem deutschen Kaiser, die auf das Generelle verweist - und vor allem Müller ein eher prosaisch alltäglicher, wobei das Mißverhältnis (der Namensteile) im Falle Bertrand Müllers stärker ausgeprägt erscheint als in demjenigen Wilhelm Huguenaus. Treibt man das Versatzspiel noch eine Stufe weiter und ergänzt die Vor- und Nachnamen beider Personen wechselseitig, was einer Kombination jeweils der französisch->poetischen< und der deutsch->prosaischen< Elemente entspricht, ergeben sich: Wilhelm Müller und Bertrand Huguenau, das heißt Zusammenstellungen, die - jede für sich - durchaus stimmig und kohärent, in sich identisch wären und die jeweils als Ganze das GewöhnlichProsaische bzw. das Ungewöhnlich-Poetische repräsentieren würden, kurz: Protagonistennamen sein könnten. Angesichts dieser Konstellation liegt die These nahe, daß die Nachfolge des - toten - Eduard v. Bertrand in Huguenau eine zweifache, eine geteilte ist. Beide, Dr. phil. Bertrand Müller und Wilhelm Huguenau treten an die von ihm geräumte Stelle. Doch verfügen die einander prinzipiell zugeordneten Hälften nur noch über einen einzigen Berührungspunkt, den, sich gegenseitig auszuschließen. Die Dichotomie von Diskurs und Person, für Die Schlafwandler von Anfang an bestimmend, findet in dem Dualismus Huguenau/Bertrand Müller ihren Höhepunkt. Zwar kann der Exkurs-Verfasser als derjenige Teil des (Roman-) Diskurses betrachtet werden, in dem dieser sich selbst erkennt (oder - richtiger - sich zu erkennen glaubt), doch fehlt ihm zum (vollgültigen) Spiegelbild, überspitzt formuliert, der Körper. Diesen besitzt Huguenau zur Genüge, er aber ist unfähig, (sich selbst) zu erkennen. Auch mit ihrer letzten Karte also statuiert die Trilogie keine Identität. Diese bestünde eben in der Einheit Müllers mit Huguenau. Es bleibt jedoch dabei, »daß alle Namen falsch sind« (403). Das Verhältnis der beiden dominierenden Figuren des Schlußteils ist disjunktiv. Huguenau gibt es nur, weil Bertrand Müller keinen Roman schreiben kann. Beide sind keine Repräsentanten, sondern entziehen sich, ganz wie ihr >AhnherrVerkörperung< der Problematik, mehr noch: der Unmöglichkeit des Erzählens. Eher schon ließe sich von ihm sprechen als einem, der das Ganze liest und kommentiert wie eine Geschichte. Huguenau ist Korrelat zu Bertrand Müller (wie es zuvor Pasenow und Esch in bezug auf Eduard v. Bertrand gewesen waren), nicht dessen Kreatur. Er geht poetologisch, wenn auch freilich vor diesem auftretend, aus dem Scheitern des Romanciers hervor. Allenfalls könnte man sagen, Huguenau sei als die Phantasmagorie des Realen zu denken, die, wenn man so will, Bertrand Müller erfindet als sein anderes aktives - Selbst, um der theoretisch nicht zu lösenden Probleme doch noch Herr zu werden, indem er deren Ursachen eliminiert. Die Frage nach der Funktion der titelgebenden Figur des letzten Teils beantwortet sich in gewisser Weise bereits aus der Rolle des Deserteurs, die ja eine negative Identität impliziert. Als Mörder - er wird Esch umbringen - ist er das Gegenteil jenes klassisch-realistischen Protagonistentyps, der (zumindest) in der Nähe des Detektivs steht. Huguenau fungiert als eine Art Anti-Held, der durch betrügerische Machenschaften anderer Leute Eigentum (Eschs Zeitung) an sich bringt und ihnen, wie gesagt, sogar nach dem Leben trachtet. Dennoch wäre es grundverkehrt, eine moralische Elle anzulegen. Man hat, Brochscher Selbststilisierung folgend, in der Hauptfigur des letzten Schlaf wandler-Teils eine Verkörperung faschistischer Ideologie (und damit einmal mehr eben des allgemeinen >Zeitgeistesseinem< (Teil-)Roman getan hatte: nämlich die Kunst aus ihrer >rechtmäßigen< Stellung (bestenfalls) an der Peripherie der Gesellschaft ins Zentrum zu rücken, mithin eben Kitsch zu produzieren. Kaum zufällig hat er »schon daran gedacht«, statt der Zeitung »einen Buchhandel einzurichten« (404). In diesen Zusammenhang gehört auch, daß Esch, den Huguenau mit einigem Recht den »Pastor« zu nennen pflegt (609, passim), den Stadtkommandanten Joachim v. Pasenow dazu bringt, einen religiösen Artikel in seinem Blatt zu veröffentlichen. Die Verbindung von Religion und Zeitung stellt die verfehlte Synthese dar, nämlich die Theodizee des bloßen »Abklatsches« von Realität. 163 Eine Literatur, die sich hieran, dem postpoetischen Zustand schlechthin, orientiert, hat - im Sinne Brochs - keinerlei Perspektive mehr; sie muß eliminiert werden. Dies nicht zu erkennen, beziehungsweise nicht die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen, darin liegt die >Schuld< Eschs. Er ist der »Böse im Wertsystem« auch dieses Romans, Vertreter des Kitsches, und das wird ihm zum Verhängnis. Führt Bertrand Müller, vergeblich zwar, den Kampf um die wahre Kunst, so befindet sich Esch, von dem es, ähnlich wie von Müller, heißt, er wolle »eine Welt formen« (595), unübersehbar auf dem verkehrten Weg. Er
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Vgl. Die Schlafwandler, S. 399ff. »James Joyce und die Gegenwart«, S. 63. Gisela Brude-Firnau, »>Zufällig durch die Zeitung