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German Pages [256] Year 2009
PERSPEKTIVEN DES TODES I N DER M O D E R N E N GESELLSCHAFT
WIENER REIHE T H E M E N DER PHILOSOPHIE
H e r a u s g e g e b e n von C o r n e l i a Klinger, H e r t a N a g l - D o c e k a l , Ludwig N a g l und Alexander S o m e k
Band 15
B Ö H L A U VERLAG · A K A D E M I E VERLAG
Perspektiven d e s Todes in der modernen Gesellschaft
H e r a u s g e g e b e n von C o r n e l i a Klinger
B Ö H L A U VERLAG · A K A D E M I E VERLAG
D r u c k l e g u n g g e f ö r d e r t d u r c h d i e Thyssen-Stiftung
Bibliografische Information d e r Deutschen N a t i o n a l b i b l i o t h e k : Die Deutsche N a t i o n a l b i b l i o t h e k v e r z e i c h n e t d i e s e Publikation in der Deutschen N a t i o n a l b i b l i o g r a f i e ; detaillierte b i b l i o g r a f i s c h e D a t e n sind im Internet über h t t p : / / d n b . d - n b . d e abrufbar. ISBN 9 7 8 - 3 - 2 0 5 - 7 8 3 0 5 - 3 Böhlau Verlag W i e n I S B N 9 7 8 - 3 - 0 5 - 0 0 4 4 4 2 - 2 A k a d e m i e V e r l a g Berlin D a s W e r k ist urheberrechtlich geschützt. Die d a d u r c h b e g r ü n d e t e n Rechte, i n s b e s o n d e r e d i e der Ü b e r s e t z u n g , d e s N a c h d r u c k e s , d e r Entnahme v o n A b b i l d u n g e n , der Funksend u n g , d e r W i e d e r g a b e auf f o t o m e c h a n i s c h e m o d e r ä h n l i c h e m W e g e , der W i e d e r g a b e im Internet und d e r S p e i c h e r u n g in D a t e n v e r a r b e i t u n g s a n l a g e n , b l e i b e n , a u c h bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2 0 0 9 b y B ö h l a u V e r l a g G e s . m. b. Η u n d C o . K G , W i e n · Köln
Weimar
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INHALT
CORNELIA KLINGER Die Bedeutung des T o d e s in der heutigen Gesellschaft
7
Z u r Einführung Leben lassen Ein Gespräch über den Tod z w i s c h e n HUBERTUS VON AMELUNXEN UND DIETER APPELT
11
ANNA BERGMANN Organspenden z w i s c h e n animistisch-magischen Todesvorstellungen und medizinischer Rationalität
24
ULRIKE BRUNOTTE Martyrium, Vaterland und der Kult der toten Krieger Männlichkeit und Soteriologie im Krieg
55
IRIS DÄRMANN Die Auferweckung des eigenen T o d e s H e i d e g g e r und Freud
75
TERRY EAGLETON Death, Evil and Non-being
98
KATHLEEN Μ . FOLEY Transforming the Culture of Death in America
108
ALOIS HAHN UND MATTHIAS HOFFMANN Der T o d und das Sterben als s o z i a l e s Ereignis
121
HANFRIED HELMCHEN UND HANS LAUTER Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und T o d aus ärztlicher Sicht
145
EBERHARD JÜNGEL Der T o d in christlicher Perspektive
183
6
Inhalt
GABRIELA KILIÄNOVA
Das Bestattungsritual als Ausdruck der Transformation der modernen post-sozialistischen Gesellschaft Fallstudie Slowakei OLIVER
193
KRÜGER
Die Vervollkommnung des Menschen Tod und Unsterblichkeit im Posthumanismus und Transhumanismus CHRISTOPH
217
MARKSCHIES
Der Tod im Jenseits W i e bereiten uns Religion und Theologie auf den Tod vor? . . HANS-LUDWIG
232
SCHREIBER
Tod und Recht Hirntod und Verfügungsrecht über das Leben
241
Z u den Autorinnen und Autoren
251
CORNELIA
KLINGER
P E R S P E K T I V E N D E S T O D E S I N DER
MODERNEN
GESELLSCHAFT Zur
Einführung
Unter den Bedingungen des Planeten Erde wird z u allen Zeiten und an allen Orten gestorben -
und getötet. Dennoch hängt die Frage,
was es heißt, sterben z u müssen und töten zu können, davon ab, an welchem Ort, z u welcher Zeit und unter welchen Umständen dies geschieht. Das universale und invariante physiologische Faktum des Todes, das den Menschen keineswegs allein betrifft, ist offen für unendlich viele spezifisch menschliche Deutungen und Anschauungen, Regeln und Gesetze, Verhaltens- und Handlungsweisen. Daher ist die Frage nach dem Tod ganz unmittelbar und wesentlich die Frage nach dem Leben, nach Gesellschaft und Kultur. In den vielfältigen Antworten auf diese Fragen spiegelt sich das weite Spektrum der unterschiedlichen Auffassungen der conditio humana wider. Das Rätsel des Todes werden wir nicht lösen und ihm seinen Stachel nicht nehmen können, aber wir erfahren sehr viel über die Menschen und ihre Welt, wenn wir die Frage nach dem Tod stellen. Wie die Frage nach dem Tod z u stellen ist, hängt davon ab, welches Konzept, welchen Begriff und welches Bild eine Gesellschaft von sich selbst hat - so wie umgekehrt die Konzeption einer Gesellschaft nicht zuletzt davon abhängt, wie sie ihr Verhältnis z u Sterblichkeit und Tod bestimmt. Eine Gesellschaft, die sich in einer höheren, außerhalb ihrer selbst liegenden, transzendenten Ordnung verankert sieht, eröffnet z u diesen Fragen einen prinzipiell anderen Zugang, als eine Gesellschaft, die nicht auf einer solchen Annahme basiert. Eine Gesellschaft, die als Organismus vorgestellt wird, sieht sich damit als ganze den Gesetzen des Lebens und Sterbens unterworfen, während eine Gesellschaft, die als ein Mechanismus gedacht wird, der als perpetuum mobile auf einen infiniten Progress hin angelegt ist, z w a r mit der Sterblichkeit ihrer Mitglieder, nicht jedoch mit der Endlichkeit der Gesellschaftsmaschine als solcher rechnet. Entsprechend verschieden gelagert sind die blinden Flecken und Grenzen, entsprechend unterschiedlich geartet sind die Aporien und Pathologien, an und in die jede Gesellschaft gerät bei dem letztlich notwendigerweise scheiternden Versuch der Bewältigung des schlechthin nicht z u Bewältigenden. Entsprechend variieren die allesamt beschränkten Mittel und W e g e zur
Kontingenzbewälti-
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Cornelia Klinger
gung, welche die Gesellschaften entwickeln. Entsprechend differieren schließlich auch die Einstellungen gegenüber der Macht zu töten, die - keineswegs ein menschliches Privileg - noch jeder Gesellschaft als Hypothek ihrer Animalität auferlegt ist. Durch sie erhält die unentrinnbare Ohnmacht vor dem Tod den Aspekt der tragischen Verstrickung in die Macht des Todes und der Schuld vor dem Leben. Die moderne westliche Gesellschaft, die ohne transzendente Verankerung, sich auf sich selbst stellend als mechanisches ,Räderwerk' konzipiert wird, rechnet nicht mit dem Ende. Die erste Gesellschaft in der menschlichen Geschichte, die über Instrumente z u kompletter Selbstzerstörung verfügt, ist zugleich mit der vollständigen Absurdität dieser Möglichkeit konfrontiert. Diese, ebenso wie in diesem Licht nun auch jede andere Art des Endens, erscheint ausschließlich in der Perspektive einer Katastrophe, der Zerstörung ohne jeden Sinn. Viel mehr als mit dem Tod rechnet die moderne Gesellschaft mit dem Leben, ja sie berechnet das Leben. Alle ihre W i s s e n s - und Handlungsstrategien zielen auf die Versicherung und Verlängerung, die Verbesserung und Verschönerung des Lebens. Insofern als (oder vielleicht auch nur, solange) diese Strategien nicht ausreichen, den Tod abzuschaffen, tritt hier eine Scheidung ein. Der Versuch, Kontingenzbewältigung durch Trennung z u bewerkstelligen, ist an sich kein Novum - die mittelalterliche Gesellschaft, zum Beispiel, hatte ihrem König z w e i Körper zugedacht, um sich mit dem Faktum seines Todes abzufinden („Der König ist tot.") und ihn zugleich hochleben lassen z u können („Es lebe der König!"),
um so selbst weiter
z u bestehen. Auch die moderne Gesellschaft nimmt eine Trennung vor, allerdings ist diese von anderer Art. Die Gesellschaft ist kein Körper, sie hat keinen Körper, sie wird nicht mehr durch den (einen bzw. die beiden) Körper des Monarchen repräsentiert. Zusammen mit der Vorstellung des Organischen weist die moderne Gesellschaft den Tod, aber damit auch das Leben, die Kontingenz überhaupt, von sich als ganzer ab und den einzelnen Menschen zu. S o auf sich gestellt, zum Subjekt ihres Lebens und Sterbens geworden, werden die Einzelnen erst z u Individuen, nimmt das Prinzip spezifisch moderner Subjektivität und Individualität Gestalt an. Daraus folgt zweierlei. Erstens verliert eine Gesellschaft, die dem Tod keinen Sinn z u verleihen vermag, z w a r nicht die Macht, wohl aber prinzipiell das Recht z u töten. Ohne die Aussicht auf einen jenseitigen, höheren Sinnhorizont, darf die moderne Gesellschaft den Individuen kein Blutopfer abverlangen. Dass ein moderner Staat einen gestrauchelten oder missliebigen Bürger zum Tod verurteilt, scheint kaum noch erträglich. Noch viel verächtlicher, dass Staaten ihre Bürger in den Krieg gegeneinander
9
Z u r Einführung
schicken. W e n n b e i d e s trotzdem geschieht, dann erfolgt e s -
dem
C h a r a k t e r der modernen G e s e l l s c h a f t a l s M e c h a n i s m u s entsprechend - anonym, mechanisch, maschinell: in den M a t e r i a l s c h l a c h t e n moderner K r i e g e o d e r mittels G i f t s p r i t z e in der T o d e s z e l l e . K r i e g und T o d e s strafe gibt es; g l e i c h w o h l steht die V e r l e t z u n g oder Vernichtung d e s Lebens durch den staatlichen A p p a r a t unter dem Verdikt der Delegitimierung und Achtung, w e i l e s der Aussicht auf S i n n entbehrt. W e n n ein S t a a t sich v e r a n l a s s t oder genötigt sieht, die ihm verliehene M a c h t z u m T ö t e n e i n z u s e t z e n , dann demonstriert er nicht d i e s e M a c h t , sondern nackte G e w a l t . Durch den E i n s a t z von G e w a l t gewinnt der moderne Staat nicht an Macht, s o n d e r n riskiert ihren Verlust, indem mit d i e s e m E i n s a t z s e i n e Legitimität auf dem S p i e l steht. A l s M e c h a n i s m u s selbst w e d e r l e b e n d i g noch sterblich, ist die moderne
Gesellschaft
in ihrer staatlichen G a n z h e i t , z u m S c h u t z und z u r S c h o n u n g d e s ihr g r u n d s ä t z l i c h fremden und eben aufgrund d i e s e r Fremdheit unantastbaren Lebens der E i n z e l n e n verpflichtet. M ö g e n die M e n s c h e n r e c h t e und d a s Ideal d e s E w i g e n F r i e d e n s nur s c h w e r z u realisieren sein, s o s i n d e s doch für die m o d e r n e G e s e l l s c h a f t infolge ihrer s p e z i f i s c h e n Verfasstheit n o t w e n d i g e Ideen. E s versteht sich z w e i t e n s von selbst, d a s s die G e s e l l s c h a f t s m a s c h i n e den Individuen die S u c h e nach dem S i n n ihres Lebens und S t e r b e n s anheim stellen muss. Die Problematik d e s T o d e s w i r d in der modernen G e s e l l s c h a f t nicht „verdrängt" - der mit einer sehr s p e z i f i s c h e n Bedeutung v e r s e h e n e B e g r i f f der V e r d r ä n g u n g ist in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g nicht p a s s e n d oder höchstens a l s M e t a p h e r , a l s anderer A u s d r u c k für die Verschiebung, V e r l a g e r u n g , U b e r w e i s u n g der Sinn- und Z i e l f r a g e n von der G e s e l l s c h a f t an die Individuen, k u r z u m für die
Privatisierung
d e s Lebens, der Lebens(ab|läufe und d e s S t e r b e n s s o w i e der d i e s e V o r g ä n g e begleitenden S i n n g e b u n g e n und S y m b o l i s i e r u n g e n .
Unter
dem G e b o t der Privatisierung steht am B e g i n n der M o d e r n e an erster S t e l l e die Religion. W a s die M e n s c h e n denken und glauben, nach w e l c h e n P r i n z i p i e n sie ihr Leben gestalten, w e n und w i e sie lieben, vor allem aber: w i e , mit w e l c h e n Ä n g s t e n oder E r w a r t u n g e n sie sterben, w i r d z u ihrer Privatsache. M i t der Privatisierung verschwindet die R e l i g i o n nicht, s o n d e r n s i e vervielfältigt und v e r b e l i e b i g t sich, indem sie der freien W a h l der Individuen ü b e r l a s s e n w i r d . D a b e i stellt sich heraus, d a s s kein G l a u b e n s s y s t e m archaisch o d e r atavistisch genug, kein A b e r g l a u b e z u irrational ist, um nicht den Individuen in der entzauberten, durchrationalisierten,
der nüchternen
modernen
Wirklichkeit
a l s S t r o h h a l m ihrer i d i o s y n k r a t i s c h e n S i n n g e b u n g s v e r s u c h e z u dienen. Tatsächlich ist d a s Individuum mit dem ihm ü b e r l a s s e n e n Leben und S t e r b e n nicht allein. N e b e n den Religionen und
Religionssurrogaten
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Cornelia Klinger
aller Art sind ganze Industrien und Märkte entstanden, um den Bedarf an Zerstreuung und Ablenkung von der Bürde der Existenz z u decken und/oder um den schier unersättlichen Hunger nach Sinn z u stillen. Das Angebot ist weit gefächert und reichhaltig, aber nichts und niemand kann und darf dem Individuum die (Kauf-)entscheidung abnehmen. Unterdessen laufen die Räder der Gesellschaftsmaschinerie
zur
materiellen Kontingenzbeherrschung unermüdlich weiter. Die Apparaturen von Wissenschaften und Technologie haben beachtliche Erfolge erzielt in der Sicherung und Ausdehnung, in der Verbesserung und Verschönerung - „enhancement" des Lebens in the brave new world
und
sie versprechen das Blaue vom Himmel der Zukunft. Es ist offenkundig, dass die klassisch-moderne Trennung zwischen Gesellschaftsmaschine und Privatleben die Geltung, die sie nie vollständig hatte, verloren hat oder doch in absehbarer Zeit verlieren wird. Damit werden die Karten im Spiel auf Leben und Tod noch einmal, wieder einmal, neu gemischt. Diesen, einigen ähnlichen und noch vielen anderen, weiteren Fragen war eine Reihe von Veranstaltungen gewidmet, aus denen der vorliegende Band entstanden ist. Ein Projekt zum Thema Die tung des Todes in der Gesellschaft
Bedeu-
heute wurde in den Jahren 2 0 0 4
bis 2 0 0 6 vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen ( I W M ) in Zusammenarbeit mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Berliner Akademie der Künste durchgeführt. Für die finanzielle Unterstützung des Vorhabens ebenso wie der Drucklegung des vorliegenden Bandes danken wir der Fritz Thyssen Stiftung. Mein persönlicher Dank gilt meinem Kollegen Klaus N e l l e n für seine Initiative und die redaktionelle Arbeit, ohne die das Buch nicht zustande gekommen wäre, ebenso wie Dr. Ursula Huber für die sorgfältige verlegerische Betreuung.
LEBEN
Ein Gespräch
LASSEN
über den Tod
zwischen
H U B E R T U S V O N A M E L U N X E N U N D D I E T E R APPELT
HvA: „Ich bin bereits (deja) (tot) bedeutet, daß ich dahinter (derriere) bin. Absolut dahinter, d a s / d e r Dahinter (Derriere), d a s / d e r nie von vorne z u sehen gewesen sein wird, d a s / d e r Bereits (Deja), dem nichts vorausgegangen sein wird, d a s / d e r sich also selbst empfangen/begriffen (concu) und geboren hat, aber als Leichnam oder glorreicher Körper." 1 Ein Zitat von Jacques Derrida aus seinem großen Buch
Glas
z u Jean Genet. Ich setze es unserem Gespräch voran, lasse es stehen, denn es spricht sich schwer über den Tod, ist es doch stets der Tod der Anderen, der uns trifft, immer nur verbleiben wir in Annäherungen, in der Trauer, der Fassungslosigkeit, des Sehnens, der Versuchung und der Vermeidung — ein Leben lang versuchen wir den Tod z u meiden und begründen das Leben in dieser, bald bis zum zarten Streicheln gehenden und noch in der Ekstase unerträglichen N ä h e zum Tod. N u n ist der Tod nicht im Bild, nicht im Bild noch in irgendeiner Form der Darstellung, er ist gleichsam der ,blinde Fleck' in jedweder Darstellung, aber doch stellt er sich vor. Kein Medium beschließt in sich in so bedrückender Art und W e i s e den Tod (oder das Leben) wie die Photographie. In ihr ist der Tod mehr als eine Ahnung. Ihr Augenblick ist die Gewissheit der ausbleibenden Umkehr. Deine künstlerischen Arbeiten seit den 6 0 e r Jahren in der Skulptur, in der Zeichnung, in der Photographie, im Film und in deiner Anwesenheit in einem Raum, den „Aktionen", berühren alle - zumindest in diesem Sinn — das Moment ausgeschlossener Umkehr. Deine Kunst scheint mir sehr stark mit dem Moment des Aussetzens beschäftigt zu sein. DA: Ein derart weitgespanntes Thema erlaubt keinen raschen Uberblick. Der Tod und die zahlreichen Indizien weisen darauf hin, dass Spannungen und Störungen innerhalb der menschlichen Gruppe dabei die Hauptrolle spielen, die wechselseitigen Affinitäten erklären nicht, warum zahllose Mythen und die vielen Texte darüber zum ZEIT-Phäno-
1
Jacques Derrida, G/as, Paris: Galilee 1974, S. 9 7 (deutsch: Glas, übersetzt von
Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek, München: W . Fink 2 0 0 6 , S. 95b).
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H u b e r t u s v o n A m e l u n x e n und D i e t e r A p p e l t
men geradezu miteinander verschmelzen. Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit, wie wir in Friedrich Nietzsches „Mitternachtslied" hören. Der Mensch steht dem Phänomen Z E I T aber machtlos gegenüber. S o ist es nun einmal α priori mit unserem Dasein bestellt. Der Mensch kann den Gang der Zeit weder beschleunigen noch ihn anhalten. Er kann sich weder in das utopische Arkadien einer fernen Zukunft versetzen noch die Stunde des Todes aufhalten. Du sprichst von der „ausgeschlossenen Umkehr", sie ist auch eine „Aktion". Der Begriff der „Aktion" selbst führt ja eigentlich schon z u einer Methode z u agieren. Die Beuys'sche Aktion, den toten Hasen durch eine Galerie z u führen oder die Aktion Not I / Nicht ich von Beckett, diese Formen haben natürlich tatsächlich etwas mit dem Phänomen unserer Existenz z u tun. Und ich denke, dass sich alle Künstler z u allen Zeiten mit diesem Phänomen beschäftigt haben: In allen Bildern ist so eine Ahnung oder auch eine Suche danach oder ein Verständnis dafür z u finden. Das ist eben in der Bildsprache oft ein wichtiger Aspekt, über unsere Endlichkeit nachzudenken, oder es anzustreben, so etwas in Bildern deutlich z u machen, weil man es nicht versteht. Das Thema Tod wird nicht nur über die etablierte Religion getragen. In der bildenden Kunst sind es intime Momente, sehr private, oft Ängste und emotionale Nöte, hin und wieder auch rationale Gewissheit während des Transformationsprozesses. Die Antinomie geboren werden und sterben müssen - der Tod ist seit jeher ein zentrales Themenfeld für die bildende Kunst. Es sind die zahllosen Mythen der Welt. Von jeher waren sie fürs Selbstbild ein zentrales Rätsel, das Thema Tod ohne Frage eine erstrangige Herausforderung. Berührt es doch eine zentrale Dimension. Das zentrale Rätsel der Mythen tritt in neuen Kostümierungen hervor, in neuen topologischen Modellen. Es lässt sich hierbei schwerlich eine wertneutrale, geschweige denn kulturrelativistische Position der Betrachtung ausmachen. Das Denken über den Tod, über die Endlichkeit, über die vorgebliche Gewissheit hinaus, transportiert Zwangsvorstellungen, die im Tod nur Verlust und Grauen wahrzunehmen vermögen. Dabei ist es fortwährend der eigene Schatten oder das eigene Spiegelbild, das uns starr gegenübersteht, ohne dass wir uns davon trennen können. HvA: W e n n du von „Endlichkeit" sprichst, so ist es die Endlichkeit im Sinne der Ontologie, und es gibt die Endlichkeit im Sinne der Vollendung eines W e r k s , eines Kunstwerks, eines Bildes oder einer Aktion. Und im Rahmen, wenn man so sagen will, dieser Endlichkeit arbeitest du mit allen dir verfügbaren Medien. Gleichwohl ist für dich die Photographie das Medium, mit dem du hauptsächlich umgehst. Aber die
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Leben lassen
Photographie hat seit ihrem Beginn diese Eigenart - und das ist der Grund, warum ich selber mich seit so langer Z e i t für dieses Medium interessiere - , dass sie durch den Tod spricht. Und ganz anders als alle anderen Medien: Anders als der Film, anders als die Zeichnung; auch wenn die Zeichnung mit jeder Berührung die Vulnerabilität des Lebens zeigt. Ungeachtet dessen, welche Konfiguration eine Zeichnung hat, diese Vulnerabilität ist immer da. Und auch in Zeichnungen ist immer ein Zeitpunkt
da, nur verliert er sich in der Linie - in der Photographie
verliert er sich nicht, weil er als gewesener abgeschlossen ist, er ist nur Punkt - „es war jetzt". DA: Ich denke, das, was mich erstaunt hat, als ich begann, mit Photographie zu arbeiten, ist, dass man in einer Vielfalt arbeiten kann. Ich schätze nicht so sehr das Abbilden oder die Schnelligkeit der Photographie, die unbestritten ihren W e r t hat, den ich auch in keiner W e i s e anzweifle; aber wenn ich z u einem Bild kommen will, dann habe ich im Grunde genommen sogar die gleichen Möglichkeiten, wie sie ein Maler hat: Ein Maler schichtet ja auch Farben übereinander oder es ist
transparence,
was man sieht. Und in der Photographie ist das ganz mächtig möglich: Nämlich die verschiedenen Zeitphänomene, die verschiedenen Zeiten, oder die verschiedenen Tageszeiten, sozusagen, z u schichten. Es sublimiert sich also im Bild etwas, was in der Wirklichkeit überhaupt nicht existiert. Und das ist der Punkt, der mich natürlich in der Photographie besonders interessiert: Das, was in der Wirklichkeit überhaupt nicht vorhanden ist. Und damit beschreite ich natürlich einen W e g , der mit etwas Innerem zu tun hat, mit etwas, was ich notiere, sozusagen, einen Zeitablauf, ich sondiere etwas, was natürlich mit dem Tod zu tun hat. Nicht, dass ich Angst habe, solche Bilder machen z u müssen, etwas abzuarbeiten, sondern es ist eine reine Forschungsarbeit. Ich untersuche Phänomene, die sehr tief sind; es sind vielleicht Kindheitserinnerungen, die mich überhaupt erst z u einer solchen Bildsprache haben kommen lassen. W i r haben ja bei dem Symposion in der Brandenburgischen Akademie 2 das Bild „Der Fleck auf dem Spiegel, den der Atemhauch schafft" gezeigt. Dieser Satz ist nicht von mir, sondern von Raymond Roussel, und Roussel spricht über solche Phänomene der Zeitschichtungen. Dieser S a t z ist ein solches Stimulans gewesen, dass ich das Badezimmer ausgeräumt und im Badezimmer diesen Fleck auf
2
Das vierte Treffen des Arbeitskreises zum Projekt Die Bedeutung des Todes in der
Gesellschaft heule (s. Einleitung) fand unter dem Titel Repräsentationen
des Todes
am
16. und 17. Dezember 2 0 0 5 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der W i s s e n schaften statt.
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H u b e r t u s v o n A m e l u n x e n u n d Dieter A p p e l l
Der Fleck auf d e m S p i e g e l , d e n d e r A t e m h a u c h schafft.
d e m S p i e g e l e r z e u g t h a b e , dieses D o p p e l p o r t r a i t , w a s natürlich absolut, α priori e t w a s mit d e m Tod zu tun hat. Es gibt ja d i e M e t h o d e , dass man einem S t e r b e n d e n o d e r j e m a n d e m mit nicht mehr v o r h a n d e n e m Bewusstsein einen S p i e g e l vor d e n M u n d hält. W a s ich nicht wusste, als ich d a s Bild machte. Das heißt natürlich wirklich, dass bestimmte P h ä n o m e n e in Bildern auftauchen, die ich vorher g a r nicht erkannt h a b e , d i e g a n z intuitiv entstehen. So w i e auch eine Z e i c h n u n g g a n z intuitiv entstehen kann, so entstehen a u c h meine P h o t o g r a p h i e n . U n d d e s h a l b d e n k e ich, dass ich in meiner A r b e i t immer w i e d e r a u c h auf g a n z frühe, intuitive Aktionen zurückgreifen kann, w o ich tatsächlich eine Stille e r z e u g e . Ich g l a u b e , ich s c h ö p f e aus einem Urbild. Ein w i c h t i g e s Erlebnis w a r für mich eine Japanreise. Ich w a r vier M o n a t e in J a p a n , und d a h a b e ich mich in Kyoto in ein Kloster beg e b e n , nur a m Rande, a b e r ich h a b e d o c h eine M e n g e über Z e n
15
Leben l a s s e n
erfahren können. Ein G o l d r i n g in einem S w i m m i n g p o o l ist für mich die M e d i t a t i o n ; ich s i t z e am S w i m m i n g p o o l und schaue d i e s e n g o l d e n e n Ring da unten an und versuche, ihn an die O b e r f l ä c h e z u bringen. U n d d i e s e M e d i t a t i o n s f o r m ist im G r u n d e genommen genau das, w a s ich versuche, in meiner Photographie z u e r z e u g e n .
H v A : Der Fleck auf dem S p i e g e l ist ein b e s t ü r z e n d e s W e r k , in dem uns der T o d ins G e s i c h t springt. E s ist ein B i l d der Entscheidung und der A u s s e t z u n g z u g l e i c h , a l s läge noch d a s bildnerische Versprechen eines M o r a t o r i u m s vor - une mise en demeure.
U n d d a s M o m e n t der
Peripetie in dem B i l d ist z w a r kein M o m e n t d e s T o d e s , w e i l die Peripetie noch e t w a s a n d e r e s in E r w a r t u n g stellt. Viele, die d a s B i l d betrachten, begreifen es s y m b o l i s c h oder metaphorisch. Ich bin der M e i n u n g , d a s s Photographie d a s M e d i u m ist, d a s uns seit über 1 5 0 Jahren gelehrt hat, d a s s es in diesen z e i t b a s i e r t e n M e d i e n keine s y m b o l i s c h e Form mehr gibt, die uns z u einer V e r s ö h n u n g mit dem, w a s w i r verloren o d e r v e r l a s s e n haben, führen könnte. S o n d e r n d a s s , im G e g e n t e i l , die Photographie d a s M e d i u m ist gesehen -
und d i e s hatten schon viele sehr früh
d a s uns z u einer A l l e g o r e s e leitet: D a s heißt, d a s s es eine
mit B e n j a m i n gesprochen — „ a l l e g o r i s c h e Kontur" mit B e z u g auf die
verfallene Z e i t hat; oder man w ü r d e von einem chronos sprechen, w o b e i d i e s e r chronos
apocalypseos
aber immer in der S c h w e b e bleibt.
In den W o r t e n W a l t e r B e n j a m i n s , e s lässt d a s Leben vom Ende her abrollen. D a s heißt, w e n n man den S p i e g e l in deiner A r b e i t nicht a l s S y m b o l begriffe, s o n d e r n a l s A l l e g o r i e d e s T o d e s , dann perpetuierst du diesen S p i e g e l in all deinen Arbeiten. DA: Ist nicht die Photographie ein S p i e g e l ? Nicht, w e i l sie etwas wiedergibt und widerspiegelt, s o n d e r n wenn w i r einfach nur die Apparatur anschauen, ist so ein Vergleich vielleicht ja möglich. Ich meine, dich als W i s s e n s c h a f t l e r , der soviel über Photographie gesagt hat, dich w i r d es verwundern, d a s s ich vielleicht sage, die Photographie selbst ist w i e ein S p i e g e l . D a s ist nicht in dem S i n n e gemeint, d a s s sie etwas widerspiegelt, sondern ich habe es in einem Text, den ich geschrieben habe, einmal als d a s Glasperlenspiel
von H e r m a n n H e s s e bezeichnet:
Ich
meine, d a s s ich mit einem G l a s p e r l e n s p i e l umgehen möchte, mit einer Kette von G l a s p e r l e n , die ich j e w e i l s kodiere. U n d das heißt, ich kodiere j e w e i l s eine Photographie. U n d nur aus der Summe der verschiedensten Arbeiten entsteht s o z u s a g e n ein Verständnis für das, w a s ich manchmal selbst nicht verstehe, warum ich es s o gemacht habe, sondern erst sehr viel später. Durch deine Anregung, z u m Beispiel, habe ich sehr viele
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Hubertus von Amelunxen und Dieter Appelt
Dinge erfahren, die ich so noch nie bedacht hatte. Aber im Grunde genommen hat diese Beunruhigung, die mich seit Jahrzehnten trägt, auch die Unsicherheit, natürlich etwas mit diesem, unserem Thema zu tun. HvA: Es ist natürlich so, dass in der ganzen Geschichte der Photographie, von Beginn an, die Metapher des Spiegels angeführt wird. DA: Ja. HvA: Der Spiegel, der das Bild fixiert oder bewahrt - das ist Photographie. DA: G a n z abgesehen davon, dass ganz früh ja die geschliffene Platte... HvA: Die Kupferplatte. DA: ... die Kupferplatte war eine Spiegelplatte! HvA: Ja. Also insofern lässt uns natürlich rein technisch die Apparatur oder das Dispositiv der Photographie an diese Metapher des Spiegels denken. Aber — du hast es vorhin selber erwähnt — natürlich ist der Spiegel nur das, w a s als Blick in den Spiegel geworfen wird und wie es dann zurückkommt. Denk doch an das wunderbare Bild von Magritte La Reproduction
interdite über den Fortgang, das Hinten, der
„glorreiche Körper". Aber die immer wieder angeführte Metapher macht dann einen Sinn, wenn man diesen Spiegel nicht im Symbolischen als eine W i d e r spiegelung sieht, sondern in der Entzweiung menschlicher Existenz. DA: Ja, genau. Das meinte ich auch, die Polarität. HvA: Genau. Raymond Roussel hat dies übrigens erkannt, die velles
impressions d'Afrique
Nou-
gründen, wie Roussel schreibt, in z w e i
Photographien aus Kairo, wenn ich mich jetzt recht erinnere, z w e i Photographien eines Bazars, die w i n z i g klein am Fuße von z w e i Reagenzgläsern liegen und durch Tausende von kleinen Spiegeln, die in diesem G l a s sind und das G l a s von innen umranden, hin- und hergeworfen werden. Unendliche Dehnungen des Augenblicks, Spiegel, die, wie Foucault bemerkte, in Grau eingefärbt sind. Du sprachst eben von deinen Kindheitserinnerungen. In einer anderen Arbeit - „Image de la vie et de la mort" - geht es um das Ende, wieder ein unerträgliches Ziehen zum Ende hin, wobei Bild und Ton
17
Leben lassen
„Image de la vie et de la mort'
wie
ein T o d e s r i t u a l
scheinen.
Ist d i e s e
Arbeit auch Teil
einer
Erinne-
rungsarbeit?
D A : D a s ist e i n e s e h r s t a r k e E r i n n e r u n g s a r b e i t . habe
in M e x i k o
über
Quetzalcoatl
einige Sammlungen sehen.
einen
I c h w a r in M e x i k o ,
Film gemacht,
und
U n d in e i n e r d e r S a m m l u n g e n v o n
P o r t i i l a h a b e ich e i n e M e n g e v o n k l e i n e n T e r r a k o t t a - F i g u r e n
ich
konnte Lopez
gesehen,
d i e a l l e e b e n d i e s e S p i e g e l b i l d l i c h k e i t , d i e P o l a r i t ä t in s i c h h a t t e n : a u f d e r e i n e n S e i t e j u n g u n d a u f d e r a n d e r e n S e i t e alt, a u f d e r e i n e n lachend, einer
weinend,
Figur
und s o weiter
gespiegelt.
Ich
habe
-
jegliche
daraufhin
Formen
von
nachgeschaut,
ob
e t w a s a u c h in E u r o p a g i b t , u n d , t a t s ä c h l i c h , b e i R i e m e n s c h n e i d e r , g r o ß e n H o l z s c h n i t t m e i s t e r , h a b e ich s o l c h e S k u l p t u r e n
Seite
Polarität
gefunden.
es
in so
dem
18
Hubertus von Amelunxen und Dieter Appelt
Die Photographie ist das wichtigste Medium für mich, weil ich in dieser Ausdrucksform am Weitesten gekommen bin. Die Polarität zwischen Geboren-werden und Sterben-müssen, dieses Phänomen hat mich irgendwie geprägt, und das ist eine frühe Erinnerung: Ich habe noch als Kind das Ende des Zweiten W e l t k r i e g e s erlebt und habe erschreckende Bilder gesehen und diese tiefe Trauer - bis heute, wenn ich mir vorstelle, was geschehen ist, ich will jetzt keine Begriffe nennen, aber was da alles mit dem Tod z u tun hatte, das hat mich tief traurig gemacht und bis heute muss ich darüber nachdenken. Und wenn ich ein solches Bild gemacht habe, dann bin ich sehr glücklich. Das ist wiederum eine ganz eigenartige Situation, weil ich kein trauriger Mensch bin, der nun die Bilder nur als psychologisches oder psychiatrisches Phänomen betrachtet, sondern es ist tatsächlich ein Glückszustand ohne Gleichen, wenn solche Dinge entstehen, und ich ahne, was du oder irgendein Freund dazu sagen wird. Ich habe es manchmal selbst nicht genau im Griff, w a s da entsteht, aber dass ich in der Lage bin, so etwas z u machen, ohne einen großen Vorwurf z u haben, oder — wie sagt man? - eine große Quelle, die das genau vorsieht... Ich weiß es nicht, was entsteht. Oft sind es eben auch diese Photographien mit bis z u 8 Stunden Belichtungen, die Langzeitbelichtungen oder Schichtungen, wo sich dieses Phänomen sehr verdeutlicht, das vielleicht etwas mit unserer Existenz z u tun hat. HvA: Ich denke aber, dass die Photographie - und darin liegt sie auch in der Tat einem Denken, das nicht dialektisch ist, sehr nahe -
eben
keine Polarisierung hat. Deine Arbeit steht für mich im Kontext der zeitgenössischen Kunst seit vielen Jahrzehnten zentral dafür, dass sie eben Reproduktion begreift als das W i r k e n eines anderen, eines ,Dritten', das zwischen Leben und Tod ist. Du sprichst von den Langzeitbelichtungen, beispielsweise, von den Dehnungen des Augenblicks: Ich habe in einem anderen Kontext von diesem Paradoxon des Photographischen gesprochen, dass es grundsätzlich ein Ende allen W e r d e n s bedeutet, aber zugleich in sich das werdende Ende meint. Also es ist immer noch ein Werdendes, es bleibt ein Werdendes. Das kann man jetzt grundsätzlich auf die Kunst, auf das kontemplative Moment des Künstlerischen bezogen sagen, dass es immer ein W e r d e n ist. Aber es ist bei dir im temporalen Nukleus des W e r k e s selbst enthalten, es ist dein Chronotopos. Und es ist insofern keine Polarisierung mehr, wie wir es vielleicht auch in anderen Medien gehabt hätten, und z w a r zwischen Gegenwart und Repräsentation beispielsweise, oder zwischen dem Bezeichneten und einem Zeichensystem, sondern es ist etwas, das im W i r b e l , in der Kehre sich fortsetzt,
19
Leben lassen
sich perpetuiert. U n d es hat natürlich mit dem M o m e n t der Z e i t z u tun, mit dem Augenblick... DA: W e n n ich dich unterbrechen darf - Roland Barthes hat eine wunderbare Geschichte über (eine) Photographie geschrieben, die über 1 0 0 Jahre alt ist, und man w e i ß , d a s s die M e n s c h e n auf diesem Bild überhaupt nicht mehr leben, und trotzdem sind sie vorhanden, trotzdem ist d i e s e s Bild da, und wir haben eine eigenartige
Spannung
z w i s c h e n dem, w a s wir jetzt über diese M e n s c h e n w i s s e n und dem Bild. U n d das ist eigentlich immer auch ein Gedanke, der mich fasziniert, wenn ich ein Bild fertig habe, dann möchte ich eigentlich diesen Eindruck haben, als würde das, w a s ich abgebildet habe - den Begriff mag ich nicht, aber das, w a s in dem Bild erscheint ... H v A : ... Du hast auch nichts abgebildet, das ... DA: ... N e i n , nein. Ich habe nichts abgebildet. W a s in diesem Bild erscheint, ist nicht mehr existent. D a s ist das Phänomen der Photographie, d a s s sie etwas zeigt, w a s aber nicht mehr existent ist. Diesen W u n s c h habe ich eigentlich in jeder Arbeit, die ich mache oder die entsteht -
ich mache sie nicht, sondern sie entsteht im P r o z e s s
d a s s so ein
G e d a n k e kommt. Ich muss immer wieder an Roland Barthes denken, oder ich muss an O u z u denken. Deshalb auch meine Beschäftigung mit Film: Ich bin kein
Filme-
macher, ich w i l l kein Kino machen. Aber diese M a s c h i n e r i e , die Kinematographie, das laufende Bild, g e w i s s e r m a ß e n die Chronophotographie der Einzelbilder, mit denen ich arbeite, diese kleinen S e q u e n z e n , die haben natürlich α priori erst einmal etwas mit Photographie z u tun; aber sie haben auch etwas mit einem Puls z u tun, mit einem Lebensstrom oder mit einem Fortgang von Bildern. Da kann ich dann nicht schichten. Ich könnte schichten, indem ich den Film zurückspule und w i e d e r neu belichte, w a s ich auch schon gemacht habe, aber das ist nicht der S i n n der Sache, sondern die Phasenverschiebung, w i e in „Image de la vie et de la mort", w o das sehr langsam geht, dieses Phänomen ist etwas, w a s natürlich nur der Film wieder leisten kann. H v A : Du sprichst von Roland Barthes' La Chambre
claire,
„Die helle
Kammer", w i e es auf Deutsch heißt, ein für alle, auch für mich, g a n z wichtiges Buch. Ein Buch, das Barthes geschrieben hat, um den T o d seiner Mutter z u verstehen, das war das M o v e n s d i e s e s Schreibens. Ein Buch das im Ü b r i g e n ursprünglich auch mit keiner e i n z i g e n Photographie versehen werden sollte. U n d das in dem Begriff „Ca a ete" kul-
20
Hubertus von Amelunxen und Dieter A p p e l l
miniert, „es ist g e w e s e n " , als Barthes' Form der O n t o l o g i e d e s photog r a p h i s c h e n Bildes, d i e er a b e r d a n n in seinem Buch letztlich zum Imaginären, zur Projektion und d a n n auch zur Psychoanalyse hinführt. A b e r ich d e n k e a u c h an z w e i Autoren, d i e b e i d e , w e n n ich an A p p e l t d e n k e , mir in d e n Sinn kommen: Der eine ist Thomas Bernhard, der mit all seiner Kraft seine g r o ß e V e r a c h t u n g d e m M e d i u m Photog r a p h i e g e g e n ü b e r g e ä u ß e r t hat, w e i l es so unmenschlich ist, w e i l es d e m M e n s c h e n seine Erinnerung r a u b e und — w i e er i r g e n d w o in der „Auslöschung" schreibt - d e n Verblichenen keine Ruhe g ö n n e .
DA: (lachtj. H v A : U n d der a n d e r e ist S e b a l d , der in seinem so g r u n d m e l a n c h o l i schen Schreiben immer w i e d e r d i e P h o t o g r a p h i e n einbaut, d i e sein Schreiben auch tatsächlich ebenfalls als d a s G e w e s e n e , a b e r d a s im G e w e s e n e n niemals Erkannte rhythmisieren. U n d d a s ist, w e n n du so willst, so ein B o g e n , d e r mich a u c h w i e d e r zu A p p e l t führt: W e i l , d e i n e A r b e i t - d u hast es zu Beginn zu Recht g e s a g t - spielt natürlich mit d e m A b b i l d e n d e n , insofern als sich, um nochmals Barthes zu zitieren, d i e Zeit in d a s Papier einfrisst — „durchsengt v o n Zeit", w i e Barthes schreibt. A b e r es w i r d nicht a b g e b i l d e t , sondern d a s Bild ist im W e r d e n . Das heißt, du hast g e n a u das, w a s ich b e i S e b a l d so g r o ß a r t i g finde, und w a s für viele zumindest d i e Faszination des M e d i u m s Photog r a p h i e ausmacht: dass du e t w a s w e r d e n lässt, d a s w e d e r g e s e h e n w o r d e n ist, noch je g e w e s e n ist, bis auf das, w a s im W e r d e n b e g r i f f e n ist. Insofern, lieber Dieter, h a b e ich aus d e i n e n W e r k e n gelernt, dass P h o t o g r a p h i e , d a sie d e m Tod so n a h e steht, nicht Bild eines Vergang e n e n , s o n d e r n Lichtung d e s Künftigen ist. DA: Eine g a n z frühe A r b e i t von vier, fünf Aktionen, d i e ich in Italien gemacht h a b e , ist im G r u n d e g e n o m m e n eine G e b u r t s s t u n d e g e w e s e n . Es g i b t ein Buch d a r ü b e r , d a s heißt „Erinnerungsspur": und d a s — natürlich konträr zu d e r M e i n u n g , dass man mit d e r P h o t o g r a p h i e niemand e n zur Ruhe kommen lässt - ist eine Triebfeder für mich, d i e Erinnerungsspur, d i e mich natürlich nach w i e vor immer w i e d e r beschäftigt. Das ist w i e eine G r u n d s u b s t a n z in d e r S y n a p s e , etwas, d a s sich immer vermehrt, sich immer w i e d e r a b s p a l t e t , und w o sich, s o z u s a g e n , neue Spuren eröffnen. Diese Erinnerungsspur w a r tatsächlich eine Arbeit, in der ich einen g a n z w i c h t i g e n Prozess a u f g e a r b e i t e t h a b e , d e r mit meiner Kindheit z u s a m m e n h ä n g t .
HvA: Nämlich?
Leben l a s s e n
21
DA: Ich habe die letzte Phase des Krieges in fürchterlicher W e i s e erlebt und habe als Achtjähriger die Toten nur so ums Haus herum liegen sehen, habe die Transporte beobachten können, die nicht Transporte waren, sondern wo die schlurfenden KZ-Häftlinge an unserem Haus vorbeigetrieben wurden und zum Teil erschossen wurden, wenn sie nicht mehr laufen konnten. Ich konnte nicht auf die Straße gehen, weil die Straße am Schluss total vermint war. Und ich habe die Russen erlebt, die unser H a u s genommen und die Betten aufgeschlitzt haben, und die Federn waren durch den W i n d kilometerweit über den Muldenwiesen, waren überall, wie Schnee, die weißen Federn aus den großen Federbetten meiner Großmutter. Und all diese Bilder, die sich natürlich festgesetzt haben, die erinnere ich auch letzten Endes in allen Gedanken. Du hast vorhin etwas gesagt, w a s mich ehrt, dass eine gewisse literarische Spur in meinen Bildern sein könnte. Das leugne ich nicht, weil eben auch sowohl Erlebtes, Gesehenes, Erfahrenes, Gelesenes und so weiter mit dieser Spur z u tun hat; und diese Spur hat vielleicht auch mit unserem Thema heute z u tun. HvA: W a s du gerade sagst, w a s du als Achtjähriger erlebt hast, das ist ein Bild, das in vielen deiner Tableaus widerkehrt, die Federn über den Muldenwiesen, wie Spektren, wie Geister — und deine Photographie hat ja auch oft etwas Geisterhaftes, weil sie diese Verdopplung zeigt - , oder der B e z u g zum W a s s e r , und dabei ist nicht so sehr die Spiegelung gemeint, sondern gerade das, w a s das W a s s e r nicht spiegeln kann, also w a s tief unten ist. Das Bild der Federn verlässt mich jetzt nicht mehr, wird mich nie mehr verlassen, wie N a b o k o v s Schreiben über den Moment zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Licht und Schatten, da ein M a n n sich von einer Parkbank erhebt und sein Schatten ihm nur kurze Z e i t später folgt: „Zwischen seiner Bewegung und der Bewegung des zaudernden
Schattens
— jene Sekunde, jene Synkope — liegt die seltene Art von Zeit, in der ich lebe - die Pause, der Hiatus, wenn das H e r z wie eine Feder ist ...". Deine Bilder eben verschobener Zeit, die Vergrasungen, die Hängungen, der Augenturm oder die Aktion damals zur Eröffnung der Galerie M a r z o n a ... DA: ... die Wasserkasten-Aktion ... HvA: ... der Wasserkasten, diese Totenstarre ist... DA: Es passiert nichts
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Hubertus von Amelunxen und Dieter A p p e l l
HvA: ... ob es die Einkalkungen, die Vergrasungen, ob es die Milch ... DA: ... das M i l c h w a s s e r . . . HvA: ... das Milchwasser, all das ... DA: Der Dornenbusch. HvA: Der Dornenbusch. All das ist so, als würde man in die Zeit des Abschieds hineinleben. DA: Ja. Das ist ein gutes W o r t . Das ist ein gutes W o r t . Ich muss dir sagen, es handelte sich natürlich nicht nur um ein großes dickes Federbett, sondern meine Großeltern, bei denen ich groß geworden bin, hatten ein Ausflugsrestaurant, und wir hatten natürlich Hotelzimmer, und es waren zig Betten, die alle aufgeschlitzt wurden, und die Federn wurden in den W i n d gestreut, so dass eben diese Menge über die Muldenwiesen flog. Das war ein Restaurant an der Mulde, in der Nähe von Dessau, wo die großen Überflutungswiesen waren, die natürlich auch noch heute eine große Erinnerung an meine Kindheit darstellen. Also die Landschaft und eine bestimmte Prägung von Fluss und Landschaft und Baum und so weiter; das prägt bis heute. Ich bin sehr glücklich, ich hatte eine sehr schöne Kindheit, darum geht es nicht. Es war nur die Endphase des Zweiten Weltkrieges, die so erschreckend war; und ich habe natürlich als Kind so verwundert die Dinge gesehen, die sich bildhaft total eingeprägt haben. Die tragen bis heute, das ist bis heute unauslöschbar. HvA: Daher auch deine Bewunderung des W e r k s von Tarkowskij, dem du mehrere Arbeiten gewidmet hast. DA: Ja, natürlich. Als ich Stalker
gesehen habe, hab ich Tag und
Nacht nicht schlafen können, weil dieser Film mich nicht mehr verlassen wollte. Es ist ein Denken in Bildern, was mich natürlich auch enorm bewegt. Es ist ein Denken in Bildern, bei denen die einzelnen Filmsequenzen vorgezeichnet werden. Auch bei mir werden die einzelnen Details der Photographie genauestens geplant, durchgeformt. Es gibt keine Serie von Bildern, w o ich eine Auswahl treffe, sondern fast jedes Bild gelingt dann, wenn es so geplant wird, und ist z u Ende. Da gibt es dann keinerlei weitere Auswahl. Aber, wie gesagt, die Vorgehensweise, die Schichtungsdramaturgie spielt im W e s e n der Montage eine große Rolle: Die Simultaneität, die
23
Leben lassen
horizontale und vertikale Montierbarkeit, sowie die Schichtung mehrerer Aufnahmen nach der Wirklichkeit, führen zur photographischen Darstellung eines vielleicht in der materiellen Wirklichkeit nicht vorhandenen Zustandes. Z u einer Photographie des Unwirklichen, wie du gerade erwähnt hast. Etwas Geisterhaftes. Erinnerung und Wirklichkeit formen sich in einer Art von Transrealität. Das ist ein wesentlicher Aspekt in meiner Arbeit. Es beleuchtet ein wenig die Vorgehensweise zu meiner Schichtungsdramaturgie. Die Simultaneität, die horizontale und vertikale Montierbarkeit sowie die Schichtungen mehrerer Aufnahmen nach der Wirklichkeit führen zur photographischen Darstellung eines in der Wirklichkeit nicht vorhandenen Zustandes der Dauer, z u einer Photographie des Unwirklichen. Aus den scheinbar gegensätzlichen Zuständen von Zeit, von Erinnerung und Wirklichkeit formt sich eine Art von Transrealität. Die diaphanen Schemen erwecken in mir die Hoffnung, das geeignete Medium gefunden z u haben, wo sich Einblicke jenseits der Verbalsprache gewinnen lassen.
Langzeit-Schichtungen,
Transparenz und Diaphanie ist hier die metaphorische Darstellung des eigentlichen Kerns, ist darüber hinaus der Baustein z u einem kybernetischen System, w o das Denken in Bildern eine begriffliche Dimension erhalten könnte. HvA: Daher kommt die starke N ä h e zur M u s i k in deinem W e r k , von der Zeitmodulation des Photographischen hin zur Zeitmodulation oder zum Pulsen des Musikalischen. Das Flüstern der Bilder... DA:... die Blicke suchen nicht die Bilder, sondern die Bilder suchen die Blicke. Du hast die M u s i k angesprochen: Ich habe M u s i k studiert, ich habe hier an der Deutschen Oper gearbeitet, zusammen mit Gustav Rudolf Sellner, mit Scherchen und mit Bruno Maderna und z w a r an einem besonderen Stück, was wiederum ein wesentlicher
Schlüssel
war. Ich habe soviel Glück gehabt in meinem Leben, dass ich immer mit Menschen, mit einem W e r k oder mit einem Ereignis zusammengekommen bin, das mich lange, lange, lange beschäftigt hat. Und das ist M o s e s und Aaron von Schönberg. Das ist in Berlin unter Scherchens Leitung uraufgeführt worden, und ich war an dieser Aufführung beteiligt und habe einen Ältesten gesungen. Und der Älteste in diesem Stück hatte ein kleine Partie, und ich durfte nur sagen: „Die letzten Augenblicke, die wir noch z u leben haben, nehmt sie als Opfer". HvA: Schließen wir damit, mit dem Ton als dem Nachhallen.
A N N A BERGMANN
ORGANSPENDEN
ZWISCHEN
A N IM I S T I S C H - M A G I S C H E N T O D E S V O R S T E L L U N G E N MEDIZINISCHER
M e i n Körper
ist der Ort, von dem es kein Entrinnen
an den ich verdammt bin. Ich glaube, alle Utopien geschaffen worden,
gibt,
sind letztlich gegen ihn
um ihn zum Verschwinden Michel
UND
RATIONALITÄT1
zu bringen.
Foucault
1 9 9 7 wurde Florian Lethen als Fußgänger von einem Auto erfasst. Nachdem er am Unfallort reanimiert worden war, teilte in der Klinik eine Arztin seiner Familie mit, d a s s trotz Operation sein Leben aufgrund einer schweren Hirnblutung nicht mehr z u retten sei und der Hirntod mit höchster Wahrscheinlichkeit kurz bevorstünde. Bald darauf kam die Todesnachricht. Seine Angehörigen befürworteten eine Organspende, zumal Florian Lethen sich selbst einmal d a z u bejahend geäußert hatte. Auf einem Formular kreuzten sie jene O r g a n e an, die sie z u spenden bereit waren: H e r z , Lungen, Leber und Nieren. In einem Interview erklärt heute die 6 0 j ä h r i g e Mutter von Florian Lethen: „Ich empfinde Bitterkeit darüber, d a s s die Transplantationsmedizin elementare Bedürfnisse und Rechte von Sterbenden und ihren Familien ignoriert. Z u diesen unantastbaren Rechten gehört es meiner M e i n u n g nach, im Sterben nicht allein z u sein und unbehelligt von den Interessen
1
Ich d a n k e dem Institut
für die Wissenschaften
vom M e n s c h e n für die G e w ä h r u n g
i d e a l e r F o r s c h u n g s b e d i n g u n g e n , unter d e n e n ich im S o m m e r 2 0 0 6 e i n e
Untersuchung
durchführen konnte, d e r e n E r g e b n i s s e in d i e s e n A r t i k e l e i n f l i e ß e n . A u c h d a n k e ich h e r z lich d e n G e s p r ä c h s p a r t n e r i n n e n und - p a r t n e r n , d i e bereit w a r e n , über ihre E r f a h r u n g e n mit e i n e r O r g a n s p e n d e b z w . e i n e r T r a n s p l a n t a t i o n im K r e i s ihrer F a m i l i e z u
berichten.
I n s g e s a m t h a b e ich elf I n t e r v i e w s geführt, a u s d e n e n ich im F o l g e n d e n z i t i e r e n w e r d e : D a b e i h a n d e l t e s sich um v i e r deutsche F a m i l i e n ( 4 M ä n n e r und 6 Frauen), d i e e i n e r E x p l a n t a t i o n z u g e s t i m m t h a b e n und sich in e i n e m p r i m ä r e n v e r w a n d t s c h a f t l i c h e n
Ver-
h ä l t n i s z u d e n O r g a n s p e n d e r n b e f i n d e n (darunter ein S t i e f v a t e r ] , N a c h d e m ich über m e h r e r e Z e i t u n g s a n n o n c e n in d e r d e u t s c h e n und ö s t e r r e i c h i s c h e n T a g e s p r e s s e k e i n e Int e r v i e w p a r t n e r i n n e n g e w i n n e n konnte, h a b e ich mich an d i e in D e u t s c h l a n d g e g r ü n d e t e Initiative „ K r i t i s c h e A u f k l ä r u n g O r g a n s p e n d e " g e w a n d t , d i e mir s c h l i e ß l i c h
Gesprächs-
p a r t n e r i n n e n vermittelte. A u ß e r d e m h a b e ich d i e E h e f r a u e i n e s m i t t l e r w e i l e v e r s t o r b e n e n l e b e r t r a n s p l a n t i e r t e n M a n n e s a u s Ö s t e r r e i c h s o w i e z w e i Bestatter d e r g r o ß e n
Bestat-
t u n g s u n t e r n e h m e n „ B e s t a t t u n g W i e n G m b H " in Ö s t e r r e i c h und „ A h o r n - G r i e n e i s e n in D e u t s c h l a n d i n t e r v i e w t . D i e N a m e n d e r A n g e h ö r i g e n v o n O r g a n s p e n d e r n durch P s e u d o n y m e e r s e t z t .
AG"
wurden
25
Organspenden
anderer den eigenen Lebensweg z u Ende gehen z u können. W e i l mir das nach meiner Erfahrung so wichtig ist, bin ich zur
Hospiz-Bewe-
gung gekommen. Die Transplantationsmedizin jedoch hat den Versuch unternommen, bei uns Menschen die Vorstellung vom begreifbaren Tod durch den nur von Fachleuten definierten Hirntod zu ersetzen, um Sterbende verwerten z u können." 2 Florians Vater, Theo Lethen, hatte gegen die Stimme seiner Tochter die Organspende noch forciert. Heute bereut er diese Entscheidung: „Wer würde schon im Besitz der entsprechenden Informationen seinen Angehörigen wissentlich als noch Lebenden bei einer großen Operation, ohne Narkose, aufgesägt und ausgeräumt z u Tode kommen lassen?" 3 Erst später kamen dem Lehrerehepaar Zweifel an ihrer Einwilligung zur Organentnahme. W i e viele Angehörige, die in Deutschland auf B a s i s der „erweiterten Zustimmungslösung" 4 um eine Organspende gebeten werden, hatten sie nicht realisiert, dass das H e r z ihres Sohnes bis zum Zeitpunkt seiner chirurgischen Entnahme schlagen musste und daher eine Begleitung bis zum letzten Atemzug ihres Sohnes ausgeschlossen war. In ihrer
Conclusio
erheben
diese
Eltern eines
Organspenders
schwere Vorwürfe gegen die Transplantationsmedizin. S i e berühren das, was in der Selbstdarstellung der Verpflanzungsmedizin und Auflm Zentrum dieser Untersuchung stand die Frage, welche Symbolsysteme für heutige Bestattungspraktiken im Zeichen des Umbruchs unserer Sepukralkultur prägend sind (z.B. anonymes Rasengrab, Urne im Wohnzimmer, Thanatopraxie, neue Spiritualisierungsformen der Bestattung, Veränderungen der Friedhofsarchitektur) und wie in Beziehung dazu der Umgang mit Sterben und Tod im Kontext der Transplantationsmedizin von Angehörigen der Organspenderinnen erlebt wird. Auch hat mich das Phänomen der animistisch-magischen Phantasien von Organempfängerinnen interessiert, die in biographischen Zeugnissen dieser Patientinnengruppe dokumentiert und in psychologischen Studien über Herz-, Leber·, Lungen- und Nierenempfängerinnen umfangreich belegt sind. Außerdem gehen in diesen Artikel Ergebnisse der von Ulrike Baureithel und mir vorgenommenen Interviewstudie ein, die wir 1 9 9 8 in österreichischen und deutschen Kliniken anhand von insgesamt 2 2 Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten, Transplantationskoordinatoren, Pflegern, Operationsschwestern, Psychotherapeuten und Angehörigen von Organspenderinnen durchgeführt und in dem Buch Herzloser
Tod. Das Dilemma der Organspende
publiziert haben.
2 Archiv Anna Bergmann (im Folgenden: A A B ) , Interview Lena Lethen (Pseudonym), Juli 2 0 0 6 , S. 6 . 3 A A B , Interview T h e o Lethen (Pseudonym), Juli 2 0 0 6 , S . 4 . 4
In Deutschland regelt das 1 9 9 7 in Kraft getretene G e s e t z über die Spende, Ent-
nahme und Übertragung von Organen (abgedr. in: Bundesgesetzblatt 1997, Teil I, N r . 74, S . 2 6 3 1 - 2 6 7 6 ) die Praxis der Organentnahme: Sofern keine schriftliche Einwilligung zur Organspende vorliegt - diese kann ab dem vollendeten 16. Lebensjahr erklärt werden - , sind die Angehörigen unter Berücksichtigung des mutmaßlichen W i l l e n s der betreffenden Person autorisiert, einer Organentnahme zuzustimmen.
26
Anna Bergmann
rufen zur Organspende gern auch als Vorurteil gegenüber einer Medizin, die Leben z u retten vermag, zurückgewiesen und eher in die Rubrik des „illegalen Organhandels" verbannt wird. Redewendungen wie „Sterbende verwerten, „Lebende ohne N a r k o s e aufsägen und ausräumen" nähren Horrorvisionen und wecken Assoziationen an eine „ M e d i z i n ohne Menschlichkeit" 5 , wie
1 9 6 0 Alexander
Mitscherlich
und Fred Mielke ihre Dokumentation über den Nürnberger Ärzteproz e s s ( 1 9 4 6 - 4 7 ) betitelten. Vergegenwärtigen wir uns allerdings das Prozedere einer Explantation, so bedarf es einiger Rationalisierungsschritte, um nicht vom Grauen gepackt zu werden: Denn der zur Regel gewordene „Multiorganspender" darf mittels elektrischem Messer, Meißel, Hammer und Säge bei lebendigem Leib durch die Entnahme der vitalen Organe (Herz, Lungen, Nieren, Leber, Bauchspeicheldrüse] zerlegt werden. Mehrere drei- bis fünfköpfige Entnahmeteams aus verschiedenen Orten und Ländern betreten nach einem genau festgelegten Zeitplan den Operationssaal und verlassen ihn mit eingetüteten Organen in einer Kühlbox. Vor dieser großen Operation eröffnet man den Körper des Spenders: der Schnitt beginnt kurz unter dem Brustbein, macht einen Bogen um den Nabel und endet am Schambein. Der Hirntote erleidet nun durch systematisches medizinisches Handeln jenen Tod, der uns durch seine Zeichen bekannt ist: den Herztod - so wird z.B. vor der Entnahme des Herzens durch die Gabe mehrerer Liter der kardioplegischen (herzlähmenden) Lösung in die große Körperschlagader (Aorta) der Herzstillstand herbeigeführt. 6 Nach dem Herztod können noch andere Organe und Gewebe entnommen werden -
so etwa Hirnhaut, Gehörknöchelchen, Adern, Augen,
Dünndarm, Luftröhre oder Knochen. W i e eine Anästhesieschwester aus einem deutschen Transplantationszentrum berichtet, darf eine Organspende selbst die Häutung des Patienten beinhalten: „Mit dem Dermatologen wird die ganze Haut sorgfältig abgezogen. Und wenn sie vorne weg ist, wird er umgedreht, und dann wird die Haut von hinten abgezogen ... Das ist vom Anblick her sehr unangenehm." 7 Das Abziehen der Haut ist uns im M a r s y a s - M y t h o s und in der Bartholomäus-Legende als Straf- und Opferhandlung überliefert. Ebenso lag den Hinrichtungsritualen der Frühen Neuzeit, in denen der Henker nach der Tötung des Opfers mitunter dessen H e r z herausschnitt oder
5
Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred M i e l k e (Hg.), Medizin
Dokumente 6
des Nürnberger
Frankfurt a . M .
ohne
Stuttgart 1 9 9 9 , S. 173f„ 158ff.
Zit. n. ebd., S. 178.
Menschlichkeit.
I960.
Vgl. dazu genauer Ulrike Baureithel/Anna Bergmann, Herzloser
ma der Organspende, 7
Ärzteprozesses,
Tod. Das
Dilem-
27
Organspenden
den Leib des Delinquenten vierteilte und mit einer
Körperzergliede-
rung die Auslöschung der S e e l e gegen ihre Rückkehr in die W e l t der Lebenden anstrebte, die magisch begründete Idee der Höchststrafe im Sinne einer absoluten Tötung zugrunde. U n d auch aus der Geschichte des K r i e g e s ist der Ritus bekannt, d a s s der tote G e g n e r O p f e r einer Zerstückelungszeremonie werden kann - ein Habitus, der einen Entehrungs- und Vernichtungsakt beabsichtigt. 8 Z w a r weit entfernt von Mythen, Straf- und Vernichtungszeremonien, beruht jedoch das methodische
Vorgehen
der Transplantationsmedizin auf der Z e r l e g u n g des
menschlichen K ö r p e r s und auf der Abhängigkeit vom T o d bestimmter Patienten, um Teile ihres K ö r p e r s für die H e i l u n g schwerkranker anderer M e n s c h e n verwenden z u können. Im Folgenden möchte ich d a s Spannungsfeld medizinischer Z w e c k rationalität und der im U m g a n g mit dem T o d auch in der weiterhin bestehenden animistischen s o w i e religiösen
Moderne
Praktiken der
Bestattungszeremonien erörtern, in denen g e w i s s e Totenrechte mit der Vorstellung von irgendeiner W e i t e r e x i s t e n z der Verstorbenen
hand-
lungsanleitend geblieben sind. Zunächst w e r d e ich den Zusammenhang von dem K ö r p e r k o n z e p t der modernen M e d i z i n und der Logik der Hirntoddefinition nachzeichnen. Dann sollen Bräuche unserer Bestattungskultur und die Paradoxie interessieren, in der die Transplantationsmedizin steckt, sofern sie Elemente unserer Trauerkultur in ihrem U m g a n g mit Sterbenden und Toten nicht vollends z u negieren versucht. U n d schließlich w e r d e ich jene magischen Ängste von Organempfängern vor den Seelenkräften der S p e n d e r in ihrem Leib nachvollziehen, in denen die G r e n z e z w i s c h e n der „ W e l t der Toten" und der „ W e l t der Lebenden" gänzlich aufgebrochen z u sein scheint und Rationalität und M a g i e sich auf eine eigenartige W e i s e vermischen. Auf dem anatomischen Erkenntnisstil beruhend, wurde im Z u g e der „ C h i r u r g i s i e r u n g " 9 der M e d i z i n seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Ver-
8 Vgl. Anna Bergmann, Der entseelte Patient. Die moderne
Medizin
und der
Tod,
Berlin 2 0 0 4 , S. 116. 9
T h o m a s Schlich, Die Erfindung
chirurgischen
Organersatzes
der Organtransplantation.
(1880-1930),
Erfolg und Scheitern des
Frankfurt a . M . / N e w York 1 9 9 8 , S. 2 2 2 .
Vor dem Hintergrund der seit Mitte des 19. Jahrhunderts begonnenen vielseitigen Transplantationsversuche von G e w e b e und Organen kennzeichnete 1918 der Professor für Geburtshilfe und Gynäkologie Franz Unterberger diese Phase mit dem Epochenbegriff „Zeitalter der Transplantationen." Seinen Vortrag vor dem Verein für wissenschaftliche Heilkunde in Königsberg leitete er mit den W o r t e n ein: „ W i r befinden uns heute in einem Zeitalter der Transplantationen". Franz Unterberger, „Hat die Ovarientransplantation praktische Bedeutung?", in: Deutsche Medizinische S. 9 0 3 - 9 0 4 , hier 9 0 3 .
Wochenschrift
44
(1918/11),
28
Anna Bergmann
pflanzung von Gewebe und Organen (z.B. Schilddrüse, Eierstöcke, Hoden, Nieren, Haut, Bauchspeichel- und Hirnanhangdrüse)
unter
der Prämisse „Isolieren, Wegnehmen und Hinzufügen der Organfunktion" 1 0 z u einer Heilmethode entwickelt. Die nach wie vor komplizierte und mit schweren Nebenwirkungen verbundene Verpflanzungsmedizin befand sich bis Ende der sechziger Jahre des 2 0 . Jahrhunderts in einer außerordentlich langen Experimentierphase mit gefährlichen und tödlichen Versuchen an Mensch und Tier. Denn die Erfolgsaussichten einer Transplantation vitaler Organe war nicht nur von chirurgischem Know-how, sondern auch von weiteren Faktoren abhängig: von der Entwicklung bestimmter Medikamente zur Unterdrückung der Immunabwehr gegen die Abstoßungsreaktion bei den Organempfängern, vom Einsatz der Kühl- und Nährtechniken bei der Organgewinnung gegen die Z e r f a l l s p r o z e s s e während des Transports und von der Einführung der Hirntodvereinbarung in den sechziger Jahren des 2 0 . Jahrhunderts. Hinsichtlich ihrer Methodologie stellt die Transplantationsmedizin eine Zergliederung des Lebendigen dar. Sie schneidet Teile aus dem Körper des als Leichnam definierten Patienten heraus und fügt diese in den Leib anderer todkranker Menschen wieder ein. Und selbst das Sterben wird in der Hirntoddefinition zerlegt - eine Vorbedingung für die Transplantation von Organen sogenannter Leichenspender. Durch die Fragmentierung des Sterbeprozesses hat der Tote die ihm bisher zugeschriebenen Wesensmerkmale verloren. S o sind Stillstand der Atmung und des H e r z e n s , Leichenblässe, Verwesung, Totenstarre und -flecke seit der Einführung der Hirntodkriterien im Jahre 1 9 6 8 keine zwingenden Todeszeichen mehr. Das H e r z von Hirntoten schlägt, ihre Lungen atmen mit technischer Hilfe, sie verdauen, scheiden aus und werden bis zum Ende der Organentnahme medizinisch betreut, genährt und gepflegt. Von ihrer Erscheinung her sind sie von anderen sich im Koma befindenden, lebendigen Patienten nicht z u unterscheiden."
10 Schlich, Die Erfindung
der Organtransplantation,
a.a.O., S . 141.
11 Ausgangspunkt für die Entwicklung der Hirntoddefinition w a r die Einführung der Herz-Lungen-Maschine in die Intensivmedizin während der fünfziger Jahre des 2 0 . Jahrhunderts. Hier stellte sich die Frage, ob, und wenn ja, ab welchem Zeitpunkt bei bestimmten Komapatientinnen therapeutische Bemühungen z u beenden und die künstliche Beatmung abzubrechen seien. Diese Überlegung war weit von der ethisch höchst prekären Frage entfernt, ob hirnsterbende Komapatientinnen als medizinisch definierte Tote für die Therapie anderer Patientinnen verwendet werden dürfen. Pierre Mollaret und M a u r i c e G o u l o n vom Claude-Bernard-Höpital in Paris wurden für den Beginn dieser Diskussion maßgebend. S i e teilten Komapatientinnen in vier Kategorien ein, beschrieben das tiefste Komastadium als „coma depasse". S i e betonten die
29
Organspenden
Erst durch ein aufwändiges diagnostisches Verfahren wird der Leichenstatus bei einer bestimmten Gruppe von Komapatienten unter Beweis z u stellen versucht. Bis zum späteren Eintritt des Herztstillstandes bleibt ihr Tod jedoch aufgrund ihrer Zeichen des Lebendigen für Arzte, das Pflegepersonal und Angehörige abstrakt. Das Hirntodkonzept bezieht sich auf ein Körpermodell, das historisch auf die Begründung der Anatomie als die Grundlagenwissenschaft der modernen M e d i z i n zurückgeht.
Anatomie als
Anthropologie
Vor dem Hintergrund eines Klimawandels (Kleine Eiszeit) und damit verbundener Hungersnöte sowie Pestzüge begann in Europa seit dem 14. Jahrhundert eine neuartige Auseinandersetzung mit dem Tod. S o fallen auch die ersten im ausgehenden 13. und beginnenden M . J a h r hundert durchgeführten Zergliederungen menschlicher Leichen zeitlich zusammen mit dem Massensterben infolge der großen Wetter-, Hunger-, und Pestkatastrophen - nicht zuletzt, um Seuchenausbrüche und mysteriöse Todesfälle aufzuklären. S i e markieren den Beginn der modernen M e d i z i n : Gelehrte kehrten der Reproduktion des reinen Buchwissens allmählich den Rücken und führten unter dem Postulat der Sichtbarkeit die Leichensektion als Erkenntnismethode ein. Bis zum 18. Jahrhundert wurde eine Zergliederung im Forum des Anatomischen Theaters coram publico beinahe ausschließlich an Körpern von Hingerichteten vorgenommen. 12 Diese Praxis orientierte sich an einer Todesvorstellung, wonach Verstorbene als weiterhin aktionsfähige W e s e n galten, die bei Nichteinhaltung ihrer Totenrechte an den Lebenden Rache nehmen konnten, indem sie etwa Krankheit, Tod oder Missernten verursachten. Aus diesem Todeskonzept leiteten sich die magischen Vorschriften für den Umgang mit Verstorbenen und deren Bestattung ab. Der über Jahrhunderte gängigen Praxis, Hingerichtete für Leichensektionen z u verwenden, lag eben diese animistische Be-
Prozesshaftigkeit des Hirnsterbens auch durch die W a h l der Begrifflichkeit:
„Coma
d e p a s s e " hat die Bedeutung von einem .Zustand dazwischen, nachdem das Koma vorbei ist; überschrittenes Koma'. Von einem „Hirntod" ist in dieser Schrift keine Rede. Mollaret und G o u l o n lehnten es auch ausdrücklich ab, die medizinische Behandlung bei „Coma-depasse"-Patienten z u beenden. Vgl. Pierre M o l l a r e t / M a u r i c e Goulon, „Le Coma Depasse", in: Revue Neurologique lich: G e s a Lindemann, Beunruhigende
101 ( 1 9 5 9 ) , S . 3 - 1 5 , hier S . 14; vgl. ausführSicherheilen.
Zur
Genese des
Konstanz 2 0 0 3 , S. 75ff. 12 Vgl. genauer Bergmann, Der entseelte Patient, a.a.O., S. 117ff.
Hirntodkonzepts,
30
Anna Bergmann
Ziehung z u den Toten zugrunde. W e s s e n Körper durch die Exekutionsprozedur vernichtet und somit „entseelt" worden war, galt auch seiner ihm im Tode zugesprochenen Macht beraubt. Trotz der über Jahrhunderte hinweg nach animistischen Spielregeln erfolgten Nutzung der Hinrichtungsopfer für Zwecke des medizinischen Fortschritts leitete die Anatomie gleichsam eine Verabschiedung des dem magischen Denken zugrundeliegenden
Naturverhältnisses
ein. Natur ist der magischen Vorstellungswelt zufolge ein lebendiges und daher beseeltes G a n z e s , in das der Mensch als Teil dieses Ganzen untrennbar eingebunden ist. Das magische Denken beruht vor allem auf dem Prinzip des kosmologischen Verbundenseins und auf dem sympathetischen Beziehungssystem, das sich durch Analogiebildungen herstellt. 13 S o wurde der menschliche Leib als Mikrokosmos angesehen, der sich analog zum Makrokosmos aus den die gesamte W e l t konstituierenden vier Elementen zusammensetze (Wasser, Erde, Feuer, Luft). Pflanzen und W ä l d e r galten als Behaarung der Erde, Felsen als Knochen und unterirdische Gewässer als das Blut ihrer Venen. 14 Prinzipien der Verbundenheit, eine alles durchdringende Beseeltheit von Dingen und W e s e n im lebendigen und toten Status, also die Belebtheit der sichtbaren wie unsichtbaren W e l t gelten als die herausragenden Merkmale des animistisch-magischen Denkens, das gleichsam ein dualistisches und in Hierarchien aufgebautes Weltbild ausschließt. 15 Die Zergliederung menschlicher Leichen beinhaltete nicht nur eine neuartige Methode der Naturerkenntnis, sondern sie führte mit der Vorstellung vom Körper als ein in einzelne Organe fragmentierbares Gebilde z u einem fundamental anderen Welt- und Menschenbild, nicht zuletzt, weil das Prinzip einer allumfassenden Verbundenheit und Beseeltheit aufgekündigt wurde. Die Anatomie [spätlateinisch anatomia: das Aufschneiden, Zergliedern (von Körpern)] konstituierte einen auseinandernehmbaren, nach mechanistischen Gesetzen wieder zusammensetzbaren, von der Umwelt und vom Kosmos abgeschnittenen autonomen Körper. Anatomie im Sinne einer neuen Lehre vom „Kör-
13 Vgl. Marcel M a u s s , Soziologie gie. Soziale (Hg.), Magie.
Morphologie,
und Anthropologie
I (1904).
Theorie
der
Ma-
Frankfurt a . M . 1 9 8 9 ; H a n s G . Kippenberg/Brigitte Luchesi
Die sozialwissenschaftliche
Kontroverse
über das Verstehen fremden
kens, Frankfurt a . M . 1 9 8 7 ; Richard Kieckhefer, Magie 14 Vgl. Paolo Rossi, Die Geburt
der modernen
im Mittelalter, Wissenschaft
München in Europa,
Den-
1992. München
1997; S. 4 0 . 15 W i e Esther Fischer-Homberger darauf hinweist, bedient sich auch die Psychoanalyse in gewisser W e i s e dem analogischen Denken durch die Technik der freien Assoziation, Vgl. Esther Fischer-Homberger, Hunger
- Herz
- Schmerz
und Fugen im Bild von Leib und Seele, Bern 1997, S . 1 6 8 .
- Geschlecht.
Brüche
31
Organspenden
p e r - M e n s c h e n " 1 6 ist, w i e M a r i e l e n e Putscher betont, „damit auch eine Anthropologie".17
Dieser anthropologischen Dimension entsprechend
betitelte der Anatom M a g n u s Hundt ( 1 4 4 9 - 1 5 1 9 ) im Jahre 1 5 0 1 sein anatomisch-physiologisch ausgerichtetes W e r k mit „Antropologium". 1 8 Den methodologischen Schlüssel für die G e n e s e dieses anthropologischen K o n z e p t s und für die Erforschung des Lebendigen stellt bis heute die Anatomie dar. Selbst die M e t h o d e n der Humangenetik, w i e z . B . die Präimplantationsdiagnostik, aber auch das Klonen, die Embryonenforschung s o w i e die Reproduktions- und Organtransplantationsmedizin basieren auf der chirurgischen
Zergliederung
vom lebendigen
und toten Leib. Durch die anschließende N e u z u s a m m e n s e t z u n g von tierischen s o w i e menschlichen Genen, Z e l l e n , Embryonen und O r g a nen beabsichtigt die anatomische Vorgehensweise am O b j e k t
des
K ö r p e r s die Erkenntnis, H e i l u n g und „Optimierung" von Leben. Der
Renaissance-Anatom
Andreas
Vesal
(1514/15—1564)
be-
gründete die neuzeitliche abendländische M e d i z i n , denn er w a r der erste Gelehrte, der das anatomische K a r d i n a l w e r k z e u g — das S e z i e r messer -
selbst in die H a n d nahm, menschliche Leichen s o w i e Tiere
bei lebendigem Leibe radikal zergliederte, dabei forschte, Präparate herstellte und seine Beobachtungen in dem Lehrbuch De humani poris
fabrica
Körpers)
libri
septem
(Sieben
Bücher
vom Bau des
cor-
menschlichen
von 1 5 4 3 systematisch zusammenfasste. Die Durchsetzung
des anatomischen Paradigmas w i r d daher auch als Vesalische
Revo-
lution gekennzeichnet. Ein Jahrhundert später w a r ' e s Rene Descartes ( 1 5 9 6 — 1 6 5 0 ) , der einen geschlossenen Entwurf der mechanistischen Naturauffassung vorlegte. Auch er w a r ein passionierter Anatom. M i t Ausnahme des M e n s c h e n erklärte er alle Lebewesen z u seelenlosen
16
Foucault benutzt diesen Begriff z w a r nicht im Kontext der Anatomie. Vielmehr
führt er ihn ein, um den Zugriff der sich seit dem 17. Jahrhundert durch Disziplinaranstalten (Militär, Schule, Spital, Werkstätten) etablierenden Macht auf den Körper z u analysieren. Er grenzt diese Herrschaftsform ab von der seit dem 18. Jahrhundert sich herausbildenden
Bio-Macht.
Diese bezieht sich nicht auf den
„Körper-Menschen",
sondern auf den „Gattungs-Menschen" (Michel Foucault, In Verteidigung schaft. Vorlesungen
am College
der
Gesell-
de France [ 1 9 7 5 - 7 0 ] . Frankfurt a . M . 2 0 0 1 , S . 2 8 6 ) .
Dennoch stellt bei Foucault der anatomisch „durchschaubare Körper" ein Standbein in der „Erfindung" der „neuen politischen Anatomie" des 17 Jahrhunderts dar. (Vgl. ders., Überwochen
und Strafen.
Die Geburt
des Gefängnisses,
Frankfurt a . M . 1 9 7 6 , S. 174ff.
(Original: Paris 1 9 7 5 ) . 17 Marielene Putscher, „Andreas Vesalius ( 1 5 1 4 - 1 5 6 4 ) " , in: Dietrich von Engelhardt/Fritz Hartmann (Hg.), Klassiker
der Medizin,
Bd. 1, München 1991, S. 1 1 3 - 1 2 9 ,
hier S . 117 (Hervorhebung A.B.). 18 Vgl. U d o Benzendörfer, Psychiatrie 19. Jahrhunderts,
und Anthropologie
Hürtgenwald 1 9 9 3 , S. 18.
in der ersten Hälfte
des
32
Anna Bergmann
Automaten und formulierte einen radikalen Leib-Seele-Dualismus. Dem im menschlichen G e h i r n verorteten G e i s t setzte er einen
entseelten
K ö r p e r entgegen. V o r b e d i n g u n g für diesen D u a l i s m u s w a r die anatomische Darstellung d e s Leibes als Leichnam. E i n z i g aus seiner
De-
k o m p o s i t i o n entstand d a s aus dem T o d g e b o r e n e M o d e l l der K ö r p e r maschine. Die A n a t o m i e näherte sich z u n ä c h s t dem H o m o s a p i e n s a l s L e b e w e s e n nur in seiner materialen D i m e n s i o n a l s „ K ö r p e r - M e n s c h e n " - a l s w i l l f ä h r i g e Leiche. Der T o d w u r d e z u m „ S p i e g e l , in dem d a s W i s sen d a s Leben betrachtet" 1 9 , charakterisiert M i c h e l Foucault d i e s e n Erkenntnisstil.
Die Genese
des Hirntodkonzepts: der Augenschein
„Todeszeichen
-
trügt/"
Einen H ö h e p u n k t der vom T o d e gezeichneten anatomisch-mechanistischen A n t h r o p o l o g i e bildet die vom H i r n t o d k o n z e p t a b h ä n g i g e P r a x i s der T r a n s p l a n t a t i o n s m e d i z i n seit den s e c h z i g e r Jahren d e s 2 0 . Jahrhunderts. A u f der M e t h o d e der K ö r p e r z e r g l i e d e r u n g beruhend, setzt diese Therapieform
die
Logik
der cartesianischen
Körpermaschine
hinsichtlich d e s S t e r b e p r o z e s s e s weiter fort. Denn a l s S i t z der Person und d a r a u s f o l g e r n d auch ihres T o d e s trennt d a s H i r n t o d k o n z e p t p e r definitionem
d a s G e h i r n ab vom S t e r b e n d e s s o verstandenen „noch
ü b e r l e b e n d e n übrigen K ö r p e r s " 2 0 , der in d i e s e r T e i l u n g a l s weiterhin l e b e n d i g gilt. T r a n s p l a n t a t i o n s m e d i z i n e r kennzeichnen einen hirntoten Patienten o n t o l o g i s c h auch a l s „human v e g e t a b l e " 2 1 , Herz-Lungenpräparat"22,
„Restkörper"
oder
„menschliches
„Herz-Lungen-Paket"23.
Der Todeseintritt w i r d somit auf einen e i n z i g e n Z e i t p u n k t und ein einz i g e s O r g a n fixiert, w o d u r c h nicht nur der p r o z e s s u a l e Charakter d e s S t e r b e n s im b i o l o g i s c h e n S i n n e , s o n d e r n der S t e r b e n d e an sich und d a s S t e r b e n a l s ein s o z i a l e s E r e i g n i s negiert w e r d e n .
19 Michel Foucault, Die Geburt
der Klinik.
Eine Archäologie
c/es ärztlichen
Blicks,
Berlin 1 9 7 6 , S. 1 6 0 (Original: Paris 1 9 7 2 ) . 2 0 Johann Friedrich Spittler, „Der Hirntod — Tod des Menschen. Grundlagen und medizinische Gesichtspunkte", in: Ethik in der Medizin
7 ( 1 9 9 5 ) , H. 3, S.
128-145,
hier S. 130. 2 1 Vgl. H a n s Jonas, Technik, Medizin 22
und Ethik, Frankfurt a . M . 1987, S. 2 2 8 .
Karl Steinbereithner, „Grenzgebiete zwischen Leben und T o d -
sche Probleme", in: W i e n e r klinische
Wochenschrift
hier S . 5 3 0 . 23
Zit. n. Baureithel/Bergmann, Herzloser
Anästhesiologi-
81 ( 1 9 6 9 ) , H. 2 9 3 0 , S . 5 3 0 - 5 3 3 ,
Tod, a.a.O., S. 6 5 .
33
Organspenden
W ä h r e n d es sich früher um e i n e n „ T a t b e s t a n d d e r Vivisektion" 2 4 g e h a n d e l t h a b e , so H a n s Jonas, sei es nun e i n z i g d e r M a c h t e i n e r Definition z u v e r d a n k e n , d a s s d e r T o d e s z e i t p u n k t für Transplantationsz w e c k e v o r v e r l e g t w u r d e u n d G e w a l t a m K ö r p e r v o n H i r n t o t e n stattf i n d e n d ü r f e . J o n a s f o r d e r t e anlässlich d e r H i r n t o d v e r e i n b a r u n g v o n 1 9 6 8 e i n e „ m a x i m a l e , D e f i n i t i o n ' " d e s Todes. Er o r d n e t e d a s d e m Hirntodkonzept zugrunde gelegte M e n s c h e n b i l d d e m Cartesianismus d e s 17. J a h r h u n d e r t s z u u n d v e r w i e s auf d i e G e f a h r seiner vivisektoris c h e n K o n s e q u e n z : „ W e r k a n n w i s s e n , w e n n jetzt d a s S e z i e r m e s s e r z u s c h n e i d e n b e g i n n t , o b nicht ein S c h o c k , ein letztes Trauma e i n e m n i c h t z e r e b r a l e n , diffus a u s g e b r e i t e t e n E m p f i n d e n z u g e f ü g t w i r d , d a s n o c h l e i d e n s f ä h i g ist...? Kein Dekret d e r Definition k a n n d i e s e Frage entscheiden."25 W i e f l e x i b e l d i e H i r n t o d v e r e i n b a r u n g selbst ist, verdeutlicht ihre G e schichte: 1 9 6 8 l e g t e anlässlich d e r s p e k t a k u l ä r e n H e r z t r a n s p l a n t a t i o n 1 9 6 7 in S ü d a f r i k a d u r c h d e n C h i r u r g e n C h r i s t i a a n B a r n a r d ( 1 9 2 2 2 0 0 2 ) e i n e K o m m i s s i o n d e r H a r v a r d University ( U S A ) d i e Kriterien d e s H i r n t o d e s fest. D a s A u s b l e i b e n aller Reflexe w a r hier ein zentrales Todeskriterium, d e n n d a s Rückenmark w u r d e in dieser Definition m o r p h o l o g i s c h z u m G e h i r n g e z ä h l t . 2 6 N o c h im s e l b e n Jahr w u r d e d i e A r e f l e x i e als o b l i g a t e s Z e i c h e n d e s H i r n t o d e s a u f g e g e b e n u n d d e r p e r s o n a l e T o d e i n e s M e n s c h e n n u n m e h r auf d a s S c h ä d e l i n n e r e eing e g r e n z t . Seither d ü r f e n H i r n t o t e bis z u 17 Reflexe a u f w e i s e n : z.B. S p r e i z e n d e r Finger, W ä l z e n d e s O b e r k ö r p e r s , B a u c h r e f l e x e , H o c h z i e h e n d e r A r m e u n d Schultern. 2 7 A n d e m D u r c h b r u c h dieser T o d e s d e f i n i t i o n w a r d e r d e u t s c h e N e u r o chirurg W i l h e l m Tönnis ( 1 8 9 8 - 1 9 7 8 ) m a ß g e b e n d beteiligt. Seit 1 9 3 7 hatte er in Berlin d i e Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie des Kaiser-Wilhelm-Instituts geleitet. In seiner Funktion als b e r a t e n d e r N e u r o c h i r u r g b e i m C h e f d e s S a n i t ä t s w e s e n s d e r Luftwaffe w a r seine Forschung in d i e m e d i z i n i s c h e n V e r b r e c h e n im N a t i o n a l -
2 4 Jonas, Technik
Medizin
und Ethik, a . a . O . , S. 2 2 1 .
Ebd., S. 2 2 2 .
25
2 6 Vgl. d i e Punkte „ 2 . N o M o v e m e n t s or B r e a t h i n g " u n d „ 3 . N o Reflexes" in: „ A Definition of Irreversible C o m a . Report of the A d H o c C o m m i t t e e of the H a r v a r d M e d i c a l S c h o o l to Examine the Definition of Brain D e a t h " , in: JAMA
205
( 1 9 6 8 ) , H . 6,
S. 3 3 7 - 3 4 2 , hier S. 3 3 7 f . 2 7 Vgl. G e r h a r d Pendl, Der Hirntod. matik,
Herzloser
in seine Diagnostik
und
Tod, a . a . O . , S. 69ff.," T h o m a s S c h l i c h / C l a u d i a W i e s e m a n n (Hg.),
Zur Kulturgeschichte gende
Eine Einführung
Proble-
W i e n / N e w York 1 9 8 6 , S. 3 0 f f . A u c h für d a s F o l g e n d e : B a u r e i t h e l / B e r g m a n n ,
Sicherheiten,
der Todesleststellung,
Frankfurt a . M . 2 0 0 t ; Lindemann,
a . a . O . ; B e r g m a n n , Der entseelte
Patient, a . a . O . , S. 2 8 4 f f .
Hirntod. Beunruhi-
34
Anna Bergmann
S o z i a l i s m u s eingebettet. 28 In den sechziger Jahren arbeitete T ö n n i s in der Bundesrepublik Deutschland als Direktor der Abteilung forschung
und
Hirnforschung
experimentelle
Pathologie
für
Tumor-
des Max-Planck-Instituts
für
an der W i e d e r b e l e b b a r k e i t von hirnverletzten Patienten
und Patientinnen. Die 1 9 6 3 von ihm und seinem Mitarbeiter Reinhold A. Frowein aufgestellten Kriterien für einen Behandlungsabbruch b z w . den „cerebralen T o d " eines an der Lungenmaschine noch atmenden Komapatienten wurden, w i e G e s a Lindemann herausgearbeitet hat, für die Durchsetzung des heute gültigen H i r n t o d k o n z e p t s bedeutsamer als alle neurophysiologischen Beweisführungen amerikanischer
Hirn-
forscher zusammen. T ö n n i s und Frowein hatten als erste den „cerebralen T o d " ohne Berücksichtigung des Rückenmarks definiert. 2 9 T r o t z der juristischen Festschreibung eines Hirntoten als Leichnam beherrscht nach w i e vor Unsicherheit den s o z i a l e n U m g a n g mit Hirntoten, insbesondere bei denjenigen, die nicht nur für einen M o m e n t den O p e r a t i o n s s a a l z u r Explantation eines O r g a n s betreten, sondern die an der mehrere Stunden dauernden Organentnahme beteiligt sind -
z . B . Operationsschwestern oder Anästhesisten. Schließlich reagiert
der „überlebende K ö r p e r " auf dem Operationstisch teilweise noch bei der Eröffnung des Brustkorbs, des Bauches und beim Abbinden größerer Gefäße -
so wird von der Transplantationsmedizin
selbst
eingeräumt: „ N e b e n Blutdruck- und Pulsreaktionen kann es z u
28
Vgl. H a n s - W e r n e r Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord.
helm-lnstitut für Hirnforschung
1937-1945,
Das
Mus-
Kaiser-Wil-
Berlin 2 0 0 0 , S. 37ff. (hrsg. von Carola Sach-
se im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.); Karl H e i n z Roth, „Tödliche Höhen. Die Unterdruckkammer-Experimente im Konzentrationslager Dachau und ihre Bedeutung für die Ijftfahrtmedizinische Forschung des .Dritten Reichs'", in: Angelika E b b i n g h a u s / K l a u s Dörner (Hg.), Vernichten und Heilen.
Der Nürnberger
Ärzteprozess
und seine Folgen,
hier S . 1 4 4 . 1 9 4 4 erhielt Tönnis das Ritterkreuz
Berlin 2 0 0 2 , S. 1 1 0 - 1 5 1 ,
zum Kriegsverdienstkreuz
mit
Schwer-
tern von dem später im Rahmen des Nürnberger Ä r z t e p r o z e s s e s wegen medizinischer Verbrechen zum Tode verurteilten und 1 9 4 8 hingerichteten Karl Brandt ( 1 9 0 4 - 1 9 4 8 ) . Zudem gab Tönnis das Zentrolblatt
für Neurochirurgie
heraus. 1 9 5 1 war er als Pro-
fessor in Köln tätig und seit 1 9 5 7 als Nachfolger des Neuropathologen H u g o S p a t z ( 1 8 8 8 - 1 9 6 9 ) Geschäftsführender Direktor des Max Vgl. Ernst Klee, Das Personallexikon 29
Planck-Instituts
für
Hirnforschung.
zum Dritten Reich, Frankfurt a . M . 2 0 0 3 , S. 6 2 8 .
Lindemann, Beunruhigende
Sicherheiten,
a.a.O.,
S. 82ff., 114ff.; W i l h e l m Tön-
nies/Reinhold A. Frowein, „ W i e lange ist W i e d e r b e l e b u n g bei schweren Hirnverletzungen möglich?", in: Monatsschrift Verkehrsmedizin der anfangs brale
noch gute Blutdruck
Tod infolge
für Unfallkunde,
Versicherungs-,
Versorgungs-
6 6 ( 1 9 6 3 ) , S. 1 6 9 - 1 9 0 , hier S. 187: „Das noch schlagende des cerebralen
dürfen nicht darüber Zirkulationsstillstandes
hinwegtäuschen, bereits
und und
dass der cere-
eingetreten
Diagnose des eingetretenen T o d e s muss und darf gestellt werden."
Herz
ist. ... Die
35
Organspenden
kelzuckungen durch elektrische Schneideinstrumente s o w i e zu flächenhaften Hautrötungen und Schwitzen kommen. Um diese
Reaktionen
z u m i l d e r n w e r d e n b e i e i n e r O r g a n e n t n a h m e o f t in g e r i n g e n D o s e n Schmerzmittel ( O p i o i d e ) und muskelentspannende Pharmaka b e n . " 3 0 Ein G r o ß t e i l d e r E x p l a n t a t i o n e n f i n d e t d a h e r unter
gege-
Narkose
statt. In j e d e m Fall j e d o c h w e r d e n m u s k e l e n t s p a n n e n d e M e d i k a m e n t e v e r a b r e i c h t . D e n n laut A n g a b e n d e r T r a n s p l a n t a t i o n s m e d i z i n
reagie-
ren e t w a 7 5 P r o z e n t d e r O r g a n s p e n d e r i n n e n a u f d i e E x p l a n t a t i o n mit B e w e g u n g e n , e i n e m a n s c h n e l l e n d e n Puls o d e r B l u t d r u c k s o w i e a u f d i e kalte N ä h r - und Konservierungslösung,31 die d e m Körper n o c h vor der Entnahme der vitalen O r g a n e g e g e n die Verwesung eingeflößt wird u n d d a s Blut d e s S p e n d e r s a u s s c h w e m m t . Z u B e g i n n e i n e r O r g a n e n t n a h m e sind es in d e r R e g e l d i e Anästhesisten, d i e f e s t l e g e n , w i e mit d e m P r o b l e m e i n e r sich b e w e g e n d e n Leiche v e r f a h r e n w i r d - o b sie zur U n t e r d r ü c k u n g v o n Reflexen e i n e N a r k o s e , muskelentspannende Mittel verabreichen o d e r g ä n z l i c h darauf verzichten. In e i n e m I n t e r v i e w e r l ä u t e r t e i n e A n ä s t h e s i s t i n d i e s e E n t s c h e i d u n g s situation: „ M a n c h e K o l l e g e n s a g e n , m a n sollte F e n t a n y l g e b e n , um auf s p i n a l e r E b e n e Reflexe z u u n t e r d r ü c k e n . F e n t a n y l ist ein O p i a t . D a s ist i m m e r w i e d e r e i n e Diskussion w e r t b e i uns in d e r A b t e i l u n g , w e i l d e r e i n e o d e r a n d e r e s a g t : , W a r u m e i n O p i a t ? D a s ist d o c h ein T o t e r ! ' " 3 2 In d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Hirntodkritik b i l d e n d e r K ö r p e r u n d d i e Person d e s M e n s c h e n e i n e Einheit, d i e w e d e r mit m e d i z i n i s c h e n M e t h o d e n n o c h a n t h r o p o l o g i s c h v o n e i n a n d e r g e t r e n n t w e r d e n k ö n n e n . S o w a n d t e sich d e r W ü r z b u r g e r Professor für N e u r o c h i r u r g i e J o a c h i m G e r l a c h g e g e n d i e G l e i c h s e t z u n g d e s H i r n t o d e s mit d e m p e r s o n a l e n T o d eines M e n schen, d a sie „in n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h u n z u l ä n g l i c h e r W e i s e d a s G e h i r n z u m ,Sitz d e r S e e l e ' m a c h t " u n d d i e p e r s o n a l e Individualität ein Begriff sei, „der
im naturwissenschaftlichen
g e b e es „ k e i n e biologischen
Bereich
nicht zuständig
Zudem
ist".
G r ü n d e , e i n e n Teil für d a s G a n z e z u setzen,
w e i l d e r B e s t a n d d e s G a n z e n d e n B e s t a n d aller G l i e d e r umfasst". 3 3 G e g e n d i e h i e r a r c h i s c h e Z e r l e g u n g d e s m e n s c h l i c h e n K ö r p e r s argumentiert g e g e n w ä r t i g auch der N e u r o l o g e und Neurochirurg Andr e a s Z i e g e r . D a s H i r n t o d k o n z e p t b e r u f e sich a u f e i n M e n s c h e n b i l d ,
3 0 Hans-Peter S c h l a k e / K l a u s Roosen, D e r H i r n t o d als der
Tod des M e n s c h e n ,
N e u - I s e n b u r g o.J., S. 5 2 ; vgl. a u c h G e r h a r d S c h w a r z , Dissoziierter gestützte Verfahren
in Diagnostik
Hirntod.
Computer-
und D o k u m e n t a t i o n , Berlin u.a. 1 9 9 0 , S. 4 5 .
31 Vgl. S c h l a k e / R o o s e n , D e r Hirntod
als der Tod des M e n s c h e n , a . a . O . , S . 5 4 .
3 2 Zit. n. B a u r e i t h e l / B e r g m a n n Herzloser
Tod, a . a . O . , S. 152.
3 3 J o a c h i m G e r l a c h , „ G e h i r n t o d u n d totaler Tod", in: Münchener chenschrift I I I ( 1 9 6 9 ) , H. 13, S. 7 3 2 - 7 3 6 , hier S. 7 3 4 .
medizinische
Wo-
36
Anna Bergmann
d a s m i t t l e r w e i l e selbst v o n d e r m o d e r n e n H i r n f o r s c h u n g als w i d e r l e g t g e l t e : „.Bewusstsein' u n d ,Verstand' sitzen nicht in d e r G r o ß h i r n r i n d e ... V i e l m e h r k o m m e n ,Bewusstsein', ,Verstand' u n d . G e f ü h l e ' d u r c h d a s k o m p l e x e Z u s a m m e n w i r k e n vieler K ö r p e r - u n d H i r n z o n e n z u s t a n d e . " 3 4 .Der N e u r o c h i r u r g u n d Anästhesist M a r t i n Klein kritisiert vor a l l e m d i e B e l i e b i g k e i t d e r v e r s c h i e d e n e n H i r n t o d m o d e l l e : „Es h a n d e l t sich b e i d e r Definition d e s H i r n t o d e s schließlich nicht um ein neu e n t d e c k t e s N a t u r g e s e t z , s o n d e r n um e i n e w i l l k ü r l i c h e V e r e i n b a r u n g . " 3 5 S y m p t o matisch für d i e s e a b s t r a k t e T o d e s v o r s t e l l u n g sei a u c h d i e Tatsache, dass m o m e n t a n vier v e r s c h i e d e n e T o d e s k o n z e p t i o n e n g l e i c h z e i t i g existieren: d e r Herz-Kreislauf-Tod, d e r G a n z h i r n t o d , d e r H i r n s t a m m t o d ( E n g l a n d ) , d e r n e o k o r t i k a l e T o d (Ausfall d e s G r o ß h i r n s ) . A u c h aus juristischer Perspektive g i b t es Z w e i f e l , o b d i e H i r n t o d d e f i nition d e n M a ß s t ä b e n zivilrechtlicher, strafrechtlicher u n d verfassungsrechtlicher G r u n d s ä t z e s t a n d h a l t e n kann. Die Fragen, bis w a n n ein M e n s c h O b j e k t eines Tötungsdelikts ist, bis w a n n er d a s G r u n d r e c h t auf L e b e n mit all seinen S c h u t z w i r k u n g e n g e n i e ß t u n d a b w a n n nicht mehr, w a r e n u n d sind nicht h i n r e i c h e n d g e k l ä r t . S o g e h e n d e r Rechtsw i s s e n s c h a f t l e r W o l f r a m H ö f l i n g u n d d e r N e u r o l o g e W a l t e r F. H a u p t d a v o n aus, d a s s H i r n t o d p a t i e n t e n „ s t e r b e n d e M e n s c h e n " seien, „ d i e d e n Schutz d e s L e b e n s g r u n d r e c h t s g e m ä ß Art. 2 A b s . 2 S a t z 1 G G n o c h g e n i e ß e n . In verfassungsrechtlich z u l ä s s i g e r W e i s e lässt sich nicht b e g r ü n d e n , w a r u m d e r (messbare) Ausfall d e s G e h i r n s m e n s c h l i c h e s Leben im Sinne d e s G r u n d g e s e t z e s b e e n d e n soll." 3 6 Z u d e m b e i n h a l t e
3 4 A n d r e a s Z i e g e r , „Personsein, K ö r p e r i d e n t i t ä t u n d B e z i e h u n g s e t h i k " , in: Peter S t r a s s e r / E d g a r Starz (Hg.), Personsein aus bioethischer
Sicht, Stuttgart 1997, S. 154—
171, hier S. 1 5 5 . Vgl. so a u c h d i e N e u r o p h y s i o l o g i n u n d d e r N e u r o l o g e Inge G o r y n i a / G e r a l d Ulrich, „Bei d e r A u f k l ä r u n g über O r g a n s p e n d e n ist mehr Redlichkeit nötig", in: Hospiz-Bewegung
5 + 6 ( 1 9 9 6 ) , S. 1 - 7 .
3 5 M a r t i n Klein, „ O r g a n s p e n d e — G e s c h e n k eines S t e r b e n d e n " , in: U w e Herrm a n n (Hg.), D i e Seele verpflanzen? Herausforderung,
Organtransplantation
als psychische
und
ethische
G ü t e r s l o h 1 9 9 6 , S. 2 2 - 2 7 , hier S. 221.; vgl. d i e Hirntodkritik aus so-
z i o l o g i s c h e r u n d p h i l o s o p h i s c h e r Perspektive: W e r n e r Schneider, „ S o tot wie nötig — so lebendig
wie möglich!"
Sterben
und Tod in der fortgeschrittenen
1 9 9 9 ; Ralf Stoecker, Der Hirntod. phische
Transformation,
Zur sozio-technischen
Ein medizinisches
Problem
Moderne, und seine
M ü n c h e n 1 9 9 9 ; G e s a Lindemann, Die Grenzen Konstruktion
2 0 0 2 und dies., Beunruhigende
des
von Leben und Tod in der Intensivmedizin, Sicherheiten,
Münster moralphilosoSozialen. München
a.a.O.
3 6 W a l t e r F. H a u p t / W o l f r a m H ö f l i n g , „ D i e D i a g n o s e d e s H i r n t o d e s : M e d i z i n i s c h e u n d juristische A s p e k t e unter Berücksichtigung d e s T r a n s p l a n t a t i o n s g e s e t z e s (TPG) d e r BRD", in: Fortschritte
der Neurologie
- Psychiatrie
7 0 ( 2 0 0 2 ) , S. 5 8 3 - 5 9 0 , hier 5 8 0 f .
Vgl. a u ß e r d e m zur rechtswissenschaftlichen Hirntodkritik: S t e p h a n Rixen, am L e b e n s e n d e . Das Grundrecht
auf Leben und die Hirntodkonzeption,
Lebensschutz
Berlin 1 9 9 9 .
37
Organsperden
das in Deutschland geltende Transplantationsgesetz eine „unverantwortliche Verantwortungsdelegation" 3 7 an die M e d i z i n , so Höfling. Aber selbst im Klinikalltag scheint die Einleitung einer O r g a n s p e n d e durch die Ärzteschaft keine Selbstverständlichkeit z u sein. S o wurde in Deutschland auf der Expertenanhörung des Deutschen Bundestags „Organisation der postmortalen O r g a n s p e n d e in Deutschland" ( 2 0 0 4 ) und auch im Deutschen
Arzteblatt
die Tatsache beklagt, d a s s im Jahr
2 0 0 3 6 0 Prozent aller Krankenhäuser mit Intensivstationen keine M e l dungen von hirntoten Patienten und Patientinnen machten. 38 Diese Enthaltsamkeit v e r w e i s t m.E. auf das ethische Konfliktpotential, das in der transplantationsmedizinischen Praxis begründet liegt. Schließlich bleibt eine O r g a n s p e n d e mit der Unfähigkeit verbunden, einen sterbenden von einem toten M e n s c h e n sinnlich z u unterscheiden. S o heißt es in einer Informationsbroschüre von der Stiftung
Organtransplantation
unter
der
Überschrift
Deutschen
„Todeszeichen
- der Augenschein trügt!", d a s s Hirntote Reaktionen zeigten, „die sich mit der Vorstellung vom T o d vordergründig nicht in Einklang bringen lassen".39
Diesem W a h r n e h m u n g s p r o b l e m
Anästhesisten
sind
Krankenschwestern,
und Chirurgen bei einer Organentnahme
ausgesetzt
und auf eine besondere W e i s e Angehörige, denen auf der Intensivstation die Todesbotschaft übermittelt und noch im gleichen Atemzug die Frage nach einer O r g a n s p e n d e gestellt w i r d . 4 0 D a s Vertrauen in die medizinische Autorität verbindet sich mit dem durch die vom ärztlichen Experten überbrachte Todesnachricht ausgelösten Schock, z u m a l es sich beim Hirntod häufig um einen plötzlichen und kurzen Krankheitsverlauf ohne längere Vorgeschichte handelt. In den meisten Fällen ist der Hirntod die Folge eines H e r z i n f a r k t s , Schlaganfalls, S u i z i d s , Unfalls, einer Lungenembolie oder Hirnblutung. Die Todesbotschaft tritt daher unerwartet in d a s Leben der Angehörigen. Der Stiefvater eines
3 7 W o l f r a m Höfling, „Todesverständnisse und Verfassungsrecht", in: Alberto Bond o l f i / U l r i k e K o s t k a / K u r t Seelmann (Hg.), Ethik und Recht. Bd.
I: Hirntod
und
Organ-
spende, T ü b i n g e n / B a s e l 2 0 0 4 , S . 8 1 - 8 8 , hier S. 8 2 . 38
Vgl. Dietmar M a u e r u.a., „Organspende. Der Schlüssel liegt im Krankenhaus",
in: Deutsches Ärzteblatt
1 0 2 ( 2 0 0 5 ) , H. 5, S. B 2 1 2 - B 2 1 4 , hier S . B 2 1 2 . Auch kommt es
vor, dass Ärzte oder Operationsschwestern ihre Beteiligung an einer Organentnahme verweigern. Vgl. Baureithel/Bergmann, Herzloser 39
Tod, a.a.O.,
S. 8 3 , 1 8 0 .
Deutsche Stiftung Organtransplantation, Gemeinnützige Stiftung, „Kein
zurück...".
Informationen
zum Hirntod,
Weg
3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Neu-
Isenburg 2 0 0 5 , S. 2 8 . 40 Seiten
Vgl. die ethnologische Studie: Vera Kalitzkus, Leben durch den Tod. Die der
Organtransplantation.
N e w York 2 0 0 3 .
Eine
medizinethnologische
Studie,
Frankfurt
zwei a.M./
38
Anna Bergmann
Organspenders, von Beruf Manager in einem großen Konzern, verdeutlicht diese Situation: „Und plötzlich kommt der Arzt und sagt: Jetzt ist er tot.' Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, w a s das ist. Plötzlich ist alles aus. Du wendest Dich ab und gehst, weil alles aus ist. ... Erst etwa nach vier Wochen kam die Frage auf: W a s ist da passiert? Erst dann habe ich gedacht: Er sah aus, als würde er weiterleben. Die Macht der M e d i z i n dieser Aussage halte ich für bemerkenswert, denn ich begreife mich als ein rationaler Mensch. Du reagierst in dieser Situation aber völlig emotional und fragst auch nicht. Im Nachhinein halte ich das für das Gefährlichste an dieser ganzen Situation. Am Anfang habe ich nicht sehr viel darüber gesprochen, weil das W u n d e n aufgerissen hätte. Ich habe überhaupt nicht darüber gesprochen und darauf gewartet, dass meine Frau etwas sagt. S i e hat dann die Initiative ergriffen und uns wurde klar, dass etwas passiert ist, was ungut war. W i r haben dann Freunde eingeladen, um mit ihnen darüber z u sprechen." 41 Auch für den Polizisten Bastian Müller, dessen Vater mit Zustimmung der Familie Nieren, Leber und Hornhäute entnommen worden sind, wurde auf der Intensivstation die Differenz zwischen Hirn- und H e r z t o d belanglos: „In dieser Situation war für mich auch kein Unterschied, ob er hirntot oder herztot war. Das sind Extremsituationen, da macht so etwas auch nichts mehr aus. ... Am Donnerstagmittag habe ich mit dem A r z t telefoniert. Er sagte, dass er am Mittwochabend die Reflexe getestet hatte und z u seinem Schichtbeginn am Donnerstag waren die Reflexe negativ im Gegensatz zum Mittwochabend. Daher Nacht der Hirntod
müsste in
ten, bis man das Hirntodprotokoll abschließen könnte. Dieser meinte, dass mein Vater in der Nacht, als wir alle bei ihm waren, gestorben
dieser
eingetreten sein. M a n müsste aber drei Tage war-
ist, so hat er sich
Arzt ... quasi
ausgedrückt."42
Das Abstraktum Hirntod birgt in der Konfrontation mit sterbenden Patientinnen mehrere Quellen der Unsicherheit in sich. S o orientiert sich der Todeseintritt an dem Zeitpunkt der letzten geleisteten Unterschrift (von insgesamt acht) des zweiten Hirntoddiagnostikers. Diese Handhabung liegt darin begründet, dass der Eintritt des Hirntodes selbst für den ärztlichen Spezialisten faktisch unbeobachtbar ist. Das Kriterium der letzten geleisteten Unterschrift für den Todeszeitpunkt eines Patienten erzeugt, wie G e s a Lindemann an der zeitlichen Struk-
41
A B B , Interview Jan Greve (Pseudonym), August 2 0 0 6 , S . 2.
42
A B B , Interview Bastian M ü l l e r (Pseudonym) August 2 0 0 6 , S . 3, 5 (Hervorhe-
bung A.B.).
39
Organspenden
tur der Hirntoddiagnostik verdeutlicht, ein variables Sterbedatum, das dann nur noch bedingt mit dem betreffenden Menschen selbst korrespondiert: „Die erste Hirntoddiagnostik findet etwa freitags um 1 3 . 0 0 statt. Auf Grund von Personalmangel sind am Wochenende keine apparativen Untersuchungen möglich (es kann z . B . weder ein E E G noch eine cerebrale Angiographie gemacht werden); vielleicht ist auch einfach nur ein Apparat defekt. W e n n außerdem wegen der anfallenden Arbeit nie ausreichend lange z w e i Arztinnen auf der Station sind (eine Hirntoddiagnostik muss immer von z w e i Ärztinnen durchgeführt werden), kann die zweite Hirntoddiagnostik erst am Montag durchgeführt werden. In diesem Fall kann der Zustand des Hirntodes erst am Montag festgestellt werden." 4 3 Dieser verwirrenden Logistik war auch Karolina Müller unterworfen. S i e sehnte sich einen „normalen H e r z t o d " herbei. Dieser blieb nicht zuletzt infolge der künstlichen Weiterbelebung ihres Ehemannes aus und die zweite Hirntoddiagnostik erfolgte an Heiligabend: „Für uns war die Zeit des W a r t e n s so schrecklich, weil für uns es am besten gewesen wäre, wenn sein ganzer Kreislauf zusammengebrochen und er schnell gestorben wäre. Das haben wir uns zu diesem Zeitpunkt sehr gewünscht. Dieses W a r t e n war eigentlich das Schlimmste, wir wussten ja, wenn der Kreislauf das selbst nicht macht, dann ist der 2 4 . Dezember der Todestag. Das war natürlich sehr bitter, aber der Kreislauf war einfach so stabil, hat es geheißen. Und am 2 4 . Dezember lag ja tatsächlich das Hirntodprotokoll vor, so dass das dann z u Ende war." 4 4 Karolina Müller kann bis heute keinen Sinn darin erkennen, dass ihr Ehemann auch nach der Todesfeststellung weiterhin medizinisch und pflegerisch betreut wurde: „Aber das hat mich sehr verwundert, weil ich mir gedacht habe: ,Wenn er tot ist' -
das mag vielleicht ein bisschen komisch klingen
— ,wozu dann Medikamente, wenn er tot ist?' ... für mich war das unvorstellbar. Und noch unvorstellbarer und krasser war für mich, dass wir rausgehen mussten, weil er völlig neu gebettet wurde. Das begreife ich eigentlich bis heute nicht, warum das noch gemacht wurde. M e i n e Tochter hat mir noch gesagt: ,Die machen eben ihre Arbeit nach ihrem Rhythmus und für sie ist er noch Patient.' Aber für uns war er im Grunde
43
G e s a Lindemann, „Die Praxis des Hirnsterbens", in: Claudia H o n e g g e r / S t e f a n
H r a d i l / F r a n z Traxler (Hg.), Grenzenlose
Gesellschalt?
Teil 2. Opladen 1 9 9 9 , S. 5 8 8 -
6 0 4 , hier S. 5 9 8 . 44
A B B , Interview Bastian Müller (Pseudonym), August 2 0 0 0 , S. 6 .
40
Anna Bergmann
kein l e b e n d e s W e s e n mehr. U n d d e s w e g e n hat mich d a s befremdet, d a s s er neue Bettwäsche bekam und weiter versorgt w u r d e . " 4 5 Abgesehen
von
dem
paradoxalen
Status
eines
hirntoten
Men-
schen, der w i e ein l e b e n d i g e r Patient weiter versorgt, t e i l w e i s e s o g a r reanimiert w i r d und gleichsam a l s Leichnam gilt, ist die auf der s o g e nannten Leichenspende b e r u h e n d e P r a x i s der O r g a n v e r p f l a n z u n g in der Geschichte der ärztlichen Tabuüberschreitung e i n z i g a r t i g .
Denn
durch die Verschiebung der G r e n z e z w i s c h e n Leben und T o d w e r d e n mehrere in unserer Kultur herrschende N o r m e n , aber auch Verbindlichkeiten der m e d i z i n i s c h e n
Ethik dramatisch verletzt: Im Laufe der
g r o ß e n O p e r a t i o n einer O r g a n e n t n a h m e gibt e s nicht eine
einzige
m e d i z i n i s c h e H a n d l u n g , die im S i n n e d e s H i p p o k r a t i s c h e n E i d e s dem W o h l e i n e s Hirntoten verpflichtet ist. Im G e g e n t e i l , d i e s e r w i r d
wie
kein anderer Patient je z u v o r in der Geschichte der M e d i z i n in s e i n e r leiblichen Integrität verletzt. D a s s er ab der T o d e s f e s t s t e l l u n g b i s z u seinem auf dem O p e r a t i o n s t i s c h chirurgisch e r z e u g t e n H e r z t o d w i e ein lebender M e n s c h genährt, gepflegt und a n ä s t h e s i o l o g i s c h betreut wird -
T r a n s p l a n t a t i o n s m e d i z i n e r sprechen von einer „ S p e n d e r k o n d i -
tionierung", n e u e r d i n g s auch von einer „organerhaltenden T h e r a p i e " 4 6 dient einem e i n z i g e n Z w e c k : der therapeutischen N u t z u n g s e i n e s noch lebenden K ö r p e r s . Alle
s o n s t verbindlichen
sozialen
Umgangsformen
-
betrachtet
man hirntote O r g a n s p e n d e r nur a l s Patienten, a l s S t e r b e n d e oder a l s Leichen -
s i n d a u ß e r Kraft gesetzt. A l s Tote gilt ihnen nicht die von
A l e x a n d e r M i t s c h e r l i c h s o b e z e i c h n e t e „heilige
S c h e u " , 4 7 die schon
in der m e d i z i n i s c h e n Leichensektion eine B a r r i e r e darstellt und daher nur ritualisiert ü b e r w i n d b a r z u sein scheint. D e n n Ekel, Ohnmacht, Erbrechen -
a l s o extreme k ö r p e r l i c h e Reaktionen -
w e r d e n durch die
Z e r s t ö r u n g s h a n d l u n g d e s Leichnams a u s g e l ö s t , 4 8 w a s auf die M a c h t d e s T o d e s t a b u s und auf die hohe kulturelle B e d e u t u n g d e s Totenkults v e r w e i s t , der seit Jahrtausenden die V e r s t o r b e n e n und nicht z u l e t z t auch die T r a u e r n d e n z u schützen v e r s u c h t 4 9
45
A A B , Interview Karolina M ü l l e r [Pseudonym], August 2 0 0 6 , S . 5.
46
M a u e r u.a., „Organspende. Der Schlüssel liegt im Krankenhaus", a.a.O., S. Β
213. 47
Alexander Mitscherlich, Aul dem Weg zur vaterlosen
Sozialpsychologie, 48
Gesellschalt.
Ideen
zur
München 1 9 6 8 , S. 2 6 0 .
Vgl. ebd.; außerdem: Christine Linkert, 75
rend des Präparierkurses:
Eine psychoanalytisch
Träume von Medizinstudenten
orientierte
empirische,
qualitative
wähUnter-
suchung. Diss, med., Frankfurt a . M . 1 9 8 9 . 49
Bestattungsbräuche sind seit dem Paläolithikum nachgewiesen. Vgl. T h o m a s M a -
41
Organspenden
Animistisch-magische
Todesvorstellungen
im traditionellen
Totenkult
Der Totenkult reguliert die vielfältigen B e z i e h u n g e n der Lebenden einer Gemeinschaft z u ihren Toten. Z w a r blieb in der M o d e r n e die kulturelle B e z i e h u n g z u m T o d von gesellschaftlichen Technisierungs- und Rational i s i e r u n g s p r o z e s s e n k e i n e s w e g s unberührt. Insbesondere die moderne M e d i z i n war in der Durchsetzung der kulturellen W a h r n e h m u n g des T o d e s im Sinne eines physiologisch beschreibbaren Faktums federführend - so z . B . durch die obligat werdende ärztliche Todesfeststellung seit dem 18. Jahrhundert, die H y g i e n i s i e r u n g des Bestattungswesens seit dem 19. Jahrhundert oder durch die Einführung des H i r n t o d e s im 2 0 . Jahrhundert. 5 0 U n d doch prägen in unserer säkularen Kultur auch weiterhin magische und religiöse Praktiken den U m g a n g mit den Toten, denen die Vorstellung von einem absoluten T o d fremd ist und die einen s o z i a l e n Kontakt z u den Verstorbenen nahelegen. Sofern nicht ausgestoßen, blieben Tote in der europäischen vormodernen Gesellschaft durch eine symbolische Kommunikation weiterhin in die W e l t der Lebenden integriert, die G r e n z e n z w i s c h e n tot und lebendig waren fließend. D a s Sterben hatte e b e n s o w i e G e b u r t und H o c h z e i t den Rang eines öffentlichen E r e i g n i s s e s und w a r in seiner hohen s o z i a l e n Bedeutung in aufwändige festliche Rituale eingebettet. Die Pflege der Totenrechte, w i e z . B . das G r a b in geweihter Erde, w a r in der christlichen frühneuzeitlichen Kultur Sippenpflicht. S i e bestimmt teilweise bis heute den Kodex von Bestattungssitten und d a s Verbot der Leichenschändung. Die Verbundenheit der Lebenden mit den Toten spiegelte sich in der Bettung der G r ä b e r am Kirchplatz, der einen Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens bildete. Der Friedhof wurde als O r t der öffentlichen Begegnung und H a n d e l s p l a t z genutzt, w o auch T ä n z e oder Turniere stattfanden. 51 Für unser Verständnis ist die Unterscheidung z w i s c h e n Sterbe- und Bestattungszeremonien
zentral, w i e überhaupt eine
cho, „Tod", in: Christian W u l f (Hg.), Vom Menschen.
Handbuch
Differenzierung
Historische
Anthropolo-
London 1 9 7 5 ; David Sudnow,
Organisiertes
gie, W e i n h e i m / B a s e l 1997, S . 9 3 9 - 9 5 4 , hier S . 9 3 9 . 50
Vgl. Ivan lllich, Medical
Sterben -
eine soziologische
Nemesis,
Untersuchung,
Frankfurt a . M .
1 9 7 3 ; Jean Ziegler, „Die
Herren des Todes", in: Constantin von ßarloewen (Hg.), Der Tod in den Weltkulturen Weltreligionen, 51
und
München 1 9 9 6 , S. 4 3 3 - 4 9 6 .
Vgl. auch für das Folgende: Philippe Aries, Geschichte
1 9 8 2 ; Marianne Mischke, Der Umgang schen Geschichte,
des Todes,
mit dem Tod. Vom Wandel
Berlin 1 9 9 6 ; N o r b e r t Fischer, Geschichte
München abendländi-
des Todes in der
Erfurt 2 0 0 1 ; N o r b e r t F i s c h e r / M a r k w a r t H e r z o g (Hg.), Der Friedhol und der Lebenden, Stuttgart 2 0 0 5 .
in der
Neuzeit,
als Ort der
Toten
42
Anna Bergmann
zwischen der Metapher Tod,52 Menschen.
einem sterbenden
und einem toten
Sterberituale schreiben einen symbolischen, aber eben
auch kommunikativen Umgang mit einem noch lebenden Menschen vor. In der vormodernen Gesellschaft und teilweise bis weit in das 2 0 . Jahrhundert hinein führte der Sterbende in seinen letzten Stunden selbst die Regie. Er genoss einen hohen Status und die soziale Beziehung z u ihm wurde bis zum letzten Atemzug aufrechterhalten. Das Sterbezimmer verwandelte sich in einen öffentlichen Raum, Kerzen wurden angezündet. Freunde, Nachbarn und der Priester versammelten sich um den Sterbenden. Der Zeremonie des Sterbens hatte eine ebenso große Bedeutung wie die Bestattungsfeierlichkeiten selbst. Erst mit dem Eintritt des Todes beginnt, wie Thomas Macho ins Bewusstsein ruft, „der Auftritt der Toten". 5 3 Bestattungsbräuche sind interkulturell im Sinne des animistischen Denkens von der Vorstellung eines Ubergangs
in eine andere W e l t ge-
prägt. Arnold van Gennep hat diesen Aspekt in seinem 1 9 0 9 erschienen W e r k Les Rites de passage
betont. 54 In vielen Kulturen beherrscht
das Bild der Reise an einen weit entfernten O r t die Todesvorstellung. Die Phase des Übergangs ist von den Lebenden z u unterstützen und zu befördern (z.B. Grabbeigabe von Reiseutensilien). Dass solche Vorstellungen auch in unserer säkularen Kultur selbst bei Feuerbestattungen lebendig sind, belegt in einem Interview der Berliner Bestatter Thomas von Hehl, der in einem der größten Bestattungsunternehmen Deutschlands, Ahorn-Grieneisen, tätig ist: „Sicherlich gibt es bei vielen noch die Vorstellung, dass der Tod ein Übergang in eine andere W e l t ist, der je nach Glaubensrichtung verschieden gestaltet wird. ... Sargbeigaben, die wir ja schon aus dem alten Ägypten kennen, sind heute auch üblich, ein Brauch, der sich wieder stärker etabliert — ob das die Enkelkinder sind, die noch ein Foto oder ein Bild mit hineinlegen, was sie selbst gemalt und die Eltern gesagt haben, sie sollen ein Bild Oma oder O p a mitgeben. Es sind aber auch Utensilien, die in den Sarg hineingelegt werden, die den Menschen charakterisieren - bei einem Architekten z . B . ein Z i r k e l ... - dieses wäre eine säkulare Grabbeigabe, die anzeigt, was das für 52
„Der Todesbegriff ist eigentlich ein leerer
Begriff, ein Begriff, dem keine An-
schauung korrespondiert; ein ,flatus vocis' für ein Ereignis, das wir nicht verstehen und niemals werden verstehen können. Nach der Bedeutung des Todesbegriffs gefragt, müssen wir schweigen." T h o m a s Macho, Todesmetaphern.
Zur
Logik der
Grenzeriahrung,
Frankfurt a . M . 1987; S. 181. 53
Macho, „Tod", a.a.O., S. 9 4 1 .
54
Vgl. Arnold van Gennep,
S. 142ff.
Übergangsriten,
Frankfurt a . M . / N e w York
1999,
43
Organspenden
ein Mensch war. ... Es werden teilweise aber auch religiöse Grabbeilagen mitgegeben wie z . B . ein Rosenkranz, ein Handkreuz - das ist ganz unterschiedlich. ... Bei den Roma und Sinti ist es so, dass dementsprechende Grabbeigaben für das Jenseits üblich sind - das sind Dinge wie Getränke bis hin z u Essen, ... aber auch teilweise Geld, damit die Toten den Fährmann zahlen können. Dieser Glaube, dass man Geld mitnehmen muss, ist bei manchen noch verbreitet. Es kommt schon vor, dass die Angehörigen sagen, ,ich gebe Geld mit, damit er etwas für den Fährmann zum Zahlen hat.' Das tritt in abgewandelter Form bei manchen Leuten wieder zutage, die das einmal gehört haben und sagen: ,Ich mache das, wer weiß, w o z u es gut ist.'" 5 5 Der Tod markiert in der Logik solcher Bräuche kein Ende, sondern den Ubergang in eine andere Welt. Auch verfügen dem magischen Denken zufolge Tote weiterhin über sinnliche Fähigkeiten, sie sind in der Lage zu hören und z u fühlen. Im frühneuzeitlichen Europa war die Angst vor ihrer Rache, wenn es „die Lebenden an der gebotenen Ehrerbietung fehlen" 5 6 ließen, sehr ausgeprägt. Ihnen wurde die Macht zugesprochen, Unheil z u verursachen, aber auch als „helfende Tote" zur Seite z u stehen. Die Praxis der frühneuzeitlichen Sterberituale und Bestattungszeremonien enthielten sowohl Elemente aus dem vom animistisch-magischen Denken geprägten Seelenkult, der von der Christianisierung unberührt blieb -
z . B . Anzünden der Sterbekerze,
Leichenwäsche,
Totenwache, Totengesang, Leichenschmaus, beigelegte Opfergaben in Gräbern - , als auch sich damit überschneidende und seit dem 13. Jahrhundert immer wichtiger werdende christliche Zeremonien: etwa die von einem Priester vorgenommene letzte Ölung und Erteilung der Absolution, Läuten der Totenglocken, gemeinsames Beten für den Sterbenden am Krankenbett, Abhalten einer Totenmesse, Beerdigungsfeier unter Glockengeläut, Leichenzug, das letzte Gebet am Grab und schließlich das Begräbnis in geweihter Erde. Solche Sitten erfüllten u.a. die Funktion, sich mit den Toten gut z u stellen, sie zu besänftigen und dienten nicht zuletzt auch der Bannung der ihnen zugesprochenen Macht über das Diesseits. Die Bestattungsriten intendieren insofern eine klare Grenzziehung zwischen der „Welt der Toten" und der W e l t der Lebenden. Die Totenwache zum Beispiel
55
ABB, Interview Thomas von Hehl (Ahorn-Grieneisen), August 2 0 0 6 , S. 9f.;
ahnliches berichtete der Bestatter von „Bestattung Wien" in einem Interview im August 2006. 5 6 Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1997, S. 112.
44
Anna Bergmann
versichert den Beistand in der Übergangsphase und verhindert gleichzeitig eine Rückkehr in die diesseitige Sphäre. Thomas Macho verdeutlicht: „Die Toten sind Anarchisten. S i e sehen niemand an, ihr Blick zeugt von merkwürdiger und strenger Distanz, ein ,böser Blick', der gefürchtet wird, weil er sein Gegenüber .durchschaut' als wäre es gar nicht anwesend. Der Tote spricht nicht, und seine M i e n e bleibt verschlossen. Er bewegt keinen Muskel, zuckt nicht mit den W i m p e r n , rührt keinen Arm und kein Bein. Dennoch haben die Toten Augen, Münder und Zungen, Gesichter, Muskeln, Arme und Beine. Der Tote ist unzweifelhaft ein Mensch. Er ist menschlich und unmenschlich zugleich, äußerst vertraut und äußerst fremd." 5 7 Aus dieser Ambivalenz erwächst die unverzichtbare Organisation von Bestattungsbräuchen.
N e b e n ihrer Bedeutung für eine Grenz-
ziehung zwischen der W e l t der Toten und der der Lebenden erfüllen Praktiken des Totenkults außerdem die Funktion, den Angehörigen eine Trauerzeit und einen Sonderstatus z u gewähren. Drei Grundzüge des Totenglaubens stellt Karl M e u l i heraus, die teilweise heute noch bewahrt geblieben und für die Gestaltung der Bestattungssitten vieler Kulturen maßgebend sind: „Der Tote lebt weiter"; „der Tote ist mächtig"; „der Tote ist gut und böse zugleich". 5 8 Aus dieser ambivalenten Zuschreibung folgt das Bestreben, widersprüchliche Bräuche miteinander z u verknüpfen, sich einerseits den Toten gegenüber fürsorgepflichtig z u verhalten und andererseits eine symbolische und physische Abgrenzung von den Toten herzustellen. Die Öffnung des Fensters zum Entweichen der Seele hat eben diese Bedeutung - ein Brauch, der auch heutzutage im Krankenhaus und H o s p i z nach Eintritt des Todes praktiziert wird, um quasi z u verhindern, dass die Totenseele durch das H a u s geistert, aber auch, damit sie ihre Reise in eine andere W e l t antreten kann. W i e viele seiner Kunden, geht auch der Berliner Bestatter davon aus, dass Verstorbene eine Zeitlang noch über die sinnliche Fähigkeit des Hörens verfügen: Selbst „bei Trauerfeiern spielt das eine Rolle. Das merkt man auch an der Art und W e i s e , wie sich Menschen dort bewegen und verhalten - z . B . man redet nicht schlecht über einen Toten. Das ist schon so, dass diese Sachen noch eine Rolle spielen." Die Regeln des traditionellen Totenkults sind für den Bestatter verpflichtend. S o glaubt er fest daran,
57
Macho, „Tod", a.a.O., S. 9 4 0 .
58
Karl Meuli, Gesammelte
gart, S. 3 0 5 .
Schriften,
hrsg. von Thomas G e i z e r , Bd. 1, Basel/Stutt-
45
Organspenden
„dass die Seele des Verstorbenen nicht in dem Moment weg ist, wenn der klinische Tod festgestellt werden kann. Das ist etwas, was ich ganz persönlich glaube und für mich als Bestatter auch im Umgang mit Toten bei Einbettungen wichtig ist. Von mir glaube ich daher, ein gutes Gewissen haben z u können und ich weiß, ich mache alles so, als wenn mir jemand zuschauen würde. Das ist eine Einstellung z u meiner Arbeit, die andere Kollegen auch haben, die man auch haben muss, um den Beruf lange auszuüben. Das ist etwas ganz Entscheidendes. ... Ich glaube, dass die Seele des Verstorbenen nicht sofort weg ist. Das heißt, man verhält sich mit einer gewissen Ruhe und Pietät, die man vielleicht sonst nicht hat." 5 9 Pietät beinhaltet in unserem modernen Verständnis z w e i Aspekte: einen würdevollen Umgang mit dem Toten, gesetzlich ist dieser in dem Recht auf Totenruhe verankert, das eine von Dritten z u respektierende Tabuzone einräumt. Und sie umfasst auch, so unterstreicht der Berliner Bestatter, „eine gewisse Umgangsform mit den Angehörigen", denen ein pietätvolles Totengedenken ebenfalls im Sinne eines Rechtsguts zusteht. 60 Selbst wenn im Laufe des 2 0 . Jahrhunderts der Umgang mit Toten und das Sterben durch seine zunehmende Verlagerung aus dem häuslich-familiären Bereich in das Krankenhaus eine Medikalisierung erfahren hat und traditionelle Sterbezeremonien in den Hintergrund getreten sind, wurde auch in der Kultur der Moderne die metaphysische Beziehung zum Tod nicht gänzlich aufgegeben 6 1 Denn der weiterhin praktizierte religiöse sowie der nach magischen Regeln ritualisierte Umgang mit der Leiche beruht auf der Vorstellung von irgendeinem Weiterleben der Toten bzw. ihrer Seelen. Diese Beziehung z u den Toten manifestiert sich nicht zuletzt im gegenwärtigen Aufblühen von Sterberitualen und neuen Formen des Totenkults - so in der Hospizbewegung oder der Tendenz z u Spiritualisierungsweisen in der Bestattungskultur, die jenseits der christlichen Religion dem magischen Denken über die kosmologische Eingebundenheit und Zyklizität von Tod und Wiedergeburt entlehnt sind. 6 2
59
A B B , Interview Thomas von Hehl (Ahorn-Grieneisen), August 2 0 0 6 , S . 11, 14.
60
Vgl. Hinrich Rüping, „Materielles und Immaterielles im strafrechtlichen Schutz
der Leiche", in: B o n d o l f i / K o s t k a / S e e l m a n n ( H g ), Ethik und Recht. Bd. Organspende, 61
I: Hirntod
und
a.a.O., S. 1 0 5 - 1 1 8 .
Vgl. Macho, Todesmetaphern,
a.a.O. Momentan versterben in Deutschland und
in Österreich etwa z w e i Drittel aller Menschen in einem Krankenhaus oder einer Institution. 62
S o greift die Gartenarchitektur des neu eingerichteten „Parks der Ruhe und
Kraft" (Architekt Christof Riccabona) auf dem W i e n e r Zentralfriedhof das magische
46
Anna Bergmann
Die Transplantationsmedizin Zweckrationalität
im Spannungsfeld und magischen
Im transplantationsmedizinischen
von
medizinischer
Vorstellungen
Kontext darf der zur Regel gewor-
dene „Multiorganspender" in seiner körperlichen Integrität zum Z w e cke der N u t z u n g seines K ö r p e r s aufgebrochen werden. Ambivalente Gefühle scheinen durch bloße Rationalität annulliert und die Angst vor den Toten gebannt. M i t der Durchsetzung dieser Therapieform wurde von seifen der H i g h - T e c h - M e d i z i n damit begonnen, nicht nur eine uralte Todesvorstellung, sondern auch Sterberituale s o w i e Bräuche des Totenkults aufzukündigen. Schließlich erfolgt der H e r z t o d von Hirntoten durch seine systematische Herbeiführung seitens der Organentnehmer auf dem Operationstisch, so d a s s ein Hirntoter, wenn er diesen „zweiten T o d " stirbt und sich erst dann die bisher gültigen Todeszeichen einstellen, vom Familien- und Freundeskreis nicht begleitet werden kann. 63 Dabei müssen die professionell Beteiligten den einer Vivisektion 6 4 und
Leichenschändung
gleichenden
Organentnahmen
arbeitsteilig
assistieren. Dieser U m g a n g mit Hirntoten ist vom familiären
Umkreis
der O r g a n s p e n d e r mitzutragen und von der Gesellschaft insgesamt z u akzeptieren. Z w a r wird den Angehörigen ein pietätvoller U m g a n g mit dem O r g a n s p e n d e r versichert. Jedoch ist der Anblick des Toten nach einer Organentnahme für die A n g e h ö r i g e n (sofern überhaupt gewünscht ) oft problematisch. W i e der bei Ahorn-Grieneisen tätige Bestatter erklärt, formulieren z w i s c h e n 6 0 und 7 0 Prozent seiner Kunden das Bedürfnis, die Verstorbenen am offenen S a r g z u verabschieden: „ D i e s e s Bedürfnis gibt es häufig ... in vielen Fällen unterstützt der Blick auf den Verstorbenen die Trauerarbeit ..., w e i l man realisieren kann: .Derjenige ist verstorben, er ist nicht nur eingeschlafen, er ist nicht nur weg, sondern ich kann sehen und begreifen, derjenige ist tot.' ... sie können auch spüren, w i e sich ein Verstorbener anfühlt und erkennen, d a s s er verstorben ist, denn er ist kühl. Erst dann kann man anfangen l o s z u l a s s e n . D a s ist ein sehr wichtiger Schritt in dem P r o z e s s der Trauerbewältigung."65 Symbolsystem (Spirale, Doppelaxt, Labyrinth, Quadrat, Kreis und Dreieck) auf. Auch die ßaumbepflanzung nimmt B e z u g auf animistische Pflanzenvorstellungen und die keltische Mythologie. 63
Vgl. Kalitzkus, Leben durch den Tod, a.a.O., S. 104ff.
64
Vgl. so in einem Leserbrief Dr. med. U w e Bannert, in: Deutsches Ärzteblatt
102
( 2 0 0 5 ) , S . Β 1163. 65
A B B , Interview T h o m a s von H e h l (Ahorn-Grieneisen), August 2 0 0 6 , S . 2. Diese
A u s s a g e deckt sich mit den Erfahrungen des W i e n e r Bestattungsunternehmens „Bestat-
47
Organspenden
Die Mutter eines Organspenders, dem H e r z , Leber, Nieren, Augäpfel und Knochen entnommen worden waren, betrachtete ihren Jungen gegen den Ratschlag des Bestatters: „Als ich meinen Sohn sah, so entwürdigt, ausgenommen wie eine Gans, ... habe ich instinktiv gewusst, dass etwas sehr B ö s e s . . . stattgefunden hatte." 66 Einen Krankenpfleger überkam Ekel, als Gelenke eines Spenders explantiert wurden, „weil da einfach alles aufgeschnitten und ausgenommen wird. ... W e n n dann die ganzen anderen Teile noch mit herauskommen, dann ist das nur noch eine Hauthülle. ... Auch die anderen Sachen, also wenn sie mit Hammer und M e i ß e l an einen Toten herangehen und handwerklich tätig sind, das hat für mich noch eine andere Qualität." 6 7 M i t dem Argument, es handele sich bei einer Knochentnahme um eine Pietätsverletzung, lehnte im Jahre 1 9 9 8 der Pionier der österreichischen Transplantationsmedizin Raimund Margreiter diese rigoros ab: „Wenn es darum geht, lange Röhrenknochen z u entnehmen, die dann nicht ersetzt werden, so dass ein Bein herunterfällt wie beim Hampelmann, das wäre etwas, das mich persönlich stören würde, und es würde auch nicht unserem Gesetzestext entsprechen. Dagegen wehre ich mich. Deswegen habe ich mich auch nie dazu entschließen können, ganze Gelenke z u entfernen." 68 Entgegen dieser Äußerung fand jedoch unter der Leitung Margreiters die weltweit dritte beidseitige Handtransplantation am 7. M ä r z 2 0 0 0 in der Innsbrucker Klinik statt. Um der gesetzlich verankerten
Pietätsverpflichtung
nachzukommen
und die sichtbar gewordene Verstümmelung z u kaschieren, wurden dem Organspender bei seiner Bestattung die Schmuckprothesen des Handempfängers angelegt. Ein pietätvoller Umgang mit Organspendern beschränkt sich im transplantationsmedizinischen Kontext darauf, wie auch von einer Transplantationskoordinatorin in einem Interview beschrieben, die Leiche nach der Explantation „kunstgerecht" wieder z u verschließen, z u waschen und z u verkleben. 6 9
lung W i e n " im August 2 0 0 6 , S. 3, 9f. Laut Auskunft des W i e n e r
Bestattungsunterneh-
mens wünschen z i r k a 4 0 bis 5 0 Prozent der Kunden einen Abschied am offenen Sarg. 66
A A B , Interview Rosa Greve (Pseudonym), August 2 0 0 6 , S . 3. Im Operationsbe-
richt, den die Mutter später anforderte, heißt es: „... wegen perforierender Verletzungen beider Knie dort keine Knochenentnahme. ... Präparationen beider Beckenschaufeln ... Abtrennen beider Beckenkämme mit der oszillierenden S ä g e ... Nach der Entnahme einer Probe für die Bakteriologie werden nun aus den Beckenkämmen kortiko-spongiöse Späne mit einer oszillierenden S ä g e hergestellt. Nach steriler Verpackung gehen die Späne in die Knochenbank." 67
Zit. n. Baureithel/Bergmann, Herzloser
68
Zit. n. ebd.
69
Vgl. ebd., S. 181 f.
Tod, a.a.O., S . 177.
48
Anna Bergmann
Zudem wird das Tötungstabu dramatisch berührt, sofern professionell Beteiligte, aber auch die Angehörigen von Organspendern an dem H e r z t o d als den Zeitpunkt eines abgeschlossenen Sterbeprozesses festhalten. In diesem Fall, der häufiger eintritt, als in der Öffentlichkeit zugegeben wird, erzeugt die Mitarbeit an der Explantation ein Tötungsbewusstsein: „Wenn der Patient z w a r definitorisch für tot erklärt ist", verdeutlicht Günter Feuerstein, „in Wirklichkeit aber noch leben würde, läge die offensichtliche Unmoral darin, ihn als Leiche z u behandeln und dadurch de facto z u t ö t e n " 7 0 Der Moment, in dem der hirntote Patient sich in eine herztote Leiche verwandelt, wird von dem Pflegepersonal häufig als traumatisches Ereignis geschildert. Denn dieser Vorgang erfolgt durch medizinisches Handeln, und das Sterben ist auf dem Operationstisch wie in einem Laboratorium visuell beobachtbar. Eine österreichische Anästhesieschwester schildert die dabei aufkommende eigene Atmosphäre: „In dieser Situation ist immer eine gewisse Spannung. Vorher ist man beschäftigt und gibt dem Patienten Medikamente, da ist etwas z u tun. Und dann kommt irgendwann der Augenblick, in dem der Patient sehr viel Blut verliert, und man steht daneben und schaut zu, wie das H e r z aufhört z u schlagen. Für mich ist diese Situation furchtbar. Ja, manchmal bin ich auch gegangen. ... M a n schaut zu, und das ist berechenbar. M a n sieht ja, wie die Todeszeichen sich einstellen." 7 1 Die Transplantationsmedizin bringt einerseits die Sterbenden und Toten zum Verschwinden, andererseits macht sie sie im Seelenleben vieler Organempfänger allgegenwärtig: Die magische Besetzung des einverleibten Organs, also die Vorstellung von dessen Beseelung, bis zur Konsequenz, dass der Spender im Empfänger weiterlebt, ist eine gängige Begleiterscheinung dieser neuen Heilmethode.
70
Günter Feuerstein, Das Transplantationssystem.
moralische
Crenzgänge,
Dynamik,
Konflikte
und ethisch-
München 1 9 9 5 , S . 2 2 9 ; vgl. außerdem: H a n s W a l t e r Strie-
bel/Jürgen Link (Hg.), Ich pilege
Tote. Die andere
Seite der
Transplantationsmedizin,
Basel 1 9 9 1 ; Brigitte Putz, „Psychische Belastungen des Pflegepersonals", in: U w e Herrmann (Hg.), Die Seele verpflanzen?
Organtransplantation
als psychische
und ethische
Herausforderung, Gütersloh 1 9 9 6 , S . 6 9 - 7 9 ; Roberto Rotondo, „,Hirntote' sind keine Leichen", in: Ilse G u t j a h r / M a t t h i a s Jung (Hg.), Sterben auf Bestellung. nentnahme,
Lahnstein 1997, S . 75—96;
Fakten zur
Baureithel/Bergmann, Herzloser
Tod,
S. 145ff.; Vgl. außerdem z u r Pflege von Hirntoten: M o n i k a W o g r o l l y - D o m e j , Gottes. Demente, Komatöse, schen Leben und Tod Menschen, 71
Hirntote,
Pflegende
Orgaa.a.O., Abbilder
St. Stefan 2 0 0 4 ; Martina Hiemetzberger, Z w i -
als Grenzgänger.
Eine Studie
Wien 2006.
Zit. n. Baureithel/Bergmann, Herzloser
Tod, a.a.O.,
S. 171.
zur
Pflege
hirntoter
49
Organspenden
Susanne Krähe, eine Nierenempfängerin, hat ihre Konflikte mit der Einverleibung des Organs eines anderen Menschen publiziert: „Er spricht mir aus der Seele. Er schaut mir aus den Augen. Er steckt mir im Kopf. Er liegt mir im Blut, im Magen, in den Haaren. Er bleibt mir auf den Fersen, wie ein Uberbein. Er atmet mich frei, aber er würgt mir auch im Halse. ... Aus meiner vollen Kehle hat er gelacht. Mein Schweiß sein Schweiß. Sein Knabengeruch, wenn er aus meinen Poren wächst Plötzlich blähte sich der Fremde unter meiner Bauchdecke auf wie ein Ballon, biss in meine Nervenstränge, zerrte an meiner Leiste, meinen Oberschenkeln, z o g reißend ins Knie herunter und verhärtete meine W a d e n . Gewalt. W i e eine rachsüchtige Erinnerung an den Trennungsschmerz, den er bei seiner Entnahme erlitten hatte. Ich bestand nur noch aus seinem Zittern, seinem Fieber, wälzte mich wie ein Tier auf meiner Matratze herum. Da war er wieder: der Feind. Da war sein Hohnlachen, das sich in irgendeine ferne Ecke unseres Zimmers gehängt hatte und jeden meiner Kämpfe kommentierte." 72 Ciaire Sylvia, hat das H e r z und die Lungen eines M a n n e s erhalten. Sie beschreibt in ihrer Biographie einen Traum von ihrem Spender: „ W i r küssen uns - und während wir dies tun, atme ich ihn tief in mich ein. Es fühlt sich an wie der tiefste Atemzug, den ich jemals getan habe. Und ich w e i ß im selben Moment, dass wir beide, Tim und ich, für immer vereint sein werden." 7 3 Sylvia fühlte sich zunehmend in ihrer Sexualität von ihrem Spender dominiert, ihr „männliches H e r z " schien sich, „tatsächlich auf meine Persönlichkeit a u s z u w i r k e n " 7 4 Auch überlegte sie, ob Veränderungen ihrer geschmacklichen Vorlieben hinsichtlich des Essens und Trinkens auf ihren Spender zurückgingen. 7 5 Ekel-
und
Besessenheitsgefühle,
Vorstellungen
von
Organraub,
die Furcht vor Wesensveränderungen und Depressionen gehören z u den spezifischen Problemen von Organempfängern
72
Susanne Krähe, Adoptiert:
Das fremde Organ.
76
Angst und Ge-
Transplantation
als
Grenzerfah-
mein Selbst
veränderte,
rung, Gütersloh 1 9 9 9 , S. 41, 6 4 . 73
Ciaire Sylvia, Herzensfremd.
Wie
ein Spenderherz
Hamburg 1 9 9 8 , S. 17. 74
Ebd., S . 135,
75
Vgl. ebd., S. 116.
7 6 Vgl. z . B . die ethnologischen Studien von Vera Kalitzkus (Leben durch den a.a.O.) und Olivia Wiebel-Fanderl, Herztransplantation M e n s c h zwischen
kulturellen
Traditionen
als
erzählte
und medizinisch-technischem
Erfahrung. Fortschritt,
s t e r / H a m b u r g / L o n d o n 2 0 0 3 ; vgl. psychologische Studien: Oliver Decker, Der sengott. Subjektivität und Transplantationsmedizin, G i e ß e n 2 0 0 4 ; U w e N e u s e r (Hg.), Transplanlationsmedizin
aus psychologischer
Perspektive,
Tod, Der Mün-
Prothe-
Koch/Jürgen Göttingen u.a.
1 9 9 7 ; Elisabeth W e l l e n d o r f , „Seelische Aspekte der Organverpflanzung", in: Herrmann,
50
Anna Bergmann
fühle der B e s e s s e n h e i t — die sogenannten
Doppelgängerphantasien
- treten, w i e O l i v e r Decker erklärt, „in mehr oder w e n i g e r starker Ausp r ä g u n g bei einem G r o ß t e i l der Patienten auf, und d a s bereits vor der eigentlichen Transplantation, s o v i e l kann nach den b i s h e r i g e n Fors c h u n g s e r g e b n i s s e n a l s gesichert g e l t e n " 7 7 Eine amerikanische S t u d i e über s e e l i s c h e Probleme von herztransplantierten Patienten spricht von dem a u s der Geschichte von K r i e g e n und d e s H o l o c a u s t bekannten Phänomen der Ü b e r l e b e n s s c h u l d . 7 8 Ehepartner von O r g a n e m p f ä n g e r n
H ä u f i g stellen auch
betreuende
eine K a u s a l b e z i e h u n g
zwischen
W e s e n s v e r ä n d e r u n g e n ihrer Partner und einer in deren K ö r p e r schlummernden fremden S e e l e her. Durch ihre berufliche Tätigkeit a l s M a n a g e r i n in der Pharmaindustrie ist der heute 5 3 j ä h r i g e n Katharina Beck d a s naturwissenschaftliche Denken vertraut. Ihrem Ehemann w u r d e im Jahre 2 0 0 1 aufgrund einer K r e b s d i a g n o s e eine Leber transplantiert. S i e berichtet: „In der N a c h t der O r g a n ü b e r t r a g u n g bin ich in d a s G a r t e n h a u s geg a n g e n und habe d o r t ein Ritual gemacht, in dem ich die Leber meines M a n n e s verabschiedet und die neue w i l l k o m m e n g e h e i ß e n habe. E s w a r ein Ritual mit Erde und Steinen, aber auch mit Knochen. D i e s e Knochen hatte ich von einem Freund, der sie a u s S ü d a m e r i k a mitgebracht hatte -
ich w e i ß nicht, ob es Tier- o d e r M e n s c h e n k n o c h e n w a r e n . ...
Ich habe damit ein B e e r d i g u n g s r i t u a l durchgeführt. ... D a b e i hatte ich d a s B i l d der alten Leber vor mir, die ich in die Erde tat. Die neue Leber habe ich w i l l k o m m e n g e h e i ß e n -
der S p e n d e r w a r dabei d i s t a n z i e r t
g e g e n w ä r t i g . ... Er w a r ungefähr 4 0 b i s 4 5 Jahre alt, g r o ß und hager. Er w a r am Kopf verletzt und hatte eine e i g e n a r t i g e G l a t z e -
eine
ausgeschnittene G l a t z e . ... Er hat mir keine A n g s t gemacht, s o n d e r n signalisiert: ,Sei vorsichtig'."79 K o n r a d Beck hatte nach der Transplantation mit D e p r e s s i o n e n und Angstzuständen
z u kämpfen.
Katharina Beck schildert: „Ich
räumte
g e r a d e die S p ü l m a s c h i n e aus und hatte ein M e s s e r in der H a n d . Daraufhin beschuldigte er mich, ich w ü r d e ihn attackieren. , W a s w i l l s t Du mit mir tun? G i b d a s M e s s e r w e g . G i b sofort d a s M e s s e r w e g l ' Er ist auch von Alpträumen geplagt w o r d e n , in denen er von seinem W e s e n ,
Die Seele verpflanzen?
a.a.O., S . 5 6 - 6 8 ; andere S e l b s t z e u g n i s s e von Organempfän-
gern: Peter Cornelius Claussen, Herzwechsel, Der Eindringling.
Das fremde Herz,
M ü n c h e n / W i e n 1 9 9 6 ; Jean-Luc Nancy,
Berlin 2 0 0 0 .
77
Decker, Der Prolhesengoll,
78
Vgl. Arthur Freeman u.a., "Cardiac Transplantation: Clinical Correlates of Psychi-
atric Outcome", in: Psychosomatics 79
a.a.O., S. 116f.
2 9 ( 1 9 8 8 ) , S . 4 7 - 5 4 , hier S. 47.
A A B , Interview, Katharina Beck (Pseudonym), Juni 2 0 0 6 , S. 6f.
51
Organspenden
das wie ein riesiger Menschenaffe aussah, verfolgt und angegriffen wurde." 8 0 Nach der Transplantation litt Konrad Beck außerdem unter dem Restless-Iegs-Syndrom -
trotz großer Müdigkeit wird der Patient von
einem extremen Bewegungsdrang gequält und muss im Stand laufen, um die starken Schmerzen z u lindern. 8 ' Als ihr Ehemann nachts von einem solchen Anfall ergriffen wurde, versuchte Katharina Beck die Situation spirituell z u bewältigen: „Es war so schlimm ... ich bin dann an das Fenster gegangen und habe in den W a l d gebrüllt: ,lhr müsst mir jetzt helfen, ich w e i ß nicht, wie das weiter gehen soll!' Daraufhin hat ein Kauz eine Stunde lang am Giebel vom Haus sehr, sehr laut angeschlagen. Nachdem der Kauz aufgehört hatte, wurde mein
80
Ebd., S. 10.
81
N e b e n seelischen Konflikten gibt es ein breites Spektrum körperlicher Komplika-
tionen, mit denen jeder Organempfänger ein Leben lang rechnen muss. S o entwickeln z . B . in den ersten drei Monaten nach einer Herztransplantation etwa 9 0 Prozent aller Patienten eine akute Abstoßungsreaktion - bei 2 0 bis 4 0 Prozent dieser Patientengruppe tritt innerhalb von fünf Jahren eine Koronarsklerose (chronische Abstoßungl auf, von hundert Herztransplantierten versterben z w a n z i g Patienten noch während des ersten Jahres nach der Verpflanzung. Da die Organabstoßung eine normale Reaktion des menschlichen K ö r p e r s ist, müssen im Fall einer Transplantation lebenslang immununterdrückende Medikamente verabreicht werden, die d a z u führen, dass Organempfänger über wenig eigene Abwehrkräfte verfügen. Joachim Rötsch und Barbara Bachmann vergleichen den für die Therapie notwendig erzeugten Immundefekt mit dem Krankheitsbild von A I D S (vgl. Joachim R ö t s c h / B a r b a r a Bachmann, „Scheintot oder hirntot?", in: Raum & Zeit 6 9 ( 1 9 9 4 ) , S. 5 — 2 0 ] Die häufigsten Todesursachen infolge einer Verpflanzung sind schwere Nierenschädigungen, Stoffwechsel- und Krebserkrankungen. S o hat kürzlich eine Untersuchung über die Krebsanfälligkeit von Organempfängern ergeben, dass sich das Risiko, an einem spinozellulären K a r z i n o m z u erkranken, bei Transplantatempfängern „im Vergleich z u r übrigen Bevölkerung um das 65-fache erhöht und (es, A . B . ) steigt mit der Dauer der immunsuppressiven Therapie an" (Kempf, W e r n e r : „Hautveränderungen bei Transplantatempfängern", in: Deutsches
Ärzteblatt
1 0 3 ( 2 0 0 6 | , H. 3 4 - 3 5 , S. A 2 2 4 5 - A 2 2 4 9 , hier S. A 2 2 4 5 ) . Die Notwendigkeit einer erneuten Transplantation, Bluthochdruck, der z u dem parkinsonähnlichen Beschwerdebild des Zitterns führen kann, gravierende Leberschädigungen s o w i e O s t e o p o r o s e mit Wirbelkörperfrakturen und -brüchen sind gängige Nebenwirkungen der CyclosporinTherapie. Außerdem bewirken die nach der Transplantation verabreichten Immunsuppressiva verstärkten H a a r w u c h s und Gewichtzunahme jeweils auch im Gesicht („Vollmondgesicht"), Taubheitsgefühle in den Händen oder Kribbeln in den Extremitäten. Vgl. Decker, Der Prothesengott, als erzählte
Erfahrung,
a.a.O., S . 109f.: Wiebel-Fanderl,
Herztransplantation
a.a.O., S. 4 7 f f . ; Feuerstein, D a s Transplantationssystem,
a.a.O.,
S . 81, vgl. die sogenannten Jahres-Funktionsraten (Überlebens- und Mortalitätsraten) ebd., S. 7 7 f f . ; Stapenhorst, Unliebsame Göttingen 1 9 9 9 , S. 15f.
Betrachtungen
zur
Transplantationsmedizin,
52
Anna Bergmann
Mann freundlich und lieb." 8 2 Die Wesensveränderungen ihres Mannes interpretiert Katharina Beck in der Logik des animistisch-magischen Codes: „Eigentlich kann der Spender nicht weggehen aus dieser Welt, er muss ja weiterleben. ... Vom Organ her gedacht, habe ich die Vorstellung, dass es beseelt ist
Nach dem Tod meines M a n n e s ...
habe ich die Knochen wieder angesprochen und habe den Geist von dem Organspender wieder empfunden - und jetzt war der Geist sehr negativ
Schamanistisch gesehen, handelt es sich um eine Be-
setzung, so glaube ich. Die Frage ist eben, welches Leben man sich mit einer Transplantation einkauft. M e i n Mann war schon ein anderer Mensch durch dieses neue Organ. Es ist so: ein neuer Mensch war geboren." 8 3
82
A A B , Interview, Katharina Beck (Pseudonym), Juni 2 0 0 6 , S . 7, 10.
83
A A B , Interview Katharina Beck [Pseudonym), Juni 2 0 0 6 , S . 13f. Umgekehrt kann
sich auch bei Organspenderfamilien die Vorstellung von einer Verpflanzung der Seele durch eine Transplantation verfestigen. Ein spektakuläres Beispiel ging im September 1 9 9 8 durch die internationale Presse: Vor dem Hintergrund, dass in den U S A die Anonymität der Spender und Spenderinnen nicht so streng wie in Europa gewahrt bleibt, wurden im M a i 1 9 9 7 in der Fernsehtalkshow Oprah
Winfrey
Show (Titel „The A m a z i n g
Heart Transplant S t o r y " ) die Familie eines Organspenders mit der einer Empfängerin zusammengeführt. Der 12jährigen Stephanie Breeding aus Seattle war 1 9 9 3 das H e r z des im Alter von dreizehn Jahren ertrunkenen B. J. Overturf transplantiert worden. Die beiden Familien lernten sich in der Talkshow kennen. Vier Monate später, am 13. September 1997, ertrank Stephanie Breeding selbst bei einem Autounfall und auch sie wurde z u r Organspenderin. Als die Mutter von B. J. Overturf die Todesnachricht erhielt, soll sie beklagt haben: „Oh, no, this is so hard. It's like losing my son twice." Christine C l a r r i d g e / W a r r e n King, „.It's like losing my son twice' - Heart donor's mother grieves after recipient dies", in: Seattle
Times,
17. September
1 9 9 8 . In dem Artikel heißt es:
„Organ-donation officials say it is common for a donor family to grieve when a recipient dies." Diese Aussage deckt sich nicht mit den Antworten der Angehörigen von Organspendern, mit denen ich Gespräche geführt habe. Martin Schlägel, Richter von Beruf, der 1 9 9 1 einer Nierenentnahme seines Sohnes zugestimmt hatte, antwortet auf die Frage nach seiner Vorstellung über eine mögliche Weiterexistenz seines Sohnes in dem Körper der Empfänger: „ M e i n e s Erachtens ist die Seele beim Lebenden in jedem Körperteil und in jeder Z e l l e . ... Deshalb ist die Vorstellung, dass sich ein O r g a n meines Sohnes in einem fremden Körper befindet, inzwischen für mich höchst unangenehm, um nicht z u sagen widerwärtig." A A B , Interview Martin Schlägel (Pseudonym), Juli 2 0 0 6 , S. 7 Seine in der Krankenpflege tätige Ehefrau erklärt: „Ich habe vermieden, daran z u denken, dass die N i e r e n meines Sohnes in einem anderen Menschen leben. W e n n ich es nicht vermeiden konnte, bekam ich große Probleme bis hin z u körperlichen Symptomen ... Ich stellte mir vor, dass es mir eines T a g e s nach Jahren in meiner Trauer leichter fallen würde, wenn die N i e r e n versagt hätten. Es tut mir gut, nach 15 Jahren davon ausgehen z u können, dass niemand mit den N i e r e n meines Sohnes herumläuft." A A B , Interview Christina Schlägel (Pseudonym), Juli 2 0 0 6 , S. 4 .
53
Organspenden
W e n n auch ungewollt, so belebt die transplantationsmedizinische Praxis Phantasien des Besessenseins von den Toten - ein Thema der Gruselliteratur
und neuerdings auch Sujet des Organthrillers.
Wie
Thomas Macho betont, gehört die Besessenheit z u den „unheimlichsten Vorstellungen, die jemals entwickelt worden sind". Sie stellt „kein neues, sondern ein uraltes Schrecknis" 8 4 dar. Dieses auch in der Transplantationsmedizin auftauchende Phänomen ist das Resultat einer auf die Spitze getriebenen Zweckrationalität im Umgang mit Sterbenden und Toten. Die Verpflanzungsmedizin erzwingt die Verleugnung der kulturellen Funktionen des Totenkults und bricht nicht nur die symbolischen, sondern auch die körperlichen Grenzen zwischen der „Welt der Lebenden" und der „Welt der Toten" radikal auf, denn sie beruht auf der Einverleibung des Fleisches eines Menschen. Damit berührt sie empfindlich das in unserer modernen, aber auch in anderen Kulturen herrschende Kannibalismustabu -
ein Tabu, das eines der größten
überhaupt z u sein scheint. „Kannibalen" - eine Bezeichnung, die aus der Eroberungsgeschichte Amerikas stammt und auf karibische Indianerstämme zurückgeht 85 - waren von vornherein „die Anderen". Der Menschenfressereivorwurf stellt keineswegs nur in der westlichen Zivilisation eine der am meisten verbreiteten Methoden dar, um sich von Menschen fremder Kulturen und Religionen abzugrenzen, denn umgekehrt wurde in afrikanischen Ländern auch dem „weißen Mann" Kannibalismus nachgesagt. 86 Anthropophagie gilt in vielen Kulturen als das Böse schlechthin - eine Attributierung, die vor dem Hintergrund der großen Hungerkatastrophen in Europa im 14. und 17 Jahrhundert der jüdischen Bevölkerung sowie Hexen und im Z u g e der kolonialen Unterwerfung anderen Völkern vorgeworfen wurde. Seit dem 16. Jahrhundert drang sie als festes Klischee in das europäische Bild über fremde Kulturen. Ausgerechnet die High-Tech-Medizin hat eine Heilmethode entwickelt, die anthropophagische Vorstellungen bei ihren Patienten wachruft. Da ihre Therapie tatsächlich auf der Einverleibung von Menschen-
84
Macho, „Tod", a.a.O., S . 9 5 2 .
85
Der Begriff „Kannibalismus" stammt aus dem Spanischen cam'bal und geht zurück
auf die Kariben. Caribe,
cariba,
caniba heißt in der Sprache der Kariben ,stark', g e -
schickt', ,klug'. Im 16. Jahrhundert drang mit dem von spanischen Eroberern geprägten Wahrnehmungsmuster der Begriff des „Kannibalen" in die europäischen Sprachen. Vgl. Etymologisches
Wörterbuch
des Deutschen,
Erarbeitet unter der Leitung von W o l f g a n g
Pfeifer, München 1 9 9 5 , S. 615f.; W o l f g a n g Dieter Lebek, „Kannibalen und Kariben auf der Ersten Reise des Columbus", in: Daniel F u l d a / W a l t e r Pape (Hg.), Das Andere Kannibalismus 86
als Motiv
und Metapher
Vgl. loan Μ . Lewis, Schamanen,
Frankfurt a . M . 1 9 8 9 , S. 9 3 f f .
in der Literatur, Hexer,
Essen.
Freiburg i.Br. 2 0 0 1 , S . 5 3 - 1 1 2 .
Kannibalen.
Die Realität des
Religiösen,
54
Anna Bergmann
fleisch beruht, steht die Transplantationsmedizin unter einem enormen Rechtfertigungszwang. Sie muss dieses Faktum und die sich damit verbindenden Assoziationen aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen, und es scheint ihr dies vor allem mit Hilfe der religiösen Fundierung der Organspende als Akt christlicher Nächstenliebe zumindest teilweise z u gelingen. Renate Greinert - Mutter eines Organspenders -
kennzeichnet in ihren Reflexionen die verpflanzungstherapeutische
Praxis als Anthropophagie. Es handelt sich, so Greinert, um „eine neue Form des Kannibalismus. Der Mensch schöpft Kraft und gewinnt neues Leben aus fremden Organen. Er isst sie nicht selbst auf, der moderne Mensch macht die Augen z u und lässt einverleiben." 8 7
87
Renate Greinert, „Organspende -
Wuttke (Hg.), Organspende. Kritische 1 9 9 3 , S . 7 6 - 9 0 , hier S . 77.
nie wieder", in: Renate
Greinert/Gisela
Ansichten zur Transplantationsmedizin,
Göttingen
ULRIKE
BRUNOTTE
M A R T Y R I U M , V A T E R L A N D U N D DER K U L T DER T O T E N Männlichkeit
KRIEGER1
und Soteriologie
Märtyrer
- Zeuge -
im Krieg
Heros
Spätestens mit dem 11. September 2 0 0 1 ist der freiwillige und auch für andere tödliche Selbstmord des Kamikaze
im Kontext eines postimpe-
rialen Konflikts und durch ein wachsendes martyrologisches Bewusstsein in der arabischen W e l t z u einem zentralen Symbol zunehmender Heroisierung der „neuen Kriege" geworden. Die Verknüpfung des nationalistischen Figurenmodells der japanischen Selbstmordpiloten 2 aus dem Zweiten Weltkrieg mit den monotheistischen Märtyrertraditionen ist dabei nicht zuletzt „das Resultat einer globalen kulturellen W a n d lung, die sich aus der Vermischung unterschiedlicher historischer und kultureller Erfahrungen und aus der Dekontextualisierung von jahrhundertealten Praktiken, (...) Gewohnheiten" 3 und Mythen ergibt. Religionshistorisch gesehen scheinen sich die drei abrahamitischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam -
nun gerade in ihrer
je unterschiedlichen Entwicklung der „Märtyrerfigur"
besonders
zu
ähneln. Gleichwohl war es das Christentum, das den Begriff martys (griech. Zeuge) von dem juridischen Begriff des Zeugen (der Anklage), dem noch die königskritischen Propheten des Alten Testamentes nahekommen, 4 etwa ab dem dritten Jahrhundert n. Chr. in den des „Blutzeugen der Göttlichkeit Christi und seiner Religion" 5 umwandelte.
1 Der Text erscheint auch in: Thomas Frank/Andreas Kraß (Hg.), Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums,
Frankfurt a.M. 2 0 0 8 .
2 Vgl. die ausführlichste historische Rekonstruktion der Kamikazetradition und ihrer Adaptionen im arabischen Raum: Joseph Croitoru, Der Märtyrer schen Wurzein des Selbstmordattentates,
als Walle.
Die
histori-
München/Wien 2 0 0 3 .
3
Fouad Allam, Der Islam in einer globalen
4
Eva Maria Schwenker rekonstruiert anhand von Quellenmaterial aus dem Alten
Welt, Berlin 2 0 0 4 , S. 142.
und Neuen Testament die Entstehung des frühchristlichen Märtyrerkonzeptes und legt besonderen W e r t auf die Rolle des Propheten als „Zeugen Gottes" aber auch königskritischem „Zeugen der Anklage". Vgl. Eva Maria Schwenker, „'Prophet, Zeuge und Märtyrer'. Zur Entstehung des Märtyrerbegriffs im frühen Christentum", in: Zeitschrift für Theologie 5
und fCirche 9 6 ( 1 9 9 9 ) , S. 3 2 0 - 3 5 0 .
Lexikon für Theologie
und Kirche, 7. Bd., Freiburg 1 9 6 2 , S. 129. Vgl. auch: Theo-
56
U l r i k e Brunotte
D i e s e christliche Konstruktion d e s M a r t y r i u m s mit ihrer starken Verankerung in der imifafio Christi
w a r damit anfänglich ein Phänomen a u s der
Z e i t der C h r i s t e n v e r f o l g u n g e n
6
Der M ä r t y r e r b z w . die M ä r t y r e r i n , die
d a s M a r t y r i u m a l s H i n n a h m e der Bestrafung für d a s Bekenntnis d e s christlichen G l a u b e n s durchlitten, w e r d e n a l s vollendete
Nachahmer
Christi gezeichnet, denen ein direkter Z u g a n g z u m P a r a d i e s sicher ist. A l s ohnmächtig M ä c h t i g e r , der T o d e s a n g s t und Tyrannenmacht überw i n d e t und durch sein Blut von allen S ü n d e n befreit ist, stellen die M ä r tyrer eine s o t e r i o l o g i s c h e Figur p a r excellence
dar.
G e r a d e die Vorbildlichkeit ihres standhaften Eintretens und S t e r b e n s für ihre Religion l a s s e n die M ä r t y r e r und M ä r t y r e r i n n e n d a r ü b e r hinaus z u Figuren der s o z i a l e n Vergemeinschaftung und k o n f e s s i o n e l l e n Identitätsfindung d e s frühen Christentums w e r d e n .
Kulturanthropologisch
g e s e h e n sind sie G r e n z g ä n g e r , die die traditionale Kultur in ihrem „soz i a l e n B e d e u t u n g s g e w e b e " 7 aus den A n g e l n heben und bestehende N o r m e n verletzen, „die d a r ü b e r bestimmen, w a s heilig und w a s unheilig, w a s Recht und w a s Unrecht, w a s S c h u l d und w a s U n s c h u l d " 8 , ja w a s männlich und w e i b l i c h ist. G e r a d e die im christlichen M a r t y r i u m w i r k s a m e imitatio
christi,
s o Jane T i b b e t s S c h u l e n b u r g und C h r i s t i n a
von Braun, führt bei vielen M ä r t y r e r i n n e n nun z u einer v ö l l i g eigenständigen Deutung d e r s e l b e n und z u r L o s l ö s u n g von der patriarchalen G e n d e r - und F a m i l i e n o r d n u n g . 9 D i e s e L o s l ö s u n g gipfelt b e i s p i e l s w e i s e bei der H e i l i g e n Perpetua, der H e i l i g e n Eugenie und der
Heiligen
W i l g e f o r t i s in einer i n s z e n i e r t e n , v i s i o n ä r geträumten oder gar magisch-körperlich v o l l z o g e n e n „Vermännlichung" im P r o z e s s d e s M a r t y riums. 1 0 Auch „das a u s dem Frühislam stammende muslimische K o n z e p t d e s M a r t y r i u m s beruht auf einem eindeutig männlich codierten dentum und E h r b e w u s s t s e i n . " "
logische
Realenzyklopädie,
Eduard Christen, S. 6
Band XXII, B e r l i n / N e w York 1 9 9 2 , Artikel „Martyrium" von
197-220. Märty-
Stuttgart 2 0 0 2 .
Beiträge
zum Verstehen kultureller
Peter Burschel, Sterben
hen Neuzeit, 9
Hel-
Bedeutungsentwicklung
Der Kulturbegriff im Sinne von Clifford G e e r t z . Vgl. Clifford Geertz, Dichte
schreibung. 8
die
Vgl. die besonders detailgenauen Einzelstudien in: W a l t e r Ameling (Hg.),
rer und Märtyrerakten, 7
Obwohl
Systeme,
und Unsterblichkeit.
Zur
Be-
Frankfurt a . M . 1 9 9 4 , S. 9 . Kultur des M a r t y r i u m s in der frü-
München 2 0 0 4 , S . 3.
Vgl. Jane Tibbets Schulenburg, „Beauty and its Liabilities in the M a k i n g of W o -
men Saints: Mulieres
Sanctae as M e n of G o d " , unveröffentlichter Vortrag, Berlin 2 0 0 5 ;
Christina von Braun, Versuch über den Schwindel.
Religion,
Schrill,
Bild Geschlecht,
Zü-
rich/München 2 0 0 4 , S. 3 9 1 ff. 10 Schulenburg, „Beauty and its Liabilities in the M a k i n g of W o m e n Saints", a.a.O. 11 Friederike Pannewick, „Tödliche Selbstopferung in der palästinensischen Belletri-
57
Martyrium, Vaterland und der Kult der toten Krieger
des arabischen shahid
( Z e u g e ) offenbar unter christlich-jüdischem Ein-
fluss stand' 2 , liegt shahid
im Koran noch weitgehend in der Bedeutung
des „ Z e u g n i s A b l e g e n s " für Gott vor und erhält die aktive Bedeutung des kriegerischen „ B l u t z e u g e n " und „muslimischen S o l d a t e n " erst in der späteren Hadiffi-Literatur. 13 D a s s M a r t y r i u m s s z e n a r i e n , genauer, S z e n a r i e n des Sterbens
heldenhaften
auch in der außerreligiösen und paganen Geschichte von
Bedeutung waren und welche Rolle darin Gendercodierungen
ge-
spielt haben, z e i g t bereits ein kurzer Blick auf die Gerichtsverhandlung und den edlen T o d des S o k r a t e s ( 3 9 9 v. Chr.), w i e sie Piaton in der Apologie,
im Kriton
und Phaidon
schildert. Der Philosoph wurde
durch sein standhaftes Streiten und Sterben für die von ihm vertretende W a h r h e i t und Ethik bereits für die athenische Jugend z u einem Vorbild der Treue ohne Rücksicht auf die Folgen, z u einem „ Z e u g e n / M ä r t y r e r der W a h r h e i t " (Apol. 31c). In den drei Verteidigungsreden
des Sok-
rates vor dem Athener Gericht, deren Z e u g e der junge Piaton war, stellt der Philosoph s o w o h l metaphorisch a l s auch wortwörtlich die folgenreiche Verknüpfung z w i s c h e n männlich soldatischer Tapferkeit und gehorsamer, todesverachtender Standhaftigkeit im K r i e g und in der „Wahrheitstreue" her. S o antwortet S o k r a t e s auf die erste Todesdrohung seiner G e g n e r während des P r o z e s s e s mit V e r w e i s auf seine patriotische Treue und Tapferkeit in den Kämpfen bei Potidaia, Amphipolis und Delion. Immer muss der Standhafte und Tapfere auf seinem Posten ausharren, erläutert Sokrates, denn:
W o h i n j e m a n d sich stellt in der M e i n u n g , e s sei d a am besten (für d e n K a m p f um , W a h r h e i t ' , U . B . ) , o d e r w o h i n einer v o n s e i n e n O b e r e n gestellt w i r d , d a m u s s er, w i e mich dünkt, j e d e G e f a h r aushalten und w e der den T o d noch s o n s t i r g e n d e t w a s in A n s c h l a g b r i n g e n . Ich a l s o hätte A r g e s getan, ihr Athener, w e n n ich, a l s die B e f e h l s h a b e r mir e i n e n P l a t z a n w i e s e n , die ihr g e w ä h l t hattet, um über mich z u befehlen, bei Potid a i a , bei A m p h i p o l i s und D e l i o n , d a m a l s a l s o , w o jene mich hinstellten, g e s t a n d e n hätte w i e i r g e n d e i n a n d e r e r und e s auf d e n T o d g e w a g t ; w o a b e r der G o t t ( A p o l l , U . B . ) mich hinstellte, (...) damit ich in A u f s u c h u n g
stik - eine Frage von Macht und Ehre?", in: Christina von Braun/Ulrike Brunotte/Daniela H r z ä n et al. (Hg.), „Holy War"
and Gender, „Gotteskrieg"
und Geschlecht,
Münster
2 0 0 6 , S. 9 3 - 1 2 0 , hier: S. 101. 12 Theologische
Realenzyklopädie,
Eintrag „Martyrium", B e r l i n / N e w York
1992,
S. 199. 13 Vgl. zur Bedeutungsentwicklung von „Sahid" und „Dschihad": David Cook, Underslading
Jihad, Berkeley/London 2 0 0 5 .
58
Ulrike Brunotte
der W e i s h e i t mein Leben hinbrächte und in Prüfung meiner s e l b s t und a n d e r e r , w e n n ich da, den T o d o d e r i r g e n d e t w a s fürchtend, a u s d e r O r d n u n g g e w i c h e n w ä r e . A r g w ä r e d a s (...) 1 4
W a s Piaton den S o k r a t e s hier aus dem Militärischen entlehnen und in den ethischen Kampf um die W a h r h e i t überführen lässt, ist nichts weniger a l s die Formel des paganen heroischen Sterbens für eine ethische oder eine politische Sache. In beiden Fällen handelt es sich um das Einstehen für ein ethisch/göttlich oder politisch Imaginäres, das, im Falle des Falles, auch den T o d in Kauf nimmt. S e l b s t dann, so berichtet D i o g e n e s Laertios, wenn S o k r a t e s im K r i e g auf „verlorenem Posten" stand, kämpfte er gefasst weiter, w i e in der Schlacht bei Delion, a l s er inmitten seiner w i l d fliehenden M i t k r i e g e r „ganz gelassen einherging, ruhig sich umblickend und z u r A b w e h r bereit, falls einer an ihn sich heranwagte" 1 5 , oder wenn er dem sicheren T o d ins Auge sah, w i e während seines P r o z e s s e s , immer blieb er unerschüttert. A l s S o l d a t ebenso w i e als Philosoph fürchtet S o k r a t e s den T o d nicht. Vielmehr fühlt er sich der realen w i e der idealen Polis und der W a h r h e i t verpflichtet. Bereits Piaton hatte in der Schilderung des furchtlosen Sterbens seines Lehrers in den Dialogen Kriton
und Phaidon
den S o k r a t e s zum Vorbild
für die edlen, mit Männlichkeit gleichgesetzten Tugenden der Vernunft gemacht. Die durch stoisches Gedankengut überlieferte Betonung der vernünftigen Männlichkeit
des Philosophenmart/riums
erfährt nun in der
frühesten jüdischen Schilderung eines heroischen Sterbens von Z i v i l i s ten — des kollektiven „ M a r t y r i u m s " der M a k k a b ä e r während ihres Befreiungskampfes gegen den Seleukidenherrscher Antiochus Epiphanes ( 1 6 6 - 1 3 7 v. Chr.) -
s o w o h l eine Steigerung als auch eine Relativie-
rung. H e i ß t es noch am Beginn des auf griechisch geschriebenen vierten M a k k a b ä e r b u c h e s ( 1 0 0 n. Chr.), d a s s die M a r t y r i e n des Priesters E l e a z a r und der makkabäischen Mutter mit ihren sieben Söhnen durch den Tyrannen Antiochos IV. schildert, g a n z philosophisch: „An mancherlei B e i s p i e l e n (...) könnte ich Euch nun z e i g e n , d a s s die fromme Vernunft Selbstherrscherin der T r i e b e ist. Am allerbesten aber glaube ich es bew e i s e n z u können, ausgehend von der wackeren Männlichkeit derer,
14 Piaton, Sämtliche
Werke
1, Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hg. v.
Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, Apologie, 2 8 d / e . 15 Diogenes Laertios, Declororum
philosophorum
1921, S. 7 2 , zitiert nach: Gottfried Mann, Sokrates menten, Hamburg 1967, S. 2 2 .
vitis, Ed. H. S. Long, dt. Leipzig in Selbstzeugnissen
und
Bilddoku-
59
M a r t y r i u m , Vaterland und der Kult der loten Krieger
die der Tugend zuliebe den Tod erlitten." 16 Auch hier erwächst die Macht der Ohnmächtigen aus dem tapferen und affektlosen Ertragen der Todesschmerzen. Als soteriologisches Überwindertum - für Thora und Volk — wird nun ihr Stoizismus zugleich als männlich und vernünftig codiert. O b w o h l freilich die ausführliche Erzählung der Martern des G r e i s e s und der sieben Jünglinge durchgängig ihr „männliches", von „isakischer Vernunft" 17 getragenes standhaftes Verhalten als höchste Tugend betont, handelt es sich nicht um eine allein biologisch determinierte Männlichkeit. Ist es doch die leiderfüllte Mutter, die den Tod der Söhne mit ansehen muss, bevor sie am Ende selbst freiwillig stirbt, deren Standhaftigkeit und Thora-Treue die aller anderen überflügelt. S o wird von ihr enthusiastisch verkündet: „...in der Standhaftigkeit warst du edler als Mannen und in der Ausdauer mannhafter als M ä n n e r ! " 1 8 Dennoch sind es im Kontext der apokalyptisch grundierten frühen jüdischen Schilderungen von freiwilligem oder heroischem Sterben vor allem das Erzväterpaar Abraham stalt des Daniel
und Isaak oder die heroische Ge-
in der Löwengrube,
die als Vorbilder des Handelns
beschworen werden. In der hellenistischen Kultur Alexandriens, w o die griechisch geschriebenen Makkabäerbücher entstanden, mischen sich freilich die jüdischen Heroen- und Vätergestalten mit dem griechischpaganen Vorbild des Sokrates und nicht zuletzt mit frühchristlichen Einflüssen. Bei allen drei monotheistischen Religionen ist darüber hinaus der Einfluss altorientalischer und antiker Heroen- und Gefallenenverehrung bei der Konstruktion von Martyriumsszenarien anzunehmen. 19 Für Walter Benjamin, der in Piaton weniger den Mythoskritiker als den zur Philosophie übergelaufenen Tragödiendichter sieht, reicht auch die Gestalt des Philosophen Sokrates bis an die heroische Mythenwelt heran. Für ihn verkörpert Sokrates, als Hauptfigur der platonischen Dialoge, nichts weniger als einen tragischen Heros. 2 0 W i e bereits „Wilamowitz schrieb, schuf Piaton .statt der überwundenen Heroensage auch einen Sagenkreis, den von Sokrates'" 2 1 . S o gleicht das Sterben
16 Erich W e i d i n g e r (Hg.), Die Apokryphen:
verborgene
Bücher
der Bibel,
Augs-
burg 1 9 9 0 , S . 3 5 7 . 17 Ebd., S. 3 6 8 . 18 Ebd., S . 3 7 6 . 19 Vgl. Artikel „Martyrium" in: Theologische
Realenzyklopädie,
a.a.O., besonders
S. 199. 20
W a l t e r Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels", in: ders.,
Schriften,
Gesammelte
hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band 1,1, Abhandlun-
gen, S. 2 9 2 . 2 1 W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f , zitiert nach Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels", a.a.O.
60
U l r i k e Brunotte
des Sokrates nach Benjamin dem Tod der tragischen Helden, er vermittelt allerdings diese Tradition zugleich mit dem frühen Christentum: „Er ist Sühnopfer nach dem Buchstaben des alten Rechts, gemeinschaftlicher Opfertod im Geist einer kommenden Gerechtigkeit. (...) Aber aus dem Sokratesdrama ist das Agonale herausgebrochen (...) und mit einem Schlage hat der Tod des H e r o s sich in das Sterben eines Märtyrers verwandelt. W i e ein christlicher Glaubensheld (...) so stirbt Sokrates freiwillig." 2 2 Sein Verhalten nimmt damit in mehrfacher Hinsicht die christlichscholastische Vorstellung vorweg, dass keiner den Posten, auf den er gestellt ist, verlassen dürfe, ganz gleich, ob er ihn bereits verlorengegeben hat." 23
Pro Patria Nach
Mori
Ernst Kantorowicz verdichtet sich das „stellvertretende
Ster-
ben" 2 4 , welches seinen Ausgang in der antiken Heroenverehrung und dem Kult der im Krieg für die Polis oder res publica gefallenen Kämpfer nahm und spätestens im Rahmen der K r e u z z ü g e auf die Soldaten Christi übertragen wurde, mit der Wendung pro patria
mori. In der
Antike, so Kantorowicz, „Patria, most certainly, did not mean the same thing at all times, but usually meant the city. (In Christianity, U.B.) the ties fettering man to his patria on earth, (...) had lost their value. (...) it should be far easier for Christians (...) to give their lives for the love for the patria
aeterno."25
O b w o h l es das Konzept eines heroischen
Selbstopfers des Ritters im Mittelalter durchaus gab, führt der Autor weiter aus, war dieses nicht so sehr pro patria, sondern eher als ein persönliches pro domo konzipiert und drückte die Treue zum Lehnsherrn aus. Die entscheidende W e n d e einer Sakralisierung des realen „Vaterlandes" lokalisiert Kantorowicz ins 13. Jahrhundert, als die mit der "himmlischen patria" verbundenen W e r t e und Sehnsüchte wieder auf die Erde hinabsanken und nun mit einem die Grenzen der Stadt sprengenden weltlichen „heiligen" Vaterland verschmolzen. Insbeson-
22
Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels", a.a.O., S. 2 9 3 .
23
Cornelia Vismann, „Formeln des Rechts -
Befehle des Krieges. N o t i z z u Kan-
torowicz' Aufsatz ,Pro Patria M o r i ' " , in: d i e s . / W o l f g a n g Ernst (Hg.),
Geschichtskörper,
München 1 9 9 8 , S. 1 2 9 - 1 4 4 , hier: S. 137. 24
Ebd., S . 130.
25
Ernst H . Kantorowicz, „Pro patria mori in medieval political thought", in: Ameri-
can Historical
Review 5 6 ( 1 9 5 1 ], S. 4 7 2 - 4 9 2 , hier: S. 4 7 4 f .
61
M a r t y r i u m , Vaterland und der Kult der toten Krieger
dere in der Zeit der Kreuzzüge wurde eine Rhetorik erfunden, in der der Kampf um das Heilige
Land für Kirche, Glauben und „National-
monarchien" (Kantorowicz) gleichermaßen als ein heiliger Krieg für das corpus
mysticum und die terra sancta in Ubersee und z u Hause
ausgefochten wurde. Der Kämpfer der patria
sancta konnte sich so
der Märtyrerkrone und des direkten Eintritts ins Paradies sicher sein, hatte doch Papst Urban der Zweite eine remiss/o omnium
peccato-
rum für alle Kreuzritter angekündigt. W e n n also aus den bereits vorher milites
Christi
genannten Mönchen „wiederum Kreuzritter geworden
sind, trifft auch sie die Pflicht, auf dem Posten auszuhalten. Noch die Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs (...) scheinen sich in dieser W e i s e verpflichtet z u fühlen. (...) M a n sieht anhand dieser Reihung, wie der Appell an den ,Krieger auf verlorenem Posten' nur eine weitere Variation des von den Kreuzzügen tradierten Motivs des ,Sterben für...' ist." 2 6 Den komplexen Prozess der sakralisierenden Umdeutungen des idealen Gemeinschaftskörpers und der pro-pafr/a-mori-Tradition zwischen Kirche und Staat/Königtum hat Ernst Kantorowicz bekanntlich entlang des Begriffsmodells corpus mysticum und der Lehre von den „zwei Körpern des Königs" darzulegen versucht. Dort resümiert er die Verschiebungen der pro-patria-mor/-Vorstellung vom mystisch-theologischen in den politisch-militärischen Bereich in kritischen Worten: „(...) die quasi-religiösen Aspekte des Todes für das Vaterland entstammen dem christlichen Glauben, den Kräften, die jetzt im Dienst des säkularisierten corpus
mysticum aktiviert werden." 2 7 Dabei speist sich nach
Pierre Legendre die „phantasmatische Struktur der Patria (...), also die Fiktion einer mere-patrie auch aus den messianischen Vaterlandsentwürfen der jüdischen Diaspora" 2 8 , die dann „in einem Prozess der Politisierung durch die christliche Scholastik (...) auf die Erde" 2 9 geholt und „entzaubert" wurden. Hat die Übertragung vom corpus
mysticum
der Kirche auf das corpus morale et politicum des Staates erst einmal stattgefunden, dann erfährt der Tod fürs Vaterland eine religiöse Uberformung und wird zum „Opfer" (sacrificium) für das Vaterland. Allerdings enthält der Totenkult der Moderne, wenn wir Reinhart Koselleck folgen, noch viele Dimensionen des älteren schen pro patria
mori.
republikani-
Die entscheidende W e n d e verortet er zwei-
26
Vismann, „Formeln des Rechts - Befehle des K r i e g e s " , a.a.O., S. 137.
27
Ernst H. Kantorowicz, Die z w e i Körper
Theologie 28
des Mittelalters,
des Königs.
Pierre Legendre, ['Empire de la verite. Introduction
industriels,
Eine Studie zur
politischen
München 1 9 9 0 , S . 4 8 7 f . oux espaces
dogmatiques
Paris 1 9 8 5 , S. 6 5 .
2 9 Vismann, „Formeln des Rechts — Befehle des K r i e g e s " , a.a.O., S. 132.
62
Ulrike Brunotte
fach: g e g e n ü b e r d e m d y n a s t i s c h e n Kult e i n e r s e i t s u n d im G e f ü g e d e r Repräsentation andererseits:
Der dynastische Totenkult bedurfte keines gewaltsamen Todes, um die Dauer des Fürstenstaates z u legitimieren (...) Nicht mehr der Tod (der Herrscher, U.B.) schlechthin verweist auf das neue Leben, wie in der Erbfolge, es ist der gewaltsame Tod, der jetzt als Unterpfand dient, um die politische Handlungseinheit - sei es die Republik, die Nation, die Heimat oder das Volk - z u rechtfertigen. Seit den Freiwilligenverbänden und der allgemeinen Wehrpflicht, beginnend mit der levee en
masse,
wird der N a m e eines jeden Gefallenen erinnerungswürdig (...) Alle haben mit ihrem Leben für die Nation oder das Volk einzustehen. 3 0
Oder, wie
Foucault e s f o r m u l i e r t :
D i e B i o - M a c h t d e s neuen
Gesell-
s c h a f t s k ö r p e r s w i r d K r i e g e nicht mehr im N a m e n e i n e s e i n z e l n e n S o u v e r ä n s führen, s o n d e r n „im N a m e n d e r E x i s t e n z a l l e r " 3 1 . D e r m o d e r n e b ü r g e r l i c h - p a t r i o t i s c h e T o t e n k u l t w a r a n d i e N a t i o n g e b u n d e n und d i e s e w i e d e r u m an ein R e p r ä s e n t a t i o n s m o d e l l , in d e s s e n Z e n t r u m nicht mehr d a s d y n a s t i s c h e H e r r s c h e r p a a r und d a s h e i l i g e Blut d e s K ö n i g s 3 2
als
G a r a n t der Gemeinschaft standen, s o n d e r n der antikisierend veredelte H e l d und s e i n im K r i e g patriotisch v e r g o s s e n e s Blut. G e o r g e M o s s e hat a l s e i n e r d e r e r s t e n H i s t o r i k e r auf d e n k o m p l e x e n Z u s a m m e n h a n g hing e w i e s e n , in d e m d i e E n t w i c k l u n g s p h a s e d e s b ü r g e r l i c h e n
Männlich-
k e i t s s t e r e o t y p s in d e r Z e i t der A u f k l ä r u n g und d e r b ü r g e r l i c h e n
Natio-
nen- und S t a a t e n b i l d u n g mit e i n e r e x p l i z i t p o l i t i s c h e n Ä s t h e t i k s t a n d . D i e m o d e r n e „Ästhetik d e r M a s k u l i n i t ä t " , in d e r d a s m ä n n l i c h e K ö r p e r i d e a l z u g l e i c h d a s p o l i t i s c h e I d e a l der N a t i o n r e p r ä s e n t i e r t e , v e r d a n k e sich, s o M o s s e , in s e i n e r w i r k s a m s t e n G e s t a l t u n g d e m S c h ö n h e i t s d i s k u r s d e s K l a s s i z i s m u s . E u r o p a w e i t s o l l t e d e r e d l e und s e i n e T r i e b e in d e r w a l t h a l t e n d e H e l d die b ü r g e r l i c h e n T u g e n d e n
und d i e
Ge-
Gesundheit
d e s S t a a t e s g l e i c h s a m auf s e i n e r H a u t s p i e g e l n . D e r reine w e i ß e M ä n n e r k ö r p e r trägt s i e in s e i n e n e d l e n P r o p o r t i o n e n z u r S c h a u :
Disziplin,
S e l b s t b e h e r r s c h u n g , Loyalität, M u t , G e h o r s a m und nicht z u l e t z t bereitschaft.
G e r a d e in d e n B e f r e i u n g s k r i e g e n in D e u t s c h l a n d
Todesspielte
3 0 Reinhart Kosellek (Hg.), Der politische Totenkult: Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, Einleitung, S. 11 f. 31 Michel Foucault, „Leben machen und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus", in: diskurs. Frankfurter Studentenmagagzin, Heft 1 (Feb. 1992), S. 5 1 - 5 8 , hier: S. 51. Vgl. Vismann, „Formeln des Rechts - Befehle des Krieges", a.a.O., S. 140ff. 3 2 Vgl. Christina von Braun, Versuch über den Schwindel. Religion, Schrilt, Bild Geschlecht, Zürich/München 2 0 0 4 , S. 2 9 6 .
63
Martyrium, Vaterland und der Kult der toten Krieger
das „Ideal der Männlichkeit als S y m b o l einer individuellen und nationalen Erneuerung" 3 3 eine entscheidende Rolle. Der folgenreiche Unterschied der deutschen Vaterlandsliebe
zur
französischen oder englischen lag nun vor allem in der Tatsache, d a s s hier der „ N a t i o n a l i s m u s ein E r s a t z für die nicht gehabte
Nation"34
war. Nicht zuletzt aufgrund ihrer kompensatorischen Funktion erfuhren s o w o h l die imaginierte N a t i o n im Sinne A n d e r s o n s 3 5 und die visionäre N a t i o n , w i e das für sie einstehende symbolische Männlichkeitsstereotyp ( M o s s e ) , eine phantasmatische Überhöhung. S i e
äußerte
sich bereits um 1 8 0 8 in Fichtes Reden an die deutsche Nation36
durch
die mythische G l e i c h s e t z u n g von himmlischer und irdischer deutscher N a t i o n als gleich ewig und ursprünglich und bei Heinrich von Kleist in seinem Katechismus
der Deutschen
mit der tautologischen Antwort der
Jugend: „Ich liebe mein Vaterland, w e i l ich mein Vaterland l i e b e " 3 7 Die
romantischen
Sänger
der
sogenannten
Befreiungskriege
von
1 8 1 3 werden das imaginäre Vaterland dann mit überschießender Blutrauschmetaphorik lyrisch beschwören. 3 8 Die p r o patria
mori-Tradition
und der Helden- und M ä r t y r e r t o d in der N a c h f o l g e Christi werden hier zugleich als Liebes- und Blutopfertod auf dem Schlachtfeld für ein „himmlisches Vaterland" als „inneres Vaterland" stilisiert. S e i n e äußere Realisierung kann vor allem, s o singen die Lyriker der Erhebung gegen
33
G e o r g e l. M o s s e , Gelallen
für das Vaterland.
Nationales
Heldentum
und na-
menloses Sterben, Stuttgart 1 9 9 3 , S. 3 0 . 34
Klaus Heinrich, „ W i r und der Tod. Ursprungskult oder Bündnisdenken - über die
Mitbestimmung der Toten", in: Lettre international 35
2 ( 2 0 0 6 ) , S . 1 0 0 - 1 0 3 , hier: S. 1 0 0 .
Benedict Andersons Begriff der „imagined communities" bezieht sich darauf,
dass moderne Nationen und der Nationalismus allgemein als „gefühlte" und medial „hergestellte" Gemeinschaften z u verstehen sind. Benedict Anderson, Die Erfindung Nation. 36
Zur
Karriere
eines folgenreichen
Konzepts,
der
Berlin 1 9 9 8 .
Fichte schreibt in der Achten Rede an die deutsche Nation
( 1 8 0 7 / 0 8 ) : „Im Vol-
ke, in der Nation (...) ist Göttliches erschienen und das Ursprüngliche hat dasselbe gewürdigt (...) Volk und Vaterland sind Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit. (...) und wessen Gemüthe Himmel und Erde, Unsichtbares und Sichtbares sich durchdringen, und so erst einen wahren und gediegenen Himmel erschaffen, der kämpft bis auf den letzten Blutstropfen, um den Theuren Besitz ungeschmälert wiederum z u überliefern an die Folgezeit." Zitiert aus: www.Projekt-Gutenberg.de 37
Heinrich von Kleist, „Aus dem ,Katechismus der Deutschen', abgefasst nach dem
Spanischen, zum Gebrauch für Kinder und Alte", in: Adam von Trott (Hg.), Heinrich Kleist: 38 Krieges
Politische
und journalistische
Albert Portmann-Tinguely, Romantik bei deutschen Romantikern
res, Friedrich
Schlegel,
Freiburg/Schweiz
und Krieg.
Eine Untersuchung
und „Freiheitssängern":
Achim von Arnim, Max
1989.
von
Schriften, Berlin 1 9 9 5 , S . 3 0 - 3 7 , hier: S . 31 f.
Adam Müller,
von Schenkendorf
zum Bild
des
Joseph
Gör-
und Theodor
Körner,
64
U l r i k e Brunotte
Napoleon, durch freudig vergossenes, „rotes Blut, warmes Blut, schönes Opferblut" 3 9 gelingen. Das imaginäre Vaterland erfährt eine Sakralisierung, die Helden werden z u „Märtyrern der heiligen deutschen Sache" 4 0 . Christliche und völkische Motive fließen spätestens dann zusammen, wenn es bei Körner heißt, dass die Deutschen „mit unverfälschtem Blut" 4 1 zusammenstehen und „den Bund mit dem Blute besiegeln" 4 2 wollen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfernt sich die Thematik des Blutes mehr und mehr von der Christologie und steigert sich über eine Naturalisierung der M o r a l bis zur „Sorge um die Reinheit des Blutes" 4 3 . Die politisch-soteriologische Überfrachtung des weißen
Männlichkeitsstereotyps führt zum vermehrten
Ausstoß
von Antitypen (Mosse), die als paranoide Spaltprodukte des Kranken, Hässlichen, Unreinen und Amoralischen fungieren. In der Biopolitik des rassistischen Gemeinschaftsmodells, wie es Foucault rekonstruiert hat, ist dann das totale Selbstopfer im Krieg Teil des vitalen Kreislaufs 4 4 des Volkes, die Auslöschung des „Unreinen" Teil seiner vermeintlichen Selbstheilung. Das völkische Kriegskonzept des Staatsrassismus im 2 0 . Jahrhundert basiert folglich nicht mehr auf dem Sterben für etwas - man stirbt „nicht für die Rasse, sondern als Rasse." 4 5
Infantizid
als Initiation:
Die Jugend von
Bevor sich freilich diese vital-letale Biopolitik
Langemarck46 des Rassekrieges
in
Deutschland z u universalisieren vermochte, feierte nach dem Ersten
39
Ebd., M a x von Schenkendorf, S . 2 8 2 .
40
T h e o d o r Körner, „Aufruf", (Gedicht, 1813), in: Portmann-Tinguely, Romantik
Krieg,
und
a.a.O., S . 313.
41
Theodor
Körner,
„Trost"
(1813),
in: Portmann-Tinguely,
Romantik
und
Krieg,
a.a.O., S . 3 1 2 . 42
Ebd.
43
Michel Foucault, Sexualität
und Wahrheit.
Der Wille zum Wissen,
Frankfurt a . M .
1 9 7 / ; S . 178. 44
T o d ist Leben. Bereits Theodor Körner, der in seinem Gedicht Schwertlied
von
1813, das in den Sammlungen den Echtheitszusatz trägt „wenige Stunden vor dem Tode des Verfassers gedichtet", sein Schwert zur "Braut" und die Schlacht gar zur blutigen Hochzeit erotisiert, w o aus dem Tod neues Leben ersteht, spricht von einem durch das patriotische Opfer „aufgeblühten Tod". In: Portmann-Tinguely, Romantik und Krieg,
a.a.O.,
S. 3 4 1 . 45
Vismann, „Formeln des Rechts - Befehle des Krieges", a.a.O., S. 141.
46
Das folgende Kapitel führt Forschungsarbeiten von Ulrike Brunotte weiter, die in
dem Buch Zwischen
Eros und Krieg. Männerbund
Wagenbach, Berlin, erschienen sind.
und Ritual in der Moderne
2 0 0 4 bei
65
M a r t y r i u m , Vaterland und der Kult der toten Krieger
Weltkrieg das M o d e l l des enthusiastischen Selbstopfers im Krieg nochmals einen folgenreichen Triumph. In der Rezeption der Geschehnisse von Langemarck konzentriert sich nach 1918 ein mythisches Gegenargument konservativ-nationalistischer Kreise z u realistischer Kritik am Massensterben im Krieg, insbesondere während der Flandern-Offensiven des ersten Kriegsjahres. Dabei findet eine Sinngebung statt, die sich von der Logik des Kriegsopferkults des 19. Jahrhunderts, in dessen Kontinuität der „Mythos von Langemarck" anfangs steht, unterscheidet. W a r noch in den Befreiungskriegen ein politisches Z i e l sinngebend für den Tod des Soldaten, gibt nun, nach 1918, der Tod selbst dem (verlorenen) Krieg einen Sinn in Form des „inneren S i e g e s " . N u n tritt neben die idealistische Gestalt des juvenilen Freiwilligen, der sich mit Begeisterung in den Kampf stürzt, um den Opfertod zu sterben, ein jugendlicher Männerbund: die Jugend von Langemarck.
Der M y t h o s
und der ihn tragende und einübende Kult, der um diese „Jugend" von 1 9 1 4 bis 1 9 4 5 kreiste, wirft ein Licht auf die Mentalitätsgeschichte weiter Teile der deutschen Gesellschaft. Für Bernd Hüppauf „finden sich auf den verschlungenen Pfaden des Diskurses .Langemarck' sogar einige Antworten auf die immer noch beunruhigende Frage, wie es der (...) Ideologie des Nationalsozialismus gelingen konnte, die politische Unterstützung und eine Z e i t lang gar die H e r z e n großer Teile der gebildeten Bevölkerung und der Jugendbewegung z u gewinnen." 4 7 Langemarck, das war von Anfang an nicht der kleine O r t in Belgien neben Ypern, w o im Winter 1914 bei einem schlecht geplanten Angriff auch einige Reserveregimenter fielen, sondern das war ein zentraler O r t in der kollektiven Phantasie vieler Deutscher. Dass durch die Einfügung eines „c" vor dem „k" verdeutschte Langemarck war gleichsam das Symbol für einen Bedeutungsüberschuss, der sich spontan in verschiedenen bürgerlichen M i l i e u s bildete. In dieser kollektiven Phantasiebildung, die das Geschehen um Langemarck immer mehr ausmalte, wurden die Ereignisse in mythische Geschichte verwandelt. Alles begann mit der ebenso knappen wie vielzitierten Meldung der Obersten Heeresleitung vom 11. November
1914: „Westlich von Langemarck
brachen junge Regimenter unter dem Gesänge Deutschland, Deutschland über alles' gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie." 4 8 W o im deutschen Heeresbericht ausschließlich
47
Bernd Hüppauf, „Schlachtenmythen und die Konstruktion des . N e u e n
Men-
schen'", in: Gerhard H i r s c h f e l d / G e r d Krumeich/Irina Renz (Hg.), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...
Erlebnis
und Wirkung
des Ersten Weltkriegs,
Essen 1 9 9 3 , S . 4 3 - 8 4 ,
hier: S. 4 4 . 48
Reinhard Dithmar (Hg.), Der Langemarck-Mythos
in Dichtung und Unterricht,
Ber-
66
U l r i k e Brunotte
v o n b e g e i s t e r t e m S t u r m und S i e g g e s p r o c h e n w i r d , e r z ä h l e n d i e englischen
und b e l g i s c h e n
H e e r e s b e r i c h t e auch v o n d e m
Entsetzlichen
d i e s e r S c h l a c h t und v o n d e n h i l f l o s e n j u n g e n F r e i w i l l i g e n . D i e s u k z e s s i v e K o n s t r u k t i o n d e s „ M y t h o s von L a n g e m a r c k " und die Entfaltung s e i n e r p e r f o r m a t i v e n D y n a m i k in Ritualen, G e s ä n g e n , Reden, G e d e n k f e i e r n und A u f m ä r s c h e n
b e g i n n t schon mit der m e d i a l e n Ver-
breitung der o b i g e n H e e r e s m e l d u n g : S i e füllte sofort, d a s heißt am 11. o d e r doch s p ä t e s t e n s am
12. N o v e m b e r , die Titelblätter der
meisten
deutschen T a g e s z e i t u n g e n . 4 9 Freilich enthielt bereits die H e e r e s m e l d u n g s e l b s t fast a l l e V e r s a t z s t ü c k e , d i e den s p ä t e r e n M y t h o s a u s z e i c h n e t e n : die J u g e n d und damit U n s c h u l d d e r deutschen A n g r e i f e r , ihr E n t h u s i a s mus w ä h r e n d d e s „ S t u r m s " und nicht z u l e t z t d a s D e u t s c h l a n d l i e d ,
das
s i e d a b e i s a n g e n . E b e n s o w i c h t i g für die Entstehung d e s M y t h o s w a r freilich auch d a s , w a s die H e e r e s m e l d u n g nicht enthielt, w a s man a b e r gleichwohl
wusste:
das
militärische
Fiasko
der
gesamten
Offensive.
Rund z w a n z i g t a u s e n d S o l d a t e n l i e ß e n im S c h l a m m der gefluteten flandrischen E b e n e ihr Leben. D a s e l e n d e M a s s e n s t e r b e n im M a s c h i n e n g e w e h r f e u e r w u r d e e b e n s o w e n i g e r w ä h n t w i e die schlechte A u s b i l d u n g der
Reserveregimenter
und ihre u n z u r e i c h e n d e
Bewaffnung.
Gerade
d i e s e V e r l e u g n u n g e n a b e r s c h i e n e n den Raum b e r e i t z u s t e l l e n , in dem d i e V e r w a n d l u n g e i n e s im G r u n d e „ u n b e d e u t e n d e n militärischen Ereign i s s e s in einen n a t i o n a l e n M y t h o s mit d e r M a c h t , M a s s e n z u m o b i l i s i e ren, u n g e h i n d e r t a b l a u f e n k o n n t e . " 5 0 D i e Leerstelle im
Heeresbericht,
den die G e n e r ä l e durch die S u g g e s t i o n e i n e s S i e g e s a u s z u f ü l l e n versuchten, s c h l o s s sich s p ä t e s t e n s z u m ersten J a h r e s t a g der
Schlacht. 5 1
U n i s o n o w u r d e nun in der P r e s s e vom T o d d e r j u n g e n Regimenter ges p r o c h e n . D i e s e r v e r w a n d e l t e sich in den M e d i e n a l l e r d i n g s in einen T r i u m p h : „ D e r T a g von L a n g e m a r c k w i r d in a l l e n Z e i t e n ein der deutschen J u g e n d b l e i b e n " , p r o p h e z e i t die Deutsche
Ehrentag
Tageszeitung,
und fährt pathetisch fort: „ W o h l f i e l e n an ihm g a n z e G a r b e n von der Blüte u n s e r e r J u g e n d , a b e r den S c h m e r z um die tapferen T o t e n überstrahlt doch der S t o l z darauf, w i e s i e z u kämpfen und z u s t e r b e n vers t a n d e n . " 5 2 H i e r w e r d e n F i g u r e n d e s Primitialopfers
-
also das Opfer
der Ersten und B e s t e n - mit s o l c h e n d e s C h r i s t u s o p f e r s - a l s o d a s O p f e r
lin 1 9 9 2 , S. V. Vgl. auch Karl Unruh, Langemarck.
Legende
und
Wirklichkeit,
Koblenz
1986. 49
Ebd., S . 71.
50
Hüppauf, „Schlachtenmythen", a.a.O., S . 4 8 .
51
Ebd.
52
Deutsche
Tageszeitung
vom
„Schlachtenmythen", a.a.O., S . 4 6 .
11.
November
1915.
Zitiert
nach
Hüppauf,
67
M a r t y r i u m , Vaterland und der Kult der toten Krieger
d e s Unschuldigsten - verknüpft. In dem Moment, in dem die Tatsache ihres m a s s e n w e i s e n S t e r b e n s ins B e w u s s t s e i n z u rücken möglich w u r d e — b e s o n d e r s nach der N i e d e r l a g e von 1 9 1 8 -
begann sich der T o d
der Jugend von Langemarck in einen „inneren" S i e g z u v e r w a n d e l n . Deutschland hatte äußerlich den K r i e g verloren. In dem aus Zeitschriften und Pamphleten -
ich zitiere
„beispiellosen O p f e r g a n g " 5 3
der
„deutschen akademischen J u g e n d " 5 4 , die ihr „blühendes L e b e n " 5 5 im „begeisterten S t ü r m e n " 5 6 hingab, hatte jedoch ein neues, kommendes Deutschland gesiegt. A b e r noch mehr: Der Bund der Jugend von
Lange-
marck hatte sich nicht allein für d i e s e s kommende Deutschland, dessen Vision sie durch das Lied im H e r z e n trugen, geopfert, sondern sie
war
es, sie bezeugte seine E x i s t e n z bereits. Im M y t h o s von Langemarck verschränkten sich Figuren des E r l ö s u n g s o p f e r s mit solchen der Initiation, und die „,Eigentlichkeit' der ehemaligen W a n d e r v ö g e l w u r d e z u r Bereitschaft umgedeutet, den H e l d e n t o d (...) z u s t e r b e n . " 5 7 Denn, so ein oft w i e d e r k e h r e n d e s N a r r a t i v : „Langemarck w a r unserer g a n z e n Z e i t als Feuerprobe gegeben, um uns alle z u M ä n n e r n reifen z u l a s s e n " 5 8 .
Opferordnung D a b e i trafen sich viele unterschiedliche moderne kritische D i s k u r s e der w i l h e l m i n i s c h e n G e s e l l s c h a f t und später der antirepublikanischen O p -
53
Der Begriff des „Opfers" wird im Z u g e der Stilisierung von Langemarck - von
1918 bis 1 9 4 5 — immer zentraler. Die Rede vom „Opfergang" findet sich allerdings vornehmlich in völkischen Schriften und Kultfeiern. Diese Tendenz kulminiert in dem 1 9 3 8 gemeinsam von der Armee, der Hitlerjugend und der Kriegsgräberfürsorge herausgegebenen Buch, aus dem auch das Zitat stammt, in: Günther Kaufmann (Hg.), Das Opfer
Langemarck.
der Jugend an allen Fronten, Stuttgart 1 9 3 8 , Gedicht vom „Reichskriegsop-
ferführer O b e r l i n d o b e r " , S. 3. 54 1929,
O s w a l d Bumke, Langemarck.
Drei
Ansprachen
(Universitätsreden),
München
S. 3. Die Reden von Bumke repräsentieren die Rezeption des „Langemarck-
M y t h o s " beim national gesonnenen Bildungsbürgertum, z u dem auch weite Kreise der Jugendbewegung zählten. Darin werden die „jungen Regimenter" als elitärer Männerbund vorwiegend studentischer oder akademischer Jugend dargestellt. 55
Ebd.
56
Ebd., S. 4 .
57
Thomas
Macho,
Wahrnehmung", Das zivilisierte
Jugend
und Gewalt.
in: Michael W i m m e r / C h r i s t o p h
Tier. Zur
Historischen
Anthropologie
Zur
Entzauberung
Wulf/Bernhard der Gewalt,
einer
modernen
Dieckmann
(Hg.),
Frankfurt a . M .
1996,
S . 2 2 1 - 2 4 4 , hier: S. 2 3 3 . 58 Gelallen
Tagebuchaufzeichnung eines Kriegsfreiwilligen von 1914, zitiert aus: für das Vaterland,
a.a.O., S. 8 2 .
Mosse,
68
U l r i k e Brunotie
position im Begriffsbild des O p f e r s . S a b i n e Behrenbeck spricht gar von einer Versteifung auf eine zirkelschlussartige Opferkausalität ohne ein für und ohne Z i e l . 5 9 Die Opferordnung freilich, die man auf diese W e i s e wachzuhalten bestrebt war, sollte in der völkischen Vorstellung auf das z i v i l e Leben übergreifen. S o konnte Baidur von Schirach
1938
problemlos diese Deutungstradition aufgreifen und sie zum Anspruch für die neue J u g e n d " umwenden: Ein ewiger Bestandteil des Geschwätzes der Besserwisser ist die Legende von der Sinnlosigkeit des Opfers von Langemarck. Der Sinn jener sakralen Handlung, die das Sterben der Blüte der Jugend im Sturm auf die Langemarckhöhen bedeutet, ist nicht dem fassbar, der mit dem Rechenstift den Wert einer militärischen Operation nach Erfolg und Einsatz verbucht und darauf dem Feldherrn, nach Art des Schulmeisters, Zensuren ausstellt. Schaut auf die Millionen der Jugend: Dies ist die Sinngebung von Langemarck! Dass wir uns selbst vergessen, dass wir uns opfern, dass wir treu sind, das ist die Botschaft der Gefallenen an die Lebenden, das ist der Ruf des Jenseits an die Zeit. 6 0 A l s Erbe von Langemarck wollte man keine einsamen, traurigen Gedanken, sondern ein frohes kollektives Erlebnis
- das „Erlebnis der gro-
ß e n deutschen Kameradschaft" 6 1 . Diese schnell als „ M ä n n e r b u n d " 6 2 ideologisierte Kameradschaft, w i e sie an der Front eingeübt werde, sei, so führt der nationalsozialistische „Germanist" Gunther Lutz 1 9 3 6 aus, nichts anderes als die „Sinnerfüllung der Opfergemeinschaft" 6 3 . S e l b s t dort, w o man eine Spur von der Sinnlosigkeit d i e s e s Sterbens z u l i e ß , w u r d e das Scheitern für den neuen Führer-Kult funktionalisiert: Denn „da war ein e i n z i g e r verzweifelter Schrei", s o W i l h e l m Matthieß e n 1 9 3 4 , „der durch die Front von Langemarck ging: Volk, w o ist Dein Führer?"64
59
Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische
then, Riten und Symbole 60
1923
bis 1945,
Baidur von Schirach, „Hitlerjugend -
Kaufmann ( H g ), Langemarck,
My-
Vierow bei Greifswald 1 9 9 6 , Anm. 1. Träger des Erbes von Langemarck", in:
a.a.O., S. 2 1 - 2 4 , hier: S . 2 3 .
61
Ebd., S . 2 4 .
62
Vgl. Brunotte, Zwischen Eros und Krieg,
63
Gunther Lutz, Die Frontgemeinschaft. Das Gemeinschaftserlebnis
a.a.O. in der
Kriegsli-
teratur, Greifswald 1 9 3 6 , S. 5 2 . 64
W i l h e l m Matthießen, in: W i l h e l m Dreysse, Langemarck
Oplergong
1914.
der Deutschen Jugend, M i n d e n / B e r l i n / L e i p z i g 1 9 3 4 , S. 10.
Der
Heldische
M a r t y r i u m , Vaterland und der Kult der toten Krieger
Moderner
69
Totenkult
Bereits in den frühen Langemarck-Feiern, die sich in den zwanziger Jahren in Kreisen der Jugendbewegung und der Studentenschaft bildeten, ging es weniger um Klage und Trauer um die sinnlos Gestorbenen, sondern um Freude, Stolz und Nachfolge. Von Anfang an erinnerte man sich an das Ereignis von Langemarck nicht wie an etwas Vergangenes, vielmehr wurde die „heroische Tat der Jugend" in einer Flut von Gedichten, Sprechchören, Gesängen und Rezitationen immer wieder von Neuem beschworen. 65 Dabei kam der performativen - also direkt im Sprechakt und Ritual bedeutungsschaffenden und -verwandelnden - Dimension des Geschehens eine besondere Rolle zu. Die Toten sollten nicht als Schatten oder Erinnerungszeichen, sondern als auferstandene Kämpfer präsent sein. Das vollzog sich freilich auf unterschiedliche W e i s e . Für die bündische Jugend entwickelte sich „Langemarck", so die Formulierung von Rudolf G. Binding, schnell zum „Sinn- und Urbild jugendlicher Erhebung" 66 . In diesem Sinne hielt der konservativbündische Autor 1 9 2 4 bei der Enthüllung des Ehrendenkmals für die Gefallenen von Langemarck auf dem Heidelstein in der Rhön eine ungewöhnliche Rede. Nach einigen einleitenden Worten ruft Binding zuerst die Ereignisse von Langemarck wieder in Erinnerung, um das historisch Gewesene danach auch theoretisch in eine „ideale" Sphäre und in den Rang eines Mythos zu heben. Viele in diesem Krieg seien gefallen, an die man sich erinnern werde. „Jenes Geschehen aber", so Binding, „gehört schon nicht mehr der Geschichte an, wo es einst dennoch erstarren und begraben sein würde, sondern der unaufhörlich zeugenden, unaufhörlich verjüngenden, unaufhörlich lebendigen Gewalt des Mythos." 6 7 W i e um ein Beispiel von dieser mythischen Präsenz z u geben, inszenierter im darauffolgenden Teil seiner Rede poetisch das, was während des Festaktes geschieht. Der Kern der Dramatisierung liegt darin, dass die Feier der lebenden bündischen Jugend zu Ehren der toten (bündischen) Jugend im Grunde wie eine große gemeinsame Fahrt, wie ein gemeinsames Singen beim nächtlichen Lagerfeuer und schließlich - nach der eigentlichen Enthüllung des Ehrenmals — wie ein
65
Die Literatur z u Langemarck ist zusammengestellt worden von Reinhard Dithmar
(Hg.), Der Langemarck-Mythos 66
in Dichtung und Unterricht,
a.a.O.
Rudolf G . Binding, „Deutsche Jugend vor den Toten des Krieges. Rede gehalten
bei der Enthüllung des Ehrendenkmals für die Gefallenen von Langemarck auf dem Heidelstein in der Rhön" ( 1 9 2 4 ) , in: Adam W e y e r (Hg.), Reden an die deutsche Jugend im zwanzigsten 67
Jahrhundert,
Ebd., S. 6 0 .
W u p p e r t a l / B r e m e n 1 9 6 6 , S . 5 9 - 6 5 , hier: S . 6 0 .
70
U l r i k e Brunotte
gemeinsames Kampfspiel geschildert wird. O b w o h l Binding die Rede von der veritablen „Auferstehung der Toten" von sich weisen würde, suggeriert er nicht allein die Präsenz des Geistes der toten Jugend und das Ergriffensein der lebendigen, sondern die Möglichkeit ihrer körperlichen Realpräsenz, wenn er formuliert: „Dies aber würden die Toten, auferstanden aus ihren Gräbern und sich mischend dem jungen Leben, das sich hier enthüllte, gesehen haben." 6 8 Mündet Bindings Beschwörung von Gemeinschaft im Vitalismus, so steigert der nationalistisch gesonnene H a n s S c h w a r z diese bündisch-konservativen Vorgaben offen politisch. In einer Langemarck-Rede mit dem programmatischen Titel „Die Wiedergeburt des heroischen Menschen" 6 9 , die er am 11. N o vember 1 9 2 8 an der Universität Greifswald 7 0 hielt, nimmt er die Konstruktion von Langemarck als eines geschichtsentrückten, mythischen Geschehens auf, wendet sie jedoch ins Politische und Kultische. Gegen die Weimarer Feier der Republik am 9 . November und die Feier des Waffenstillstands der westlichen Demokratien am 11. November setzt S c h w a r z den „Totenkult" 71 der Jugend von Langemarck, der ebenfalls am 9. November, dem Langemarck-Tag stattfand: „Denn", so seine Beschwörungsformel, „die Toten sind wirklicher als die Lebenden". Im Gegensatz z u der Feier des Gründungstages der Republik und der Feier des Waffenstillstands, bei der „die Toten draußen im Vorhof stehen", feiern „wir", so die Anrede an die in großer Z a h l der N S D A P nahestehende Studentenschaft, „einen anderen Tag, an dem wir noch mit unseren Toten versammelt sind". Das Hauptproblem der Weimarer Republik und der westlichen Zivilisation überhaupt sei die Unfähigkeit, den Toten im Kult einen Platz in der Gesellschaft z u geben. Aber „wo die Toten kein Recht mehr haben, verlieren es auch die Lebenden, und ihre beste Gegenwart sinkt zuletzt z u den Fischen hinab. W o aber die Toten mitten unter uns vom Leben umfangen werden, da beginnt jene Glut z u glühen, die Mythen schafft!" Da die „verjüngende Kraft des Mythos", der die „Katastrophen der Geschichte" vergessen mache, aus dem begeisterten Selbstopfer der Jugend von Langemarck entstanden sei, müsse die Gesellschaft nun diesen heroischen Toten
68
Ebd., S. 6 4 .
69
H a n s S c h w a r z , Die Wiedergeburt des heroischen
Menschen,
Rede am 11. N o -
vember 1 9 2 8 , Berlin 1 9 3 0 . 70
Bernd Hüppauf, dessen Essay ich den H i n w e i s auf die Rede von H a n s S c h w a r z
verdanke, hat darauf hingewiesen, dass G r e i f s w a l d „damals die Universität mit der stärksten Vertretung der ,NS-Studentenschaft' war." Vgl. Hüppauf, „Schlachtenmythen", a.a.O., S. 4 9 . 71
Alle Zitate in diesem Absatz aus: S c h w a r z , Die Wiedergeburt
Menschen,
a.a.O.
des
heroischen
M a r t y r i u m , V a t e r l a n d u n d d e r Kult d e r t o t e n K r i e g e r
71
e i n e n p o l i t i s c h e n Kult schaffen, d e n n „ d i e Z e i t ist heroisch g e w o r d e n . " In s t ä n d i g e r G e g e n ü b e r s t e l l u n g z u m alliierten G e d e n k e n in Form d e r Ehrenmäler d e s „ U n b e k a n n t e n S o l d a t e n " z e i c h n e t S c h w a r z G r u n d z ü g e eines vor griechisch-antiken u n d christlichen H i n t e r g r ü n d e n neu z u e n t w i c k e l n d e n Toten- u n d H e r o e n k u l t e s . W o S c h w a r z im g e n u i n demokratischen und internationalen G e d e n k e n an alle Gefallenen des K r i e g e s nur „ d i e m a g i s c h e Kälte e i n e r Begrifflichkeit" u n d d e n leeren, g l e i c h m a c h e r i s c h e n „ n a m e n l o s e n M e n s c h e n " e r k e n n e n kann, d a sucht er im Kult v o n L a n g e m a r c k d i e sinnliche V e r k ö r p e r u n g eines elitären M ä n n e r b u n d e s . Dieser rückt d a n n freilich d i e J u g e n d v o n L a n g e m a r c k in e i n e steinerne Unsterblichkeit: „ D e r U n b e k a n n t e S o l d a t g l e i c h t hom e r i s c h e n Schatten, d i e Blut aus d e m O p f e r d e r Toten trinken (...). D i e Toten v o n L a n g e m a r c k a b e r sind w i e ein neuer A d e l , d e r uns w i e d e r v e r h e i ß e n ist! Ihre Z ü g e lassen sich m e i ß e l n . " D a s e i g e n t l i c h e Z i e l dieses G e d e n k e n s ist j e d o c h d i e W i e d e r g e b u r t u n d d i e A n r e g u n g zur N a c h f o l g e , d e n n : „ A u c h J u g e n d hat ihre Reife, u n d w e n n sie v o r ihrer Erfüllung s t e r b e n muss, so b l e i b t ihr nur d i e W i e d e r g e b u r t im G e i s t e d e r K o m m e n d e n ! " In d e m M o m e n t , so b e s c h w ö r t S c h w a r z , w o d i e I d e e n v o n 1 7 8 9 v e r b l a s s e n , b e g i n n t D e u t s c h l a n d v o n L a n g e m a r c k aus w i e d e r „mythisch", ja „ a p o k a l y p t i s c h " z u w e r d e n . Vor d e m geschichtsm ä c h t i g e n Volks-Kult, d e r v o n 1 9 1 4 a u s g e h e , versinken freilich a u c h d i e r e v o l u t i o n ä r e n M a s s e n e r h e b u n g e n v o n 1 9 1 9 : „ u n d es herrschte mehr Revolution in d i e s e r Besessenheit als d e r härteste 9 . N o v e m b e r es j e m a l s v e r m ö c h t e : d e n n ein e r r e g t e s Volk v e r ä n d e r t d a s Leben tiefer als e i n e g ä r e n d e M a s s e sich w ü n s c h e n kann." A m E n d e verkehrt sich d e r v o m A u t o r b e s c h w o r e n e Totenkult, d e r als sinnlich e r l e b b a r e s „ Z e i c h e n v o n L a n g e m a r c k " b e g a n n , in e i n e a g g r e s s i v e , d y n a m i s c h e M a c h t . Diese g l e i c h s a m e s c h a t o l o g i s c h e R e v a n c h e m a c h t , d i e sich v o n d e r V e r e h r u n g d e r Toten nährt, w e r d e , so S c h w a r z , nun mit o f f e n feindlichem Blick auf d i e W e i m a r e r Republik „unser Leben in einer W a n d lung z u m A n g r i f f , z u e i n e r B e d r o h u n g ! " m a c h e n . Der Erinnerungskult um L a n g e m a r c k w u r d e e n d g ü l t i g politisiert, als m a n kurz vor d e m Ende d e r W e i m a r e r Republik d e n S o l d a t e n f r i e d h o f in F l a n d e r n auf A n r e g u n g d e r d e u t s c h e n S t u d e n t e n s c h a f t in e i n e v e r i t a b l e T o t e n b u r g u m g e s t a l t e t e . Eine T o t e n g e d e n k s t ä t t e , „ d e r e n trutziger u n d düsterer C h a r a k t e r d e n S c h e i n einer , n o c h s t e h e n d e n Front' e r w e c k e n sollte." 7 2 In ihrer M i m e s i s ans Statuarische, ans Tote,
7 2 C h r i s t o p h Pallaske u n d D e t l e f V ö l l m e c k e , „ . D e u t s c h l a n d muss l e b e n , u n d w e n n w i r s t e r b e n m ü s s e n ! ' G e d e n k e n u n d Totenkult n a c h d e m Ersten W e l t k r i e g : D e r M y t h o s v o n L a n g e m a r c k " , in: Geschichte 1 9 9 6 , S. 2 0 - 2 5 , hier: S. 2 2 .
lernen.
Geschichtsunterricht
heute,
Nr. 4 9 , Januar
72
U l r i k e ßrunotte
verdichtet sich zugleich die Gestalt dieser Langemarck-Denkmäler. Ab 1 9 3 3 versuchte man mit großer erzieherischer Anstrengung und aufwendig gestalteten Langemarck-Feiern, in der flandrischen Gedenkstätte ebenso wie in Berlin, aber auch in Schulen, Universitäten, bei der Hitlerjugend und im Jungvolk, den Opfergeist für die neue Jugend z u verewigen. In dieser Semantik ist ein darüber hinaus gehendes Z i e l primär dem Selbstzweck gewichen. „Der nationale Opferkult wird im N S gesteigert, verinnerlicht und totalisiert." 73 Hierin liegt zugleich die entscheidende Differenz zum patriotischen Opfer für das imaginäre Vaterland der Befreiungskriege. Nach
1 9 3 3 galt es, den neuentdeckten Täter-Geist von Lange-
marck nationalsozialistisch z u fokussieren. Nicht allein im berühmten „Host-Wessel-Lied" marschieren bekanntlich die toten Kameraden mit. Uberall wollte und -
gleichsam das Trauma des verlorenen Krieges
fixierend 7 4 - musste man in Kult, Monument und Rede den „Geist der Front" und die „Totenheere" lebendig erhalten. 75 Auf diese W e i s e wurde versucht, in unaufhörlichem und alle Bereiche der Gesellschaft durchdringendem Kultgeschehen den Gegensatz von Leben und Tod überhaupt performativ-rituell aufzulösen. Die von Autoren wie Ernst Jünger als Sondersphäre eines liminalen Bereichs zwischen Leben und Tod sakralisierte „Todeszone" 7 6 zwischen den Fronten/Gräben sollte als Macht im zivilen Leben festgehalten werden. 7 7 Der Totenkult dient hier einer totalen Mobilmachung, „der sich selbst die Kriegstoten auf Ewig verschreiben müssen" 7 8 . In diesem Sinne konnte Baidur von Schirach verkünden: „Die deutschen Toten sind auferstanden. M i t ihnen gemeinsam marschieren wir unter flatternden Fahnen in die Ewigkeit." 7 9 „Auferstehung" und „Unsterblichkeit", nicht Leiden und Wiedergeburt
73
Heinrich, „ W i r und der T o d " , a.a.O., S. 1 0 0 .
7 4 Vgl. Albrecht Koschorke, „Der Traumatiker als Faschist. Ernst Jüngers Essay ,Über den S c h m e r z ' " , in: Inka Mülder-Bach {Hg.), Modernität tenbruch des Ersten Weltkrieges, 75 Helden, 76
und Trauma.
Beiträge
zum
Zei-
W i e n 2 0 0 0 , S. 2 1 1 - 2 2 7 .
Vgl. zum Totenkult des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s : Behrenbeck, Der Kult um die toten a.a.O. „Todeszone" nannte nicht allein Ernst Jünger das Niemandsland zwischen den
feindlichen Gräben. 77
Vgl. Saul Friedländer zur Grundtendenz der N S - G e s e l l s c h a f t : „Ein H a n g zum
T o d an sich tritt hervor, zum T o d als einer elementaren, dunklen Kraft, die sich der Analyse entzieht: zum Tod als Offenbarung und Kommunion." Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein 78
des Nazismus,
M ü n c h e n / W i e n 1 9 8 4 , S . 37.
Daniel Bürkner, „Der Totenkult des und der . M y t h o s von Langemarck' als post-
traumatische Reaktion", unveröffentlichter Text, Berlin 2 0 0 6 , S. 2. 7 9 von Schirach, „Hitlerjugend", a.a.O., S. 2 4 .
73
M a r t y r i u m , Vaterland und der Kult der toten K r i e g e r
waren die Stichworte: „Es lebe der Tod", lautet die faschistische Parole. W i e M a r k Neocleous schreibt: „(...) there is much more at stake when fascism talks about the dead. In this sense, the idea of resurrection is a far more telling category than rebirth. For resurrection, as M u s s o l i n i comments, has to begin with the dead." 8 0 Im religiösen Opferkult gab es immer die Differenz zwischen Opfer und Opferer. Ein Teil stirbt, damit die Mehrheit lebe. N u n verkehrt sich in den modernen Totengedenkkulten des Nationalsozialismus diese Struktur, und „das Leben wird als G a n z e s unter die Herrschaft des Todes gestellt. Eine wahrhafte Existenz führe allein, wer jederzeit bereit ist, das Leben z u opfern um des Todes willen; denn allein der gewaltsame kriegerische Tod schafft den Ubergang zum mythischen Kollektiv der ewigen Kämpfer." 8 1 An die Stelle des pars pro toto, also des Stellvertreterprinzips des Opfers, das noch im pro patria moπ steckt, treten nun die lebenden Krieger und die nach dem Muster der „Front-Opfergemeinschaft" geformte Lager-Gesellschaft insgesamt in die "heilige" Sphäre des Todes ein. Dort haben sie allerdings keine Ruhe, sondern sind Teil der totalen Mobilmachung für den nächsten Krieg. W i e am Beispiel des „Langemarck-Kultes", der schnell mit dem „Märtyrerkult der Feldherrenhalle" verschmilzt, z u zeigen war, sind es nicht Tod und Zerstörung an sich, die faszinieren, sondern es sind immer erneut und ubiquitär die wiederkehrenden Toten des Krieges und der „ N S - B e w e g u n g " . 8 2 Spätestens an diesem Punkt treten neben die Narration des soteriologischen Opfertodes mit großer Macht die Figuren der Unsterblichkeit und die der Auferstehung der Toten. Es sei daran erinnert: Vorstellungen von Unsterblichkeit und vom Weiterleben nach dem Tod - sei es als Seele, sei es im Elysium oder im Paradies - gehörten von Anfang an z u den unterschiedlichen religiösen und philosophischen Martyriumsszenarien.
Darüber
hinaus
bedient sich auch der Nationalsozialismus, wie jeder moderne Toten- und Märtyrerkult, aus dem Reservoir dieser kulturgeschichtlichen Traditionen. Die jüdisch-christliche Figur der Auferstehung wird allerdings zugunsten eines veritablen, nun germanisch untermauerten W i e dergängerkultes mit dem dazugehörigen Z w a n g zur
Unterwerfung
schnell verlassen. Spätestens an dieser Stelle treten zudem, zugespitzt freilich in der Beschwörung der steinernen untoten Krieger und der stählernen Kämpfer des Verdunkriegers, Ahnen- und Männlichkeitskult
80
M a r k N e o c l e o u s , „Long live death! Fascism, resurrection, immortality", in: Jour-
nal of Political Ideologies (February 2 0 0 5 ) , 10 (1), S . 3 1 - 4 9 , hier: S . 3 2 . 81
Hüppauf, „,Der Tod ist verschlungen in den S i e g ' , a.a.O., S . 8 9 .
82
Darin folge ich M a r k N e o c l e o u s .
74
U l r i k e Brunolte
zusammen. Ihr tertium comparationis
liegt im paradoxen Bild einer mo-
bil gemachten Totenstarre. A l s statuarisches B o l l w e r k steht der M ä n nerbund der toten Krieger gleichermaßen gegen die
Formlosigkeit
des massenhaften Sterbens und V e r w e s e n s auf dem Schlachtfeld und gegen die ebenfalls feminin codierte Formlosigkeit der „gemischten Gesellschaft" der Republik. Es sind diese in Stein gemeißelten
Untoten,
die als alt-neugermanische „Geisterheere des T o d e s " oder „wütende H e e r e " 8 3 der Rache mythisch und kultisch beschworen werden. Die Toten des K r i e g e s sind nicht tot, das soll sicher sein. „ S o stand 1 9 3 2 über den N a m e n der toten H e r o e n in dem „Märtyrerheiligtum" genannten Schrein bei einer Ausstellung z u r Faschistischen
Revolution
in Italien
das W o r t : H I E R ! , w i e es dem Invokationsritual der Kampfverbände entsprach, und ein metallenes K r e u z enthielt die doppeldeutige Inschrift: „per la patria
immortalei"84
Im Territorium der rassistischen Volksgemeinschaft hat sich die Biomacht gänzlich z u r Todesmacht gewandelt - ebenso „umfassend und g r e n z e n l o s w i e diese, verlangt sie alles hinzugeben für den neuen G e meinschafts-Körper". 8 5
Im posttraumatischem Totenkult des
s o z i a l i s m u s gibt es kein p r o patria
National-
mori mehr, sondern nur ein e w i g e s
Kontinuum z w i s c h e n Leben und Tod. D i e s e s steht allerdings unter der Herrschaft der „ T o d e s z o n e " , die nie verlassen werden darf.
83
S o besonders von Otto H ö f l e r s Konstruktionen einer germanischen Toten- und
Tötungsgemeinschaft in den kriegerischen Ahnen, siehe die ausführliche Analyse in: Brunotte, Zwischen
Eros und Krieg,
a.a.O., besonders S .
130-136.
84
In Übersetzung, N e o c l e o u s , „Long live death!", a.a.O., S. 4 5 .
85
Vismann, „Formeln des Rechts - Befehle des Krieges", a.a.O., S. 141.
IRIS D Ä R M A N N
DIE A U F E R W E C K U N G Heidegger
DES E I G E N E N
TODES
und Freud
Ich kann in jedem Augenblick sterben. Diese ständige und doch als solche uneinholbare Möglichkeit verdichtet sich in dem überstürzten Versuch, seinem eigenen Tod in der Angst zuvorzukommen, zur tödlichen Gewissheit der Unmöglichkeit der eigenen Existenz. Der eigene Tod ist unvorstellbar. Niemand glaubt wirklich an ihn. Denn im Unbewussten, das sich durch eine eigentümliche Zeitlosigkeit und die Abwesenheit aller Verneinungen und Gegensätze auszeichnet, ist ein jeder von uns - wider besseres W i s s e n , „dass der Tod der notwendige Ausgang allen Lebens sei" -
von seiner Unsterblichkeit
überzeugt. Es ist eben diese Unmöglichkeit, dem eigenen Tod ins Gesicht z u sehen, aus der Freud das Dispositiv des Zuschauens, wenn nicht der Repräsentation selbst hervorgehen lässt: „Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, und so oft wir den Versuch dazu machen, sind wir als Zuschauer weiter dabei." 1 M a n kann aus dem als solchen unvorstellbaren Tod, und dem eigenen zumal, nur eine S z e n e machen, wenn es darum geht, ihn vor sich z u stellen. Aus diesem Grund auch gibt es im Theater, in angemessener Entfernung zur Bühne und in der ästhetisch versicherten Identifizierung mit dem Helden, z w a r eine Art des Mitsterbens, doch ohne wirklich mitzusterben.
Ein
vorzeitiges
Sterben bei lebendigem Leibe erleiden jedoch all jene, die einen geliebten Anderen verlieren und wahrhaft mitsterben, wenn dieser stirbt. Daher wird die Gewissheit des eigenen Todes für Freud allein beim Sterben Anderer und in der Erfahrung der Trauer gewiss. 2 Auch für Heidegger kann sich die Todesgewissheit nicht im Ausgang von einer Darstellung des Todes oder eines Toten einstellen, und sei sie noch so gewalttätig und grausam. Noch weniger aber erschließt der unmittelbar erlebte Tod eines anderen Menschen dem Dasein die ganze Tragweite seiner eigenen Endlichkeit, die sich nur dann einzustellen vermag, wenn sich das Dasein entschlossen zur Beute einer unerträglichen Angst gemacht hat und in jene unheimliche Möglichkeit
1 Sigmund Freud, „Zeitgemäßes über Krieg und Tod" (1915), in: Gesammelte
Wer-
ke, Bd. X, herausgegeben von Anna Freud u.a., London/Frankfurt a.M. 1 9 4 8 , S. 3 2 4 3 5 5 , hier: S. 3 4 0 . 2 Ebd., S. 3 4 3 f .
76
Iris Därmann
des eigenen Nichtseins vorgelaufen ist, in der es sich radikal zum solus ipse vereinzelt 3 und damit alle von Heidegger zuvor als wesentlich ausgewiesenen Bezüge z u Anderen hinter sich gelassen hat. Schon oft hat diese problematische Verdrängung der Trauer, um nicht z u sagen: diese uneigentliche Flucht vor dem Sterben Anderer in Heideggers existenzialer Analyse des Todes Befremden und Kritik auf sich gezogen: Ist für Levinas der Tod des Anderen und nicht der jemeinige „der erste T o d " 4 , so versucht Derrida den Denker des Eigenen und Eigentlichen mit der Erfahrung einer ursprünglichen Trauer aus der Reserve locken, die freilich auch Freud niemals ernsthaft in Betracht gezogen habe. 5 Diese Kritiken, denen man im übrigen noch zumindest diejenige von Dolf Sternberger zur Seite stellen müsste, sollen hier nicht in Abrede gestellt, sondern nur in einem leicht schrägen W i n k e l um die Frage der Darstellung und Darstellbarkeit verschoben werden. Sowenig für Freud die Darstellung des Todes mit der Eindringlichkeit der Erfahrung des Sterbens eines geliebten Anderen sich messen lassen oder an das eigentliche Sein zum Tode im Sinne Heideggers heranreichen kann, so sehr werden die europäischen Künste und performativen Darstellungen, die Gemälde und technischen Bilder von Verstümmelungen, Verwüstungen, blutigen Opfern, äußersten Grausamkeiten, Mord-, Sterbe-, Schlacht- und Begräbnisszenen aller Art, von einem Memento mori und der Darstellung des Todes als Toter, Totenkopf, Skelett, Sensenmann, Leiche usf. heimgesucht. Ohne Frage hat das Abendland in der Aneignung fremder Bilder und im Gabentausch mit anderen Zivilisationen sehr unterschiedliche Kulturen und Bildkulturen des Todes hervorgebracht, die im 2 0 . Jahrhundert bis hin zur äußersten Vernichtung der Möglichkeit seiner Darstellung und der des Sterbens reichen. Daher verbieten sich Aussagen
allgemeinen
Charakters über den Tod und lassen an dieser Stelle nur Fragen nach bestimmten Todes- und Darstellungsarten zu: In welchem Bezug steht der eigene und fremde Tod im H o r i z o n t jener spezifischen Darstellungen, den Freud und Heidegger, diese beiden Denker des Todes (der Angst und der Unheimlichkeit), trotz aller Bedenken selbst aufreißen und auch wieder verschließen? Und wie ragt wiederum dieser B e z u g in die ihrerseits so offensichtlich von einem bestimmten kulturellen Ideal belasteten Darstellungen hinein, die uns Freud und Heidegger mit dem
3
Martin Heidegger, Sein und Zeit ( 1 9 2 7 ) , 15. Auflage, Tübingen 1 9 8 4 , S. 1 8 8 .
4
Emmanuel Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, übersetzt von Astrid Nettling und
Ulrike W a s e l , W i e n 1 9 9 6 , S . 5 3 . 5 Jacques Derrida, Aporien.
Sterben
- Auf die „Grenzen
der Wahrheit"
sein, übersetzt von Michael W e t z e l , München 1 9 9 8 , S. 101, S. 122.
gefasst
77
Die Auferweckung des eigenen T o d e s
von ihnen jeweils verstandenen bzw. auferlegten Tod - dem des Anderen und dem eigenen Tod - vor Augen stellen? Dabei handelt es sich um Tode, die in der beunruhigenden, ja fieberhaften Erwartung ihrer ständigen Möglichkeit nicht zufällig ohne „die passive Synthesis des Alterns" 6 und ohne eine hora mortis auskommen müssen.
Maskenphoto In seiner ein Jahr vor Erscheinen von Sein und Zeit
gehaltenen Vor-
lesung über Logik7, aus der später das Buch Kant und das Problem Metaphysik
der
hervorgehen wird, widmet sich Heidegger der Analyse
des Kantischen Schematismus, um in diesem Zusammenhang ganz unvermutet auf das Bild, genauer: auf die Photographie einer nicht näher identifizierten Totenmaske z u sprechen z u kommen. Nancy nimmt an, dass Heidegger den zur gleichen Zeit erschienenen Bildband
Das
ewige Antlitz von Ernst Benkhard 8 gekannt haben muss, der in den folgenden Jahren zahlreiche Auflagen erfahren und sich großer Popularität erfreuen sollte. Der Band enthielt insgesamt 123 Photographien von Totenmasken berühmter Dichter, Denker, Staatsmänner, Komponisten usf. (aber auch die „Unbekannte aus der Seine") aus dem SchillerNationalmuseum in Marbach. Trifft N a n c y s Vermutung zu, dass Heidegger sein maßgebliches Beispiel in eben dieser Veröffentlichung gefunden haben muss, dann fragt es sich, aus welchem Grund er die von ihm in Rede gestellte Photographie „z.B. einer Totenmaske", obwohl es ihm ohne weiteres möglich gewesen wäre, nicht der Anonymität des M a n entrissen hat, um ihr ein bestimmtes Gesicht und einen Namen - Beethoven, Newton, Pascal - z u geben. 9 Heidegger orientiert die Frage des Bildes (was ist ein Bild?) an seinem blick- und anblickgebenden M o d u s (wie etwas in den Blick kommt). Als Bild kann dann gelten: der „Anblick eines bestimmten Seienden, sofern es als Vorhandenes offenbar ist. Es bietet den Anblick". Aus dieser
6
levinas, Gott, der Tod und die Zeit, a.a.O., S . 124.
7
M a r t i n Heidegger, „Logik. Die Frage nach der W a h r h e i t " (Marburger Winter-
semester 1 9 2 5 / 2 6 ) , in: Gesamtausgabe, Bd. 21, herausgegeben von W a l t e r Biemel, Frankfurt a . M . 1 9 7 6 . 8
Ernst Benkhard,
Das
ewige
Antlitz.
Eine
Sammlung von
Totenmasken,
Berlin
1927. 9 Jean-Luc Nancy, „Die Einbildungskraft hinter der M a s k e " , in: ders., Am Grund Bilder,
der
übersetzt von Emmanuel Alioa, Z ü r i c h / B e r l i n 2 0 0 6 , S . 1 3 5 - 1 6 3 , hier: S . 151.
Z u m folgenden siehe die instruktive Lektüre von Nancy. Vgl. auch Iris Därmann, Tod und Bild. Eine phänomenologische
Mediengeschichte,
München 1 9 9 5 , S. 2 2 6 f f .
78
Iris Därmann
Bestimmung lassen sich wiederum drei unterschiedliche Bildbedeutungen ableiten: das Abbild, das einen bereits vorhandenden Anblick abbildet, das Nachbild, das einen nicht mehr vorhandenen Anblick bietet, und das Vorbild, das den Anblick „eines erst herzustellen Seienden" eröffnet. 10 In einem radikal erweiterten Sinne kann der Bildbegriff aber auch auf Seiendes oder Nichtseiendes (I) Anwendung finden, das sich dem Sehenden außerhalb des Bildes als Anblick in der W i r k lichkeit darbietet. W i e der späte Merleau-Ponty, so ist offenbar auch Heidegger bemüht, die konventionelle Ordnung des Sichtbaren und des Sehenden aus der Fassung z u bringen, wenn er geltend macht, dass der Anblick, kraft dessen ein Seiendes anschaulich wird, uns seinerseits mit einem Blick entgegenkommt. Das Sichtbare ist nicht nur sichtbar, sondern auch sehend, wie umgekehrt der Sehende selbst dem Sichtbaren angehört. In diesem Sinne gibt sich uns das Aussehen bzw. der Anblick einer Landschaft z u sehen, „gleich als blicke sie uns an." Jedes Abbild aber, wie beispielsweise eine Photographie, kann demgegenüber „nur eine Abschreibung dessen [sein], was sich unmittelbar als ,Bild' z e i g t " " und uns gleichsam ansieht. Ist nun dieser Bilderblick des anschaulich Seienden seinerseits
photographierbar
oder aber eröffnet das Bild im engeren Sinne wiederum selbst einen je spezifischen Anblick, der uns unmittelbar betrifft und ansieht? Heidegger wirft Fragen dieser Art nicht nur nicht auf, sondern lässt auch den Bilderblick, der den Anblick der Passivität des bloß Sichtbaren entreißt und die asymmetrische Distanz zwischen Sehendem und Sichtbarem verkehrt, im weiteren nicht mehr zum Z u g e kommen. Das wiegt umso schwerer oder besser: umso symptomatischer für den Denker des Seins zum Tode, als es sich bei dem fraglichen Bild um eine Totenmaske handelt, die uns „das ,Bild' des Toten gibt, ihn zeigt, wie er aussieht bzw. aussah" 1 2 . Diese Oszillation zwischen dem gegenwärtigen und vergangenen Aussehen eines Toten (und Lebenden), das die Totenmaske z u sehen gibt — und, so ist man versucht hinzuzufügen, aus deren leeren und doch zugleich sehenden Augenhöhlen uns der Tote anblickt und angeht — ist schon deshalb bemerkenswert, weil es sich bei der M a s k e um ein „Abbild" handeln soll, das der anfänglichen Definition Heideggers zufolge den „Anblick eines Vorhandenen" 1 3 und
10 Martin Heidegger, „Kant und das Problem der Metaphysik", in:
Gesamtausga-
be, Bd. 3, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a . M . S. 9 2 . 11 Ebd., S . 9 3 . 12 Ebd., S . 9 4 . 13 Ebd., S . 9 2 .
1991,
79
Die Auferweckung des eigenen T o d e s
damit eines gegenwärtig Seienden abbildet. Hier rächt sich durchaus, dass Heidegger den historischen Kontext und das besondere „Darstellungsphänomen" der Totenmaske, die sich dem unmittelbaren Kontakt mit dem Gesicht des Toten und seines Abdrucks verdankt, ausdrücklich nicht in Betracht ziehen will. Dagegen erinnert etwa Hans Rheinfelder in seiner semantischen Untersuchung des W o r t e s persona
daran, dass
„im Aberglauben des römischen Volkes die Vorstellung [herrschte], der Tote lebe als M a s k e weiter." 1 4 Auf gewisse W e i s e aber sitzt Heidegger eben dieser Vorstellung vom Weiterleben nach dem Tode in der Larve des Toten auf, wenn er mit der Qualifizierung der Totenmaske als Abbild nicht auf die Vergegenwärtigungsfunktion des Nachbildes, sondern auf die bildliche Gewärtigungsdimension eines Anblicks zielt, der ein Vorhandenes, nicht aber etwas Nicht-Seiendes zu sehen gibt. Z w e i f e l l o s ist Heidegger weder hier noch anderswo an der verstörenden Kraft einer Darstellungsweise interessiert, die dem starren Gesichtsausdruck eines Toten die Z ü g e des quasi-Lebendigen verleiht und auf dem Grunde seiner blinden Augen einen abwesend-anwesenden Blick hervorschießen lässt, der auf den Betrachter „zu-hält", um ihn da selbst anzublicken und womöglich in seiner eigenen Sterblichkeit z u affizieren. Damit aber wäre der Zugang zur eigenen Sterblichkeit, die Möglichkeit des Vorlaufens in den eigenen Tod, nicht frei von der Erfahrung eines toten Antlitzes, das, ohne auf einen W i n k oder Ruf z u antworten, uns mit seinem entgegenkommenden leeren Blick bis ins M a r k trifft und betrifft. Doch es bleibt die vielleicht unbeantwortbare Frage, aus welchem Grund Heidegger ausgerechnet ein solches Beispiel heranzieht, w o ein harmloseres genügt hätte,15 um die Reichweite jener schematisierenden Kraft des Bildes z u ermessen, die in dieser Passage ausschließlich in Frage stehen soll. Unter dem Regime oder „Joch der
ιδέα"'6
häuft Heidegger Konjekturen des Z e i g e n s aufeinander. Denn so wie die Totenmaske nicht nur das Abbild eines Toten zeigt, sondern auch „wie überhaupt so etwas wie das Gesicht eines toten Menschen aussieht", das im übrigen auch „ein einzelner Toter zeigen kann", so zeigt, Heidegger zufolge, diese je bestimmte Totenmaske zugleich, wie eine Totenmaske überhaupt aussieht. Die Photographie der Totenmaske
14 H a n s Rheinfelder, Das W o r t „persona". derer Berücksichtigung
des französischen
Geschichte seiner Bedeutung mit beson-
und italienischen
Mittelalters,
H a l l e (Saale)
1 9 2 8 , S . 8f. 15 Nancy, „Die Einbildungskraft hinter der M a s k e " , a.a.O., S. 150. 16 Heidegger, „Kant", a.a.O., S. 9 4 . Vgl. auch ders., Piatons heit. Mit einem Brief über den Humanismus,
Lehre von der
Wahr-
3. Auflage, B e r n / M ü n c h e n 1 9 7 5 , S . 41.
80
Iris D ä r m a n n
w i e d e r u m als N a c h b i l d eines A b b i l d e s (des Toten), bietet nicht nur d e n A n b l i c k dieser je b e s o n d e r e n T o t e n m a s k e u n d dieses s i n g u l ä r e n G e s i c h t s eines Toten. Sie z e i g t d a r ü b e r hinaus, w i e e i n e P h o t o g r a p h i e ü b e r h a u p t , w i e e i n e T o t e n m a s k e u n d w i e ein Toter ü b e r h a u p t ausseh e n 1 7 S o lässt sich in j e d e m je b e s o n d e r e n Dies-Da, im A n b l i c k , A b b i l d u n d N a c h b i l d , stets d e r U b e r s c h u s s eines V o r b i l d e s v e r z e i c h n e n , d a s d e n A n b l i c k eines erst n o c h h e r z u s t e l l e n d e n S e i e n d e n — n ä m l i c h d e n A n b l i c k eines A n b l i c k e s ü b e r h a u p t — bietet. In d i e s e m Sinne ist ein Bild immer schema-, v o r a l l e m a b e r z e i t b i l d e n d . Als v o r - b l i c k e n d e o d e r vors t e l l e n d e Regel b i e t e t d a s S c h e m a b i l d e i n e A n s c h a u u n g , d i e j e d e r Ans c h a u u n g z u v o r k o m m t , o d e r besser n o c h : d i e in j e d e r A n s c h a u u n g d i e A n s c h a u u n g sich selbst g e g e n ü b e r v o r h e r g e h e n u n d s o l c h e r m a ß e n in d i e A p p r e h e n s i o n v o r l a u f e n lässt u n d d a m i t d e r „ Z e i t i n b e g r i f f " d e r Endlichkeit eines „ e n d l i c h e n W e s e n s " ist. 18 A b e r H e i d e g g e r ist im Kanf-Buch - u n d d a r a u f w e i s t N a n c y z u Recht hin - v o n e i n e r b e f r e m d l i c h e n O b s e s s i o n d e s „ Z e i g e n s " u n d „ S i c h z e i g e n s " g e t r i e b e n 1 9 , d i e z w e i f e l l o s v o n seiner M i s s a c h t u n g d e s „besonderen Darstellungsphänomens" der M a s k e und des Todescharakters d e s A n b l i c k s eines Toten herrührt. Sie schirmt H e i d e g g e r selbst vor d e m unmittelbar v e r s t ö r e n d e n Blick eines s i n g u l ä r e n toten A n d e r e n u n d d e m Z u g a n g z u einer a n d e r e n (als d e r e i g e n e n ) Sterblichkeit a b , i n d e m sie auf d i e vor-gestellte A l l g e m e i n h e i t eines A n b l i c k s ü b e r h a u p t a b z i e l t . K ö n n t e es ein s c h l a g e n d e r e s S c h e m a b i l d d e r αλήθεια g e b e n als d i e T o t e n m a s k e , d i e d e n A n b l i c k d e s Toten im d o p p e l t e n Sinne seines A u s s e h e n s u n d (uns) A n s e h e n s z u g l e i c h ent- u n d verbirgt, z e i g t u n d v e r d e c k t , u n d d i e a l s o a u c h - f o l g t u n d forciert m a n H e i d e g g e r s Bes t i m m u n g e n d e s S c h e m a - B i l d e s a n dieser Stelle in chiastischer W e i s e - ihr e i g e n e s Z e i g e n v e r b i r g t u n d ihr e i g e n e V e r d e c k u n g e n t b i r g t ?
Gesichtsmaskierung In Hemmung, Symptom und Angst ist Freud vor a l l e m d e m Rätsel d e r Angst, d e r W u c h t ihres ersten Auftretens, ihrer W i e d e r h o l u n g , W e i t e r u n g u n d B e s c h w i c h t i g u n g auf d e r Spur. K i n d e r h a b e n A n g s t : in d e r Dunkelheit, vor f r e m d e n Personen u n d vor d e m Alleinsein. Freud ist sich sicher, d i e s e d r e i S z e n e n d e r A n g s t auf e i n e e i n z i g e z u r ü c k f ü h r e n z u k ö n n e n , in d e r d a s s e h n l i c h e Vermissen u n d d i e Trennung v o n d e r 1 7 H e i d e g g e r , „ K a n t " , a . a . O . , S. 9 4 . 1 8 E b d . , S. 1 0 7 f . 1 9 N a n c y , „ D i e E i n b i l d u n g s k r a f t h i n t e r d e r M a s k e " , a . a . O . , S. 1 5 8 f .
Die A u f e r w e c k u n g des e i g e n e n Todes
81
g e l i e b t e n Person auf d e m S p i e l steht. D i e A n g s t erscheint d a n n als Reaktion auf d i e A b w e s e n h e i t d e s g e l i e b t e n A n d e r e n , w e n n d i e halluzinatorische Besetzung des Erinnerungsbildes erfolglos g e b l i e b e n u n d d i e s c h m e r z h a f t e Sehnsucht, b e i n a h e w i e aus Ratlosigkeit, in d e n b e d r o h l i c h e n A f f e k t u m g e s c h l a g e n ist. 20 A b e r Freud will es scheinen, als o b d i e A n g s t nicht d i e erste v e r z w e i f e l t e A n t w o r t auf d i e A b w e senheit d e s g e l i e b t e n A n d e r e n darstellte. H a t sie d o c h o h n e Frage e i n e Affinität zur E r w a r t u n g : „ A n g s t vor e t w a s " , freilich o h n e w i s s e n u n d s a g e n z u k ö n n e n , w a s d i e s e s u n g e h e u r e Etwas ist. Der „ C h a r a k ter v o n U n b e s t i m m t h e i t u n d O b j e k t l o s i g k e i t " , d e r ihr e i g e n t ü m l i c h ist, u n t e r s c h e i d e t d i e A n g s t v o n d e r Furcht, d i e g e n a u s a g e n kann, w o vor sie sich fürchtet. 2 1 Z w i s c h e n d e m Vermissen d e r g e l i e b t e n Person u n d d e m A n g s t a f f e k t muss sich e i n e traumatisch z u n e n n e n d e Situation g e s c h o b e n h a b e n , in d e r d a s Kind e i n e m u n u m g ä n g l i c h e n Bedürfnis a u s g e l i e f e r t w a r , d a s d i e s e Person b e f r i e d i g e n sollte, j e d o c h o b ihrer A b w e s e n h e i t nicht b e f r i e d i g e n konnte. W a s a b e r heißt hier A b w e s e n heit? Der A n g s t g e h t e i n e U n U n t e r s c h e i d b a r k e i t v o r a u s : Du bist nicht d a u n d a l s o bist d u bereits g e s t o r b e n . J e d e A b w e s e n h e i t b e d e u t e t e i n e n Tod des geliebten Anderen. Denn der Säugling „kann das zeitweilige Vermissen u n d d e n d a u e r n d e n Verlust n o c h nicht u n t e r s c h e i d e n ; w e n n er d i e M u t t e r d a s e i n e M a l nicht z u G e s i c h t b e k o m m t , b e n i m m t er sich so, als o b er sie nie w i e d e r s e h e n sollte." D i e U r a b w e s e n h e i t d e r A n d e r e n rührt a n d i e E r f a h r u n g ihres v e r s c h w u n d e n e n A n b l i c k s , u n d es ist d i e s e r Verlust d e s mütterlichen G e s i c h t s , d a s heißt, d e r mit d e m „ O b jektverlust" g l e i c h g e s e t z t e „ W a h r n e h m u n g s v e r l u s t " , d e n Freud zur „ersten A n g s t b e d i n g u n g " erklärt, „ d i e d a s Ich selbst einführt". 2 2 D i e A n g s t f o l g t erst, w e n n e b e n d i e s e G l e i c h u n g g e m a c h t u n d d i e s e B e d i n g u n g g e s c h a f f e n w o r d e n ist. Sie ist stets A n t w o r t auf e i n e bereits e r l e b t e t r a u m a t i s c h e Situation äußerster Hilflosigkeit, d i e aus A n g s t vor ihrer W i e d e r h o l u n g in d e r A n g s t als e r k a n n t e , erinnerte, e r w a r t e t e „ G e f a h rensituation" w i e d e r h o l t u n d v o r w e g g e n o m m e n w i r d . 2 3 „ D a h e r " , u n d hier springt Freud unvermittelt in d i e I c h r e d e um, „ a n t i z i p i e r e ich d i e s e s T r a u m a , w i l l mich b e n e h m e n , als o b es s c h o n d a w ä r e , s o l a n g e n o c h Z e i t ist, es a b z u w e n d e n . Die A n g s t ist a l s o einerseits E r w a r t u n g d e s
20
S i g m u n d F r e u d , „ H e m m u n g , S y m p t o m u n d A n g s t " ( 1 9 2 6 ) , in: Gesammelte
Wer-
ke, B d . XIV, S. 1 1 3 - 2 0 5 , h i e r : S. 167. 21
E b d . , S. 1 9 7 f .
22
E b d . , S. 2 0 3 .
23
„ D i e A f f e k t z u s l ä n d e sind d e m S e e l e n l e b e n als N i e d e r s c h l ä g e uralter traumati-
s c h e r E r l e b n i s s e e i n v e r l e i b t u n d w e r d e n in ä h n l i c h e n S i t u a t i o n e n w i e E r i n n e r u n g s s y m b o le w a c h g e r u f e n . " E b d . , S. 1 2 0 .
82
Iris Därmann
Traumas, andererseits eine gemilderte Wiederholung desselben." 2 4 In der Angst läuft das Kind in eine Gefahrensituation vor, der es bereits ausgesetzt war und auf die es sich selbst zurückbringt, um sie z u beherrschen: „Das Ich, welches das Trauma passiv erlebt hat, wiederholt nun aktiv eine abgeschwächte Reproduktion desselben, in der Hoffnung sie selbsttätig leiten z u können." Den entschlossenen Mut zur Angst, den Heidegger dem Dasein abfordert, 25 hat ihm der Säugling, wie es scheint, längst voraus, wenn er in der Angst „von der Passivität zur Aktivität überzugehen" sucht, um „seine Lebenseindrücke psychisch z u bewältigen" 2 6 . S o w o h l Heidegger als auch Freud überschätzen freilich die Beherrschbarkeit der Angst und unterschlagen die ihr eigene Ambiguität. Denn die Beherrschung des passiv erlittenen Traumas (des Todes der geliebten Person bei Freud, des Vorlaufens in den eigenen Tod bei Heidegger) in und durch die Angst vollzieht sich in der Affektivität einer ebenfalls passiven Erfahrung, die ihrerseits unbeherrschbar ist, ja uferlos werden kann, sobald die Angst den Gescheuchten ganz z u ihrer Geisel gemacht hat. Die Angst holt das erlittene Trauma immer wieder in die Gegenwart zurück, um es, aus naher Zukunft kommend, je von neuem z u erwarten. Ein Entrinnen verspricht sich Freud von wiederholten „tröstlichen Erfahrungen" des Wiederkehrens der Mutter, die der Unterscheidung und Unterscheidungsfähigkeit zwischen zeitweiliger Abwesenheit und Tod, zwischen Wahrnehmungs- und Objektverlust Vorschub leisten sollen. Bis der Säugling am eigenen Leib gelernt hat, dass auf das „Verschwinden der Mutter ihr Wiedererscheinen z u folgen pflegt, (...) reift (...) diese für ihn so wichtige Erkenntnis, indem sie das bekannte Spiel mit ihm aufführt, sich vor ihm das Gesicht z u verdecken und z u seiner Freude wieder z u enthüllen." 27 Hier hat das Spiel der άλήθεία, der gleichzeitigen Ver- und Entbergung, das das Fort-da-Spiel mit der M a s k e des Gesichts ist, zweifellos apotropäischen Charakter. Der oszillierende Rhythmus von Verschwinden und Wiederkehren, von Enthüllen und Zeigen, von sichtlosem Anblick und blickendem Gesicht, Visier und Vision, der der Pulsschlag der M a s k e selbst ist, soll den Säugling vor der unerträglichen Wahrheit der Gewalt des Todes des geliebten Anderen schützen. W i e Heidegger,
24
Ebd., S. 1 9 9 .
25
„Das M a n lässt die Angst vor dem Tode nicht aufkommen"; „Das Gewissenha-
benwollen wird Bereitschaft zur Angst"; „Die Unbestimmtheit der Angst aber trachtet diese Entschlossenheit sich zuzumuten. Diese ursprüngliche Angst aber trachtet die Entschlossenheit sich zuzumuten.", Sein und Zeil,
Tübingen 2 0 0 6 , S . 2 5 4 , S . 2 9 6 , S . 3 0 8 .
26
Freud, „Hemmung, Symptom und Angst", a.a.O., S . 2 0 0 .
27
Ebd., S. 2 0 3 .
83
Die Auferweckung des eigenen T o d e s
wenn auch auf andere W e i s e , so versiegelt auch Freud das besondere Darstellungsphänomen der Maske. Denn er glaubt allzusehr an die schadenabwendende und heilbringende Macht des apotröpaios.
Die
W i r k u n g der apotropäischen M a s k e bleibt jedoch stets unkalkulierbar, da sie den Schrecken, den sie bannen will, zugleich auch herbeirufen und exponieren muss. Das macht ihre unvermeidbare Ambiguität aus. 2 8 Und nichts garantiert, kein noch so sehr ihren Tod bannendes Spiel, dass die Mutter, wenn sie verschwindet, jemals wiederkommt.
Die
Angst bleibt haften. In Schüben erwartet sie den in der traumatischen Situation bereits eingetretenen und nicht den erst noch bevorstehenden, kommenden und stets möglichen Tod. „Der Tod des Anderen ist der erste" 2 9 , der immer schon eingetroffene und wiederkehrende Tod. In die Angst, die in den immer schon eingetroffenen Tod der geliebten Person vorläuft, mischt sich daher eine andere schmerzliche „Gefühlsreaktion auf den Objektverlust" 3 0 : die unbeendbare und „ursprüngliche Trauer" um den verlorenen Anderen, die dessen Tod nicht abwartet 31 , sondern seiner als eines bereits eingetretenen Ereignisses gewiss ist. Unter allen Darstellungsarten des Todes zeigt die M a s k e vielleicht am deutlichsten, dass sich der Tod nicht zeigen, sondern nur im Verbergen und Verschwinden als schlechthin Undarstellbares darstellen lässt. Die Unbestimmtheit und Objektlosigkeit, die der Angst, Freud und Heidegger zufolge, im Unterschied zur Furcht anhaftet 32 , müssen dann dieser Unmöglichkeit der Enthüllung und Darstellung des Todes (des fremden und des eigenen), der Unmöglichkeit, ihn „als solchen" zur Erscheinung z u bringen, das heißt seiner radikalen Nichtphänomenalität, entsprechen, aus deren maßloser Möglichkeit Heidegger nicht von ungefähr die differentia
specifica zum Tier und das ganz eigene Vermö-
gen des Daseins machen will. 3 3 M a n kann, was ständig geschieht, den 28
Z u r Ambiguität der M a s k e n siehe Claude Levi-Strauss in: „Masques. A l'occa-
sion de Γ exposition organisee au M u s e e Guimet ä Paris, Jean Poillon interroge Claude Levi-Strauss sur la nature et la signification du masque", in: L'CEil 6 2 ( 1 9 6 0 ) , S . 2 9 - 3 6 , hier: S . 3 0 . 29
Levinas, Gott
30
Freud, „Hemmung, Symptom und Angst", a.a.O., S . 2 0 5 .
der Tod und die Zeit, a.a.O., S. 5 3 .
31
Derrida, Aporien.
Sterben -
Aul
die „Grenzen
der
Wahrheit"
gefasst
sein,
a.a.O., S. 1 0 3 . 32
Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O. § 3 0 , § 4 0 ; § 6 8 b.
33
Dieser ontologische Enthüllungsfuror, der Heideggers damaligem Verständnis
der άλήθεία als einer Entdecktheit ohne gleichzeitiger Verdecktheit entspricht (vgl. ebd. § 4 4 b), zeigt sich wie folgt: J e unverhüllter diese Möglichkeit verstanden wird, um so reiner dringt das Verstehen vor in die Möglichkeit als die der Unmöglichkeit überhaupt.
der
Existenz
(...) [Der T o d ] ist die Möglichkeit jedes Verhaltens zu..., jedes Existierens. Im
Vorlaufen in diese Möglichkeit wird sie .immer größer', das heißt sie enthüllt sich als
84
Iris D ä r m a n n
T o d in W o r t e fassen o d e r a b e r s c h w e i g e n d b e n e n n e n w o l l e n , m a n k a n n ihn a u s m a l e n , verstehen, vorstellen u n d auf d i e B ü h n e b r i n g e n , ihn p h o t o g r a p h i e r e n , ausstellen, s e z i e r e n u n d filmen w o l l e n ; d o c h stets z e i g t er sich, i n d e m er sich g e r a d e nicht z e i g t . Er z e i g t sich als dasj e n i g e , w a s ü b e r j e d e R e p r ä s e n t a t i o n u n d D a r s t e l l u n g s m ö g l i c h k e i t hina u s g e h t , sich j e d e m D a r s t e l l u n g s v e r m ö g e n d e s Daseins u n d all seiner Techniken entzieht. D a h e r ist er b o d e n l o s e r G r u n d u n d M a s k e j e d e r D a r s t e l l u n g (auch d e r j e n i g e n , d i e ihn nicht a u s d r ü c k l i c h z u m T h e m a hat) u n d d e r schier u n b e g r e n z t e n u n d n o t w e n d i g e r w e i s e g e s c h e i t e r ten Versuche, seiner in d e r D a r s t e l l u n g h a b h a f t z u w e r d e n , ihn sich gewaltsam anzueignen.
Si vis vitam, para
mortem34
Unter d e m Eindruck d e r bitteren Enttäuschung ü b e r d i e M i s s a c h t u n g d e r v ö l k e r r e c h t l i c h e n H e g u n g d e s K r i e g e s d u r c h d i e e i n a n d e r bekrieg e n d e n „ K u l t u r s t a a t e n " 3 5 E u r o p a s p r o b l e m a t i s i e r t Freud 1915 unser b i s h e r i g e s , v o n r a d i k a l e r L e u g n u n g bestimmtes „Verhältnis z u m T o d e " . D o c h hat bereits d e r K r i e g selbst d i e kulturell-konventionelle A b w e h r d e s T o d e s im A l l g e m e i n e n u n d d a s „ u n a u f r i c h t i g e " 3 6 T o t s c h w e i g e n d e s e i g e n e n T o d e s im B e s o n d e r e n u n m ö g l i c h g e m a c h t : „ D e r T o d lässt sich jetzt nicht mehr v e r l e u g n e n ; m a n muss a n ihn g l a u b e n . Die M e n s c h e n s t e r b e n wirklich, a u c h nicht mehr e i n z e l n , s o n d e r n v i e l e Z e h n t a u s e n d e a n e i n e m T a g e . " 3 7 Es ist dieser u n m i t t e l b a r e Einbruch d e s R e a l e n in d i e s y m b o l i s c h - i m a g i n ä r e O r d n u n g d e s Lebens, d i e Freud in g r u n d s ä t z licherer W e i s e d a r ü b e r n a c h d e n k e n lässt, unter w e l c h e n B e d i n g u n g e n sich d i e V e r d r ä n g u n g d e r M ö g l i c h k e i t u n d G e w i s s h e i t d e s e i g e n e n T o d e s , „ d e m nichts T r i e b h a f t e s in uns e n t g e g e n k o m m t " 3 8 , nicht mehr a u f r e c h t e r h a l t e n lässt. D a b e i o r d n e t er d i e U n t e r s u c h u n g d e s Verhältnisses z u m e i g e n e n T o d , z u m T o d eines Fremden u n d z u m T o d e i n e r g e l i e b t e n Person vor d e m H i n t e r g r u n d eines V e r g l e i c h s an, d e r auf e i n e A n n ä h e r u n g z w i s c h e n d e m prähistorischen, d e m „ w i l d e n " u n d d e m m o d e r n e n , e u r o p ä i s c h e n M e n s c h e n zielt u n d schließlich e i n e A r t
solche, d i e ü b e r h a u p t kein M a ß , kein mehr o d e r minder kennt, s o n d e r n d i e M ö g l i c h k e i t d e r m a ß l o s e n U n m ö g l i c h k e i t d e r Existenz b e d e u t e t . " Ebd., S. 2 6 2 . 3 4 Freud, „ Z e i t g e m ä ß e s ü b e r K r i e g u n d Tod", a . a . O . , S. 3 5 5 . 3 5 Ebd., 3 2 5 - 3 3 1 . 3 6 Ebd., S. 3 4 1 . 3 7 Ebd., S. 3 4 4 . 3 8 Ebd., S. 3 5 0 .
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Die A u f e r w e c k u n g des eigenen Todes
G l e i c h b e h a n d l u n g u n d Kontinuität z w i s c h e n d e n u n t e r s c h i e d l i c h e n Kulturen d e s T o d e s e r l a u b t . W i e d e r „Australier, B u s c h m a n n [ o d e r ] Feuerl ä n d e r " , so unterliegt a u c h d e r E u r o p ä e r d e r massiven N e i g u n g , d e n s o g e n a n n t e n e i g e n e n T o d aus d e r „ L e b e n s r e c h n u n g " z u eliminieren, d e r allenfalls im B e r e i c h d e r Fiktion u n d Literatur, d e r rituellen o d e r t r a g i s c h e n D a r s t e l l u n g e r t r ä g l i c h erscheint: „ D o r t f i n d e n w i r n o c h M e n schen, d i e z u s t e r b e n verstehen, ja, d i e es z u s t a n d e b r i n g e n , e i n e n a n d e r e n z u töten." O f f e n b a r g e h t es Freud um e i n e Fähigkeit z u sterb e n u n d zu töten, die, z u m i n d e s t d e m e u r o p ä i s c h e n M e n s c h e n , a b h a n d e n g e k o m m e n z u sein scheint. D i e „ P s y c h o l o g i e d e r K ä m p f e r " u n d H e l d e n in d e r nichtfiktiven W e l t z e u g t i n d e s in e i n e m u n g l e i c h stärkeren M a ß e v o n einer L e u g n u n g d e s T o d e s : H e l d e n h a f t h a n d e l n u n d k ä m p f e n k a n n nur der, d e r in Tat u n d W a h r h e i t nicht a n seinen eigenen Tod glaubt.39 A n g e s i c h t s d e r d r a m a t i s c h e n I n s z e n i e r u n g sind „ [ w i r ] in d e r Identif i z i e r u n g mit d e m (...) H e l d e n " indes in d e r sicheren E r w a r t u n g z u sterb e n bereit, dass w i r d e s s e n T o d u n b e s c h a d e t „ ü b e r l e b e n " , um so u n g e s c h ä d i g t e r „ e i n z w e i t e s M a l mit e i n e m a n d e r e n H e l d e n z u s t e r b e n . " 4 0 Hinter d i e s e r ästhetischen E r f a h r u n g d e s M i t s t e r b e n s o h n e z u s t e r b e n tut sich für d e n Z u s c h a u e r ein W e g ü b e r d e n T o d hinaus auf, „ w e n n w i r n ä m l i c h hinter a l l e n W e c h s e l f ä l l e n d e s Lebens n o c h ein untastbares Leb e n ü b r i g b e h i e l t e n . " 4 1 D i e t h e a t r a l i s c h e Kunst, mindestens in d e r hier v o n Freud umrissenen Kontur mimetischer Identifizierung, maskiert d i e Möglichkeit des eigenen Todes und bewahrt den Zuschauer daher vor d e m Einbruch seiner u n v e r h a n d e l b a r e n G e w i s s h e i t : D e n n nicht nur b e i d e r Vorstellung d e s e i g e n e n Todes, a u c h b e i seiner D a r s t e l l u n g in d e r G e s t a l t d e s s t e r b e n d e n H e l d e n b l e i b t d e r Z u s c h a u e r als Ü b e r l e b e n d e r „ w e i t e r d a b e i " 4 2 . D i e T o d e s i n d i f f e r e n z , mit d e r d i e Kunst d e n 39
E b d . , S. 3 5 0 f f . D e r K r i e g „ z w i n g ! uns w i e d e r , H e l d e n z u sein, d i e a n d e n e i g e -
n e n T o d nicht g l a u b e n k ö n n e n . " 40
Ebd.
41
E b d . , S. 3 4 3 .
42
Freuds V e r s t ä n d n i s d e r t r a g i s c h e n I n s z e n i e r u n g e n t s p r i c h t d a m i t z i e m l i c h g e n a u
N i e t z s c h e s A u s l e g u n g d e r T r a g ö d i e , d i e b e k a n n t l i c h mit d e r historisch e i n z i g a r t i g e n K o n s t e l l a t i o n d e s D i o n y s i s c h e n u n d A p o l l i n i s c h e n , d i e d i e T r a g ö d i e h e r v o r g e b r a c h t hat, e i n e t r a g i s c h e „ M i t t e l w e l t " ( „ D i e d i o n y s i s c h e W e l t s c h a u u n g " , in: Kritische
Studienausga-
b e , B d . 1, h e r a u s g e g e b e n v o n G i o r g i o C o l l i u n d M a z z i n o M o n t i n a r i , M ü n c h e n
1988,
S. 5 5 9 ) e r r i c h t e t sieht, d i e d e n W i d e r s t r e i t z w i s c h e n d e r S c h ö n h e i t d e s d i e N o t d e s Lebens kalmierenden Scheins und der dionysischen W a h r h e i t über d a s „Schreckensgesicht d e s D a s e i n s " (KSA 7, 7 [ 2 7 ] , S. 1 4 5 ) ä s t h e t i s c h a u s g e s t a l t e t . D i e a p o l l i n i s c h e D a r s t e l l u n g d e r d i o n y s i s c h e n W a h r h e i t d e s e i g e n e n T o d e s b e w i r k t in d e n A u g e n N i e t z s c h e s e i n e S t e i g e r u n g d e s D a s e i n s u n d seiner M ö g l i c h k e i t e n : D i e e k s t a t i s c h e n E n t l a d u n g e n , d u r c h d i e d i e T r a g ö d i e in d e r p a t h i s c h e n H ö h e r s p a n n u n g d e s D a s e i n s „ z u m W e i t e r l e b e n reizt"
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Iris D ä r m a n n
Z u s c h a u e r vor d e r u n g e h e u r e n M ö g l i c h k e i t seines e i g e n e n T o d e s a b schirmt, entspricht d e r A u s s t e l l u n g v o n G r a u s a m k e i t u n d G e w a l t , mit d e r d i e a n d e r e n Figuren, sofern es d i e d r a m a t i s c h e H a n d l u n g v e r l a n g t , a u s g e l ö s c h t und h i n g e m e t z e l t w e r d e n . D e n n d e r H e l d ist n o c h f ä h i g z u töten u n d spielt d a m i t auf d e r Klaviatur d e r T o d e s w ü n s c h e seines Publikums, d a s sich a m T o d e d e r A n d e r e n delektiert. W a s n ä m l i c h d i e B e z i e h u n g „ z u m T o d d e s a n d e r e n , d e s Fremden, d e s Feindes" betrifft, so unterstellt Freud d e m „ U r m e n s c h e n " , d a s s ihm d e s s e n T o d nicht nur g e l e g e n kam, s o n d e r n d a s s er a u c h keinerlei B e d e n k e n trug, „ d i e Vernichtung d e s Verhassten" d u r c h e i g e n e H a n d h e r b e i z u f ü h r e n : N i c h t s konnte ihn d a v o n a b h a l t e n , „ W e s e n g l e i c h e r A r t zu töten u n d z u v e r z e h r e n . " D i e s e „faktische Realität" d e s M o r d e s b e i m M e n s c h e n d e r V o r z e i t f i n d e t sich b e i m „ W i l d e n " u n d E u r o p ä e r auf d i e B ü h n e d e r „ p s y c h i s c h e n Realität" d e s U n b e w u s s t e n gestellt: D i e b e r e i t w i l l i g e V e r h ä n g u n g u n d A n e r k e n n u n g d e s T o d e s „für Fremde u n d F e i n d e " sei e i n e v e r d r ä n g t e R e g u n g , d i e sich als e i n e k o n s t a n t e Reaktion auf narzisstische K r ä n k u n g e n einstelle: „ W i r b e s e i t i g e n in unseren u n b e w u s s t e n R e g u n g e n t ä g l i c h u n d stündlich alle, d i e uns im W e g e stehen, d i e uns b e l e i d i g t o d e r g e s c h ä d i g t h a b e n . " 4 3 D i e s e beid e n e n t g e g e n g e s e t z t e n Einstellungen z u m T o d e - d i e b e r e i t w i l l i g e Ane r k e n n u n g d e s T o d e s d e r stets f e i n d s e l i g e n A n d e r e n u n d d i e L e u g n u n g d e s e i g e n e n T o d e s - g e r a t e n s o w o h l für d e n U r m e n s c h e n als a u c h für d e n „ w i l d e n " s o w i e d e n m o d e r n e n M e n s c h e n erst b e i m T o d e i n e r g e l i e b t e n Person in e i n e n Konflikt. Insofern d i e g e l i e b t e Person immer a u c h „ e i n Stück" d e s „ e i g e n e n g e l i e b t e n Ichs" darstelle, müsse d i e s e s Ich „in s e i n e m S c h m e r z d i e Erfahrung m a c h e n , d a s s [es] a u c h selbst s t e r b e n k ö n n t e . " 4 4 Beim T o d d e s g e l i e b t e n A n d e r e n w i r d d a s Ich nicht nur mit d e s s e n u n w i e d e r b r i n g l i c h e m Verlust u n d d e r „ u n e r t r ä g l i c h e n Intensität" d e r Trauer konfrontiert, s o n d e r n a u c h zur A n e r k e n n u n g d e s e i g e n e n T o d e s g e n ö t i g t . Durchläuft es d o c h in d e r Trauer d i e Erfahrung d e s e i g e n e n Sterbens: „ W i r b e g r a b e n mit ihm unsere H o f f n u n g e n , Ans p r ü c h e , G e n ü s s e , lassen uns nicht trösten u n d w e i g e r n uns, d e n Verlo(ebd.), w e r d e n inhaltlich durch d a s V e r s p r e c h e n d e r U n z e r s t ö r b a r k e i t und Unsterblichkeit gestützt, d a s in d e r szenischen Vision d e r titanischen Z e r r e i ß u n g und a p o l l i n i s c h e n Z u s a m m e n f ü g u n g des D i o n y s o s einen mythischen A u s d r u c k g e f u n d e n hat. In A n l e h n u n g a n d e n g r i e c h i s c h e n Pessimismus ( „ D a s Beste ist nicht zu sein, d a s Z w e i t b e s t e b a l d zu sterben", KSA
1, S. 5 6 0 f . ) will N i e t z s c h e d i e r i g o r o s e Kunstbedürftigkeit d e s Lebens
e r w e i s e n u n d d i e tragische Kunst d a z u bestimmen, „ z u m Leben zu verführen" (KSA 7, 7 [ 1 2 5 ] , S. 1 8 3 ) , ja „als d a s g r o ß e Stimulans d e s Lebens, z u m Leben" selbst (KSA 13, 1 4 [ 2 6 ] , S. 2 3 0 ) aufzutreten. 43
Freud, „ Z e i t g e m ä ß e s über Krieg und T o d " , a . a . O . , S. 3 5 1 .
4 4 Ebd., S. 3 4 6 .
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Die Auferweckung des eigenen T o d e s
renen z u ersetzen. W i r benehmen uns dann wie eine Art von Asra, welche mitsterben, wenn die sterben, die sie lieben." 4 5 Für Freud besteht das Charakteristische der Liebe zum Anderen darin, dass dieser in der Liebe zum „inneren Besitz", ja zum „Bestandteil" des eigenen Ichs geworden ist, um dessen Verlust die Trauer gravitiert. 46 Die Trauer bezieht sich unter dieser Voraussetzung freilich nur auf den Tod des geliebten Eigenen im Anderen. Dagegen macht er die Fremderfahrung der geliebten Person, die in ihrer unberechenbaren Macht die an sie gerichteten Wünsche versagen oder aber zurückweisen kann, als „Ursache" für unbewusste Feindseligkeiten verantwortlich. Diese in jeder „intensiven Bindung" wirksame Gefühlsambivalenz macht sich beim Tod des Anderen in besonders aufdringlicher W e i s e bemerkbar, da der wirklich eingetretene Tod wie die katastrophale Erfüllung der bislang im Zustand der Verdrängung gebliebenen, unbewussten Todeswünsche erscheinen muss. Einerseits kommt der Tod in dieser Hinsicht gerade recht, „denn in jeder geliebten Person stak auch ein Stück Fremdheit." 47 Andererseits verweist eben diese Fremdheit, die sich als solche erst nachträglich, mit der Wiederkehr verdrängter Todeswünsche bemerkbar macht, auf deren Unerträglichkeit: Dem Ich ist die Fremdheit des Anderen nur erträglich in der vernichtenden Reaktion des H a s s e s . Für die Lösung des Konfliktes zwischen der Trauer über den Verlust des geliebten Eigenen im Anderen einerseits und der Befriedigung über den Tod der am Anderen gehassten Fremdheit andererseits stellt Freud z w e i Möglichkeiten in Aussicht. Beide haben wiederum nichts mit der bewussten Anerkennung oder gar Liebe zur Fremdheit des Anderen, sondern nur mit der erneuten Verdrängung der feindseligen Regungen in den symptomatischen Gestalten von Zwangsvorwürfen und Projektionen z u tun. Sowohl beim „trauernden W i l d e n " 4 8 als auch beim trauernden Europäer kann sich die Abwehr des Befriedigungserlebnisses durch den wirklich eingetretenen Tod in der moderateren Form des „Schuldgefühls" und in seiner Steigerung im M o d u s jener zwanghaften und dem ersten Anschein nach „völlig unbegründeten Selbstvorwürfe" äußern, 4 '
45
Ebd., S. 3 4 3 . Das von Freud modifizierte Schicksal der Asra, „.welche sterben,
wenn sie lieben'", ist Karl Abraham entlehnt: „Uber ein kompliziertes Zeremoniell neurotischer Frauen" (1912|, in: ders., Gesammelte
Schriften,
Bd. I, herausgegeben und
eingeleitet von Johannes Cremerius, Frankfurt a . M . 1 9 8 2 , S. 2 4 - 2 9 , hier: S. 2 8 . 46
Freud, „Zeitgemäßes über Krieg und T o d " , a.a.O., S. 3 5 3 .
47
Ebd., S. 2 3 7 .
48
Sigmund Freud, „Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben
der W i l d e n und der Neurotiker" ( 1 9 1 2 - 1 3 ) , in: Gesammelte Werke, 49
Bd. IX, S . 7 3 .
Freud, „Zeitgemäßes über Krieg und T o d " , a.a.O., S. 3 5 3 . Vgl. auch „Totem und
88
Iris Därmann
mit denen sich Freud in Trauer und Melancholie
auseinandersetzt. Der
sogenannte „ W i l d e " wehrt die eigenen feindseligen Regungen ferner durch deren „Projektion" auf die Toten ab, die dann als „böse" Geister, Vampire oder Dämonen 5 0 die Lebenden mit derselben Feindseligkeit verfolgen wie diese einst die geliebten Anderen. Die Einrichtung von Speise-, Nahrungs- und Berührungstabus gewährt einen beschränkten Kontakt mit den rachsüchtigen Toten, ohne dass die Überlebenden Gefahr laufen müssen, in deren Reich hinübergezogen z u werden. In all diesen Versuchen, die „feindlichen Strömungen gegen den Angehörigen" 5 1 und damit die eigene Schuld an seinem Tod abzuwehren, sieht Freud jedoch durchaus eine „ethische Feinfühligkeit" 52 am W e r k . Die Anerkennung des Gebotes: „Du sollst nicht töten" erstreckt sich nicht nur auf den absichtsvoll herbeigeführten realen Mord, sondern auch auf den im Unbewussten herbeigesehnten virtuellen M o r d : Du sollst den Anderen auch in Deinen Träumen und unbewussten Wunschregungen nicht töten. In diesem Sinne stellen die dämonischen „Projektionen" der „ W i l d e n " und die Selbst- und Zwangsvorwürfe der Neurotiker den - wenngleich gescheiterten - Versuch dar, Verantwortung auch noch für die radikale „Immoralität" 53 des Unbewussten z u übernehmen. N u r die Liebe zur Fremdheit des Anderen befreit die (ursprüngliche) Trauer aus dem Gefängnis, das die ipsozentristische Neigung zum Anderen und der den Fremden zum Feind erklärende Krieg aus der Beziehung z u ihm gemacht hat. In dieser nicht nur durch narzisstische Motive behelligten oder besser: in dieser durch einen gastfreundlichen N a r z i s s m u s für die Fremdheit des Anderen geöffneten Trauer kommt der geliebte Tote unter der Frage zum Zuge: „ W a s will der Tote? W a s will er von mir? W a s hat er mir sagen w o l l e n ? " 5 4 Welche Ansprüche Tabu", a.a.O., S. 7 6 : „Wenn eine Frau ihren Mann, eine Tochter ihre Mutter verloren hat, so ereignet es sich nicht selten, dass die Überlebende von peinigenden Bedenken, die wir , Z w a n g s v o r w ü r f e ' heißen, befallen wird, ob sie nicht selbst durch eine Unvorsichtigkeit oder Nachlässigkeit den T o d der geliebten Person verschuldet hat." 50
Ebd., S. 77.
51
Ebd., S . 8 0 .
52
Sigmund Freud, „Trauer und Melancholie" ( 1 9 1 6 ) , in: Gesammelte
Werke,
Bd.
X, S. 4 2 8 - 4 4 6 , hier: S. 4 3 9 . 53
Sigmund Freud, „Die Traumdeutung" ( 1 8 9 9 , vordatiert auf 1 9 0 0 ) , in: Gesammel-
te Werke, 54
Bd. I I / I I I , S. 6 2 5 .
W i e der Titel seines Aufsatzes „Le Temps et l'Autre" bereits zeigt, macht sich
Jean laplanche unter der von Levinas ausgearbeiteten Frage der radikalen Fremdheit des Anderen in der Durchquerung des Freudschen W e r k e s auf die beinahe vergebliche Suche nach der „ursprünglichen Dimension des Anderen", die er nicht in „Trauer und Melancholie" findet, sondern in einem jener „seltenen Texte, der mit dem Freudschen Ipsozentrismus bricht", nämlich in: „Das Tabu der Virginität" |Jean Laplanche, „Le Temps et
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Die Auferweckung des eigenen T o d e s
stellt er an mich in seinem Tod und über seinen Tod hinaus? Die Feindschaft ist für Freud nicht das letzte und unableitbare W o r t ; sie ist eine und die verbreitetste, nicht aber die einzige Antwort auf die Fremdheit des Anderen, 55 so dass der Liebe-Hass-Ambivalenz ein durchaus abgeleiteter, sekundärer Status zugewiesen werden kann. 56 Dieser trauernden Liebe und liebenden Trauer, die angesichts des ungeheuren Skandals des Todes untröstlich, ja unbeendbar bleibt und sich weigert, den Verlorenen durch ein neues Liebesobjekt z u ersetzen, hat Freud selbst freilich nur in privaten Äußerungen stattgegeben und seine Aufmerksamkeit geschenkt. 57 Sein offizielles Konzept einer kathartischen Trauer- und Erinnerungsarbeit steht dagegen ganz im Zeichen der Bewältigung des Verlustes und der Loslösung vom geliebten Anderen, um wieder frei z u werden für die W a h l neuer Objekte und die ungehemmte Fortsetzung des eigenen Lebens. 58 W e n n er, wie in Zeitgemäßes
über Krieg
und Tod, eine angemes-
senere, ja authentischere Haltung gegenüber dem Tod einklagt, dann ist es ihm nicht um eine die Fremdheit des Anderen liebende Trauer, sondern in erster Linie um die illusionslose Anerkennung der Gewissheit des eigenen Todes z u tun, die den Tod in die eigene Lebensrechnung mit aufnimmt und dem Leben so seinen ganzen Reichtum zurückerstattet. Das Ausweichen, die uneigentliche Flucht vor der Wahrheit der
l'Autre" [ 1 9 9 1 ] , in: ders., La revolution
copernicienne
machevee
Travaux
1907-)
992,
Paris 1 9 9 2 , S. 3 5 9 - 3 8 4 , hier: S . 3 8 0 , S . 3 7 2 ) . 55 Werke,
Siehe d a z u Sigmund Freud, „Das Tabu der Virginität" ( 1 9 1 8 ) , in:
Gesammelle
Bd. XII, S . 1 6 1 - 1 8 0 , hier: S . 1 6 8 : „Wo der Primitive ein Tabu hingesetzt hat, da
fürchtet er eine Gefahr, und es ist nicht abzuweisen, dass sich in all diesen Vermeidungsvorschriflen eine prinzipielle Scheu vor dem W e i b e äußert. Vielleicht ist diese Scheu darin begründet, dass das W e i b anders ist als der Mann, ewig unverständlich und geheimnisvoll, fremdartig und darum feindselig erscheint." 56
In politischer Hinsicht bedeutet das, dass die Völker selbst „so viel Verständnis
für ihre Gemeinsamkeiten und so viel T o l e r a n z für ihre Verschiedenheiten erwerben, d a s s , f r e m d ' und .feindlich' nicht mehr wie noch im klassischen Altertume für sie z u einem Begriffe verschmelzen." Freud,„Zeitgemäßes über Krieg und T o d " , a.a.O., S. 3 2 6 . 57
Dass es bei Freud eine „offizielle" Theorie und eine „eher intime, private" Sicht der
Trauer gibt, darauf macht Michael Turnheim (Das Andere im Gleichen.
Über Trauer,
Witz
und Politik, Stuttgart 1 9 9 9 , S. 19f.) unter Rekurs auf den folgenden Brief Freuds an Ludwig Binswanger vom 1 2 . 4 . 1 9 2 9 aufmerksam: „Man weiß, dass die akute Trauer nach einem solchen Verlust ablaufen wird, aber man wird ungetröstet bleiben, nie einen Ersatz finden. Alles, w a s an die Stelle rückt, und wenn es sie auch ganz ausfüllen sollte, bleibt doch etwas anderes. Und eigentlich ist es recht so. Es ist die einzige Art, die Liebe fortzusetzen, die man ja nicht aufgeben will." Sigmund Freud - Ludwig Binswanger:
Briefwechsel
1 9 0 8 - 1 9 3 8 , herausgegeben von Gerhard Fichtner, Frankfurt a . M . 1 9 9 2 , S. 2 2 2 f . 58
Freud, „Trauer und Melancholie", a.a.O., S. 4 3 0 .
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Iris Därmann
eigenen Sterblichkeit hat nämlich Auswirkungen auf das Leben selbst: „Das Leben verarmt, es verliert an Interesse, wenn der höchste Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben selbst, nicht gewagt werden darf. Es wird so schal, gehaltlos wie etwa ein amerikanischer Flirt, bei dem es von vorneherein feststeht, dass nichts vorfallen darf, zum Unterschied von einer kontinentalen Liebesbeziehung, bei welcher beide Partner stets der ernsten Konsequenzen eingedenk bleiben müssen." 5 9 M i t diesem Vergleich macht Freud, beinahe ungewollt, das romantische M o d e l l der leidenschaftlichen Liebe 6 0 bis in den (gemeinsamen) Tod zum M o d e l l des Lebens selbst. Legt er doch nahe, das Leben so z u leben und z u lieben, wie in Europa geliebt und gemeinsam gelebt wird, nämlich mit der Leidenschaft derer, die wissen, dass der Augenblick nicht alles ist, sondern von den institutionellen Verpflichtungen der Familie und der lebenslangen Aufrechterhaltung dieser exklusiven Liebe beschattet wird, aber auch: dass der Augenblick der Liebe in jedem ihrer Augenblicke z u Ende sein kann. Die Sterblichkeit als Modalität einer endlichen Zeit z u zweit verleiht der Liebe und dem Leben eine Intensität und Verletzlichkeit, die die Liebenden aus Liebe zum Anderen je für sich auf sich nehmen. Je bedrohter das liebende Leben z u zweit durch den Tod des einen und des anderen erscheint, umso kostbarer wird dieses geteilte Leben und die Liebe zum Leben selbst. Das ist das Versprechen, das Freud denjenigen gibt, die sich nicht scheuen, eingedenk aller endlichen Konsequenzen, denkbaren Leiden und möglichen Risiken z u leben, wie sie lieben, und z u lieben, wie sie leben. Doch w a s Freud mit diesem Vergleich nicht nur für das Leben, sondern ebenso sehr für die romantische Liebe und dem dieser Liebe verschriebenen Leben z u verheißen scheint, entzieht er im nächsten Atemzug auch schon wieder: In einem seltsamen argumentativen Bruch macht er nämlich eben diese Liebe dafür verantwortlich, dass der Einsatz des eigenen Lebens für eine Sache, die offenbar stärker z u sein hat als die Liebe selbst, nicht mehr gewagt wird: „Unsere Gefühlsbindungen, die unerträgliche Intensität unserer Trauer, machen uns abgeneigt, für uns und die unserigen Gefahren aufzusuchen. W i r getrauen uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in Betracht z u ziehen, die gefährlich, aber eigentlich unerlässlich sind wie Flugversuche, Expeditionen in ferne Länder, Experimente mit explodierbaren Sachen. U n s lähmt dabei das Bedenken, wer der Mutter den Sohn, der Gattin den Mann,
59
Freud, „Zeilgemäßes über Krieg und T o d " , a.a.O., S. 3 4 3 .
60
Z u m europäischen Konzept der romantischen liebe siehe Hartmann Tyrell, „Ro-
mantische Liebe - Überlegungen z u ihrer .quantitativen Bestimmtheit'", in: Dirk Baecker et al. (Hg.), Theorie
als Passion, Frankfurt a . M . 1987, S . 5 0 7 - 5 9 9 .
91
Die Auferweckung des eigenen T o d e s
den Kindern den Vater ersetzen soll, wenn ein Unglück geschieht. Die Neigung, den Tod aus der Lebensrechnung auszuschließen, hat so viele andere Verzichte und Ausschließungen im Gefolge. Und doch hat der Wahlspruch der Hanse gelautet: Navigare non est!"6'
necesse est, v'tvere
Es sind die ernsten Konsequenzen der Liebe, nämlich dass
der leidenschaftlich liebende Mann sich nicht scheute, Vater und Ehemann z u werden, die ihn dazu verleiten, kein lebensgefährliches Risiko einzugehen, damit der eigenen Frau und den Kindern die unerträgliche Trauer um seinen Tod erspart bleiben möge. S o ist es gerade nicht, wie Freud ständig nahelegt, die Verleugnung des eigenen Todes als etwas „Unwirkliches" 6 2 , sondern die Gewissheit seiner stets lauernden Möglichkeit, die verhindert, dass der Mann - und nur um ihn geht es hier -
sein Leben für eine kulturelle Aufgabe opfert, die größer und
mächtiger ist als sein Leben, seine Liebe und die Trauer der geliebten Anderen. Den Tod in die eigene Lebensrechnung aufzunehmen, bedeutet seine unbewusste Wahrheit z u fatieren und ganz heldenhaft, das heißt, ohne an ihn z u glauben, doch faktisch in ihn vorzulaufen: Der Krieg „zwingt uns wieder, Helden z u sein, die an den eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen und herbeiwünschen soll; er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen." Um das Leben im Krieg erträglich z u machen, erwägt Freud daher: „ W ä r e es nicht besser, dem Tode den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt, und unsere unbewusste Einstellung zum Tode, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt haben, ein wenig mehr hervorzukehren?" 6 3 Der moderne, authentische und kriegsadäquate B e z u g zum Tod müsste daher der des ungläubigen, mordlustigen und ambivalenten „Urmenschen" sein. W a s bei diesem Verhältnis zum Tod radikal zulasten der Liebe und des geliebten Anderen geht, ist das Opfer, das der Krieg und jene „zeitgemäße" Momentaufnahme einfordern, der Freud keine finale, sondern eine illusionslose und pragmatische Botschaft aus der Perspektive desjenigen abgewinnt, der unter dem Einsatz neuer „fernwirkender W a f f e n " 6 4 ein Überlebender sein und nach dem Krieg neu beginnen will.
61
Freud, „Zeitgemäßes über Krieg und T o d " , a.a.O., S. 3 4 3 .
62
Ebd., S. 3 5 3 .
63
Ebd., S. 3 5 4 .
64
Ebd., S. 3 4 9 .
92
I r i s Därmann
Sum
moribundus65
Angesichts der zentralen Aufgabe der „Gewinnung eines existenzialen Begriffes vom Tode" 6 6 hat Heidegger mit einem historisch-kulturell besonderen oder gar zeitgemäßen Bezug zum Tod ausdrücklich nichts im Sinn 6 7 Dabei wird seine ganze Darstellung von einem „faktischen Ideal" 6 8 bestimmt, das seinen Anspruch auf eine ontologische Interpretation des Todes, die alle ontischen Auslegungen des Phänomens fundieren soll, augenscheinlich Lügen straft. Dieses Ideal, das Elemente des tragischen, des heroischen und des erlösenden Todes in einem existenzialen Entwurf amalgamiert, geht - ebenso wie Freuds zeitgemäße Haltung zum Tode - mit dem Opfer der Liebe und des geliebten Anderen einher. Heideggers gesamte existenziale Analyse des Todes ist von einer „problematischen Geschlossenheit" 6 9 gezeichnet, die von mindestens vier massiven Grenzziehungen herrührt. S o hält sich die Analyse erstens „rein diesseitig" auf und klammert radikal alle ontisch-theologisch-metaphysischen Spekulationen darüber ein, „was nach dem Tode sei":
ein
Jenseits oder ewiges Leben, das Fegefeuer, das Nichts oder gar eine gespenstische Wiederkehr der Toten ins Reich der Lebenden in Gestalt von Geistern und Untoten. 70 Die zweite Demarkationslinie betrifft sämtliche europäischen Diskurse, Thanatologien und Disziplinen des Todes, die, dem gängigen Verdikt von Sein und Zeit zufolge, das Dasein auf die Seinsart des Vorhandenen bzw. auf das „pure Leben" (von Tieren oder Pflanzen) und damit die daseinsmäßige Seinsweise des Sterbens auf ein bloßes „Verenden" reduzieren. 71 Mit der dritten systematischen „Abgrenzung" verwahrt sich Heidegger wiederum unter Rekurs auf eine Ordnung der Fundierung gegen Einmischungen, Wahrheitsansprüche
65
M a r t i n Heidegger, Prolegomena zur
Vorlesung Sommersemester
Geschichte
des Zeitbegriiis.
Marburger
1 9 2 5 , in: Gesamtausgabe, Bd. 2 0 , herausgegeben von
Petra Jäger, 3. Auflage, Frankfurt a . M . 1 9 9 4 , S . 4 3 7 . 66
Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S . 2 3 7 .
67
Ebd., S. 2 4 6 .
68
M a n muss sogar von einem ontischen Einbruch in die ontologische Auslegung
des Daseins sprechen, den Heidegger z w a r selbst einräumt, jedoch ohne ihn z u problematisieren: „Aber liegt der durchgeführten ontologischen Interpretation der Existenz des Daseins nicht eine bestimmte ontische Auffassung von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal zugrunde? Das ist in der Tat so." Sein und Zeit, a.a.O., S . 3 1 0 . 69
Z u r Analyse dieser „Geschlossenheit" siehe Jacques Derrida, Aporien.
- Auf die „ G r e n z e n der Wahrheit"
gefasst sein, a.a.O., S . 88ff.
70
Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S . 2 4 8 .
71
Ebd., S . 2 4 6 f .
Sterben
Die A u f e r w e c k u n g d e s e i g e n e n T o d e s
93
u n d „ m ö g l i c h e , a n d e r e Interpretationen des Phänomens" 7 2 , d i e v o n fremd e n Kulturen des T o d e s a u s g e h e n . In d i e s e m Sinne z e u g e n „ d i e Auffass u n g e n d e s T o d e s b e i d e n Primitiven, d e r e n V e r h a l t u n g e n z u m T o d e in Z a u b e r e i u n d Kultus", v o n e i n e m Daseinsverständnis, „ d e s s e n Interpretation schon einer existenzialen Analytik und eines e n t s p r e c h e n d e n Begriffes v o m T o d e b e d a r f . " 7 3 All d i e s e n Kulturen, Praktiken, Politiken, W i s s e n s c h a f t e n u n d Disziplinen des T o d e s will d i e Analytik z u v o r k o m men, d i e sich ihnen g e g e n ü b e r als v o r g ä n g i g , u n a b h ä n g i g , ursprünglich u n d neutral ausweist. M i t ihrem d e f i z i t ä r e n Seinsverständnis setzen sie alle auf ein ontisch ungeklärtes, w e n n nicht auf ein uneigentliches Verständnis d e s Todes, d a s d i e g e n u i n e H e r a u s a r b e i t u n g eines o n t o l o g i s c h a u f g e k l ä r t e n Begriffs v o m T o d e für H e i d e g g e r um so dringlicher erscheinen lässt. D o c h d a s je-seinige Dasein H e i d e g g e r s , d a s in Sein und Zeit exklusiv in Frage steht, lässt sich niemals so w e i t auf sich selbst reduzieren, dass es sich in seinem e i g e n s t e n S e l b s t b e z u g u n d in d e r r a d i k a l e n V e r e i n z e l u n g seines Seins-zum-Tode restlos v o n d e n B i n d u n g e n seiner kulturell-alltäglichen Strukturen lösen könnte. Das ontische Vorverständnis u n d „faktische I d e a l " , d a s d e n g e s a m t e n Diskurs d e r Eigentlichkeit in d e r existenzialen Interpretation des T o d e s beherrscht und d a s j e m e i n i g e Dasein auf ein Seinsollen zum e i g e n t l i c h e n Selbstseinkönnen verpflichtet, entstammt seinerseits einer Tradition d e r S o r g e um d e n je e i g e n e n Tod, v o n d e r sich nicht g e r a d e w e g s b e h a u p t e n lässt, dass sie für d a s Verständnis d e s T o d e s b e z u g e s „ b e i d e n Primitiven", d i e b e i H e i d e g g e r notorisch d i e Stelle fremdkultureller G e s e l l s c h a f t e n vertreten, universale G ü l t i g k e i t b e a n s p r u c h e n kann. A u c h w e n n er sich auf d i e „ v o r o n t o l o g i sche Tradition" d e r cura, namentlich auf d i e Fabeln d e s Hyginus, auf S e n e c a , d i e stoische merimna und d i e sollicitudo d e r V u l g a t a 7 4 beruft, so steht d i e so ausschließlich um d e n e i g e n e n T o d b e k ü m m e r t e „Selbsts o r g e " 7 5 und d i e A u s a r b e i t u n g des o n t o l o g i s c h e n Begriffs des T o d e s g a n z e i n d e u t i g in d e m von Piaton a u s g e h e n d e n U b e r l i e f e r u n g s z u s a m m e n h a n g d e r d e m T o d g e w i d m e t e n S o r g e (μελέτη θανάτου) u n d d e r „ E i n ü b u n g in d e n e i g e n e n Tod" 7 6 , d i e H e i d e g g e r auf seine W e i s e modifiziert. So fällt d i e vierte p r o b l e m a t i s c h e Aus- b z w . E i n g r e n z u n g s o p e r a tion d e r existenzialen Analytik mit einer historisch-kulturell-lokalen, a b e r sich als „universal" a u s g e b e n d e n B e s c h r ä n k u n g einerseits 7 7 und d e r radi-
7 2 Ebd., S. 2 3 7 . 7 3 Ebd., S. 247. 7 4 Ebd., S. 1 9 7 - 1 9 9 . 7 5 Ebd., S. 3 1 8 . 7 6 Phaidon
8 0 e.
7 7 H e i d e g g e r , Sein u n d Zeil, a . a . O . , S. 3 9 .
94
Iris D ä r m a n n
kalen B e z o g e n h e i t auf d e n je e i g e n e n T o d andererseits z u s a m m e n . Der für d i e Analytik konstitutive Ausschluss d e r T o d e d e r A n d e r e n ist a n d e r Frage orientiert, d a s Dasein als g a n z e s und eigentliches in d e n Blick z u nehmen. D e m hermeneutischen G r u n d s a t z g e m ä ß , „ d a s s alles Einzelne nur v e r s t a n d e n w e r d e n kann vermittels des G a n z e n u n d also jedes Erklären d e s Einzelnen schon d a s Verstehen des G a n z e n voraussetzt" 7 8 , e x t r a p o l i e r t H e i d e g g e r eine „ h e r m e n e u t i s c h e Situation" des Scheiterns als zeitliche A p o r i e des noch-nicht/nicht-mehr: S o l a n g e d a s D a s e i n existiert, ist es noch nicht g a n z (nämlich n o c h nicht tot, n o c h nicht nicht mehr), steht seine G a n z h e i t a l s o b e s t ä n d i g aus; s o b a l d es a b e r g a n z , w i l l sag e n : tot ist, v e r m a g es e b e n d i e s e n „ U b e r g a n g z u m N i c h t m e h r d a s e i n " u n d G a n z s e i n g e r a d e „nicht mehr [zu] erfahren und als e r f a h r e n e n zu verstehen" 7 9 . W i r d d i e T o d e s g e w i s s h e i t und namentlich d i e G e w i s s h e i t des Bevorstandes d e s je e i g e n e n T o d e s als d a s j e n i g e g e d a c h t , „ w a s a m e i g e n e n Dasein u n e r f a h r b a r bleibt", d a n n liegt d i e Vermutung n a h e , dass sie „ a m f r e m d e n z u g ä n g l i c h w e r d e n " könnte. 8 0 So scheint sich d i e Erfahrung d e s T o d e s d e r A n d e r e n als ein „Ersatzthema für d i e A n a l y s e d e r D a s e i n s g a n z h e i t " und als A u f l ö s u n g d e r a p o r e t i s c h e n Verstehenssituation a n z u b i e t e n . 8 1 In d e r Verlusterfahrung d e s fremden, s t e r b e n d e n Daseins bleibt d e m e i g e n e n Dasein a l l e r d i n g s d e r „Seinsverlust", d e n d a s f r e m d e Dasein „ e r l e i d e t " , als solcher prinzipiell u n z u g ä n g l i c h : „ W i r e r f a h r e n nicht im g e n u i n e n Sinne d a s Sterben d e r A n d e r e n , s o n d e r n sind höchstens immer nur . d a b e i ' . " 8 2 H a t t e Freud v o m „ M i t s t e r b e n " b e i m S t e r b e n d e s g e l i e b t e n A n d e r e n u n d d e r „ u n e r t r ä g l i c h e n Intensität d e r Trauer" g e s p r o c h e n , erscheint d a g e g e n H e i d e g g e r s B e s c h r e i b u n g d e r M i t e r f a h r u n g des Sterbens A n d e r e r im Sinne des b l o ß e n D a b e i s e i n s - selbst d a noch, w o es sich nicht um g e l i e b t e , s o n d e r n um unbekannte, n a m e n l o s e A n d e r e h a n d e l t - als eine u n g e h e u r e Reduktion. Z w e i f e l l o s a b e r setzt der Tod des f r e m d e n Daseins d i e M ö g l i c h k e i t jed e r a n a l o g i s c h e n Projektion, des W i e d e r e r k e n n e n s des e i g e n e n T o d e s in d e m f r e m d e n Tod des je a n d e r e n Daseins außer Kraft. W e n n d e r A n d e r e stirbt, steht d a s Dasein unter einer d r e i f a c h e n Katastrophe: Im schmerzlichen Verlust des A n d e r e n ist es einer Erfahrung d e r Unerfahrbarkeit ausgesetzt, d i e s o w o h l d i e u n z u g ä n g l i c h e Fremdheit des a n d e r e n Daseins als a u c h d i e äußerste Fremdheit und U n z u g ä n g l i c h k e i t seines T o d e s be-
7 8 Friedrich D. E. S c h l e i e r m a c h e r , Hermeneutik
u n d Kritik, h e r a u s g e g e b e n und ein-
geleitet v o n M a n f r e d Frank, Frankfurt a . M . 1977^ S. 3 2 8 . 7 9 H e i d e g g e r , Sein und Zeit, a.a.O., 8 0 Ebd., S. 2 3 9 . 81 Ebd., S. 2 3 8 . 8 2 Ebd., S. 2 3 9 .
S. 2 3 7 .
95
Die A u f e r w e c k u n g des eigenen Todes
trifft. Ü b e r die b e s t ü r z e n d e Erfahrung dieser d o p p e l t e n U n z u g ä n g l i c h k e i t und Unerträglichkeit d e r Trauer s c h w e i g t sich H e i d e g g e r s p h ä n o m e n a l e Beschreibung des Seinsverhältnisses z u m Toten als des „trauernd-gedenk e n d e n V e r w e i l e n s bei ihm" j e d o c h aus: „Totenfeier", „ B e g r ä b n i s " und „ G r ä b e r k u l t " e r w e i s e n sich lediglich als M o d i d e r „ e h r e n d e n Fürsorge", kraft d e r e n d i e H i n t e r b l i e b e n e n aus d e r einst g e m e i n s a m e n W e l t n o c h mit d e m Toten sein, nicht a b e r mehr mit ihm verkehren können. 8 3 Z w i s c h e n d e r Eigentlichkeit d e s v e r e i n z e l n d e n Seins z u m T o d e u n d d e r U n e i g e n t l i c h k e i t d e s M a n , unter d e s s e n H e r r s c h a f t d e r öffentlic h e n A u s g e l e g t h e i t d e s T o d e s als b i o b e r T o d e s f a l l sich d a s D a s e i n s t ä n d i g ü b e r d i e M ö g l i c h k e i t seines e i g e n e n T o d e s b e r u h i g t u n d aus f e i g e r A n g s t vor seiner u n v e r h a n d e l b a r e n G e w i s s h e i t flüchtet 8 4 , g i b t es kein M i t e i n a n d e r d a s e i n im S t e r b e n u n d kein M i t s e i n im T o d , d e s s e n g r ü n d e n d e r A f f e k t d i e Liebe u n d d i e A n g s t vor d e m N i c h t s e i n d e s / r G e l i e b t e n ist. 85 Ist Liebe e t w a s a n d e r e s als „ d i e T a t s a c h e schlechthin, d a s s d e r T o d d e s A n d e r e n mich mehr erschüttert als d e r m e i n e " ? 8 6 D i e s c h l e c h t e A l t e r n a t i v e z w i s c h e n G a n z h e i t u n d Verlorenheit, z w i s c h e n d e r solipsistischen S p h ä r e d e s D a s e i n s u n d d e r a l l g e m e i n e n S p h ä r e d e s M a n lässt ein o n t o l o g i s c h e s D e n k e n d e r Liebe (und d e r trauernd e n Liebe z u m a l ) , d a s sich mit d e m D e n k e n d e s T o d e s in e i n e r A r t chiastischer Teilung v e r b i n d e t , nicht zu. 8 7 Es w ü r d e d a s M i t s e i n z u m T o d e d e s A n d e r e n zur b e s t i m m e n d s t e n Seins- u n d Fürsorge selbst n o c h ü b e r d e n T o d d e s A n d e r e n hinaus e r h e b e n , anstatt d i e Liebe z u m And e r e n d e r Eigentlichkeit d e s D a s e i n s z u o p f e r n , a n d e r „ j e d e s M i t s e i n mit A n d e r e n v e r s a g t " 8 8 .
8 3 Ebd., S. 2 3 8 . 8 4 Ebd., § 51. 8 5 Z u d i e s e m Problem vgl. a u c h schon d i e A n a l y s e Karl Löwiths ( D a s Individuum
in
M ü n c h e n 1 9 2 8 , S. 54ff.), d e r z w i s c h e n N ä h e r - u n d Ferner-
der Holle des Mitmenschen,
stehenden, A n g e h ö r i g e n u n d Fremden unterscheidet, u n d H e i d e g g e r ein intimes M i t s e i n d e s Du in d e r B e g e g n u n g e n t g e g e n h ä l t , d a s sich d e r O p p o s i t i o n v o n „ e i g e n t l i c h " u n d „ u n e i g e n t l i c h " b z w . „öffentlich" entzieht. 8 6 Levinas, G o t t , d e r T o d und die Zeil, a.a.O.,
S. 116.
8 7 W i e bei Freud, so g i b t es a u c h b e i H e i d e g g e r ein privates Z e u g n i s d e s D e n k e n s d e r Liebe, d a s sich d e r B e z i e h u n g zu H a n n a h A r e n d t u n d ihrer Dissertation z u m a u g u stinischen Liebesverständnis [Volo bei Augustin.
Versuch
einer
ul sisj v e r d a n k t ( H a n n a h A r e n d t , D e r
philosophischen
Interpretation,
Liebesbegriff
Berlin 1 9 2 9 ) . S i e h e d a z u
d e n B r i e f w e c h s e l aus d e n Jahren 1 9 2 5 bis 1 9 2 8 z w i s c h e n H a n n a h A r e n d t u n d M a r t i n H e i d e g g e r , Briefe
1925
bis J 9 7 5 und andere
Zeugnisse,
aus d e n N a c h l ä s s e n heraus-
g e g e b e n v o n Ursula Ludz, 3. A u f l a g e , Frankfurt a . M . 2 0 0 2 . Z u dieser Problematik siehe vor a l l e m d i e Ü b e r l e g u n g e n v o n Jean-Luc N a n c y , singulär Ulrich M u l l e r - S c h ö l l , Berlin 2 0 0 4 , S. 171 f. 8 8 H e i d e g g e r , Sein und Zeil, a . a . O . , S. 2 6 3 .
plural
sein, übersetzt v o n
96
Iris Därmann
Heideggers Denken der Eigentlichkeit zielt paradoxerweise auf eine Bezwingung des Todes durch die Auslieferung an die Todesangst, deren affektive Passivität in eine befindliche Aktivität der Beherrschung und Konstitution des je eigenen Todes umschlagen soll: „Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst." 8 9 Die Rückhaltlosigkeit, mit der sich das Dasein „ständig" auf den prinzipiell enthüllenden Affekt der in den Tod vorlaufenden Angst und auf die „Bedrohung" des Seins zum Ende einzulassen hat 90 , bedarf aus Sicht Heideggers der ganzen Entschlossenheit des Mutes 9 1 und nimmt daher Z ü g e eines
heroischen
Sich-vorweg-Seins in der Sorge an, in welchem es dem Dasein ausschließlich um sich selbst geht 92 . Heideggers radikal formalisierte Analyse des Gewissens rehabilitiert darüber hinaus ein tragisches Schuldverständnis im Sinne eines „ursprünglichen Schuldigseins" 9 3 , das sich im Anrufgeschehen der imperativen Stimme des Gewissens artikuliert und das Dasein in die Unheimlichkeit des ursprünglich geworfenen In-der-Welt-Seins versetzt. Diese schuldlose Schuld an der eigenen Geworfenheit (Faktizität), hinter die das Dasein existierend niemals zurückkommt 94 , hat es freilich als nichtigen Grund seiner Entwürfe (Existenz) zu übernehmen 95 . Sodann stellt das so verstandene Sein zum Tode eine Erlösung Befreiung
von der Uneigentlichkeit und
zur eigentlichen Ganzheit und der als endlich verstandenen
Möglichkeit der Existenz in Aussicht: „Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Ver/orenheit in die zufällig
sich andrän-
genden Möglichkeiten, so zwar, dass es die faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen lässt. (...) W e i l das Vorlaufen in die unüberholbare Möglichkeit alle ihr vorgelagerten Möglichkeiten miterschließt, liegt in ihm die Möglichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins, das heißt die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen z u existieren." 9 6 „Das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit ermöglicht allererst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei." 9 7 „Am Sterben
89
Ebd., S . 2 6 6 .
90
Ebd., S . 2 6 5 .
91
Vgl. ebd., S. 2 5 4 : „Das Man lässt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht auf-
kommen." 92
Ebd., S. 3 0 8 : „Die Unbestimmtheit des T o d e s erschließt sich ursprünglich in der
Angst. Diese ursprüngliche Angst aber trachtet die Entschlossenheit sich zuzumuten." 93
Ebd., S. 2 8 6 .
94
Ebd., S . 2 8 4 .
95
Ebd., S. 2 8 7
96
Ebd., S. 2 6 4 .
97
Ebd., S . 2 6 2 .
Die Auferweckung des eigenen T o d e s
97
zeigt sich, dass der Tod ontologisch durch Jemeinigkeit und Existenz konstituiert ist." 9 8 In Sätzen dieses Zuschnittes kippt die Analytik schließlich in eine machtvolle Restauration jener Subjektphilosophie um, z u deren Destruktion die Fundamentalontologie gerade angetreten war. Als ultimum subiectum legt das Dasein den Grund der Ermöglichung seines eigenen Todes, den es sich im Vorlaufen als seine „eigenste Seinsmöglichkeit" und sein „eigenstes Seinskönnen" enthüllt. Eben weil der Tod als das vom Dasein Konstituierte ausgewiesen wird, stößt es in seinem Sein zum Tode auch nur auf die eigenste Möglichkeit seiner selbst. Dieser Möglichkeit ist nichts Fremdes, nichts Unzugängliches und nichts Unverständliches eingeschrieben. Das Dasein ist vielmehr z u einem „reinen Verstehen" der Eigenheit des Todes befähigt, den sterben z u „können" es sich im Vorlaufen z u ihm erschließt. Dabei handelt es sich in der Tat um einen vom Dasein konstituierten, verstandenen und gekonnten T o d , " der damit vielleicht das Äußerste an hermeneutischem Selbstverständnis, an Selbstaneignung und Selbstermächtigung bezeichnet, das dem Subjekt der abendländischen Philosophie jemals zugemutet und zugetraut worden ist. S o montiert Heidegger
Züge
eines heroischen, tragischen und erlösenden Todes, um das existenziell verbrämte, aber neuzeitlich-solipsistische Subjekt auf den höchsten Gipfel seiner Selbstverfügung z u setzen. Diese maßlose Hermeneutik opfert dem phantasmatischen Gewinn des Eigenen, Eigensten und Eigentlichen die mithafte Sterblichkeit einer Existenz z u zweit, z u dritt oder zu viert, die stets die geteilte Sterblichkeit der Liebe im Sinne des Mitsterbens ist. Freud und Heidegger verschließen nicht nur beide den Blick vor dem todesinsistenten Anblick der M a s k e und damit vor einer anderen Sterblichkeit, die nicht die Sterblichkeit des eigenen Daseins ist. In den heroischen Momenten ihrer ansonsten so unterschiedlichen Darstellungen des eigenen Todes teilen sie sich überdies jene Opfergewalt, die mit dem Ausschluss des geliebten Anderen sowohl in der unbewussten Leugnung des eigenen Todes als auch in dem entschlossenen Vorlaufen in den eigenen Tod einhergeht.
98
Ebd., S. 2 4 0 .
99
Dolf Sternberger, „Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideg-
gers Existenzial-Ontologie" ( 1 9 3 2 / 3 4 ) , in: ders., Über S . 6 9 - 2 6 4 , S. 105ff.
den Tod, Frankfurt a . M .
1981,
TERRY E A G L E T O N
D E A T H , EVIL A N D
NON-BEING'
Fundamentalists a r e b a s i c a l l y fetishists. For S i g m u n d Freud, a fetish is w h a t e v e r y o u use to p l u g s o m e o m i n o u s g a p ; a n d the u n n e r v i n g vac a n c y w h i c h f u n d a m e n t a l i s t s hasten to fill is simply the fuzzy, roughtextured, o p e n - e n d e d nature of h u m a n existence. It is n o n - b e i n g w h i c h f u n d a m e n t a l i s t s f e a r most. A n d w h a t t h e y p l u g it w i t h is d o g m a . This is a l a b o u r of Sisyphus, since n o n - b e i n g is w h a t w e a r e m a d e of. ' W e Irishmen,' o b s e r v e d the Irish p h i l o s o p h e r G e o r g e Berkeley, ' a r e a p t to think s o m e t h i n g a n d n o t h i n g to b e n e a r n e i g h b o u r s . ' Hum a n c o n s c i o u s n e s s is not a thing in itself, but is d e f i n a b l e o n l y in terms of w h a t it l o o k s at or thinks a b o u t . In itself, it is entirely e m p t y . D a v i d H u m e , p e r h a p s the g r e a t e s t of British p h i l o s o p h e r s , c o n f e s s e d that w h e n he l o o k e d into his m i n d he c o u l d f i n d n o t h i n g that w a s p u r e l y himself, as o p p o s e d to a p e r c e p t i o n or s e n s a t i o n of s o m e t h i n g else. Besides, b e c a u s e w e a r e historical a n i m a l s w e a r e a l w a y s in the process of b e c o m i n g , p e r p e t u a l l y o u t a h e a d of ourselves. B e c a u s e o u r life is a p r o j e c t rather t h a n a series of present m o m e n t s , w e c a n never a c h i e v e the s t a b l e identity of a m o s q u i t o or a pitchfork. Exhortations to s e i z e the d a y , m a k e h a y w h i l e the sun shines, live like there's no t o m o r r o w , g a t h e r r o s e b u d s a n d eat, drink a n d b e m e r r y a r e thus b o u n d to h a v e s o m e t h i n g of a c a l l o w ring to them. It is the v e r y f a c t that w e c a n n o t live in the present — that the p r e s e n t for us is a l w a y s p a r t of a n unfinished p r o j e c t - w h i c h c o n v e r t s o u r lives from c h r o n i c l e s to narratives. There is n o t h i n g p a r t i c u l a r l y p r e c i o u s in living like a g o l d fish. W e c a n n o t c h o o s e to live non-historically: history is q u i t e as m u c h our destiny as d e a t h . It is true that in a s o c i e t y w h i c h a c t u a l l y t r a d e s in futures, the lilies of the f i e l d m a y w e l l b e w o r t h imitating, e v e n t h o u g h it is h a r d to k n o w just w h a t it w o u l d feel like to live like a lily. If w e w e r e a b l e to live o n the spot, our e x i s t e n c e w o u l d n o d o u b t b e a g o o d d e a l less a g i t a t e d t h a n it is. But to bite the present m o m e n t to the c o r e , in the w o r d s of the p o e t E d w a r d T h o m a s , w o u l d b e to e x p e r i e n c e a k i n d of eternity. A s W i t t g e n s t e i n s a w , eternity, if it is a n y w h e r e , must b e here a n d n o w . A n d eternity is not for us. W i t h humans, there is a l w a y s m o r e b e i n g w h e r e that c a m e from. W e a r e a not-yet rather t h a n a n o w . O u r life is o n e of 1 Dieser B e i t r a g ist E a g l e t o n s Buch After
Theory
(Penguin UK, 2 0 0 4 ) e n t n o m m e n .
W i r d a r k e n d e m A u t o r für d i e Erlaubnis z u m N a c h d r u c k .
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desire, which hollows our existence to the core. If freedom is of our essence, then we are bound to give the slip to any exhaustive definition of ourselves. And if we are also self-contradictory beasts, suspended between earth and sky, the animal and the angelic, we are even more resistant to being defined or represented. Human beings are the joker in the pack, the dark stain at the centre of the landscape, the glory, jest and riddle of the world. For Pascal, humanity is a freak, 'a monster that passes all understanding'. W e are prodigious, chaotic and paradoxical: 'feeble earthworm, repository of truth ... glory and refuse of the universe!' 2 Man, Pascal concludes, 'transcends M a n ' . Violating or transgressing our nature is what comes naturally to us. In H e g e l ' s eyes, pure being is utterly indeterminate, and so indistinguishable from nothingness. For Schopenhauer, the self is a 'bottomless void'. For the anarchist M a x Stirner, humanity is a kind of 'creative nothing'. For Martin Heidegger, to live authentically is to embrace our own nothingness, accepting the fact that our existence is contingent, ungrounded and unchosen. For Sigmund Freud, the negativity of the unconscious infiltrates our every word and deed. Ideology is around to make us feel necessary; philosophy is on hand to remind us that we are not. T o see the world aright is to see it in the light of its contingency. And this means seeing it in the shadow of its own potential non-being. 'Whatever is,' writes Theodor Adorno, 'is experienced in relation to its possible non-being. This alone makes it fully a possession...' 3 To see something for real is to celebrate the felicitous accident of its existence. The modernist work of art, existing in an epoch without foundations, has somehow to manifest the truth that it might just as well never have existed, simply to be authentic. Treating itself provisionally is the nearest it can come to truth. This is one reason why irony is such a favoured modernist figure. Human beings, too, have to live ironically. To accept the unfoundedness of our own existence is among other things to live in the shadow of death. Nothing more graphically illustrates how unnecessary we are than our mortality. T o accept death would be to live more abundantly. By acknowledging that our lives are provisional, we can slacken our neurotic grip on them and thus come to relish them all the more. Embracing death is in this sense the opposite of taking a morbid fancy to it. Besides, if we really could keep death in mind, we would almost certainly behave a good deal more virtuously than we do. If we lived permanently at the point of death, it would presumably be easier to
2
Blaise Pascal, Pensees, London, 1 9 9 5 , p. 3 4 .
3 Theodor Adorno, Minima
Moralia,
London, 1974, p. 7 9 .
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T e r r y Eagleton
forgive our enemies, repair our relationships, a b a n d o n a s not w o r t h the trouble our latest campaign to buy up B a y s w a t e r and evict e v e r y last one of its tenants. It is partly the i l l u s i o n that w e w i l l live for ever which prevents us from d o i n g these things. Immortality and immorality are c l o s e l y allied. Death is both alien and intimate to us, neither w h o l l y strange nor purely o n e ' s o w n . T o this extent, o n e ' s relationship to it r e s e m b l e s o n e ' s relationship to other people, w h o are l i k e w i s e both f e l l o w s and strang e r s . Death may not be exactly a friend, but neither is it entirely an enemy. Like a friend, it can enlighten me about myself, though like an enemy it d o e s s o in w a y s I w o u l d on the w h o l e rather not hear. It can remind me of my creatureliness and finitude, of the fragile, ephemeral nature of my existence, of my o w n n e e d i n e s s and the vulnerability of others. B y learning from this, w e can turn facts into values. B y being w o v e n into our lives in this way, death can become l e s s daunting, l e s s of a baleful force w h i c h is s i m p l y out to tear us apart. It is indeed out to tear us apart; but in the p r o c e s s it can intimate to us something of h o w to live. A n d this is the kind of behaviour a p p r o p r i a t e to a friend. But it is not just that death can give us s o m e f r i e n d l y advice. It is a l s o that f r i e n d s can rescue us from death, or at least help to d i s a r m its terrors. T h e absolute self-abandonment which death d e m a n d s of us is o n l y tolerable if w e have r e h e a r s e d for it s o m e w h a t in life. T h e self-giving of f r i e n d s h i p is a kind of petit mort, an act with the inner structure of dying. T h i s , no doubt, is one meaning of S t Paul's dictum that w e die e v e r y moment. In this s e n s e death is one of the inner structures of s o c i a l existence itself. T h e ancient w o r l d believed its s o c i a l order had to be cemented by sacrifice, and it w a s perfectly correct. It w a s just that it tended to s e e such sacrifice in terms of libations and slaughtered g o a t s rather than a s a structure of mutual self-giving. O n c e s o c i a l institutions are s o o r d e r e d that such self-giving is reciprocal and all-round, sacrifice in the o d i o u s s e n s e of s o m e p e o p l e having to relinquish their h a p p i n e s s for the s a k e of others w o u l d be l e s s n e c e s s a r y . A society which is shy of death is a l s o likely to be rattled by foreigners. Both mark out the limits of our o w n lives, relativizing them in unpalatable w a y s . But in o n e s e n s e all others are foreigners.
My
identity lies in the keeping of others, and this - b e c a u s e they perceive me through the thick mesh of their o w n interests and d e s i r e s -
can
never be an entirely safe keeping. T h e self I receive back from others is a l w a y s rather s h o p s o i l e d . It is mauled by their o w n d e s i r e s -
which
is not to s a y their d e s i r e for me. But it remains the case that I can k n o w w h o I am or w h a t I am feeling o n l y by b e l o n g i n g to a l a n g u a g e w h i c h i s never my p e r s o n a l p o s s e s s i o n . It is o t h e r s w h o are the custodians of
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my selfhood. Ί borrow myself from others,' as the philosopher Maurice Merleau-Ponty remarks. 4 It is only in the speech I share with them that I can come to mean anything at all. T h i s meaning is not one I can ever fully possess, since neither can those who fashion it. T h i s is because it is not simply a matter of their opinions of me. If this were so, why not just ask them? It is a matter of the way in which my existence figures within their own lives in ways of which neither I nor they can ever be fully conscious. To trace the rippling effects on others of the most trifling of my actions, or just of my brute presence in the world, I would need to deploy a whole army of researchers. T h i s is not only a modern insight; it is also part of the teaching of the great Buddhist scholar Nagarjuna, for whom the self has no essence because it is bound up with the lives of countless others, the product of their choices and conduct. It cannot be lifted clear of this web of meanings. Besides, our lives take on part of their meaning posthumously: the future will always rewrite us, perhaps plucking comedy from what was tragedy at the time, or vice versa. T h i s is another sense in which the meaning of your life is bound to elude you while you are living it. W h a t you are does not end with your death. Death shows us the ultimate unmasterability of our lives, and therefore something of the bogusness of trying to master the lives of others. If I am intractable to myself, I can hardly demand instant pliability from others. O n l y by not mistreating oneself -
by accepting that you can
have no final dominion over yourself, that you are a stranger to yourself - can your dealings with yourself be a model for your dealings with others. One would not wish to be treated by some other people in the way they treat themselves. And this means renouncing the death-dealing ideology of the will. T h i s is just what the fundamentalist is unable to do. H e cannot accept contingency. H i s life anticipates death, but in all the wrong ways. Far from the reality of death loosening his neurotic grip on life, it tightens it to a white-knuckled intensity. The fundamentalist tries to outwit death by the crafty strategy of projecting its absolutism on to life, thus making life itself eternal and imperishable. But is it then life the fundamentalist is in love with, or death? W e have to find a way of living with non-being without being in love with it, since being in love with it is the duplicitous work of the death drive. It is the death drive which cajoles us into tearing ourselves apart in order to achieve the absolute security of nothingness. Non-being is the ultimate purity. It has the unblemishedness of all negation, the perfection of a blank page. 4
Maurice Merleau-Ponty, Signs,
Chicago, 1 9 6 4 , p. 159.
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There is, then, a profound paradox to fundamentalism. O n the one hand it is terrified of non-being, of the sheer sprawling gratuitousness of the material world, and wants to seal the fissures in this ramshackle structure with a stuffing of first principles, fixed meanings and self-evident truths. The w o r l d ' s contingency, its improvised air, reminds it intolerably of the fact that it could easily not exist. Fundamentalism is fearful of nihilism, having failed to notice that nihilism is simply the mirror-image of its own absolutism. The nihilist is almost always a disenchanted absolutist, the rebellious Oedipal child of the metaphysical father. Like his father, he believes that if values are not absolute, there are no values at all. If father was wrong, then nobody else can be right. There is, however, a deeper affinity between nihilism and fundamentalism. If fundamentalism detests non-being, it also is allured by the prospect of it, since nothing could be less open to misinterpretation. Non-being is the enemy of instability and ambiguity. You cannot argue over its content, since it has no content at all. It is as absolute and unmistakable as the moral law, as unequivocal as a cypher. The fundamentalist is an ascetic, who wants to purge the world of surplus matter. In doing so, he can cleanse it of its sickening arbitrariness and reduce it to strict necessity. The ascetic is revolted by the monstrous fecundity of matter, and is thus a prey to nothingness. For him, there is simply too much being around the place, not least - from the viewpoint of the Islamic fundamentalist - in the W e s t . The ascetic can find nothing around him but an obscene excess of matter, gorging upon itself in an orgy of consumerism. ( U S fundamentalists are somewhat less troubled by this excess of matter, some of which they are rather keen on eating.) Like some ghastly ectoplasm, this obese stuff o o z e s over the edge of every space and crams itself into every crevice. Its infinity is a grisly parody of immortality, and its dynamism only serves to conceal its deathliness. Death reduces us to sheer meaningless stuff, a condition which the commodity prefigures. For all its flashy eroticism, the commodity is an a l l e g o r y of death. If all this proliferating stuff is contingent - if there is no reason for its existence in the first place - then there seems nothing to stop you from blowing a big hole in it. T h i s is the project of the first suicide bomber in English literature, the crazed anarchist professor of Joseph Conrad's novel The Secret Agent. It is the obscenity of purposeless matter which the professor is out to destroy. Perhaps the first, catastrophic emergence of matter was itself the Fall. Perhaps the Fall and Creation coincide, so that only the violent obliteration of what exists will redeem us. The professor is an exterminating angel who is in love with annihilation
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103
for its own sake. H i s destruction is thus a mirror-image of the Creation, which is equally an end in itself. The death drive is not a purposeful narrative, but the ruin of all narrative. It destroys simply for the obscene pleasure of it. The perfect terrorist is a kind of Dadaist, striking not at this or that bit of meaning but at meaning as such. It is non-sense, he believes, which society cannot stomach - events so extravagantly motiveless that they liquidate meaning by beggaring speech. O r they are acts whose meaning could be understood only on the other side of an inconceivable transformation of everything we do - one so absolute that it would be an image of death itself. It is possible to see this simultaneous love and hatred of non-being in the narrative of N a z i s m . O n the one hand, the N a z i s were in love with death and non-being, gripped by a frenzy of destruction and dissolution. They destroyed Jews just for the hell of it, not for any overriding military or political purpose. O n the other hand, they murdered them because they seemed to embody a frightful non-being which they feared and detested. They feared it because it signified a dreadful non-being inside themselves. If N a z i s m was stuffed full of swollen rhetoric and extravagant idealism, it was also nauseously empty. It thus presented what might be called the two faces of evil. The fact that the word 'evil' has become popular in the W h i t e H o u s e as a way of shutting down analysis should not deter us from taking it seriously. Liberals tend to underplay evil, whereas conservatives tend to overestimate it. Some postmodernists, on the other hand, know of it mainly from horror movies. The conservatives are surely right to resist the liberal rationalists and sentimental humanists who seek to underrate the reality of evil. They point to its terrifying, obscene, traumatic nature, its implacable malice, its nihilistic mockery, its cynical resistance to being cajoled or persuaded. For their part, the liberals are surely right to claim that there is nothing necessarily transcendent going on here. Nothing could be more mundane than evil, which is not to say more common. Even a mild deprivation of parental love can be enough to turn us into monsters. There is a kind of evil which is mysterious because its motive seems not to be to destroy specific beings for specific reasons, but to negate being as such. Shakespeare's lago seems to fall into this rare category. Hannah Arendt speculates that the Holocaust was not so much a question of killing human beings for human reasons, as of seeking to annihilate the concept of the human as such. 5 T h i s sort of evil is a Satanic 5
See Richard J. Bernstein, Radical Evil, Cambridge 2 0 0 0 , p. 215.
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Terry E a g l e t o n
p a r o d y of the divine, f i n d i n g in the a c t of destruction the sort of o r g a s mic release w h i c h o n e c a n i m a g i n e G o d f i n d i n g in the a c t of c r e a t i o n . It is evil as nihilism — a c a c k l e of m o c k i n g l a u g h t e r at the w h o l e s o l e m n l y f a r c i c a l assumption that a n y t h i n g m e r e l y h u m a n c o u l d ever matter. In its v u l g a r l y k n o w i n g w a y , it delights in u n m a s k i n g h u m a n v a l u e as a pretentious sham. It is a r a g i n g , vindictive fury at existence as such. It is the evil of the N a z i d e a t h c a m p s rather t h a n of a hired assassin, or e v e n of a m a s s a c r e c a r r i e d out for s o m e p o l i t i c a l e n d . It is not the s a m e kind of evil as most terrorism, w h i c h is m a l i g n but w h i c h has a point. The o t h e r f a c e of evil a p p e a r s e x a c t l y the o p p o s i t e . This kind of evil w a n t s to d e s t r o y n o n - b e i n g rather t h a n c r e a t e it. It sees n o n - b e i n g as slimy, i m p u r e a n d insidious, a n a m e l e s s threat to o n e ' s integrity of selfh o o d . This d r e a d f u l infiltration of o n e ' s identity has n o p a l p a b l e f o r m in itself, a n d thus p r o v o k e s p a r a n o i a in its s u p p o s e d victims. It is e v e r y w h e r e a n d n o w h e r e . It t h e r e f o r e b r e e d s a desire to l e n d this h i d e o u s f o r c e a l o c a l n a m e a n d h a b i t a t i o n . The n a m e s a r e in f a c t l e g i o n : Jew, A r a b , C o m m u n i s t , w o m a n , h o m o s e x u a l , or i n d e e d most p e r m u t a t i o n s of the set. This is evil as s e e n from the s t a n d p o i n t of those w h o h a v e a surfeit of b e i n g rather t h a n a n i n s u f f i c i e n c y of it. They c a n n o t a c c e p t the u n s p e a k a b l e truth that the slimy, c o n t a g i o u s stuff t h e y w a g e w a r u p o n , far from b e i n g alien, is as c l o s e to them as b r e a t h i n g . N o n - b e i n g is w h a t w e a r e m a d e of. A b o v e all, t h e y c a n n o t a c k n o w l e d g e desire, since to d e s i r e is to lack. I n s t e a d of h o l d i n g fast to their desire, t h e y stuff it full of fetishes. To d o this is a l s o to d i s a v o w the purest v a c a n c y of all, d e a t h , w h i c h the h o l l o w at the h e a r t of o u r l o n g i n g prefigures. Perhaps this c a n h e l p t o e x p l a i n w h y so m a n y w e r e m u r d e r e d in the H o l o c a u s t . There is a d i a b o l i c a l a t t r a c t i o n in the i d e a of a b s o l u t e destruction. The p e r v e r s e p e r f e c t i o n of the s c h e m e , the u n f l a w e d purity of it, the l a c k o f messy l o o s e e n d s or c o n t i n g e n t left-overs, is w h a t s e d u c e s the nihilistic mind. In a n y c a s e , to l e a v e e v e n the slightest f r a g m e n t of this n o n - b e i n g intact is to a l l o w it to s p a w n a n d s m o t h e r y o u o n c e more. The t r o u b l e is that n o n - b e i n g , b y definition, c a n n o t b e d e s t r o y e d . The entire e n t e r p r i s e is i n s a n e l y self-defeating, as y o u try to e x t e r m i n a t e n o n - b e i n g b y c r e a t i n g e v e n m o r e of the stuff a r o u n d y o u . C a u g h t in this s a v a g e l y d e s p a i r i n g circle, t h e w h o l e p r o j e c t is inc a p a b l e of c o m i n g to a n e n d , w h i c h is a n o t h e r r e a s o n w h y it d e v o u r s so m a n y lives. A further r e a s o n is that the u r g e to a n n i h i l a t e is really in l o v e w i t h itself - rather as the d r i v e to a c c u m u l a t e e n d s up b y t a k i n g itself as the o b j e c t of its o w n desire, tossing a s i d e the v a r i o u s o b j e c t s it stumbles a c r o s s like a sulky child, a n d r e a p i n g satisfaction o n l y from its o w n p e r p e t u a l m o t i o n . In a n y c a s e , as l o n g as y o u a r e alive, y o u will never b e a b l e to extinguish the n o n - b e i n g at the h e a r t of yourself.
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The kind of evil which fears for its own fullness of being involves a megalomaniac overvaluing of the self. Hell is the living death of those who regard themselves as too valuable to die. W h e r e a s the kind of evil which reaps obscene delight from the dissolution of the self, fuelled as it is by what Freud knows as the death drive, seeks to expunge value itself. In the epoch of modernity, these two drives become lethally intertwined - for the point about the rampantly assertive will, the sovereign source of all value, is that it crushes the things around it to nothing, and thus leaves them worthless and depleted. It is this deadly combination of voluntarism and nihilism which among other things characterizes the modern era. There is a stark image of it in Gerald Crich of D. H. Lawrence's novel Women in Love, an animated vacancy leashed together only by the sheer inward force of his will-power. The manic affirmation of the self becomes a defence against its sweetly seductive emptiness. Evil is just this dialectic pressed to a horrific extreme. The typical modern dilemma, in short, is that both expressing and repressing the death drive leave you drained of being. Indeed, the rapacious will is just the death drive turned outwards, a way of cheating death which flees straight into its alluring embrace. The subject of modernity asserts his Promethean will in a void of his own creating, one which reduces the works of the will itself to nothing. In subjugating the world around it, the will abolishes all constraints upon its own action, but in the same act undercuts its own heroic projects. W h e n all is permitted, nothing is valuable. The godlike self is the one most anguished in its solitude. Postmodernism likewise dissolves away constraints, but it breaks the deathly circuit of nihilism and voluntarism by liquefying the will as well. The autonomous self is dismantled, as freedom is detached from the dominative will and relocated in the play of desire. The two faces of evil are secretly one. W h a t they have in common is a horror of impurity. It is just that this can sometimes present itself as an unspeakable slime which invades your fullness of being, and sometimes as the sickening surplus of being itself. For those who feel that being itself is obscenely spawning, purity lies in non-being. Their desire, to adopt Wittgenstein's words, is to scramble from the rough ground to the pure ice. The fundamentalist, of course, is not necessarily evil. But he reaches for his watertight principles because he feels an abyss of non-being yawning beneath his feet. It is the unbearable lightness of being which causes him to feel so heavy. The most popular alternative to fundamentalism at the moment is some form of pragmatism. Indeed, the United States is split down the middle between the two. But to pit the latter against the former is in some ways like proposing oxygen as a pallia-
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Terry Eagleton
tive to fire. Pragmatism m a y usefully c o u n t e r the b i g o t r y of f u n d a m e n t a l ism, but it a l s o h e l p s to b r e e d it. It is b e c a u s e a p r a g m a t i c s o c i a l o r d e r spurns f u n d a m e n t a l values, r i d i n g r o u g h s h o d over p e o p l e ' s pieties a n d t r a d i t i o n a l a l l e g i a n c e s , that men a n d w o m e n b e g i n to assert their identities so virulently. Family v a l u e s a n d sex for sale a r e sides of the s a m e c o i n . For e v e r y c o r p o r a t i o n e x e c u t i v e in search of a fresh c o r n e r of the g l o b e to exploit, there is a nationalist t h u g w h o is p r e p a r e d to kill to k e e p him out. In a n y c a s e , states w h i c h w o r s h i p the a n a r c h y of the m a r k e t p l a c e n e e d to secrete a f e w a b s o l u t e v a l u e s up their sleeve. The m o r e d e v a s t a t i o n a n d instability a n u n b r i d l e d m a r k e t creates, the m o r e illiberal a state y o u n e e d to c o n t a i n it. As f r e e d o m c o m e s to b e d e f e n d e d b y m o r e b r u t a l l y a u t h o r i t a r i a n m e a n s , the g a p b e t w e e n w h a t y o u a c t u a l l y d o a n d w h a t y o u c l a i m to b e l i e v e in g r o w s d i s a b l i n g l y a p p a r e n t . This is not a p r o b l e m for the k i n d of Islamic f u n d a m e n t a l i s m w h i c h s i m p l y w a n t s a b r u t a l l y b e n i g h t e d state, rather t h a n e n l i g h t e n e d v a l u e s def e n d e d by increasingly benighted means. W h e n the v e r y f o u n d a t i o n s of y o u r c i v i l i z a t i o n a r e literally u n d e r fire, h o w e v e r , p r a g m a t i s m in the t h e o r e t i c a l sense of the w o r d seems a l t o g e t h e r t o o l i g h t w e i g h t , l a i d - b a c k a response. W h a t is n e c e s s a r y i n s t e a d is to o p p o s e a b a d sense of n o n - b e i n g w i t h a g o o d o n e . W e h a v e s e e n that there is a f a s c i n a t i o n w i t h n o n - b e i n g , as w e l l as a d i s a v o w a l of it, w h i c h a r e t y p i c a l of c e r t a i n kinds of evil. But there is a n o t h e r sense of n o n - b e i n g w h i c h is constructive rather than c o r r o s i v e . O n e recalls the Irish novelist Laurence Sterne putting in a g o o d w o r d for the i d e a of n o t h i n g , c o n s i d e r i n g , as he remarks, ' w h a t w o r s e things there a r e in the w o r l d ' . There is a fertile form of dissolution as w e l l as a sinister o n e . It c a n b e g l i m p s e d in M a r x ' s r e f e r e n c e to the p r o l e t a r i a t as a 'class w h i c h is the dissolution of all classes', signifying as it d o e s ' a total loss of h u m a n i t y ' . It represents the ' n o n - b e i n g ' of those w h o h a v e b e e n shut o u t of the current system, w h o h a v e no real stake in it, a n d w h o thus serve as a n e m p t y signifier of a n a l t e r n a t i v e future. A n d this is a c o n s t a n t l y g r o w i n g p o p u l a t i o n . It is, to b e sure, e x a c t l y a m o n g the w r e t c h e d a n d d i s p o s s e s s e d that f u n d a m e n t a l i s m finds its most fertile b r e e d i n g g r o u n d . In the figure of the s u i c i d e b o m b e r , the n o n - b e i n g of d i s p o s s e s s i o n turns into a m o r e d e a t h l y k i n d of n e g a t i o n . The s u i c i d e b o m b e r d o e s not shift from despair to h o p e ; his w e a p o n is d e s p a i r itself. There is a n a n c i e n t t r a g i c faith that strength f l o w s from the v e r y d e p t h s of a b j e c t i o n . T h o s e w h o fall to the b o t t o m of the system a r e in a sense free of it, a n d thus at liberty to b u i l d a n a l t e r n a t i v e . If y o u c a n fall n o further y o u c a n o n l y m o v e u p w a r d s , p l u c k i n g n e w life from the j a w s of d e f e a t . To h a v e n o t h i n g to
D e a t h , Evil a n d N o n - b e i n g
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lose is to b e f o r m i d a b l y p o w e r f u l . Yet it is c l e a r that this t r a g i c f r e e d o m c a n t a k e o n destructive forms like terrorism q u i t e as much as it c a n l e a d to m o r e positive currents of s o c i a l c h a n g e . O u r present p o l i t i c a l o r d e r is b a s e d u p o n the n o n - b e i n g of h u m a n d e p r i v a t i o n . W h a t w e n e e d to r e p l a c e it w i t h is a p o l i t i c a l o r d e r w h i c h is a l s o b a s e d u p o n n o n - b e i n g - but n o n - b e i n g as a n a w a r e n e s s of hum a n frailty a n d u n f o u n d e d n e s s . O n l y this c a n stem the hubris to w h i c h f u n d a m e n t a l i s m is a d e s p e r a t e , d i s e a s e d r e a c t i o n . T r a g e d y reminds us of h o w h a r d it is, in c o n f r o n t i n g n o n - b e i n g , not to u n d o ourselves in the p r o c e s s . H o w c a n o n e l o o k u p o n that horror a n d live? A t the s a m e time, it reminds us that a w a y of life w h i c h lacks the c o u r a g e to m a k e this traumatic e n c o u n t e r finally lacks the strength to survive. O n l y t h r o u g h e n c o u n t e r i n g this failure c a n it flourish. The n o n - b e i n g at the h e a r t of us is w h a t disturbs our d r e a m s a n d f l a w s our projects. But it is a l s o the p r i c e w e p a y for the c h a n c e of a b r i g h t e r future. It is the w a y w e k e e p faith w i t h the o p e n - e n d e d nature of humanity, a n d is thus a s o u r c e of h o p e . W e c a n never b e 'after t h e o r y ' , in the sense that there c a n b e n o reflective h u m a n life w i t h o u t it. W e c a n simply run out of p a r t i c u l a r styles of thinking, as our situation c h a n g e s . W i t h the l a u n c h of a n e w g l o b a l narrative of c a p i t a l i s m , a l o n g w i t h the s o - c a l l e d w a r o n terror, it m a y w e l l b e that the style of thinking k n o w n as p o s t m o d e r n i s m is n o w a p p r o a c h i n g a n e n d . It w a s , after all, the t h e o r y w h i c h a s s u r e d us that g r a n d narratives w e r e a thing of the past. Perhaps w e w i l l b e a b l e to see it, in retrospect, as o n e of the little narratives of w h i c h it has b e e n so f o n d . This, h o w e v e r , presents cultural t h e o r y w i t h a fresh c h a l l e n g e . If it is to e n g a g e w i t h a n a m b i t i o u s g l o b a l history, it must h a v e a n s w e r a b l e resources of its o w n , e q u a l in d e p t h a n d s c o p e to the situation it confronts. It c a n n o t a f f o r d simply to k e e p r e c o u n t i n g the s a m e narratives of class, r a c e a n d g e n d e r , i n d i s p e n s a b l e as these t o p i c s are. It n e e d s to c h a n c e its a r m , b r e a k o u t of a rather stifling o r t h o d o x y a n d e x p l o r e n e w topics, not least t h o s e of w h i c h it has so far b e e n unreas o n a b l y shy. This b o o k has b e e n a n o p e n i n g m o v e in that inquiry.
KATHLEEN Μ .
FOLEY
T R A N S F O R M I N G T H E CULTURE OF DEATH IN
AMERICA
In the last 2 0 years, there has been a growing awareness of the need to improve the care of the dying both in the United States and internationally. Clearly the experience of dying has changed over the past several decades with many more people enduring prolonged death as a consequence of chronic and progressive disease. N e e d l e s s suffering, physical, emotional and existential and spiritual, too often accompanies death for both dying patients and survivors. In the United States, a national dialogue on the care of the dying began initially framed around the issues of patient autonomy and a patient's right to a dignified death. T h i s dialogue expanded its scope with the recognition of the more complicated challenges driving concerns about care at the end of life. These include a rapidly aging population, the changing trajectory of chronic illness, advancements in high technological support systems for patients with respiratory and cardiac failure, significant limitations in healthcare resources and a debate on the constitutionality of physician assisted suicide. These issues peculiar to our age have made those who are dying in our culture profoundly vulnerable creating an environment that particularly threatens patients with terminal illness. M a j o r studies both in the United States and internationally have identified significant barriers to appropriate, humane, compassionate care for patients and families at the end of life. Numerous factors have been identified that hinder efforts to improve the experience of dying for patients and their families including deficiencies in the healthcare system, serious weaknesses in the education of healthcare professionals, major inadequacies in our knowledge of the course, treatment and outcomes of dying patients and their families and society's denial of the inevitability of death. M a n y of these issues were starkly identified in a pivotal study to understand prognoses and preferences for outcomes and risks of treatment ( S U P P O R T ) . 1 T h i s two-phased study of almost 1 0 , 0 0 0 patients in five major U . S . hospitals revealed that patient and family communication with healthcare professionals about care at the end-of-life w a s
1 S U P P O R T Principal Investigators. A controlled trial to improve care for seriously ill hospitalized patients: The Study to Understand Prognoses and Preferences for Outcomes and Risks of Treatments (SUPPORT), JAMA
1995, 274: 1 5 9 1 - 1 5 9 8 .
T r a n s f o r m i n g the C u l t u r e of D e a t h in A m e r i c a
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p o o r , the cost of c a r e d e p l e t e d s o m e family's life savings, a n d 5 0 % of patients e x p e r i e n c e d m o d e r a t e to severe p a i n in the last three d a y s of life. Interventions to a d d r e s s these issues w e r e not successful. Population b a s e d survey d a t a of A m e r i c a n s c o n c u r r e d w i t h the o b s e r v a t i o n s in this study. T h e s e i n a d e q u a c i e s of c a r e w e r e a l s o i d e n t i f i e d in the c a r e of d y i n g children. W o l f e , et al., from a n i n t e r v i e w study of p a r e n t s of child r e n w h o d i e d of c a n c e r s h o w e d i n a d e q u a t e s y m p t o m c o n t r o l a n d i n c r e a s e d suffering in c h i l d r e n at the e n d of life. 2 A l s o there w e r e significant disparities in c a r e r a n g i n g from limiting a c c e s s to a d e q u a t e p a i n m a n a g e m e n t a n d a c c e s s to h o s p i c e serv i c e s s u g g e s t i n g a n e e d to a d d r e s s these systemic p r o b l e m s in the U.S. h e a l t h c a r e system. It w a s a g a i n s t this b a c k d r o p that the Project o n D e a t h in A m e r i c a (PDIA) w a s c r e a t e d in O c t o b e r 1 9 9 4 w i t h its mission to u n d e r s t a n d a n d transform the culture a n d e x p e r i e n c e of d y i n g t h r o u g h initiatives in r e s e a r c h a n d s c h o l a r s h i p , the arts a n d humanities, t h r o u g h i n n o v a t i o n s in the p r o v i s i o n o f c a r e , t h r o u g h p u b l i c a n d p r o f e s s i o n a l e d u c a t i o n a n d t h r o u g h p u b l i c p o l i c y . PDIA is a p r o g r a m of the O p e n S o c i e t y Institute, a non-profit f o u n d a t i o n c r e a t e d b y G e o r g e S o r o s to s u p p o r t the d e v e l o p m e n t of o p e n societies w o r l d w i d e (see t a b l e 2 . ) . M r . S o r o s e s t a b l i s h e d the p r o j e c t b e c a u s e of his o w n e x p e r i e n c e w i t h the d e a t h s o f his parents. PDIA c o m m i t t e d 4 5 million d o l l a r s over a nine-year p e r i o d (from O c t o b e r 1 9 9 4 to D e c e m b e r 2 0 0 3 ] to f u n d initiatives to i m p r o v e e n d of life c a r e in the U n i t e d States a n d c o l l a b o r a t e d w i t h n u m e r o u s other f u n d e r s to s u p p o r t c o m m u n i t y b a s e d , state a n d n a t i o n a l efforts p r o v i d i n g m o r e t h a n 3 0 0 million d o l l a r s to a d d r e s s the b a r r i e r s a n d chall e n g e s to a d v a n c e h o s p i c e a n d p a l l i a t i v e c a r e a n d to i m p r o v e e n d of life c a r e for all A m e r i c a n s . A s the Project b e g a n to d e v e l o p its s t r a t e g y for f u n d i n g , there w e r e n u m e r o u s e x a m p l e s of barriers that r e s o n a t e d w i t h the A m e r i c a n p a triot Patrick H e n r y ' s f a m o u s q u o t e " g i v e m e liberty or g i v e m e d e a t h , " w h i c h e p i t o m i z e s a n A m e r i c a n ' s p e r s p e c t i v e of d e a t h as a s e c o n d c h o i c e . W h a t b e c a m e c l e a r w a s that the A m e r i c a n culture w a s so intent o n c u r i n g d i s e a s e a n d p r o l o n g i n g life that it f a i l e d to p r o v i d e s u p p o r t d u r i n g life's most e m p h a t i c p h a s e s , d e a t h . The a d v a n c e s in our high t e c h n o l o g y interventions h a d d e l u d e d b o t h d o c t o r s a n d patients 2 W o l f e J., G r i e r H.E., Klar Ν . , S a l e m S c h a t z S , E m m a n u e l E.J., W e e k s J.C., "Physician-assisted suicide a n d e u t h a n a s i a : e x p e r i e n c e s a n d attitudes a m o n g parents of child r e n w h o h a v e d i e d of c a n c e r " , Proc A S C O 1 9 9 9 : 18: 5 7 7 a .
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Kathleen Μ . Foley
into believing that the inevitable could be delayed almost indefinitely. Death had replaced sex as the taboo subject of our times. T h i s denial of death was coupled with a dearth of epidemiologic data on how Americans die, where they die, how were their symptoms managed and how were they cared for. One of the early initiatives of the Project on Death in America was to join together with other funders to support an evidence based review of the care of the dying in the United States. These reviews by the Institute of Medicine of the National Academies of Sciences led to three reports on palliative care for adults, for children and a separate report on palliative care for cancer patients. 3 All three of the reports identified serious limitations in care and provided numerous evidence based recommendations. The importance of these reports were that they provided a blueprint for a way forward and served as the critical technological review of both the need for and the evidence to advance improved care of the dying in the United States. These reports have also importantly provided both the symbolic language and insightful policy recommendations to spearhead significant changes in healthcare policy and service delivery. In its first report entitled "Approaching Death," the Institute of Medicine strongly indicted healthcare professionals' lack of knowledge and education as one of the major barriers to improving end-of-life care. The report pointed to significant organizational, economic, legal and educational barriers that could be identified and remedied. It also identified the significant gaps in scientific knowledge that needed attention from biomedical, social science, and health services researchers to guide policy change. The report offered seven recommendations that decision makers could implement and these are summarized in table 1. " W h e n Children Die" is the title of the Institute of Medicine's report on the issues of providing end-of-life care for children. T h i s document stressed a theme that "too often children with fatal or potentially fatal conditions and their families fail to receive competent, compassionate, consistent care that meets their physical, emotional and spiritual needs." T h i s forthright document clearly defined the barriers to providing care to children and again offered 10 recommendations as a
3
Institute of Medicine Report, Approaching
death, National Academy Press, W a s h -
ington, DC. 1 9 9 7 ; National Cancer Policy Board, Improving Care for Children
Palliative
and
End-oi-Lile
and Their Families, Washington, D.C, National Academy Press 2 0 0 2 ;
National Cancer Policy Board, Improving National Academy Press 2 0 0 1 .
Palliative
Care lor Cancer, Washington, D.C.,
T r a n s f o r m i n g the C u l t u r e of D e a t h in A m e r i c a
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f r a m e w o r k for p o l i c y b y e m p h a s i z i n g the s p e c i a l a n d u n i q u e issues c h i l d r e n with life t h r e a t e n i n g illnesses a n d their families f a c e . A third I O M r e p o r t entitled " I m p r o v i n g Palliative C a r e for C a n c e r " w h i c h w a s s u p p o r t e d b y the N a t i o n a l C a n c e r Policy B o a r d f o c u s e d p a r t i c u l a r l y o n the n e e d s of c a n c e r patients but a g a i n a r g u e d that for further a c t i o n , p a l l i a t i v e c a r e n e e d e d to b e o r g a n i z e d , c a t a l y z e d a n d institutionalized w i t h i n the N a t i o n a l C a n c e r Institute a n d t h r o u g h o u t a w i d e r a n g e of g o v e r n m e n t a n d n o n - g o v e r n m e n t a l a g e n c i e s . A m o n g its r e c o m m e n d a t i o n s , it c a l l e d for centers of e x c e l l e n c e in c a n c e r centers, the e d u c a t i o n of o n c o l o g y h e a l t h c a r e p r o f e s s i o n a l s a n d strongly emp h a s i z e d the c o n c e p t that a v a i l a b i l i t y a n d e m p h a s i s o n s y m p t o m c o n trol, p s y c h o s o c i a l distress a n d q u a l i t y of life of patients s h o u l d not b e a n e i t h e r / o r issue in a q u a l i t y c a n c e r c a r e system. The r e p o r t c l e a r l y i d e n t i f i e d the b a r r i e r of h o s p i c e b e n e f i t restrictions f o r c i n g A m e r i c a n s t o c h o o s e b e t w e e n either a g g r e s s i v e l y f i g h t i n g their c a n c e r or h a v i n g g o o d s y m p t o m c o n t r o l a n d other a s p e c t s of p a l l i a t i v e c a r e . These p u b l i c a t i o n s h e l p e d to f r a m e the e v i d e n c e b a s e a n d direction for d e v e l o p i n g p o l i c y initiatives, s u p p o r t i n g research a n d a d v a n c ing e d u c a t i o n . The r e c o m m e n d a t i o n s in these reports s e r v e d as the u n d e r p i n n i n g s to o u r g r a n t m a k i n g activities. A m a j o r r e c o m m e n d a tion d o m i n a t i n g all three of the I O M reports w a s the n e e d to p r o v i d e h e a l t h c a r e p r o f e s s i o n a l s w i t h k n o w l e d g e a n d skills in e n d of life c a r e . This c l e a r l y w a s consistent w i t h PDIA's s t r a t e g y to c r e a t e a Faculty S c h o l a r s P r o g r a m , a S o c i a l W o r k Leaders P r o g r a m , a n d to s u p p o r t N u r s i n g L e a d e r s h i p initiatives. A l m o s t half of PDIA's funds o v e r the nine y e a r p e r i o d w e r e u s e d to s u p p o r t these p r o g r a m s . The Faculty S c h o l a r s P r o g r a m w a s d e v e l o p e d w i t h the b e l i e f that, in m e d i c i n e , role m o d e l s w h o a r e r e s p e c t e d as clinicians, e d u c a t o r s a n d researchers a r e the best a g e n t s for institutionalizing c h a n g e . O u r g o a l w a s to p r o m o t e the visibility a n d p r e s t i g e of clinicians c o m m i t t e d to end-of-life c a r e a n d to e n h a n c e their a c a d e m i c careers. W e c h o s e i n d i v i d u a l s w h o w e r e c o m m i t t e d to c r e a t i n g c h a n g e in their a c a d e m i c f i e l d s of m e d i c i n e in o n c o l o g y , geriatrics, p e d i a t r i c s , psychiatry, neur o l o g y , bioethics, f a m i l y m e d i c i n e a n d nursing a n d w h o in the d e v e l o p m e n t of their l o c a l p r o g r a m s c o u l d institutionalize c h a n g e in their c l i n i c a l p r a c t i c e , e d u c a t i o n a l a n d research environment. The P r o g r a m d e v e l o p e d into a n intellectually vibrant, mutually s u p p o r t i v e a n d cross fertilizing n e t w o r k of c o l l e a g u e s . In its nine years, 8 7 Faculty S c h o l a r s w e r e c h o s e n t h r o u g h a c o m petitive a p p l i c a t i o n p r o c e s s from a g e o g r a p h i c a l l y a n d a c a d e m i c a l l y diverse p o o l of a p p l i c a n t s . They n o w serve as a n influential g r o u p of alumni, w h o a r e the m a j o r l e a d e r s in a d v a n c i n g end-of-life c a r e in the
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United States, and they have been successful in obtaining additional grant funding to continue their work in end-of-life care issues, and they are now serving as mentors to a second generation of scholars. PDIA also established a Social W o r k
Development
Leadership
Awards Program to ensure that social workers can provide essential psychosocial support to terminally ill patients and their families through counseling, case management and advocacy services. These awards promoted innovative research and training projects that reflect collaboration between schools of social work and practice sites. Forty-four social work leaders in academic and clinical settings received two-year awards and achieved national recognition for specific projects aimed at advancing the field. These projects have ranged from fellowship training, development of assessment and interventional tools, curriculum design and the creation of communication networks. The PDIA social work leaders have worked at a national level to focus professional attention on the role of social work in end-of-life care and through a Social W o r k Summit on End-of-Life and Palliative Care, these leaders formed a consortium to advance priorities developed at the Summit in helping to frame the profession's capacity and commitment to meet the needs of dying people and their loved ones. PDIA also funded major initiatives by the nursing profession in palliative care. The first was the Nursing Leadership Consortium on End-ofLife Care which brought together key nursing organizations to develop a coordinated and collaborative nursing agenda within the areas of practice, policy, research and education. A second was the Nursing Leadership Institute on End-of-Life Care which w a s based at Johns H o p k i n s University and was focused on advancing the profession's agenda to improve end-of-life care by increasing the leadership capacity of nurses. Concurrent with these leadership awards, the PDIA developed a broad based grants program, which initially defined seven priority areas for funding (see Table 2). These projects ranged in awards from $ 5 , 0 0 0 to $ 3 0 0 , 0 0 0 and all addressed important issues related to the care of the dying. Examples of funded projects included support for bridging programs for families in which patients dying from A I D S helped to create foster care alternatives for their children, underwriting the M i s s o u l a Community Project to study death and dying in the community setting, supporting a model home care program for homeless substance abusers dying of A I D S and cancer in Washington, DC, and a major grant to the United Hospital Fund in N e w York City to develop a program to establish palliative care programs in 12 N e w York City Hospitals
T r a n s f o r m i n g the C u l t u r e of D e a t h in A m e r i c a
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O n e c o m p o n e n t of the grants p r o g r a m w a s to e m p h a s i z e the imp o r t a n t role of c o m m u n i t i e s in a d d r e s s i n g the n e e d for b e r e a v e m e n t services. PDIA t h r o u g h its C o m m u n i t y S u p p o r t for G r i e f a n d B e r e a v e ment Initiatives f u n d e d i n n o v a t i v e strategies for m a k i n g i n d i v i d u a l a n d c o m m u n i t y b e r e a v e m e n t services a v a i l a b l e a n d for d e v e l o p i n g l o c a l educational bereavement programs. To e m p h a s i z e the c o n t r i b u t i o n s of the arts a n d humanities in transf o r m i n g the culture of d e a t h , PDIA e n c o u r a g e d artists from the literary, visual a n d p e r f o r m i n g arts to identify, c r e a t e a n d c o n v e y m e a n i n g in f a c i n g disability a n d d e a t h a n d to d e e p e n o u r u n d e r s t a n d i n g of the d i v e r s e myths a n d m e t a p h o r s that s h a p e the e x p e r i e n c e of suffering, d y i n g a n d b e r e a v e m e n t . T h r o u g h this Arts a n d H u m a n i t i e s Initiative, PDIA f u n d e d a total of 19 p r o p o s a l s in v i d e o , p h o t o g r a p h y , p o e t r y , essays, d a n c e a n d a r t w o r k that e x p r e s s e d i n d i v i d u a l a n d c o m m u n i t y e x p e r i e n c e s of illness, d e a t h a n d grief e n c o u r a g i n g c o n v e r s a t i o n a n d thoughtful reflection. I n c l u d e d in this p r o j e c t a r e E u g e n e Richard 's Auburn : A V i d e o D o c u m e n t a r y , w h i c h e l u c i d a t e s a n d p e r s o n a l i z e s a g i n g t h r o u g h the lives of the o l d e s t o l d p e o p l e , a g e d 8 0 to 1 0 0 , in A u b u r n , N e b r a s k a ; a n d a n e x p l o r a t i o n of c o n t e m p o r a r y e x p e r i e n c e s of d y i n g in A l l a n S h a p i r o ' s b o o k of p o e m s "The D e a d A l i v e a n d Busy". O n e of the u n d e r l y i n g p r i n c i p l e s of all of the efforts of the Project o n D e a t h in A m e r i c a w a s to f o c u s o n the n e e d s of v u l n e r a b l e p o p u l a t i o n s a n d to better u n d e r s t a n d the o b s t a c l e s they e n c o u n t e r in pursuit of a p p r o p r i a t e end-of-life c a r e . In e a c h of our f u n d i n g c y c l e s , w e a d d e d a series of s p e c i a l initiatives for v u l n e r a b l e p o p u l a t i o n s w i t h s p e c i a l attention to children, prisoners a n d minorities. B e c a u s e i n c r e a s i n g n u m b e r s of prisoners a r e d y i n g w i t h o u t a c c e s s to c o m p a s s i o n a t e release, the Project o n D e a t h in A m e r i c a t o g e t h e r w i t h the O p e n S o c i e t y Institute P r o g r a m C r i m e , C o m m u n i t y a n d C u l t u r e s p o n s o r e d t w o n a t i o n a l m e e t i n g s o n d y i n g in prisons a n d jails a n d d e v e l o p e d a short d o c u m e n t a r y o n the d e v e l o p m e n t of the h o s p i c e prog r a m in A n g o l a Prison. A s a result of these efforts, there a r e a series of b r o a d b a s e d initiatives in prisons a n d jails t h r o u g h o u t the U n i t e d States to a d v a n c e the c a r e of the d y i n g prisoners a n d to m a k e a v a i l a b l e to t h e m a p p r o p r i a t e p a i n a n d p a l l i a t i v e c a r e m e a s u r e s t h r o u g h the d e v e l o p m e n t of g u i d e l i n e s , e d u c a t i o n a l initiatives for prison h e a l t h c a r e p r o f e s s i o n a l s in p a i n a n d s y m p t o m m a n a g e m e n t a n d p o l i c y c h a n g e s to a l l o w for the d e v e l o p m e n t of h o s p i c e c a r e in the prison system, PDIA d e v e l o p e d a n A f r i c a n A m e r i c a n Initiative w h i c h i d e n t i f i e d s p e c i f i c barriers to the provision of end-of-life c a r e for minorities. This initiative i d e n t i f i e d the serious c h a l l e n g e s in b o t h a c c e s s to a n d use of p a l l i a t i v e c a r e services b y A f r i c a n A m e r i c a n s . The initiative i d e n t i f i e d
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Kathleen Μ . Foley
significant distrust in the healthcare system by African Americans w h o view hospice and palliative care as second class care. It also identified the lack of appropriate culturally competent programs to care for patients of color. Through a series of innovative initiatives and the development of a specific curriculum on end-of-life care for minority physicians serving minority communities entitled APPEAL, solutions to address these major barriers have been developed. Emphasis has been placed on healthcare professional and public, community based education through faith- based organizations with model programs at North General Hospital in Harlem in N e w York City and at the Center to Improve End-of-Life Care at Duke University in Durham, North Carolina. Another special initiative focused on addressing h o w economic disincentives prevent appropriate, compassionate care at the end-oflife. Through efforts to work with economists a n d healthcare policy experts, PDIA supported Americans for Better C a r e of the Dying (ABCD), a grassroots organization created to address patient's economic a n d policy concerns. This initiative led by Dr. Joanne Lynn, a leading expert in policy a n d financing issues on end-of-life care a n d the major author of the Support Study has led a grassroots initiative to address the inadequacies in the M e d i c a r e benefits to meet the chronic care needs of seriously ill a n d old patients for symptom control, caregiver assistance a n d home care. The elderly often have outlived their family members a n d spouses, have limited resources a n d their complex illnesses commonly include cognitive failure. Dr. Lynn has argued that the M e d i c a r e system needs to be reformed to meet the needs of the respected three-fold increase in the a g e d population in the next ten years. PDIA clearly r e c o g n i z e d the need for public e n g a g e m e n t and education and c o l l a b o r a t e d in a major public television educational initiative directed by Bill M o y e r s entitled " O n O u r O w n Terms". 4 In this three part series, the issues of the care of the dying w e r e o p e n l y discussed by dying patients and families in a sensitive a n d transparent way. The programs were coordinated with community discussion groups to e n c o u r a g e local discussions a n d public engagement. M o r e than 3 0 million Americans v i e w e d these programs a n d they continue to serve as a rich resource for public discussion. W h e n the physician assisted suicide d e b a t e b e c a m e the focal point of much of the media attention on the care of the dying, PDIA tried to move the d e b a t e to the larger issues that the d e b a t e reflects 4 Moyers B., O n Our O w n Terms. Documentary Series. PBS, April 18, 2 0 0 0 .
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Transforming the Culture of Death in America
and conceals using the media attention to encourage a broad public discourse. T h i s "death talk" encouraged patients families to express their real concerns and reflect on a series of important and difficult questions about how will I die, where will I die, who will care for me as I die, who will pay for my care, and will my cultural and spiritual and religious beliefs be respected. In June, 1997, the United States Supreme Court rejected arguments for a constitutional right to physician assisted suicide and turned the issue back to each of the states to resolve. O f note it strongly supported the right of patients to palliative care. Importantly, the court clearly distinguished the aggressive treatment of symptoms in dying patients that might secondarily hasten their death from physician-assisted suicide and euthanasia. 5 It is beyond the scope of this essay to describe all of the funding initiatives of PDIA. Suffice is to say, PDIA's funding was catalytic, novel, and bold and its full impact can only be assessed in the success of its grantees and their initiatives. P D I A " S closure was prompted by the reorganization of the U S programs in the S o r o s Foundation Network. PDIA then developed an exit strategy which provided capacity building and sustainability grants to the major healthcare professional organizations advancing palliative care to allow them to continue their educational, research and advocacy initiatives. As part of PDIA's exit strategy, an International Palliative Care Initiative was created to support the development of palliative care globally focussing on policy and advocacy initiatives to integrate palliative care into national health plans for patients with cancer, H I V / A I D S and for the elderly and children. T h i s initiative initially funded efforts in the Central and Eastern Europe and the Former Soviet Union and now has expanded to support palliative programs globally including Africa, and Southeast Asia. There is now international consensus that palliative care is a public health issue and the W o r l d Health Organization as well as several U N agencies and the Council of Europe and the European Parliament have endorsed the need for palliative care to be integrated into national health strategies. 6 M o r e than 1 0 0 countries have some level of palliative care integration providing evidence that this clearly is a field whose "time has come."
5
Burt R. Α., " T h e medical futility debate: patient choice, physician obligation, and
end-of-life care", J Pallia! Med 6
2 0 0 2 Apr; 5 ( 2 ) : 2 4 9 - 5 4 . .
Foley Κ. M . , "Editorial. Advancing palliative care in the United States",
Medicine
2 0 0 3 ; 17(2): 8 9 - 9 1 .
Palliative
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Kathleen Μ. Foley
It is now 13 years since the creation of the Project on Death in America and there is a reason to be optimistic about the ongoing efforts to improve end-of-life care. Although the advances in hospice and palliative care have been slow and incremental, they have successfully engaged a broad range of stakeholders from healthcare professionals to policy makers, patient advocacy groups and governmental agencies, foundations and insurers. Americans are increasingly aware of the importance and opportunities for care that emphasize their quality of living and reduced needless suffering. Such information is transforming their perspectives on choices and options for care.
7
A s of 2 0 0 7 , more than 3 6 0 0 hospice programs in the United States were caring for almost 9 0 0 , 0 0 0 Americans. Approximately 4 0 % of adult Americans whose death includes a preceding period of dependency receive hospice care; up to 2 0 % of U S hospice patients have a non-cancer diagnosis. Depending upon the community, 5 0 - 9 0 % of cancer patients receive hospice care before their death. Both private insurance plans and Medicaid support hospice programs to a varying degree but the Medicare Hospice Benefit, an entitlement program for patients over the age of 6 5 , who have a prognosis of less than 6 months is the major funder. T h i s home based model allows patients to die at home while receiving expert pain and symptom management, psychosocial support, spiritual care, and follow-up bereavement support for family members. There has also been a linear growth in hospital-based palliative care services and the development of bridging programs between hospitals and hospices to better provide continuity of care for seriously ill patients and their families. Along with the creation of national standards, there is increasing professionalization of the field and most recently the development of a specialty in palliative medicine. These are clearly essential components of the process for fully integrating palliative care into the U S healthcare systems. Medical schools, nursing schools, schools of social work and pastoral care educational programs are now incorporating palliative care as an educational topic. At the graduate level in medical training, a series of consensus documents have outlined the Core Principles of Palliative Care which have been adopted by 19 national professional organizations for inclusion in their professional teaching programs. Curriculum for various medical and surgical subspecialties as well as for certain diseases such as cancer, H I V / A I D S , geriatrics, pediatrics and surgery
7
Foley K.M., "The Past and Future of Palliative Care", Special
Center Report 2 0 0 5 , 35(6): S 4 2 - S 4 6 . ; see also reference 5.
Report.
The Hastings
T r a n s f o r m i n g the C u l t u r e of D e a t h in A m e r i c a
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a r e n o w a v a i l a b l e . The Veterans H e a l t h c a r e A d m i n i s t r a t i o n , w h e r e o n e in seven A m e r i c a n s r e c e i v e c a r e , has d e v e l o p e d a n e x p a n s i v e initiative to s u p p o r t a n d sustain the d e v e l o p m e n t of p a l l i a t i v e c a r e t e a m s a n d l e a d e r s m a k i n g p a l l i a t i v e c a r e i n t e g r a l to their h e a l t h c a r e system. S e v e r a l n a t i o n a l o r g a n i z a t i o n s h a v e d e v e l o p e d p r o g r a m s to train h e a l t h c a r e p r o f e s s i o n a l s a n d these i n c l u d e the A m e r i c a n M e d i c a l A s s o c i a t i o n ' s P r o g r a m for Practicing Physicians entitled E d u c a t i o n in End of Life C a r e (EPEC), as w e l l as t w o t a r g e t e d p r o g r a m s ; E P E C - O s p o n s o r e d b y the A m e r i c a n S o c i e t y of C l i n i c a l O n c o l o g y for o n c o l o gists, a n d APPEAL for minority p r o f e s s i o n a l s s p o n s o r e d b y the Institute to I m p r o v e End-of-Life c a r e for A f r i c a n A m e r i c a n s . M u l t i p l e p e d i a t r i c p a l l i a t i v e c a r e curricula h a v e b e e n written a l o n g w i t h E L N E C a sophist i c a t e d nursing c u r r i c u l u m a n d recently p u b l i s h e d a c o m p e n d i u m o n the role of s o c i a l w o r k in end-of-life c a r e . At the current time, there a r e m o r e t h a n 2 , 2 0 0 p h y s i c i a n s c e r t i f i e d in p a l l i a t i v e a n d h o s p i c e c a r e b y the A m e r i c a n B o a r d of H o s p i c e a n d Palliative M e d i c i n e a n d m o r e t h a n 1 0 , 0 0 0 nurses c e r t i f i e d b y the Hosp i c e a n d Palliative C a r e N u r s e s A s s o c i a t i o n . There a r e currently 6 0 p o s t g r a d u a t e f e l l o w s h i p training p r o g r a m s a n d m o r e than 2 9 of these h a v e b e e n f o r m a l l y a p p r o v e d as training p r o g r a m s . A n o t h e r positive o u t c o m e has b e e n t w o N a t i o n a l Institute of H e a l t h s u p p o r t e d State of the S c i e n c e M e e t i n g s that h a v e o u t l i n e d a robust research a g e n d a w i t h the p o t e n t i a l to a d v a n c e the f i e l d t h r o u g h e v i d e n c e b a s e d g u i d e lines for p a l l i a t i v e c a r e . Even w i t h all of these a d v a n c e s there c o n t i n u e to b e significant c h a l l e n g e s to the full utilization of h o s p i c e a n d p a l l i a t i v e c a r e . The chief c h a l l e n g e c o n t i n u e s to b e in p a t i e n t ' s w i l l i n g n e s s to h e a r the i n f o r m a t i o n a b o u t o p t i o n s for c a r e w h e n they h a v e serious s y m p t o m s or a r e d y i n g a n d the c h a l l e n g e that h e a l t h c a r e p r o f e s s i o n a l s f a c e in their w i l l i n g n e s s a n d a b i l i t y to p r o v i d e i n f o r m a t i o n e m p a t h e t i c a l l y a n d effectively. 8 Yet, there is g r o w i n g e v i d e n c e to s u g g e s t that patients a n d families w a n t this i n f o r m a t i o n a n d that h e a l t h c a r e p r o f e s s i o n a l s s p e c i f i c a l l y physicians, a r e b e i n g t r a i n e d to d e l i v e r it. It w a s h o p e d that PDIA might serve as a m o d e l for n o n - g o v e r n m e n tal p h i l a n t h r o p i c o r g a n i z a t i o n s to c r e a t e a m o m e n t u m for c h a n g e in t r a n s f o r m i n g the culture of d e a t h . The n u m e r o u s p u b l i c surveys b o t h in the US a n d i n t e r n a t i o n a l l y s u g g e s t that p e o p l e h a v e c o m p l i c a t e d a n d c o n t r a d i c t o r y attitudes t o w a r d d e a t h a n d d y i n g . They c o n s i d e r their o w n d e a t h w i t h a mix of d r e a d a n d p r o c r a s t i n a t i o n . They f e a r o v e r u s e 8 S e e reference 7.
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Kathleen Μ . Foley
of medical technology, w a n t p e r s o n a l control and are afraid of being a burden. T h e s e attitudes can o n l y be a d d r e s s e d by d e v e l o p i n g b r o a d b a s e d p r o g r a m s that a d d r e s s the i s s u e s of improving communication and decision-making at the end-of-life, changing the culture of healthcare institutions and changing the culture and attitude t o w a r d death. P D I A has help to c a t a l y z e this transformation but there is a need both nationally and internationally for b r o a d p r o g r a m s in healthcare education, and public e n g a g e m e n t in palliative care.
T r a n s f o r m i n g t h e C u l t u r e o f D e a t h in A m e r i c a
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TABLE 1. R e c o m m e n d a t i o n s from the I O M Report " A p p r o a c h i n g D e a t h " R e c o m m e n d a t i o n 1: P e o p l e w i t h a d v a n c e d , p o t e n t i a l l y fatal illnesses a n d t h o s e c l o s e to them s h o u l d b e a b l e to e x p e c t a n d r e c e i v e r e l i a b l e , skillful, a n d s u p p o r t i v e c a r e . R e c o m m e n d a t i o n 2: Physicians, nurses, s o c i a l w o r k e r s a n d other h e a l t h p r o f e s s i o n a l s must c o m m i t themselves to i m p r o v i n g c a r e for dying patients a n d to using existing k n o w l e d g e e f f e c t i v e l y to p r e v e n t a n d relieve p a i n a n d other symptoms. R e c o m m e n d a t i o n 3: B e c a u s e m a n y p r o b l e m s in c a r e stem from system p r o b l e m s , p o l i c y - m a k e r s , c o n s u m e r g r o u p s , a n d p u r c h a s e r s of h e a l t h c a r e s h o u l d w o r k w i t h h e a l t h c a r e practitioners, o r g a n i z a t i o n s , a n d researchers to a. strengthen m e t h o d s for m e a s u r i n g the q u a l i t y of life a n d o t h e r o u t c o m e s of c a r e for d y i n g patients a n d those c l o s e to them; b. d e v e l o p better t o o l s a n d strategies for i m p r o v i n g the q u a l i t y of c a r e a n d h o l d i n g health c a r e o r g a n i z a t i o n s a c c o u n t a b l e for c a r e at the end-of-life c. revise m e c h a n i s m s for f i n a n c i n g c a r e so that they e n c o u r a g e rather t h a n i m p e d e g o o d end-of-life c a r e a n d sustain rather t h a n frustrate c o o r d i n a t e d systems of e x c e l l e n t c a r e ; a n d d. reform d r u g p r e s c r i p t i o n l a w s , b u r d e n s o m e regulations, a n d state m e d i c a l b o a r d p o l i c i e s a n d p r a c t i c e s that i m p e d e e f f e c t i v e use of o p i o i d s to relieve p a i n . R e c o m m e n d a t i o n 4 : E d u c a t o r s a n d other h e a l t h p r o f e s s i o n a l s s h o u l d initiate c h a n g e s in the u n d e r g r a d u a t e , g r a d u a t e a n d c o n t i n u i n g e d u c a t i o n to ensure that p r a c t i t i o n e r s h a v e relevant attitudes, k n o w l e d g e , a n d skills to c a r e w e l l for d y i n g patients. R e c o m m e n d a t i o n 5 : Palliative c a r e s h o u l d b e c o m e , if not a medic a l specialty, at least a d e f i n e d a r e a of e x p e r t i s e , e d u c a t i o n , a n d research. R e c o m m e n d a t i o n 6 : The n a t i o n ' s research e s t a b l i s h m e n t s h o u l d d e f i n e a n d i m p l e m e n t priorities for s t r e n g t h e n i n g the k n o w l e d g e b a s e for endof-life c a r e . R e c o m m e n d a t i o n 7: A c o n t i n u i n g p u b l i c discussion is essential to d e v e l o p a better u n d e r s t a n d i n g of the m o d e r n e x p e r i e n c e of d y i n g , the o p t i o n s a v a i l a b l e to patients a n d families, a n d the o b l i g a t i o n s of c o m i t i e s to t h o s e a p p r o a c h i n g d e a t h .
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K a t h l e e n Μ . Foley
TABLE 2. Seven Priority areas for grant funding of PDIA 1. The epidemiology, ethnography, and history of dying and bereavement in the USA. 2. The physical, emotional, spiritual and existential components in dying and bereavement 3. The contribution of the arts and humanities 4. The design, implementation, evaluation and dissemination of new service-delivery models for dying persons and their network of family and friend. 5. The design, implementation, evaluation and dissemination of educational programs for the public about death and dying. 6. The design, implementation, evaluation and dissemination of educational programs to the healthcare professions. 7. The shaping of governmental and institutional policy.
ALOIS H A H N UND MATTHIAS H O F F M A N N
DER T O D
UND
DAS S T E R B E N ALS S O Z I A L E S
I.
EREIGNIS
Einleitung
T o d und S t e r b e n a l s s o z i a l e P h ä n o m e n e w a n d e l n sich. A l s b i o l o g i s c h e P h ä n o m e n e w a n d e l n s i e sich nicht. D a s s die B e s t i m m u n g d e s s e n ,
was
a l s d a s definitive E n d e der p h y s i s c h e n E x i s t e n z a n g e s e h e n w i r d , s e l b s t immer w i e d e r umstritten ist und im Z u g e m e d i z i n i s c h e r
Neuerungen
immer w i e d e r neu bestimmt w e r d e n muss, ä n d e r t nichts daran,
dass
der T o d eben dadurch definiert ist, d a s s er d i e p h y s i s c h e E x i s t e n z unw i d e r r u f l i c h beendet. 1 Im v o r l i e g e n d e n A u f s a t z w i r d d i e s e F r a g e nur g a n z am Rande gestreift w e r d e n , w e n n e s um die G r ü n d e dafür geht, w a r u m
unserer
G e s e l l s c h a f t und im b e s o n d e r e n auch den M e d i z i n e r n d i e Kompetenz e n für den U m g a n g mit dem T o d und dem S t e r b e n fehlen. T r e f f e n d e r müsste man eigentlich formulieren: w a r u m der a b e n d l ä n d i s c h e n
Ge-
sellschaft im Laufe der Z e i t d i e K o m p e t e n z e n für den U m g a n g mit T o d und S t e r b e n a b h a n d e n g e k o m m e n s i n d . Der Rahmen für unser T h e m a ist daher auch d i e m o d e r n e G e g e n w a r t a l s v o r l ä u f i g letzte E p o c h e in der Entwicklung der
gesellschaftlichen
E i n s t e l l u n g e n z u T o d und S t e r b e n . D i e s e Entwicklung w i r d in k n a p p e r Form nachgezeichnet. Eine schon g e i s t i g e s A l l g e m e i n g u t g e w o r d e n e These
lautet in d i e s e m
Zusammenhang,
d a s s d i e s e Entwicklung
zu
einer V e r d r ä n g u n g d e s T o d e s geführt habe, d i e für die M o d e r n e charakteristisch sei. D i e s e r T h e s e w i r d hier w i d e r s p r o c h e n w e r d e n . 2 W e n n auch u.E. nicht von einer V e r d r ä n g u n g d e s T o d e s g e s p r o c h e n w e r d e n kann, s o m u s s man doch g l e i c h w o h l feststellen, d a s s d a s Erleben d e s T o d e s a n d e r e r und der U m g a n g mit S t e r b e n d e n nicht mehr z u den typischen A l l t a g s e r f a h r u n g e n der M e n s c h e n z ä h l e n .
1 Z u dieser Thematik siehe W e r n e r Schneider, » S o tot wie nötig - so lebendig möglich!"
Sterben
öffentlichen
und Tod in der fortgeschrittenen
Diskussion
um den Hirntod
Moderne.
in Deutschland,
Eine Diskursanalyse
wie der
Münster 1 9 9 9 , s o w i e ders., „Der
.gesicherte' Tod. Z u r diskursiven Ordnung des Lebensendes in der M o d e r n e " , in: Hubert Knoblauch/Arnold Z i n g e r l e (Hg.|, Thanatosoziologie. lisierung 2
des Sterbens,
Tod, Hospiz
und die
Institutiona-
Berlin 2 0 0 5 , S . 5 5 - 8 1 .
E s w i r d ihr hier einmal mehr widersprochen werden. E s ist dabei notwendig, man-
che Argumente z u wiederholen, die schon an anderer Stelle publiziert wurden, um z u zeigen, dass sich die Kritiker dieser Argumente nun ihrerseits ebenjene Argumentation z u eigen machen.
122
A l o i s H a h n und M a t t h i a s Hottmann
Charakteristisch für den Tod in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart ist daher in der Tat, dass er ausgelagert ist in dafür vorgesehene Spezialinstitutionen.
Etwa seit Beginn der
1 9 8 0 e r Jahre
stirbt die M e h r z a h l der Menschen in Deutschland in Krankenhäusern und Alten- und Pflegeheimen. Gepflegt und betreut werden sie dort von Fachkräften, die am Ideal der affektiv neutralen, funktional spezifischen medizinischen Versorgung orientiert sind. W a r der Sterbende vordem in den Kreis seiner Familie und Angehörigen eingebunden, sind es nun prinzipiell Fremde, die ihn in der Rolle des Arztes oder der Pflegekraft betreuen. Der Sterbende wird dann zum Patienten und auf das zugehörige Rollenverhalten festgelegt. Medizinisch-technisch gut versorgt, ist der Sterbende dennoch alleingelassen mit seinen Ängsten und Sorgen auf seinem letzten W e g . Philippe Aries' wegen seiner Drastik berühmtes W o r t vom „um seinen Tod in W ü r d e betrogenen, mit Röhrchen und Schläuchen gespickten Sterbenden" ist zum traurigen Emblem für den Tod in der Moderne geworden. Das Aufkommen der Hospizbewegung ist die gesellschaftliche Reaktion auf die Situation der Sterbenden in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. Heute gibt es Sterbekliniken, also stationäre H o s p i z e , und auch in die Krankenhäuser ist die Hospizbewegung mit ehrenamtlichen Mitarbeitern vorgedrungen, um die Einsamkeit der Sterbenden z u lindern und ihnen Beistand auf ihrem letzten W e g z u geben. 3 Aber diese Bewegung ist selbst noch kein Definiens einer eigenen, neuen Epoche in der Geschichte des Todes. Sie ist eine Gegenbewegung z u der sich nur langsam ändernden Situation der Sterbenden in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. O b sie die Kraft haben wird, sich in einer W e i s e auszudifferenzieren, dass sie als Signum eines neuen Abschnittes gelten kann, unterliegt einstweilen der Spekulation. Die Hospizbewegung und die von ihr entwickelten Ansätze einer adäquaten Sterbebegleitung haben die Krankenhäuser und Alten- und Pflegeheime in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren stark unter Druck gesetzt. W e n n also nach wie vor gilt, dass die meisten Menschen nicht z u Hause sterben, sondern in Krankenhäusern und Pflegeheimen, dann ist es für die Frage nach dem Umgang mit Tod und Sterben in der gegenwärtigen Gesellschaft wichtig z u wissen, ob und in welchem M a ß e sich die von der Hospizbewegung formulierten Ansätze und
3
Für einen knappen und informativen Überblick über die Entstehung der H o s p i z -
bewegung und ihrer Entwicklung in Europa siehe etwa: Johann-Christoph Student et al., Soziale
Arbeil
und Palliative
Care, München 2 0 0 4 .
123
Tod und Sterben als soziales Ereignis
Forderungen für den Umgang mit Sterbenden auch in der Arbeit dieser Institutionen niedergeschlagen haben. G e n a u diese Frage ist von uns in einer Auftragsstudie für den H o s p i z v e r e i n Trier untersucht worden. 4 Der Kern des vorliegenden A u f s a t z e s sind daher die Ergebnisse der von uns durchgeführten empirischen Untersuchung nach den M ö g l i c h keiten und Bedingungen von Sterbebegleitung und hospizlicher Arbeit in Krankenhäusern. Die Situation der Sterbenden ist für die G e g e n w a r t und die jüngere Vergangenheit im Z u g e der sich bildenden H o s p i z b e w e g u n g oft beschrieben w o r d e n . 5 U n s e r e Untersuchung hingegen beschreibt die Situation der Sterbenden auf indirektem W e g e : W i r haben diejenigen befragt, die mit Sterbenden professionell z u tun haben, hauptsächlich Ä r z t e und Pflegekräfte. 6 In der Studie haben wir versucht z u rekonstruieren, in welchem M a ß e die Befragten erstens über A n s ä t z e und Inhalte z e i t g e m ä ß e r Sterbebegleitung
respektive
Hospizarbeit
informiert sind,
inwieweit
sich z w e i t e n s diese A n s ä t z e unter den Bedingungen eines Krankenhausalltags überhaupt umsetzen lassen und inwieweit sie drittens in ihrer jeweiligen Ausbildung b z w . ihrem Studium auf den U m g a n g mit Sterbenden vorbereitet wurden. Durch die Beschreibung dieser Rahmenbedingungen ergibt sich ein recht genaues Bild der Situation der Sterbenden, ohne einen e i n z i g e n von ihnen direkt befragt z u haben. 7 Auf den ersten Blick wirken die Daten ernüchternd und z e i g e n das bekannte Bild der Einsamkeit der Sterbenden. Dennoch belegen die Daten unserer Interpretation zufolge, d a s s sich ein W a n d e l in den bisher eingefahrenen Pfaden institutionalisierten medizinischen U m g a n g s mit Sterbenden ergeben wird. Denn auf den zweiten Blick meinen w i r bei den Befragten ein Bewusstsein für die Unzulänglichkeit der Situa-
4 Die Ergebnisse der Umfrage sind publiziert als: Alois Hahn/Rüdiger Jacob/Eva Eirmbter-Stolbrink/Matthias Hoffmann, Sterbebegleitung in Trier. Bestandsaufnahme 2003.
Der Bericht kann über den Hospizverein Trier bezogen werden.
5 Als Klassiker aus soziologischer Sicht sei hier nur verwiesen auf Norbert Elias, Die Einsamkeit der Sterbenden, Frankfurt 1982, und auf Philippe Aries, Essais sur l'histoire de la mort en Occident du Moyen Age ά nos jours, Paris 1975, und ders., L'homme devant la mort, Paris 1977 (deutsch: Die Geschichte des Todes, München 2002).Eine neuere Arbeit hierzu ist: Ursula Streckeisen, „Das Lebensende in der Universitätsklinik", in: Knoblauch et al., Thanatosoziologie, a.a.O., S. 1 2 5 - 1 4 6 . 6 Aber auch Altenpflegerinnen, Seelsorgerinnen, Psychologinnen und Hospizhelferinnen. Die Studie wird nachfolgend noch genauer erläutert. 7 Da die Untersuchung im Rahmen eines Forschungspraktikums mit einem standardisierten Fragebogen durchgeführt werden sollte, schien uns eine zusätzliche Befragung der Sterbenden oder ihrer Angehörigen forschungsethisch nicht vertretbar zu sein.
124
A l o i s Hahn und M a t t h i a s Hoffmann
tion herauslesen z u können. Die Ärzte und Pflegekräfte wissen, dass die Aufgabe, Patienten beim Sterben z u begleiten, sie unter den gegebenen Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen überfordert. Die Ausbildungen in der M e d i z i n und den Pflegeberufen passen sich z w a r auf lange Sicht den Erfordernissen des Umgangs mit Tod und Sterben an, aber die strukturellen Gegebenheiten eines Krankenhauses sind nicht in vergleichbarer W e i s e anzupassen (Schichtdienst, also häufig wechselndes Personal etc.). Die befragten Arzte und Pflegekräfte formulieren daher auch klare Wünsche an die Hospizbewegung, die sich notwendig aus der Struktur von Institutionen wie Krankenhäusern ergeben. Unserer These lautet, dass die Hospizbewegung gegenwärtig mit der Situation konfrontiert ist, dass sie zum Adressaten
von Erwartungen
der klassischen medizinischen Institution Krankenhaus wird. An erster Stelle die Pflegekräfte, aber eben auch die Arzte, erkennen, dass eine adäquate Sterbebegleitung nur in der Zusammenarbeit zwischen Medizin und Hospizbewegung funktionieren kann. Die Umsetzung des bekannten M o d e l l s der z w e i Säulen, Palliativmedizin und Zuwendung, auf denen eine gute Praxis der Sterbebegleitung ruht, wird in den Antworten auf unsere Fragen nunmehr von Mitarbeitern der Institution Krankenhaus eingefordert.
2. Der Tod in der europäischen
Moderne
Die inzwischen bereits klassische Arbeit zur Geschichte der Todesproblematik in Europa stammt von Philippe Aries. 8 Aries' Arbeit „Geschichte des T o d e s " ist eine groß angelegte umfängliche Untersuchung der Einstellungen gegenüber dem Tod in der europäischen Geschichte. Historischer Ausgangspunkt der Analyse ist die Antike und der terminus ad quem Aries' unmittelbare Gegenwart der späten 1 9 7 0 e r Jahre. Ahnlich wie in seiner berühmten Pionierarbeit zur Geschichte der Kindheit besticht der Autor auch hier durch die Originalität bei Auswahl und Interpretation sehr heterogenen Quellenmaterials (u. a. zieht Aries Testamente, belletristische Literatur, liturgische Texte, theologische Abhandlungen und die Interpretation von Gemälden und Sepulkralkunst, Grabsteinen, Friedhofsanlagen usw. heran). Trotz der großen Fülle der dargestellten Details, trotz der behandelten Zeitspanne von nahezu z w e i Jahrtausenden verliert Aries nie die Systematik seiner Theorie aus den Augen.
8 Aries, Geschichte
des Todes,
a.a.O.
125
T o d und Sterben als s o z i a l e s Ereignis
Aries glaubt in dem immensen Material fünf Typen von Einstellungen zum Tod deutlich unterscheiden z u können. Diese Einstellungen folgen im wesentlichen chronologisch aufeinander, wenn sich auch oft über lange Zeiträume die Koexistenz verschiedener Typen des Sterbens feststellen lässt. Aries nennt diese typologischen M o d e l l e der Auffassung vom Tod und Sterben: 1. den gezähmten Tod („mort apprivoisee"), 2. den Tod des Selbst („mort de soi"), 3. den langen und stets nahen Tod („mort longue et proche"), 4 . den Tod des Du („mort de toi") und 5. den umgekehrten Tod („mort inversee"). Die Ordnung dieser Sterbe- und Trauerformen ergibt sich durch die Kombination von vier historischen Parametern, nämlich 1. das Ausmaß des Identitätsbewusstseins („conscience de soi"), 2. die Art der Verteidigung der Gesellschaft gegen die undomestizierte Natur („defense de la societe contre la nature sauvage"), 3. der Glaube an ein Weiterleben und 4 . an die Existenz des Übels. Der rote Faden seiner monumentalen Untersuchung ist die Entwicklung von einem öffentlichen Tod hin z u einer Privatisierung des Sterbens und des Todes. Der Endpunkt der von ihm beschriebenen Entwicklung ist der um seinen Tod betrogene einsam Sterbende. Um den Tod betrogen sein heißt: Uber das Sterben bewusst im Unklaren gehalten z u werden, und somit ohne Möglichkeit z u sein, in W ü r d e zu sterben. Diesen Typus des „ins Gegenteil verkehrten" Todes beschreibt Aries als Kontrapunkt zum „gezähmten Tod", dem Typus, den er für den Beginn seines Untersuchungszeitraums in der Antike als dominanten Typ z u erkennen glaubt. Aber auch schon vor Aries sind die Faktoren beschrieben worden, die eine tiefgreifende Veränderung im Umgang mit Sterbenden und Toten zur Folge hatten.9 Die Dienste, die heute den Toten und Sterbenden erwiesen werden, werden - wie gesagt - im Normalfall von spezifischen gewerblichen Rollen übernommen. W e n n in der vormodernen Gesellschaft jemand starb, so wachten meist zahlreiche Angehörige, Familienmitglieder, Verwandte, Nachbarn und Freunde an seinem Sterbebett. Sein Sterben wurde von zahlreichen anderen miterlebt, die ihn aufgrund ihrer familiären oder nachbarschaftlichen Bindungen an ihn betreuten. W e n n er gestorben war, so richteten ebenfalls Familienangehörige und Nachbarn den Leichnam zur Aufbahrung und Bestattung her. In den Dörfern des vormodernen Europa kannten bis in die jüngste Zeit der Schreiner, der das M a ß nahm, der Totengräber und der Pfarrer den z u Bestat-
9
Vgl. etwa A l o i s Hahn, Einstellungen
soziologische
Untersuchung,
zum Tod und ihre soziale
Stuttgart 1 9 6 8 .
Bedingtheit.
Eine
126
A l o i s H a h n und M a t t h i a s Hoffmann
tenden. Der Leichnam war für alle an der Bestattung Beteiligten nicht ein anonymer toter Körper, sondern wirklich die sterblichen Uberreste eines Menschen, z u dem man während des Lebens in mannigfachen, mehr oder minder umfassenden Beziehungen gestanden hatte. Der Tod in der Vormoderne gehörte zum alltäglichen Erleben. Es herrschte ein tiefes Einverständnis, ihn als zur conditio humana gehörig z u akzeptieren. Die Gesellschaft als ganze nahm den Tod eines ihrer Mitglieder hin und stützt dabei sowohl den Betreffenden in seinem Sterben als auch seine Angehörigen in ihrer Trauer. Der „normale" Tod gefährdete nicht die Stabilität der Gesellschaft. Der Tod und die Verarbeitung der durch ihn hervorgerufenen Trauer fanden in der Gesellschaft statt. Sterbende, seine Angehörigen und die Personen des näheren Umfeldes bildeten eine Gruppe, die sich zusammenfand, wenn sich der Tod ankündigte und ihn als Gruppe ertrug. Das schloss Angst und Schrecken nicht aus. Aber es gab anerkannte und verbindliche Formen des Umgangs mit ihnen. Der Tod in der Moderne entbehrt den Rückhalt in der Gruppe, entbehrt auch eine würdige Vorbereitung auf das Sterben. Und vor allem ist er ein aus der Gesellschaft in die Krankenhäuser ausgelagerter Tod, von dem die Gesellschaft so gut als möglich ferngehalten werden muss. Seit den fünfziger Jahren ist der Tod im Krankenhaus zur Regel geworden. Dieser Verlust der Öffentlichkeit lässt den Tod gesellschaftlich zunehmend unsichtbar werden. Dass der Tod seinen Status als Alltagsphänomen verliert, hat zur Folge, dass man den Umgang mit ihm nicht mehr einüben kann. Sterbetechniken und Techniken des Umgangs mit dem Tod werden weithin nicht mehr als nötig empfunden und gehen daher mit der Zeit verloren. M i t der Auslagerung des Todes in die Klinik hat sich sehr viel mehr geändert als einfach die Lokalität. M i t dem Einzug ins Krankenhaus findet sich der Sterbende in einer Sphäre, die technisch geprägt ist. Nicht zuletzt waren es ja eben auch technisch-medizinische Erwägungen, die mit den Ausschlag für die Einweisung in die Klinik gegeben haben. Lebensgefährlich Erkrankte erwarten ihren Tod im Krankenhaus, da nur dort die Gewähr sachgemäßer Pflege und Behandlung gegeben ist. Das Pflegepersonal und die Ärzte kennen den Sterbenden in der Regel nicht. Er interessiert sie nur, insofern er krank ist. Ihr Verhältnis z u ihm ist, um es mit den Parsonschen „pattern variables" auszudrücken, durch funktional universalistische Kriterien bestimmt, nicht wie das der Angehörigen und Nachbarn, die in der vormodernen W e l t sein Sterben begleitet hätten, durch partikularistische. Ihre Rolle ist funktional
T o d u n d S t e r b e n als s o z i a l e s Ereignis
127
spezifisch, nicht f u n k t i o n a l diffus; d e n n es sind a u s s c h l i e ß l i c h g a n z bestimmte, d u r c h d e n S t a n d d e r m e d i z i n i s c h e n Kenntnisse für e r f o r d e r l i c h e r a c h t e t e Dienstleistungen, d i e - g e g e n e i n e f i n a n z i e l l e H o n o r i e r u n g - e r w i e s e n w e r d e n . Schließlich h a n d e l t es sich um ein affektiv neutrales Verhältnis. A f f e k t e , G e f ü h l e , Trauer, S c h m e r z , Erschütterung w ü r d e n d i e Effizienz d e r s a c h l i c h g e f o r d e r t e n Dienste nur e i n s c h r ä n k e n u n d sind ü b e r d i e s a u c h g a r nicht m ö g l i c h b e i d e r g r o ß e n Z a h l d e r gleichz e i t i g z u b e t r e u e n d e n S t e r b e n d e n u n d d e r k u r z e n Zeit, d i e d a s Krank e n h a u s p e r s o n a l d e n e i n z e l n e n kennt. Aus d e r u m f a s s e n d e n G e b o r g e n h e i t d e r Familie ist d e r S t e r b e n d e nun in e i n e Institution verlegt, d i e a n ihm als Person kein Interesse mehr hat, s o n d e r n nur n o c h a n ihm als T r ä g e r d e r Patientenrolle. D i e Reduz i e r u n g d e r Perspektive v o n d e r Person auf e i n e Rolle ist freilich kein S p e z i f i k u m d e r Institution K r a n k e n h a u s . Es gilt für a l l e Institutionen, d a s s sie Personen nur unter d e r für sie je s p e z i f i s c h e n Perspektive b e t r a c h t e n u n d d a m i t nur e i n e n A s p e k t d e r Person w a h r n e h m e n . D a s Erlernen d e r S t e r b e t e c h n i k e n fällt aus d e r S o z i a l i s a t i o n heraus, w e i l d a s z u g e h ö r i g e P h ä n o m e n , d e r Tod, aus d e m A l l t a g verschwindet. D i e Klinik als a s e p t i s c h e r O r t technischer A b l ä u f e h a t für d i e trad i e r t e n S t e r b e t e c h n i k e n keine V e r w e n d u n g . D i e e n o r m e n N e u e r u n g e n in d e r M e d i z i n h a b e n d a z u geführt, d a s s d e r T o d immer w e i t e r h i n a u s g e s c h o b e n u n d z u r ü c k g e d r ä n g t w e r d e n kann. I n t r a v e n ö s e Infusionen, künstliche E r n ä h r u n g d u r c h e i n e M a g e n s o n d e , h o c h p o t e n t e A n a l g e t i k a u n d a n d e r e e f f i z i e n t e Techniken d e r m o d e r n e n Intensivmedizin führen d a z u , dass d e r T o d als natürlicher E n d p u n k t d e s m e n s c h l i c h e n Lebens aus d e m Blick g e r ä t . Fast k ö n n t e m a n s a g e n , d a s s es d e n T o d als T o d nicht mehr gibt. H e u t z u t a g e stirbt m a n nicht e i n f a c h , s o n d e r n m a n stirbt „ a n e t w a s " . U n d d i e s e s J e w e i lige, a n d e m m a n stirbt, ist für d i e M e d i z i n immer ein v o r l ä u f i g n o c h z u ü b e r w i n d e n d e s H i n d e r n i s . Der T o d w i r d nicht als solcher beseitigt, sond e r n in einer seiner j e w e i l i g e n E r s c h e i n u n g e n b e k ä m p f t . G e g e n d e n T o d k a n n m a n nichts m a c h e n , a b e r A i d s (Krebs, Syphilis, C h o l e r a . . . ) kann m a n ü b e r w i n d e n . D a d e r T o d aus d e m Kreis d e r Familie in d e n Bereich d e r M e d i z i n v e r l a g e r t w i r d , f i n d e t er sich in e i n e r technisch bestimmten S p h ä r e w i e der. Die U m g a n g s w e i s e n mit T o d u n d S t e r b e n , d i e sich ü b e r n a h e z u z w e i J a h r t a u s e n d e t r a d i e r t h a b e n , g e r a t e n mit d e m V e r s c h w i n d e n d e s T o d e s aus d e r A l l t a g s w i r k l i c h k e i t in Vergessenheit. In d e n K r a n k e n h ä u sern w i r d d e r S t e r b e n d e n a c h M a ß g a b e m e d i z i n i s c h p r o f e s s i o n e l l e r S t a n d a r d s b e h a n d e l t u n d d a s heißt, es w i r d nicht a u s g e s p r o c h e n , d a s s er ein S t e r b e n d e r ist, s o n d e r n ihm w i r d d i e Rolle d e s z u b e h a n d e l n d e n u n d b e h a n d e l b a r e n Patienten ü b e r g e s t ü l p t .
128
A l o i s Hahn und M a t t h i a s Hoffmann
3. Verdrängung
des
Todes?
Angesichts dieser Beschreibung mag man sich die Frage stellen, ob denn die moderne Gesellschaft eine todesvergessene Gesellschaft ist, die den T o d verdrängt? D a s angeblich verdrängte T h e m a T o d z e i g t eine erstaunliche Präs e n z im öffentlichen Diskurs. Die Paradoxie, auf die A r i e s hier bereits in den späten s i e b z i g e r Jahren hinweist, hat sich in der Z e i t seither sicher eher verschärft. Dennoch und trotz aller vorgebrachten Gegenargumente ist die Verdrängungsthese in der s o z i o l o g i s c h e n D i s k u s s i o n immer wieder vertreten worden. D a s für die jüngere Vergangenheit w o h l prominenteste
Beispiel
wurde von Armin N a s s e h i und G e o r g W e b e r vorgelegt. In ihrem W e r k „Tod, M o d e r n i t ä t und Gesellschaft" legen sie noch einmal eindrucksvoll einen „Entwurf einer T h e o r i e der T o d e s v e r d r ä n g u n g " vor, w i e es im Untertitel heißt. 1 0 W i e wir noch sehen werden, ist dies allerdings zumindest für N a s s e h i nicht das letzte W o r t in dieser Angelegenheit. N a s s e h i und W e b e r ist dabei durchaus bewusst, d a s s sie mit ihrem „Entwurf" nicht eben N e u l a n d betreten, sondern sagen, w a s „alltagssprachlich bereits eine Trivialität" ist. Spätestens seit Scheler ist der Ausdruck „Verdrängung" immer wieder benutzt worden, um die Situation des modernen M e n s c h e n angesichts des T o d e s z u beschreiben. Für die konservative Kulturkritik stellt die Verdrängungsthese g e r a d e z u eine Leitmelodie dar. All das macht die T h e s e freilich weder falsch noch auch nur verdächtig, allerdings w i r d sie dadurch auch nicht per se richtig. M a n kann sie immerhin auf ihre Haltbarkeit prüfen. Zumindest in der neueren deutschen S o z i o l o g i e ist sie immer wieder abgelehnt w o r d e n . " Der Anspruch von N a s s e h i und W e b e r ist jedenfalls, d a s s es sich bei ihnen k e i n e s w e g s um die b l o ß e W i e d e r h o l u n g der kulturkritischen T h e s e älterer Autoren (wie etwa bei Scheler) handelt, die aus der Unfähigkeit der modernen Gesellschaft, mit dem T o d adäquat umzugehen, ein Argument gegen sie abgeleitet hatten.
Die
Pointe der Autoren besteht darin, d a s s sie die Verdrängung a l s strukturnotwendige Folge des A u s d i f f e r e n z i e r u n g s p r o z e s s e s
10 Armin N a s s e h i / G e o r g W e b e r , Tod, Modernität Theorie
der Todesverdrängung,
beschreiben
und Gesellschaft
Entwurf
11 Vgl. in diesem Zusammenhang: Hahn, Einstellungen zum Tod und ihre Bedingtheit,
soziale
a.a.O., und die in B e z u g auf die Abweisung der Verdrängungsthese ähnlich
argumentierende Arbeit von W e r n e r Fuchs, Todesbilder
in der modernen
Gesellschaft,
Frankfurt a . M . 1 9 6 9 , s o w i e die Rezension von Hahn z u N a s s e h i und W e b e r in: Zeitschrift
einer
Opladen 1 9 8 9 .
für Soziologie
und Sozialpsychologie
4 3 ( 1 9 9 1 ) , Η. 1, S.
162-164.
Kölner
T o d und Sterben als s o z i a l e s Ereignis
129
und dass im Z u g e dieses Prozesses das Individuum seine je eigenen existentiellen N ö t e nicht mehr adäquat in gesellschaftliche Kommunikation einbringen oder aus ihr entsprechende sinnstiftende Angebote beziehen könne. Verdrängung erscheint also als sozialstrukturell bedingte Unmöglichkeit, das individuelle memento mo ή angemessen z u kommunizieren. Um die These von der Verdrängung diskutieren z u können, muss man wohl zunächst klären, w a s man annimmt oder ablehnt, wenn man sie akzeptiert oder verwirft. Einigkeit besteht darüber, dass die moderne Gesellschaft - darin anders als andere Gesellschaften - die Erfahrung des Todes einerseits hochspezialisierten Gruppen überantwortet (etwa dem Funktionsbereich der M e d i z i n ) und andererseits biographische Konfrontationen mit dem Tod naher Angehöriger seltener und typischerweise erst im späteren Lebensalter auftreten lässt. Unstrittig ist auch, dass es kaum verbindliche soziale Vorgaben für die Rolle der Trauernden und Sterbenden gibt, dass also eine Art von Privatisierung des Todes als persönlichem Schicksalsereignis stattfindet. Der technischen Kompetenz von Spezialisten (etwa Ärzten, Bestattern, Pfarrern) im Umgang mit Toten und Sterbenden korrespondiert also der weitgehende Wirklichkeitsverlust und der Verlust der praktischen Kompetenz der Bewältigung der mit dem Tod zusammenhängenden Herausforderungen auf der Seite der Laien. W a h r scheint uns auch - und auch hier sehen wir keinen Dissens - dass unsere Gesellschaft nicht über verbindliche Sinngebungen für individuelles Sterben verfügt. Der Ton liegt hier auf „verbindlich". Sinngebungen gibt es nämlich in großer Fülle. Sie sind auch durchaus kommunikabel, und über sie wird auch gesprochen, sonst wäre der große Erfolg therapeutischer und religiöser Institutionen gar nicht erklärbar, in denen Trauernde und Geängstigte Rat und Trost suchen. Es fehlt nicht an Sinngebungen und Deutungen des Sterbens, sondern an Verbindlichkeiten. Gerade die Pluralität ist das Problem, aber auch - vielleicht - die Chance. Der Individualität des Lebens entspricht eine notwendig von verbindlichen kollektiven Vorgaben emanzipierte, auf jeden Fall aber wählbare Beziehung zum eigenen Tod und Sterben und eine auf die jeweiligen individuellen Bedürfnisse eingehende Spezialkommunikation. Es ist nicht zufällig, dass diese sich gerade nicht an die Institutionen der „öffentlichen Weltauslegung" anheftet, sondern an den therapeutischen oder privatseelsorgerischen Diskurs. Sterben bedeutet eben für viele je anderes, wenn auch das, was man darüber sagen kann, nie einzigartig ist. Angst und Trauer fallen also bei uns nicht schlechthin ins Unsagbare. W e n n man all diese Tatbestände und Zusammenhänge — daran kann man ja niemanden hindern -
eben doch als Verdrängung be-
130
A l o i s Hahn und Matthias Hoffmann
zeichnen will, dann läuft der D i s s e n s lediglich auf unterschiedliche Begriffswahlen zurück. Aber n o r m a l e r w e i s e impliziert der
Terminus
„Verdrängung" doch mehr. Er besagt doch, d a s s man sich aus Angst einer W i r k l i c h k e i t , mit der man nicht fertig wird, nicht stellen w i l l oder kann, d a s s man deshalb Redetabus errichtet und jede Situation meidet, in der man an das Schreckliche erinnert wird. W e r je Dokumente über den Schrecken gelesen hat, den der T o d in vormodernen Gesellschaften auslöst, trotz, ja oft s o g a r wegen der dort verfügbaren verbindlichen Sinngebungen, dürfte M ü h e haben, die M o d e r n e als Steigerung solcher ungebändigter Angst z u beschreiben. Bekanntlich hat bereits Pascal alle Divertissements als feiges Ausweichen vor der T o d e s g e w i s s h e i t gedeutet. Interessanterweise magnum
bringt
Nassehi
in
einer
nach
seinem
opus
veröffentlichten kleinen Arbeit ein g a n z ähnlich gelagertes
Argument vor. In einem Artikel über die Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung deutschsprachiger Ratgeberliteratur z u Sterben, T o d und Trauer 1 2 schreibt er: „Die deutschsprachige Ratgeberliteratur z u m Thema ist bis heute s o z i o l o g i s c h unbeachtet geblieben. D a s ist G r u n d genug, das Material darauf z u sichten, w i e es unter Bedingungen eines offenkundigen Verlustes an rituellen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten möglich ist, T o d und Sterben öffentlich z u thematisieren und w i e sich solche Thematisierungsformen als Beratung profilieren können. Auffallend ist in jedem Fall, d a s s der Erfolg jener Literaturform davon zeugt, d a s s von einer öffentlichen Nichtbeachtung, Kommunikationshemmung oder gar Verdrängung kaum gesprochen werden kann. Im Gegenteil ist d e r z e i t g e r a d e z u eine Renaissance des T h e m a s z u beobachten." 1 3 H i e r liegt die Betonung auf verlorengegangenen „rituellen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten" und gerade nicht mehr auf „Verdrängung". D a s liegt nun sehr nahe an den von uns 1 9 9 1 gegen N a s s e h i angeführten Argumenten. Bei gleicher Ausgangslage, sieht man recht, rückt N a s s e h i also im späteren Artikel von der Verdrängungsthese ab. Ausdrücklich verabschiedet wird die Verdrängungsthese von ihm in einer unmittelbar aktuellen Veröffentlichung: „Freilich wird das
Motiv
einer Verdrängung des T o d e s innerhalb der S o z i o l o g i e kaum noch vertreten (...) - wenn auch die Idee der quasi extrasozietalen Bearbeitung der Individualität nach w i e vor eine Art nicht thematisierte
communis
opinio darstellt. Ü b r i g e n s : Auch der von Armin N a s s e h i und G e o r g W e -
12 Armin Nassehi et al., „Beratung zum Tode. Eine neue ars moriendi?", in: Berliner Journal für Soziologie 13 Ebd., S. 6 4 .
1 ( 2 0 0 2 ) , S. 6 3 - 8 7 .
131
T o d und Sterben als s o z i a l e s Ereignis
ber ( 1 9 8 9 ) vorgelegte Versuch einer T h e o r i e der T o d e s v e r d r ä n g u n g , der d e z i d i e r t nicht modernitäts- und kulturkritisch argumentiert und von der strukturellen, z u g l e i c h aber funktional notwendigen
Verdrängung
d e s T o d e s ausgeht, darin s o g a r eine Chance für individuelle
Bewäl-
tigungsformen d e s T o d e s sieht, atmet noch den G e i s t jenes bürgerlichen U n b e h a g e n s an den E n t z w e i u n g e n der M o d e r n e , an dem Verlust synchroner Lebensformen und an der normativen Desintegriertheit der M o d e r n e . Es sind d e s h a l b einige erhebliche Korrekturen v o r z u n e h m e n , ohne freilich d a s Grundmotiv g a n z fallen l a s s e n z u m ü s s e n . " 1 4 Zur
Verdrängung d e s T o d e s haben jedenfalls viele
vormoderne
G e s e l l s c h a f t e n mehr A n l a s s gehabt a l s die g e g e n w ä r t i g e , vor allem w o h l deshalb, w e i l d a s T o d e s e r l e b n i s
nicht strukturell
w e r d e n konnte vom Funktionieren der dominanten
abgekoppelt
Funktionssysteme.
M i t Luhmann ausgedrückt, könnte man auch s a g e n , die E x k l u s i o n der Individuen aus dem s o z i e t a l e n D i s k u r s entlastet von gesellschaftlicher Verdrängung. G e r a d e die Inklusion von Personen in die g e s a m t g e s e l l schaftliche Kommunikation, w i e sie für Luhmann für v o r m o d e r n e G e s e l l schaften charakteristisch ist, 15 führt z u
Verdrängungsnotwendigkeiten.
Insofern könnte man die von N a s s e h i und W e b e r m o b i l i s i e r t e T h e o r i e auch z u r Kritik ihrer T h e s e v e r w e n d e n . Die T h e s e Luhmanns besagt im übrigen gerade, d a s s d a s m o d e r n e Individuum a l s s o l c h e s im Kontext der a u s d i f f e r e n z i e r t e n Funktionssysteme im emphatischen S i n n e ein „ine f f a b i l e " wird. T o d und S t e r b e n w ü r d e n in d i e s e m S i n n e nur an der generellen „ E x k l u s i o n " der individuellen Totalität a u s den s p e z i a l i s i e r t e n Kommunikationskontexten der M o d e r n e teilhaben. W i c h t i g ist freilich, d a s s das, w a s bei Luhmann a l s „ E x k l u s i o n " erscheint, g e r a d e nicht mit „Verdrängung" v e r w e c h s e l t w i r d . V e r d r ä n g e n kann man nur, w a s prinzipiell ausdrückbar wäre. Dem B e g r i f f der V e r d r ä n g u n g haftet υ. E. aus seinem ursprünglichen wissenschaftlichen
Verwendungskontext
in der
Psychoanalyse
Fülle von Bedeutungen an, die s e i n e Ü b e r t r a g u n g in die
eine
Soziologie
nur dann sinnvoll erscheinen l a s s e n , w e n n man auf die D i f f e r e n z e n ausdrücklich aufmerksam macht. S o n s t stellen sich nicht nur M i s s v e r s t ä n d n i s s e ein, s o n d e r n die A n a l y s e w i r d z u s ä t z l i c h durch
unkontrollierte
Konnotationen angereichert.
14 Armin N a s s e h i / I r m h i l d Saake, „Kontexturen des T o d e s " , in: Knoblauch et al., Thanatosoziologie,
a.a.O., S. 3 1 - 5 4 , hier S . 3 7 Fußnote 8. (Hervorhebungen gehören
zum Zitat). 15 Vgl. hierzu N i k l a s Luhmann, „Individuum, Individualität, Individualismus", in: ders., Gesellschaltsstruktur sellschaft,
und Semantik.
Studien
Frankfurt a . M . 1 9 8 9 , Bd. 3, S.
zur
Wissenssoziologie
149-258.
der modernen
Ge-
132
A l o i s Hahn und M a t t h i a s Hoffmann
W e n n man von Verdrängung spricht, müsste man vielleicht deutlicher spezifizieren, wer verdrängt, und woraus verdrängt wird. W e n n das Thema des Todes aus der Kommunikation verdrängt worden wäre, könnte man den Tatbestand nicht mehr mitteilen. Und wenn etwas aus dem Bewusstsein verdrängt wird, merkt man es selbst nicht. Allenfalls ein Beobachter könnte uns dergleichen enthüllen. Aber wie könnte er das, wenn er selbst es auch völlig verdrängt hätte? Die Vorstellung jedenfalls, dass die moderne Gesellschaft den Tod aus der Kommunikation verdrängen müsste, weil sie aufgrund eines Sinngebungsdefizits mehr Angst vor dem Tod als andere Gesellschaften hätte, scheint uns kurzschlüssig. Sinngebung und Angst schließen sich nicht aus. Und außerdem: W e r könnte aus dem kommunikativen Jenseits etwas berichten? Allenfalls könnte es sich zeigen, dass bestimmte Formen der Kommunikation über den Tod nicht mehr überall Anklang finden (oder - wie man akademisch vielleicht sagen müsste - nicht mehr „anschlussfähig" sind). Vermutlich handelt es sich -
wie so oft, wenn über den „Verlust"
von Wichtigem geklagt wird - nicht um Verdrängung, sondern um Differenzierung: Tod ist nicht mehr wie noch vor einigen Generationen Thema allgemeiner Kommunikation, sondern Gegenstand spezieller Subsysteme, die von ihm auf ihre je eigene W e i s e handeln. Der Tod wird sozusagen in Subsysteme aufgeteilt, womit das Bewusstsein ihn typischerweise nicht mehr als ganzen z u Gesicht bekommt. Für das Bewusstsein folgt daraus möglicherweise eine Ausblendung
dieses
Themas an den Rand der Alltagsaufmerksamkeit. Innerhalb der einzelnen Subsysteme der Kommunikation erscheint das Schreckliche insofern z w a r nicht als überwunden, wohl aber als spezifiziert: Es wird verwandelt. Die Bedrohung präsentiert sich nicht mehr als Gegenstand unbeschreiblicher Angst, sondern als Objekt höchst präzise benennbarer Befürchtungen. Der Tod wird nicht als solcher beseitigt, sondern in einer seiner jeweiligen Erscheinungen bekämpft (s.o.). Damit erklärt sich vielleicht auch das oben bereits erwähnte (scheinbare?) Paradox, dass die angeblich so todvergessene moderne Gesellschaft A I D S 1 6 zum Medienthema machen kann. W i e könnte sie
16 Z u r speziellen Problematik von A I D S und Tod sei verwiesen auf: A l o i s H a h n / W i l l y H. Eirmbter/Rüdiger Jacob, A I D S und die gesellschaftlichen
Folgen,
a . M . / N e w York 1 9 9 3 ; A l o i s H a h n / W i l l y H. Eirmbter/Rüdiger Jacob, stellungen
in Deutschland.
Das Beispiel
AIDS,
Opladen 1 9 9 6 , und A l o i s H a h n / R ü d i g e r
J a c o b / W i l l y H . Eirmbter/Claudia H e n n e s / F r a n k Lettke, Aids-Vorstellungen land. Stabilität 1997.
und Wandel.
Ergebnisse
Frankfurt
Krankheitsvor-
sozialwissenschaltlicher
in Deutsch-
Aids-Forschung,
Berlin
T o d und Sterben als s o z i a l e s Ereignis
133
dies, wenn die Erinnerung an den aller „Sinngebung" spottenden T o d ihren eigen modus procedendi
unterbräche? Vieles jedenfalls spricht
dafür, d a s s der reduzierte Todkontakt der meisten jüngeren M i t g l i e d e r der modernen Gesellschaft d a z u führt, d a s s man den T o d nicht verdrängen muss, w e i l er sich zunächst einmal nicht wirklich aufdrängt. Insofern w ä r e es plausibel anzunehmen, d a s s es gerade vormoderne Gesellschaften waren, die einen erheblich höheren B e d a r f an Verdrängung hatten.
4. H o s p i z e Die von uns durchgeführte empirische Untersuchung ist A r i e s in die von ihm beschriebenen Krankenzimmer gefolgt. Auch sie hatte das Z i e l , eine Phänomenologie des Sterbens der gegenwärtigen Z e i t z u geben. W i r befragten Pflegekräfte und Arzte, aber auch S e e l s o r g e r , Psychologen, S o z i a l a r b e i t e r , S o z i a l p ä d a g o g e n und H o s p i z h e l f e r danach, w i e Sterbebegleitung
in der Realität ihres Arbeitsalltags aussieht
und w i e sie damit umgehen. D a s erschreckende Ergebnis der Untersuchung ist, d a s s sich im G r u n d s a t z an der Einsamkeit der Sterbenden nichts geändert hat, sofern sie im Krankenhaus oder einer vergleichbaren Einrichtung sterben: in Alten- und Pflegeheimen etwa. Es w i r d häufig die Befürchtung geäußert, d a s s mit der Errichtung eines stationären H o s p i z e s nun alle sterbenden Patienten g e r a d e z u z w a n g s l ä u f i g dorthin verlegt würden, auch wenn es die M ö g l i c h k e i t der Betreuung durch die A n g e h ö r i g e n gäbe. D a s ist natürlich keinesw e g s der Fall. D a s stationäre H o s p i z ist gerade a l s Einrichtung gedacht, die denjenigen offen stehen soll, die nicht auf A n g e h ö r i g e zählen können. S e i es, d a s s es keine Angehörigen mehr gibt, sei es, d a s s die A n g e h ö r i g e n die Pflege nicht übernehmen können oder w o l l e n . ' 7 G l e i c h w o h l versucht d a s H o s p i z eine Situation z u schaffen, in der der T o d ähnlich erlebt wird, als gäbe es ein Beisammen mit den Angehörigen und Liebsten. Der T o d soll nicht in der Einsamkeit über einen kommen, sondern man soll eingebettet sein in den K r e i s von vertrauten Menschen. W e n n es die Familie nicht gibt, soll das H o s p i z ein Äquivalent dafür bieten. Angestrebt w i r d also, den M e n s c h e n aus der hochspezialisierten W e l t der Krankenhäuser oder der einsamen W e l t der Alten- und Pfle-
17 Für die geäußerten Befürchtungen der Befragten in B e z u g auf die Errichtung eines stationären H o s p i z e s vgl. Hahn et al., Sferbebegleilung
in Trier, a.a.O., S . 7 3 f .
134
A l o i s H a h n und M a t t h i a s Hoffmann
geheime oder des A l l e i n s e i n s z u befreien und ihm mit dem stationären H o s p i z einen eigenen Raum z u schaffen. W i e sonst nur in Familien und Liebesbeziehungen streben auch die H o s p i z e an, d a s s hier alles relevant sein soll, w a s für ihre M i t g l i e d e r relevant ist. Für ein H o s p i z sind alle kommunikativen Beteiligungen relevant, die für seine Patienten relevant sind insofern sie ihr memento mo π im weitesten Sinne betreffen. Denn das bedeutet, d a s s alle Aspekte des Sterbens und des Todes, die vom jeweiligen Patienten geäußert werden, im H o s p i z einen gemeinsamen Adressaten finden. Physische S c h m e r z e n s o w o h l a l s auch Seelennöte; Angst vor dem, w a s nach dem T o d e kommt, w i e auch quälende G e d a n k e n an Fehler und Verfehlungen im vergangenen Leben. In diesem Sinne kann sich der Patient im H o s p i z mit allen ihm wichtigen Aspekten seiner Person und Biographie einbringen.
5. Empirische
Daten'8
Es werden im folgenden die U m f r a g e e r g e b n i s s e vorgestellt, die sich auf die G r u p p e der Pflegekäfte beziehen. Bei B e d a r f werden kontrastierend die Daten aus den anderen Berufsgruppen präsentiert. 18
Die in dieser Arbeit verwendeten Daten stammen aus einer Umfrage, die im
Sommer 2 0 0 3 für den H o s p i z v e r e i n Trier durchgeführt wurde und deren Ergebnisse als „Bestandsaufnahme 2 0 0 3 " (s.o.) veröffentlicht wurden. Geplant war eine Vollerhebung, d.h. es sollten alle diejenigen befragt werden, die in Trier und Trier-Saarburg beruflich mit der Begleitung von Sterbenden z u tun haben. Die Befragten waren alle Angehörige der folgendermaßen zusammengefassten Berufsgruppen: Pflegekräfte im ambulanten und stationären Bereich ( N = 6 8 2 , 0 8 , 5 % | ; niedergelassene Ärzte und Krankenhausärzte (N—141,
14,2%);
Psychologen/Sozialarbeiter/Sozialpädagogen
(N-79,
7,9%);
Seelsorger ( N - 5 5 , 5 , 5 % ) ; ehrenamtliche H o s p i z h e l f e r ( N - 3 8 , 3 8 % ) . (Die Zahlen in Klammern geben die absolute und die relative Häufigkeit der Befragtengruppen am Rücklauf wieder.) Insgesamt wurden 3 2 8 1 Fragebögen ausgegeben, 9 9 5 sind ausgefüllt zurückgeschickt worden. Die Rücklaufquote beträgt damit 3 0 % , das Z i e l einer Vollerhebung wurde somit nicht erreicht. Die geplante Vollerhebung konnte aus Gründen mangelnder Kooperationsbereitschaft verschiedener Institutionen nicht realisiert werden. In manchen Fällen zogen Einrichtungen ihre Teilnahme an der Umfrage zurück, in anderen Fällen wurden bereits ausgefüllte Fragebögen nicht oder nur teilweise herausgegeben. Da die Erhebungsdaten daher aber auch nicht auf einer Zufallsauswahl beruhen, sind keine Generalisierungsschlüsse möglich. Aufgrund der hohen Fallzahlen scheint es uns aber gerechtfertigt, die Ergebnisse der Datenanalyse z u r Kenntnis z u nehmen und ihnen einen gewissen Informationsgehalt zuzusprechen. Die Aussagen und Interpretationen gelten somit nur für die Befragten, sie lassen aber recht starke Vermutungen für die Grundgesamtheit zu. In diesem Sinne ist der Charakter der Studie heuristisch und explorativ.
135
T o d u n d S t e r b e n als s o z i a l e s Ereignis
5.1 U m g a n g mit Sterbenden in der Ausbildung D i e A n t w o r t e n a u f d i e F r a g e , i n w i e w e i t d i e P f l e g e k r ä f t e in ihrer Ausb i l d u n g a u f d e n U m g a n g mit S t e r b e n d e n v o r b e r e i t e t w e r d e n , s i n d trügerisch. Im F r a g e b o g e n für d e n H o s p i z v e r e i n w a r d i e F r a g e s c h l i c h t : „ W a r d e r U m g a n g mit S t e r b e n d e n e i n T h e m a in Ihrer A u s b i l d u n g ? "
80%
der befragten Pflegekräfte bejahten diese Frage. Aus der Korrelation d i e s e r F r a g e mit d e r D a u e r d e r B e r u f s t ä t i g k e i t w u r d e e r k e n n b a r , d a s s sich d i e s e s T h e m a in d e n l e t z t e n z w a n z i g J a h r e n z u n e h m e n d in d e r A u s b i l d u n g d u r c h g e s e t z t hat. T a b . 1: P f l e g e k r ä f t e : U m g a n g mit S t e r b e n d e n als T h e m a in d e r Ausb i l d u n g in A b h ä n g i g k e i t v o n d e r B e r u f s d a u e r Weniger A n g a b e n in%
Bin noch
als 2
Schüler
Jahre be-
2 - 5 Jahre
6-10
11-20
Jahre
Jahre
rufstätig U m g a n g mit S t e r b e n d e n als
Nein Ja
1,0
6,5
9,8
13,6
31,1
99,0
93,5
90,2
86,4
68,9
97
31
92
154
286
Ausbildungsthema Ν Cramer's V - .301
O b j e k t i v u n d f o r m a l w i r d nun a l s o j e d e in A u s b i l d u n g b e f i n d l i c h e Pfleg e k r a f t a u f d e n U m g a n g mit S t e r b e n d e n in d e r A u s b i l d u n g v o r b e r e i t e t . D i e F r a g e ist b l o ß , w i e d i e s e V o r b e r e i t u n g i n h a l t l i c h a u s s i e h t u n d w e l c h e T h e m e n g e b i e t e m ö g l i c h e r w e i s e z u kurz k o m m e n . W i r g e h e n aus guten G r ü n d e n von einem U b e r h a n g der medizin i s c h - t e c h n i s c h e n p f l e g e r i s c h e n K o m p e t e n z e n aus, d e n e n nur m a r g i n a l ausgebildete kommunikative Fähigkeiten gegenüberstehen. Für d i e P f l e g e k r ä f t e e r g i b t sich f o l g e n d e s Bild:
136
Alois H a h n und M a t t h i a s H o f f m a n n
T a b . 2: W e l c h e T h e m e n g e b i e t e fehlten in Ihrer A u s b i l d u n g o d e r k a m e n z u kurz? A n g a b e n in % G e s p r ä c h s f ü h r u n g mit A n g e h ö r i g e n
50,5
Palliativmedizin
50,2
Psychische Betreuung s t e r b e n d e r Patienten
46,5
G e s p r ä c h s f ü h r u n g mit Patienten
45,2
I n f o r m a t i o n e n zu Fragen w i e Pflegerichtlinien, Pflegeversicherung
43,5
oder Sterbegeld Rechtliche G r u n d l a g e n d e r S t e r b e b e g l e i t u n g
39,7
Schmerztherapie
38,3
Minimalmedizin
31,4
I n f o r m a t i o n e n zur n a c h s t a t i o n ä r e n V e r s o r g u n g
5,9
Sonstiges
6,0
Ν
630
Es z e i g t sich also: A n t e c h n i s c h e n K o m p e t e n z e n fehlt es w e n i g e r . Bek l a g t w i r d , dass m a n d e n k o m m u n i k a t i v e n H e r a u s f o r d e r u n g e n nicht g e w a c h s e n ist, w e i l m a n für sie nicht h i n l ä n g l i c h a u s g e b i l d e t w u r d e . Eine g r o ß e u n d w i c h t i g e A u s n a h m e ist a l l e r d i n g s a u c h d o r t z u verz e i c h n e n : Immerhin d i e H ä l f t e d e r B e f r a g t e n f i n d e t d a s T h e m a Palliativm e d i z i n in d e r A u s b i l d u n g unterrepräsentiert. A b e r a u c h dies h ä n g t d a v o n a b , w i e l a n g e d i e A u s b i l d u n g zurückliegt, u n d mithin ist Palliativmedizin heute in n a h e z u d r e i Vierteln aller A u s b i l d u n g e n integriert. T a b . 3: Palliativmedizin als f e h l e n d e r A u s b i l d u n g s i n h a l t in A b h ä n g i g keit v o n d e r B e r u f s d a u e r
Bin n o c h
A n g a b e n in %
Schüler
Weniger als 2 Jahre
2 - 5 Jahre
berufstätig
6-10
11-20
Jahre
Jahre
Palliativmedi-
Nein
72,4
72,4
61,2
54,0
36,1
zin f e h l e n d
Ja
27,6
27,6
38,8
46,0
63,9
76,0
29,0
85,0,
150,0
285,0
Ν Cramer's V = .278
Auf d e r t e c h n i s c h e n Seite d e s B e r u f s b i l d e s k a n n d i e A u s b i l d u n g a l s o als a d ä q u a t b e z e i c h n e t w e r d e n . Eine a n g e m e s s e n e Praxis d e r Sterbeb e g l e i t u n g ruht a b e r nur z u m e i n e n Teil auf d e r S ä u l e d e r instrumentell
137
T o d und Sterben als s o z i a l e s Ereignis
technischen Kompetenzen wie etwa Palliativmedizin. Gute Sterbebegleitung umfasst auch Zuwendung im weiteren Sinne. Ins Gewicht fallen hier also die kommunikativen Fähigkeiten, und genau diese werden samt und sonders mehrheitlich als fehlend oder als z u kurz gekommen qualifiziert. Für die Hälfte der Befragten ist das Thema „Gesprächsführung mit Angehörigen" in der Ausbildung nicht angemessen berücksichtigt worden, und für jeweils rund 4 5 % der Befragten gilt dies auch für die Themen „Psychische Betreuung sterbender Patienten" und „Gesprächsführung mit Patienten". W e n n das also je rund 4 5 % der Befragten sagen, dann entspringt dieses Urteil der Erfahrung der alltäglichen Arbeit, w o man mit den Patienten Gespräche führen muss und damit nicht zurechtkommt. Es ist wohl mit Fug und Recht anzunehmen, dass nicht gemeint ist, nackte Zahlen, Untersuchungswerte oder Entlassungstermine mitzuteilen. Die Gesprächsthemen, die Sorge machen, sind vor allem eine infauste Diagnose, die Erkenntnis der Unheilbarkeit der Krankheit, Fragen nach dem Sterben, den Schmerzen und dem nahen Tod und manchmal auch nach dem Jenseitsschicksal. Dies jedenfalls legen die Antworten auf die Frage nach besonders belastenden Situationen nahe. W i r hatten die Pflegekräfte gefragt: „Welche Situationen in der Sterbebegleitung sind für Sie bei Arbeit besonders
Ihrer
belastend?"
Tab. 4 : Pflege in „besonders belastenden Situationen" Angaben in % Sterben von Erwachsenen jüngeren Alters
72,0
Starke Schmerzen der Patienten
70,9
Verzweiflung und Todesangst von Patienten
62,7
Emotionale Verbundenheit mit Patienten
56,0
Nicht mehr helfen z u können
50,4
Sterben von Erwachsenen mittleren Alters
38,5
Nicht erfüllbare Erwartungen an die Pflege
30,4
Gespräche mit Angehörigen
29,2
Gespräche mit Patienten
18,5
Patienten verweigern Therapie
7,7
Sterben von Erwachsenen höheren Alters
7,6
Sonstiges Ν
7,3 671
Das Sterben von Kindern und jungen Menschen ist heute eine immer als schlimm, wenn nicht als skandalös empfundene Situation, und dies unabhängig von kommunikativen Fähigkeiten. Der Tod des jungen
138
A l o i s H a h n und M a t t h i a s Hoffmann
Menschen ist ein Skandal, auf den sich unsere Gesellschaft nur schwer einstellen kann. Allerdings gilt dies keineswegs historisch universal für alle Gesellschaften. Dass der verfrühte Tod für uns nur als Katastrophe gesehen werden kann, die sich jeglicher Sinngebung entzieht, hängt eng mit dem weitgehenden Verlust von Jenseitsvorstellungen zusammen. Erlösung gibt es etwa für die Menschen des Mittelalters ohnehin nur im Jenseits und ist überdies von vielem abhängig, aber eben gerade nicht vom Alter zum Zeitpunkt des Todes. M i t dem W e g f a l l der Jenseitsvorstellungen geht auch die Möglichkeit verloren, dass den Verstorbenen eine Funktion für die Hinterbliebenen zukommen kann. Von gestorbenen, aber getauften Kindern nahm man an, dass sie etwa die Rolle eines Fürbitters im Jenseits einnehmen könnten. Insofern war der Tod nicht schlechthin das Ende aller Hoffnungen, sondern auch etwas, an das sich Hoffnungen und Erwartungen anschließen konnten. Für die heutige deutsche G e s e l l s c h a f t " kann wohl kaum noch von einem Glauben an „Erlösung", sondern eher vom Streben nach „Erfüllung" gesprochen werden, sieht man einmal von dem immer kleiner werdenden Anteil gläubiger Menschen ab. Die Erfüllung eines Lebens kann sich aber nur im Diesseits einstellen. Die Redewendung „jemand sei z u früh gestorben" spielt darauf an. Damit ist gemeint, dass der Betreffende gestorben ist, bevor er ein erfülltes Leben hatte. Als besonders dramatisch wird dies beim Tod von Kindern und Jugendlichen empfunden, weil es dann aufgrund der kurzen Lebensspanne keine Möglichkeit der Erfüllung gab. W e n n die Verwirklichung im Diesseits erfolgen muss, ist der frühe Tod ein dramatisches Problem ( 7 2 % der befragten Pflegekräfte zählen den Tod von jungen Menschen z u den besonders belastenden Situation in ihrer Arbeit). Aber auch das Sterben von Erwachsenen mittleren Alters wird noch von fast 4 0 %
der
Befragten als besonders belastend empfunden. Der Tod wird dann als Scheitern gesehen, als ein plötzliches Abreißen der Möglichkeit, das ganze Potential des Lebens auszuschöpfen. Die Vorstellung von einem „erfüllten Leben" ist in der gegenwärtigen Gesellschaft typischerweise eng verknüpft mit einer langen Dauer des Lebens. In Todesanzeigen wird dieses Attribut nur Menschen zugesprochen, die in hohem Alter verstarben: „Nach einem langen und erfüllten Leben starb unser geliebter..."
19 Diese S p e z i f i z i e r u n g ist gerade in der aktuellen Gegenwart angesichts religiös motivierter Selbstmordattentate unerlässlich. W i r beziehen uns hier also auf die westliche und s p e z i e l l auf die deutsche Gesellschaft.
139
T o d und Sterben als s o z i a l e s Ereignis
Der gute T o d ist in der G e g e n w a r t der Tod, der ein langes Leben beendet. U n d wenn der gute T o d eintritt, stellt er keine dramatische Situation dar. ( N u r 7 , 6 % der befragten Pflegekräfte zählen das Sterben eines alten M e n s c h e n z u den besonders belastenden Situationen in ihrer Arbeit der Sterbebegleitung.) Auch die 7 0 % der Befragten, die starke S c h m e r z e n der Patienten als besonders belastende Situation empfinden, sind kein Beleg für einen inhaltlichen M a n g e l in der Ausbildung, sondern eher ein Hinw e i s darauf, d a s s sich das W i s s e n um Möglichkeiten der Schmerztherapie noch nicht ausreichend durchgesetzt hat. S c h m e r z e n müsste bei den hochpotenten Analgetika der modernen M e d i z i n kaum noch ein M e n s c h haben. D a s s es belastend ist, einen M e n s c h e n körperliche Q u a l e n ausstehen z u sehen, muss nicht begründet werden. Ebenso w i e früher ergibt sich auch heute bei solchen Situationen Redebedarf, aber im G e g e n s a t z z u früheren Gesellschaften verfügen wir w e d e r über s o z i a l verbindliche Formen der Tröstung noch der Sinngebung. B e i den rund 6 3 % der Befragten, für die V e r z w e i f l u n g und Todesangst von Patienten eine belastende Situation darstellen, liegt der Fall etwas anders. Es w ä r e z u fragen, warum rund 3 7 % der diese Situation nicht
Befragten
a l s belastend empfinden. Darauf aber geben die
Daten der Umfrage keine H i n w e i s e . D a s s G e s p r ä c h e bei V e r z w e i f l u n g und T o d e s a n g s t eine helfende W i r k u n g entfalten können, w i r d von den befragten Pflegekräften zumindest für möglich gehalten. Es taucht hier w i e ein Echo das beanstandete Defizit der Ausbildung wieder auf: Die psychische Betreuung Sterbender hätte genau dies als zentralen Inhalt. Sterben ist, jedenfalls phasenweise, immer mit V e r z w e i f l u n g und T o d e s a n g s t verbunden. Dies ist auch historisch immer so gewesen, wenn auch die Angst im Mittelalter eher auf die Furcht vor der H ö l l e b e z o g e n gewesen sein mag als auf das Ende des irdischen Lebens. Auf die Konfrontation mit solchen Phasen müsste eine Ausbildung vorbereiten.
5 . 2 Strukturelle Gründe für den Mangel in der Ausbildung Die befragten Pflegekräfte konstatieren M ä n g e l in ihrer Ausbildung, wenn es um den U m g a n g mit Sterbenden geht. Abhilfe ist hier aber nicht ohne weiteres z u schaffen. Die Defizite sind in vieler Hinsicht nur die Kehrseite erwünschter und beabsichtigter A u s b i l d u n g s z i e l e .
Wir
haben es hier a l s o mit strukturellen Z w ä n g e n z u tun. Auf T o d und Sterben vorbereiten heißt nämlich in der Ausbildung der Pflegekräfte w i e auf allen anderen Gebieten auch: technisches
140
A l o i s H a h n und M a t t h i a s Hoffmann
W i s s e n vermitteln. In der Tat gibt es eine M e n g e Unterrichtsstoff, der diesem Gebiet zugeordnet ist. (Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne systematische Ordnung lässt sich etwa an das Waschen der Leichen, Desinfektion, medizinisch-technische Handgriffe bei der Sterbebegleitung: Flüssigkeitssubstitution, Magensondenernährung u.ä. denken.) Entscheidend ist, dass alles dies aber technische Fragen sind, die sich dem spezialisierten Ausschnitt der Pflegearbeit verdanken, somit nur Aspekte des Menschen betreffen, insofern er Patient ist, nicht aber das sterbende Individuum als Individuum selbst. Die Reduzierung oder besser: die Abkoppelung der eigentlichen Arbeit, so wie sie in der Ausbildung vorgesehen ist, von der umfassenderen Realität des Arbeitsalltags stellt sich für die arbeitenden Pflegekräfte oft als undurchführbar heraus. Es ist eben nicht möglich, Patienten z u pflegen und nur die Pflegehandgriffe auszuführen, ohne in ein interpersonales Verhältnis zum Patienten z u treten. Die strukturellen Gründe für das Fehlen bzw. Zu-kurz-kommen des Themas „Umgang mit Sterbenden" in dem Sinne, wie die Befragten es für ihre Arbeit brauchten, hängen damit zusammen, dass die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft keinen Platz mehr für das Individuum als solches vorsieht. Das Individuum operiert in keinem Funktionssystem als G a n z e s , folglich kann sich ein solcher Platz dann auch nicht in den Subsystemen finden, die die Funktionsfähigkeit dieser Systeme garantieren. Das heißt: In der Ausbildung wird natürlich auf nichts vorbereitet, w a s es nicht gibt. W a r u m sollen also von Tod und Sterben jenseits von technischem W i s s e n gehandelt werden, wenn die Profession darauf gerade nicht ausgerichtet ist? 2 0
6.
Schluss
Die Daten der Studie über die Hospizbewegung scheinen sehr speziell z u sein. Sie zeigen aber, wie das Bild guten Sterbens aussieht. 21
2 0 Vgl. hierzu Luhmann, „Individuum, Individualität, Individualismus", a.a.O.; Cornelia B o h n / A l o i s Hahn, „Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung. Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft", in: Herbert W i l l e m s / A l o i s H a h n (Hg.), Identität und Moderne, die Person, 21
Frankfurt a . M . 1 9 9 9 , S. 3 3 - 6 1 ; Cornelia Bohn: Inklusion,
Exklusion
und
Konstanz 2 0 0 6 , S. 4 0 - 4 4 und passim.
„Schmerzfreiheit" zählen 9 6 , 5 % der Pflegekräfte in unserer Hospizstudie z u ei-
ner guten Sterbebegleitung, „Eine den Bedürfnissen und Wünschen der Patienten angepasste Pflege" 9 0 , 5 % , „Für ein angenehmes und würdevolles Umfeld sorgen"
88,7%,
„Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige" 8 5 , 2 % , „Für Patienten ,nur da sein'" 8 5 % ,
T o d u n d S t e r b e n als s o z i a l e s Ereignis
141
G e r a d e dass d i e professionell mit S t e r b e n d e n Befassten s t ä n d i g unter d e m Konflikt l e i d e n , dass sie d a s nicht leisten k ö n n e n , w a s sie eigentlich leisten m ö c h t e n , v e r w e i s t auf ein g r u n d s ä t z l i c h e s Problem: D i e i d e a l e Situation d e s S t e r b e n s w ä r e , d a s s m a n n a c h e i n e m erfüllten L e b e n o h n e S c h m e r z e n , mit sich u n d d e r W e l t z u f r i e d e n , im Kreise seiner Lieben d e n G e i s t a u f g i b t . D i e r e a l e Situation d e s S t e r b e n s g e s t a l t e t sich a b e r oft v ö l l i g a n d e r s . E n t w e d e r kann m a n nicht in d e r Familie sterben, w e i l es keine A n g e h ö r i g e n mehr g i b t o d e r w e i l d i e s e v ö l l i g ü b e r f o r d e r t w ä r e n . Sie sind selbst h ä u f i g bereits sehr alt o d e r d u r c h b e r u f l i c h e Pflichten zeitlich u n d räumlich a n d e r w e i t i g g e b u n d e n . In jed e m Falle w ä r e n sie technisch i n k o m p e t e n t , mit d e n A u f g a b e n fertig z u w e r d e n , d i e p r o f e s s i o n e l l e S c h u l u n g v o r a u s s e t z e n . D e n n es g e h t nicht nur um m e n s c h l i c h e W ä r m e , Trost u n d N ä h e , s o n d e r n a u c h um d i e sehr p r a k t i s c h e V e r s o r g u n g d e s Patienten, d i e vor a l l e m immer h ä u f i g e r h o c h s p e z i a l i s i e r t e Technik voraussetzt, w i e sie e i g e n t l i c h nur palliativmedizinische Abteilungen von Krankenhäusern bieten können. Dort a b e r w e r d e n Patienten - a u c h in d e r Rolle als S t e r b e n d e - selbst b e i w e i t e s t g e h e n d e r B e r ü c k s i c h t i g u n g ihrer g a n z p e r s ö n l i c h e n Bedürfnisse erst e i n m a l e b e n d o c h als Patienten b e h a n d e l t . D a s lässt sich a u c h nicht w i r k l i c h ä n d e r n . Bei a l l e m E n g a g e m e n t , d a s hier in d e r Regel a u f g e w a n d t w i r d : J e m a n d , d e r t ä g l i c h d r e i o d e r mehr S t e r b e n d e betreut u n d im Verlauf v o n kurzen Z e i t s p a n n e n vieler M e n s c h e n S t e r b e n erlebt, muss sich subjektive D i s t a n z i e r u n g s s t r a t e g i e n z u e i g e n m a c h e n . Sonst w ä r e er seiner A u f g a b e auf d i e D a u e r nicht mehr g e w a c h s e n . 2 2 In unserer Studie w i r d a b e r v o n d e n B e f r a g t e n nicht d i e s e S c h w i e rigkeit thematisiert. V i e l m e h r w e i s e n d i e K r a n k e n s c h w e s t e r n - es hand e l t sich b e i m P f l e g e p e r s o n a l zur ü b e r w i e g e n d e n M e h r h e i t um Frauen - auf Z e i t k n a p p h e i t 2 3 u n d A u s b i l d u n g s d e f i z i t e hin. D i e sind in d e r Tat
„ G e s p r ä c h e mit Patienten" 8 4 , 8 % , „ G e s p r ä c h e mit A n g e h ö r i g e n " 8 0 , 1 %, „Seelsorgerische Betreuung d e r Patienten" 75,1 %, „Patienten kleinere W ü n s c h e erfüllen" 6 2 , 3 %, „Patientenwünsche a u c h d a n n respektieren, w e n n sie medizinisch nicht indiziert sind" 6 0 , 4 % , „ W a h r h e i t a m Krankenbett" 4 6 , 8 % , „ S e d i e r u n g b e i B e d a r f " 4 4 , 4 % , „ S y m p t o m k o n t r o l l e " 27^3%, „Formelle A n g e l e g e n h e i t e n für Patienten e r l e d i g e n " 2 4 , 8 % , „Sonstiges" 9,1 %. 2 2 Z u dieser Problematik u n d Strategien z u ihrer V e r m e i d u n g siehe Christine Pfeffer, „,Ich h a b ' g a r nicht g e m e r k t , w i e ich d a r e i n g e z o g e n w u r d e ' : Zur D y n a m i k v o n Individ u a l i s i e r u n g u n d N ä h e in d e r P f l e g e a r b e i t stationärer H o s p i z e " , in: K n o b l a u c h et al., T h a n a t o s o z i o / o g i e , a . a . O . , S. 1 0 3 - 1 2 5 . 2 3 S o z.B. hätten 8 1 , 9 % der P f l e g e k r ä f t e g e r n mehr Zeit für „ G e s p r ä c h e mit Patienten", „ S e e l i s c h e Unterstützung d e s Patienten" 7 2 , 7 % , „ G e s p r ä c h e mit A n g e h ö r i g e n " 6 2 , 8 % , „ P f l e g e " 5 6 , 5 % , „ G e s p r ä c h e mit K o l l e g e n " 21,1 %, „ G e s p r ä c h e mit Seelsorg e r n " 1 6 % , „ G e s p r ä c h e mit H o s p i z h e l f e r n " 1 4 , 8 % , „ G e s p r ä c h e mit Ä r z t e n " „ E r n ä h r u n g " 1 3 , 6 % , „ D o k u m e n t a t i o n " 9 , 4 % , „ S o n s t i g e A u f g a b e n " 1,8%.
14,4%,
142
A l o i s H a h n und M a t t h i a s Hoffmann
nur allzu realistisch gegeben. W a s weniger deutlich wird, ist Folgendes: Selbst wenn mehr Zeit und Kompetenz zur Verfügung stünden, wäre der Konflikt nicht z u überwinden, der sich aus der Professionalität der Betreuung als solcher ergibt. Die Hospizbewegung versucht insofern eine Art von Quadratur des Zirkels: Höchst professionelle Formen des Umgangs mit Patienten, die aber auf die Patienten wirken, als würden sie von Familienangehörigen umgeben; z u Hause wie im H o s p i z und im H o s p i z wie z u Hause. Gerade in diesem Kontext ist die Suche nach Laienhelfern höchst bedeutsam: S i e könnten die Rolle von „Familienmitgliedern" übernehmen, wenn sie im übrigen von professionellen Kräften in den Bereichen unterstützt würden, in denen nur Spezialisten arbeiten können. Das Dilemma liegt gleichwohl auf der Hand: Diejenigen, die dem Sterbenden menschlich nahestehen, sind, selbst wenn sie das Sterben begleiten könnten, technisch nicht kompetent und umgekehrt. In einer Gesellschaft, in der die Z a h l der Kinderlosen und die Z a h l der dementen Hochbetagten zunimmt, gibt es außerdem immer häufiger keine Familie, auf die zurückgegriffen werden könnte. Die große Aufgabe, die sich stellt, ist also, eine Art „Sterbefamilie" z u bilden, die aus Freunden und Schicksalsgenossen bestehen könnte und die von „Sterbespezialisten" in all den Fragen unterstützt wird, w o Laien mit ihrem Latein am Ende sind. Unsere Gesellschaft hat ein strukturelles Problem mit dem Sterben, weniger mit dem Tod. W i r haben versucht, in einer für Deutschland repräsentativen Studie 2 4 die Ängste herauszubekommen, welche Tod, Sterben und schwere Krankheiten auslösen. Es wird dabei sichtbar, dass nicht etwa Todesangst im Zentrum der Angst steht. Fast 3 0 % der Befragten fürchteten sich bei einer schweren Krankheit vor allem davor, keine Kontrolle mehr über ihre Körperfunktionen z u haben. Ungefähr der gleiche Prozentsatz ( 2 7 % ) sah den geistigen Verfall als die schlimmste Bedrohung an. Die Bedrohung durch den Tod wird von nicht einmal einem Fünftel als das „Allerschlimmste an einer schweren Krankheit" angeführt. Auch die Schmerzen glauben die meisten (mit Ausnahme von 1 4 % ) nicht fürchten z u müssen, da man offenbar darauf zählt, dass die M e d i z i n das Problem im Griff hat. W i r haben Angst vor dem Sterben mit all seinen unvorhersehbaren Belastungen. Deshalb wünscht sich die überwiegende Z a h l der von uns Befragten einen Tod, der ihnen das Nah-Bewusstsein des T o d e s erspart. Auf die Frage „ W i e möchten S i e am liebsten sterben?" antworten 7 8 % mit „Ich würde lieber plötzlich und unerwartet sterben". N u r 2 2 % sagen:
24
Frank L e t t k e / W i l l y H. E i r m b t e r / A l o i s H a h n / C l a u d i a H e n n e s / R ü d i g e r Jacob,
Krankheit
und Gesellschalt,
Konstanz 1 9 9 9 .
143
T o d u n d S t e r b e n als s o z i a l e s Ereignis
„Ich w ü r d e lieber auf d e n Tod vorbereitet und bewusst sterben". Das s a g e n ü b r i g e n s a u c h d i e v o n uns b e f r a g t e n G l ä u b i g e n , d i e sich d e r K i r c h e stark v e r b u n d e n fühlen, u n d d i e k a t h o l i s c h e n G e i s t l i c h e n mehrheitlich. D i e s e Z a h l e n v e r d e u t l i c h e n in d e r Tat e i n e n d r a m a t i s c h e n historischen Bruch. Das, w a s im M i t t e l a l t e r u n d vielerorts bis in d i e j ü n g s t e V e r g a n g e n h e i t als d i e schlimmste Form d e s T o d e s ü b e r h a u p t g a l t , ist zur b e v o r z u g t e n T o d e s a r t a v a n c i e r t . D e m W a n d e l d e r Todesfurcht korrespondiert die Transformation der Jenseitsvorstellungen. Seit d e m 17. J a h r h u n d e r t k a n n m a n in E u r o p a d e n „ D e c l i n e of H e l l " 2 5 b e o b a c h t e n , a l s o d i e Erosion d e s G l a u b e n s a n d i e H ö l l e . In Predigten w i r d das Thema ausgespart.26 Die eigenen A n g e h ö r i g e n und a u c h m a n selbst s c h e i d e n a l s K a n d i d a t e n aus, w o m a n für b e s o n d e r e B ö s e w i c h t e r d i e s e M ö g l i c h k e i t v o r b e h ä l t . D a s heißt nicht, d a s s W e i t e r l e b e n s v o r s t e l l u n g e n g e n e r e l l v e r s c h w i n d e n . A b e r sie n e h m e n i m m e r stärker e i n e n C h a r a k t e r a n , d e r v o n e w i g e n Strafen, g a r H ö l l e n p f u h l e n u n d d e r g l e i c h e n a b s t r a h i e r t . „ W i r k o m m e n alle, a l l e in d e n H i m m e l " , h a t es s c h o n V o r j a h r u n d T a g in e i n e m K a r n e v a l s s c h l a g e r g e h e i ß e n . D e m entspricht w e i t h i n d a s , w a s d i e j e n i g e n g l a u b e n , d i e sich d a s W e i t e r l e b e n als U b e r l e b e n im Jenseits vorstellen. W o b e i d i e H o f f n u n g a u f e i n e r W i e d e r v e r e i n i g u n g mit d e n im Diesseits G e l i e b ten sich v o r a l l e m in T o d e s a n z e i g e n massiv artikuliert. 2 7 A u c h d a , w o sich d i e W e i t e r l e b e n s v o r s t e l l u n g e n a u f s Diesseits b e s c h r ä n k e n , g e h t es um d a s d a n k b a r e A n d e n k e n a n d i e l i e b e n Toten, d i e m a n nicht v e r g e s s e n w i r d . V e r f o l g t m a n d i e T o d e s a n z e i g e n , so scheint d i e s d i e d o m i n a n t e A r t d e r W e i t e r l e b e n s h o f f n u n g z u sein: a u c h n a c h d e m Tod bei d e n e n zu bleiben, die m a n geliebt hat und d i e einen liebten. D e r T o d verliert somit s e i n e n S t a c h e l , u n d d i e H ö l l e a n a n g s t e i n f l ö ß e n d e r M a c h t . W a s a b e r b l e i b t , ist d a s S t e r b e n . H i e r v e r d i c h t e n sich d i e Ä n g s t e . H i e r k o n z e n t r i e r e n sich a l l e r d i n g s a u c h d i e E n e r g i e n , d i e a u f H e i l u n g d r ä n g e n . D e n T o d k a n n m a n nicht a b s c h a f f e n . A b e r m a n k a n n e t w a s d a g e g e n tun, d a s s er sich z u früh o d e r unter m e n s c h e n u n w ü r d i g e n U m s t ä n d e n a b s p i e l t . Es g e h t a l s o nicht m e h r um d i e Ü b e r -
2 5 D a v i d P. W a l k e r , The Decline Torment, Gewissens,
o f Hell. Seventeenth
Century
Discussions
C h i c a g o etc. 1 9 6 4 und H e i n z D. Kittsteiner, Die Entstehung
des
ο I Eternal modernen
Frankfurt α . Μ . u n d Leipzig 1991, S. 1 0 1 - 1 5 6 .
2 6 M i c h a e l Ebertz, „ D i e Zivilisierung G o t t e s u n d d i e Deinstitutionalisierung d e r „ G n a d e n a n s t a l t " . B e f u n d e einer A n a l y s e v o n e s c h a t o l o g i s c h e n Predigten", in: J ö r g B e r g m a n n / A l o i s H a h n / T h o m a s Luckmann (Hg.), Religion und Kultur. S o n d e r h e f t 3 3 der Kölner Zeitschrift
für Soziologie
und Sozialpsychologie,
O p l a d e n 1 9 9 3 , S. 9 2 - 1 2 5 .
2 7 Dies ergibt sich aus ersten Vorstudien, d i e w i r für e i n e b u n d e s w e i t repräsentative Studie zu gesellschaftlichen Einstellungen zu schwerer Krankheit u n d T o d d u r c h g e f ü h r t haben.
144
A l o i s Hahn und M a t t h i a s Hoffmann
Windung des Todes, sondern um die des Sterbens. Die aber kann s o z i a l nicht durch Verdrängung, sondern durch Bekämpfung erreicht werden.
H A N F R I E D H E L M C H E N U N D H A N S LAUTER
KRANKHEITSBEDINGTES
LEIDEN, S T E R B E N U N D
AUS ÄRZTLICHER
1
Zielsetzung
2
Konzeptueller
TOD
SICHT
Kontext
2.1 W a n d e l ärztlicher Aufgaben bei Kontrolle des Lebensendes? 2 . 2 Paradigmenwechsel der M e d i z i n von kurativer Akutmedizin z u präventiver, rehabilitativer und palliativer Langzeitmedizin 2 . 3 Vom Schicksal zum „Machsal" der Selbstbestimmung des eigenen Todes 3
Praktischer
Kontext: Leiden, Sterben und Tod in der
modernen
Medizin 3.1 Sterben und Tod wann? - im Alter - Frauen später als Männer 3 . 2 Sterben und Tod
wodurch?
- Todesursachen - Vorherrschen langzeitigen Leidens 3 . 3 Sterben und Tod wo? - im Krankenhaus/Heim oder z u Hause - allein oder bei den Nächsten 3 . 4 Sterben und Tod wie? 3 . 4 . 1 aus der Sicht des Kranken 3 . 4 . 2 aus der Sicht der Angehörigen 3 . 4 . 3 aus der Sicht des A r z t e s und seiner Mitarbeiter 4
Vertiefungen 4 . 1 Krankheitsbedingte Einschränkungen der Selbstbestimmung (Depression, Demenz, „Wachkoma") 4 . 2 Selbstbestimmung durch (individuelle) Vorausverfügungen 4 . 3 Selbstbestimmung und (gesellschaftlich akzeptierte) Euthanasie
5
Epilog
146
H a n f r i e d Helmchen und H a n s Lauter
1
Zielsetzung
Dargestellt werden soll aus ärztlicher Sicht d a s (empirische) Sein, das (moralische) S o l l e n und das (individuelle) W o l l e n bei krankheitsbedingtem Leiden, Sterben und T o d im Kontext eines tiefgreifenden gesellschaftlichen W a n d e l s .
2 Konzeptueller
Kontext
Zunächst w i r d gefragt, ob und gegebenenfalls w i e sich die Z i e l e ärztlichen H a n d e l n s angesichts eines Paradigmenwechsels der modernen M e d i z i n und einer durch die Idee der Selbstbestimmung des Individuums w i e auch einer durch unbegrenzte Machbarkeitsphantasien beherrschten gesellschaftlichen U m w e l t verändern.
2.1 Wandel ärztlicher Aufgaben? A u f g a b e d e s A r z t e s ist seit jeher die M i n d e r u n g krankheitsbedingten Leidens, seit B e g i n n der Entwicklung von Krankheitslehren auch die Bekämpfung von Krankheiten, mit dem Aufkommen der Aufklärung im 18. Jahrhundert z u d e m eine Verstärkung d e s alten
Gedankens
der (selbst verantworteten) Vorbeugung von Krankheiten ( z . B . Hufeland 1 7 9 7 ) und mit den Fortschritten der wissenschaftlichen
Medi-
z i n in den letzten beiden Jahrhunderten die Erhaltung d e s Lebens. D i e s e Aufgaben d e s A r z t e s w e r d e n w o h l auch in der Z u k u n f t z u seinen Pflichten gehören. A b e r mit der Lebensrettung kann der A r z t den T o d hinausschieben. D i e s e M ö g l i c h k e i t w u r d e z w a r w o h l immer von Kranken gewünscht, aber bis ins 18. Jahrhundert kaum a l s eine ärztliche Pflicht angesehen, da der T o d als ein natürliches S c h i c k s a l a u ß e r h a l b der menschlichen Kontrolle galt (Amundsen 1 9 7 8 ) .
Nun
aber ist z u dieser l e b e n s v e r l ä n g e r n d e n Kontrolle des T o d e s in den letzten z w e i Jahrzehnten mit der aktiven Euthanasie überdies eine lebens verkürzende
Kontrolle d e s T o d e s getreten, die von den meisten
Ä r z t e n nicht als A u f g a b e oder gar Pflicht angesehen, s o n d e r n ausdrücklich abgelehnt w i r d (Helmchen et al. 2 0 0 5 ) . Jedoch v e r w e i s t ein gesellschaftlich
derzeit zunehmend akzeptabel
erscheinender
W u n s c h nach Leidensbeseitigung durch Lebensbeendigung darauf, d a s s sich der Kontext und damit die B e d i n g u n g e n ärztlichen delns unter noch vor k u r z e m unvorstellbaren
Han-
medizinisch-innovativen
Entwicklungen und tiefgreifenden Einstellungsänderungen der G e s e l l schaft erheblich und schnell verändern, s o d a s s die Frage auftaucht,
147
Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und T o d
ob d i e s auch Einfluss auf die Z i e l e ärztlichen H a n d e l n s hat -
insbe-
s o n d e r e im H i n b l i c k auf d a s individuelle W o l l e n schwerstkranker und sterbender M e n s c h e n .
2 . 2 Paradigmenwechsel der Medizin Der (technische] Fortschritt der M e d i z i n hat d a z u geführt, d a s s bei früher tödlichen Erkrankungen, namentlich bei solchen in der Kindheit und im frühen Erwachsenenalter, der T o d heute oft a b g e w e h r t oder hintangehalten w e r d e n kann. Die Folge davon ist ein erheblicher Anstieg der Lebenserwartung. D i e s bedeutet, d a s s sich der T o d in die späten Abschnitte d e s menschlichen L e b e n s z y k l u s
verlagert
hat. A n d e r s a l s in früheren Z e i t e n stellt er oft auch kein unerwartetes, zeitlich umschriebenes, rasches E r e i g n i s mehr dar; er tritt vielmehr meist außerordentlich langsam, viele Jahre nach der
Erstmanifesta-
tion chronisch-progredienter, schleppend verlaufender degenerativer Verschleißkrankheiten
oder nach C h r o n i f i z i e r u n g
bzw.
defizitärem
Ü b e r l e b e n früher tödlicher akuter Erkrankungen ein. Damit findet eine Verschiebung des S c h w e r p u n k t e s der M e d i z i n von akuten
Erkran-
kungen z u chronischen Krankheiten, ein Paradigmenwechsel von der kurativen z u r rehabilitativen w i e auch z u r palliativen M e d i z i n statt. Beschleunigt w i r d d i e s e r Paradigmenwechsel durch die w a c h s e n d e n und mit g r o ß e n E r w a r t u n g e n verbundenen M ö g l i c h k e i t e n kompensatorischer, rekonstruktiver und regenerativer M e d i z i n . S i e kompensiert krankheitsbedingte Einschränkungen, etwa mit A r z neimitteln gegen Diabetes oder Bluthochdruck oder mit B r i l l e und H ö r gerät gegen Abnahme der Sinnesleistungen, w i r d aber zunehmend auch zum „wunscherfüllenden" Ausgleich von „natürlichen" Nachteilen oder Schwächen genutzt b z w . missbraucht; sie rekonstruiert oder ersetzt degenerativ geschwächte O r g a n e , vom neuen Hüftgelenk über die neue H e r z k l a p p e oder den B y p a s s b z w . Stent bis zur Tiefenstimulation etwa bei Parkinsonkranken mittels Hirn-implantierter Elektroden; und sie sucht O r g a n e z u regenerieren, b e i s p i e l s w e i s e ein insuffizientes altes H e r z durch Stammzellinfusionen z u verjüngen. Z u d e m gewinnt die präventive M e d i z i n mit langfristiger tive an Bedeutung. Denn die molekulargenetische M e d i z i n
Perspekvermag
zunehmend häufiger und spezifischer individuelle Krankheitsdispositionen lange vor ihrer Realisierung a l s manifeste Krankheit z u erkennen. Da genetische Dispositionen aber kein blindes, sondern
drohendes
Schicksal sind, das nur in W e c h s e l w i r k u n g mit peristatischen Bedingungen mehr oder weniger beschleunigt oder verlangsamt oder auch gar nicht eintritt, w i r d in der Kontrolle solcher, womöglich individuell s p e z i -
148
H a n f r i e d Helmchen und H a n s Lauter
f i z i e r b a r e r peristatischer Bedingungen ein g r o ß e s präventives Potential gesehen. Diese medizinischen
Errungenschaften haben die
Lebensqualität
vieler, vor allem alter M e n s c h e n wesentlich verbessert. Damit werden aber auch Erwartungen geweckt, d a s s die M e d i z i n ά la longue
alles
reparieren oder zumindest kompensieren, das Sterben also immer wieder v e r z ö g e r n und letztlich den T o d in weite Ferne rücken kann. Auch wenn der T o d unausweichlich sein mag, so erscheint doch jede seiner Ursachen zunehmend und immer wieder korrigierbar.
2 . 3 Vom Schicksal zum „Machsal" der Selbstbestimmung des eigenen Todes S o l c h e Erwartungen von der unbegrenzten Beherrschbarkeit der N a tur, der Machbarkeit d e s Lebens, der „Produktion" von Gesundheit, und der Entfernung des T o d e s aus dem menschlichen Blickfeld stehen in W e c h s e l w i r k u n g mit analogen T e n d e n z e n in der Gesellschaft. Seit Aufkommen der modernen W i s s e n s c h a f t im 16. Jahrhundert und der damit verbundenen technisch-industriellen Revolution hat das Gefühl der M a c h b a r k e i t aller toten und nun auch der lebenden Dinge einschließlich ihrer selbst die M e n s c h e n ergriffen, ebenso w i e sich seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert und damit der „Befreiung des M e n schen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" das K o n z e p t von der Selbstbestimmung des individuellen M e n s c h e n ausgebreitet hat. Dieser Leitgedanke, dem in der gegenwärtigen Rechtsordnung erhebliche Bedeutung beigemessen wird, kommt auch in dem W u n s c h vieler M e n s c h e n z u m Ausdruck, eine Kontrolle über die Bedingungen des eigenen Sterbens auszuüben. Ein solches Bedürfnis erwächst aus der Furcht vor den zunehmenden Möglichkeiten einer technischen Lebensverlängerung, der sich der Bürger durch eine unmittelbare A b w e h r derartiger Behandlungsmaßnahmen oder durch eine vorsorgliche Patientenverfügung für den Fall späterer Einwilligungsunfähigkeit z u entz i e h e n sucht. Denn eine dem T o d abgetrotzte Erhaltung des Lebens ist an das Krankenhaus und oft weitgehende Abhängigkeit von lebenserhaltenden Systemen gebunden. Die Qualität solchen Lebens w i r d von Sterbenskranken — vor allem, wenn kompetente palliativ-medizinische Versorgung fehlt - häufig als so gering eingeschätzt, d a s s sie den T o d vorziehen, indem sie das Sterben geschehen lassen wollen. Darüber hinaus w i r d in der Öffentlichkeit vielfach das Recht schwerkranker
Patienten eingefordert, angesichts eines unerträglichen
Lei-
d e n s z u s t a n d e s das Leben durch ärztliche S u i z i d b e i h i l f e oder Tötung auf Verlangen vorzeitig z u beenden und damit dem natürlichen T o d
149
Krankheitsbedingles Leiden, Sterben und T o d
zuvorzukommen, zumal wenn er als die letzte noch selbst z u bestimmende Möglichkeit erscheint. Dabei allerdings erscheint es als Aporie, dass mit dem Eintritt des nach Art und Zeitpunkt selbstbestimmten Todes jegliche Möglichkeit der Selbstbestimmung endet. Diese lebensbeendenden Maßnahmen sind — gerade auch bei nicht Sterbenden -
in Europa bisher nur in Holland, Belgien und Luxemburg rechtlich
zulässig. Die Freiheit der Selbstbestimmung am Lebensende erscheint aber heute nicht nur durch die paternalistisch gehandhabte Ubermacht einer technisierten M e d i z i n , sondern auch durch gesellschaftliche Kosten-Nutzen-Abwägungen
bedroht, die in wirtschaftlich
erschöpften
Solidargemeinschaften eine sozioökonomisch begründete Lebensverkürzung zur Folge haben könnten. Somit vollzieht sich heute in den entwickelten Sozietäten der westlichen W e l t das krankheitsbedingte Leiden und Sterben des Einzelnen zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit von den technischen Möglichkeiten einer lebenserhaltenden M e d i z i n , von ihrer Finanzierbarkeit und damit nicht zuletzt von der Fähigkeit und dem W i l l e n anderer Menschen zur Fürsorge, zur Solidarität. Das Zusammenwirken dieser Faktoren hat in den letzten Jahrzehnten ein verstärktes Interesse an dem Thema des guten und menschenwürdigen Sterbens hervorgerufen. Eine Flut von thanatologischer Literatur besinnt sich wieder auf das Endereignis unseres Lebens und beschäftigt sich mit neuen Formen der altmodischen Ars moriendi.
Der
Enttabuisierung der Sexualität z u Beginn des vergangenen Jahrhunderts scheint mittlerweile eine Enttabuisierung des Sterbens gefolgt z u sein. Dabei zielen insbesondere die starken Impulse der H o s p i z b e wegung auf eine mitmenschliche und kompetente Begleitung Sterbender ab. Der „eigene" Tod soll sich ohne unnötige lebensverlängernde Maßnahmen in der gewohnten Umgebung oder jedenfalls im Schutz einer fürsorglichen Gemeinschaft vollziehen. Diese gesellschaftliche Entwicklung hat in Verbindung mit den Möglichkeiten der Palliativmedizin z u einer besseren Wahrnehmung und wirksameren Bekämpfung krankheitsbedingten Leidens und Sterbens geführt. Zugleich wurden dadurch Regelungen in Gang gebracht, die dem Sterbenden die Verfügungsgewalt über seinen Körper sichern und ihm die selbstbestimmte W a h l über den Umfang lebensverlängernder
Behandlungsmaßnah-
men überlassen sollen. Aber wenn die Erweiterung dieser Wahlmöglichkeiten eine individuelle Gestaltung des Todes ermöglichen soll, dann ist der Einzelne auf moralische und kulturelle Vorstellungsinhalte angewiesen, die eine unerlässliche Grundlage bedeutsamer persönlicher
Entscheidungen
darstellen und lange Zeit hindurch ein kollektives Verständnis von Ster-
150
Hanfried Helmchen und H a n s Lauter
ben und T o d gewährleisten konnten. Für eine solche Sinndeutung des eigenen Leidens und Sterbens lässt ihn aber die heutige Kultur im Stich. Die zunehmende
Säkularisierung
d a s s die gegenwärtige
der modernen W e l t führte
Gesellschaft keine festgefügte,
dazu,
einheitliche
Wertegemeinschaft mehr darstellt und den E i n z e l n e n aus kulturellen Bindungen herausgelöst hat, in denen er sich jahrhundertelang aufgehoben fühlte. Bisher gültige Anschauungen und religiöse G e w i s s h e i t e n über U r s p r u n g und Z i e l menschlicher E x i s t e n z oder S i n n des individuellen D a s e i n s haben ihre prägende Kraft verloren. S i e e r w e i s e n sich nicht mehr a l s tragfähig genug, um der M e h r z a h l der M e n s c h e n eine ausreichende Orientierungshilfe in B e z u g auf das Z i e l und den S i n n von Leben und Leiden oder das Problem menschlicher Sterblichkeit z u vermitteln. Persönliche Einstellungen z u Leben und T o d weichen daher erheblich voneinander ab. D a z u kommt, d a s s die großen M i g r a t i o n s bewegungen unseres Jahrhunderts das Entstehen multikultureller Gesellschaften verstärken und durch das N e b e n e i n a n d e r verschiedener Kulturen die Verbindlichkeit der eigenen Traditionen verblassen lassen. Vielleicht kann die menschliche Vernunft in fernerer Zukunft z u tragfähigen und verbindlichen Orientierungen führen, die die M ü h s a l des selbstbestimmten M a c h s a i s ähnlich erträglich machen könnten w i e vergehende Bindungen, S y m b o l e und Rituale der Religion, der Tradition, der s o z i a l e n G r u p p e das Schicksal z u ertragen halfen. D e r z e i t allerdings ängstigt viele M e n s c h e n die Hilflosigkeit z w i s c h e n nicht mehr tragenden Bindungen alter Prägung und noch nicht genügend konkret erfahrbaren neuen und zukünftigen Orientierungen. Z u d e m
braucht
der M e n s c h für die Bildung und stabilisierende Tradierung neuer W e l t anschauungen generationenübergreifende Zeit.
3. Praktischer
Kontext: Leiden, modernen
Sterben
und Tod in der
Medizin
Einen Eindruck der W i r k l i c h k e i t von Sterben und T o d in Deutschland vermitteln folgende empirische Daten und ärztliche Erfahrungen.
3.1 Sterben und Tod
wann?
Ü b e r 9 0 % der Verstorbenen sind z u m Zeitpunkt ihres T o d e s älter als 6 5 Jahre (Statistisches Bundesamt 2 0 0 5 ) . Der T o d ist also heute in die Ferne des kalendarischen Alters gerückt. D i e s hat z u r Folge, d a s s M e n s c h e n in der Jugend und im Erwachsenenalter viel seltener als
151
K r a n k h e i t s b e d i n g t e s Leiden, S t e r b e n u n d T o d
früher unmittelbar mit dem Krankheits- und Todesschicksal von N a h e stehenden in Berührung kommen. Erst im Alter werden sie von der existentiellen Erfahrung des eigenen Sterbens betroffen. Sie befinden sich dann in einer Lebensperiode, in der die Stabilität des Selbst von den mehr und mehr unabweisbaren körperlichen und seelischen Altersveränderungen, von altersassoziierten Krankheiten und Behinderungen und von der Gefahr eines dementiellen Abbauprozesses bedroht ist. Das nahende Lebensende lässt sich nicht mehr völlig verdrängen. Der G e d a n k e an den eigenen Tod ist zu einem Vorstellungsinhalt geworden, der hierzulande nahezu ausschließlich zur Erfahrungswelt des älteren Menschen gehört. Frauen sind bei ihrem Tode älter als Männer. Auch dies ist Folge des demographischen W a n d e l s mit fast einer Verdoppelung der Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren, bei den Frauen noch stärker als bei den Männern. Dementsprechend nimmt die relative Häufigkeit der Frauen mit steigendem Alter ebenso wie ihr Witwenstand stark zu, der bei den über 80-jährigen Frauen mehr als fünfmal häufiger als bei den Männern zu finden ist (Statistisches Bundesamt 2 0 0 5 ) . Bei weiterer Zunahme von Lebensdauer und Single-Haushalten sowie weiter abnehmender Kinderzahl könnte das Sterben noch einsamer werden.
3.2 Sterben und Tod
wodurch?
Im Jahre 2 0 0 3 starben in Deutschland über 8 5 0 0 0 0 Menschen, davon fast die Hälfte an Herzkreislauferkrankungen, ein weiteres Viertel an Krebserkrankungen, während durch Verletzungen,
Vergiftungen
und andere äußere Ursachen weniger als 5%, darunter 1.3% durch Suizid (davon drei Viertel Männer), zu Tode kamen. Diesen Daten liegen ärztliche Diagnosen zugrunde, die auf den Totenscheinen vermerkt sind. Sie g e b e n meist keine genaue Auskunft über die Krankheiten, die dem Tod vorausgegangen sind oder über deren namentlich bei älteren Patienten sehr häufige Kumulation, die sogenannte Multimorbidität. N a c h N u l a n d (1994) gehören vor allem Arteriosklerose, Bluthochdruck, Krebs, Diabetes, Ubergewicht, Alzheimerkrankheit und Schwächung der Immunabwehr zu den apokalyptischen Reitern, die den meisten Menschen den Tod bringen. Es handelt sich hierbei überw i e g e n d um Erkrankungen, die sich über ausgedehnte Zeiträume hinziehen und eine lange Leidensphase mit sich bringen. D a g e g e n ist ein plötzlicher Tod durch - insbesondere herzkreislaufbedingte - Krankheiten (Herzinfarkte bei 8 % aller Todesfälle) oder äußere Einwirkungen (vor allem Verkehrsunfälle) sehr viel seltener und betrifft weniger als ein Siebtel der Verstorbenen (Statistisches Bundesamt 2 0 0 5 ) .
152
H a n f r i e d H e l m c h e n u n d H a n s Lauter
3.3 Sterben und Tod
wo?
W ä h r e n d die meisten M e n s c h e n bis zu Beginn des 2 0 . Jahrhunderts im Kreis ihrer nächsten A n g e h ö r i g e n und in ihrer häuslichen Umwelt sterben konnten, w u r d e der Tod in den modernen Gesellschaften an medizinische und pflegerische Institutionen delegiert und damit persönlich unvertraut und sozial w e i t g e h e n d unsichtbar. Dies geht auch aus einer repräsentativen Untersuchung hervor, w o n a c h innerhalb eines Jahres fast 5 0 % der M e n s c h e n im Krankenhaus und weitere ca. 2 0 % in Alten- und Pflegeheimen starben. Diesem sich hierzulande überwieg e n d in Institutionen e r e i g n e n d e n Tod steht der W u n s c h des größten Teils der Bevölkerung e n t g e g e n , in der g e w o h n t e n häuslichen Umg e b u n g zu sterben, nicht allein gelassen zu w e r d e n und nicht unter Schmerzen leiden zu müssen. W e n n dieser W u n s c h in nennenswertem U m f a n g realisiert w e r d e n soll, so setzt dies einen erheblichen A u s b a u ambulanter Pflegedienste voraus. M i t der künftigen Z u n a h m e der Leb e n s e r w a r t u n g w i r d der Bedarf an ambulanter und stationärer Pflege weiter ansteigen (Bickel 1 9 9 8 ) . Eine von einer Universitätsklinik, einer care management-Organisation, und einer Rentenversicherung gemeinsam durchgeführte Studie in den USA fand, dass die Kombination von individuellem Fall-Management mit Palliativpflege die Pflege der ü b e r w i e g e n d zu Hause versorgten schwerstkranken US-Bürger praktikabel und effizient verbessert ( M e i e r et al. 2 0 0 4 ) . A b e r auch auf klinische Einrichtungen zur medizinischen Betreuung schwerkranker und sterbender M e n s c h e n kann nicht völlig verzichtet w e r d e n . Es w u r d e errechnet, dass e t w a 18% nicht heilbarer Tumorpatienten eine zumindest v o r ü b e r g e h e n d e stationäre palliativ-medizinische Behandlung b e n ö t i g e n (Beck et al. 1 9 9 8 ) . A b e r nur e t w a 6 % aller Sterbenden erhalten bisher in Deutschland palliativ-medizinische o d e r hospizliche Hilfe (Sabatowski et al. 2 0 0 1 ) . Einem auf ca. 5 0 Palliativ- o d e r Hospizbetten (mit ärztlicher Einbindung) pro einer Million Einwohner geschätzten Bedarf standen nämlich in Deutschland im Jahre 2 0 0 0 nur 13 Betten, also ein noch ungedeckter Bedarf von ca. 7 5 % gegenüber. 1
1 D i e stationäre Palliativ- u n d H o s p i z v e r s o r g u n g hat sich seitdem deutlich g e b e s s e r t , w e n n a u c h immer n o c h e r h e b l i c h e Defizite v o r a l l e m d a r i n b e s t e h e n , dass d i e a m b u lanten Palliativ- und H o s p i z d i e n s t e in e i n z e l n e n R e g i o n e n n o c h u n z u r e i c h e n d e n t w i c k e l t sind u n d e r h e b l i c h e q u a n t i t a t i v e u n d q u a l i t a t i v e U n t e r s c h i e d e a u f w e i s e n .
153
K r a n k h e i t s b e d i n g t e s Leiden, S t e r b e n u n d T o d
3.4 Sterben und Tod
wie?
Tod erleben wir immer nur als den Tod des Anderen, w ä h r e n d der e i g e n e Tod unserem Erleben (oder zumindest der Mitteilung) unzug ä n g l i c h bleibt — und von d a h e r von ersterem deutlich unterschieden ist (Spaemann 2 0 0 4 ) . Dies findet in der jeweils unterschiedlichen Sichtw e i s e der durch das Sterben eines M e n s c h e n Betroffenen Ausdruck. Die Spannweite des U m g a n g e s mit d e m Sterben geht von passiver Hinnahme des tödlichen Schicksals bis zum Versuch seiner selbstbestimmten Kontrolle. Auch wird der schnelle Tod anders als der langsame Tod erlebt.
3.4.1 Sterben und Tod aus der Sicht des Patienten
W ä h r e n d der schnelle Tod für d e n mittelalterlichen M e n s c h e n ein schlechter Tod w a r (Hahn 2 0 0 4 ) , weil er keine Zeit ließ, letzte Dinge zu richten und sich auf das Jenseits vorzubereiten sowie A b s c h i e d zu nehmen, ist er für den heutigen M e n s c h e n ein erwünschter Tod, um nicht den Q u a l e n eines sich länger hinziehenden Sterbens ausgeliefert zu sein (Hahn 2 0 0 4 , Osyatinski 2 0 0 4 ) ; g l e i c h w o h l w o l l e n sich w o h l auch heute Sterbende verabschieden und „mit G o t t ins Reine kommen" (Foley 2 0 0 4 ) . Die
Krankheitsverarbeitung
sterbender
Menschen
ist von
zahl-
reichen Einflussfaktoren a b h ä n g i g . Den zentralen Faktor bilden die Schmerzintensität und der G r a d der Schmerzkontrolle. G e l i n g e n d e s Leben im Prozess des Sterbens ist ohne eine a d ä q u a t e Schmerztherapie nicht möglich. Ein zweiter Faktor ist die Art und Intensität weiterer Krankheitssymptome; hierzu g e h ö r e n Atemnot, Übelkeit, Schweißausbrüche,
Durstgefühl,
Ernährungsmängel,
Erbrechen,
Verstopfungen
o d e r psychische Störungen w i e Depressivität, Verwirrtheit und kognitive Defizite. Denn die Bewältigung schwerer Krankheitszustände w i r d vor allem durch den Verlust der Selbständigkeit und das Bewusstsein zunehmender A b h ä n g i g k e i t erschwert. Der Todkranke ist immer weniger d a z u in der Lage, die Alltagsgestaltung nach eigenen M a ß s t ä b e n zu bestimmen und leidet unter d e n pflegerischen, emotionalen und wirtschaftlichen Belastungen, die er seinen A n g e h ö r i g e n o d e r der Allgemeinheit zumuten muss. Zu d e n Dimensionen der Bewältigung von Leiden und Sterben g e h ö r t auch das Ausmaß, in d e m bis zuletzt eine offene und w a h r h a f t i g e Kommunikation mit A n g e h ö r i g e n ,
Freunden,
Ärzten und Pflegepersonal möglich ist. Darüber hinaus kann das Erleben tödlich Erkrankter stark von der Auseinandersetzung mit existentiellen und spirituellen Fragen bestimmt sein. Es geht d a b e i um die Suche
154
Hanfried Helmchen und Hans Lauter
n a c h d e m Sinn o d e r nach einer t r a g f ä h i g e n Interpretation dessen, w a s d e r Sterbenskranke d e r z e i t erfährt. G l ä u b i g e M e n s c h e n finden Trost in d e r H o f f n u n g auf ein d a s e i g e n e Dasein ü b e r d a u e r n d e s W e i t e r l e b e n in einer jenseitigen W e l t . D i e j e n i g e n , für d i e ein solcher G l a u b e nicht mehr z u g ä n g l i c h ist, suchen angesichts d e s n a h e n d e n Todes d i e letzten D i n g e zu regeln und mit sich ins Reine zu kommen, i n d e m sie auf d a s zurückblicken, w a s ihrem Leben W e r t verlieh und w a s ihnen g e g l ü c k t ist. H i e r b e i stoßen sie a b e r oft auch auf d a s versagt G e b l i e b e n e , M i s s l u n g e n e o d e r schuldhaft Versäumte und können in tiefe Verz w e i f l u n g g e r a t e n , w e n n sie g l a u b e n , sich ein Scheitern ihrer Existenz e i n g e s t e h e n zu müssen. M a n c h e n m a g schließlich der G e d a n k e beruhigen, dass er durch seine W e r k e ( G o t t f r i e d Benn sprach v o n „hinterlassungsfähigen G e b i l d e n " ) o d e r durch seine H a l t u n g auf der letzten W e g s t r e c k e im G e d ä c h t n i s der H i n t e r b l i e b e n e n — g l e i c h s a m diesseits — weiterlebt. Alle diese Faktoren wirken sich auf die W ü n s c h e aus, die ein kranker M e n s c h mit seinem Sterben verbindet. In einer Untersuchung (Kelly et al. 2 0 0 2 ) konnte g e z e i g t w e r d e n , dass sterbenskranke Krebspatienten, die d e n Tod zu beschleunigen wünschten, im Vergleich zu denen, d i e dies nicht wünschten, stärker durch körperliche Symptome und seelisches Leid e n okkupiert w a r e n , sich selbst stärker als eine Last für a n d e r e w a h r n a h men, einen höheren G r a d an Entmutigung erlebten, der Symptomkontrolle w e n i g e r vertrauten und über einen g e r i n g e r e n G r a d an sozialer Unterstützung, g e r i n g e r e Zufriedenheit mit Lebenserfahrungen und weniger religiöse Ü b e r z e u g u n g e n berichteten. A b e r auch habituelle Einstellungen sind für d i e Vorstellungen vom e i g e n e n Sterben m a ß g e b e n d . Denn w e n n g l e i c h sich w o h l jedermann einen „guten" o d e r „ w ü r d i g e n " Tod wünscht, w e r d e n damit d o c h sehr unterschiedliche Erwartungen assoziiert. Grundsätzlich scheint es drei sehr verschiedenartige H a l t u n g e n in B e z u g auf d a s gute Sterben zu g e b e n (Horn 2 0 0 4 ) . Für viele M e n schen sollte ein guter Tod leicht, schnell, unbewusst und schmerzfrei sein. W e r diese Position vertritt, geht von d e m Recht auf ein sanftes Sterben aus und w i r d insbesondere auf eine palliativmedizinische Sterbebegleitung d r ä n g e n . Für A n d e r e ist ein guter Tod g l e i c h b e d e u t e n d mit einem a u t o n o m e n und authentischen Sterben. Sie vertreten d a s Recht auf einen selbstgewählten Tod; es ist ihnen d a h e r wichtig, Zeitpunkt und Art ihres Todes selbst bestimmen zu können. Eine dritte Position betont d a g e g e n die Unverfügbarkeit des Todes. Sie läuft auf d a s Bedürfnis nach einem unverkürzten, natürlichen Sterben hinaus, das nicht durch lebensverkürz e n d e Interventionen beeinflusst w i r d . Die individuellen B e d i n g u n g e n d e s Sterbens o d e r d i e grundsätzlichen W ü n s c h e und Vorstellungen d e s M e n s c h e n über seinen e i g e n e n
Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und Tod
155
Tod sind allerdings nicht die einzigen Faktoren, welche die Auseinandersetzung mit dem Sterben letztlich bestimmen. Elisabeth Kübler-Ross ( 1 9 6 9 | hat erstmals die Aufmerksamkeit auf typische Stadien des Verarbeitungsprozesses gelenkt, die bei der Bewältigung des Sterbens regelmäßig durchschritten werden. In dieser strikten Form ließ sich jedoch eine solche Auffassung nicht bestätigen. In einer Studie an Tumorpatienten wurde im Verlauf von mehreren M o n a t e n bis Jahren eine große Verschiedenartigkeit in der Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit beobachtet (Kruse 2 0 0 4 ) . Dabei ließen sich fünf typische Verarbeitungsformen unterscheiden. Zu einer ersten G r u p p e gehörten jene Menschen, die intensiv danach gesucht hatten, den eingetretenen Zustand zu verbessern und ihre Selbständigkeit aufrechtzuerhalten, die aber gleichzeitig in der Lage waren, ihre zum Tode führende Krankheit zu akzeptieren. Eine zweite G r u p p e von Patienten litt sehr stark unter dem hohen M a ß ihrer Abhängigkeit und wies die Bewältigungsform der Resignation und Niedergeschlagenheit auf. Für eine dritte G r u p p e von Kranken bedeutete das Erleben der begrenzten Zeit den Anstoß zur Suche nach einem neuen Sinn. Einer vierten G r u p p e gelang es, aus einer anfänglichen Depression herauszufinden und die eigene Endlichkeit anzunehmen. Die Patienten der letzten G r u p p e weigerten sich bis wenige Tage vor ihrem Tod, die eigene Gefährdung wahrzunehmen und das Problem der Endlichkeit zu thematisieren. Es zeigt sich also, dass sich Menschen, die von einer zum Tode führenden Krankheit betroffen sind, hinsichtlich der äußeren und inneren Bedingungen des Sterbens, der grundsätzlichen Haltungen gegenüber dem Tod und der Auseinandersetzung mit ihrer Endlichkeit erheblich voneinander unterscheiden.
3 . 4 . 2 S t e r b e n u n d T o d aus d e r Sicht d e r A n g e h ö r i g e n
W e n n ein Angehöriger erfährt, dass ein ihm nahestehendes Familienmitglied von einer Krankheit betroffen ist, die sehr wahrscheinlich zum Tode führt, so löst dies Betroffenheit und Kummer aus. Er muss erst lernen, mit diesem Problem umzugehen. Ein solcher Prozess ist genauso mit Irrtümern, Fehlern, Missverständnissen und teilweise auch mit nicht aufzulösenden Widersprüchen behaftet wie die vorausgegangene Beziehung. Vom Angehörigen wird erwartet, trotz des bedrängenden Gefühls der vorwegnehmenden Trauer eine rücksichtsvolle, aber zugleich offene und wahrhaftige Kommunikationsform gegenüber dem Erkrankten zu finden. Meist bringt die tödliche Krankheit einen zunehmenden Bedarf an Hilfeleistungen mit sich. Dies kann zu einer kaum noch zu bewältigenden Belastung werden. Die Betreuung eines körperlich schwer-
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Hanfried Helmchen und Hans Lauter
behinderten Menschen oder eines Demenzkranken im fortgeschrittenen Krankheitsstadium rund um die Uhr ist mit einem Verzicht auf die Verwirklichung eigener Bedürfnisse und Interessen verbunden; sie geht fast immer mit Schuldgefühlen wegen des als immer noch unzureichend erlebten Einsatzes, der Vernachlässigung anderer Familienmitglieder oder sich ungewollt einstellender aggressiver Impulse einher und führt zu physischer und psychischer Erschöpfung sowie nicht selten (bei ca. 20%) zu psychiatrischer Morbidität. Außerdem kommen auf die Familie des Erkrankten oft erhebliche finanzielle Einbußen zu, die eine Aufzehrung vorhandener Vermögenswerte nach sich ziehen. Auf längere Sicht ist es dem Angehörigen kaum möglich, die Pflege des Kranken in seiner gewohnten häuslichen Umgebung mit der Berufstätigkeit in Einklang zu bringen, so dass sich die Heimunterbringung des Schwerkranken nicht länger vermeiden lässt. Es müssen rechtliche Regelungen erweitert werden, Berufstätigen für die Begleitung eines Familienmitglieds am Lebensende eine vorübergehende berufliche Freistellung zu ermöglichen. Außerdem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass für die Angehörigen der Abschied von dem Erkrankten mit dessen Tod noch längst nicht abgeschlossen ist. Das Trauern um den Verstorbenen kann erheblich erschwert werden, wenn dem Hinterbliebenen aufgrund der organisatorischen Abläufe der institutionellen Routine das persönliche Abschiednehmen verwehrt wurde oder wenn ihm eine solche Möglichkeit aus anderen Gründen versagt blieb. Der Angehörige hat ein Recht darauf, von Anfang an in die ärztliche Behandlung und pflegerische Betreuung eines schwerkranken Patienten einbezogen und in seinem Trauern über den bevorstehenden oder bereits eingetretenen Verlust so lange begleitet zu werden, wie dies erforderlich ist.
3 . 4 . 3 Sterben und Tod aus der Sicht des Arztes und seiner M i t a r b e i t e r
Die A u f g a b e des Arztes und seiner Mitarbeiter besteht darin, sich auf das individuell unterschiedliche Leiden des Patienten und seiner Angehörigen empathisch einzustellen und aus einer objektivierend-kurativen Haltung in eine fürsorglich-begleitende Haltung überzugehen. Das Behandlungsziel besteht dann in einer palliativen Optimierung der noch verbleibenden Lebensqualität durch wirksame Symptomkontrolle. Hierbei ist die Bereitschaft aller an der Behandlung Beteiligten zur Wahrheit erforderlich, welche die Atmosphäre von Halbwahrheiten befreit, ohne jedoch die Hoffnung des Sterbenden zunichte zu machen, zumal „es noch eine andere Hoffnung (gibt), nämlich die auf ein sinnerfülltes Leben bis zuletzt" (Hofmann 1995]. Sterbebegleitung mit personaler N ä h e und Fürsorge ist auch eine zentrale A u f g a b e der
157
Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und Tod
Pflegekraft (Helmchen et al. 2 0 0 6 ) , speziell der Altenpflegerin, die oft den engsten, insbesondere auch körperlich-pflegerischen Kontakt mit dem Sterbenden hat, von ihm in sehr persönliche Gespräche gezogen wird, ihn tröstet und durch teilnehmende N ä h e beruhigt. Klare Verantwortlichkeiten, Bereitschaft z u offenen Gesprächen und Arbeit ohne Zeitnot sollen die Pflegenden entlasten und vor der Gefahr schützen, sich gegenüber dem Leid (und emotionaler Uberforderung) allein gelassen z u fühlen und schließlich in Fehlhandlungen bis hin z u „Tötungen aus Mitleid" hineinzugeraten (Maisch 1997). Dieser Forderung steht die Tatsache gegenüber, dass die Strukturen und Handlungsabläufe der Krankenhäuser meist auf das Z i e l der Lebenserhaltung und -Verlängerung ausgerichtet sind und hierbei „das psychische und soziale Sterben vernachlässigt" wird (Feldmann 2001).
Praxisbezogene
Handlungsanleitungen
für
eine
professio-
nelle und menschliche Sterbebegleitung fehlen häufig oder besitzen nur einen untergeordneten Stellenwert. Der Grundsatz, dass das Behandlungsziel bei schwerkranken und sterbenden Patienten auf eine palliative Symptomlinderung auszurichten ist, wird z w a r
allgemein
anerkannt, hat sich aber in der breiten Praxis noch nicht ausreichend durchgesetzt. Die ethischen Probleme, die mit therapiebegrenzenden Entscheidungen verbunden sind, werden z u wenig reflektiert und transparent gemacht. Eine individualisierende Betreuung von Patienten mit chronisch-progredienten Erkrankungen und infauster Prognose kommt zumindest in vielen Krankenhäusern unter dem Druck ökonomischer Restriktionen und dem hierdurch bedingten Personal- und Zeitmangel immer noch z u kurz. Völlig ungenügend ist auch das derzeitige Angebot an qualifizierten palliativ-medizinischen Einrichtungen. S p e z i e l l gilt dies für (terminal) Kranke mit Schluck- und Atmungsstörungen - z . B . bei neurologischen Krankheiten wie myatrophische Lateralsklerose oder Multiple Sklerose -
und für fortgeschrittene Krebserkrankungen mit
Schmerzen, die zuweilen nur schwer beherrschbar sind. In einem solchen Umfeld kann der A r z t vor der Frage stehen, ob er dem Sterben eines schwerkranken Patienten Raum geben soll, den Tod um einer ausreichenden Symptomkontrolle willen in Kauf nehmen oder gar herbeiführen darf oder ob er sich darum bemühen muss, das Leben mittels medizinischer Interventionen auch um den Preis verlängerten und schwer erträglichen Leidens z u erhalten. Dies gilt besonders im Falle einer interkurrent (oder auch primär) akut auftretenden lebensbedrohlichen Erkrankung, z . B . eines Herzinfarktes, wenn er nicht ausschließen kann, dass sein Kampf gegen den Tod z u einem „artifiziellen" Residuärschaden auf einem mehr oder minder niedrigem Niveau von Lebensqualität oder sogar z u einer vita minima, z . B . einem
158
Hanfried Helmchen und Hans Lauter
„ W a c h k o m a " führt; dies würde ihn später zu der schwierigen Antwort auf die Frage eines Abbruchs der lebenserhaltenden M a ß n a h m e und damit einer passiven Herbeiführung des Todes zwingen (s.u.). Es besteht heute ein weithin geteiltes, allerdings nicht überall in gleicher Weise in die Praxis umgesetztes Einverständnis über die Voraussetzungen, unter denen es ethisch zulässig ist, lebenserhaltende M a ß n a h m e n nicht zu beginnen oder sie zu beenden und einen tödlich Erkrankten sterben zu lassen. Dennoch kann es für einen Arzt sehr schwierig sein, den richtigen Zeitpunkt für eine solche passive Sterbehilfe zu bestimmen. Der langsame und unberechenbare Verlauf der meisten chronischen Krankheiten lässt oft nicht eindeutig erkennen, o b der Tod bereits nahe ist und nicht doch noch für eine nennenswerte Zeit hinausgezögert werden kann. Eine solche Feststellung wird durch technische Entwicklungen und neue verbesserte Behandlungsmöglichkeiten immer mehr erschwert. W e n n Patientenverfügungen ihren Zweck verfehlen, so ist der wichtigste Grund hierfür nicht der fehlende W i l l e des Arztes sie zu respektieren, sondern die Unsicherheit, wann genau diese Bestimmungen in Kraft gesetzt werden sollen, d.h. an welchem Punkt oder innerhalb welcher Grenzen eine lebensverlängernde Behandlung unterbleiben müsste, um ein gutes Sterben zuzulassen (Callahan 1998). Dazu kommen noch ähnliche Schwierigkeiten, wenn sich die Patientenverfügung nicht eindeutig genug auf die mittlerweile eingetretene Krankheitssituation bezieht, oder gar, wenn der W i l l e eines entscheidungsunfähigen Patienten, von dem keine Patientenverfügung vorliegt, für den Arzt nicht erkennbar ist. Außerdem kann sich der Wunsch eines sterbenden Patienten oder seines Bevollmächtigten auch auf ärztliche M a ß n a h m e n richten, die in medizinischer Hinsicht als sinnlos zu erachten sind. Es gibt jedoch keine verlässlichen Kriterien für die Sinnlosigkeit ärztlicher Interventionen (Truog et al. 1992). Auch der Begriff des „Nutzens" einer Behandlung ist hierbei wenig hilfreich. Eine Reanimationsmaßnahme, die lediglich eine Überlebenszeit von wenigen Tagen erwarten lässt oder eine lebensverlängernde Intervention mit einer Erfolgsaussicht von allenfalls fünf Prozent, bringt dem Patienten z w a r keinen ausreichenden medizinischen Nutzen, kann aber von diesem selbst dennoch als sinnvoll angesehen werden. In mehreren Untersuchungen wurde gezeigt, dass sich Patienten, Familienangehörige, Ärzte und Pflegekräfte hinsichtlich der Nutzeneinschätzung einer intensivmedizinischen Behandlung erheblich voneinander unterscheiden (Danis et al. 1987, 1988). Aus diesem Grund sind oft große Anstrengungen vonseiten des Behandlungsteams erforderlich, um die Wünsche und Interessen des Patienten in Erfahrung zu bringen und irrtümliche Erwartungen über den voraussichtlichen
Krankheits-
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Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und T o d
verlauf oder den N u t z e n lebenserhaltender oder -verlängernder Behandlungsverfahren behutsam z u korrigieren. Dennoch lässt sich nicht vermeiden, d a s s Entscheidungen über eine B e g r e n z u n g medizinischer Interventionen von W e r t u r t e i l e n beeinflusst werden und d a s s die an der Behandlung Beteiligten in dem Konflikt z w i s c h e n der Selbstbestimmung des Patienten und seinem W o h l unterschiedlichen
Handlungs-
konsequenzen den V o r z u g geben. Grundlegende Probleme der angesprochenen Entscheidung fokussieren sich im vorausverfügten Behandlungsverzicht für den Fall eines irreversiblen Verlustes des W a c h b e w u s s t s e i n s infolge einer dauerhaften oder voranschreitenden Hirnkrankheit, w i e eines sogenannten „Wachkomas" oder einer Demenz. Dabei ist deutlich z u unterscheiden z w i schen der Vorausverfügung eines gesunden u n d / o d e r eher jüngeren Menschen und einer solchen eines bereits Erkrankten und/oder eher alten Menschen. Im Kontexteines durch Vorstellungen von menschlicher W ü r d e , individueller Selbstbestimmung und dynamischer Leistungsfähigkeit vermittelten Zeitgeistes mag einem gesunden jungen
Menschen
die Aussicht auf eine weitgehende Abhängigkeit von seiner Umgebung schwerer erträglich erscheinen als einem älteren Menschen mit einer beginnenden krankheitsbedingten Funktionseinschränkung, beispielsweise einer Demenz, deren wahrscheinlich ungünstigen weiteren Verlauf er von seinem A r z t rücksichtsvoll erklärt bekommt. Jüngere Menschen haben auch noch mehr Lebenszeit voller Hoffnung und sinnkonstituierenden Aufgaben vor sich, während ältere oder gar hochbetagte Menschen einen guten Teil ihres w i e auch immer gelebten Lebens hinter sich haben und eher bilanzierend auf ihre Lebensgestalt zurückblicken, entweder mehr mit Freude über ein geglücktes Leben oder eher mit Trauer über versäumte Gelegenheiten. Dies gewinnt Gewicht, wenn alte Menschen krank werden und dem Tode langsam entgegengehen.
4
Vertiefungen
Die Forderung nach selbstbestimmter Kontrolle des eigenen Sterbens und T o d e s z w i n g t z u r Frage, inwieweit und unter welchen Umständen solche Selbstbestimmung möglich ist, w i e sie gesichert und ihre Gültigkeit festgestellt werden kann.
4.1 Krankheitsbedingte Einschränkungen der Selbstbestimmung U b e r das Legal-Prinzip der Einwilligung nach Aufklärung, des „informed consent", hat die Selbstbestimmung Eingang in die M e d i z i n gefunden,
160
H a n f r i e d H e l m c h e n u n d H a n s Lauter
z w a r durch staatliche Vorschriften und Rechtsentscheidungen
schon
vor über 1 0 0 Jahren (Vollmann et al. 1 9 9 6 ) , a b e r mit handlungsleitender breiter W i r k s a m k e i t erst in d e n letzten z w e i bis drei D e k a d e n . Die selbstbestimmte Einwilligung d e s Patienten ist Voraussetzung j e d e r ärztlichen Intervention. D a b e i ist heute anerkannt, dass d i e Einwilligungsfähigkeit keine unveränderliche a l l g e m e i n e Eigenschaft des M e n s c h e n ist, sondern nur in Relation zu einem bestimmten Sachverhalt festgestellt w e r d e n kann. Sie w i r d d a b e i einerseits v o m K o m p l e x i t ä t s g r a d d e s zu verstehenden Sachverhaltes, andererseits v o n der geistig-seelischen Verfassung des um seine Einwilligung G e b e t e n e n beeinflusst: so kann ein Patient sehr w o h l d i e N o t w e n d i g k e i t einer S c h m e r z m e d i k a t i o n einsehen und in d e r e n A n w e n d u n g einwilligen, a b e r zur g l e i c h e n Zeit d i e N o t w e n d i g k e i t d e r lebensrettenden A m p u t a t i o n eines g a n g r ä n ö sen G l i e d e s nicht verstehen. A u c h spielen nicht nur kognitive, s o n d e r n auch -
bisher kaum gut untersuchte — m o t i v a t i o n a l e und voluntative
Faktoren eine Rolle. A l l g e m e i n w i r d Einwilligungsfähigkeit bei einem G e s u n d e n e b e n s o fraglos a n g e n o m m e n w i e bei einem Bewusstlosen als nicht v o r h a n d e n unterstellt. Z w i s c h e n diesen Extremen gibt es j e d o c h eine breite Z o n e v o n krankheitsbedingten Zuständen, d i e d i e Einwilligungsfähigkeit beeinflussen, einschränken o d e r a u f h e b e n können. G l e i c h w o h l g i b t es bisher kein zuverlässiges und praktikables S t a n d a r d v e r f a h r e n zur eind e u t i g e n Erfassung der Einwilligungsfähigkeit. Das ist ethisch bedeutsam, w e i l d i e unzutreffende Einschätzung der
Einwilligungsfähigkeit
e n t w e d e r zu einer ungültigen Einwilligung führen und damit d i e Ents c h e i d u n g s v e r a n t w o r t u n g bei einem nicht wirklich e i n w i l l i g u n g s f ä h i g e n Patienten belassen o d e r a b e r andererseits einen einwilligungsfähigen Patienten diskriminieren könnte. Die g e g e n w ä r t i g übliche Technik besteht in einer g r o b e n , hauptsächlich auf d e m Eindruck b a s i e r e n d e n S c h ä t z u n g . Bestenfalls w i r d d e r Patient d a n a c h g e f r a g t , w a s er v o n der Information über d i e b e a b sichtigte Intervention verstanden hat, d.h. w a s g e t a n w e r d e n soll (Ziele, Verfahren, e r w a r t e t e N u t z e n und Risiken), w a r u m es g e t a n w e r d e n soll und w a s es für ihn selbst b e d e u t e t . Die A n w e n d u n g
standardisierter
Tests, w i e beispielsweise der M c A r t h u r Test Battery ( A p p e l b a u m et al. 1 9 9 5 ; Grisso et al. 1 9 9 5 ) , ist sehr z e i t a u f w ä n d i g und ihre Spezifität ist u n z u r e i c h e n d (Vollmann et al. 2 0 0 3 u. 2 0 0 4 ) . M e i s t w i r d in d e r Praxis j e d o c h erst d a n n d i e Einwilligungsfähigkeit in Frage gestellt, w e n n ein Kranker eine aus ärztlicher Sicht notwend i g e Intervention a b l e h n t , insbesondere, w e n n er sie o h n e e r k e n n b a r e n G r u n d ablehnt. Besonders b e d e u t s a m w i r d d i e s e Frage b e i Entscheid u n g e n v o n schwerst- o d e r sterbenskranken M e n s c h e n zum Einsatz,
161
Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und T o d
Verzicht oder Abbruch lebenserhaltender Interventionen. Neben der jeweils speziellen Ausformung der aktuellen Situation spielen dabei Werthaltungen und weltanschauliche Uberzeugungen eine wichtige Rolle, erst recht dann, wenn ein vom Kranken Bevollmächtigter oder Betreuer für den Kranken die diesem selbst aktuell nicht mehr mögliche Entscheidung z u treffen hat. Eine zunehmende Bedeutung gewinnen dabei Festlegungen des Patientenwillens im voraus für Situationen, in denen er seine Fähigkeit verloren hat, Entscheidungen selbst z u treffen. Dabei dreht sich die gegenwärtig sehr kontroverse Diskussion speziell um die Gültigkeit, Verbindlichkeit und Reichweite von solchen Vorausverfügungen, sog. Patientenverfügungen (Lauter et al. 2 0 0 6 ) .
Dies
soll mit drei Beispielen illustriert werden: Depression mit sich wiederholender, meist vorübergehender und nur partieller Einschränkung der Selbstbestimmbarkeit, Demenz mit voraussehbarem, langsam zunehmendem, schließlich vollständigem und irreversiblem Schwinden der Selbstbestimmbarkeit, und das meist unvorhersehbar aus der Gesundheit heraus auftretende sog. „Wachkoma" mit vollständigem Verlust der Selbstbestimmbarkeit. Depressionen
sind (in ausgeprägter Form mit ca. 1 0 % , einschließ-
lich auch leichterer Ausprägung in bis z u einem Viertel der Bevölkerung) die häufigste psychische Krankheit, auch im Alter. S i e können die Einwilligungsfähigkeit beeinträchtigen, dann allerdings meist nur passager und partiell, möglicherweise aber auch dauerhaft bei chronifizierten Depressionen, insbesondere erstarrenden oder wahnhaften Melancholien im Alter. Depressive Verstimmungen bis hin z u ausgeprägten Depressionen treten häufig, d.h. in einem Viertel bis zur Hälfte von Kranken mit lebensbegrenzenden Erkrankungen wie Krebs (Breitbart et al. 1997, W i l s o n et al. 2 0 0 0 , C h o c h i n o w / S c h w a r t z
2002),
Herzkreislaufkrankheiten (Tiemeier et al. 2 0 0 4 ) oder Demenz (Helmchen/Linden 1 9 9 3 ) auf. Depressivität und Hoffnungslosigkeit sind die beiden Merkmale, die am stärksten mit dem W u n s c h nach ärztlicher Lebensbeendigung korreliert sind (Breitbart et al. 2 0 0 0 ) . Dabei mag hier offen bleiben, ob sie primär eine biologische Grundlage haben, wie es etwa für die vaskuläre Depression angenommen wird, oder ob sie als Reaktion auf den eigenen defizitären Zustand mit Schmerzen und Hilflosigkeit (Abhängigkeit von anderen) auftreten, wie dies für bei Heimbewohnern bis z u 4 0 % häufigen Depressionen vermutet wird. Wichtiger ist, dass sie angesichts der Schwere einer zum Tode führenden Erkrankung oft nur als verständliche Reaktion, nicht aber als (palliativ) behandelbare Krankheit angesehen und vor allem nicht als möglicher Hintergrund für Todeswünsche erkannt werden. Jedoch ist
162
H a n f r i e d Helmchen und H a n s Lauter
die Erkennung von auch nur leichten Depressionen von Bedeutung, denn sie stellen die Selbstbestimmtheit des eigenen Todes in Frage. Seit langem ist bekannt, dass mit steigendem Alter die Häufigkeit von Suiziden -
besonders bei Männern im sehr hohen Alter -
zunimmt
(Schmidke 1 9 9 4 ) . Dass in der Hälfte der Fälle sog. Spät-Depressionen mit Erstmanifestation jenseits des 6 0 . Lebensjahres Hintergrund dieser S u i z i d e waren (Conwell et al. 1 9 9 6 ) , ließ Ernst vermuten, dass diese ein Schlüssel für die relative Zunahme der S u i z i d e im Alter sein könnten (Ernst 1 9 9 7 ) . Selbsttötung ist meist der negative Ausgang des Widerstreits ambivalenter Gedanken und Handlungsimpulse, die von dem Wunsch nach Ruhe oder Lebensüberdruss über Todeswünsche und Selbsttötungsphantasien bis hin z u Selbsttötungsabsichten und -impulsen und schließlich z u konkreten Planungen der Selbsttötung reichen und die durch einen zunehmenden Handlungsdruck bestimmt sind (Wolfersdorf et al. 1 9 9 7 ) . Aber auch wenn der Todeswunsch eines körperlich kranken und hinfälligen alten Menschen rational begründet und plausibel und damit nicht krankheitswertig erscheint, so ist doch für eine angemessene Beurteilung wichtig z u wissen, dass solche W ü n s c h e sehr stark fluktuieren und bei kritischer Überforderung der Bewältigungskapazität infolge der Vielfalt der erforderlichen Anpassungsleistungen des alten Menschen und vor allem bei psychischer Krankheit auftreten (Helmchen et al. 2 0 0 5 ) . In der Berliner Altersstudie hatten von jenen 70— 100jährigen Studienteilnehmern, die das Leben als nicht mehr lebenswert ansahen ( 1 4 . 7 % ) etwa z w e i Drittel eine Depression; von jenen 5 . 4 % , die z u sterben wünschten, waren 9 0 %
depressiv, und von jenen wenigen
(1 %) mit akuten Suizidgedanken hatten alle eine Depression (Linden et al. 1 9 9 7 ) . Der Suizidwunsch schwerkranker und sterbender Patienten ist häufiger als allgemein angenommen nicht Ausdruck eines frei verantwortlichen, in einer solchen Leidenssituation für jedermann nachvollziehbaren Willensaktes, sondern kann Folge einer mit der körperlichen Krankheit vergesellschafteten und unmittelbar durch sie hervorgerufenen depressiven Störung sein. Patienten, bei denen neben der körperlichen Krankheit auch eine deutlich ausgeprägte depressive Störung vorliegt, sind nicht nur auf eine palliative Betreuung, sondern auf darüber hinausgehende psychotherapeutische oder pharmakotherapeutische Behandlung angewiesen. Die angemessene Antwort auf die Bitte eines körperlich schwer erkrankten und zugleich depressiven Patienten nach ärztlicher Suizidbeihilfe kann also nicht die Mittäterschaft bei der Herbeiführung des Todes sein. Sie muss vielmehr in einer fachlich kom-
K r a n k h e i t s b e d i n g t e s Leiden, S t e r b e n u n d T o d
163
p e t e n t e n B e s e i t i g u n g d e r Faktoren b e s t e h e n , d i e d e m S u i z i d v e r l a n g e n z u g r u n d e l i e g e n , a l s o in einer M i n d e r u n g k ö r p e r l i c h e n Leidens, e i n e r p s y c h i a t r i s c h e n u n d p s y c h o t h e r a p e u t i s c h e n B e h a n d l u n g seelischer K r a n k h e i t e n u n d S t ö r u n g e n s o w i e einer Beeinflussung b e l a s t e n d e r äußerer L e b e n s u m s t ä n d e , w e l c h e zur Depressivität s c h w e r k r a n k e r Patienten b e i t r a g e n (Lauter et al. 2 0 0 6 ) . Demenzen n e h m e n altersassoziiert (von c a . 2% b e i 7 0 - J ä h r i g e n auf ü b e r 4 0 % b e i ü b e r 9 0 - J ä h r i g e n ) stark z u mit e i n e r d e r z e i t i g e n H ä u f i g keit v o n ü b e r einer M i l l i o n in D e u t s c h l a n d . Sie sind Erscheinungsformen meist d e g e n e r a t i v e r H i r n k r a n k h e i t e n mit c h r o n i s c h - p r o g r e d i e n t e m Verlauf u n d führen z u - bisher - irreversiblem Verlust d e r Selbstbestimmb a r k e i t s o w i e n a c h durchschnittlich sechs bis z e h n Jahren z u m T o d e . L a n g s a m , a b e r u n a u f h a l t s a m s c h r ä n k e n sie mehr u n d mehr d i e Fähigkeit d e s D e m e n z k r a n k e n ein, E n t s c h e i d u n g e n z u treffen, d i e einer realit ä t s g e r e c h t e n U r t e i l s b i l d u n g u n d e i n e r v e r n ü n f t i g e n Situationseinschätz u n g entsprechen, die die Tragweite der beabsichtigten H a n d l u n g u n d d e r e n m ö g l i c h e F o l g e n b e r ü c k s i c h t i g e n u n d d i e mit seinen W e r t v o r s t e l l u n g e n u n d Z i e l s e t z u n g e n in Einklang stehen. Die i n d i v i d u e l l e Entscheidungs- u n d H a n d l u n g s f r e i h e i t g e h t j e d o c h für l a n g e Z e i t nicht v ö l l i g v e r l o r e n . D i e K o m p e t e n z b e e i n t r ä c h t i g u n g betrifft v i e l m e h r in d e r Regel l e d i g l i c h bestimmte S a c h v e r h a l t e u n d s p e z i f i s c h e A u f g a b e n . S o b a l d ein h i n r e i c h e n d e r V e r d a c h t auf d a s V o r l i e g e n einer D e m e n z besteht, muss d e r B e t r o f f e n e h i e r ü b e r unterrichtet u n d auf d i e N o t w e n digkeitweiterer Untersuchungsmaßnahmen hingewiesen werden, wenn d i e s zur e n d g ü l t i g e n d i a g n o s t i s c h e n K l ä r u n g e r f o r d e r l i c h ist. D i e s e Aufk l ä r u n g k a n n sich als p r o b l e m a t i s c h e r w e i s e n , w e i l d i e I n f o r m a t i o n e n über die Alzheimer-Krankheit und ähnliche dementielle Erkrankungen heute in d e r B e v ö l k e r u n g w e i t verbreitet sind u n d e i n e s o l c h e D i a g n o s e v e r s t ä n d l i c h e r w e i s e ä h n l i c h s c h w e r w i e g e n d e Ä n g s t e hervorruft w i e ein K r e b s l e i d e n . D e n n o c h ist d i e w a h r h e i t s g e m ä ß e I n f o r m a t i o n ü b e r d a s V o r l i e g e n dieser Krankheit unerlässlich. Diese N o t w e n d i g k e i t e r g i b t sich vor a l l e m d a r a u s , d a s s d i e Aussicht auf e i n e e r f o l g r e i c h e Beeinflussung v o n k o g n i t i v e n Leistungseinbußen u n d Verhaltensstörung e n s o w i e d i e C h a n c e n eines g ü n s t i g e n Krankheitsverlaufs um so größer sind, je früher mit d e r B e h a n d l u n g b e g o n n e n w i r d . A u ß e r d e m setzt d i e Kenntnis d e r D i a g n o s e d e n Patienten u n d seine A n g e h ö r i g e n in d i e Lage, v o n s o z i a l e n E n t l a s t u n g s m ö g l i c h k e i t e n G e b r a u c h z u m a c h e n u n d a u s r e i c h e n d e V o r k e h r u n g e n in B e z u g auf d i e künftige L e b e n s g e staltung z u treffen. Schließlich sollte d e r A r z t d e n Patienten auf d i e M ö g l i c h k e i t a u f m e r k s a m m a c h e n , r e c h t z e i t i g V o r s o r g e d a f ü r z u treffen, d a s s w i c h t i g e A n g e l e g e n h e i t e n , d i e er b e i einer Z u n a h m e seiner
164
Hanfried Helmchen und Hans Lauter
kognitiven Beeinträchtigungen nicht mehr selbst in die H a n d nehmen kann, in einer W e i s e geregelt werden, die seinen eigenen Wünschen und Absichten entsprechen. Denn wenn ein Patient infolge eines fortgeschrittenen Demenzprozesses die Fähigkeit eingebüßt hat, schwerw i e g e n d e und weitreichende Willensentschlüsse zu fassen, dann können medizinische Entscheidungen erheblich erleichtert werden, wenn er seine Wünsche für einen derartigen Fall bereits zu einem Zeitpunkt schriftlich festgelegt hat, in dem er noch zu einer klaren Urteils- und Willensbildung in der Lage war. Diese Voraussetzung ist in den Frühstadien der Erkrankung meist noch g e g e b e n . Unter den verschiedenen für eine vorauslaufende Willenserklärung verfügbaren Rechtsinstrumenten kommt namentlich der Patientenverfügung große Bedeutung zu. Denn wenn sie frühzeitig nach Einsetzen der Demenz im Zustand noch erhaltener Einwilligungsfähigkeit abgegeben wird, dann lassen sich bei gesicherter Diagnose doch schon die Zustandsänderungen des Erkrankten voraussehen, die erfahrungsgemäß im weiteren Verlauf und namentlich im Endstadium eines Demenzprozesses eintreten können. Anders als bei Vorausverfügungen, die in gesunden Tagen bei völliger Unkenntnis einer möglicherweise später zu erwartenden Erkrankung a b g e g e b e n werden, kann sich also die Patientenverfugung auf konkrete medizinische Entscheidungssituationen beziehen und Anweisungen enthalten, die in engem Zusammenwirken mit dem behandelnden Arzt Regelungen über die in Aussicht genommenen Behandlungsmaßnahmen und einen Notfallplan bei weiterem Fortschreiten des Demenzprozesses vorsehen. Der Patient kann seine persönlichen Wertvorstellungen und seine Einstellung hinsichtlich des eigenen Lebens und Sterbens zum Ausdruck bringen und sich insbesondere dazu äußern, o b er auch bei weitgehendem oder völligem Erlöschen des Bewusstseins im Endstadium der dementiellen Erkrankung die Durchführung bestimmter lebensverlängernder und lebenserhaltender Maßnahmen - wie z.B. Behandlung interkurrenter Krankheiten, Reanimation, künstliche Beatmung oder Sondenernährung - wünscht oder o b solche Interventionen unterlassen werden sollen. Demenzerkrankungen stellen unser Bild vom Menschen als einem selbstbestimmten Subjekt aufs äußerste in Frage und sind zum symbolischen Träger dessen geworden, wovor wir uns am meisten fürchten. In weiten Kreisen unserer heutigen W e l t gelten kognitives Leistungsvermögen, Gedächtnis, Vernunft, Selbstverwirklichung, Zukunftsplanung und Produktivität als unerlässliche Attribute personaler Existenz. In der Sichtweise eines derartigen „Hyperkognitivismus" (Post 2 0 0 0 ) stellen Demenzprozesse einen Bruch mit den W e r t e n der modernen Gesellschaft dar. Die Beeinträchtigungen, mit denen diese Erkrankungen ein-
165
Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und T o d
hergehen, sind ein Angriff auf das Selbstverständnis des Menschen. Besteht bereits bei s c h w e r w i e g e n d e n psychischen Erkrankungen die allgemeine
Tendenz,
die
davon
Betroffenen
sozial
auszugrenzen
(Lanzerath 2 0 0 0 ) , so verstärkt sich diese N e i g u n g erst recht in Bez u g auf die A l z h e i m e r d e m e n z und ähnlich verlaufende progrediente Hirnerkrankungen, w e i l solche Patienten nicht nur erhebliche geistige Defizite aufweisen, sondern z u s ä t z l i c h als alt und gebrechlich wahrgenommen werden. Demenzkranke können a l s o leicht a l s eine Art „Stadtindianer" (Höffe 2 0 0 2 , S . 1 8 4 ) gelten, die w e g e n ihrer Z u g e h ö r i g k e i t z u dem weitverbreiteten und berüchtigten Alzheimerstamm eine gesellschaftliche Ausgliederung erfahren, kein unabdingbares Recht auf menschliche Solidarität und s o z i a l e Fürsorge z u beanspruchen haben und der Vernachlässigung oder G e w a l t z u m O p f e r fallen. Die für den s o z i a l e n und moralischen Status dementer M e n s c h e n und für den Umgang mit ihnen bestimmenden ethischen Betrachtungsweisen können exemplarisch in den einander entgegengesetzten Theorien des Personreduktionismus und der Patientenzentrierung beleuchtet werden.
Die Sichtweise
des Personreduktionismus:
Traditionelle Persontheorien
gehen davon aus, d a s s Person eine „ S u b s t a n z " , a l s o einem jedem M e n s c h e n innewohnende („inhärente") unverlierbare S e i n s v e r f a s s u n g darstellt, die an keinerlei äußere Voraussetzungen gebunden ist. Alle M e n s c h e n sind demnach Personen. D i e s w i r d jedoch von den Vertretern reduktionistischer Persontheorien bestritten. Seit John Locke klaffen die Begriffe M e n s c h und Person auseinander. Eine Strömung der Bioethik, die sogenannte „neue" Bioethik (Lohner 2 0 0 0 ) , die von den Thesen John Lockes ausgeht, macht das Personsein vom Vorhandensein bestimmter geistiger Attribute abhängig, die etwas unterschiedlich benannt werden, z u denen aber vor allem Rationalität, Selbstbewusstsein oder auf die Zukunft gerichtete W ü n s c h e und Interessen gehören. Es gibt „strenge" Reduktionisten (Singer 1 9 9 4 , Kuhse 1 9 9 2 , H a r r i s 1 9 9 5 , 1 9 9 9 , Parfit 1 9 8 4 , Dresser, 1 9 8 9 , 1 9 9 0 , 1 9 9 4 ) , die den Personstatus dementer Patienten bereits in einem relativ frühen Krankheitsstadium generell leugnen und „graduelle" Reduktionisten (Engelhardt jun. Brock
1996,
1996,
M c M a h a n 2 0 0 2 ) , die ebenfalls die D i s s o z i a t i o n von
M e n s c h und Person postulieren, dabei aber direkt auf demente M e n schen eingehen und ein detailliertes System entwerfen, wonach diese Patienten je nach dem Stadium ihrer D e m e n z entweder noch Personen oder keine Personen mehr sind und ihr moralischer Status entsprechend z u bewerten ist. Je nach diesem unterschiedlichen Stadium innerhalb eines solchen S y s t e m s ist ihnen mit Beachtung ihrer W ü r d e , oder mit Respekt vor der Person, die sie einmal waren, oder ohne moralische
166
H a n f r i e d Helmchen und H a n s Lauter
Verpflichtung z u r l e b e n s e r h a l t e n d e n Betreuung z u begegnen. Deontol o g i s c h e Rechte und Pflichten gelten lediglich für Personen im strengen S i n n . W e i l sie s e l b s t b e w u s s t sind, rational frei w ä h l e n können und über eine Empfindungsfähigkeit verfugen, w ä r e eine mangelnde Beachtung ihrer W ü r d e und ihres Lebensrechts ein V e r s t o ß g e g e n die moralische O r d n u n g . D i e s e Personrechte w e r d e n aber a l l e n f a l l s M e n s c h e n einer
leichtgradigen
Demenz
zugebilligt.
Mittelgradig
und
mit
schwer
demente Kranke sind nicht Personen „in the strict s e n s e " , s o n d e r n nur Personen „in the s o c i a l s e n s e " (Engelhardt jun. 1 9 9 6 , S . 1 5 0 ) . A u s der Achtung vor ihrer ehemaligen Person kann die Pflicht z u r
menschen-
w ü r d i g e n V e r s o r g u n g und Pflege, nicht aber die auf eine lebenserhaltende oder l e b e n s v e r l ä n g e r n d e T h e r a p i e abgeleitet w e r d e n . Stehen jedoch nicht mehr g e n ü g e n d V e r s o r g u n g s r e s s o u r c e n z u r
Verfügung,
s o müssen „Personen im s o z i a l e n S i n n " nicht mehr unter den gleichen S c h u t z gestellt w e r d e n w i e „Personen im strikten S i n n " . Für sie gelten nicht mehr die Regeln der deontologischen, s o n d e r n die G r u n d s ä t z e einer utilitaristischen Ethik. A u s N ü t z l i c h k e i t s e r w ä g u n g e n
kann ihnen
der Personstatus auch a b g e s p r o c h e n w e r d e n . In d i e s e m Fall s i n d sie als s c h w e r s t D e m e n z k r a n k e schen S y n d r o m -
e b e n s o w i e Patienten mit einem apalli-
der K a t e g o r i e d e s „mere b i o l o g i c a l life" z u z u o r d -
nen, die unterhalb d e s Status der Personen im s o z i a l e n S i n n steht und der g e g e n ü b e r e s keine moralischen Verpflichtungen mehr gibt.
Patientenzentrierte
Ethiktheorien:
Der
heute vorherrschende
ärztliche
und pflegerische U m g a n g mit D e m e n z k r a n k e n geht von G r u n d l a g e n aus, die diesen Positionen v ö l l i g entgegengesetzt sind. Die ethischen T h e o r i e n , auf denen er beruht, postulieren nämlich, d a s s es eine dem M e n s c h s e i n generell inhärente S e i n s w ü r d e 2 gibt, die vom j e w e i l i g e n Entwicklungsstand oder von kognitiven Attributen unabhängig ist und den moralischen Status der Person begründet.
Dieser
unverlierbare
Personstatus ist auch denjenigen Patienten z u eigen, die infolge einer D e m e n z e r k r a n k u n g schwere geistige E i n b u ß e n oder Persönlichkeitsveränderungen erleiden; er verbietet sämtliche H a n d l u n g e n , welche diese immanente S e i n s v e r f a s s u n g nicht ausreichend achten oder
schützen.
Eine solche ärztliche und pflegerische G r u n d e i n s t e l l u n g , die auf die W a h r n e h m u n g und Aufrechterhaltung menschlicher W ü r d e auch in fortgeschrittenen Stadien der D e m e n z gerichtet ist, kommt vor allem in der „ B e z i e h u n g s e t h i k " z u m Ausdruck. A l l e r d i n g s ist e s nicht immer leicht, die
2 Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der U N von 1 9 4 8 anerkennt in Artikel 1, S a t z 1 diese inhärente Menschenwürde: „Alle Menschen sind frei und gleich an W ü r d e und Rechten geboren."
Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und Tod
167
Bedürfnisse der von einem solchen Krankheitszustand betroffenen Patienten zu erkennen. Denn so gut uns auch die objektiven Erscheinungsformen und viele Entstehungsbedingungen dementieller Krankheitsprozesse bekannt sind, so gering ist andererseits unser Wissen darüber, wie ein solches Leiden von den Betroffenen selbst wahrgenommen wird. Erfahrungen dieser Art lassen sich nicht in gleicher Weise mitteilen und nachempfinden wie Schmerzen, Übelkeit, körperliche Erschöpfungszustände oder Lähmungserscheinungen. Die Patienten selbst können uns auch deshalb so wenig über die Veränderungen ihrer Befindlichkeit berichten, weil sie mit der Einschränkung ihrer verbalen Kommunikationsfähigkeit oft an die Grenzen der gemeinsamen Sprache stoßen, in der wir uns miteinander verständigen. Gleichwohl ermöglicht uns eine Reihe von in den letzten Jahren erschienenen Berichten über die innere W e l t von Demenzkranken - auch in Selbstschilderungen — einen gewissen Zugang zum Erleben der Kranken (de Boer et al 2 0 0 7 ) . Den medizinethischen Problemen der Demenz kann man nur durch den häufigen Umgang mit denjenigen Menschen gerecht werden, die unmittelbar oder mittelbar von einem solchen Leiden betroffen sind. Das innere Erleben der Patienten erschließt sich nur dann, wenn wir ihren oftmals fragmentierten Erzählungen und den Erfahrungsberichten ihrer Angehörigen und Betreuer aufmerksam zuhören (Post 2 0 0 0 ) . Eine sinnvolle ethische Betrachtungsweise entwickelt der Arzt einzig und allein durch die Rolle des Lernenden, der bereit ist, über einen längeren Zeitraum in mitfühlender und nachdenklicher Solidarität am Leben des Erkrankten und den Bewältigungsstrategien ihrer Familienmitglieder teilzunehmen oder die zuweilen zermürbende Auseinandersetzung der professionellen Helfer mit den alltäglichen Betreuungsaufg a b e n mitzuerleben. W e n n man sich diese Fähigkeit angeeignet hat, kann man entdecken, welch zahlreiche emotionalen, kommunikativen und kreativen (Meli et al. 2 0 0 3 ) Fähigkeiten dem fortschreitenden Demenzprozess standhalten und durch die kognitiven Einbußen nicht aufgehoben werden. So lässt sich also die Personalität des Patienten auch angesichts eines schweren geistigen Abbaus noch wahrnehmen. Hierzu bedarf es nahestehender und einfühlsamer Menschen, die sich auf die Suche nach der Person des Erkrankten begeben. W e n n sie dies tun, können sie auch in seinem veränderten Seinszustand noch die Ganzheit seiner Individualität wiederfinden, die er einmal w a r und die sich nun hinter der vordergründigen Krankheitssymptomatik verbirgt. Durch diesen Akt der Suche, der sicher nicht bei allen Patienten gelingt, tragen Arzte und Pflegende d a z u bei, dass ihre Beziehung zum Patienten bis zuletzt aufrechterhalten wird und dass hierin die personale W ü r d e des Erkrankten sichtbar gemacht und anerkannt wird.
168
Hanfried Helmchen und H a n s Lauter
„Wachkoma", apallisches Syndrom, persistierender vegetativer Zustand sind unscharfe Sammelbegriffe für eine Reihe pathophysiologisch und prognostisch
ganz
unterschiedlicher
Hirnschäden
mit anhaltendem,
meist irreversiblen Verlust des Wachbewusstseins (Bockenheimer-Lucius 2 0 0 5 ) . Menschen in diesen Zuständen sind keine Sterbenden, denn sie können mit lebenserhaltenden Maßnahmen jahrelang weiterleben. Aber sie haben ihr Selbstbestimmungsvermögen auf Dauer verloren. In diesen tragischen Fällen kommen die unterschiedlichen Einstellungen und Überzeugungen zur Kontrolle des Lebensendes am deutlichsten zum Ausdruck, wie das Schicksal der 15 Jahre im „Wachkoma" liegenden Amerikanerin Terri Schiavo zeigte, deren Leben 13 Tage nach Abbruch einer Sondenernährung endete (Didion 2 0 0 5 ) . Es fand größte öffentliche Resonanz und führte zu einer erbitterten Kontroverse über die Frage, ob sie selbst in diesem Zustand weiterleben wollte oder nicht. Der Ehemann berief sich auf mündliche Äußerungen seiner Frau, nach denen sie vor ihrem mit 2 6 Jahren nach einem Herzversagen eingetretenen „Wachkoma" ein Weiterleben in solch hilflosem Zustande abgelehnt habe. Die Eltern dagegen bezweifelten die neurologische Diagnose eines „persistent vegetative state", werteten Reflexreaktionen ihrer Tochter auf externe Stimuli als Zeichen von Bewusstsein und Lebenswillen und setzten ihre Hoffnung auf vermeintliche rehabilitative Behandlungsmöglichkeiten (Quill 2 0 0 5 ) . Vor dem Hintergrund dieses unklaren Sachverhalts und der hieraus resultierenden Rechtsprobleme wurde die Patientin von kirchlichen und politischen Gruppierungen in abstoßender W e i s e für eine Auseinandersetzung zwischen einer „Kultur des Todes" und einer „Kultur des Lebens" instrumentalisiert (Annas 2 0 0 5 ) . Die lange Serie von Auseinandersetzungen, die dem Sterben von Terri Schiavo vorangingen und sich zunächst vor Gerichten, dann aber zunehmend in der Öffentlichkeit abspielten, wurde wohl von allen Menschen als unwürdiges Spektakel empfunden. W ä h r e n d allerdings die einen Anstoß daran nahmen, dass die von der Patientin in gesunden Tagen geäußerte Ablehnung der künstlichen Ernährung nicht schon z u einem sehr viel früheren Zeitpunkt durchgesetzt worden war, hielten andere die Rekonstruktion ihres mutmaßlichen W i l l e n s für z u spekulativ, um hieraus ein selbstbestimmtes Verlangen nach Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen abzuleiten und den Tod durch Entfernung der Nahrungssonde herbeizuführen. G e w i s s wäre in einem solchen Fall eine schriftliche Vorausverfügung für die behandelnden Arzte hilfreich. Aber welcher junge und gesunde Mensch kann sich wirklich in eine solche Situation hineindenken? Umfragen in einer überwiegend gesunden Bevölkerung sagen nichts über die tatsächlichen Einstellungen von Menschen in der Grenzsituation
169
Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und Tod
schwerster und tödlicher Krankheit aus. Denn M e n s c h e n können ihr eigenes Verhalten in Grenzsituationen in der Regel nicht v o r w e g n e h men (Blank et al. 2 0 0 1 , Kruse 2 0 0 4 ) . Nicht zuletzt aus dieser Ungewissheit erwächst ein W i d e r s t a n d , sich in einer Patientenverfügung für eine nicht konkret vorstellbare Situation v o r a b festzulegen.
4.2 Selbstbestimmung durch (individuelle) Vorausverfügungen Die divergierenden Auffassungen zur selbstbestimmten Kontrolle des Lebensendes sind w ä h r e n d der letzten z w e i Jahre auch in der Debatte z u t a g e getreten, die im Deutschen Bundestag und in verschied e n e n öffentlichen Gremien der Bundesrepublik um das Thema der Patientenverfügung entbrannt ist. Der Diskurs w u r d e durch einen im Jahre 2 0 0 3 e r g a n g e n e n Grundsatzbeschluss des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs ausgelöst ( B G H 2 0 0 3 ) . Der B G H schloss sich darin der Rechtsauffassung an, dass Patientenverfügungen für den b e h a n d e l n d e n Arzt und für d e n gesetzlichen o d e r gewillkürten Vertreter eines nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten verbindlich sind. Er machte j e d o c h eine Einschränkung: eine Patientenverfügung, mit der
medizinisch weiterhin sinnvolle
lebenserhaltende
Maßnahmen
untersagt w e r d e n , dürfe nur befolgt w e r d e n , w e n n das G r u n d l e i d e n einen irreversibel tödlichen Verlauf g e n o m m e n h a b e . Dieser Beschluss w u r d e teilweise heftig kritisiert, u.a. d e s w e g e n , weil unklar blieb, o b ein v o r a b verfügter Behandlungsverzicht nur für Terminal- und Sterbestadien irreversibel tödlicher Krankheiten o d e r auch für irreversibel l e b e n s b e g r e n z e n d e Krankheiten gilt, deren Träger nicht unmittelbar v o m Tode bedroht, also keine Sterbenden sind. Der Beschluss machte die N o t w e n d i g k e i t deutlich, die bisherige Rechtsunsicherheit in B e z u g auf die Gültigkeit (Aufklärung zureichend? Einwilligungsfähigkeit vorhanden?), Verbindlichkeit (absolut?), Reichweite (nur für Sterbende?) und Durchsetzung (bei Dissens) einer Patientenverfügung s o w i e deren vormundschaftsrichterliche Kontrolle durch eindeutige Rechtsvorschriften zu beseitigen und eine gesetzliche Verankerung dieses Vorsorgeinstruments herbeizuführen (Synofzik et al. 2 0 0 5 ) . Zu diesem Z w e c k w u r d e n zahlreiche rechtspolitische Beschlussvorlagen und Stellungnahmen erarbeitet, w e l c h e die G r u n d l a g e der bisher noch nicht a b g e schlossenen Diskussionen bilden (Bioethikkommission Rheinland-Pfalz 2 0 0 4 , Bundesgerichtshof 2 0 0 5 , Bundesministerium der Justiz 2 0 0 4 a , Bundesministerium der Justiz 2 0 0 4 b , Bündnis 9 0 / D i e G r ü n e n 2 0 0 5 , Deutsche Bischofskonferenz 2 0 0 5 , Deutscher Bundestag 2 0 0 4 , Deutscher Bundestag 2 0 0 5 , EKD 2 0 0 5 , Lipp 2 0 0 5 , N a t i o n a l e r Ethikrat 2 0 0 5 , Strätling et al. 2 0 0 5 ) .
170
H a n f r i e d Helmchen und H a n s Lauter
Z w e i f e l an der Gültigkeit
einer Patientenverfügung ergeben sich,
wenn nicht klar ist, ob der Kranke vor ihrer Abfassung
zureichend
über den z u entscheidenden Sachverhalt aufgeklärt wurde und die Informationen auch verstanden hat, a l s o einwilligungsfähig war. Die Verbindlichkeit
der Patientenverfügung sollte an die Kompetenz der
Aufklärung gebunden werden und sie muss derzeit in all jenen Fällen relativiert werden, in denen Irreversibilität und Vollständigkeit des Verlustes von W a c h b e w u s s t s e i n können. Ihre Reichweite
nicht sicher
prognostiziert
werden
ist unklar, da rechtlichen Vorschlägen z u ihrer
Beschränkung auf todesnahe Krankheitszustände andere Vorschläge gegenüberstehen,
die
eine
solche
Beschränkung
ablehnen;
hinzu
kommt medizinisch die Unsicherheit, das Kriterium der unmittelbaren N ä h e des T o d e s bei irreversiblen und lebensbegrenzenden Krankheiten eindeutig feststellen z u können. Ethisch steht dem höchstrichterlich bestätigten Selbstbestimmungsrecht d e s Kranken, der mit seiner Patientenverfügung eine einwilligungspflichtige
lebenserhaltende
Behand-
lung bei den genannten Zuständen ablehnt, die ärztliche Verpflichtung gegenüber, den T o d des Patienten nicht durch Unterlassung oder Abbruch von lebenserhaltenden
Maßnahmen
bewusst
herbeizuführen.
D i e s w i r d besonders dann deutlich, wenn das aktuelle Verhalten des Schwerkranken einen S i n n e s w a n d e l gegenüber den Festlegungen seiner Patientenverfügung vermuten lässt, a l s o sein aktueller „natürlicher" W i l l e im W i d e r s p r u c h z u seinem vorausverfügten W i l l e n z u stehen scheint. Dadurch bedingte G e w i s s e n s k o n f l i k t e bei beteiligten Ärzten, Pflegepersonen, A n g e h ö r i g e n oder N a h e s t e h e n d e n sollten durch explizite Argumentation im Konsens einer Lösung zugeführt werden. Ist ein Dissens
nicht auszuräumen, muss das zuständige Vormundschafts-
gericht angerufen werden, um z u einer Entscheidung z u kommen und diese auch durchzusetzen (Lauter et al. 2 0 0 6 ) .
4 . 3 S e l b s t b e s t i m m u n g und (gesellschaftlich a k z e p t i e r t e ) E u t h a n a s i e
Z u r Kontrolle des Lebensendes werden verschiedenartige Verfahren angewandt. S i e reichen von der beruhigenden und tröstenden Begleitung des Sterbenden (Sterbebegleitung) über die H i l f e beim
Sterben
mit dem palliativen Z i e l der Leidenslinderung unter möglicher Inkaufnahme des T o d e s (indirekte Sterbehilfe) oder Verzicht auf eine die Lebensqualität verschlechternde Behandlung (passive Euthanasie) bis z u r H i l f e zum T o d e mit dem Z i e l der Leidensbeseitigung mittels aktiver Tötung (aktive Euthanasie) durch Behandlungsabbruch, Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum S u i z i d (Helmchen et al. 2 0 0 6 ) . Es stellt sich die Frage, w i e sich das Für und W i d e r dieser einzelnen Verfahren dar-
Krankheitsbedingtes leiden, Sterben und Tod
171
stellt, wenn man sie mit anderen Alternativen vergleicht. Hierbei ist zum einen das Anliegen der unmittelbar betroffenen Kranken zu berücksichtigen, die um Hilfe beim Sterben oder Hilfe zum Tode bitten (s.o.). Zum anderen muss aber auch die gesellschaftliche Perspektive — also die Sichtweise potentieller Patienten - bedacht werden. Ihnen könnte ja daran gelegen sein, gegebenenfalls auf eine bestimmte Möglichkeit der ärztlichen Hilfe am Lebensende zurückgreifen zu können; gleichzeitig haben sie aber ein Interesse an der Verhinderung eines gut- oder böswilligen Missbrauchs. Eine solche Gegenüberstellung verschiedener Optionen setzt eine Datenerhebung voraus, bei der die verschiedenartigen ärztlichen Entscheidungen bei sterbenden Patienten während eines längeren Zeitraums zuverlässig erfasst wurden. Glücklicherweise verfügen wir über eine derartige Dokumentation. Dabei erweist es sich als großer Vorteil, dass sie aus Holland stammt und damit auch genaue Angaben über Häufigkeit und Anwendungsbereich von ärztlicher Tötung auf Verlangen und Suizidbeihilfe enthält. Anders als in der Bundesrepublik, Osterreich, der Schweiz und den meisten anderen Staaten, w o die Anwendung beider Verfahren entweder gesetzlich verboten oder durch standesrechtliche Bestimmungen erheblich eingeschränkt ist, wurden diese Maßnahmen in den Niederlanden schon seit zwei Jahrzehnten bei Einhaltung bestimmter ärztlicher Sorgfaltskriterien rechtlich geduldet und gelten mittlerweile durch ein Gesetz mit dem Titel „Uberprüfung bei Lebensbeendigung auf Verlangen und bei der Hilfe zur Selbsttötung" nicht länger als rechtswidrige Handlungen. Sie sind daher von der Strafverfolgung ausgenommen, sofern bestimmte formale und inhaltliche Voraussetzungen erfüllt sind. Zu diesen Kriterien gehört unter anderem der freie, reiflich erwogene Wunsch des Patienten, das Vorliegen eines aussichtslosen Leidens, welches durch keine anderen Maßnahmen gelindert werden kann, die Hinzuziehung eines zweiten Kollegen, der den Arzt bei seiner Entscheidung beraten soll, sowie die M e l d u n g des Vollzugs der Euthanasie oder Beihilfe zum Suizid an einen hierfür vorgesehenen regionalen Kontrollausschuss, der die Einhaltung der vorgeschriebenen Sorgfaltskriterien nachträglich zu überprüfen hat. Die holländische Datenerhebung liefert eine wertvolle Grundlage, um die Entwicklung der Sterbehilfe- und Euthanasiepraxis in diesem Land innerhalb des letzten Jahrzehnts nachvollziehen zu können. Es gibt weltweit keine vergleichbaren Daten, die einen derart tiefen Einblick in die verschiedenen M a ß n a h m e n am Lebensende und ihren gesellschaftlichen Kontext erlauben (van der M a a s et al. 1991, van der M a a s et al. 1996, Onwuteaka-Philipsen et al. 2 0 0 3 , Centraal Bureau voor de Statistiek 2 0 0 3 , Rietjens et al. 2 0 0 4 ) .
172
H a n f r i e d H e l m c h e n u n d H a n s Lauter
V e r g l e i c h t m a n a u f g r u n d d i e s e r B e f u n d e d i e n i e d e r l ä n d i s c h e „Sterb e h i l f e " - P r a x i s mit d e m Status q u o in d e r B u n d e s r e p u b l i k , s o fällt zun ä c h s t a u f , d a s s d e n B ü r g e r n in H o l l a n d d u r c h d i e L e g a l i s i e r u n g v o n ärztlicher Verlangenstötung und Suizidbeihilfe eine größere Zahl von m e d i z i n i s c h e n O p t i o n e n a m L e b e n s e n d e z u r V e r f ü g u n g steht. Es d ü r f t e für v i e l e M e n s c h e n e i n e B e r u h i g u n g sein, als s c h w e r l e i d e n d e r u n d unheilbar kranker M e n s c h g e g e b e n e n f a l l s auf solche e i n e r H i l f e z u m T o d e h o f f e n u n d als ultima
ratio
Möglichkeiten
von ihnen G e b r a u c h
m a c h e n z u d ü r f e n ( B i r n b a c h e r 2 0 0 4 , S. 19). D a d u r c h w i r d a u c h d e r W u n s c h l e i c h t e r e r f ü l l b a r , b e i m Eintreten e i n e s u n e r t r ä g l i c h e n Leidensz u s t a n d e s V e r s t ä n d n i s b e i e i n e m seit l a n g e m v e r t r a u t e n H a u s a r z t z u f i n d e n u n d z u h a u s e s t e r b e n z u k ö n n e n , o h n e e t w a in d i e S c h w e i z f a h r e n u n d sich e i n e r d e r d o r t t ä t i g e n „ S t e r b e h i l f e " - O r g a n i s a t i o n e n a n v e r t r a u e n z u müssen. Einen V o r z u g d e r n i e d e r l ä n d i s c h e n Praxis m a g m a n a u c h d a r i n s e h e n , d a s s sich d i e d o r t i g e n R e c h t s n o r m e n in B e z u g a u f d i e S t e r b e h i l f e sehr v i e l stärker a n d i e k o n k r e t e n B e d ü r f n i s s e vieler M e n s c h e n a n g e p a s s t h a b e n . W e n n sich juristische B e s t i m m u n g e n o d e r s t a n d e s e t h i s c h e Richtlinien d u r c h d i e u n e i n g e s c h r ä n k t e
Tabui-
sierung jeglicher ärztlichen Tötungs- und Beihilfehandlungen zu w e i t v o n d e r L e b e n s w i r k l i c h k e i t e n t f e r n e n u n d d e n W e r t v o r s t e l l u n g e n ihrer A d r e s s a t e n nicht m e h r e n t s p r e c h e n , w e r d e n sie a u c h nicht m e h r akzeptiert u n d verinnerlicht u n d verlieren ihren v e r p f l i c h t e n d e n C h a r a k t e r . D i e B e i b e h a l t u n g s o l c h e r N o r m e n k a n n d i e V e r b i n d l i c h k e i t d e s Rechts u n t e r h ö h l e n ( B i r n b a c h e r 2 0 0 4 , S. 18). D e s h a l b ist v o n d e r
nieder-
ländischen G e s e t z g e b u n g der Versuch g e m a c h t w o r d e n , d a s bisher geltende generelle ärztliche Tötungstabu aufzuheben und durch Neur e g e l u n g e n zu ersetzen, w e l c h e d i e Straffreiheit d e r aktiven Euthanasie u n d S u i z i d b e i h i l f e v o n e i n e r Reihe v o n A u s n a h m e k r i t e r i e n u n d Kontrollbestimmungen a b h ä n g i g macht. D a m i t w i r d a b e r d e n Ä r z t e n e i n sehr viel g r ö ß e r e r Ermessensspielr a u m b e i l e b e n s b e e n d e n d e n E n t s c h e i d u n g e n e i n g e r ä u m t . W i e sich aus der Dokumentation der niederländischen Erfahrungen ergibt, reichen d i e unscharf definierten und d e h n b a r e n Sorgfaltskriterien -
„Freiwillig-
keit d e s W i l l e n s e n t s c h l u s s e s " , „ a u s d r ü c k l i c h e s u n d d a u e r h a f t e s Tötungsv e r l a n g e n " , „ u n e r t r ä g l i c h e s L e i d e n " - o f f e n s i c h t l i c h nicht aus, um d i e s e n S p i e l r a u m in d e m v o m G e s e t z g e b e r i n t e n d i e r t e n U m f a n g w i r k s a m z u b e g r e n z e n , zumal die v o r g e s e h e n e kollegiale Kontrolle und behördliche M e l d e p r a x i s vielfach u m g a n g e n wird. Ärztliche Tötungshandlungen w e r d e n nicht nur auf V e r l a n g e n , s o n d e r n in e i n e r g r o ß e n Z a h l d e r Fälle a u c h auf nichtfreiwilliger G r u n d l a g e bei D e m e n z p a t i e n t e n und anderen K r a n k e n v o r g e n o m m e n , d i e ihre E i n w i l l i g u n g s f ä h i g k e i t
eingebüßt
h a b e n . Bei d e m s c h l i e ß l i c h c h r o n i s c h K r a n k e n w i r d d i e v o r z e i t i g e Le-
173
Krankheitsbedingtes Leiden, Sterben und Tod
b e n s b e e n d i g u n g nicht nur in Kauf g e n o m m e n , sondern gleichzeitig von der Absicht geleitet, d e n Tod unmittelbar herbeizuführen; d i e Kranken w e r d e n a b e r hierüber nicht aufgeklärt. Auch bei einer so eingreifenden M a ß n a h m e w i e der terminalen Sedierung mit g l e i c h z e i t i g e m Nahrungsund Flüssigkeitsentzug fehlt bei mehr als der Hälfte die Zustimmung des Erkrankten, o b w o h l auch bei dieser M a ß n a h m e eine Tötung sehr oft mitintendiert o d e r unmittelbar beabsichtigt ist. Die G r e n z e n z w i s c h e n freiwilliger und nichtfreiwilliger „Sterbehilfe" h a b e n sich also offensichtlich verwischt. Die rechtliche Zulässigkeit der Tötung auf Verlangen w i r d zur Durchführung unerbetener Tötungshandlungen missbraucht. G l e i c h z e i t i g hat sich d i e Euthanasiepraxis auf
Indikationsbereiche
ausgeweitet, d i e ursprünglich nicht vorgesehen w a r e n o d e r zumindest nicht deutlich zum Ausdruck g e b r a c h t w u r d e n . Die ärztliche Tötung beschränkt sich nicht auf Sterbende und auf Patienten mit terminalen Krankheitsprozessen, sondern betrifft auch Personen, deren Tod in a b s e h b a r e r Zeit nicht zu e r w a r t e n ist und bei d e n e n es zumindest fraglich erscheint, o b man ihren gesundheitlichen Zustand als aussichtslos und ihr Leiden als unerträglich ansehen kann. Die Voraussetzungen für eine ärztliche Suizidbeihilfe sind unter Umständen ebenfalls bei Patienten mit seelischen Störungen g e g e b e n (Fuchs et al. 1 9 9 7 ] ; selbst altersbedingte Bes c h w e r d e n und Funktionseinbußen können bereits einen „unerträglichen Leidenszustand" im Sinne der Euthanasiegesetzgebung darstellen. Zu d e n neuralgischen Punkten der holländischen
Sterbehilfepraxis
g e h ö r t auch d i e h o h e Z a h l der freiwilligen aktiven Euthanasie und der Anstieg dieser Ziffer innerhalb eines Zeitraums von z w ö l f Jahren. M a n fragt sich, o b d i e Beachtung der Patientenautonomie eine derartig häufige A n w e n d u n g ärztlicher Tötungshandlungen rechtfertigt o d e r o b nicht in vielen Fällen d a s Fremdurteil über die g e r i n g e Lebensqualität des Patienten o d e r M i t l e i d s e r w ä g u n g e n diese Entwicklung begünstigt haben. Vor allem gewinnt man d e n Eindruck, dass d i e Alternativen der palliativen Betreuung tödlich Erkrankter und Sterbender nicht ausreichend genutzt w u r d e n . Die heutigen M ö g l i c h k e i t e n der Palliativmedizin und Sterbebegleitung schaffen ja grundsätzlich d i e Voraussetzung dafür, dass der von einer unheilbaren Krankheit Betroffene sein Leben mit Hilfe kompetenter
ärztlicher, pflegerischer
und mitmenschlicher
Betreuung
nach e i g e n e n Vorstellungen zu Ende zu führen kann, ohne unter unerträglichen Schmerzen o d e r a n d e r e n krankheitsbedingten
Beschwer-
d e n leiden zu müssen. Deshalb sind alle gesellschaftlichen Bemühungen auf d e m G e b i e t der Hilfen beim krankheitsbedingten Lebensende vorr a n g i g d a r a u f zu richten, eine qualitative Verbesserung und eine erhebliche quantitative Erweiterung der bislang bestehenden palliativmedizinischen V e r s o r g u n g s a n g e b o t e zu erreichen. Sieht man j e d o c h - w i e dies
174
H a n f r i e d H e l m c h e n u n d H a n s Lauter
in d e r h o l l ä n d i s c h e n Euthanasiepraxis d e r Fall ist - d i e ärztliche Hilfe zum T o d e als e i n e d e r ärztlichen und mitmenschlichen S t e r b e b e g l e i t u n g g l e i c h w e r t i g e O p t i o n an, so kann dies leicht d a z u führen, dass d i e Euthanasie zur leichter z u g ä n g l i c h e n u n d kostengünstigeren M ö g l i c h k e i t einer Beseitigung k r a n k h e i t s b e d i n g t e n Leidens w i r d . S o w e i t d i e p u b l i z i e r t e n D a t e n e r h e b u n g e n e i n e B e u r t e i l u n g d e r nied e r l ä n d i s c h e n S t e r b e h i l f e zulassen, kann d i e s e s M o d e l l a l s o sicher nicht als r i c h t u n g w e i s e n d für d i e B u n d e s r e p u b l i k a n g e s e h e n w e r d e n ( Z i m m e r m a n n - A c k l i n 2 0 0 0 ) . Leider g i b t es keine v e r g l e i c h b a r e Dokum e n t a t i o n aus a n d e r e n S t a a t e n o d e r aus H o l l a n d aus d e r Z e i t vor d e r d o r t i g e n D u l d u n g u n d L e g a l i s i e r u n g d e r aktiven Euthanasie. D a h e r lässt sich nicht mit Sicherheit beurteilen, i n w i e w e i t d i e d o r t i g e E n t w i c k l u n g unmittelbar d u r c h d i e R e c h t s p r e c h u n g u n d G e s e t z g e b u n g in d i e s e m Land h e r b e i g e f ü h r t w u r d e . J e d e n f a l l s ist d e r M i s s b r a u c h u n d d i e Ausw e i t u n g d e r Euthanasie hierdurch nicht v e r h i n d e r t w o r d e n . O b d i e s e r Prozess m i t t l e r w e i l e e i n e K o n s o l i d i e r u n g s p h a s e erreicht hat o d e r sich w e i t e r fortsetzt u n d d a s A u s m a ß eines g e s e l l s c h a f t l i c h e n D a m m b r u c h s a n n e h m e n kann, ist s c h w e r e i n z u s c h ä t z e n . D i e A n s c h a u u n g e n hierüb e r g e h e n a u s e i n a n d e r . B e f ü r c h t u n g e n dieser A r t lassen sich j e d o c h nicht v o n d e r H a n d w e i s e n . A u f g r u n d d e r b i s h e r i g e n E r f a h r u n g e n u n d a n g e s i c h t s d e r s c h w i n d e n d e n ö k o n o m i s c h e n Ressourcen, d i e für d i e g e s u n d h e i t l i c h e V e r s o r g u n g einer a l t e r n d e n B e v ö l k e r u n g e r f o r d e r l i c h sind, ist d i e S o r g e vor d e n n e g a t i v e n g e s e l l s c h a f t l i c h e n A u s w i r k u n g e n einer rechtlich u n d ethisch g e b i l l i g t e n ä r z t l i c h e n T ö t u n g s p r a x i s nicht aus d e r Luft g e g r i f f e n . Der Sterbehilfediskurs in d e r B u n d e s r e p u b l i k ist n o c h immer d u r c h d i e Erinnerung a n d i e „Vernichtung l e b e n s u n w e r t e n Lebens" im N a t i o nalsozialismus belastet. Eine unmittelbare A n a l o g i e besteht sicher nicht. Die r e c h t s w i d r i g e n , unter strikter G e h e i m h a l t u n g v o l l z o g e n e n M o r d a k t i o n e n v o n d a m a l s sind e t w a s v ö l l i g a n d e r e s als d i e g e g e n w ä r t i g e n B e m ü h u n g e n um e i n e v o n d e r M e h r h e i t d e r B e v ö l k e r u n g g e t r a g e n e g e s e t z l i c h e R e g e l u n g , durch d i e e i n e Legitimierung ärztlicher Tötungsh a n d l u n g e n unter f e s t g e l e g t e n A u s n a h m e b e d i n g u n g e n erreicht w e r d e n soll. D i e i d e o l o g i s c h e W u r z e l d e r T ö t u n g G e i s t e s k r a n k e r l a g in einer s o z i a l d a r w i n i s t i s c h e n I d e o l o g i e u n d kollektivistischen Staatsauffassung, w ä h r e n d es d e n B e f ü r w o r t e r n d e r g e s e t z l i c h z u g e l a s s e n e n Euthanasie d a r u m geht, d a s i n d i v i d u a l e t h i s c h e Prinzip d e r Patientenselbstbestimmung am Lebensende durchzusetzen. D e n n o c h d a r f nicht ü b e r s e h e n w e r d e n , d a s s sich d i e gesellschaftlic h e K a t a s t r o p h e d e s p s y c h i a t r i s c h e n G e n o z i d s aus d e n kleinen u n d uns c h e i n b a r e n A n f ä n g e n eines Euthanasiediskurses e n t w i c k e l t e , b e i d e m c h r o n i s c h kranken, b e h i n d e r t e n u n d s o z i a l u n e r w ü n s c h t e n Personen ihr
175
K r a n k h e i t s b e d i n g t e s Leiden, S t e r b e n u n d T o d
Lebenswert und ihr Lebensrecht abgesprochen wurde. Finanzielle Erw ä g u n g e n und ökonomische Motive spielten als Rechtfertigungsgrund für die in Aussicht genommenen Tötungshandlungen eine bedeutsame Rolle. Mit dieser Lebens(un)wertdebatte zwischen den beiden Weltkriegen war bereits gedanklich vorbereitet, w a s später von einem verbrecherischen Regime mit beispielloser Brutalität in die Tat ungesetzt wurde. Unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen muss wohl nicht befürchtet werden, dass eine ähnlich verheerende politische Radikalisierung und Barbarisierung ein zweites M a l eintreten könnte. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass die Idee eines für den einzelnen w i e auch für die Gemeinschaft heilbringenden
Gnadentodes
„erneut rechtsfreien Räumen Vorschub leistet, in denen alte, psychisch kranke und behinderte Personen ihres Lebens nicht mehr sicher wären" (Schmuhl 1994, S. 59). Insgesamt müssten g e g e n eine dem holländischen Beispiel folgende gesetzliche Neuregelung in der Bundesrepublik
erhebliche
Bedenken vorgebracht werden, die sich g e g e n die nur begrenzte Kontrollierbarkeit einer solchen Praxis richten. Dem Arzt würde damit eine Erweiterung seiner bisherigen Entscheidungsbefugnis eingeräumt, die mit seinem beruflichen Selbstverständnis und seiner Verantwortung nicht vereinbar ist. Für den aktuellen und potentiellen Patienten wäre sie gefährlich, weil sie leicht missbraucht werden kann, insbesondere dadurch, dass das Erfordernis eines völlig selbstbestimmten und ausdrücklichen Sterbeverlangens nicht eingehalten und das Leben eines Menschen ohne seinen erklärten Willen aktiv beendet wird (Birnbacher 2 0 0 4 , S. 18). Der Preis, der für die Verfügbarkeit von aktiver Euthanasie und ärztliche Suizidbeihilfe gezahlt werden müsste, w ä r e also zu hoch. Demgegenüber erscheint die Beibehaltung eines generellen ärztlichen Tötungsverbots vorzugswürdig, sofern die standesethischen Sanktionen gegen die Beihilfe eines Arztes zur Selbsttötung in Ausnahmefällen gelockert werden. Die Uberzeugungskraft dieser Überlegungen steht und fällt jedoch letztlich mit der grundsätzlichen Bedeutung, die wir verschiedenartigen gesellschaftlichen Leitbildern und moralischen Denkfiguren in Bezug auf die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens, die Rolle von Selbstbestimmung und Abhängigkeit, dem Sinn und der Erträglichkeit menschlichen Leidens oder dem Begriff eines „würdigen" Sterbens beimessen. Es gibt wohl nur eine kleine G r u p p e von ärztlichen Handlungen oder Unterlassungen, die unabhängig von solchen Grundüberzeugungen aus ethischer Sicht als grundsätzlich und ausnahmslos unzulässig zu bezeichnen sind. Angesichts der Vielzahl möglicher Problemkonstellationen gerät jedoch jede verallgemeinernde Einschätzung rasch an
176
Hanfried Helmchen und H a n s Lauter
ihre G r e n z e n . Die ethischen Probleme am Lebensende können nicht aus dem individuellen Kontext der j e w e i l s vorliegenden individuellen Entscheidungssituation herausgelöst und in einfache
Handlungsalter-
nativen gefasst werden (Anselm 2 0 0 4 ) . S i e machen meist schwerwiegende A b w ä g u n g s p r o z e s s e erforderlich, bei denen zahlreiche moralische Dimensionen bedacht werden müssen. Schon vor 4 0 Jahren hat der T h e o l o g e Helmuth Thielicke ( 1 9 6 8 ) vor der „Illusion der glatten Lösung" derartiger Fragen gewarnt und sie den Befürwortern w i e auch den Kritikern der damaligen „Sterbehilfe"-Debatte entgegengehalten.
5
Epilog
Vor diesem Hintergrund erscheint es a l s eine der großen gesellschaftlichen Aufgaben der nächsten Zukunft, die kommenden gravierenden Folgen d e s demographischen W a n d e l s in ein erträgliches Verhältnis z u unseren derzeitigen anthropologischen Vorstellungen von einem humanen M e n s c h e n b i l d z u bringen. Dabei dürfte auch das Verhältnis des Individuums z u r Sozietät, z u r Gesellschaft, in der es lebt, z u überdenken sein. Ein Ausgangspunkt muss die nüchterne Berücksichtigung der prognostischen Projektionen von Lebenserwartung, M o r b i d i t ä t und deren Kosten sein. Ein anderer muss die ethisch kontroverse D i s k u s s i o n über die Kontrolle des Lebensendes (intendierte Verlängerung ebenso w i e Verkürzung) sein. U m dem dabei sich schnell einstellenden
Gefühl
einer A u s w e g s l o s i g k e i t nicht anheimzufallen, w ä r e n praktische Konsequenzen z u möglichen Interventionen a u f z u z e i g e n , die auf die Voraussetzungen der derzeitigen Prognosen zielen. S i e betreffen k e i n e s w e g s nur Finanzierung und Forschung, sondern mindestens ebenso unseren Lebensstil, ja unsere g a n z e Kultur. Von besonderer Bedeutung für jeden einzelnen todkranken oder sterbenden M e n s c h e n dürfte dabei die Orientierung an W e r t e n sein, die „sich nicht in der billigen Hoffnung erschöpfen, d a s s alles gut enden wird, sondern die die G e w i s s h e i t tragen, d a s s etwas S i n n hat, egal w i e es ausgeht" (Student 2 0 0 6 ) .
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i.Br., H e r d e r , S .
345-364.
ein richtungassistierte
Universitätsverlag/Freiburg
EBERHARD JÜNGEL DER T O D I N C H R I S T L I C H E R
Wer
PERSPEKTIVE
den Tod verstehen will, muss das Leben verstanden
haben.
Aus sich selbst heraus lässt sich der Tod nicht begreifen. Denn der Tod ist stumm. Und macht stumm. Und auch dieses sein penetrantes Schweigen, auch diese den Tod kennzeichnende Stummheit lässt sich nur begreifen, wenn man begriffen hat, was denn im Tode verstummt, w o z u also das scheinbar undurchdringliche Schweigen des T o d e s im Gegensatz steht. Von unserem Leben her deuten wir den Tod. Die Uberlebenden geben dem Toten das letzte Geleit und versuchen mit Riten, mit Gräberarchitektur und mit unterschiedlichen mythischen Vorstellungen das rätselhafte Dunkel des T o d e s z u erhellen. Und in allen diesen - sagen wir einmal: Auseinandersetzungen mit dem Tod manifestiert sich ein bestimmtes Verständnis von Leben. Je nachdem, wie das Leben verstanden wird, wird auch der Tod gedeutet. Der Tod verlangt allerdings danach, gedeutet z u werden. Denn als deutungsloses brutum factum ist er den Lebenden unerträglich. Hätte der Mensch auch sonst keinen Anlass, irgend etwas z u deuten, die Erfahrung des T o d e s macht ihn mit Notwendigkeit zum Deutenden. Insofern kann die Erfahrung des Todes, wie Jan Assmann' unterstellt, tatsächlich zum „Kulturgenerator" werden. Aber indem der Mensch den T o d deutet, bringt er zum Ausdruck, w a s er vom Leben hält. Zumindest ein implizites Verständnis von Leben dirigiert die jeweilige Deutung des Todes. W e n n Jan Assmann behauptet: „Der T o d macht z w a r alle gleich, aber in der Einstellung zum Tode entfaltet sich ein ungeheures Spektrum kultureller und individueller Differenzen", 2 dann gilt das eben deshalb, weil die unterschiedlichen Einstellungen zum Tod unterschiedliche Einstellungen zum Leben zur Voraussetzung haben. Ich exemplifiziere das Behauptete zunächst an einem vorchristlichen Lebensverständnis und der von ihm her sich nahelegenden Deutung des Todes, um erst dann in der Perspektive biblischer Urteilskraft von Leben und Tod z u handeln. Es ist die bis heute wirksame Auffassung des großen Piaton, auf die zunächst kurz eingegangen werden soll, weil sie einerseits auch auf die christliche Theologie einen nicht z u unterschätzenden Einfluss gehabt hat, andererseits aber zum biblisch
1 J. Assmann, Tod und Jenseits im Allen Ägypten, München 2001, S. 6ff. 2 A.a.O., S. U .
184
Eberhard Jüngel
begründeten Verständnis von Leben und T o d in einer harten Spannung steht. Für Piaton vollzieht sich das eigentliche Leben im Akt und als Akt der Erkenntnis. U n d das ist ein Akt, in dem die menschliche S e e l e an der W a h r h e i t des S e i n s partizipiert. D a s Leben lebt von der W a h r h e i t , die sich als leuchtende Idee der nach Erkenntnis strebenden
Seele
erschließt und der erkennenden S e e l e an ihrem unvergänglichen und ewig klaren S e i n teil gibt, so d a s s das Leben der S e e l e ihrerseits G l a n z und beglückende Reinheit gewinnt. 3 M i t Schiller z u reden: „Ewigklar und spiegelrein und e b e n / f l i e ß t das zephyrleichte Leben/im O l y m p den S e l i g e n dahin ..." Doch: „der K ö r p e r eignet jenen Mächten, die das dunkle Schicksal flechten"! Der Körper, der Leib, ist nach Piaton unfähig z u r Erkenntnis. Er ist nicht wahrheitsfähig. U n d wenn eigentliches Leben in der Partizipation an der W a h r h e i t besteht, dann „lebt" der K ö r p e r nicht im S i n n e eigentlichen Lebens. S e i n Leben ist hinfällig, vergänglich.
Schlimmer
noch: der Leib hindert die mit ihm vereinte S e e l e an ihrem eigentlichen Lebensakt, a l s o an der Erkenntnis der W a h r h e i t , s o d a s s die menschliche S e e l e es schwer hat, ihre ureigene Funktion z u erfüllen. S i e muss sich unentwegt bemühen. Denn „vor den Erfolg haben die Götter den S c h w e i ß gesetzt", heißt es schon bei H e s i o d . Piaton hat im berühmten 7. Brief beschrieben, w i e die sich mühende S e e l e z u r Erkenntnis der W a h r h e i t und a l s o z u m wahren Leben gelangt: nach langer Bemühung um die Sache entzünde sich plötzlich (εξαίφνης) w i e durch einen überspringenden Funken ein Feuer in der Seele, das sich dann durch sich selbst ernährt ( 3 4 1 C). Piatons Meisterschüler Aristoteles hat in seiner M e t a p h y s i k
(12.
Buch: 1 0 7 2 b) die Auffassung des Lehrers ausgebaut und behauptet, die Energie des Denkens (das Denken in acfu!) -
das sei eigentlich
Leben. Im Denken vollendet sich das Leben z u einem glückseligen und vollkommenen Leben. U n d da Gott von Aristoteles a l s das sich selber denkende Denken, als νοήσεως νόησις definiert wird, ist der aristotelische Gott ein ewig lebendes, glückliches W e s e n . Eben deshalb w i r d er von allem, w a s ist, geliebt, während er selbst nichts und niemanden liebt. W e i l alles s o werden w i l l w i e er -
nämlich ein ewig lebendes
glückliches W e s e n — bewegt sich alles auf ihn zu, während er sich von nichts und niemandem bewegen lässt. S o ist er „der unbewegte B e w e g e r " . Der M e n s c h aber, der immerhin noch einen Körper hat und der, w e i l er selber liebt, sich von anderen bewegen lässt, lebt nur von
3 Vgl. P. Friedländer, Plat on, Bd. 1: „Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit", Berlin 3 1964,
S. 73ff. u.ö.
185
Der T o d in christlicher Perspektive
Z e i t z u Z e i t so w i e der Gott immer -
und z w a r jeweils dann, wenn
er denkt oder — w i e es im Griechischen auch heißt - schaut:
nämlich
das unabhängig von allem anderen seiende eigenständige Sein, das in dieser seiner Unabhängigkeit und Eigenständigkeit das wahrhaft S e i e n d e (δντως öv) ist. ( N o c h H e g e l war von diesem Text des Aristoteles so beeindruckt, d a s s er ihn am Ende seiner E n z y k l o p ä d i e auf Griechisch abgedruckt hat.) Ist nun aber der Körper der Grund dafür, dass wir nicht immer denken und deshalb nur von Z e i t z u Z e i t so glückselig leben wie der Gott immer, dann müsste die Seele eigentlich darauf bedacht sein, sich vom Körper z u befreien. Und genau diese Befreiung der Seele vom Körper geschieht im Tod. Im T o d findet der vergängliche Leib sein Ende. Und die unvergängliche Seele wird frei. Vom platonisch-aristotelischen Verständnis des Lebens her gewinnt der Tod folglich eine durchaus positive Bedeutung: als separatio animae α corpore (Phaidon 6 4 C| erlaubt es der Tod der Seele, dem Gefängnis des Körpers z u entfliehen. Diese Trennung der Seele vom Körper bedeutet zugleich eine Läuterung der Seele, so dass sie ihre - im Akt der Erkenntnis immerhin bereits antizipierte, aber vom Körper beeinträchtigte -
leuchtende Reinheit zurückgewinnt. U n d inso-
fern kann, ja sollte sich der Mensch auf seinen Tod freuen. Denn wenn er kommt, dann stirbt keineswegs der Mensch, sondern nur „das Sterbliche an uns, das Unsterbliche und Unzerstörbare aber zieht wohlbehalten ab" (Phaidon 1 0 6 E) - dahin, w o „ewig klar und spiegelrein und eben/)...) das zephyrleichte Leben (...) dahin" fließt. Der platonische S o k r a t e s hat denn auch die überlieferte griechische Auffassung vom S c h w a n e n g e s a n g kühn umgedeutet. N a c h gängiger Auffassung singen die Schwäne, bevor sie sterben, „am meisten und schönsten", w e i l sie eine tiefe W e h m u t über ihr bevorstehendes Ende erfasst. Doch der platonische S o k r a t e s behauptet das Gegenteil: die S c h w ä n e singen vor ihrem T o d deshalb am meisten und schönsten, w e i l sie sich darauf freuen, a l s b a l d z u A p o l l o n einzugehen, dem Gott des G e s a n g e s , ihrem H e r r n (Phaidon 8 4 E). Derselbe A p o l l o w a r als Gott d e s delphischen O r a k e l s auch der H e r r des Sokrates, der es sterbend den Schwänen gleichtat. S e i n S c h w a n e n g e s a n g wurde notw e n d i g z u m Loblied auf den Tod: auf den Tod, der ein Fest der Freiheit ist. Im T o d w i r d die S e e l e frei (von dem sie ständig behindernden Körper), frei z u m Denken. U n d diese Freiheit w i r d das Leben wahrmachen. Im Johannesevangelium ( 8 , 3 2 ) heißt es: die Wahrheit
wird
Euch
frei-
machen. Die platonische Verheißung lautet w o h l eher umgekehrt: die Freiheit
wird Euch
wahrmachen.
Im Alten und im N e u e n Testament begegnet uns ein g a n z anderes Verständnis von Leben und folglich auch eine andere Deutung des To-
186
Eberhard Jüngel
des. Allerdings gibt es zwischen beiden Testamenten auch erhebliche Differenzen, auf die ich noch eingehen werde. Doch zunächst muss das Gemeinsame herausgestellt werden. Leben heißt in der Bibel prinzipiell: Zusammenleben. Nicht: je unabhängiger und eigenständiger, desto lebendiger, sondern: je gemeinschaftsfähiger, desto lebendiger. Deshalb gilt, dass der
Gerechte
leben wird (Hab 2 , 4 ; Rom 1,17). Denn Gerechtigkeit ist der Inbegriff des gelingenden Zusammenlebens. Selbst der Gottlose, wenn er „umkehrt (...) und Recht und Gerechtigkeit übt -
leben soll er und nicht
sterben" (Ez 18,21). Leben vollzieht sich nach biblischem Urteil immer in Beziehungen. Und je beziehungsreicher, desto lebendiger ist das Leben. 4 Leben ist keine mythologisch selbständige G r ö ß e , nicht etwas, das man z u suchen sich auf den W e g machen kann wie z . B . im altbabylonischen Gilgamesch-Epos. Das Leben entspringt vielmehr dem lebendigen Gott, der seinerseits der Inbegriff beziehungsreichen Lebens ist. Aus der Beziehung z u ihm lebt deshalb der Mensch. Im Hören auf Gott wird und bleibt der Mensch lebendig: „Hört, so werdet ihr leben" (Jes 5 5 , 3 ) . Hingegen beginnt er z u sterben, wenn an die Stelle des Beziehungsreichtums selbstverschuldete Beziehungslosigkeit tritt. Das kann bereits mitten im Leben geschehen. Und dann fängt die Herrschaft des Todes eben bereits mitten im Leben an: in der Einsamkeit, in der Gefangenschaft, im Exil, in der Krankheit. Und je mehr die Beziehungslosigkeit wächst, desto stärker herrscht der Tod schon mitten im Leben. Am Ende, wenn alle Beziehungen enden, muss der aus dem Staub der Erde geformte Mensch -
wie es im Schöpfungsmythos des Jahwisten (Gen
3,19; vgl. Ps. 9 0 , 3 ) heißt - wieder z u Erdenstaub werden. Der platonische Gedanke einer unsterblichen Seele liegt also völlig fern. Das irdische Leben ist im Alten Testament der Güter höchstes. N u r ganz am Rande des Alten Testamentes wird das irdische Leben als
4 J. Assmann (a.a.O., S. 16f.) hat Ähnliches für die aitägyptische Lebensauffassung behauptet. Demgemäß gilt auch hier, dass „das Leben auch schon vor dem biologischen Tod enden" kann: „wenn nämlich (...) ein M e n s c h vereinsamt. Dann (...) ist, wie die Ägypter sagen", der M e n s c h „lebendig tot". Eine liefe Differenz zum Lebensverständnis Israels tritt allerdings da vor Augen, w o für die alten Ägypter gilt, dass „das Leben (...) auch über die Schwelle des T o d e s hinaus andauern" kann, wenn die Hinterbliebenen den Toten „über diese Schwelle hinweggeleiten". Dann kann angeblich „dos S o z i a l selbst (...) den Z e r f a l l des Körperselbst überstehen". Das ist ein für die alten Israeliten schwer nachvollziehbarer Gedanke. Israel kennt im Unterschied zum alten Ägypten keinen „Grenzverkehr zwischen der W e l t der Lebenden und der W e l t der Toten". Eine Totenbeschwörung gilt als gotteslästerlich (vgl. S a u l s Besuch bei der Hexe von Endor, mit deren Hilfe er den toten Samuel heraufbeschwört, l S a m 2 8 ) .
D e r T o d in c h r i s t l i c h e r P e r s p e k t i v e
187
durch ein anderes - jenseitiges? - Leben überbietbar gedacht (vgl. Ps 6 3 ; Ps 7 3 , 2 4 - 2 8 ; Ps 1 4 2 , 6 ; Jes 2 6 , 1 9 ; Dan 1,1 f f ) . Vom biblischen Verständnis des Lebens a l s Zusammenleben, von dem als B e z i e h u n g s b e g r i f f konzipierten biblischen Lebensbegriff her w i r d dann auch der T o d gedeutet. Im G e g e n s a t z z u m allemal beziehungsreichen Leben ist der T o d der Eintritt vollkommener B e z i e h u n g s losigkeit. Im T o d endet die B e z i e h u n g des M e n s c h e n z u sich selbst, endet die B e z i e h u n g des M e n s c h e n z u seiner s o z i a l e n und natürlichen Umwelt, endet auch die B e z i e h u n g des M e n s c h e n z u Gott. Denn „die Toten loben den H e r r n nicht mehr" (Ps 115,17; vgl. Jes 3 8 , 1 5 ) .
Und
wenn Gott nicht mehr gelobt wird, dann verkümmert d a s Leben so sehr, d a s s es nicht mehr Leben z u heißen verdient. D a s s die B e z i e h u n g des M e n s c h e n z u Gott im T o d e endet, besagt freilich nicht, d a s s auch die B e z i e h u n g Gottes zum M e n s c h e n im T o d e endet. Doch dieser G e d a n k e w i r d vor allem im N e u e n Testament eine Rolle spielen. Dem alttestamentlichen Todesverständnis entsprechen die Begräbnisriten. Der Tote w i r d sofort bestattet. D a s Klima begünstigt die rasch einsetzende Verwesung, so d a s s schnell für die Bestattung gesorgt werden muss. Die B e i s e t z u n g unter der Erde ist die übliche Form der Behandlung des Leichnams. Leichenverbrennungen sind nicht üblich. Die Verbrennung w i r d vielmehr als schimpfliche Behandlung für Verbrecher aufgespart. Die Verweigerung der Bestattung galt a l s E r z ü b e l . Aber das gilt für die von der S o n n e n h i t z e geplagten Mittelmeerländer insgesamt. Ich erinnere nur an die Antigone des S o p h o k l e s , deren Konflikt mit dem Tyrannen ja dem Verbot entspringt, den Bruder
zu
beerdigen. Den Hunden oder den Vögeln zum Fraß preisgegeben z u werden, hieß den Unterschied z w i s c h e n M e n s c h und Tier aufheben. N o c h die jüdischen Ausleger des Alten Testamentes warnen davor, auf hoher S e e z u sterben und also ohne ein G r a b in der Erde z u bleiben. Die B e g r ä b n i s p l ä t z e lagen in der Regel a u ß e r h a l b der bewohnten Siedlungen. Denn G r ä b e r machen kultisch unrein. Die G r ä b e r der W o h l h a b e n d e n unterschieden sich von denen der Armen, die in Senkgräbern unter die Erde kamen, während die Reichen in vornehmeren und dauerhaften Felsengrabmälern bestattet wurden. S ä r g e wurden in der älteren Z e i t nicht benutzt. Die Leichen wurden vielmehr auf Bänken niedergelegt, die sich an den drei Seiten der rechteckigen Grabkammer links, rechts und gegenüber der Eingangsseite befanden. H i e r wurde man „zu seinen Vätern versammelt". Denn deren G e b e i n e lagen bereits dort. Für die später verstorbenen Nachkommen wurde Platz gemacht, indem die G e b e i n e von der Bank w e g in eine Sammelgrube verlegt wurden, die sich meist in einer Ecke der Grabkammer befand.
188
Eberhard Jüngel
Von daher versteht sich die biblische Rede: in die Grube fahren. Eine eigentlich individuelle Form der Bestattung beginnt erst in römisch-hellenistischer Zeit. Z u allen Zeiten hat man den Toten jedoch allerlei Gaben mit ins Grab gegeben, Gegenstände des alltäglichen Lebens wie Tongefäße, Tonlampen, Salbgefäße, Schmuck, Waffen. Dergleichen deutet darauf hin, dass die Toten in ihren Gräbern nicht einfach nichts sind, sondern in einer der Existenz der Lebenden doch irgendwie noch von ferne gleichenden W e i s e da sind. S i e hausen dort. Aber diese Behausung gehört nicht zur Welt. Das Grab ist vielmehr — wie W ü s t e und O z e a n - Nicht-Welt. Das gilt erst recht von jenem Ort, den das Alte Testament Scheol nennt, eine Gegend, die mit Totenreich nur unpräzis beschrieben ist. S i e ist vielmehr der Ort des Untergangs, ohne Licht, Ort nicht endender Stummheit. Unterschiede werden dort bedeutungslos. Es ist der O r t vollendeter Beziehungslosigkeit. W e r in der Scheol ist, der ist im Land des Vergessens (Ps 8 8 , 1 3 ) . Der Ausdruck ist trostlos. W ä h r e n d die Vorstellungen vom Aufenthalt der Toten im Grabe und in der Scheol weitgehend auch zur religionsgeschichtlichen
Umwelt
des Alten Testamentes gehören, unterscheidet sich dieses von seiner Umwelt in einer Hinsicht eindeutig. Es gibt keine Totenverehrung und deshalb auch keinen Gräberkult. Tote und die Gräber der Toten sind unrein und machen unrein. M a n muss sich von ihnen lösen. Das N e u e Testament teilt mit dem Alten Testament die Gewissheit, dass sich im Tod des Menschen die selbstverschuldete Beziehungslosigkeit vollendet. Selbstverschuldet — das heißt, dass der Mensch sein Selbstverhältnis so rücksichtslos verwirklicht, dass alle anderen Beziehungen, in denen sich sein Leben vollzieht, Schaden nehmen. In diesem Sinne sagt Jesus: wer sein Leben rücksichtslos verwirklichen will, der wird es verwirken ( M k 8 , 3 5 ) . Nicht unähnlich heißt es bei Paulus: der Tod ist der Sünde S o l d (Rom 6 , 2 3 ) . Das Neue Testament begreift zwar wie das Alte Testament Leben als Zusammenleben. Leben ist auch hier ein Beziehungsbegriff. Und dementsprechend gilt auch hier als Feind des Lebens die als Drang in die menschliche Beziehungslosigkeit verstandene Sünde, die im tödlichen Ereignis vollkommener Beziehungslosigkeit erntet, was sie gesät hat. Doch all diese dem Neuen und Alten Testament gemeinsamen Voraussetzungen werden nun dadurch völlig neu organisiert und ausgerichtet, dass im Zentrum der neutestamentlichen Überlieferungen der Glaube an den am Kreuz hingerichteten Jesus Christus steht, der - das ist die Urgewissheit des christlichen Glaubens - in diesem seinen unschuldigen Tod dem selbstverschuldeten Tod der Beziehungslosigkeit, den der Sünder sterben muss, seine von Gott entfremdende Macht
D e r T o d in christlicher Perspektive
189
genommen hat. Denn im Tod des Gekreuzigten erkannten die ersten Christen nicht nur das W e r k der ihn tötenden Menschen, sondern zuerst und vor allem sahen sie in diesem Tod Gott selbst am Werk: der ewigreiche, allmächtige Gott hat sich in der Person Jesu Christi auf das tiefste Elend des Menschen eingelassen, so eingelassen, dass er selbst den Tod mit ihm teilte. Und gerade indem er sich dem Tod ausgesetzt, ihn erlitten hat, gerade so hat er ihn überwunden. Seitdem wurde Gott, wie es im 1. Johannesbrief (4,16) heißt, mit der Liebe identifiziert. Denn die Liebe ist nach dem eindrücklichen Satz aus dem Hohenlied (8,6) „stark wie der Tod". W e r aber so stark ist wie der Tod, der ist stärker als er. Denn der Tod erträgt keinen gleich starken Konkurrenten. Der G l a u b e an diese den Tod überwindende Liebe Gottes steht im Zentrum des Christentums, dessen sprechendstes Symbol deshalb das Kreuz ist. Das Evangelium gilt diesem „Geheimnis des Glaubens", das auf keinen Fall „geheim" gehalten, sondern aller Welt kundgetan werden soll. Es ist kein secretum, kein arcanum, sondern ein mysterium, das umso geheimnisvoller wird, je besser man es versteht. Es ist - mit Goethe formuliert — ein „kündlich öffentlich Geheimnis": „so ergreifet ohne Säumnis kündlich öffentlich Geheimnis!"
Die Christenheit hat dieses Geheimnis des Glaubens in einem Osterchoral so ausgedrückt: Es w a r ein wunderlicher Krieg, d a Tod und Leben rungen. Das Leben behielt den Sieg. Es hat d e n Tod verschlungen. Die Schrift hat verkündet das, w i e ein Tod d e n andern fraß. Ein Spott der Tod ist w o r d e n .
„ W i e ein Tod den andern fraß" - gemeint ist, wie der Tod Jesu Christi den der menschlichen Sünde geschuldeten Tod der Beziehungslosigkeit überwunden hat. „Das Leben behielt den Sieg" — gemeint ist: der gekreuzigte Christus ist auferstanden von den Toten. Und als Auferstandener verbürgt er auch denen, die noch sterben müssen, Leben, nämlich Zusammenleben mit Gott und also ewiges Leben. In der pointierten Sprache des Johannesevangeliums: „Ich lebe, und Ihr sollt auch leben" (Joh 14,19). „Ich bin die Auferstehung und das Leben. W e r an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt" (Joh 11,25).
190
Eberhard Jüngel
Halten wir noch einmal fest: Leben heißt Zusammenleben. Im Glauben an Jesus Christus partizipiert nach Auffassung der neutestamentlichen Texte der Mensch an dem Gott, der als Vater, Sohn und Heiliger Geist zusammenlebt, und zwar so, dass er die von ihm geliebten Menschen in sein Leben einbezieht. Gottes Leben unterscheidet sich von dem allemal widerspruchsvollen menschlichen Leben nach biblischem Urteil dadurch, dass es ein friedliches und Frieden schaffendes Leben ist. Wird der Mensch von Gott in sein friedliches und Frieden schaffendes Leben einbezogen, dann kann der Mensch mit Gott und eben deshalb zugleich mit allen Kreaturen im Frieden zusammenleben und dann soll er seinerseits Frieden schaffen. Von Friedrich Nietzsche stammt der deprimierende Satz: „Die Wüste wächst. W e h dem, der Wüsten birgt!" Für das Christentum wird man umgekehrt formulieren müssen: „Der Friede wächst. Heil dem, der Frieden wirkt!" Soviel in aller Kürze zum christlichen Verständnis des Lebens. Für die christliche Deutung des Todes hat d a s nun allerdings erhebliche Konsequenzen. Denn man muss nun zwischen Tod und Tod unterscheiden. D a s N e u e Testament spricht in dieser Hinsicht eine genau differenzierende Sprache. Von dem Tod, der der Sünde S o l d ist, heißt es nun, dass der G l a u b e n d e ihn bereits hinter sich hat. Denn der G l a u b e n d e ist in der Taufe mit Christus bereits b e g r a b e n worden (Rom 6,4). Dass dem G l a u b e n d e n gleichwohl noch bevorstehende Sterben ist nun von jedem Fluch befreit. M a n muss es nicht mehr fürchten. Das Sterben, d a s auch den G l a u b e n d e n noch bevorsteht, kann Paulus s o g a r für einen G e w i n n erachten (Phil 1,21). Damit wird keineswegs bagatellisiert, dass d a s Lebensende eines Menschen schrecklich sein kann. Viele der ersten Christen wurden immerhin zu Tode gefoltert. Aber sie glaubten sich mitten im Tod von der Liebe Gottes umfangen. Diese auf den ersten Blick in die N ä h e der platonischen Todesauffassung - der Tod als Fest der Freiheit! - weisende Formulierung darf auf keinen Fall im platonischen Sinne interpretiert werden. Für den Christen gilt vielmehr: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. M a n weiß sich also auch im Tod, den jeder noch sterben muss, im Machtbereich der Liebe Gottes. Es ist z w a r eine barocke Übertreibung, wenn Johann Sebastian Bach in einer Kantate singen lässt: „Ich freue mich auf meinen Tod. Ach hätt' er sich schon eingefunden". Doch der Tod kann nun so, wie in Hiob 5 , 2 6 beschrieben - es handelt sich im Kontext des Alten Testamentes um eine eher als Ausnahme zu lesende A u s s a g e - , erfahren werden. Es heißt da: „Du gehst in Vollreife zum G r a b e ein, gleich wie die G a r b e eingebracht wird zu ihrer Zeit". Nicht „der Schnitter Tod" ist gemeint, sondern mit dem Fest der Ernte wird der Tod hier verglichen. Der „natürliche", der sich zur rechten Zeit einstellende Tod ist nun nicht mehr der Feind des Lebens.
Der T o d in christlicher Perspektive
191
In dieser G e w i s s h e i t v e r w a n d e l t d e r christliche G l a u b e d i e natürliche A n g s t vor d e m T o d e in d i e S o r g e für d a s Leben. A n g s t vor d e m T o d e ist A n g s t vor d e r Beziehungslosigkeit. S o r g e für d a s Leben ist S o r g e für B e z i e h u n g e n , in d e n e n m a n sein Leben entfalten kann, u n d z w a r als Z u s a m m e n l e b e n mit a n d e r e n M e n s c h e n . U n d insofern w i r d d e r christliche G l a u b e z u m e n g a g i e r t e n Feind j e d e s unnatürlichen und u n z e i t i g e n Todes. Z w i s c h e n d e r christlichen V e r k ü n d i g u n g d e s T o d e s d e s G e k r e u z i g t e n und seiner Auferstehung einerseits und d e r menschlichen Fürsorge für einen möglichst natürlichen T o d besteht ein unmittelbarer Z u s a m m e n h a n g . U n d dieser Z u s a m m e n h a n g w i r d a m besten so w a h r g e n o m m e n , dass m a n schon i n n e r h a l b des Lebens d e m D r a n g in d i e t ö d l i c h e Beziehungslosigkeit mit G e d a n k e n , W o r t e n u n d W e r k e n entgegentritt. S u m m a : D a s christlich g e d e u t e t e W e s e n d e s T o d e s ist B e z i e h u n g s losigkeit. Im T o d e Jesu Christi hat G o t t e s Liebe dieser selbstverschuldeten B e z i e h u n g s l o s i g k e i t n e u e n B e z i e h u n g s r e i c h t u m e n t g e g e n g e s e t z t . U n d d i e M e n s c h e n ermutigt, ihrerseits n e u e B e z i e h u n g e n , n e u e Verhältnisse z u schaffen: s o l c h e Verhältnisse, in d e n e n ein e n d l i c h e s L e b e n g e r a d e in seiner Endlichkeit seine W ü r d e zur G e l t u n g b r i n g e n kann. M a n kann l e b e n d g e g e n d e n T o d nicht g e n u g tun, w e i l m a n s t e r b e n d g e g e n d e n T o d g a r nichts m a c h e n kann. G e n a u d a r a u f a b e r muss d e r T o d n a c h christlicher A u f f a s s u n g r e d u z i e r t w e r d e n : auf j e n e G r e n z e , d i e kein M e n s c h s e t z e n darf, w e i l kein M e n s c h sie a u f h e b e n kann. T o d soll sein u n d muss w e r d e n , w a s d e r H e r r ü b e r Leben u n d T o d aus ihm g e m a c h t hat: n ä m l i c h d i e B e g r e n z u n g d e s M e n s c h e n allein d u r c h G o t t , d e r selber d i e Einheit v o n Leben u n d T o d z u g u n s t e n d e s Lebens ist. M a r t i n Luther hat d e s h a l b d e n b e k a n n t e n H y m n u s d e r St. G a l l e n e r M ö n c h e „ M i t t e n w i r im Leben sind mit d e m T o d u m f a n g e n : m e d i a in vita in m o r t e sumus" u m z u k e h r e n g e f o r d e r t : „ m e d i a vita in m o r t e kers u m b m e d i a m o r t e in vita sumus sie dicit sie c r e d i t Christianus: mitten im T o d e sind w i r im Leben - so spricht, so g l a u b t d e r Christ" ( W A 11,141; vgl. W A 1 2 , 6 0 9 ; W A 3 5 , 1 3 0 ; W A 4 0 / 3 , 4 9 6 ) . B e g r ü n d e t ist d i e G e w i s s h e i t , d a s s d e r M e n s c h mitten im T o d e v o m L e b e n u m f a n g e n ist, v o n d e r b i b l i s c h e n V e r h e i ß u n g , d a s s G o t t d e r j e n i g e ist, d e r d a s N i c h t s e i e n d e ins Sein ruft u n d e b e n d e s h a l b a u c h d e n Toten mit seinem s c h ö p f e r i s c h e n W o r t b e g e g n e t , a l s o a u c h im T o d e nicht a u f h ö r e n w i r d , mit seinem m e n s c h l i c h e n G e s c h ö p f z u r e d e n . U n d mit w e m G o t t redet, s a g t w i e d e r u m M a r t i n Luther, d e r ist, d e r w i r d e b e n d a d u r c h , d a s s G o t t mit ihm redet, g e w i s s unsterblich. 5 Der atheistische Pastorensohn G o t t f r i e d Benn hat es g a n z weltlich, g a n z p r o f a n 5 M . Luther, W A 4 3 , 4 8 1 , 3 2 : „ M i t w e m G o t t spricht - sei es im Z o r n , sei es in G n a d e n — d e r ist g e w i s s unsterblich".
192
Eberhard Jüngel
ausgedrückt, aber — freiwillig oder unfreiwillig - dabei d i e s e christliche G r u n d e i n s i c h t w i e d e r h o l t . G o t t f r i e d B e n n dichtet:
„Kommt, reden wir zusammen, wer redet ist nicht tot.
Kommt, öffnet doch die Lippen, wer redet, ist nicht tot." 6
6 G. Benn, „Kommt - " in: ders., Gesammelle Werke in vier Bänden, hg. von D, Wellershoff, Bd. 3, Frankfurt 3 196ό, S. 3 2 0 .
GABRIELA
KILIÄNOVÄ
DAS B E S T A T T U N G S R I T U A L ALS A U S D R U C K DER T R A N S F O R M A T I O N MODERNEN POST-SOZIALISTISCHEN Fallstudie
DER GESELLSCHAFT
Slowakei
Die post-sozialistische Transformation stellt einen partikularen historischen Prozess dar, der die gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen eines Landes systematisch verändert. O b w o h l es viele Ähnlichkeiten zwischen den heutigen Transformationsprozessen, zum Beispiel in den Ländern Mittelosteuropas wie der Slowakei, Tschechien, Polen oder Ungarn gibt, machen vergleichende sozialwissenschaftliche Forschungen auch auf unterschiedliche Entwicklungen aufmerksam, die mit den jeweiligen, historisch gewachsenen Formen von Ökonomie, Gesellschaft und Kultur vor und während der Z e i t des S o z i a l i s m u s zusammenhängen
(Martin, Adamski, Machonin
1999,
S. 1 0 - 2 6 ; Buchowski 2 0 0 1 , S. 1 0 - 1 3 ) . Die vorliegende Fallstudie 1 analysiert die makrosozialen post-sozialistischen Transformationsprozesse in der Slowakei und ihre Konsequenzen für das Alltagsleben der Menschen in der mikrosozialen W e l t . Anders gesagt, mein Z i e l ist das Studium der post-sozialistischen W a n d l u n g s p r o z e s s e auf der lokalen Ebene. Dabei gehe ich von folgender Annahme aus: Die Transformation ist „a complex combination of the active behaviour of new actors and the dynamics of institutional building. [...] The dynamics of transformation involve a complex of interest articulation between micro-strategies and their macro-institutional adjustment. [...] T h i s means [...] that transformation is not only institutional change (imposed from above)." (Martin, Adamski, Machonin 1 9 9 9 , S. 11) Forschung in einem lokalen Kontext ermöglicht es, am Leben der Menschen vor Ort teilzunehmen und dadurch einen genaueren Einblick in die Auswirkungen makrosozialer Prozesse auf ihr Handeln z u erhalten. Dabei zeigt eine detailliertere Betrachtung der „new actors" der Transformation auf der lokalen Ebene häufig die Kontinuität oder wechselseitige Verflechtung der heutigen Protagonisten mit den lokalen Akteuren der sozialistischen Vergangenheit. Auf die Fähigkeit be-
1
Der Beitrag ist die g e k ü r z t e und überarbeitete F a s s u n g einer ursprünglich in Eng-
lisch veröffentlichten Studie (Kiliänovä 2 0 0 3 ) .
194
G a b r i e l a ΚίΙίάηονά
stimmter, vor a l l e m d u r c h V e r w a n d t s c h a f t v e r b u n d e n e r s o z i a l e r G r u p p e n , ü b e r l a n g e Z e i t r ä u m e g e s e l l s c h a f t l i c h e s Prestige u n d d i e Position als l o k a l e Eliten z u b e w a h r e n , hat bereits d e r t s c h e c h i s c h e E t h n o l o g e Josef K a n d e r t auf d e r Basis seiner F o r s c h u n g e n z u m s l o w a k i s c h e n D o r f (1990) hingewiesen. M e i n e These ist, d a s s d i e h e u t i g e T r a n s f o r m a t i o n z w a r e i n e Vielz a h l kultureller V e r ä n d e r u n g e n mit sich bringt, d a s s d i e s e a b e r d u r c h d i e v o r h e r i g e E n t w i c k l u n g u n d d i e s p e z i f i s c h e n B e d i n g u n g e n d e s jew e i l i g e n l o k a l e n Kontexts m o d i f i z i e r t sind. D a s v e r s u c h e ich a m Beispiel einer bestimmten kulturellen Erscheinung, d e s Bestattungsrituals, z u z e i g e n . D a s Bestattungsritual stellt ein normatives, d.h. a n Tradition u n d W e r t e g e b u n d e n e s H a n d e l n u n d s y m b o l i s c h e s V e r h a l t e n dar, d a s m e h r e r e g e s e l l s c h a f t l i c h e u n d k o m m u n i k a t i v e Funktionen erfüllt: „Beliefs a n d rituals a r o u n d kinship link the living to o n e a n o t h e r a n d to future g e n e r a t i o n s t h r o u g h ties to the d e a d . " ( V e r d e r y 1 9 9 6 , S. 2 3 3 ) W ä h r e n d in d e r ersten H ä l f t e d e s 2 0 . J a h r h u n d e r t s d i e B e e r d i g u n g , e b e n s o w i e d i e G e b u r t eines K i n d e s o d e r d i e H o c h z e i t , e i n e A n g e l e g e n h e i t d e r Familie u n d V e r w a n d t s c h a f t u n d hinsichtlich d e r Institutionen in erster Linie d e r Kirche w a r , w u r d e n in d e r Z e i t d e s S o z i a l i s m u s (in d e r S l o w a k e i a l s o in d e n J a h r e n 1 9 4 8 - 1 9 8 9 ) d i e Familienrituale z u e i n e r S a c h e d e s Staates. Dieser versuchte, in d i e Privatsphäre d e r M e n s c h e n e i n z u d r i n g e n , sie z u b e h e r r s c h e n u n d z u g l e i c h d e m Einfluss d e r Kirche z u e n t z i e h e n . N a c h d e m Ende d e s S o z i a l i s m u s 1 9 8 9 konnte d i e Kirche w i e d e r e r s t a r k e n , u n d d i e Familienrituale in d e r Slow a k e i durchliefen abermals Veränderungen. D i e s e V e r ä n d e r u n g e n d e s Bestattungsrituals n a c h 1 9 8 9 v e r f o l g e ich a u c h im Z u s a m m e n h a n g mit a l l g e m e i n e n M o d e r n i s i e r u n g s p r o z e s s e n . Unter M o d e r n i s i e r u n g verstehe ich s p e z i f i s c h e l a n g f r i s t i g e Entwicklung e n , d i e g r u n d s ä t z l i c h e q u a l i t a t i v e V e r ä n d e r u n g e n im A l l t a g s l e b e n , in d e n H a l t u n g e n u n d W e r t e n d e r M e n s c h e n h e r v o r r u f e n . 2 D a s sind z u m e i n e n t e c h n o l o g i s c h e , w i r t s c h a f t l i c h e , politische u n d o r g a n i s a t o r i s c h e V e r ä n d e r u n g e n , d i e z u m Beispiel mit Industrialisierung u n d U r b a n i s i e rung e i n h e r g e h e n . Z u m a n d e r e n d i e Ü b e r g ä n g e v o n d e r t r a d i t i o n e l l e n zur m o d e r n e n Kultur, d i e g e k e n n z e i c h n e t ist d u r c h Rationalisierung, Differenzierung, Individualisierung, Säkularisierung, M i g r a t i o n , Lockerung d e r f a m i l i ä r e n u n d v e r w a n d t s c h a f t l i c h e n B a n d e u.a. Im E i n k l a n g mit
2 Im Kontext d e r S l o w a k e i g e h t es um r u n d z w e i J a h r h u n d e r t e , w o b e i d i e s o g e n a n n te erste W e l l e der M o d e r n i s i e r u n g ( A n f a n g d e s 19. bis A n f a n g d e s 2 0 . Jahrhunderts) u n d d i e z w e i t e W e l l e d e r M o d e r n i s i e r u n g ( e t w a seit d e n 1 9 5 0 e r Jahren) unter d e n B e d i n g u n g e n des kommunistischen Regimes unterschieden w e r d e n 2 0 0 0 : 1 8 5 - 2 3 4 , Liptak 2 0 0 0 : 2 8 4 - 2 8 6 ) .
(Mannovä-Holec
D a s Bestattungsrituai
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a n d e r e n Forschern verstehe ich M o d e r n i s i e r u n g nicht als linear u n d e v o l u t i o n ä r , s o n d e r n als e i n e n Prozess, d e r a u c h w i e d e r k e h r e n d e (rekurrente) u n d e r g ä n z e n d e ( k o m p l e m e n t ä r e ) E n t w i c k l u n g e n b e i n h a l t e n kann. M o d e r n i s i e r u n g s p r o z e s s e , d i e t r a d i t i o n e l l e in m o d e r n e G e s e l l s c h a f t e n transformieren ( M a r t i n 1 9 9 9 , S. 2 7 - 3 3 ) , sind z w a r g l o b a l e E r s c h e i n u n g e n g e w o r d e n , d a s heißt a b e r nicht, d a s s sie a u c h a u t o m a tisch zur H o m o g e n i s i e r u n g v o n G e s e l l s c h a f t e n führen. 3 Dieser B e i t r a g stellt e i n e e t h n o g r a p h i s c h e B e s c h r e i b u n g d e r Verä n d e r u n g e n d e r Bestattungsrituale in einer G e m e i n d e dar. Es ist m e i n e A b s i c h t z u z e i g e n , d a s s d i e u n t e r s c h i e d l i c h e n Formen, d i e seit 1 9 8 9 im Z u g e d e r g e s e l l s c h a f t l i c h e n T r a n s f o r m a t i o n a u f t a u c h e n , z u g l e i c h in v i e l e m a n d i e l a n g f r i s t i g e n Prozesse kulturellen W a n d e l s auf d e r mikround makrosozialen Ebene anknüpfen. A u ß e r d e m M a t e r i a l aus e i g e n e n F o r s c h u n g e n 4 stütze ich mich auf e m p i r i s c h e Erkenntnisse a n d e r e r S o z i a l w i s s e n s c h a f t l e r zur S l o w a k e i , d i e es e r m ö g l i c h e n , d i e g e g e n w ä r t i g e n V e r ä n d e r u n g e n mit d e n v o r a n g e g a n g e n e n Formen u n d Funktionen d e r Bestattungsrituale z u kontrastieren. D a Bestattungsritualen in d e r e t h n o l o g i s c h e n Forschung ein z w a r relativ systematisches, a b e r d o c h w e s e n t l i c h g e r i n g e r e s Interesse als a n d e r e n Ritualen d e s Lebenszyklus (ζ. B. d e r H o c h z e i t ) zuteil w u r d e , umfasst d a s e t h n o g r a p h i s c h e M a t e r i a l l e d i g l i c h d e n Z e i t r a u m v o n d e r W e n d e d e s 19. u n d 2 0 . J a h r h u n d e r t s bis zur G e g e n w a r t . 5 D i e meisten A r b e i t e n b e f a s s e n sich vor a l l e m mit d e n t r a d i t i o n e l l e n Bestattungsritualen im l ä n d l i c h e n Raum d e r S l o w a k e i . D i e Formen d e r Bestattung in d e r z w e i t e n H ä l f t e d e s 2 0 . Jahrhunderts, vor a l l e m w ä h r e n d d e s kommunistischen Regimes, f a n d e n w e n i g e r A u f m e r k s a m k e i t b e i E t h n o l o g e n , w a s a n d e r politischen Brisanz d e s F o r s c h u n g s t h e m a s „ T o d " l a g . Durch d i e V e r k n ü p f u n g d e s P h ä n o m e n s d e s T o d e s mit d e r christlichen W e l t a n s c h a u u n g vieler S l o w a k e n u n d d e r V e r b i n d u n g v o n Bestattungs- u n d kirchlichen Ritualen w a r e n e i n s c h l ä g i g e F o r s c h u n g e n im S o z i a l i s m u s politisch u n e r w ü n s c h t . „ T o d " u n d „Eros", z w e i z u B e g i n n d e s 2 0 . Jahrhunderts in M i t t e l e u r o p a a m b i v a l e n t diskutierte T h e m e n d e r M o d e r n e (Bublitz 1 9 9 3 , S. 6 4 f f . ) , w u r d e n in d e n sozialistischen L ä n d e r n aus 3 „The i d e a of α posteriori diversity a l l o w s for the possibility of m o r e r a d i c a l rupture u n d e r c o n d i t i o n s of modernity, but d o e s not assume that h o m o g e n i s a t i o n f o l l o w s . Rather it seeks out n e w forms of d i f f e r e n c e , s o m e r e g i o n a l , but i n c r e a s i n g l y b a s e d o n s o c i a l distinctions w h i c h m a y not b e easily identified w i t h s p a c e . " ( M i l l e r 1 9 9 5 : 3 - 4 ) 4 Kiliänovä 1993, 1 9 9 4 - 1 9 9 5 , 1998, 1999. 5 Z u m Beispiel C h o r v ä t 1 8 9 4 - 1 8 9 5 , ß e d n ä r i k 1 9 4 3 , 1 9 7 2 , M j a r t a n 1 9 3 4 - 1 9 3 5 , H o r v ä t h o v ä 1 9 6 8 , 1 9 7 5 , 1 9 9 3 , C h o r v ä t h o v a 1981, 1 9 9 0 , 1 9 9 4 , Feglovä & Lescäk 1 9 9 5 , K o v a c & M a n n 2 0 0 3 , Botik (ed.) 2 0 0 1 . Eine g e n a u e Übersicht ü b e r d i e Forschung z u Bestattungsritualen in d e r S l o w a k e i findet sich b e i j a g e r o v a 2 0 0 3 , 1 2 - 2 5 .
196
G a b r i e l a Kiliänovä
der öffentlichen D i s k u s s i o n nahezu verbannt. Eine um so wertvollere Q u e l l e stellen daher die publizierten Forschungsergebnisse über Bestattungsrituale aus den 1 9 7 0 e r und 8 0 e r Jahren (Chorvathovä
1981,
1 9 9 0 , 1 9 9 4 , Lescäk und Beriuskovä 1 9 8 7 ) s o w i e aus der ersten Dekade nach 1 9 8 9 (Jägerovä 2 0 0 3 , Koväc und M a n n 2 0 0 3 ) dar. Aber noch heute stehen die mit dem T o d verbundenen Rituale, o b w o h l sie z u den ethnologischen Grundthemen gehören, nicht im Mittelpunkt der Forschung slowakischer W i s s e n s c h a f t l e r , ähnlich w i e in anderen postsozialistischen Ländern (Creed 2 0 0 2 ) .
Forschungslokalität
und
Forschungsfragen
M e i n e ethnographischen Feldforschungen habe ich im D o r f Z ä v o d , unweit der Hauptstadt Bratislava durchgeführt. 6 D a s D o r f befindet sich nahe der slowakisch-österreichischen G r e n z e , in der Region Z ä h o r i e , die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den ersten W e l l e n der M o d e r n i s i e r u n g erfasst wurde (Hrabovec 1 9 7 8 / 1 9 7 9 ,
Kiliänovä
1 9 9 5 , S . 108—111). A l l e r d i n g s bewahrte sich die Z ä h o r i e (der N a m e bedeutet „hinter den Bergen" - die Region ist durch die Kleinen Karpaten vom Donauraum getrennt) dank ihrer territorialen Abgeschiedenheit vom Flachland und den Urbanen Zentren an der Donau das g a n z e 2 0 . Jahrhundert hindurch, und in manchen Fällen bis heute, ihre regionale Kultur und Identität. 7 Z ä v o d gehört nicht z u den großen und zentralen Gemeinden. Es w a r daher anzunehmen, d a s s ich dort auch noch um das Jahr 2 0 0 0
6
Seit 1 9 8 8 führte ich in der Gemeinde wiederholt ein- oder zweiwöchige Feldfor-
schungen z u verschiedenen Themen durch (ζ. B. Arbeitsmigration nach Österreich in Vergangenheit und Gegenwart, Erforschung der traditionellen Lokalkultur). Auf die Untersuchung der Bestattungsrituale habe ich mich in den Jahren 2 0 0 1 und 2 0 0 3 konzentriert. Bei der Forschung verwendete ich die Methoden des ethnografischen Interviews und der teilnehmenden Beobachtung. Da die Hinterbliebenen meist die Beerdigung fotografieren oder mit der Videokamera aufnehmen, erstellte ich zusätzlich eine umfassende Fotodokumentation von Bestattungen z u r zweiten Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts. 7
Die Einwohner der Zähorie, genannt Zähoräci,
gebrauchen einen Dialekt, der
sich deutlich von den übrigen Dialekten der W e s t s l o w a k e i als auch von der Schriftsprache unterscheidet. Mehrere Gemeinden in der Region pflegten schon in der ersten Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts bewusst die eigenen Kulturtraditionen (Musik, T a n z , Gesang, Tracht, bildende Kunst u.a.) In den Gemeinden finden sich auch heute noch traditionelle Lehmhäuser, die seit den 1 9 8 0 e r Jahren vor allem von Einwohnern Bratislavas als Ferienhütten und Sommerwohnungen gekauft werden. Das saisonale Zusammenleben der Lokalbevölkerung und der Besucher aus der Stadt verstärkte das Regionalbewusstsein der Dörfler noch (wir sind Z ä f i o r a n e — sie
Brotislaväci].
197
Das Bestattungsritual
die Folgen der zweiten W e l l e der Modernisierung (Industrialisierung, Urbanisierung, Kollektivierung der Landwirtschaft, Säkularisierung etc.) antreffen würde. Diese zweite, in den 1 9 5 0 e r Jahren einsetzende Modernisierung führte den W a n d e l des ursprünglich landwirtschaftlichen Dorfes in eine ländliche Gemeinde unweit eines starken Urbanen Zentrums (Bratislava) herbei, in der sich die Beschäftigungsstruktur der Bevölkerung wesentlich veränderte. 8 Gleichzeitig erwartete ich, dass dank der peripheren Lage, dem W i s s e n um die regionale Eigenheit und aufgrund anderer Faktoren in Z ä v o d Phänomene der traditionellen (lokalen) Kultur und ihre Veränderung unter dem Einfluss der gegenwärtigen Transformationsprozesse untersucht werden können. Schon die ersten Forschungen seit 1 9 8 8 , noch vor den politischen Veränderungen, brachten sehr interessante Ergebnisse. Gerade für die Zeit nach 1 9 8 9 erwies sich die Gemeinde aber als besonders geeignet für die Untersuchung von Veränderungen, denn Z ä v o d ist ein Beispiel für eine lokale Gemeinschaft, die auch in der Zeit des S o z i a l i s m u s unter dem starken Einfluss der römisch-katholischen Kirche stand. Nach 1 9 8 9 wurde der Einfluss der Kirche noch
8
Im Jahr 2 0 0 3 lebten in der Gemeinde 2 6 0 0 Einwohner. In der zweiten Hälfte des
2 0 . Jahrhunderts wuchs die Einwohnerzahl, um das Jahr 2 0 0 0 sank oder stagnierte sie leicht (Vlastivedny slovnik obci na Slovensku 1 9 7 8 , S. 3 3 9 - 4 0 , Vrablec 2 0 0 0 , S. 6 5 - 6 6 , Kronika obce Zävod, S. 2 9 7 - 2 0 8 ) . In den 1 9 5 0 e r Jahren veränderte sich die Beschäftigungsstruktur: Es trat eine massive Verlagerung der erwerbstätigen Bevölkerung aus der Landwirtschaft in die Industrie ein. 1 9 5 7 (beim zweiten Versuch und unter politischem Druck) wurde in der Gemeinde eine „Einheitliche landwirtschaftliche Genossenschaft" gebildet (Jednotne rolnicke druzstvo (JRD)), in der etwa Ά
der erwerbstätigen Bevöl-
kerung arbeitete, der große Rest suchte sich eine Beschäftigung in der Industrie und im Dienstleistungssektor der umliegenden Städte (Kreisstadt Malacky, Hauptstadt Bratislava) oder auch in entfernteren Regionen (Tschechien), nur minimal direkt in der Gemeinde. Vor 1 9 8 9 betrug der Beschäftigungsstand fast 1 0 0 % . Im Jahr 1 9 8 9 arbeiteten ζ. B. in der Gemeinde in der JRD 1 3 , 3 % , im lokalen Dienstleistungssektor 3 , 3 % , in der lokalen Industrie 2 % , im Schul- und Gesundheitswesen 3 % , der lokalen Selbstverwaltung 0 , 7 % . In der Gemeinde waren also nur 2 2 , 3 % der erwerbstätigen Bevölkerung beschäftigt. 7 7 1 7 % arbeiteten außerhalb ihres W o h n o r t e s (Kronika obce Zävod, S. 143). Nach dem Bankrott der JRD arbeitet in der Landwirtschaft die kleinste Bevölkerungsgruppe ( 2 , 5 % ) , die meisten Einwohner ( 6 4 , 3 % ) sind in Industriebetrieben und im Dienstleistungsgewerbe in der Umgebung und in Bratislava beschäftigt. Die Z a h l der Beschäftigten in der Gemeinde stieg leicht an (Dienstleistungen und Firmen 1 3 , 2 % , Schul-, Gesundheitswesen und örtliche Selbstverwaltung 4 , 6 % ) . 2 0 0 3 betrug die Z a h l der Arbeitslosen in der Gemeinde 6%,
im Vergleich zum gesamtslowakischen Durchschnitt von ca. 1 8 % (Vrablec 2 0 0 0 ,
S. 6 5 - 6 6 , Interview mit dem Gemeindebürgermeister 2 0 0 3 ) . Die Bevölkerung ist beinahe ausschließlich römisch-katholisch, und aus der Gemeinde stammen mehrere bedeutende Persönlichkeiten der römisch-katholischen Kirche. Die katholische Kirche spielte auch während des Sozialismus eine wesentliche Rolle in Zävod (Vrablec 2 0 0 0 , S. 3 1 - 3 5 ) .
198
G a b r i e l a ΚίΙίάηονά
stärker, w o m i t d i e G e m e i n d e d e m l a n d e s w e i t e n T r e n d f o l g t . 9 D a d a s Ziel d e r Studie d i e A n a l y s e d e r V e r ä n d e r u n g e n d e s Bestattungsrituals ist, ist d i e Rolle d e r Kirche, ihres institutionellen, g e s e l l s c h a f t l i c h e n u n d p o l i t i s c h e n W i r k e n s v o r a l l e m a u f d e r l o k a l e n E b e n e e i n w i c h t i g e r Bestandteil d e r Forschung.
Das Bestattungsritual
in der zweiten in der
Hälfte
des 20.
Jahrhunderts
Slowakei
B e s t a t t u n g s r i t u a l e g e h ö r e n , ä h n l i c h w i e a n d e r e mit d e m T o d v e r b u n d e n e Erscheinungen (Vorstellung v o m Leben nach d e m Tode,
Mög-
lichkeit d e r V e r b i n d u n g mit d e n A h n e n , V o r s t e l l u n g e n v o n d e r S e e l e u.a.), z u d e n a r c h a i s c h e n K u l t u r e l e m e n t e n u n d s i n d
widerständiger
g e g e n ü b e r V e r ä n d e r u n g e n als a n d e r e K u l t u r p h ä n o m e n e . D i e Erheb u n g e n v o n M . Lescäk und Z. Benuskovä, d e r e n F r a g e b ö g e n
Mitte
d e r 1 9 8 0 e r J a h r e in 2 5 0 s l o w a k i s c h e G e m e i n d e n v e r s c h i c k t w u r d e n , r i c h t e t e n sich a u f d e n Einfluss d e s S t a a t e s b e i d e r D u r c h s e t z u n g v o n s ä k u l a r i s i e r t e n F o r m e n l e b e n s z y k l i s c h e r Rituale w i e G e b u r t , Eheschließ u n g und Tod.10 Die Forschungsergebnisse z e i g t e n , dass trotz d e s politischen Drucks w ä h r e n d des kommunistischen Regimes auf d e m L a n d w e n i g Interesse für b ü r g e r l i c h e , s ä k u l a r i s i e r t e B e e r d i g u n g e n b e s t a n d . " D i e „ A u s s c h ü s s e für b ü r g e r l i c h e A n g e l e g e n h e i t e n " b e r e i t e t e n
9 Der Anteil der g l ä u b i g e n Personen a n der G e s a m t b e v ö l k e r u n g der S l o w a k e i stieg v o n 7 2 , 8 % im Jahr 1991 auf 8 4 , 1 % im Jahr 2 0 0 1 ; b e s o n d e r s stark nahm d e r Anteil der römisch-katholischen G l ä u b i g e n zu, v o n 6 0 , 4 % auf 6 8 , 9 % (vgl. Vysledky scitania obyvatel'stva, d o m o v a bytov na Slovensku ν roku 2 0 0 1 [Ergebnisse der Bevölkerungs-, Haus- und W o h n u n g s z ä h l u n g in der S l o w a k e i im Jahr 2 0 0 1 ] , h t t p / / : w w w . s t a t i s t i c s . s k / webdata/slo/scitanie/tab/zu.htm.). 10 Im M i t t e l p u n k t d e r Forschung stand d i e Tätigkeit d e r sog. „Ausschüsse für bürg e r l i c h e A n g e l e g e n h e i t e n " ( Z b o r y pre o b c i a n s k e zälezitosti). Sie e n t s t a n d e n 1 9 5 3 , ursprünglich unter der B e z e i c h n u n g „Aktive für b ü r g e r l i c h e A n g e l e g e n h e i t e n " (Aktivy pre o b c i a n s k e zälezitosti), d e r e n A u f g a b e es w a r , mit d e r örtlichen V e r w a l t u n g b ü r g e r l i c h e Z e r e m o n i e n / R i t u a l e ( b ü r g e r l i c h e Trauung, B e e r d i g u n g u.a.) z u o r g a n i s i e r e n u n d so d e n Einfluss der Kirche zu s c h w ä c h e n . Seit 1 9 5 7 unterstanden d i e Ausschüsse d e m Ministerium für S c h u l w e s e n d e r CSR. A n f a n g d e r 6 0 e r Jahre befasste sich d i e R e g i e r u n g d e r CSSR mit ihrer Tätigkeit u n d 1 9 7 2 w u r d e n in d e r S l o w a k e i neue, ausführlichere und e i n g e h e n d e r e Richtlinien h e r a u s g e g e b e n (Lescäk u n d Benuskovä 1987, S. 1 9 4 - 1 9 5 ) . 11 G r ö ß e r e n Erfolg hatten in der S l o w a k e i , ähnlich w i e in a n d e r e n sozialistischen Ländern, d i e zivilen, säkularisierten T r a u u n g e n u n d d i e sog. „ B e w i l l k o m m n u n g eines Kind e s ins L e b e n " (Lescäk u n d Benuskovä 1987, S. 2 0 1 - 2 0 6 ) . Z u säkularisierten Ritualen d e s Lebenszyklus w ä h r e n d d e s Sozialismus siehe z.B. Binns 1 9 7 9 , 1 9 8 0 , Roth 1 9 9 0 , C r e e d 2 0 0 2 , Kaneff 2 0 0 2 .
199
D a s Bestaltungsritual
solche Beerdigungen nur in 1 6 % aller untersuchten Gemeinden vor. Auf dem slowakischen Land entwickelte sich in den 1 9 7 0 e r und 8 0 e r Jahren vielmehr eine neue Form der Beerdigung, die in die kirchliche Zeremonie auch die bürgerliche Abschiednahme mit einbezog, die von einem Aktivisten des Ausschusses vorgenommen wurde. Laut Erhebung wurde eine solche kirchlich-bürgerliche Beerdigung in 7 2 % der untersuchten Gemeinden durchgeführt (Lescäk und Benuskovä
1987,
S. 2 0 7 - 2 1 1 , 2 2 0 ) . Das heißt, dass in 3 8 % der Gemeinden (mehr als ein Drittel) weiterhin, auch unter dem kommunistischen Regime, nur kirchliche Beerdigungen stattfanden. Die Abneigung der ländlichen Bevölkerung gegenüber Veränderungen im Bereich der Familienrituale war offensichtlich groß. Auf der anderen Seite bleibt aber festzuhalten, dass es im Beerdigungsritual z u Veränderungen kommen kann und z w a r verhältnismäßig schnell, bereits innerhalb einer Generation. Dabei müssen die vorhergehenden Kulturerscheinungen nicht einmal im kollektiven Gedächtnis einer lokalen, konfessionellen, ethnischen oder anderen Gruppe erhalten bleiben. In der zweiten Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts gingen zum Beispiel Phänomene wie das rituelle Beweinen des Toten, oder Äußerungen eines großen Wehklagens relativ rasch zurück (Chorväthovä 1 9 9 4 ) . Erscheinungen der Moderne, wie Individualisierung, Liberalisierung und Pluralisierung ideologischer Haltungen, die Abschwächung der
Bedeutung von familiären,
lokalen und anderen
traditionellen
Gruppenbeziehungen wirkten sich auch auf die Bestattungsrituale aus. Ebenso kann das Bestattungsritual in einer Gesellschaft aber auch zur Demonstration traditioneller kollektiver W e r t e und Handlungen genutzt werden. In diesem Fall hat das Ritual die Aufgabe, die Kontinuität der W e r t e z u bestätigen und die Homogenität einer sozialen
Gruppe
oder der ganzen lokalen Gemeinschaft hervorzuheben. Das Bestattungsritual ist darüberhinaus auch eine schlicht pragmatische Handlung, die eine ökonomische und organisatorische Seite hat, und in modernen Gesellschaften an Institutionen wie die Kirche und den Staat gebunden ist. Die Gemeinschaft wacht aufmerksam über das
Bestattungsritual
und registriert Veränderungen gegenüber der geltenden N o r m . In bestimmten Situationen können solche Veränderungen auch symbolische Bedeutungen annehmen: „In all societies [....] the issue of death throws into relief the most important cultural values by which people live their lives and evaluate their experiences." (Huntington und Metcalf 1 9 7 9 , S. 2) Daher werde ich das Bestattungsritual sowohl als pragmatische Handlung als auch als symbolischen Akt betrachten.
200
G a b r i e l a Kiliänovä
Das Bestattungsritual
in der Gemeinde
des kommunistischen
Zävod
zur
Zeit
Regimes
B i s z u m Beginn der 1 9 8 0 e r Jahre organisierte man das B e g r ä b n i s z u H a u s e , nur unter Mithilfe der Hinterbliebenen und der O r t s b e w o h n e r . In der Regel bereiteten ältere Frauen aus der Familie den Leichnam für die Beisetzung vor. Die M ä n n e r besorgten den Sarg, besprachen die Beerdigung mit dem Pfarrer und dem Aktivisten des Ausschusses. 1 2 An z w e i bis drei T a g e n vor der Beerdigung fanden sich die Familie, Verwandte und Bekannte zum abendlichen Gebet bei dem Toten ein. N a c h jedem Gebet reichten die Hinterbliebenen allen A n w e s e n d e n Brote, Kuchen, alkoholfreie und alkoholische Getränke. Am T a g der Beerdigung kam der örtliche Lehrer, der Aktivist des „Ausschusses für bürgerliche Angelegenheiten", ins H a u s . K u r z vor dem Schließen des S a r g s nahmen die nächsten Verwandten Abschied vom Verstorbenen und der Lehrer trug das Abschiedsgedicht vor. M ä n n e r aus der Verwandtschaft trugen den S a r g auf die Straße, w o der Pfarrer den ersten T e i l der kirchlichen Rituale v o l l z o g . Daraufhin wurde der S a r g z u m Friedhof getragen. Der T r a u e r z u g hatte meist eine festgelegte Reihenfolge: Am Anfang ging ein Ministrant mit dem K r e u z , nach ihm kam der Geistliche, danach die M i t g l i e d e r des katholischen Rosenkranzvereins (sofern es sich um ein Vereinsmitglied gehandelt hatte). Dem S a r g folgten die nächste Familie, dann die übrigen Verwandten, Freunde, Bekannte und Einwohner der Gemeinde. In Z ä v o d bin ich auf keinen Fall gestoßen, in dem anstelle des K r e u z e s am Beginn des T r a u e r z u g e s die Staatsflagge getragen wurde, w i e das in einigen Gemeinden der S l o w a k e i beim B e g r ä b n i s kommunistischer Funktionäre der Fall war (Jägerovä 2 0 0 3 , S. 9 5 ) . Starb ein lediger junger M a n n , ging vor dem S a r g die „Braut", d.h. seine Verlobte oder ein M ä d c h e n aus der Verwandtschaft, in einem w e i ß e n Brautkleid. Mitunter waren es auch z w e i Bräute, eine „ w e i ß e "
12 Für den Sarg kleidete man ältere Frauen meist in die ortsübliche bunte Tracht, M a n n e r in einen dunklen Anzug. Den Körper bedeckte man bis in Brusthöhe mit einem weißen, gestickten Tuch, darauf wurden Blumen, grüne Z w e i g e und heilige Bilder gelegt. Unter dem Kopf des Toten befanden sich getrocknete Kräuter, die Frauen von den Prozessionen während des Fronleichnamfestes mitgenommen hatten. In die gefalteten Hände des Verstorbenen gab man ein Geldstück, eine K e r z e und den Rosenkranz. In den S a r g legte man auch das Gebetbuch, und mitunter persönliche Gegenstände wie die Brille, Männern die Pfeife u.a. Religiöse Gegenstände wie Heiligenbilder, Gebetbücher u.ä. wurden bei der Vorbereitung des Leichnams für den Sarg auch z u r Z e i t des kommunistischen Regimes verwendet.
D a s Bestattungsritual
201
und eine „schwarze", d. h. eine Frau in schwarzer Trauerkleidung. Die weiße Braut schritt mit dem Brautführer, die schwarze Braut ging allein und trug eine abgebrochene Kerze. Ihr folgten Freunde und Freundinnen des verstorbenen jungen Mannes, und seine Altersgenossen trugen den Sarg. Im Falle des Todes eines ledigen Mädchens gingen ebenfalls Freunde und Freundinnen vor dem Sarg, häufig in der lokalen Festtracht gekleidet. Beim Tod eines Jungen und eines Mädchens trugen die jungen Leute z w e i Rosmarinkronen, die mit weißen und blauen Bändern für den Jungen und mit weißen und rosa Bändern für das Mädchen geschmückt waren. Außerdem wurden für den verstorbenen jungen Mann im Trauerzug ein Hochzeitsschwert, der „Pallasch", für das verstorbene Mädchen ein Rosmarinkranz getragen. Vom Sarg hingen weiße Bänder herab, im Trauerzug marschierte auch die Musikkapelle. Das Grab auf dem Friedhof war mit weißem Papier ausgelegt, mit Blumen und grünen Z w e i g e n geschmückt. Der Trauerzug imitierte in einigen Teilen eine Hochzeit, so wie das vom ganzen Gebiet der Slowakei (Chorväthovä 1 9 9 0 , S. 74f., 1 9 9 4 , S. 162f.) und auch aus anderen Ländern Osteuropas bekannt ist (Kligman 1 9 8 8 ) . Starb ein Kleinkind, so wurde es häufig von jungen Mädchen oder jungen Burschen aus der Verwandtschaft z u Grabe getragen. N a c h der Ankunft am Friedhof nahm der Geistliche weitere Rituale beim zentralen Kreuz vor, wonach der Sarg zum Grab getragen wurde. Dort folgte der letzte Teil der kirchlichen Rituale und der Gesang des örtlichen Chors, und schließlich trug der Aktivist des Ausschusses die bürgerliche Abschiedsrede vor, in der er das Lebensschicksal des Verstorbenen, seinen Charakter und die Arbeitserfolge zusammenfasste. Die nächsten Verwandten -
Söhne, Enkel oder Patensöhne -
ließen
dann den Sarg in das Grab hinab. Die Familie und nach ihr alle Anwesenden warfen eine Handvoll Erde auf den Sarg. Jung Verstorbenen legten Freunde eine Rosmarinkrone bzw. einen Rosmarinkranz ins Grab. Zwischen den 1 9 7 0 e r und 8 0 e r Jahren begann man, Verstorbene gleich nach ihrem Tod in das H a u s der Trauer 13 im Nachbarort z u bringen. Dennoch kamen die Menschen weiterhin jeden Tag, später nur noch an einem Abend z u Abendgebeten im H a u s des Verstorbenen zusammen. Der Bestattungsdienst brachte den Sarg vor der Beerdigung wieder in das H a u s des Toten, von wo der Z u g zum Friedhof begann, aber der Sarg wurde bereits mit einem Auto gefahren. Aufgrund dieser Veränderungen konzentrierte der Geistliche seit 1 9 8 3 alle kirch-
13 Z u den Häusern der Trauer zur Z e i t des kommunistischen Regimes, siehe weiter unten.
202
G a b r i e l a ΚίΙίάηονά
lichen Rituale auf dem Friedhof. Vor dem Haus fand nur noch der erste Teil des erweiterten bürgerlichen Abschiednehmens statt, wenn es um das Begräbnis von Funktionären der kommunistischen Partei oder von Soldaten ging. 14 Auf diese W e i s e erleichterte die räumliche Trennung des bürgerlichen Teils vom kirchlichen die Organisation von Beerdigungen durch den Staat.
Veränderungen
des Bestattungsrituals
Gemeinde Zävod
in der
nach 1 9 8 9
In Z ä v o d habe ich 2 0 0 1 das Bestattungsritual meiner Informantin Ζ . K., einer alten Frau, die im Alter von 9 4 Jahren starb, genau aufgezeichnet. Als Rentnerin war sie als Kirchendienerin tätig, ursprünglich war sie Bäuerin. Sie hatte umfassende Kenntnisse der traditionellen Kultur und versuchte diese bewusst ihren Kindern und den jüngeren Frauen in der Nachbarschaft z u vermitteln. 15 Die Hinterbliebenen organisierten die Beerdigung ganz im Sinne dessen, was sie selbst für das lokale traditionelle Ritual hielten. Auch die Dorfgemeinschaft nahm die Beerdigung als traditionell wahr. Die Teilnahme der Einwohner an dem Begräbnis war zahlreich, denn die Verstorbene war in der Gemeinde eine bekannte Zeitzeugin, aktiv in der Kirche und Mitglied des Rosenkranzvereins. Nach dem, w a s aus dieser Gemeinde über Bestattungsrituale bekannt ist, hielt sich die Beerdigung der Kirchendienerin in vielem tatsächlich an die traditionellen Elemente der lokalen Kultur. 16 W e n n wir
14 In der Gemeinde stieß ich bei meinen Forschungen auf drei Beerdigungen, in denen die Rolle des katholischen Priesters aus politischen Gründen in den Hintergrund gedrängt wurde. Es handelte sich um z w e i militärische Beerdigungen ( 1 9 7 6 , 1 9 7 9 ) und die Beerdigung eines kommunistischen Funktionärs (zweite Hälfte der 7 0 e r Jahre). Aber selbst in diesen Fällen führte der Priester auf W u n s c h der Hinterbliebenen das kirchliche Ritual auf dem Friedhof durch. 15 D a s W i s s e n und die Erinnerungen von Z . K . zitiert in verschiedenen
Kapiteln
auch der Herausgeber der M o n o g r a p h i e des Ortes, Peter Vrablec ( 2 0 0 0 , S . 39ff.|. 16
Ersichtlich an folgenden Merkmalen: Einkleidung der Verstorbenen in die Tracht,
Beifügen von Gegenständen in den Sarg, Bedecken des K ö r p e r s mit einem weißen laken, Verzierung des S a r g s und des Lakens mit einer Kombination aus roten N e l k e n und Asparaguszweigen, Transport des K ö r p e r s drei Stunden vor der Beerdigung und Ausstellen des S a r g s im Haus, großer Trauerzug vom H a u s bis zum Friedhof, g r o ß e s Totenmahl mit 1 2 0 Menschen etc. Vor der Beerdigung beteten die Hinterbliebenen und Bekannten an einem Abend im H a u s der Kirchendienerin. Die Betenden füllten vier Räume, w a s eine große Anteilnahme darstellt. N a c h dem Gebet erhielten alle Anwesenden eine reiche Bewirtung (Getränke, hausgemachtes Salzgebäck, Kuchen und Desserts).
Das Bestattungsritual
203
sie a b e r mit d e m A b l a u f d e r Rituale bis z u m Jahr 1 9 8 9 v e r g l e i c h e n , w u r d e n in d e r B e e r d i g u n g d e r K i r c h e n d i e n e r i n e i n i g e Elemente w e g g e l a s s e n u n d a n d e r e , d i e bis d a h i n nicht o d e r nicht in d e m M a ß e vork a m e n , v o n d e n O r g a n i s a t o r e n h i n z u g e f ü g t . Vor a l l e m ließ d i e Familie d a s b ü r g e r l i c h e A b s c h i e d n e h m e n w e g , d a s bis d a h i n d e m ö r t l i c h e n Lehrer o b l a g . 1 7 A u c h d i e K r ä n z e u n d S t r ä u ß e u n t e r s c h i e d e n sich in M e n g e , Vielfalt u n d G e s t a l t u n g d e u t l i c h v o m B l u m e n s c h m u c k b e i Bee r d i g u n g e n vor 1 9 8 9 . D i e „ t r a d i t i o n e l l e " Bestattung d e r K i r c h e n d i e n e r i n w u r d e a u c h m o d i fiziert d u r c h i n d i v i d u e l l e H a n d l u n g e n v o n b e t e i l i g t e n Personen, d i e sich aus d e r p e r s ö n l i c h e n B e z i e h u n g zur V e r s t o r b e n e n e r g a b e n . Eine d e r Enkelinnen, d i e e i n e n e n g e n Kontakt zur V e r s t o r b e n e n hatte, w ü n s c h t e sich b e i s p i e l s w e i s e , e i n e n Strauß direkt in d e n S a r g z u Füßen d e r Toten zu legen. D i e w e i t e r e U n t e r s u c h u n g soll nun d e n Einfluss d e r post-sozialistis c h e n T r a n s f o r m a t i o n auf d i e V e r ä n d e r u n g e n d e r Bestattungsrituale bestimmen. Vier Fragen, auf d i e im F o l g e n d e n e i n g e g a n g e n w i r d , stehen d a b e i im M i t t e l p u n k t : 1. Der politische W a n d e l n a c h 1 9 8 9 b r a c h t e Prozesse d e r D e m o kratisierung, d e n A u f b a u einer b ü r g e r l i c h e n G e s e l l s c h a f t mit sich, u n d d i e B e s c h r ä n k u n g d e r Kirchen seitens d e r S t a a t s m a c h t fiel w e g . K ö n n e n d i e s e E n t w i c k l u n g e n a u c h a n d e n V e r ä n d e r u n g e n in d e n Bestattungsritualen a b g e l e s e n w e r d e n ? 2. N a c h 1 9 8 9 w a n d e l t e sich d i e ö k o n o m i s c h e Situation d e r Bevölkerung in d e r untersuchten G e m e i n d e deutlich: Es e r ö f f n e t e sich d i e M ö g l i c h k e i t als Privatunternehmer tätig z u sein, a b e r a u c h d i e Unters c h i e d e im L e b e n s s t a n d a r d d e r O r t s b e w o h n e r v e r g r ö ß e r t e n sich. D i e letzten 1 0 Jahre w e r d e n v o n e i n e m Teil d e r B e v ö l k e r u n g (vor a l l e m v o n ä l t e r e n M e n s c h e n u n d Personen mit g e r i n g e r e r B i l d u n g ) ü b e r w i e g e n d als e i n e P e r i o d e d e s s i n k e n d e n L e b e n s s t a n d a r d s , d e r g e r i n g e r e n Einkünfte, d e r v e r s c h l e c h t e r t e n ö k o n o m i s c h e n G e s a m t situation w a h r g e n o m m e n . H a t sich dieser w i r t s c h a f t l i c h e W a n d e l auf d i e Bestattungsrituale a u s g e w i r k t ? Auf w e l c h e W e i s e ? 3. Seit 1 9 8 9 ist d i e M o b i l i t ä t d e r B e v ö l k e r u n g höher, d e r Z u g a n g zu I n f o r m a t i o n e n g r ö ß e r , sind d i e g l o b a l e n Kultureinflüsse stärker g e w o r d e n . Sind V e r ä n d e r u n g e n in d e n Bestattungsritualen unter d e m Einfluss a n d e r e r Kulturmuster z u v e r z e i c h n e n ?
17 Eine d e r O r g a n i s a t o r i n n e n d e r B e e r d i g u n g , e i n e e n g e Freundin d e r Verstorben e n , n a n n t e d e n G r u n d : „Es muss g a r nicht m e h r sein u n d m a n s p a r t d a s G e l d für d i e B e z a h l u n g d e s Lehrers."
204
G a b r i e l a Kilianova
4 . Bis 1 9 8 9 b e r e i t e t e n Familie u n d V e r w a n d t e ( M ä n n e r w i e Frauen) unter M i t h i l f e v o n „Ritualaktivisten" (Lehrer, örtlicher C h o r u n d M u s i ker) u n d „ P r o f e s s i o n e l l e n " (Pfarrer, T o t e n g r ä b e r ) d i e Bestattung vor. W e r m a c h t d a s heute? W e r sind d i e A k t e u r e b e i d e n v e r ä n d e r t e n Ritualen?
1. V e r ä n d e r u n g e n d e r Einflussnahme d e r S t a a t s m a c h t auf Bestattungsrituale u n d ihre K o n s e q u e n z e n Bis 1 9 8 9 ü b t e n in d e r S l o w a k e i S t a a t s v e r w a l t u n g u n d „Ausschüsse für b ü r g e r l i c h e A n g e l e g e n h e i t e n " p o l i t i s c h e n Druck aus, um säkularisierte Bestattungsrituale d u r c h z u s e t z e n . In Z ä v o d , w i e in d e n meisten G e m e i n d e n d e r S l o w a k e i , führte d i e s z u m Z u s a m m e n f ü h r e n v o n b ü r g e r lichen u n d kirchlichen Ritualen. N o c h z w e i Jahre n a c h 1 9 8 9 b e s t a n d ein s o l c h e s M o d e l l s p o r a d i s c h w e i t e r , a l l m ä h l i c h h ö r t e n d i e H i n t e r b l i e b e n e n j e d o c h auf, d e n Lehrer, als Aktivisten d e s Ausschusses, z u rufen, u n d a u c h d a s A b s c h i e d s g e d i c h t s o w i e d i e A n s p r a c h e d e s Lehrers a m G r a b wurden weggelassen.18 D a s N a c h l a s s e n staatlichen Drucks auf d i e Kirche manifestierte sich in e i n e m o f f e n e r e n G l a u b e n s b e k e n n t n i s unter d e n E i n w o h n e r n v o n Z ä v o d . Vor 1 9 8 9 hielt sich d e r k a t h o l i s c h e Pfarrer b e i e i n i g e n Beerdig u n g e n ( B e i s e t z u n g eines S o l d a t e n , eines kommunistischen Parteifunktionärs) im H i n t e r g r u n d . M i t t l e r w e i l e führt d e r k a t h o l i s c h e Priester a l l e B e e r d i g u n g e n in d e r G e m e i n d e d u r c h . Als interessanter Fall in meiner Forschung e r w i e s sich d e r B a u d e s s o g e n a n n t e n „ H a u s e s d e r Trauer" in Z ä v o d . S o l c h e H ä u s e r entstand e n in d e n 1 9 7 0 e r u n d 8 0 e r J a h r e n auf F r i e d h ö f e n in d e r g a n z e n S l o w a k e i (Lescäk u n d Beriuskovä 1987, S. 211). In d e r Regel b i l d e t e n sie e i n e n n e u t r a l e n Raum, in d e m s o w o h l b ü r g e r l i c h e als a u c h kirchli-
18 D a s g l e i c h e Schicksal ereilte n a c h 1 9 8 9 a u c h d i e b ü r g e r l i c h e n H o c h z e i t s r i t u a l e u n d d i e „ B e w i l l k o m m n u n g eines Kindes ins Leben", d i e e b e n f a l l s d e r „Ausschuss für bürg e r l i c h e A n g e l e g e n h e i t e n " durchführte. Zur Zeit finden in Z ä v o d höchstens ein bis z w e i zivile T r a u u n g e n p r o Jahr statt, w e n n z u m Beispiel d i e V e r l o b t e n g e s c h i e d e n sind u n d d i e Eheschließung nicht in d e r römisch-katholischen Kirche v o l l z i e h e n können. Die zivile Trauung führen Bürgermeister u n d S t a n d e s b e a m t i n durch, für d a s „ K u l t u r p r o g r a m m " lad e n sie d i e örtliche Lehrerin ein. Die ü b e r w i e g e n d e M e h r h e i t d e r T r a u u n g e n sind heute kirchlich, n i e m a n d führt mehr z w e i Rituale durch, zivil u n d kirchlich, b z w . w e r d e n b e i d e Rituale a u c h nicht mehr z u s a m m e n g e l e g t . Vor 1 9 8 9 w u r d e d i e o b l i g a t o r i s c h e zivile Trauung d u r c h d a s G e s e t z v o r g e s c h r i e b e n ( M o z o l i k 1 9 8 9 , S. 2 7 - 3 2 ) . Die zivilen Ritua l e b e i d e r G e b u r t eines Kindes fielen v ö l l i g w e g . A u c h d e n „Ausschuss für b ü r g e r l i c h e A n g e l e g e n h e i t e n " in d e r G e m e i n d e g i b t es nicht mehr.
D a s Bestattungsritual
205
c h e B e e r d i g u n g e n o d e r ihre v e r s c h i e d e n e n K o m b i n a t i o n e n stattfinden konnten. N a t ü r l i c h e n t s t a n d e n d i e s e H ä u s e r h a u p t s ä c h l i c h auf Anreg u n g d e r S t a a t s o r g a n e , d i e ein politisches Interesse d a r a n hatten, d a s s d i e B e e r d i g u n g e n aus d e r Privatsphäre ( d e m H a u s d e s V e r s t o r b e n e n ) in d e n ö f f e n t l i c h e n Raum ü b e r t r a g e n w u r d e n . M i t d e m B a u v o n Trauerhäusern w u r d e n [edoch auch hygienische Verbesserungen b e z w e c k t (ζ. B. d u r c h K ü h l a n l a g e n ) . Vor 1 9 8 9 w u r d e n d i e B a u t e n v o n d e n örtl i c h e n N a t i o n a l a u s s c h ü s s e n mit s t a a t l i c h e n G e l d e r n finanziert, u n d d i e B ü r g e r halfen d u r c h u n e n t g e l t l i c h e A r b e i t b e i ihrem A u f b a u im R a h m e n o r g a n i s i e r t e r A k t i o n e n mit ( J ä g e r o v ä 2 0 0 3 , S. 1 1 2 - 1 1 4 ) . In Z ä v o d w u r d e n d i e Errichtung eines H a u s e s d e r Trauer u n d einer S e n i o r e n p e n s i o n v e r g l e i c h s w e i s e s p ä t in d a s W a h l p r o g r a m m d e s Bürgermeisters a u f g e n o m m e n , n ä m l i c h erst b e i d e n K o m m u n a l w a h l e n 1998.19 N a c h d e n W a h l e n verkaufte die G e m e i n d e sogar das Haus, d a s als S e n i o r e n h e i m e i n g e r i c h t e t w e r d e n sollte, a b e r immerhin w u r d e n d i e B a u v o r b e r e i t u n g e n für d e s H a u s d e r Trauer in A n g r i f f g e n o m m e n . D a s G e m e i n d e a m t schlug d a m a l s drei B a u p l ä t z e vor: d e n Friedhof, ein freies G r u n d s t ü c k z w i s c h e n Pfarrei u n d Pfarrkirche o d e r e i n e F l ä c h e hinter d e m D o r f b e i m B a r o c k k r e u z . Finanziert w e r d e n sollte d e r B a u aus d e m G e m e i n d e h a u s h a l t . N a c h z w e i R e f e r e n d e n w ä h l t e n d i e E i n w o h n e r d e n Platz auf d e m Friedhof, w o früher d a s alte h ö l z e r n e Leichenhaus g e s t a n d e n hatte. Eigentlich d e r a m w e n i g s t e n g e e i g n e t e Platz, w e i l d a s G r u n d s t ü c k nur e i n e n kleineren B a u zuließ, mit e t w a dreißig Sitzplätzen und der d o p p e l t e n Anzahl an Stehplätzen. Das w a r w e n i g in A n b e t r a c h t d e r E i n w o h n e r z a h l v o n 2 6 0 0 M e n s c h e n u n d d e r z u e r w a r t e n d e n Z a h l d e r T e i l n e h m e r a n B e e r d i g u n g e n . Bei d e r S t a n d o r t w a h l l i e ß e n d i e E i n w o h n e r sich w a h r s c h e i n l i c h mehr v o n symb o l i s c h e n V o r s t e l l u n g e n ü b e r e i n e n Erinnerungsort als v o n r a t i o n a l e n Ü b e r l e g u n g e n zur E i g n u n g d e s B a u g r u n d s t ü c k s leiten. D a d e r B a u b e g i n n sich s t ä n d i g v e r z ö g e r t e , l a g e r t e d i e G e m e i n d e im Jahr 2 0 0 0 d i e K ü h l b o x e n provisorisch in d e r Sakristei d e r kleinen Friedhofskirche. 2 0 V o n d a a n b e g a n n e n H i n t e r b l i e b e n e , d e n S a r g z w e i bis drei S t u n d e n vor d e r B e e r d i g u n g in d e r Kirche u n d nicht mehr z u Hause aufzubahren.
19 Der Bürgermeister v o n Z ä v o d ist ein Beispiel für e i n e n „ a m b i t i o n i e r t e n " M e n schen, d e r durch d a s S o z i a l k a p i t a l d e r e i g e n e n Familie unterstützt w i r d . 1 9 8 6 w u r d e er z u m ersten M a l G e m e i n d e b ü r g e r m e i s t e r , d a m a l s als M i t g l i e d d e r Kommunistischen Partei d e r S l o w a k e i . N a c h v i e r j ä h r i g e r Pause k a n d i d i e r t e er 1 9 9 4 e r f o l g r e i c h b e i d e n Komm u n a l w a h l e n als u n a b h ä n g i g e r K a n d i d a t u n d w u r d e 1 9 9 8 u n d 2 0 0 2 w i e d e r g e w ä h l t . 2 0 Es h a n d e l t sich um e i n e ursprünglich g o t i s c h e Pfarrkirche, d i e E n d e d e s 19. Jahrhunderts durch e i n e neue, g r ö ß e r e Kirche im G e m e i n d e z e n t r u m ersetzt w u r d e .
206
Gabriela ΚίΙίάηονά
Im Jahr 2 0 0 1 wurde dann endlich mit dem Bau des Hauses der Trauer begonnen, seine Fertigstellung war für Anfang 2 0 0 2 geplant. Aber dazu kam es nicht, und im Herbst desselben Jahres war das Thema des unfertigen Bauwerks vor den Kommunalwahlen wieder ein wichtiger Punkt im Bürgermeisterprogramm. Dabei hatte das Kirchengebäude auf dem Friedhof sogar eine etwas größere Kapazität als das geplante H a u s der Trauer. Es drängt sich daher die Frage auf, ob es überhaupt notwendig war, ein solches H a u s z u bauen, wenn die Gemeinde die Kirche ohnehin benutzen konnte und de facto auch z u benutzen begann. Ein H a u s der Trauer, das im S o z i a l i s m u s als säkularisierter Raum für Bestattungsrituale durchgesetzt worden war, wird heute von der Gemeinde Zävod eigentlich gar nicht mehr gebraucht. Nach 1 9 8 9 bekundete niemand Interesse, eine andere als eine kirchliche Beerdigung durchzuführen, aber ein solches Argument gegen ein Haus der Trauer tauchte in den Diskussionen nie auf. Nach Meinung der Bürger gehört ein solches Gebäude einfach z u den Grunderrungenschaften einer modernen Gemeinde, und deshalb wollten sie es haben, ungeachtet der Möglichkeit, die ihnen die Kirche bot. Der Fertigstellung sah man daher mit Ungeduld entgegen, und das Gemeindeamt eröffnete es schließlich nach etlichen finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten am 2. November 2 0 0 3 , dem „Tag der Verstorbenen", an Allerseelen.
2. Wirtschaftlicher W a n d e l und seine Auswirkung auf die Bestattungsrituale Nach 1 9 8 9 eröffnete in der Gemeinde das erste private Blumengeschäft, das z w a r 1 9 9 7 wieder schließen musste, aber schon ein Jahr später durch ein neues ersetzt wurde. Die Blumenhändlerin, eine 37jährige, aus Z ä v o d stammende Frau, bestellt ihre W a r e n bei Großhändlern in Bratislava, wohin sie von den internationalen Umschlagplätzen
gebracht werden, wie
dem
berühmten
Blumenmarkt
von
Amsterdam. Die Blumen, in großer Auswahl und Qualität, stellen in der heutigen Gemeinde ein globales Produkt dar, das internationalen ökonomischen Einflüssen und Geschmackstrends unterliegt. Seit Mitte der 1 9 9 0 e r Jahre setzte sich in der Gemeinde zunehmend ein neuer Brauch durch, den aus der Stadt kommende Teilnehmer an Beerdigungen mitbrachten, nämlich dass alle Trauernden einen Blumenstrauß auf das Grab legen. Den neuen Brauch konnten die Ortsansässigen dank des Blumengeschäfts leicht übernehmen. B i s 1 9 8 9 stellte die Besorgung von frischen Blumen für Beerdigungen, vor
Das Bestattungsrifual
207
allem in den Wintermonaten, ein großes Problem für Stadt- und noch mehr für Dorfbewohner dar. Der Warenmangel, eine Begleiterscheinung der sozialistischen Planwirtschaft, kam auch in Bezug auf das Blumenangebot deutlich zum Ausdruck. 21 Ebenso wandelte sich nach 1 9 8 9 der Blumenschmuck, den die Familie eines Verstorbenen bestellte. Der in der Stadt schon seit längerem übliche, große flach gebundene Sargstrauß aus frischen Blumen setzte sich auch am Land durch. Der neue Schmuck ist relativ teuer, daher bevorzugt vor allem die ältere Generation mitunter noch die günstigeren Kunstblumen. Aber frische Blumen werden höher geschätzt. 2 2 Angesichts des Anstiegs der Preise nach 1 9 8 9 erhöhte sich auch der finanzielle A u f w a n d für eine Bestattung. Eine durchschnittliche Beerdigung mit etwa hundert Teilnehmern am Totenmahl kostet gegenwärtig etwa 2 3 0 0 0 bis 2 5 0 0 0 SKK und mehr (d.h. mindestens z w e i durchschnittliche Monatsgehälter). Dabei sind in dieser Summe noch nicht die Arbeiten und Produkte eingerechnet, die Familie und Verwandte erbringen. Daher war es interessant zu verfolgen, o b die Hinterbliebenen nach W e g e n suchen würden, das Bestattungsritual billiger zu organisieren. Familie C. führte im Jahr 2 0 0 0 dann die erste Änderung beim abendlichen G e b e t ein. Die Familie (prominent und, den Dorfbewohnern zufolge, reich] verlangte, dass das G e b e t in der Kirche und nicht im Haus des Verstorbenen stattfinden sollte, so wie es in den umliegenden Gemeinden schon länger praktiziert wurde. Auch wenn die Einwohner von Z ä v o d die neue Praxis anfangs mit einem gewissen Missfallen betrachteten, hat sich diese heute durchgesetzt und wird als praktische und ökonomische Lösung angesehen. O b w o h l der Posten für Speisen einen relativ großen Anteil der Gesamtausgaben für eine Beerdigung ausmacht (gewöhnlich bis zu einem Drittel), habe ich in der Gemeinde nur vereinzelte Versuche verzeichnet, kleinere Totenmahle auszurichten 23 , ebenso wurde die Be-
21 Zur Planwirtschaft in den sozialistischen Ländern als „economies of shortages", siehe Verdery 1996, S. 2 1 - 2 3 . 2 2 Ein gesellschaftlich schicklicher Strauß aus frischen Blumen kostet einen einfachen Teilnehmer einer Beerdigung 8 0 bis 100 SKK, für nähere Freunde und Bekannte 120 bis 180 SKK, für Verwandte und Familie a b 2 0 0 SKK aufwärts, ein flacher Sargstrauß mehr als 9 0 0 SKK, ein Kranz über ] 5 0 0 SKK. Die niedrigste Altersrente betrug demgegenüber 2 0 0 3 ca. 6 . 0 0 0 SKK, der Durchschnittslohn in der Slowakei ca. 13 0 0 0 SKK. 2 3 Ein Beispiel ist die W i t w e einer vermögenden Familie, die 2 0 0 0 nach der Beerdigung des Ehemannes das Totenmahl nur für ihre Kinder, deren Ehepartner und die Enkelkinder, d. h. für etwa 10 Personen ausrichtete.
208
G a b r i e l a ΚίΙίάπονά
wirtung mit einem warmen Hauptgericht, verschiedenen Desserts, alkoholischen und alkoholfreien Getränken beibehalten. Auch in diesem Falle erlauben sich Sparmaßnahmen eher Familien mit höherem gesellschaftlichem Prestige. Eine Rolle bei der Organisation von billigeren Beerdigungen spielt aber auch die Tatsache, dass das Ritual fast immer aus den Ersparnissen des Verstorbenen finanziert wird. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart hat die älteste Generation zumeist ihre Kleidung für den Sarg bereitliegen und Bargeld für die Beerdigung zurückgelegt. Altere Menschen äußern auch ihre W ü n s c h e für die Beerdigung, wie sie organisiert werden soll, welche Liedauswahl sie möchten u.ä. 24 Ein anderer Grund, der die Durchsetzung von billigeren Beerdigungen, und vor allem kleineren Totenmahlen verhindert, ist die Reziprozität des Rituals. Die meisten Einwohner der Gemeinde haben als Verwandte oder Bekannte mehrmals an großen Totenmahlen teilgenommen. Bei einem Todesfall in der eigenen Familie fühlen sie sich verpflichtet, z u einem Totenmahl mit vergleichbarem Aufwand einzuladen. Es ist schwer, sich diesem Reziprozitätsdruck z u entziehen. Der abweichend handelnde Akteur (wie zum Beispiel die erwähnte W i t w e ) müsste dann konsequent Einladungen z u anderen Totenmahlen ablehnen.
3. Globale Kultureinflüsse und ihre Widerspiegelung in den Bestattungsritualen Die Nutzung der Dienstleistungen eines Bestatters und des Blumengeschäfts ist nicht nur durch die ökonomischen Möglichkeiten einer Familie bedingt, sondern hängt auch von Geschmacks- und Wertvorstellungen, gesellschaftlichem Status und Prestige sowie individuellen Vorlieben ab. In Z ö v o d kauft man Blumensträuße und Kränze für die Beerdigung nur bei Fachgeschäften, es werden keine Blumen aus dem eigenen Garten verwendet. Die Hinterbliebenen widmen heute der Auswahl der Blumen, der Farbe der Bänder und der Gesamtgestaltung der Sträuße und Kränze ein größeres Augenmerk. Für ältere Frauen werden rote, für Männer entweder rote oder blaue Blumen gewählt. Am häufigsten werden Nelken und Gerbera in Kombination mit Chrysanthemen ver-
24
Im Jahr 2 0 0 3 spielte die Blaskapelle zum Beispiel auf der Beerdigung einer
89-jährigen Frau, w a s ein ungewöhnlicher W u n s c h der Verstorbenen war, da mit einer M u s i k k a p e l l e gewöhnlich nur junge Menschen begleitet werden.
Das Bestattungsrilual
209
w e n d e t , a m teuersten sind Rosen, d i e a m meisten g e s c h ä t z t w e r d e n . Bei d e r B e e r d i g u n g v o n j u n g e n M e n s c h e n w e r d e n Blumen u n d B ä n d e r in helleren F a r b e n b e v o r z u g t , e t w a so w i e m a n b e i d e r t r a d i t i o n e l l e n B e e r d i g u n g Requisiten mit hellen B ä n d e r n schmückte. H a n d e l t es sich um e i n e n t r a g i s c h e n Todesfall, w ä h l e n d i e H i n t e r b l i e b e n e n z u m e i s t frische B l u m e n u n d s e h e n ü b e r d e n h ö h e r e n f i n a n z i e l l e n A u f w a n d h i n w e g . M i t d e r A n z a h l , d e r A r t o d e r d e r F a r b e d e r Blumen w o l l e n d i e H i n t e r b l i e b e n e n ihre G e f ü h l e u n d d i e B e z i e h u n g zur v e r s t o r b e n e n Person a u s d r ü c k e n . Als z u m B e i s p i e l 2 0 0 3 e i n e v i e r z i g j ä h r i g e Frau une r w a r t e t verstarb, bestellte ihr E h e m a n n e i n e n f l a c h e n Blumenstrauß für d e n S a r g , w o b e i d i e Z a h l d e r o r a n g e f a r b e n e n Rosen u n d N e l k e n g e n a u d e m Alter d e r Frau e n t s p r a c h . A h n l i c h ließ 1 9 9 9 e i n e in Ö s t e r r e i c h a r b e i t e n d e Tochter für ihre v e r s t o r b e n e v i e r u n d f ü n f z i g j ä h r i g e M u t t e r e i n e n g r o ß e n K r a n z in H e r z f o r m v o n e t w a e i n e m M e t e r Durchmesser b i n d e n . Er enthielt v i e r u n d f ü n f z i g frische rote Rosen, a b w e c h s e l n d mit weißen Chrysanthemen. Das a u f w ä n d i g e G e b i n d e , das etwa dreimal soviel w i e ein durchschnittlicher K r a n z kostete, w u r d e e i n e v i e l b e w u n d e r t e N e u h e i t , v o n d e r m a n im O r t g l a u b t e , d a s s sie aus Ö s t e r r e i c h stamme. Tatsächlich w a r es ein Entwurf d e r Tochter u n d d e r Blumenh ä n d l e r i n . Im s e l b e n Jahr starb ein f ü n f z e h n j ä h r i g e s M ä d c h e n , a n dessen Beerdigung besonders viele M e n s c h e n teilnahmen, die alle B l u m e n s t r ä u ß e aus frischen w e i ß e n o d e r rosa B l u m e n v e r l a n g t e n . D i e I n h a b e r i n d e s B l u m e n g e s c h ä f t s musste z e i t w e i s e z w e i Aushilfen einstellen, um d i e z a h l r e i c h e n B e s t e l l u n g e n zu b e w ä l t i g e n . Ein e i g e n e s Kapitel b i l d e n d i e A u s w a h l u n d A u f m a c h u n g d e s G r a b e s . W i e s c h o n in d e r V e r g a n g e n h e i t u n t e r s c h e i d e n a u c h in d e r G e g e n w a r t d i e D o r f b e w o h n e r „ b e s s e r e " Stellen ( b e i m z e n t r a l e n K r e u z u n d in d e r N ä h e d e r Friedhofskirche) v o n „ s c h l e c h t e r e n " . G u t e Plätze w e r d e n v o n d e n Familien g e h ü t e t u n d g e g e b e n e n f a l l s g e t a u s c h t , w e i l sie d i e G r ä b e r d e r V e r w a n d t e n m ö g l i c h s t n a h e b e i e i n a n d e r h a b e n möchten. In letzter Zeit kümmern sich ältere M e n s c h e n immer öfter n o c h zu Lebzeiten um ihre G r a b s t e l l e und d e n G r a b s t e i n . Sie erklären ihre Vorbereitungen damit, dass sie n a c h ihrem T o d e d i e N a c h k o m m e n nicht finanziell belasten w o l l e n . Ihnen ist a b e r a u c h w i c h t i g , w o und w i e sie b e i g e s e t z t w e r d e n . Ältere Informanten führten mich n a c h d e m Ende eines Interviews h ä u f i g auf d e n Friedhof, w o sie mir stolz ihre vorbereitete G r a b s t e l l e zeigten. D i e G r ä b e r auf d e m Friedhof in Z ä v o d sind bis auf e i n z e l n e Ausn a h m e n s o r g f ä l t i g g e p f l e g t , u n d v o m Frühjahr bis in d e n H e r b s t mit B l u m e n b e p f l a n z t . D a s h e u t i g e E r s c h e i n u n g s b i l d d e s Friedhofs unters c h e i d e t sich in v i e l e m v o m Z u s t a n d in d e n 1 9 7 0 e r u n d 8 0 e r Jahren,
210
G a b r i e l a ΚίΙίάηονά
als der Blumenschmuck noch bescheidener war, und viele Gräber nur vor Allerseelen hergerichtet und geschmückt wurden.
4. Organisierung von Beerdigungen nach 1 9 8 9 und Träger der Veränderungen Im Jahr 2 0 0 1 fand die Beerdigung eines fünfundzwanzigjährigen jungen Mannes, der einen Autounfall hatte, statt. Da schon länger kein junger lediger Mann mehr gestorben war, stellte sich die Frage, in welcher Form er bestattet werden sollte. Die Beerdigung wurde schließlich im Geiste des traditionellen Rituals gestaltet. Im Trauerzug ging eine weiße Braut, junge Männer trugen z w e i Rosmarinkronen, von denen sie eine in das Grab legten. Die Hauptrolle bei der Vorbereitung der Beerdigung spielte die Großmutter. Nachdem sie sich mit Bekannten aus der ältesten Generation beraten hatte, organisierte sie ein traditionelles Ritual, das eine Hochzeit imitierte. Heutzutage werden Beerdigungen mehrheitlich von Frauen der mittleren und älteren Generation vorbereitet, die meistens zum „traditionellen" lokalen M o d e l l tendieren. Gegenüber der Vergangenheit wird die Rolle der Frauen im Bestattungsritual immer umfangreicher: Frauen bereiten nicht nur den Leichnam für den Sarg vor (ihre „traditionelle" Rolle), sondern besprechen die Beerdigung mit dem Pfarrer und den Sängern und laden auch zum Totenmahl ein. Das sind Aufgaben, die bis vor kurzem noch von Männern erledigt wurden. H i n z u kommt, dass verschiedene Funktionen in der Kirche, die zuvor ebenfalls von Männern ausgeübt wurden, wie Kirchendiener, Glöckner, Vorbeter etc. heute von Frauen übernommen werden. Die Aufgaben der Männer bei der Beerdigung beschränken sich mittlerweile nur noch auf das Tragen des Sargs, sowie auf die Arbeit des Totengräbers und des katholischen Pfarrers. 25
Schlussbemerkung Das Bestattungsritual in der Slowakei reagiert auf den gegenwärtigen W a n d e l in Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur. Der Tod von Menschen war nach 1 9 8 9 kein Tabuthema mehr und wurde z u einem
25
Z u r Rolle der Frauen bei Bestattungsritualen in der Slowakei siehe auch Jägero-
νά 2 0 0 3 , S . 2 0 7 - 2 1 0 .
211
Das Bestattungsritual
wichtigen Gegenstand des öffentlichen Diskurses. Auch in Z ä v o d wurden Tod, Bestattung oder der Aufbau eines Hauses der Trauer in der politischen Diskussion thematisiert und beeinflussten die Kommunalpolitik. Die ethnografische Untersuchung des Bestattungsrituals hat gezeigt, dass in den letzten zehn Jahren Veränderungen erfolgt sind, die mit mehreren Prozessen in Zusammenhang stehen. Der Druck des Staates auf die Kirche ließ nach, und im G e g e n z u g nahm der gesellschaftliche und politische Einfluss der Kirchen, vor allem der römisch-katholischen Kirche, zu. So bekannten sich in Z ä v o d zunehmend Menschen zu ihrem Glauben. Die massive Hinwendung zur Kirche und die geänderten politischen Verhältnisse führten dazu, dass die säkularisierten Komponenten der Bestattung nicht mehr in das Ritual eingebunden wurden. Zwar wird sich langfristig die Säkularisierung in der Slowakei fortsetzen, aber die politischen Veränderungen nach 1 9 8 9 ermöglichten nicht nur die freie Tätigkeit der Kirchen, sondern führten auch zu einer Stärkung der kirchlichen Einflussnahme auf den öffentlichen Bereich und die Privatsphäre der Menschen. G e g e n w ä r t i g scheinen wir somit Zeugen eines rekurrenten (Modernisierungs-)Prozesses zu sein: Der Wiederentdeckung der Religiosität und der Einbindung der slowakischen Bevölkerung in verschiedene kirchliche Rituale und Aktivitäten. Die ökonomischen Transformationsprozesse
nach
1989,
deren
Ergebnis einerseits die verschlechterte Wirtschaftssituation und der sinkende Lebensstandard eines Teils der Bevölkerung ist und die andererseits den ökonomischen Aufstieg erfolgreicher Individuen oder Familien ermöglichte, zerschlugen die Vorstellung von der Homogenität und Egalität der lokalen Gemeinschaft. Tatsächlich existierte zwar auch vor 1 9 8 9 keine ökonomische und soziale Homogenität in der Bevölkerung, aber man w a r bestrebt, dies zu verheimlichen. Die geänderten ökonomischen Bedingungen äußerten sich nicht zuletzt im Anstieg der Beerdigungskosten. Zum ökonomischen gesellte sich auch ein kultureller W a n d e l , ablesbar an der Übernahme neuer kultureller Muster (ζ. B. beim Blumenschmuck] aus den städtischen Milieus durch die Einwohner von Zävod. Die Bemühung um Einsparungen bei Bestattungen setzt sich hingegen im Dorf nur zögerlich durch. Vorerst erlauben sich nur Familien mit höherem gesellschaftlichen Status zu sparen und dies auch nur beim Totenmahl. Stellt man das Ritual der Beerdigung in den Kontext langfristiger Modernisierungsprozesse zeigt sich das Fortbestehen, ja sogar die bewusste Bewahrung archaischer Elemente der traditionellen lokalen Kultur, wie das Beispiel der Beerdigung der Kirchendienerin Ζ. K. gezeigt hat. In einem solchen Fall wird das „Traditionelle" als eigener
212
Gabriela ΚίΙίάηονά
W e r t bewusst betont. Gerade dieses Bewusstmachen des W e r t e s der traditionellen Lokalkultur stellt aber ein modernes Phänomen dar: Die Reflexion „unserer" Bräuche gegenüber den Bräuchen „Anderer", hier vor allem der Stadtbewohner. Das Ausmaß der „Traditionalität" des Bestattungsrituals ist von Fall zu
Fall verschieden, aber die traditionellen
Elemente
überwiegen
gegenwärtig. Das Bestattungsritual in der Gemeinde Zävod ist nach 1 9 8 9 eher „traditionell" geworden, die Säkularisierung als einer der zentralen Prozesse der Modernisierung wurde aufgehalten, die bürgerlichen Komponenten, die dem Ritual in der Zeit des S o z i a l i s m u s hinzugefügt wurden, werden heute weggelassen und es lässt sich eine Rückkehr z u alten kirchlichen Ritual- und älteren lokalen Kulturformen beobachten. W ä h r e n d die Einwohner von Z ä v o d der Meinung sind, dass es im letzten Jahrzehnt eigentlich zu keinen Neuerungen im Bestattungsritual gekommen ist — vielleicht ausgenommen das Fehlen der bürgerlichen Abschiednahme - , hat die Forschung dennoch das Fortbestehen und Anwachsen einiger Modernisierungstrends wie jenem der Individualisierung festgestellt. Individuelles Handeln äußert sich gegenwärtig zum Beispiel in den speziellen Blumengaben, welche die besondere Beziehung der Hinterbliebenen zum Verstorbenen ausdrücken sollen. M a n denke an die Blumengaben des Ehemanns für die Ehefrau, der Enkelin für die Großmutter und der Tochter für die Mutter. Individuelle Vorstellungen bringen die Menschen auch bei der Vorbereitung der Grabstelle oder in ihren Wünschen, wie ihre Beerdigung organisiert werden soll, zum Ausdruck. Die Hinterbliebenen respektieren dies, auch wenn es mitunter der lokalen Tradition zuwiderläuft. Die für die Moderne typische Abnahme der Bedeutung von traditionellen gesellschaftlichen Bindungen, vor allem von Verwandtschaft und lokaler Gemeinschaft, spiegeln sich bislang nur in vereinzelten Bemühungen um kleinere Totenmahle und in der Aufhebung der Reziprozität von Einladungen z u diesen wider. Die Veränderungen der Bestattungsrituale bestätigen dabei die Ansicht von Daniel Miller, dass neue Formen der Differenzierung in der Moderne zunehmend von Unterschieden im gesellschaftlichen Status abhängen (Miller
1995,
S. 3f.j. S o fungieren als Akteure der Veränderungen die Eliten, Männer und vor allem Frauen aus den obersten Schichten. Im letzten Jahrzehnt wurde die Rolle der Frauen in der Vorbereitung und Ausführung von Bestattungsritualen
umfangreicher.
Die
Frauen
übernahmen zum einen die traditionellen Tätigkeiten, die ursprünglich von Männern ausgeführt wurden. Z u m anderen begannen die Frauen verschiedene Laientätigkeiten in der Kirche auszuüben, die ursprüng-
Das Bestatlungsritual
213
lieh die Domäne der M ä n n e r gewesen waren, w a s ihnen nun z u einer g r ö ß e r e n Teilhabe an allen kirchlichen Ritualen, a l s o auch an Beerdigungen verhalf. D a s Engagement der Frauen in der Kirche ist in Ζ ά vod gegenwärtig höher a l s d a s der M ä n n e r . Auch aus diesem G r u n d sind heute vor allem Frauen die Hauptakteure der Veränderungen bei Beerdigungen. D i e s e s zunehmende weibliche Engagement im öffentlichen Bereich kann meines Erachtens ebenfalls a l s eine Erscheinung der voranschreitenden M o d e r n e interpretiert werden. Die Fallstudie des Bestattungsrituals in der G e m e i n d e Z ä v o d ist ein Beitrag z u m Aufspüren der Veränderungen, die unter dem Einfluss der post-sozialistischen Transformation nach 1 9 8 9 in der S l o w a k e i eingetreten sind. S i e verweist auf die Ambivalenz, Komplexität und Varietät von Kultur und beobachtet, w i e diese im Rahmen von M o d e r n i s i e r u n g s p r o z e s s e n modifiziert wird. S i e konzentriert sich auf den lokalen Kontext, in dem sich spezifische „Lokalformen" bilden und Veränderungen eine bestimmte „Lokalzeit" benötigen. S i e z e i g t aber gleichzeitig, w i e lokale Kontexte auf m a k r o s o z i a l e n W a n d e l und globale kulturelle P r o z e s s e reagieren, die - wenngleich z u verschiedenen Zeitpunkten - auch andere komplexe moderne Gesellschaften erfasst haben.
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OLIVER KRÜGER DIE V E R V O L L K O M M N U N G Tod und Unsterblichkeif
DES
im Posthumanismus
MENSCHEN und
Transhumanismus
Der M e n s c h ist unvollkommen. N e b e n den vielen kleinen körperlichen und geistigen G r e n z e n und den krankheitsbedingten Leiden haftet ihm vor allem ein M a k e l an: der M e n s c h ist sterblich. S e i n e T a g e sind gezählt — herausragenden Exemplaren der Gattung M e n s c h gelingt es heutzutage immerhin, bis z u 3 8 0 0 0 mal das W e r d e n und Vergehen eines T a g e s z u erleben, aber dann ist Schluss. D a s wusste schon der mythische König G i l g a m e s h , der sich auf die Suche nach einem zauberhaften Unsterblichkeitskraut machte, und auch aus der Sicht des S o z i o l o g e n M a x W e b e r offenbarte sich im Faktum des T o d e s „die Sinnlosigkeit der rein innerweltlichen Selbstvervollkommnung z u m Kulturmenschen", die prägend sein sollte für eine sich säkular verstehende M o d e r n e - denn trotz aller Sublimierungsversuche blieb der Tod. 1 Einen gänzlich neuen Versuch, d i e s e s Problem des T o d e s z u lösen, hat in jüngster Z e i t der so genannte Posthumanismus entworfen: nicht der T o d an sich, sondern der an seinen sterblichen K ö r p e r gebundene M e n s c h selbst sei das Problem, das es z u lösen gelte. W e r d e der M e n s c h durch eine vollkommenere, posthumane Lebensform ersetzt, und würde er selbst in eine computertechnisch ermöglichte, virtuelle Daseinsform überführt werden, so könne nicht nur die Unsterblichkeit erreicht werden, sondern auch die Vervollkommnung aller lichen Anlagen und N e i g u n g e n .
mensch-
N a c h f o l g e n d sollen daher einige
Ideen des Posthumanismus und des mit ihm verwandten Transhumanismus vorgestellt werden, w o b e i abschließend mit V e r w e i s auf den Philosophen Günther A n d e r s den grundlegenden Voraussetzungen des Posthumanismus nachgegangen wird.
Posthumanismus Die Anfänge der posthumanistischen Utopie können auf die ausgehenden 1 9 8 0 e r Jahre datiert werden, als der Robotikforscher
Hans
M o r a v e c ( * 1 9 4 8 ) und der Physiker Frank Tipler ( * 1 9 4 7 ) ihre ersten visionären Schriften veröffentlichten. K u r z nachdem M o r a v e c 1 Weber 1988, S. 569.
1985
218
Oliver Krüger
zum Direktor des renommierten Mobile
Robot Laboratory
an der Car-
negie-Mellon University in Pittsburgh ernannt wurde, publizierte er sein aufsehenerregendes und zuvor schon in Manuskripten verteiltes W e r k Mind
Children.
The Future of Robot and Human Intelligence7,
das ihn
für viele heutige Anhänger zum eigentlichen Begründer einer posthumanistischen Philosophie machte. Schon das Vorwort wirkt wie eine Präambel des Posthumanismus: E n g a g e d for b i l l i o n s of y e a r s in a relentless, s p i r a l i n g a r m s race with o n e another, our g e n e s have finally outsmarted themselves (...) W h a t a w a i t s us is not o b l i v i o n but rather a future which, from our present vantage point, i s best d e s c r i b e d by the w o r d s „ p o s t b i o l o g i c a l " or even „supernatural". It i s a w o r l d in w h i c h the human race has been s w e p t a w a y by the tide of cultural change, u s u r p e d by its o w n artificial p r o g e n y (...) w i t h i n the next century they [the machines, d. Verf.] w i l l mature into entities a s c o m p l e x a s o u r s e l v e s , and eventually into something transcending everything w e k n o w - in w h o m w e can take p r i d e w h e n they refer to themselves a s our descendants. 3
Moravec ist der Ansicht, dass diese posthumanen, künstlichen Intelligenzen zum Menschen in einem ähnlichen Verhältnis wie Kinder z u ihren Eltern stehen und bald die Menschheit als Spitze der evolutiven Entwicklung des Lebens ablösen werden. 4 In wenigen Jahrzehnten werden Roboter und künstliche Intelligenzen nach Meinung Moravecs in allen Lebens- und Arbeitsbereichen leistungsfähiger sein als Menschen und sie daher ersetzen. 5 Auch seine zweite Monographie Robot. M e r e Machines
to Transcendent Mind
( 1 9 9 9 ) stieß während der technikeu-
phorischen Stimmung der Jahrtausendwende auf großes Interesse. 6 W e n n aber künstliche Lebensformen die Geschicke der W e l t in ihre Hände genommen haben, was geschieht dann mit den Menschen? Kennzeichnend für die posthumanistische Philosophie ist hier die Verbindung zwischen der Vision einer posthumanen Zukunft mit der Aussicht auf eine unsterbliche Existenz des Menschen als virtuelle Simulation des Lebens. Moravecs herausragende Bedeutung rührt in diesem Zusammenhang vor allem daher, dass er 1 9 8 8 als erster W i s -
2 Vgl. Moravec
1988.
Deutscher Titel: Mind
menschlicher und künstlicher Intelligenz, 3
Ebd., S. 1.
4 Vgl. Moravec 1 9 9 9 , S. 13. 5
Vgl. ebd., S. 72ff.
6
Vgl. ebd.
Children.
Hamburg 1 9 9 0 .
Der
Wettlaul
zwischen
219
Die Vervollkommnung des Menschen
senschaftler die technischen Möglichkeiten einer Unsterblichkeit in der Virtualität formuliert hat. Nicht als Science-fiction-Autor 7 , sondern als wissenschaftlicher Visionär stellt M o r a v e c die normativen Leitgedanken der zukünftigen Entwicklung der Menschheit dar. P r ä z i s e schildert er den technischen Vorgang dieser transmigration
(Seelenwanderung),
die seiner Schätzung nach schon im Jahre 2 0 1 8 verfügbar sein wird 8 :
Y o u ' v e just been w h e e l e d into the o p e r a t i n g room. A r o b o t brain surg e o n i s in attendance. B y y o u r s i d e is a computer w a i t i n g to b e c o m e a human equivalent, l a c k i n g o n l y a p r o g r a m to run (...) T h e r o b o t s u r g e o n o p e n s y o u r brain c a s e a n d p l a c e s a hand on the b r a i n ' s s u r f a c e (...) Instruments in the hand scan the first f e w millimeters of brain
surface
(...) T h e s e m e a s u r e m e n t s , a d d e d to a c o m p r e h e n s i v e u n d e r s t a n d i n g of human neural architecture, a l l o w the s u r g e o n to w r i t e a p r o g r a m that m o d e l s the b e h a v i o r of the u p p e r m o s t l a y e r of s c a n n e d brain tissue. T h i s p r o g r a m is i n s t a l l e d in a s m a l l p o r t i o n of the w a i t i n g computer a n d activated (...) T h e p r o c e s s is r e p e a t e d for the next l a y e r (...) In a final d i s o r i e n t a t i n g step the s u r g e o n lifts out his hand. Y o u r s u d d e n l y aband o n e d b o d y g o e s into s p a s m s a n d d i e s . For a moment y o u e x p e r i e n c e o n l y quite a n d d a r k . T h e n , o n c e a g a i n , y o u can o p e n y o u r e y e s (...) Your metamorphosis is complete.'
Auf diese W e i s e w i r d der M e n s c h in der Vision M o r a v e c s als virtuelle Simulation im Speicher eines Computers seine unendliche Fortexistenz sichern, während die biologische Menschheit langsam ausstirbt — nach eigenem Bekunden hatte M o r a v e c diese Idee des uploading
schon
während seiner H i g h s c h o o l - Z e i t entwickelt. 10 Aber noch während M o ravecs Kindertagen sollte bereits Ernst Bloch diese klinische Inszenierung der Upload/ng-Prozedur, die ja von Roboterchirurgen durchgeführt wird, als die g r o ß e medizinische Utopie schlechthin entlarven:
Der S a t z darf letzthin gewagt werden: gerade weil der Arzt, auch am einzelnen Krankenbett, einen fast wahnwitzigen
utopischen Plan vor sich latent hat,
weicht er ihm scheinbar aus. Dieser endgültige Plan, der letzte medizinische Wunschtraum, ist nichts G e r i n g e r e s als Abschaffung
7
Todes."
In der Science-fiction Literatur und im Film entwickelten sich diese Ideen bereits seit
den 1 9 5 0 e r Jahren. Vgl. Krüger 2 0 0 4 a , S. 2 1 6 - 2 3 8 . 8 Vgl. Moravec 1 9 8 8 , S. 108. 9
des
Ebd., S. 109f. (im Original kursiv).
10 Vgl. Regis 1 9 9 0 , S. 156. 11 Bloch 1 9 8 5 , S. 5 3 9 .
220
O l i v e r Krüger
Die zitierte Stelle aus Moravecs M i n d Children
zeichnet für alle spä-
teren posthumanistischen Autoren den konkreten technischen Vorgang einer Immortalisierung vor: der materielle Körper dient in einem ScanProzess als Vorlage für die weitere, unbegrenzte Existenz in der Virtualität. Für die Anhängerschaft der posthumanistischen Visionen, die Transhumanisten, hat daher Moravecs technische Deskription dieses so genannten uploading
eine ähnlich hohe Bedeutung, wie sie die
Erzählung von der Auferstehung Jesu im Evangelium für den Christen innehat. Während
Hans
Moravec
vor
allem
technische
Aspekte
der
weiteren Entwicklung von künstlicher Intelligenz und der damit vermeintlich einhergehenden
Möglichkeit einer
Immortalisierung
des
menschlichen Lebens diskutiert, fokussiert der Physiker Frank Tipler eher eine kosmologische Perspektive. Schon seine frühen und zahlreichen Publikationen, die die Nichtexistenz von außerirdischer Intelligenz im Universum beweisen sollen, stehen in Zusammenhang mit seinem Interesse für die Genese und die zukünftige Entwicklung des Kosmos. W ä h r e n d sein wissenschaftliches Hauptwerk The Cosmological
Principle12
Anthropic
( 1 9 8 6 ) , das er gemeinsam mit dem engli-
schen Kosmophysiker John D. B a r r o w verfasst hat, in der fachfremden Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet geblieben war, erlangte Frank Tipler gewissermaßen über Nacht Berühmtheit mit seinem 1 9 9 4 erschienenen Buch The Physics Cod
and the Resurrection
of Immortality.
of the Dead'3.
Modern
Cosmology,
O b w o h l Tipler hier ledig-
lich seine Omegapunkt-Theorie, die er bereits 1 9 8 8 auf einem theologischen Kongress vorgestellt und als Aufsatz publiziert hatte 14 , weiter ausführte und in radikalen Formulierungen zuspitzte, erregte das W e r k g r o ß e s Aufsehen und wurde noch im selben Jahr ins Deutsche übersetzt. In seiner kosmologisch fundierten Perspektive geht Tipler davon aus, dass das Universum geschlossen ist und in ferner Zukunft im Punkt Omega enden wird. 15 Bis dahin müsse intelligentes Leben - das ist die Menschheit mit ihren maschinellen Nachfahren - die völlige Kontrolle
12 Vgl. B a r r o w / T i p l e r
1986.
13 Vgl. Tipler 1 9 9 5 . Der Titel der deutschen Ausgabe lautet: Die Physik der lichkeit. Moderne
Kosmologie,
Gott und die Auferstehung
14 Tipler nahm im November
Unsterb-
der Toten, München 1 9 9 5 .
1 9 8 8 am 2. Pannenberg Symposium am Chicago
Center for Religion and Science (Lutheran School
of Theology)
teil. Vgl. Tipler 1 9 8 9 .
15 W ä h r e n d sich ein offenes Universum beginnend mit dem Urknall immer weiter ausdehnen würde, bremsen im Konzept des geschlossenen Universums die Gravitationskräfte der Materie die Ausdehnung so weit, dass sich der Kosmos schließlich wieder zusammenzieht.
221
Die Vervollkommnung des Menschen
über das Universum erlangt haben, während parallel die M e n g e an Information, die das Leben verarbeitet, mit Annäherung an den Punkt Omega gegen unendlich divergieren wird. W e n n die Sonne in vielen Milliarden Jahren ihre Brennstoffe verbraucht haben wird, besteht Tipler zufolge die einzige Uberlebenschance der Menschen in einer virtuellen Existenz in gigantischen Computern. Den Zielpunkt kosmologischer Entwicklungen, den Punkt Omega, identifiziert Tipler mit Gott. 16 N e b e n Hans Moravec und Frank Tipler sind an dieser Stelle noch z w e i weitere posthumanistische Denker z u nennen, die prägend für den entsprechenden Diskurs wurden: Marvin M i n s k y ( * 1 9 2 7 ) Raymond Kurzweil ( * 1 9 4 8 ) . Als Mitbegründer des Media Massachussetts
Institute of Technology
und
Lab am
war M i n s k y der Mentor einer
ganzen Reihe von heutigen Vertretern des Posthumanismus und Transhumanismus. Fokussiert seine Forschungsarbeit die Entwicklung von künstlicher Intelligenz, so liegt M i n s k y s Bedeutung für den Posthumanismus vor allen Dingen in der Formulierung der informationstechnischen Grundlagen eines posthumanistischen Menschenbildes, das die Idee einer „Kopie des Menschen" im Computer aus kybernetischer Sicht erst legitim erschienen ließ. 17 Der erfolgreiche IT-Unternehmer Raymond Kurzweil ist inzwischen wohl zum bekanntesten Posthumanisten in der Öffentlichkeit avanciert, obwohl er inhaltlich Moravec, Tipler und M i n s k y keine innovativen Ideen mehr hinzuzufügen hatte. Die starke Rezeption seiner W e r k e ist sicherlich auch seiner Begabung zuzuschreiben, dass er die Ideen des Posthumanismus äußerst pointiert darstellen kann. In seinem Buch The Age of Spiritual
Machines.
When
Computers
Exceed Human
Intelli-
gence ( 1 9 9 9 ) 1 8 verkündet Kurzweil den Anfang vom Ende der Menschheit -
bis zum Jahr 2 0 9 9 würden fast alle Menschen nur noch als
unsterbliche, virtuelle Simulationen existieren und ihre biologische Bedingtheit überwunden haben." A c t u a l l y there w o n ' t be mortality by the e n d of the twenty-first century (...) U p until now, our mortality w a s tied to the l o n g e v i t y of our hardw a r e . W h e n the h a r d w a r e c r a s h e d , that w a s it (...) A s w e c r o s s the d i v i d e to instantiate o u r s e l v e s into o u r c o m p u t a t i o n a l t e c h n o l o g y , our
16 Vgl. Tipler 1 9 9 5 , S. 5 5 - 6 5 . 17 Vgl. z . B . Minsky 1 9 9 4 . Zum kybernetischen Menschenbild vgl. Krüger 2 0 0 4 a , S. 1 6 8 - 2 1 5 . 18 Vgl. Kurzweil 1 9 9 9 . Deutscher Titel: Homo s@piens. Leben im 21. Was bleibt vom Menschen? 19 Ebd., S. 2 7 7 - 2 8 0 .
Köln 1 9 9 9 .
Jahrhundert.
222
O l i v e r Krüger
i d e n t i t y w i l l be b a s e d o n o u r e v o l v i n g m i n d file. W e will not hardware
be
software,
20
Demonstrierte er bereits in The Age of Spiritual
Machines,
dass seine
musizierenden, malenden und dichtenden Computer und Roboter dem Menschen überlegen seien, 21 so prophezeit er in seinem neusten, 6 0 0 Seiten umfassenden W e r k The Singularity mans Transcend
Biology
is Near.
When
Hu-
( 2 0 0 5 ) 2 2 den baldigen und unumkehrbaren
Wendepunkt in der Evolufionsgeschichte: die Singularität bezeichnet den Zeitpunkt, ab dem künstliche Intelligenzen selber in der Lage sein werden, ihre Weiterentwicklung und -Verbreitung z u steuern. Gemäß K u r z w e i l s Prognose würden kurz nachdem um 2 0 2 0 Computer die menschliche Denkkapazität erreicht haben werden, die ersten technischen Simulationen menschlicher Gehirne die Möglichkeit einer virtuellen Unsterblichkeit eröffnen. 23 W a s die Ideen von Moravec, Tipler, M i n s k y und Kurzweil trotz aller Unterschiede vereinigt, ist die Vorstellung, dass die Menschheit nun durch ihre selbst geschaffenen, künstlichen Nachkommen ersetzt werden soll und ihr quasi als verdienter Ausgleich eine unsterbliche Existenz im virtuellen Raum von Computern beschert wird.
Transhumanismus N e b e n dem Posthumanismus befasst sich auch der so genannte Transhumanismus mit den Fragen der Grenzen des menschlichen Lebens. Pragmatischer als im Posthumanismus wird hier über konkrete technische Maßnahmen aus der Nanotechnik, den Neurowissenschaften, der Pharmazie und der Kybernetik zur Erweiterung (enhancement) aller mentalen und physischen Fähigkeiten des Menschen diskutiert. Der Transhumanismus bleibt letztlich anthropozentrisch, da nicht eine Ablösung des Menschen durch künstliche Lebensformen angestrebt wird, sondern eine Verschmelzung mit der Technik - man könnte hier von der Cyborgisierung des Menschen reden. Bereits in den 1 9 7 0 e r Jahren hatten z w e i amerikanische Autoren, R o b e r t C . W . Ettinger (* 1 9 1 8 ) und der kalifornische Futurist Fereidoun M . Esfandiary ( 1 9 3 0 - 2 0 0 0 ) , die G r u n d z ü g e des späteren Trans-
20
Ebd., S . 128f.
21 Vgl. K u r z w e i l 1 9 9 9 , S .
158-168.
22
Vgl. K u r z w e i l 2 0 0 5 , S. 2 1 - 3 3 .
23
Vgl. K u r z w e i l 1 9 9 9 , S . 2ff.
223
Die Vervollkommnung des Menschen
humanismus s k i z z i e r t . Esfandiary, der sich ab 1 9 8 9 als Ausdruck seiner futuristischen Gesinnung nur noch F M - 2 0 3 0 nannte, entwarf in seinen nachfolgenden Monographien Optimism Radicalism
( 1 9 7 0 ) und Up-Wingers
One. The
Emerging
( 1 9 7 3 ) eine politisch-technizisti-
sche Utopie, die die Grabenkämpfe zwischen dem linken und rechten politischen Spektrum beenden wollte zugunsten einer technischen Weiterentwicklung der menschlichen S p e z i e s : „Even more profound evolutionary changes are now evident. W e are striving to deanimalize our species -
d e b i o l o g i z e intelligence -
seinem späteren Essay Are you α franshuman?
deplanetize." 2 4 In
stellt Esfandiary den
Kerngedanken seiner radikalen Fortschrittsutopie noch einmal deutlich heraus: T h e most urgent p r o b l e m facing us i s not s o c i a l — e c o n o m i c -
political.
T h e most p r e s s i n g p r o b l e m f a c i n g us * a l l * e v e r y w h e r e i s death. A l l other human c o n s t r a i n t s a r e derivative. S o l o n g a s there i s death no o n e i s free. S o l o n g a s there i s death w e cannot u p g r a d e the b a s i c quality of life. T h e elimination of death h a s never b e e n on a n y o n e ' s a g e n d a b e c a u s e throughout the a g e s w e w e r e never a b l e to d o a n y t h i n g a b o u t it (...) Immortality i s n o w a q u e s t i o n of w h e n - not if. T h e e l i m i n a t i o n of death w i l l not d o a w a y w i t h p r o b l e m s . It w i l l take a w a y the t r a g e d y in human life. O n c e w e attain i m m o r t a l i t y e v e r y t h i n g w i l l be p o s s i b l e . 2 5
Solange er noch sterben müsse, habe der Mensch nach Ansicht Esfandiarys keine Freiheit, so dass sich alle politischen und sozialen Anstrengungen zunächst und vor allem anderem diesem Problem widmen müssten. S o müsse nun der Körper des Menschen vollkommen neu erschaffen werden (redesign), indem die zufälligen W e r k e der natürlichen Evolution durch die von Vernunft geleitete Schöpfung des Menschen ersetzt werden - denn bisher seien wir nur prehuman, aber das transhumane Zeitalter werde dem Wassermann-Zeitalter folgen. 2 6 Auch Esfandiarys Zeitgenosse, Robert Ettinger, forderte und prophezeite in seinem Buch Man
into Superman
( 1 9 7 2 ) den Anbruch eines
transhumanen Zeitalters. 2 7 Schon seit dem ersten Erscheinen von Kultur sieht Ettinger den Menschen auf dem W e g der Befreiung aus der unintelligenten, natürlichen Evolution und auf dem W e g zum
24
Esfandiary 1 9 8 9 .
25
Ebd.
2 6 Vgl. Esfandiary 1 9 7 3 ; Lavery 1 9 9 2 , S. 76ff. 2 7 Vgl. Ettinger 1 9 8 9 .
superhuman:
224
Oliver
Krüger
O n the level of repair work and prostheses there has indeed been notable success, mostly in recent times. With our eyeglasses, gold inlays and birth control pills we are substantially superhuman; w e have transcended the apparent limitations of our design, without even taking into account our vehicles and other machinery. But the basic design has not been noticeably improved. 28
Ettinger betrachtet es als wissenschaftliches G e b o t , die Fehlerhaftigkeit des Menschen zu überwinden und den Menschen damit neu zu erschaffen: Thus humanity itself is a disease, of which w e must n o w p r o c e e d to cure ourselves (...) To b e born human is an affliction (...) To d o this, it must first b e shown that h o m o sapiens is only a b o t c h e d beginning; w h e n he clearly sees himself as an error, he may not only b e motivated to sculpt himself, but to make at least a f e w swift a n d confident strokes. 29
Denn die Evolution habe den Menschen und all ihre biologischen Schöpfungen mit vielerlei Fehlern ausgestattet - nicht aus Bosheit oder Unvermögen, sondern weil das Entwicklungsprinzip der Evolution einfach nicht an der Hervorbringung der optimalen Lebensformen interessiert sei. Vielmehr steuerten Zufälle und weitreichende Kompromisse mit den jeweiligen Umweltbedingungen das Uberleben und Aussterben der Arten - das Leben entstammt in den W o r t e n Ettingers daher einer „Mülltonne" 3 0 : The purely physical shortcomings of the human animal are legion, a n d w e n e e d only tick off a few, most of them well known. The worst weakness of all, of course, w e share with every other large animal: the susceptibility to degenerative disease, senile debility, a n d death from o l d age. 3 1
Den Ausweg aus dieser Katastrophe der natürlichen Evolution, deren unrühmliches Ergebnis der Mensch sei, erblickt Ettinger zunächst in der Formulierung einer neuen Philosophie, die den W e g zur Verwirklichung eines unsterblichen Übermenschen ebnet:
28 Ebd., S. 3. 29 Ebd., S. 4, S. 8f. 30 Vgl. ebd., S. 13ff. 31 Ebd., S. 14.
Die Vervollkommnung des Menschen
225
It s h o u l d be a m p l y clear by n o w that the i m m o r t a l s u p e r m a n r e p r e s e n t s not just a g o a l , but a w a y of life, a w o r l d - v i e w o n l y p a r t l y c o m p a t i b l e w i t h t o d a y ' s d o m i n a n t i d e o l o g i e s . W e might call this fresh o u t l o o k the n e w m e l i o r i s m , of w h i c h the c r y o n i c s or p e o p l e - f r e e z i n g p r o g r a m i s an important current e l e m e n t . 3 2
Die hauptsächlich von Robert Ettinger in den 1 9 6 0 e r Jahren initiierte Kryonik, die die Leichen von kürzlich Verstorbenen in der Hoffnung auf eine spätere W i e d e r b e l e b u n g in flüssigem Stickstoff tiefgekühlt konserviert, hat für heutige Transhumanisten eine besondere Bedeutung. Denn aus ihrer Sicht bildet die K r y o n i k eine Art „Lebensversicherung" - falls die erhofften Immortalisierungstechniken z u Lebzeiten vielleicht doch noch nicht verfügbar sein sollten. 3 3 Fereidoun Esfandiary und Robert Ettinger formulierten somit bereits in den 1 9 7 0 e r Jahren Z i e l e und W e g e des heutigen Transhumanismus. S o unterschiedlich ihre A n s ä t z e im Detail auch sind, s o fokussieren sie doch beide quasi als Brennpunkt und Motivation ihres Fortschrittsgedankens die menschliche Sterblichkeit. B e i d e Denker haben mit ihren Büchern und Aufsätzen sicherlich großen Anteil an der Verbreitung transhumanistischer Ideen gehabt, jedoch w a r Esfandiary darüber hinaus maßgeblich an der Institutionalisierung der transhumanistischen B e w e g u n g in den Vereinigten Staaten beteiligt, w o er bis heute a l s der g r o ß e Vordenker des Transhumanismus verehrt wird. S o wurde 1 9 9 1 unter M i t w i r k u n g von Esfandiary und dem „Hohepriester des Psychedelic Movement", Timothy Leary ( 1 9 2 0 - 1 9 9 6 ) , in Kalifornien das Extropy
Institute gegründet, das in jährlichen Konferen-
z e n einige hundert der engagiertesten Transhumanisten zusammenfuhrt und über die neuesten Technologien und Pharmazeutika z u r Erweiterung menschlicher Fähigkeiten informiert. 3 4 Etwas später formierte sich unter der Federführung einiger europäischer Transhumanisten die World
Transhumanist
Association,
1998
die nach eigenen Angaben über
mehr a l s 3 0 0 0 M i t g l i e d e r in über hundert Ländern verfügt. 3 5 Darüber hinaus umfasst das Umfeld des Transhumanismus noch weitere Aktivisten, Autoren und Organisationen, die von der Space Age Lobby - die sich für einen „weltraumfähigen" M e n s c h e n einsetzt, über Künstler w i e
32
Ebd., S. 2 4 3 .
33
Z u r Kryonik vgl. Krüger 2 0 0 7 .
34
Die Homepage des Extropy Institute findet sich unter www.extropy.org ( 1 0 . 0 7
2006). 35
2006).
Die Homepage der WTA
findet sich unter www.transhumanism.org
(10.07.
226
O l i v e r Krüger
Stelarc,
der in seinen
Perfomances
Mensch-Maschine-Schnittstellen
präsentiert, bis hin z u m s o genannten C y b e r f e m i n i s m u s reicht, der die U b e r w i n d u n g der b i o l o g i s c h bedingten Geschlechter durch Virtualitätstechniken p r o p a g i e r t . 3 6
D a s neue
Paradies
D a s künftige Leben a l s U n s t e r b l i c h e r im Z e i c h e n der Virtualität s o l l sich nach M e i n u n g der Posthumanisten und T r a n s h u m a n i s t e n jedoch nicht nur durch seine Dauerhaftigkeit a u s z e i c h n e n , s o n d e r n alle Qualitäten a u f w e i s e n , die dem b i o l o g i s c h bedingten M e n s c h e n bisher v e r w e h r t g e b l i e b e n sind. W e i l in der Virtualität alle möglichen W i r k l i c h k e i t e n verfügbar seien, könne sich Frank T i p l e r z u f o l g e jeder M e n s c h s e i n e angenehmste W e l t aussuchen.
Menschen
könnten die G e s t a l t ihres virtuellen
Körpers
nach ihren W ü n s c h e n verändern, o h n e weitere Hilfsmittel durch d a s emulierte U n i v e r s u m reisen und trotzdem w i e a l s b i o l o g i s c h e r M e n s c h kulinarische Erlesenheiten g e n i e ß e n und andere M e n s c h e n berühren und s p ü r e n . 3 7 Ferner könnten M e n s c h e n mit all ihren virtuell w i e d e r erweckten Vor- und N a c h f a h r e n in der simulierten W e l t
zusammen-
treffen und jeder M e n s c h w e r d e in seiner virtuellen E x i s t e n z
nahezu
unendlichen Reichtum b e s i t z e n . 3 8 T i p l e r und auch M a r v i n M i n s k y sprechen auch der M ö g l i c h k e i t , d a s s sich die verschiedenen
Identitäten
im C o m p u t e r s p e i c h e r austauschen könnten und z u einem kollektiven B e w u s s t s e i n v e r s c h m e l z e n w e r d e n , eine hohe W a h r s c h e i n l i c h k e i t z u : „ S o m e future o p t i o n s have never been seen: Imagine a scheme that could review both your and my mentalities, and then compile a new, merged mind b a s e d upon that shared e x p e r i e n c e . " 3 9 Hans
Moravec
Möglichkeit
zu
betont, d a s s die E r l a n g u n g
einer
unendlich
steigerbaren
der
Immortalität
als
Selbstverwirklichung
verstanden w e r d e n müsse. A l l e persönlichen Fähigkeiten ließen sich dann b e l i e b i g und unermesslich v e r b e s s e r n -
man w e r d e s o g a r bes-
ser s i n g e n können a l s jeder heutige O p e r n s t a r und in seiner virtuellen
36
Z u m Transhumanismus vgl. Krüger 2 0 0 4 a , S. 1 2 5 - 1 4 7 .
3 7 Vgl. Tipler 1 9 9 4 , S. 2 4 4 . 38
Vgl. ebd., S. 2 4 1 f., S . 2 6 7 f . ; Tipler 1 9 8 9 , S. 2 4 4 .
39
M a r v i n M i n s k y : " W h y Computer Science is the M o s t Important Thing that has
Happened to the Humanities in 5 , 0 0 0 Years", Öffentliche Vorlesung, N a r a (Japan), 1 5 . 0 5 . 1 9 9 6 . Zitiert nach H a y l e s 1 9 9 9 , S. 2 4 4 f .
227
Die Vervollkommnung des Menschen
Existenz bedeutsame berufliche Erfolge vorzuweisen haben 40 : „And, of course, you are better at your job than even your best ever was -
better than any flesh-and-blood person ever could be." 41 Überdies
wird man auch dem Sexualleben neue Freuden abgewinnen können: „(...) not just sex. N o t even just very good sex. Incredible
sex, without
such penalties as A I D S or unwanted pregnancy or even the wrath of a jealous lover, since all of it takes place in your mind." 4 2 Durch den Vorgang des uploading werde der Mensch nicht nur die Möglichkeit haben, vor seinem physischen Lebensende dem Tod in der virtuellen Unsterblichkeit z u entgehen, sondern er könne auch schon zu Lebzeiten eine unsterbliche Notfallkopie anfertigen lassen, die nach einem unerwarteten Unglücksfall aktiviert wird. 4 3 Hoffnungen auf ein unsterbliches Leben dürfen sich laut Tipler und Moravec alle Menschen machen, die je gelebt haben. Moravec stimmt hier mit Tipler insofern überein, als dass er die Auferstehung der Toten für nichts weiter als ein mathematisches Problem hält. Denn die simple Berechnung und Simulation aller Vergangenheiten, die z u unserer Gegenwart geführt haben, würden es Roboterärzten ermöglichen, auf diese W e i s e mit Hilfe von archäologischen Erkenntnissen und biographischen
Datenfragmenten
alle Toten aufzuerwecken und ihnen ein neues, unsterbliches Leben in der simulierten W e l t eines Computers zu schenken, die für sie absolut real wäre: 4 4 It might be fun to resurrect all the past inhabitants of the earth this w a y and to give them an o p p o r t u n i t y to s h a r e w i t h us in the
(ephemeral)
immortality of t r a n s p l a n t e d minds. R e s u r r e c t i n g o n e s m a l l planet s h o u l d be c h i l d ' s p l a y l o n g b e f o r e our c i v i l i z a t i o n h a s c o l o n i z e d even the first galaxy.45
W e n n auch die von den Posthumanisten in Aussicht gestellte, virtuelle Unsterblichkeit bisweilen als neue Gnosis, als Cybergnosis, interpretiert wurde, so zeigt sich bei genauerer Betrachtung der gänzlich utilitaristische Charakter der posthumanistischen Utopie. Nicht die metaphysisch begründete Überwindung der Körperlichkeit steht für die Posthumanisten im Vordergrund, sondern die unendliche Leistungssteigerung
40
Vgl. Moravec/Pohl 1 9 9 3 , S. 72ff.
41
Ebd., S. 7 6 .
42
Ebd., S. 74; Vgl. auch Tipler 1 9 9 5 , S. 2 5 6 f . ; Kurzweil 1 9 9 9 , S. 1 4 6 - 1 4 9 .
43
Vgl. Moravec 1 9 8 8 , S. 1 0 8 - 1 1 1 .
44
Vgl. ebd., S. 124; Moravec 1 9 9 9 , S. 142, S. 172f.
45
Moravec 1 9 8 8 , S. 124.
228
Oliver Krüger
mit Hilfe eines neuen, virtuellen Körpers, der wandelbar und letztlich auch omnipotent und allwissend ist. Denn nachdem der Mensch und ganz allgemein auch das Leben als nichts mehr als eine Art Informationsverarbeitung definiert wurde, ist vom Standpunkt des Posthumanismus der Bezugspunkt für die Vervollkommnung des Menschen stets die informationsverarbeitende Maschine, der Computer. 46
Die Prometheische
Scham
W i e kann nun die Entstehung der Unsterblichkeitsutopien des Posthumanismus und des Transhumanismus erklärt werden? Lange bevor sich die posthumanische Utopie formierte, entdeckte der Philosoph und Publizist Günther Anders ( 1 9 0 2 - 1 9 9 2 ) bei dem Besuch einer Technikausstellung ein neues Scham-Motiv, das es in der Vergangenheit noch nicht gegeben hatte. In seinem philosophischen Hauptwerk Die Antiquiertheit
des Menschen
ken der prometheischen
( 1 9 5 6 ) führt Anders diesen Gedan-
Scham aus und schildert zunächst, wie der
homo faber im Prozess zunehmender Industrialisierung und Entfremdung von den Produkten der Arbeit seinen S t o l z auf die von ihm nicht mehr persönlich produzierten Geräte verliert, was er am Beispiel der komplexesten Maschine seiner Zeit, der kybernetischen computing machine, illustriert. Günther Anders entfaltet den Gedanken, dass sich der Mensch gegenüber den Geräten, die ihre Qualität als Geschaffenes eingebüßt haben - also einfach „da" sind - aufgrund seiner eigenen „Fehlkonstruktion" unterlegen fühlen wird und Scham über die eigene Minderwertigkeit empfindet: „Dass, w a s Kraft, Tempo, Präzision betrifft, der Mensch seinen Apparaten unterlegen ist; dass auch seine Denkleistungen, verglichen mit denen seiner ,computing machines', schlecht abschneiden, ist ja unbestreitbar." 47 W ä h r e n d der Mensch sich aus der Perspektive dieser Maschinen folglich als schlecht konstruiertes Gerät neben anderen, in vielerlei Hinsicht überlegenen Geräten wahrnehmen muss und sich in einem fehlerhaften Körper seiner Unvollkommenheit ausgesetzt sieht, werden Maschinen im täglichen W e c h s e l immer weiter vervollkommnet: U n d w i r ? U n d unser Leib? N i c h t s v o n täglichem W e c h s e l (...) Er ist morp h o l o g i s c h konstant; m o r a l i s c h g e s p r o c h e n : unfrei, w i d e r s p e n s t i g
und
stur; a u s der Perspektive d e r G e r ä t e g e s e h e n : konservativ, u n p r o g r e s s i v ,
4 6 Vgl. Krüger 2 0 0 4 b . 4 7 Anders 1 9 8 3 , S. 3 2 .
229
Die Vervollkommnung des Menschen
antiquiert, u n r e v i d i e r b a r , ein T o t g e w i c h t im A u f s t i e g der G e r ä t e .
Kurz:
d i e S u b j e k t e v o n Freiheit und U n f r e i h e i t s i n d ausgetauscht. Frei s i n d d i e D i n g e : unfrei ist d e r M e n s c h . 4 8
In der Präsenz eines sich beschleunigenden technischen Fortschrittes ist der den physischen Beschränkungen seines Körpers ausgelieferte Mensch unter dem Paradigma der Maschine antiquiert, obsolet - er ist der Saboteur seiner eigenen Leistungen. Um sich nicht mit all seiner Inferiorität und Zurückgebliebenheit abfinden und die „Sturheit des Leibes" akzeptieren z u müssen, begibt sich der Mensch auf den vielversprechenden W e g des Human Engineering
und wechselt damit in das
Reich des Hybriden und Artifiziellen hinüber: „Absicht der Experimente ist es, die Physis, die (außer für M a g i e und M e d i z i n ) stets als ,fatum' gegolten hatte, einer Metamorphose z u unterwerfen; sie ihrer Fatalität z u ,entkleiden' - und das bedeutet zugleich (...), ihr alles Fatale, alles Beschämende z u nehmen." 49 Im Anschluss an Günther Anders und Hannah Arendt fügt der Philosoph Johannes Rohbeck neuerdings den drei Kränkungen des Menschen durch die Wissenschaft, die seinerzeit Sigmund Freud beschrieben hatte, eine vierte hinzu. Freud sprach von der kosmologischen Kränkung
(Kopernikus),
der
biologischen
Kränkung
(Darwin)
und
von der psychologischen Kränkung (Psychoanalyse), die jeweils das menschliche Selbstbewusstsein erschüttern sollten: Ich meine, man könnte d i e s e n
Kränkungen
noch e i n e vierte
hinzufü-
g e n : d i e t e c h n o l o g i s c h e K r ä n k u n g der M e n s c h h e i t . In ihr e r f a h r e n die M e n s c h e n , d a s s s i e nicht mehr H e r r ihrer e i g e n e n S c h ö p f u n g e n s i n d , s o n d e r n von d e n s e l b s t g e s c h a f f e n e n
Machwerken
beherrscht
wer-
den. W i e d e r Z a u b e r l e h r l i n g h a b e n s i e e t w a s hergestellt, d a s nun e i n e eigene Dynamik entwickelt.50
Der Mensch ist den Maschinen jedoch nicht nur aufgrund seiner „morphologischen
Präformiertheit"
unterlegen, denn „obwohl sturer
als
seine Produkte, ist der Mensch nämlich auch kurzlebiger, sterblicher als diese." 5 1 Der einzelne Mensch sieht sich mit der quasi unsterblichen Serienexistenz der industriell gefertigten Produkte und ihren Modellen konfrontiert: Ist das einzelne Stück „nicht ,ewig' geworden durch seine
48
Ebd., S. 3 3 .
49
Ebd., S. 3 8 .
50
Rohbeck 1 9 9 3 , S. 10.
5 1 Anders 1 9 8 3 , S. 5 0 .
230
Oliver Krüger
E r s e t z b a r k e i t , a l s o durch d i e R e p r o d u k t i o n s t e c h n i k ? T o d , w o ist d e i n S t a c h e l ? " 5 2 D i e s e r z w e i t e n I n f e r i o r i t ä t v e r s u c h t d e r M e n s c h nun durch d i e von A n d e r s b e z e i c h n e t e I k o n o m a n i e z u e n t g e h e n , i n d e m er sich in F o t o s , Filmen, F e r n s e h p h a n t o m e n und Plakaten v e r v i e l f a c h t :
Unter den Gründen, die für diese zutreffend beschriebene hypertrophische Bildproduktion verantwortlich z u machen sind, ist eine der wichtigsten, dass sich der Mensch durch Bilder die Chance erobern konnte, „spare-pieces" von sich selbst z u schaffen; also seine unerträgliche Einmaligkeit Lügen z u strafen (...) Nicht nur gleichverbreitet sind sie [Filmstars und Serienprodukte, d. Verf.], sie haben auch auf gleiche W e i s e ihre Sterblichkeit überwunden: Beide können sich ja nach ihrem Tode in ihren Reproduktionen weiterbewähren. 5 3
D i e prometheische
Scham
bestimmt G ü n t h e r A n d e r s a l s d i e E i n s i c h t in
d i e D e s o r i e n t i e r t h e i t u n d V e r z w e i f l u n g d e r sich a l s b e g r e n z t e r k e n n e n d e n F r e i h e i t und I n d i v i d u a t i o n d e s M e n s c h e n , d e r sich nun s e i n e r H i l f l o s i g k e i t und s e i n e s V e r s a g e n s b e w u s s t w i r d : „ , S i c h s c h ä m e n ' bedeutet a l s o : nichts dagegen
tun können,
dass
man nichts dafür
kann."54
Damit
b e g r e i f t er d i e p r o m e t h e i s c h e S c h a m nicht a l s M e t a p h e r , s o n d e r n a l s t a t s ä c h l i c h e s S c h a m e r l e b n i s in u n s e r e r W e l t d e r M a s c h i n e n :
W e m es niemals zugestoßen ist, dass er den fälligen Griff an der Maschine verfehlte und dem wortlos weiterwandernden
Fließbande
ungläubig nachblickte (...) wessen Blick niemals befremdet auf seine Hände fiel, auf diese tölpelhaften, deren Obsoletheit und unverbesserliche Inkompetenz seinen Fall verschuldet hatte - der w e i ß nicht, welche Scham die Scham von heute ist, welche Scham heute täglich tausende M a l e ausbricht. 55
In d e r V e r g a n g e n h e i t g a b e s e i n i g e k u l t u r t h e o r e t i s c h e V e r s u c h e ,
die
zunehmende
des
Menschen
rationale
Disziplinierung
im Z i v i l i s a t i o n s p r o z e s s
und V e r h a l t e n s s t e u e r u n g
in V e r b i n d u n g
zu
setzen
mit
der
I d e e d e r M a s c h i n e . Im A n s c h l u s s an N o r b e r t E l i a s s e h e n Peter G e n d o l l a u n d W o l f g a n g S c h i v e l b u s c h z u r Z e i t d e r A u f k l ä r u n g h i e r i n ein Ideal der Rationalisierung gesellschaftlichen Verhaltens, die E l i a s
so
e i n d r ü c k l i c h b e s c h r i e b e n hatte. In e i n e r sich i m m e r w e i t e r a u s d i f f e r e n -
5 2 Ebd., S. 51. 5 3 Ebd., S. 57. Vgl. hierzu ebd., S. 5 0 - 6 4 . 5 4 Ebd., S. 70. Vgl. hierzu ebd., S. 6 4 - 9 5 . 5 5 Ebd., S. 95.
Die Vervollkommnung des Menschen
231
z i e r e n d e n Gesellschaft verkörpert die M a s c h i n e das Ideal eines mit steigender Komplexität notwendig immer exakter werdenden Ineinandergreifens aller Einzelteile und veranschaulicht damit die N o t w e n d i g keit der Rationalität von individuellen und kollektiven Verhaltensregeln im gesellschaftlichen Leben. 5 6 Der Vergleich des M e n s c h e n mit den
informationsverarbeitenden
Maschinen, den der Posthumanismus vornimmt, geht heute jedoch weit über die Orientierung an der Regelhaftigkeit der M a s c h i n e
hinaus,
denn der Computer w i r d z u r Projektionsfläche aller Ideale des kontingenten menschlichen Lebens, vor allem der Aufhebung seiner Sterblichkeit. Schenkt man den Visionen T i p l e r s und M o r a v e c s Glauben, so w i r d der M e n s c h nun bald a l s ein unvergängliches Programm Teil einer informationsverarbeitenden M a s c h i n e sein — unsterblich und posthuman. Diesen fortschreitenden P r o z e s s der Gleichschaltung des M e n schen mit den Anforderungen der Geräte interpretierte bereits Günther A n d e r s a l s die „Initiationsriten des Roboterzeitalters", die die Menschheit über das Stadium ihrer im Angesicht der erwachsenen
Geräte
a l s Kindheit empfundenen Phase hinausbringen sollen: „Aber wenn als .erwachsen' die Geräte gelten, dann bedeutet ,die Kindheit hinter sich bringen' und . E r z i e h u n g des Menschengeschlechts' soviel wie: ,das M e n s c h - S e i n hinter sich b r i n g e n ' . " 5 7
Literatur Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen,
Bd. 1: Über die Seele
des Menschen im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 61983.
John D. Barrow/Frank Tipler, The Anthropic Cosmological
Principle, Oxford/
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Soziogenetische
und psycho-
genetische Untersuchungen, zweiter Band: Wandlungen der
Gesellschaft,
Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation,
Frankfurt a.M. 1997.
Fereidoun M. Esfandiary, Optimism One. The Emerging Radicalism, N e w York 1970. Ders., Up-Wingers,
New York 1973.
Ders., „Are you α Transhuman?" (1989), Essay in Auszügen publiziert unter: www.aleph.se/Trans/intro/transhuman.txt ( 1 0 . 0 7 . 2 0 0 6 )
56 Vgl. Elias 1997, S. 3 2 3 - 4 6 5 ; Gendolla 1992, S. 16-29, S. 5 2 - 5 9 ; Schivelbusch 1977, S. 149-173. 5 7 Anders 1983, S. 41.
232
Oliver Krüger
Robert C. Ettinger, M a n into Superman, N e w York 1 9 8 9 . Peter Gendolla, Anatomien der Puppe. Zur Geschichte des schen bei Jean Paul, Ε. T. A. Hoffmann,
Villiers
MaschinenMen-
de I'lsle-Adam
und Hans
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Die Visionen des
Posthumanismus,
Freiburg 2 0 0 4 a . Ders., „Gnosis im Cyberspace? Die Körperutopien des Posthumanismus", in: Utopische Körper. Visionen künftiger Körper in Geschichte, Kunst und Gesellschaft, hg. von Kristiane Hasselmann, Sandra Schmidt und Cornelia Zumbusch, Paderborn 2 0 0 4 b , S. 1 3 1 - 1 4 6 . Ders., „Die Aufhebung des Todes. Die Utopie der Kryonik im Kontext der amerikanischen Bestattungskultur", in: Die neue Sichtbarkeit des Todes, hg. von Thomas Macho und Kristin Marek, Paderborn 2 0 0 7 . Raymond Kurzweil, The Age of Spiritual Machines:
When Computers
Exceed
Human Intelligence, N e w York 1 9 9 9 . Ders., The Singularity
is Near.
When Humans Transcend Biology,
N e w York
2005. David Lavery, Late for the Sky: The Mentality
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Intelligence,
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16
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Condition:
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Urteilskraft.
Zu
einer
Ethik technischen
Frankfurt a.M. 1 9 9 3 .
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Frank Tipler, „The Omega Point as Eschaton. Answers to Pannenberg's Questions for Scientists", in: Zygon 2 4 ( 1 9 8 9 ) , S. 2 1 7 - 2 5 3 . Ders., The Physics of Immortality. Modern
Cosmology,
God and the Resurec-
tion of the Dead, N e w York 1 9 9 5 . M a x Weber, „Zwischenbetrachtung. Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung", in: Gesammelte Aufsätze zur Bd. 1, Tübingen ' 1 9 8 8 , S. 5 3 6 - 5 7 3 .
Religionssoziologie,
CHRISTOPH
DER T O D
MARKSCHIES
IM
JENSEITS
Wie bereiten uns Religion und Theologie
Die
Frage, wie
Religion
und Theologie
auf den Tod vor?
auf den Tod
vorbereiten,
scheint auf den ersten Blick äußerst trivial. „Lasst euch nicht verführen! / Es gibt keine Wiederkehr. / schon Nachtwind spüren: /
Der Tag steht in den Türen; /
Ihr könnt
Es kommt kein Morgen mehr". Liest man
Bert Brechts berühmtes Gedicht „Gegen Verführung" aus seiner Hauspostille, mit dem man nach Meinung des Autors übrigens jede Lektüre der Hauspostille beginnen soll, scheint die Antwort auf solche Fragen klar und ist allenfalls die Bewertung der Antwort strittig. Brecht warnt im Schlusskapitel der Hauspostille seine Leser mit den alten Kampfbegriffen der marxistischen Religionskritik davor, sich durch religiöse Hoffnungen auf Wiederkehr, auf den angeblich kommenden Morgen verführen zu lassen. G a n z selbstverständlich geht er davon aus, dass in eben solcher Hoffnung die verführerische Pointe von Religion und Theologie besteht. „Lasst euch nicht vertrösten! Ihr habt nicht zuviel Zeit! Lasst Moder den Erlösten! Das Leben ist am größten: Es steht nicht mehr bereit". Das Bild, das, jedenfalls nach Brecht, Religion und Theologie vom Tod zeichnen, ist ebenso klar wie jenes Gegenbild, das Brecht mit seinen wunderbar nüchternen Zeilen dagegensetzen will: Religion und Theologie vertuschen die harte Wirklichkeit des Todes, wenn sie die Menschen aufs Jenseits vertrösten, obwohl doch die erlöste Schar in Wahrheit genauso vermodern wird wie die Atheisten auch: „Ihr sterbt mit allen Tieren. Und es kommt nichts nachher". Z u dieser Form von Religionskritik hat von Anfang an immer auch die psychologische Erklärung für eine solche Negation der Realität des Todes durch die Hoffnung auf ein Jenseits gehört. Und es ist wahrscheinlich vergleichsweise egal, ob man - wie Bronistaw Malinowski 1 - explizit davon spricht, dass Religion notwendig war und ist, „um die niederschmetternde, lähmende Vorahnung von Tod, Unheil und Schicksal z u überwinden", oder das wie Hermann Lübbe als „Kontigenzbewältigungspraxis" sprachlich ein wenig stärker maskiert. Auf den ersten Blick scheint, wie gesagt, nur ein Wertungsproblem vorzuliegen, während die Phänomene an sich unstrittig sind: Religion befriedigt -
um nochmals Malinowski zu paraphrasieren -
basale Si-
1 F. Stolz, Art. „Bronistaw Kaspar Malinowski ( 1 8 8 4 - 1 9 4 2 ) " , in: A. Michaels (Hg.), Klassiker
der Religionswissenschall,
München 1997.
234
Christoph M a r k s c h i e s
cherheitsbedürfnisse des Menschen dadurch, dass sie die ebenso unabweisbare wie harte Zäsur des Todes überspielt, in Gestalt von Theologie sogar systematisch überspielt. Brecht fordert seine Leser dazu auf, das Leben „in vollen Zügen" zu schlürfen (nicht etwa nur: zu genießen); die religiösen Texte vertrösten für solche Freuden des Genusses auf ein Jenseits, auf das Schlaraffenland des Paradieses, und kritisieren die Menschen, die sich schon zu Lebzeiten Genüsse leisten. W e n n ich die Situation so zeichne, wird schon aus der Situationsschilderung deutlich, dass ich karikiere, um in dieses allzu s c h w a r z / w e i ß angelegte Bild noch einige Farbtöne zu bringen. Ich tue das in drei Schritten und beginne mit einem ersten kleinen Abschnitt bei der hebräischen Bibel, die den Juden als Heilige Schrift und den Christen als Altes Testament dient. Kann man wirklich sagen, dass das antike Judentum die bittere Realität des Todes so vertuscht hat, wie das die Religionskritik des 19. Jahrhunderts und ihre Erben annahmen? In einem zweiten kurzen Abschnitt frage ich, ob und inwiefern die allmähliche Christianisierung der antiken Gesellschaft in der Spätantike die Einstellung zum Tod veränderte, und in einem dritten Abschnitt diskutierte ich — ebenfalls kurz - ob die europäische Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert eine solche Veränderung der Einstellungen zum Tod bewirkte. Vielleicht sind Sie enttäuscht darüber, dass der Historiker bei einer Veranstaltung über die Bedeutung des Todes in der Gegenwart über scheinbar so lang vergangene Zeiten redet. Aber Sie ahnen, dass ich die vergleichsweise schlichte These vertrete, dass sich für alle die historischen Formen religiöser und theologischer Vorbereitung auf den Tod, die ich Ihnen gleich vorführen werde, selbstverständlich gegenwärtige Parallelen finden lassen, ja mehr: dass sie auf der Hand liegen. Und so dienen meine Exkurse in die Vergangenheit dazu, eine einlinige Wahrnehmung von Religion in der Gegenwart z u vermeiden. Soweit die Vorbemerkung. Es folgen die drei kurzen Abschnitte.
„Denn es geht dem Menschen Perspektiven
der hebräischen
wie dem Vieh"
-
Bibel auf den Tod
Die meisten Menschen sind ziemlich verwundert, wenn man ihnen klarmacht, dass Brechts S a t z „Ihr sterbt mit allen Tieren. Und es kommt nichts nachher" praktisch einem Zitat aus der hebräischen Bibel, dem Alten Testament der Christenheit, entspricht. Im Prediger Salomo, dem Buch Kohelet, das man gern in die Ptolemäerzeit datiert 2 , heißt es:
2
L. Schwienhorst-Schönberger, Art. „Predigerbuch", in: Religion in Geschichte
Gegenwart
(RGG), Tübingen 2 0 0 3 , Bd. VI, Sp.
1579-1583.
und
235
Der T o d im Jenseits
„Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh; denn es ist alles eitel" (3,19). Und diese Stimme ist keineswegs eine isolierte Einzelstimme eines resignierten Menschen aus der Oberschicht und ein Teil sperriger Theologie eines Buches, das im Judentum wie im Christentum nur schwer den W e g in den Kanon heiliger Schriften fand, sondern spricht nur aus, was bis zum dritten vorchristlichen Jahrhundert der weitgehende Konsens war. Der Mensch stirbt wie alles Vieh, aber als frommer Israelii braucht er sich vor diesem Tod ebensowenig z u fürchten wie sich der babylonische Held Gilgamesch im gleichnamigen Epos fürchten muss: „Vorwärts, keine Furcht. Und sterb' ich, schuf ich doch mir einen N a m e n " 3 . In den ältesten Schichten des Alten Testamentes wie im Gilgamesch-Epos wird deutlich, dass der Mensch nach Ansicht damaliger Frommer sterblich geschaffen ist, wie eben das Vieh auch. Nach den ältesten Schichten der Bibel bringt der Sündenfall den Menschen gar nicht um ein ursprünglich ewiges Leben, wie später in der christlichen Mehrheitsinterpretation der Geschichte im ersten Buch M o s e gedeutet wird, sondern bewirkt nur, dass er sich nun vor dem Tod fürchtet. Die älteste Form jüdischen Glaubens tröstet daher angesichts des Todes auch nicht, indem sie auf das Jenseits vertröstet, sondern mahnt den Menschen, sich seines Lebens z u freuen, vielleicht am deutlichsten ausgedrückt mit einer Parole, die im Buch des Propheten Jesaja kritsch zitiert wird: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot" (22,13). Und so findet man im Alten Testament immer wieder W o r t e , die - ähnlich wie Brecht -
in radikaler W e i s e
die Unausweichlichkeit des Todes aussagen. M i t den W o r t e n
„Wir
werden gewiss sterben und sind wie das W a s s e r , das zur Erde gegossen nicht wieder aufgesammelt werden kann" leitet eine Frau ihre Bemerkungen ein, mit denen sie den König David dazu ermahnt, z u handeln, solange es noch Zeit ist (2Sam 14,14). Oder: „Kurz und ärmlich ist unser Leben und am Ende gibt es für den Menschen keine Medizin, auch ist kein Befreier aus dem Hades bekannt" (Weisheit 2 , 1 - 5 ) . Es bleibt dem frommen Beter nur, seinen Gott z u bitten, dass er - wie es im Psalm heißt - nicht weggerafft wird „in der Hälfte meiner Tage" (Ps 1 0 2 , 2 5 ) , vielmehr „alt und lebenssatt" stirbt. Erlösung vom Todesschicksal gibt es hier ebensowenig wie Vertröstung auf ein Jenseits. Ich möchte nun nicht in ein religionswissenschaftliches Kolleg abgleiten und daher auch nicht nachzeichnen, wie sich seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert diese Position des Judentums zum Tod wandelte und wie sich langsam eine Hoffnung auf ein Leben nach dem
3
O . K a i s e r / E . lohse, Tod und Leben, Stuttgart 1977, S . 19.
236
Christoph Markschies
T o d e konkretisierte. W i c h t i g ist a b e r d e r H i n w e i s , dass m a n a u c h hier nur sehr e i n g e s c h r ä n k t v o n Vertröstung s p r e c h e n kann, d a sich z u s a m m e n mit d e r H o f f n u n g auf ein n e u e s L e b e n a u c h d i e Vorstellung e i n e r B e w ä h r u n g im G e r i c h t a u s b i l d e t , d i e zur e w i g e n B i n d u n g d e r e r führt, d i e sich nicht b e w ä h r t h a b e n (vgl. 1 H e n 2 2 , 1 1 4 ) . In e i n e m d e r frühesten Texte aus d e m H e n o c h - B u c h f i n d e t sich d i e s c h r e c k l i c h e Phantasie, d a s s d i e in E w i g k e i t v e r f l u c h t e n S ü n d e r im H i n n o m - T a l vor d e n Toren Jerusalems v e r s a m m e l t w e r d e n , um d u r c h ihre M a r t e r n d e n F r o m m e n als e w i g e s S c h a u s p i e l g ö t t l i c h e r G e r e c h t i g k e i t z u d i e n e n (1 H e n 2 6 , 4 2 7 , 5 ) . Dieses S z e n a r i o führt uns z u e i n e m z w e i t e n A b s c h n i t t ü b e r d i e C h r i s t i a n i s i e r u n g d e r G e s e l l s c h a f t in d e r S p ä t a n t i k e .
„Kein
Toter wird von hier zu neuem Leben erweckt" Perspektiven auf den Tod
- zwei
spätantike
Ένθεϋθεν ο υ δ ε ί ς ά π ο θ α ν ώ ν Εγείρεται, „kein Toter w i r d v o n hier z u n e u e m Leben e r w e c k t " kann m a n auf e i n e r g e r a h m t e n Platte in Rom lesen, d i e aus d e m dritten n a c h c h r i s t l i c h e n J a h r h u n d e r t stammt, 5 u n d sich f r a g e n , o b hier nicht s c h o n g e g e n d a s a u f s t e i g e n d e Christentum p o l e m i s i e r t w i r d , a l l z u ä h n l i c h sind d i e F o r m u l i e r u n g e n , v e r s c h i e d e n nur d i e W e r t u n g e n . V o r h e r heißt es in d e m E p i g r a m m : „ L e b e so, w i e Du l e b e n möchtest. D e n n hier unten kannst Du kein Feuer a n z ü n d e n u n d k e i n e s c h ö n e M a h l z e i t halten", u n d g e m e i n t ist d a m i t o f f e n b a r e b e n d e r M o d e r , ü b e r d e n a u c h Brecht spricht. M a n hat nicht d e n Eindruck, d a s s in d e n r ö m i s c h e n Kreisen, d i e d i e s e Inschrift setzten, d i e christlic h e H o f f n u n g auf d a s e s c h a t o l o g i s c h e M a h l d e r erlösten Frommen mit G o t t im Licht seiner Herrlichkeit i r g e n d e i n e Ü b e r z e u g u n g s k r a f t b e s a ß . N u n w i r d es in e i n e r Situation a l l m ä h l i c h e r C h r i s t i a n i s i e r u n g - w i e in d e r g e g e n w ä r t i g e n Situation d e r D e c h r i s t i a n i s i e r u n g - nicht w i r k l i c h erstaunen, dass nicht a l l e M e n s c h e n christlicher E s c h a t o l o g i e e t w a s a b g e w i n n e n k ö n n e n . S p a n n e n d e r ist d a g e g e n vielleicht d i e ü b e r r a s c h e n d e B e o b a c h t u n g , d a s s es d u r c h a u s christliche Parallelen z u d e r zitierten inschriftlichen Ä u ß e r u n g gibt. Der n o r d a f r i k a n i s c h e Bischof A u g u s t i n u s verfasste, als ihn ein süditalischer Bischof im Jahre 4 2 1 o d e r 4 2 2 brieflich z u m Sinn eines christlichen Toten- u n d G r a b k u l t e s b e f r a g t e , e i n e Schrift mit d e m Titel „ D i e
4 Zitiert n a c h O . Kaiser, D e r G o t t des Alten Testaments, B d . III, G ö t t i n g e n
2003,
S. 3 1 5 ( Ü b e r s e t z u n g W a c k e r ) . 5 W . Peek, Griechische 2130).
Grabgedichte,
Berlin 1 9 6 0 , N r . 4 8 0 , S. 2 8 8 ( - I G XIV
237
Der T o d im Jenseits
S o r g e für die Toten" (Cura p r o mortuis
gerenda).
U n d auch in dieser
Schrift w i r d die Position, d a s s kein M e n s c h aus dem G r a b aufersteht, vertreten - allerdings mit einem gänzlich anderen Hintergrund. W ä h rend der skeptische H e i d e offenbar meint, d a s s der Begrabene im G r a b vermodert und damit alles gesagt ist, geht Augustinus von derselben Voraussetzung aus, nimmt allerdings z u s ä t z l i c h an, d a s s beim Endgericht den Auferweckten ohnehin ihr Leib neu geschaffen und damit neu geschenkt wird. Daher ist es für den Bischof s o g a r gleichgültig, ob die sterblichen Überreste eines M e n s c h e n überhaupt bestattet werden, jedenfalls — um p r ä z i s e z u reden -
ist es für den Toten und
sein e w i g e s Leben völlig unerheblich, ob er bestattet wird. Am B e i s p i e l der von Goten 4 1 2 n.Chr. ermordeten Römer macht er drastisch deutlich, d a s s „die Erde z w a r viele Leichen von Christen nicht z u d e c k e n " durfte, „aber keinen von ihnen hat jemand je dem Himmel und der Erde entziehen können" (2,4). „Die Christen", schreibt Augustinus, „haben die Verheißung einer Erneuerung des Fleisches und aller G l i e d e r nicht nur aus der Erde, sondern aus dem geheimen S c h o ß der anderen Elemente, in die sich die z e r f a l l e n e n Leichname aufgelöst haben" (ebd.). Der Bischof hat sich a l s o durchaus eine S p u r der nüchternen Einstellung der alten H e b r ä e r z u m T o d bis in das antike Christentum erhalten: D a s s der T o d die M e n s c h e n vermodern lässt, bestreitet auch Augustinus nicht. Er leugnet es auch nicht, um die Schrecken des T o d e s z u bagatellisieren. Interessanterweise lehnt Augustinus trotz solcher Ansichten einen bescheidenen christlichen Totenkult dennoch nicht ab. Er nimmt d a s drastische Schicksal der Toten z u vermodern allerdings auch nicht als A n l a s s für ein christliches memento mori oder a l s einen um so deutlicheren H i n w e i s auf die Herrlichkeit des paradiesischen Leibes. Vielmehr rechtfertigt er im Fortgang seiner erwähnten Schrift einen bescheidenen christlichen Totenkult als Trost für die A n g e h ö r i g e n mit g a n z und gar vorchristlichen Argumenten. Der Bischof erklärt zunächst: „Daher sind alle diese Dinge w i e die S o r g e um die Aufbahrung, die Gestaltung des B e g r ä b n i s s e s und der Prunk des Totengeleites mehr ein Trost für die Hinterbliebenen als eine Hilfe für die Toten" (2,4). Dann führt er aus, d a s s Grabstätten Gedächtnisstätten (memoriae) für die Toten ( 4 , 6 ) und M a h n m a l e (monumenfa) sind, „damit sie nicht durch Vergessenheit auch den H e r z e n entzogen w e r d e n " (ebd.). Die Hinterbliebenen werden von Augustinus also gerade nicht mit einer Hoffnung aufs Jenseits getröstet, in dem sie dermaleinst ihre verstorbenen Lieben Wiedersehen werden, sondern auf den christlichen Friedhof gewiesen, der ebenso w i e das heidnische Heldengedenken die memoria
der
Verstorbenen im irdischen Leben lebendig halten soll. Der Bischof for-
238
Christoph Markschies
muliert e i n e n e b e n s o trivialen w i e utilitaristischen S a t z : W e r a n d e r e M e n s c h e n b e e r d i g t , kann hoffen, d a s s a u c h er dereinst b e e r d i g t w i r d (9,11). Ein w e n i g u n v e r b u n d e n steht n e b e n s o l c h e n t r a d i t i o n e l l e n pag a n e n A r g u m e n t a t i o n e n d i e A u f f o r d e r u n g , für d i e S e e l e n d e r Toten Fürbitte zu halten - e i n e g a n z a n d e r e Form d e r memoria, d i e nicht recht z u m irdischen W i e d e r v e r g e g e n w ä r t i g e n d e r Toten p a s s e n will. U n d i r g e n d w e l c h e n T h e o r i e n ü b e r d a s Schicksal v o n M e n s c h e n n a c h ihrem T o d e u n d vor ihrer A u f e r w e c k u n g im E n d g e r i c h t v e r w e i g e r t sich d e r Bischof schließlich g a n z : „ D a m a g j e d e r g l a u b e n , w a s er w i l l " ( 1 3 , 1 6 ) . Er trägt äußerst z ö g e r l i c h seine e i g e n e Ansicht vor, d a s s sich d i e V e r s t o r b e n e n in e i n e m Z w i s c h e n z u s t a n d , g e n a u e r an e i n e m O r t d e r Ruhe, b e f i n d e n ( 1 3 , 1 6 ) . M i t d e m Jenseits w e r d e n hier a l s o d i e L e b e n d e n g e w i s s nicht getröstet, s o n d e r n allenfalls mit d e r Aussicht auf ein a n s t ä n d i g e s B e g r ä b n i s auf d e m Friedhof als e i n e m O r t christlichen Lebens v e r w i e s e n . Der j e n s e i t i g e O r t , a n d e m m a n v o n a l l e n irdischen S o r g e n ausruht, w i r d nur eingeführt, d a m i t m a n sich als L e b e n d e r nicht vor d e m Z o r n schlecht o d e r g a r nicht bestatteter Toter fürchtet. O h n e viel Federlesens s p r i n g e n wir, w i e a n g e k ü n d i g t , für e i n e n kurz e n dritten A b s c h n i t t in d a s 16. J a h r h u n d e r t .
„ A b e r d e r enge Gang des Todes macht, dass uns dies Leben weit und jenes enge dünkt" — ein besonderes Stück spätmittelalterlicher ars moriendi-Literatur 1 5 1 9 schrieb d e r nun s c h o n e t w a s p r o m i n e n t e r g e w o r d e n e W i t t e n b e r g e r Professor für B i b e l a u s l e g u n g , d e r Augustinereremit M a r t i n Luther, e i n e n „ S e r m o n v o n d e r Bereitung z u m S t e r b e n " , auf d e n ersten Blick ein Stück d e r im M i t t e l a l t e r w e i t verbreiteten ars moriendi-Literatur. G l e i c h w o h l liegt kein E x e m p l a r dieser G a t t u n g vor, d i e mit Exhortationes, Interrogationes, Orationes u n d Observationes ( A n w e i s u n g e n für d e n Sterbeb e g l e i t e r ) in Text u n d Bild für d e n e i g e n e n T o d p r ä p a r i e r t e . 6 W ä h r e n d e i n e d e u t s c h e U b e r s e t z u n g d e s b e k a n n t e n B l o c k b u c h s Speculum artis bene moriendi v o n 1 4 7 0 in n e u h o c h d e u t s c h e r Fassung b e g i n n t : „Aller e r s c h r ö c k l i c h e n D i n g e d e r T o d d e s Leibes ist d e r erschröcklichst, d o c h so ist er d e m Tod d e r S e e l e in keiner W e i s e z u v e r g l e i c h e n " , w i r d a m B e g i n n v o n Luthers Text viel tröstlicher v o n e i n e m A b s c h i e d g e s p r o c h e n , d e n es z u gestalten u n d v o r z u b e r e i t e n gilt ( W A 2, 6 8 5 ) . Der T o d w i r d als e n g e Pforte, „ d e r s c h m a l e Steig z u m Leben" b e z e i c h n e t u n d es w i r d 6 W . P. Gerritsen, Art. „Ars m o r i e n d i " , Lexikon d e s M i t t e l a l t e r s ( L e x M A ) I, Zürich 1 9 8 0 , S. 1 0 4 0 .
Der Tod im Jenseits
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dazu aufgefordert, „fröhlich z u erwägen", dass es da zugehe „gleichwie ein Kind aus der kleinen Wohnung seiner Mutter Leib mit Gefahr und Ängsten geboren wird in diesen weiten Himmel und Erden, das ist diese Welt. Also geht der Mensch durch die enge Pforten des Tods aus diesem Leben". Diejenigen, die das eindrückliche Buch gelesen haben, das der ungarische Schriftsteller Peter N ö d a s über seinen Herzinfarkt geschrieben hat,7 werden wissen, dass das Motiv der Neugeburt im Tod den Zusammenbruch traditionellen Christentums und christlichen Gottesglaubens in diesem Buch (oder soll ich sagen: in diesem Tod?) überlebt, ebenso überlebt wie der Piatonismus, in dessen Rahmen der Autor seine Nahtod-Erfahrungen expliziert. Luther nimmt den Hinweis auf die Geburt weniger ontologisch als Nödas: W i e die Mutter sich bei der Geburt ängstige und sich daran nicht mehr erinnere, wenn das Kind geboren sei, so „muss man sich auch im Sterben der Angst erwehren und wissen, dass danach ein großer Raum und Freud sein wird" ( 6 8 6 ) . Und noch deutlicher: „Der Tod wird groß und schrecklich dadurch, dass die blöde, verzagte Natur dasselb Bild z u tief in sich bildet, zu sehr vor Augen hat" ( 6 8 7 ) . Todespädagogik ist für Luther zunächst einmal Umkonditionierung der Einbildungskraft, und das meint er ganz konkret: M a n soll im Umfeld des eigenen Todes „das grässlich Gebärd und Bild des Todes" nicht allzu oft betrachten, weil man sonst „bekümmert, weich und zaghaft" wird. „Am Tod, da sollen wir nur das Leben, Gnad und Seligkeit vor Augen haben" - und das meint nach Luther: auf den gekreuzigten Christus schauen ( 6 8 7 ) . Das alles ist natürlich auch Theologie, gewiss, aber es ist zunächst einmal ein Traktat über die Macht der Todesbilder und die Kraft der Lebensbilder. Luther warnt nicht vor der Einbildungskraft der Todesbilder, weil er die Macht des Todes unterschätzt; nein, er warnt vor den Bildern des Todes, weil er die reale Macht des Todes nur z u gut kennt. Auch er steht in der Tradition der nüchtern-realistischen W o r t e aus dem Alten Testament, selbst wenn er am Abend des Lebens mit Bildern eines kommenden Morgens trösten will. Und eine ausführlichere Lektüre dieses Textes könnte auch zeigen, dass die Umkonditionierung im Detail weitgehend noch mit ganz traditionell katholischen Mitteln, den Sterbesakramenten und den W o r t e n des Priesters, erfolgt. Der Blick weg vom bösen Tod auf den gekreuzigten Christus ist auch kein reformatorischer Einfall, sondern ein Erbe monastischer, spezifischer der zisterziensischen Frömmigkeit beispielsweise eines Bernhard von Clairvaux. Soweit meine drei historischen Miniaturen. M i r scheint eine Konsequenz dieser Miniaturen, dass man sich zuallererst davor hüten muss, 7 P. Nädas, Der eigene Tod, Göttingen 2 0 0 2 , S. 2 2 5 .
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Christoph M a r k s c h i e s
die vielfältigen Funktionen von Religion und Theologie bei der Vorbereitung auf den Tod auf eine einzige zu reduzieren, nämlich die des Trostes mit dem ewigen Leben oder eben der Vertröstung auf ein Jenseits - je nach Wertung. W i r sahen, dass die jüdisch-christliche Tradition sich drastisch-realistische Bilder vom Tod aus ihren Anfängen bewahrt hat und doch immer wieder zum Bildersturm gegenüber solchen mächtigen Todesbildern aufgefordert hat. N e b e n den großen Hoffnungen der Apokalypsen und Eschatologien, über die ich gar nicht gesprochen habe, stehen die kleinen Hoffnungen christlicher Memorial- und Friedhofskultur bei Augustinus und die wunderbar sensible Bilderpädagogik Martin Luthers. Vielleicht gestatten Sie nach so vielen Ausführungen des Kirchenhistorikers dem Theologen einen Schlusssatz: Die jüdisch-christliche Tradition unterscheidet sich von manchen Ideologien und Bewegungen dadurch, dass sie einen ungeheueren Reichtum von Ansichten über den Tod in ihrer Uberlieferung konserviert. Von Uberdramatisierung bis zur Verniedlichung reicht die Spannbreite solcher Todesbilder und natürlich ist es in hohem M a ß e kulturabhängig, was aus diesem Reichtum jeweils aktualisiert wird. Aber vielleicht ist es gerade diese coincidentia
oppositorum
eines Kultes der Bilder vom
grässlichen Tod und des Bildersturms im Namen des Lebens, die Lebenden und Sterbenden Trost vermittelt hat und immer noch z u vermitteln vermag.
H A N S - L U D W I G SCHREIBER
TOD UND Hirntod
Was
RECHT
und Verfügungsrecht über das Leben
kann das Recht zum Tod sagen? W a s der Tod eigentlich ist, was
etwa nach ihm kommt, das kann es nicht wissen. Niemand von uns Menschen ist aus der als Tod bezeichneten Z o n e in das Leben zurückgekehrt. Das Recht w e i ß vom Tod und seinem Sinn so wenig wie die Philosophie, die Strategien z u seiner Bewältigung anbietet. W e n n man in die Geschichte blickt, so findet man die unterschiedlichsten Auffassungen vom Tod. Philippe Aries hat in seiner Geschichte des Todes die Ansatzpunkte dafür gezeigt: Vom Ende der Existenz über einen materialistischen Begriff des Todes bis hin z u differenzierten Vorstellungen über den Tod als Übergang in eine andere Seinsweise, als Erwachen zum wahren Leben, als die Erhebung in eine höhere Potenz. Das Recht als das vorläufig wirklich Maßgebliche - wie es H a n s Ryffel gesagt hat - kann aber nicht wie die Philosophie nur über den Tod reden. Es muss in vielfältiger Hinsicht an den Tod anknüpfen, vor ihm schützen, ihn verbieten und ihn zulassen. Rechtsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit enden mit dem Tod, Dienstverhältnisse und Ehen enden mit ihm. Vor allem endet mit dem Tod der Schutz des Lebens durch das Recht. Das Recht muss die Grenzen des Lebensschutzes mit dem Tod festlegen. Es verbietet grundsätzlich die Tötung, nicht nur die vorsätzliche, auch die fahrlässige, die durch Sorgfaltsverletzung verursachte Tötung eines anderen Menschen. Die eigene Tötung ist nicht verboten, allerdings ist die Mitwirkung anderer daran, wenn sie zur Täterschaft wird, unerlaubt. Recht legitimiert die Tötung anderer Menschen, etwa in Notwehr, Recht gestattet die Tötung im Krieg, es erlaubt den finalen Rettungsschuss, ferner die Tötung durch Unterlassen weiterer medizinischer Behandlung bei Todesnähe und Aussichtslosigkeit (die bisher so genannte „passive Sterbehilfe").
242
H a n s - L u d w i g Schreiber
II W a n n aber ist der Mensch tot? Der Tod bezeichnet das Ende menschlichen Lebens. W a s der Tod ist, muss also vom Leben her beschrieben werden. Das Recht auf Leben, das jedem nach Art. 2 II S a t z 1 des Deutschen Grundgesetzes garantiert ist, meint die biologisch-physische Existenz des Menschen als Lebewesen in seiner körperlich-geistigen Einheit. Das Ende dieser Existenz als Lebewesen nennen wir Tod. N u n wird unter Tod Verschiedenes verstanden. Für das Recht schien der Tod lange unproblematisch. S o heißt es in der klassischen Definition Friedrich Carl von Savignys: „Der Tod als die G r e n z e der natürlichen Rechtsfähigkeit ist ein so einfaches Naturereignis, dass derselbe nicht wie die Geburt eine genauere Feststellung seiner Elemente nötig macht." Lange ging man vom Stillstand des Kreislaufs und der Atmung aus und bezeichnete diesen Zeitpunkt als Tod. Gemeint war damit der Moment, bis z u dem menschliches Leben aufrechterhalten oder verlängert werden konnte. Dabei wusste man, dass der Tod nicht einen Moment, sondern einen Prozess darstellt, dass Zellen und Gewebe über einen Zeitraum hinweg allmählich absterben. Der H e r z - und Kreislauftod markierte den Punkt, an dem der A r z t seine Tätigkeit aufgeben musste, das Ende menschlicher Möglichkeiten zur Intervention, um das Leben z u erhalten. Denkbar wäre es, auch auf das Auftreten von Leichenstarre und Totenflecken oder das Absterben sämtlicher einzelner Organe oder Zellen abzuheben. Ebenso wäre es vorstellbar, das Ende aller oder der wesentlichen Stoffwechselprozesse oder die Totalnekrose und Autolyse der Körperzellen als Tod z u bezeichnen. Damit käme man auf Tage und W o c h e n nach dem Ende von Kreislauf und Atmung hinaus. Dass z . B . Fingernägel und Haare noch bis z u 4 8 Stunden nach Stillstand von H e r z und Kreislauf weiter wachsen, ist bekannt. Kaum bestreitbar wird sein, dass der Tod nicht ein biologischobjektiv vorgegebener Zeitpunkt ist, sondern eine Z ä s u r in einem zeitlich ausgedehnten P r o z e s s eines gesamtkörperlichen Sterbens. Die Festlegung eines solchen Zeitpunkts verlangt Entscheidungen. Der so genannte „klassische" Todesbegriff, der H e r z - und Kreislauftod, wurde mit der Entwicklung in der M e d i z i n fragwürdig. H e r z - und Kreislaufstillstand wurden hintergehbar bzw. überwindbar. Durch W i e derbelebung konnte der Tod überwunden und der Kreislauf wieder in Gang gesetzt werden. Als ein neues Abgrenzungskriterium schlug das Komitee der Harvard Medical School im Jahr 1 9 6 8 das Hirntodkonzept vor. Hier stellte man auf die Irreversibilität des Versagens von Kreislauf und Atmung
T o d u n d Recht
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a b . Der H e r z s t i l l s t a n d ist erst d a n n irreversibel, w e n n d a s G e h i r n als z e n t r a l e s S t e u e r u n g s o r g a n d e s M e n s c h e n v o l l s t ä n d i g a b g e s t o r b e n ist. D a n n ist e i n e W i e d e r b e l e b u n g nicht mehr m ö g l i c h . A u c h w e n n unbestreitbar ist, d a s s d e r H i r n t o d , a l s o d e r Ausfall d e s g e s a m t e n G e hirns als S t e u e r u n g s o r g a n m e n s c h l i c h e n Lebens, nicht d a s Ende a l l e n Lebens im m e n s c h l i c h e n K ö r p e r b e d e u t e t , so fällt mit d e m G e h i r n nicht nur ein s p e z i e l l e s O r g a n d e s M e n s c h e n aus, s o n d e r n d e r O r g a n i s m u s als Einheit u n d als G r u n d l a g e d e s V o r h a n d e n s e i n s eines m e n s c h l i c h e n Individuums. Der H i r n t o d ist mithin w e i t definitiver als d e r H e r z - u n d Kreislauftod. Kreislauf und A t m u n g k ö n n e n a u c h n a c h d e m H i r n t o d w e i t e r künstlich mit Hilfe v o n G e r ä t e n a u f r e c h t e r h a l t e n w e r d e n . Der H i r n t o d kann zeitlich vor o d e r n a c h d e m H e r z t o d l i e g e n . Bei Atmungsu n d Kreislaufstillstand stirbt d a s G e h i r n w e g e n d e r U n t e r b r e c h u n g d e r S a u e r s t o f f v e r s o r g u n g in kurzer Z e i t a b , w e n n nicht e i n e künstliche Bea t m u n g e r f o l g t . A u f d e r a n d e r e n Seite zieht d e r H i r n t o d in kürzester Z e i t d e n Kreislaufstillstand n a c h sich, falls d e r Kreislauf nicht künstlich d u r c h B e a t m u n g in G a n g g e h a l t e n w i r d . N i c h t , als hätte d a s H a r v a r d - K o m i t e e d e n H i r n t o d zur Erleichterung d e r T r a n s p l a n t a t i o n s m e d i z i n e r f u n d e n . D e m K o m i t e e g i n g es d a m a l s in erster Linie um d i e B e g r e n z u n g n o t w e n d i g e r m e d i z i n i s c h e r B e h a n d lung. H e u t e g e h t es a u c h um d i e N u t z u n g klinisch toter Patienten für Studien ü b e r W i e d e r b e l e b u n g , d i e d e n L e b e n d e n helfen sollen.
III D i e Definition d e s T o d e s h ä n g t u n m i t t e l b a r d a v o n a b , w i e m a n sein S u b j e k t bestimmt. W e r o d e r w a s stirbt u n d w e r o d e r w a s ist w a n n tot? D i e G e g n e r d e s H i r n t o d e s s p r e c h e n v o n e i n e r c a r t e s i a n i s c h e n H a l b i e r u n g d e s M e n s c h e n , w e n n m a n d a s G e s a m t g e h i r n als zentrales O r g a n d e s M e n s c h e n a n s e h e u n d d e n M e n s c h e n d a m i t auf seinen V e r s t a n d r e d u z i e r e . Auf d e n G r a d d e r L e b e n s f ä h i g k e i t k o m m e es e b e n s o w e n i g a n w i e auf ein bestimmtes Potential a n Kognitivität. D a s L e b e n als k ö r p e r l i c h e s D a s e i n sei m a ß g e b l i c h , so W o l f r a m H ö f l i n g , einer d e r e n g a g i e r t e s t e n K ä m p f e r g e g e n d a s Hirntod-Kriterium, d e r jetzt a u c h mit seinen M i t a u t o r e n in d e m v o n ihm h e r a u s g e g e b e n e n K o m m e n t a r z u m T r a n s p l a n t a t i o n s g e s e t z d i e s e n Streit fortsetzt. Irrelevant sei, o b j e m a n d n o c h als Person g e l t e n k ö n n e . Person sei, so Höfling, d e r M e n s c h selbst, nicht ein bestimmter Z u s t a n d d e s M e n s c h e n . M i t Recht w i r d d i e so g e n a n n t e G e i s t i g k e i t s t h e o r i e a b g e l e h n t , d i e d i e B e e n d i g u n g aller g e i s t i g e n Funktionen z u m Kriterium macht. A n d e r e r s e i t s w i r d Leben, w i e es d e r W i s s e n s c h a f t l i c h e Beirat d e r
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H a n s - L u d w i g Schreiber
Bundesärztekammer schon 1 9 9 3 formuliert hat, gedeutet als biologisch-körperliches Dasein, als Existenz eines integrationsfähigen Gesamtorganismus. Dieser Gesamtorganismus wird mit dem Ausfall des gesamten Gehirns zerstört, damit ist die Fähigkeit zur Steuerung und Integration des menschlichen Organismus verloren. Es ist nicht richtig, wenn eingewandt wird, außer dem Gehirn erbrächten alle übrigen Organsysteme eines so genannten Hirntoten weiter wichtige Integrationsleistungen für den Gesamtorganismus. Einen solchen Gesamtorganismus gibt es nach Ausfall des integrierenden Gehirns nicht mehr. In einzelnen Organen und Zellen ablaufende Prozesse, insbesondere Stoffwechselprozesse, machen nicht das Leben des Menschen aus. Der Mensch als Organismus ist wie jedes höher entwickelte Lebewesen tot, wenn die Funktionen seiner Organe und Systeme sowie ihre Wechselwirkungen unwiderruflich nicht mehr zur übergeordneten Einheit des Lebewesens zusammengefasst und nicht von ihr gesteuert werden. Maschinell betriebenes organisches Leben, ein aus sich selbst nicht mehr z u einem systemischen Organismus integrierbarer Körper stellt kein Leben dar. Zum Menschen gehört als Merkmal auch seine Erlebensfähigkeit, eine Möglichkeit z u wenigstens minimaler Selbstwahrnehmung, z u irgendwelchen Aktivitäten geistiger und körperlicher Art. Es genügt danach nicht der Ausfall derjenigen Teile des Gehirns, in dem die Impulse der Sinnesorgane rezipiert und z u Wahrnehmungen synthetisiert werden. Ein Ausfall der so genannten zerebralen Hemisphären, der neocortikalen Zentren der Großhirnrinde, begründet noch nicht einen Hirntod. Der Cortex-Tod ist in Europa bisher nur von wenigen als Tod anerkannt worden. Der bloße Ausfall des Bewusstseins ist ebenso wenig Tod, wie der Ausfall des somatischen Elementes. Der Hirntod knüpft an naturwissenschaftlich exakt messbare Tatsachen an, bedeutet jedoch eine qualitative Differenz, nicht nur eine quantitative. Mit dem Hirntod endet die gesteuerte Einheit des menschlichen Organismus. Dem Menschen fehlt dann die Basis für das biologische und geistige Leben. Kardinal Meißner hat geltend gemacht, die Anerkennung des Hirntodes zerstöre das christliche Menschenbild. Es ist unerfindlich, wie man das behaupten kann. M i t der Feststellung, dass menschliches Leben mit dem Verlust der zentralen körperlichen B a s i s aufhört, ist nichts gegen ein christliches Menschenverständnis gesagt. M i t dem vollständigen und endgültigen Ausfall der gesamten Hirntätigkeit ist die selbstständige, selbstbestimmte und selbsttätige Lebenseinheit und Lebensordnung des Organismus verloren und damit das Lebewesen selbst z u Ende gegangen. Anthropologisch fehlt dem
Tod und Recht
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Menschen, dessen Hirntätigkeit vollständig und endgültig ausgefallen ist, die notwendige und unersetzliche körperliche Grundlage für alles Geistige. Ein solcher Mensch kann nie mehr eine von außen oder aus seinem Inneren kommende Wahrnehmung oder Beobachtung machen, etwas verarbeiten und beantworten, nie mehr einen Gedanken fassen, verfolgen und äußern, nie mehr eine Überlegung anstellen und mitteilen, nie mehr eine Gemütsbewegung spüren oder eine Entscheidung treffen. So hat der Neurologe Angstwurm es zutreffend formuliert. Die juristischen Hirntodgegner haben ihre Position vollends diskreditiert. Sie haben in Ubereinstimmung mit anderen geäußert, die Ablehnung des Hirntodkriteriums stelle keineswegs eine A b s a g e an die Transplantationsmedizin dar. Vielmehr solle die Entnahme lebenswichtiger Organe aus hirntoten Körpern auch künftig möglich sein, denn der Hirntote habe ein verfassungsmäßiges Recht, als Modus seines Sterbens seine eigene Tötung durch die Explantation seiner Organe zu wählen. Mit persönlicher Einwilligung handele es sich, wenn man den Betroffenen noch als Lebenden ansehe, um eine bloße Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen. Hier solle nur vor Voreiligkeit geschützt werden, und von ihrem Normzweck her sei die auf Grundlage eines persönlich zuvor erklärten Einverständnisses erfolgende Organentnahme bei einem Hirntoten nicht durch das Verbot der direkten Tötung erfasst. Nur die ersatzweise Einwilligung durch Angehörige solle nicht erlaubt werden. Mit der Erlaubnis, vom lebenden Hirntoten Organe mit Zustimmung des Betroffenen zu entnehmen, würde das Tor für eine fremdnützige Euthanasie geöffnet, wenn wirklich noch menschliches Leben vorhanden sein sollte. Bei der indirekten Euthanasie, mit der die Organentnahme verglichen werden soll, geht es um ein Handeln im Interesse des Betroffenen, um eine im W e g e der Notstandsabwägung in Kauf genommene mögliche vorzeitige Lebensbeendigung. Bei einer Organentnahme beim noch Lebenden, durch die dann das Leben beendet werden würde, geht es aber um eine direkte, gezielte Beendigung des Lebens im Fremdinteresse des Organempfängers. Die Zulassung der Organentnahme, wie sie vom „lebenden Hirntoten" erlaubt werden sollte, hätte weit reichende Konsequenzen für den Lebensschutz im Recht. Leben Hirntote noch, so müsste man jedenfalls ihr Leben g e g e n fremdnützige aktive Eingriffe zur Lebensbeendigung schützen. Der schlechteste von den Hirntodgegnern vorgeschlagene und das g a n z e Konzept kompromittierende Kompromiss wäre, den Hirntod zwar nicht als Tod, aber doch als Entnahmekriterium anzuerkennen und dann auf eine enge Zustimmungslösung — Entnahme nur mit Einwilligung des Betroffenen selbst — abzustellen. Damit könnte die
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H a n s - L u d w i g Schreiber
Organentnahme, wenn es sich bei Hirntoten noch um Lebende handelt, jedoch keinesfalls gerechtfertigt werden.
IV Das
deutsche
Bundesverfassungsgericht
hat
eine
Verfassungsbe-
schwerde gegen das Hirntodkriterium z u Recht zurückgewiesen. Das Hirntodkriterium verstößt nicht gegen die Verfassung und das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Grundgesetz). Papst Johannes Paul II. hat am 2 9 . August 2 0 0 0 beim Transplantationskongress in Rom mit Recht den Hirntod als zulässiges Kriterium bezeichnet. Er hat ausgeführt, der Hirntod sei eine wissenschaftlich zuverlässige Methode zur Identifizierung jener biologischen Anzeichen, die den Tod der menschlichen Person eindeutig beweisen. Das heute angewandte Kriterium zur Feststellung des Todes, nämlich das völlige und endgültige Aussetzen jeder Hirntätigkeit, stehe nicht im Gegensatz z u den wesentlichen Elementen einer vernunftgemäßen Anthropologie, vorausgesetzt, es findet exakt Anwendung. Daher könne der für die Feststellung des Todes verantwortliche Arzt dieses Kriterium in jedem Einzelfall als Grundlage benutzen, um jenen Gewissheitsgrad in der ethischen Beurteilung z u erlangen, den die Morallehre als moralische Gewissheit bezeichnet. Diese moralische Gewissheit gelte als notwendige und ausreichende Grundlage für alle aus ethischer Sicht korrekten Handlungsweisen. Die Gegner des Hirntod-Kriteriums haben z w a r ein gewisses M a ß an Anerkennung gefunden. Sie wiederholen aber ihre Gesichtspunkte, ohne irgendwelche neuen zu finden. S o argumentieren Höfling und Rixen 2 0 0 2 in Anlehnung an den Philosophen Emmanuel Levinas, der Hirntote trete mir als anderer Mensch, als Lebender, als „Antlitz" entgegen. Der andere Leib als Antlitz besitze transzendente Wahrheit. Erst das tote Antlitz werde zur Maske. Beim Hirntoten bestehe aber noch die lebenswirkliche Lebenseinheit. Erst mit dem irreversiblen Ende der Blutzirkulation breche die Interaktion zwischen Gesamtorganismus und Organen unumkehrbar auseinander. Diese Berufung auf die Erfahrung trägt nicht. Sicher besteht heute hinsichtlich des Hirntodes eine mögliche Diskrepanz zwischen möglicher Erfahrung und der wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnis. Die lebenswirkliche Erfahrung geht praktisch immer noch vom H e r z - und Kreislaufstillstand aus. Nach dieser Erfahrung ist es schwierig, beim Hinsehen einen Hirntoten, der noch künstlich durchblutet und beatmet wird und daher lebendig aussieht, als Toten anzusehen. Der Anschein oder
T o d u n d Recht
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das subjektive Gefühl können aber nicht maßgeblich sein. M a n sieht ja auch umgekehrt nicht einen bleich und regungslos liegenden, als tot erscheinenden Menschen in lebenswirklicher Perspektive sogleich als tot an. G e r a d e im Interesse des Lebensschutzes durch Recht muss das Problem der Todesgrenze auf der Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnis entschieden werden. Ein sich an bloß äußerlichen Erscheinungen festmachender Phänomenalismus kann nicht zur Orientierung dienen. Auch die Entscheidungen in der Lebenswelt sind auf naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse angewiesen. Das Abstellen einer Beatmungsanlage bei einem Hirntoten ist danach keine Tötung mehr, auch nicht die Entnahme des Herzens, die dann zum Stillstand des Kreislaufes führt, denn der Hirntote ist kein Lebender mehr.
V N a c h diesen Bemerkungen zum Begriff und zum Zeitpunkt des Todes noch einige Stichworte zum Verfügungsrecht über das Leben und zum Tötungsverbot durch Recht. Grundsätzlich darf niemand über fremdes Leben verfügen. Es ist für jeden anderen prinzipiell unverfügbar. An der Spitze der Verfassung und des Rechts steht das Recht auf Leben und damit verbunden das Tötungsverbot (Art. 2 II Grundgesetz). Es gibt, wie bereits erwähnt, Einschränkungen des Grundrechtes auf Leben, etwa durch N o t w e h r oder die erlaubte Tötung im Krieg. Das Recht auf Leben kennt keinen Gesetzesvorbehalt. O b die uneinschränkbare Menschenwürde die Einschränkung des Lebensrechtes verbietet, o b jeder Eingriff in das Leben eine Verletzung der Menschenwürde bedeutet, erscheint zweifelhaft. Streitig ist, o b das Grundrecht auf Leben quasi als Kehrseite auch das Recht auf den eigenen Tod umfasst. Sachlich und historisch begreift das Recht auf Leben sich nicht auch als Recht, als Anspruch auf den Tod. Die Tötung auf Verlangen ist strafrechtlich, wenn auch bei gemilderter Strafe, verboten. Sich selbst den Tod zu geben ist d a g e g e n nicht verboten. O b Erwin Ringel recht hatte mit seiner Auffassung, Suizide seien in aller Regel unfreie Handlungen, möge dahingestellt bleiben. Die Grenze der erlaubten Mitwirkung beim Suizid liegt dort, w o die Mitwirkung die Grenze zur Täterschaft überschreitet, etwa bei Täuschung, Z w a n g oder Irrtum. Das Strafrecht spricht dann von Tatherrschaft. Sterbehilfe ist in den meisten Ländern in den Grenzen erlaubter Beschränkung der Behandlung und indirekter Sterbehilfe, der not-
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Hans-Ludwig Schreiber
wendigen Bekämpfung von Schmerz, Angst und Unruhe erlaubt. In Deutschland steht eine G e s e t z g e b u n g in Richtung der Erlaubnis von Patientenverfügungen zur Beendigung von Behandlungen bevor. Hier soll die Selbstbestimmung über den eigenen Tod im Rahmen einer „Nicht-mehr-Weiterbehandlung" ausdrücklich gesetzlich gestattet werden. Damit würde ein begrenztes Verfügungsrecht über den eigenen Tod eröffnet, eine Einschränkung des Verbotes der Tötung auf Verlangen auf gezieltes aktives Tun. Angesichts der heute g e g e b e n e n medizinischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung ist die Pflicht zum Warten auf den „natürlichen" Tod nicht zumutbar. Es darf - das ist wohl überall zugelassen - der Tod hingenommen werden. Die „terminale Sedierung" wird heute gestattet. In diesen Grenzen wird eine Verfügung über den eigenen Tod erlaubt. Verboten bleibt die aktive, gezielte Tötung durch fremdes Tun. Erlaubt ist freilich eine Kausalität durch Beendigung rettender Behandlung, d a s Abschalten des Beatmungsgerätes etwa, rechtlich als Unterlassen durch Tun qualifiziert, der Abbruch einer rettenden Kausalkette durch Tun. Allein ein Sterbenlassen durch Kausalität der Krankheit ist zulässig. Streitig und nur in einigen Ländern wie Holland und Belgien erlaubt ist die Verfügung über fremdes Leben durch gezielte aktive ärztliche Beendigung, etwa durch Verabreichung eines Medikamentes mit dem Ziel der Tötung. Freilich ist die Differenz zwischen Handeln und Unterlassen gering, hauchdünn wird sie zwischen gezielter aktiver Sterbehilfe und indirekter Sterbehilfe. Sie besteht dann praktisch nur in der subjektiven Intention zwischen Absicht und indirektem Vorsatz. Die indirekte Sterbehilfe mit diesem Unterschied haben schon die Päpste Pius XII. und Johannes Paul II. zugelassen, um Schmerzbehandlung mit dem Risiko eines früheren Todeseintritts zu ermöglichen. D a n a c h gibt es keine entscheidende Differenz zwischen aktiver und indirekter Sterbehilfe: Ich hoffe, dass Gott mich nicht von der Schwelle weisen würde, wenn ich in N o t und unerträglichem Leiden früher zu ihm komme und ihn bitte, mich vor der Zeit g n ä d i g aufzunehmen. Gefährlich für d a s Leben und den Schutz des Lebens würde es aber, wenn man generell die aktive, gezielte Tötung auf Wunsch zuließe. Dann geriete der Schutz des Lebens alter und kranker Menschen in Gefahr, insbesondere in Anbetracht der zunehmenden Knappheit der Ressourcen in der Medizin. W e n n 7 0 % der medizinischen Kosten in den letzten beiden Lebensjahren entstehen, dann liegt es nahe, die Kranken, die sich selbst oft eine Last sind, zu fragen, o b sie nicht eine aktive Beendigung ihres Lebens durch eine Injektion oder eine Tablette wünschen oder ob sie wirklich weiter behandelt werden wollen mit er-
249
T o d und Recht
wartbarem letalen Ausgang, nur etwas später. H i e r entstünden Gefahren. Ich sehe aber keine Gefahren, wenn ein Verfügungsrecht über den eigenen T o d durch Beendigung der Behandlung, ihren Abbruch und Beschränkung auf palliative Behandlung z u g e l a s s e n wird. N i e m a n d , am wenigsten Gott, verlangt von uns, alle Möglichkeiten der M e d i z i n , auch belastende, w e g e n eines oft nur noch vegetativen Lebens aufrechtzuerhalten. Schon vor Eintritt des H i r n t o d e s ist daher eine Beendigung von Behandlung z u l ä s s i g . D a s Tötungsverbot schränkt sich damit zugunsten einer Möglichkeit der Verfügung über d a s Leben, auch d a s fremde, durch Unterlassen von Behandlung ein. Der T o d bleibt das dunkle Rätsel in unserem Leben. W i r sollten ihm, wenn er vor der Tür steht, nicht mit allen medizinisch möglichen Mitteln den Eintritt verwehren.
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1993,
S. 2177. Paul A. Byrne/Cicero G. Coimbra/Robert Spaemann/Mercedes Arzu W i l son, „Der Hirntod ist nicht der Tod!", Essay von einer Tagung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, 2 0 0 5 , in: Schriftenreihe der Aktion Leben e.V.,1. Auflage Februar 2 0 0 5 , Nr. 24. Gerd Geilen, „Medizinischer Fortschritt und juristischer Todesbegriff", in: Festschrift für Ernst Heinitz, Berlin 1972, S. 3 7 3 ff. Linus Geisler, „Der Hirntod ist eine Phase im Sterben und damit Teil des Lebens", in: Frankfurter Rundschau vom 2 4 . 0 2 . 1 9 9 5 , S. 16. Wolfram Höfling, Kommentar zum Transplantationsgesetz,
Berlin 2 0 0 3 .
Johannes Hoff/Jürgen in der Schmitten (Hg.), Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung
und Hirntodkriterium,
Reinbek 1994.
Johannes Paul II., Ansprache zum Transplantationskongress in Rom 2 0 0 0 , in: L'Osservatore
Romano vom 1 5 . 9 . 2 0 0 0 .
Hans Jonas, „Gehirntod und menschliche Organbank", in: Technik,
Medizin
und Ethik, 1985, S. 219ff. Steven Laureys, „Hirntod und Wachkoma", in: Spektrum der
Wissenschaft
2 0 0 6 , S. 62ff. Marcus Parzeller, „Sterben und Tod. Sind wesentliche Bereiche des Lebens nicht normiert oder undefinierbar?", in: Kritische Vierteljahrsschrift setzgebung und Rechtswissenschaft 2 0 0 0 , S. 397.
für Ge-
Hans-Ludwig Schreiber
250
E r w i n R i n g e l , Handwörterbuch
der
Kriminologie,
2. Auflage, B a n d 3, Berlin
des
Römischen
1975. F r i e d r i c h C a r l von S a v i g n y , System
heutigen
Rechts
II,
1840,
S . 17. A d r i a n Schmidt-Recla, „Tote l e b e n l ä n g e r : Ist der H i r n t o d ein a u s r e i c h e n d e s K r i t e r i u m für d i e O r g a n s p e n d e ? " ,
in: MedR
Schriftenreihe
Medizinrecht
2 0 0 4 , S. 672ff. H a n s - L u d w i g S c h r e i b e r , „ D e r H i r n t o d a l s G r e n z e d e s L e b e n s s c h u t z e s " , in: Festschrift
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Köln 1 9 9 5 , S. 5 9 3 f .
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1 9 8 3 , S. 5 9 3 .
D e r s . , „ D a s u n g e l ö s t e P r o b l e m der S t e r b e h i l f e " , in: Neue
Zeitschrift
für
Straf-
recht 2 0 0 6 , S . 4 7 3 f f . R o b e r t D. T r u o g , „Ist d a s H i r n t o d k r i t e r i u m o b s o l e t ? " ( Ü b e r s e t z u n g ) , in: H a n s J ü r g e n F i r n k o r n ( H g . ) , Hirntod
als Todeskriterium,
Stuttgart 2 0 0 0 , S . 8 3 f f .
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164ff.
Hirntodkriterien",
in: MedR
Schriftenreihe
Medizinrecht
1989,
ZU DEN AUTORINNEN U N D AUTOREN
H U B E R T U S V O N A M E L U N X E N , Literatur- u n d Kunstwissenschaftler, ist seit 2 0 0 5 Rektor d e r Ecole E u r o p e e n n e S u p e r i e u r e d e l ' l m a g e in Frankreich. 2 0 0 1 bis 2 0 0 5 w a r er G r ü n d u n g s d i r e k t o r u n d Professor a n d e r I n t e r n a t i o n a l S c h o o l of N e w M e d i a ( I S N M ) in Lübeck, v o n 2 0 0 0 bis 2 0 0 7 Senior C o n s u l t a n t C u r a t o r a m C a n a d i a n C e n t r e for Architecture in M o n t r e a l ; seit 2 0 0 3 ist er M i t g l i e d d e r A k a d e m i e d e r Künste, S e k t i o n b i l d e n d e Kunst. Z a h l r e i c h e P u b l i k a t i o n e n u n d Ausstellungsk o n z e p t i o n e n , zuletzt g e m e i n s a m mit Dieter A p p e l t u n d Peter W e i b e l „ N o t a t i o n - Kalkül u n d Form in d e n Künsten" (Berlin). DIETER APPELT ist F o t o g r a f u n d Professor für F o t o g r a f i e , Film, V i d e o a n d e r Universität d e r Künste, Berlin. M i t g l i e d d e r Berliner A k a d e m i e d e r Künste, S e k t i o n B i l d e n d e Kunst. Z a h l r e i c h e Einzel- u n d G r u p p e n a u s s t e l l u n g e n in E u r o p a u n d d e n U S A ; T e i l n a h m e a n d e r B i e n n a l e in Venedig 1 9 9 0 und 1999. A N N A B E R G M A N N ist a p l . Professorin für K u l t u r g e s c h i c h t e a n d e r K u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Fakultät d e r E u r o p a - U n i v e r s i t ä t Viad r i n a Frankfurt ( O d e r ) u n d w a r 2 0 0 6 Visiting F e l l o w a m Institut für d i e W i s s e n s c h a f t e n v o m M e n s c h e n ( I W M ) , W i e n . F o r s c h u n g e n zur W a h r n e h m u n g s g e s c h i c h t e d e s K ö r p e r s u n d d e s T o d e s . Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod, Berlin 2 0 0 4 ; Klimakatastrophen, Pest und Massensterben in Europa: Christliche Angstbewältigung zwischen Rationalität und Opferkult in der Moderne, Berlin 2 0 0 9 (i. E.j. ULRIKE B R U N O T T E ist als Religions- u n d Kulturwissenschaftlerin a p l . Professorin a n d e r H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t z u Berlin u n d z.Zt. S e n i o r Res e a r c h F e l l o w a m G C S C ( G r a d u a t e C e n t r e for the Study of Culture) a n d e r Universität G l e s s e n . Sie forscht d e r z e i t ü b e r Religionstheorie, Ritual u n d G e s c h l e c h t in k o l o n i a l e n G r e n z d i s k u r s e n . Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2 0 0 4 ; , G o t t e s krieg' und Geschlecht. Gewaltdiskurse in modernen Religionen (Hg. mit Christina v o n Braun, G a b r i e l e Jähnert u.a.), Berlin 2 0 0 6 ; M ä n n l i c h keiten und Moderne. Geschlecht in Wissensdiskursen um 1900 ( H g . mit Rainer Herrn), B i e l e f e l d 2 0 0 8 .
252
Autorinnen und Autoren
I R I S D Ä R M A N N ist Privatdozentin am Institut für Kulturtheorie der Universität Lüneburg. D e r z e i t forscht sie z u „Kulturtheorien des Gabentausches" im E x z e l l e n z c l u s t e r „Kulturelle G r u n d l a g e n von Integration" an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologie, Konzeptionen des Fremden, Kultur- und Medientheorie. Fremde der Vernunft. Die ethnologische
Provokation
2 0 0 5 ; Pathos.
kulturwissenschaftlichen
Konturen
eines
der Philosophie,
( H g . mit Kathrin Busch), Bielefeld 2 0 0 7 ; Figuren
Monde München
Grundbegriffs
des Politischen,
Frank-
furt a . M . 2 0 0 9 . T E R R Y E A G L E T O N ist Professor of Cultural T h e o r y an der University of Manchester. W a s ist Kultur?, 2 0 0 4 ; Trouble
with Strangers.
München 2 0 0 1 ; After Theory,
London
A Study of Ethics, M a i d e n , M A 2 0 0 8 .
K A T H L E E N M . F O L E Y ist Professor of N e u r o l o g y , N e u r o s c i e n c e and Clinical Pharmacology am W e i l l M e d i c a l C o l l e g e der Cornell University und praktiziert als N e u r o l o g i n im Pain and Palliative C a r e Service am M e m o r i a l Sloan-Kettering Cancer Center ( M S K C C ) ,
New
York; sie ist außerdem medizinische Leiterin der International Palliative Care Initiative des O S I Public Health Program. Arbeitsschwerpunkte: Krebsforschung
und Palliativmedizin.
What We Need
to Know ( H g . mit June Rigby Lunney, T h o m a s J. Smith,
Describing
Death
in
America:
H e l l e n Gelband), W a s h i n g t o n D.C. 2 0 0 3 ; Mitautorin von Medicine,
Palliative
Philadelphia 2 0 0 8 .
A L O I S H A H N ist Professor für Allgemeine S o z i o l o g i e an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Familiensoziologie, R e l i g i o n s s o z i o l o g i e , G e s u n d h e i t s s o z i o l o g i e , Forschungen z u I n k l u s i o n / E x k l u s i o n . und Gesellschaft.
Zur
Bedeutung
von Krankheitsbildern
heitsvorstellungen
für die Prävention.
Krankheit
und
Gesund-
Abschlußbericht für ein DFG-Pro-
jekt (zusammen mit W i l l y H . Eirmbter, Claudia Hennes, Rüdiger Jacob und Frank Lettke), Konstanz 1 9 9 9 ; Norm Inszenierungen
literarischer
und sozialer
und Krise von Interaktion
Kommunikation.
im Mittelalter
(zu-
sammen mit G e r t M e l v i l l e und W e r n e r Röcke), Berlin 2 0 0 6 . HANFRIED
H E L M C H E N war
1 9 7 1 - 1 9 9 9 o. Professor für Psychiat-
rie und Direktor der Psychiatrischen Klinik der Freien Universität Berlin. Mitautor von Gesundheit den Grundlagen Ethik
nach Maß?
eines dauerhaften
in der Altersmedizin
Eine transdisziplinäre Gesundheitssystems,
(zusammen mit S i e g f r i e d K a n o w s k i ,
Lauter, E v a - M a r i a Neumann), Stuttgart 2 0 0 6 ; Geschichte trie an der Freien
Universität
Studie
Berlin
zu
Berlin 2 0 0 4 ; der
(Hg.), Lengerich 2 0 0 7 ;
Hans
PsychiaPsychiater
253
Autorinnen und Autoren
und Zeitgeist.
Zur
Geschichte
der Psychiatrie
in Berlin
(Hg), Lengerich
2008. MATTHIAS
HOFFMANN
ist W i s s e n s c h a f t l i c h e r
Mitarbeiter an der
Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: T h a n a t o s o z i o l o g i e ,
Soziologie
des H o s p i z e s . E B E R H A R D J Ü N G E L ist Professor für Systematische T h e o l o g i e und Rel i g i o n s p h i l o s o p h i e an der Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie und Anthropologie der Religion, Hermeneutische logie, Naturtheologie.
Das
Gottlosen
des christlichen
Studie
als Zentrum
in ökumenischer
Erfahrung.
Evangelium
Absicht,
Unterwegs
bemerkt,
von der
Theo-
Rechtfertigung
Glaubens.
Eine
des
theologische
Tübingen 2 0 0 5 ; Erfahrungen
mit der
Stuttgart 2 0 0 8 .
G A B R I E L A K I L I Ä N O V Ä ist Direktorin des Instituts für Ethnologie der Slowakischen
Akademie
der
Wissenschaften.
Forschungsschwer-
punkte: Bestattungsriten, kollektive Identität, M o d e r n i s i e r u n g , zialistische Transformation. Ethnology the 21st
Century:
Bratislava/Wien CORNELIA 1993
Reflections
in Slovokia
and Trends
Postso-
at the Beginning
2005.
KLINGER,
Permanent Fellow am I W M , W i e n , lehrt seit
Philosophie an der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Jahrhundert
of
(Hg. mit Konrad Köstlin u.a.),
der Avantgarden
chen 2 0 0 4 ; Achsen
der Ungleichheit.
schlecht und Ethnizität
Das
(Hg. mit W o l f g a n g Müller-Funk), M ü n Zum
Verhältnis
von Klasse,
Ge-
(Hg. mit Gudrun-Axeli Knapp und Birgit Sauer),
Frankfurt a . M . 2 0 0 7 ; ÜberKreuzungen.
Fremdheit,
Ungleichheit,
Diffe-
renz ( H g . mit Gudrun-Axeli Knapp), M ü n s t e r 2 0 0 8 . O L I V E R K R Ü G E R ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Fribourg. Virtualität manismus, HANS
und Unsterblichkeit.
Die Visionen
des
Posthu-
Freiburg 2 0 0 4 .
L A U T E R war
1 9 7 8 - 1 9 9 6 o. Professor für Psychiatrie an der
Technischen Universität München und Arztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik rechts der Isar in München. Psychiatrie
der
Gegenwart
(Hg. mit H a n f r i e d Helmchen, Fritz H e n n und N o r m a n Sartorius),
6
Bde., Berlin 1 9 9 9 . C H R I S T O P H M A R K S C H I E S ist Präsident der Humboldt-Universität z u Berlin und Professor für Ältere Kirchengeschichte. Arbeitsschwerpunkte:
254
Autorinnen und Autoren
T h e o l o g i e g e s c h i c h t e , Strukturgeschichte d e s antiken Christentums, W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e d e r T h e o l o g i e . Ist Theologie eine Lebenswissenschaft? Einige Beobachtungen aus der Antike und ihre Konsequenzen für die Gegenwart, H i l d e s h e i m 2 0 0 5 ; Antike ohne Ende, Berlin 2008. H A N S - L U D W I G SCHREIBER ist Professor e m . für Strafrecht u n d allg e m e i n e Rechtstheorie a n d e r Universität G ö t t i n g e n , d e r e n Präsident er v o n 1 9 9 2 - 1 9 9 8 w a r . Er w a r bis 2 0 0 6 V o r s i t z e n d e r d e r Transplantationskommission d e r B u n d e s ä r z t e k a m m e r . M i t h g . v o n Recht und Ethik im Zeitalter der Gentechnik, G ö t t i n g e n 2 0 0 4 ; Der Mensch und seine Rechte: Grundlagen und Brennpunkte der Menschenrechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts ( H g . mit G e o r g N o l t e ) , G ö t t i n g e n 2 0 0 4 .
WIENER REIHE - THEMEN DER PHILOSOPHIE
ζ «J
H E R A U S G E G E B E N VON HERTA NAGL-DOCEKAL. CORNELIA KLINGER. LUDWIG NAGL. A L E X A N D E R SOMEK
Ξ ο
Δ BD. 1: LUDWIG NAGL, RICHARD HEINRICH (HG.) WO STEHT DIE ANALYTISCHE PHILOSOPHIE HEUTE? 1986. 192 S. BR. 135 X 210 MM. I S B N 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 2 2 2 - 3 (A) 9 7 8 - 3 - 4 8 6 - 5 3 8 0 1 - 4 (D)
B A N D 2 IST VERGRIFFEN BD. 3: HELMUTH VETTER. LUDWIG NAGL (HG.) DIE PHILOSOPHEN UND FREUD EINE O F F E N E DEBATTE 1988. 272 S. BR. 135 X 210 MM. ISBN 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 2 3 6 - 0 (A) 9 7 8 - 3 - 4 8 6 - 5 4 4 8 1 - 7 (D)
BD. 4: HERTA NAGL-DOCEKAL (HG.) FEMINISTISCHE PHILOSOPHIE 1994. 2 8 4 S. BR. 135 X 210 MM. I S B N 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 3 8 7 - 9 (A) 9 7 8 - 3 - 4 8 6 - 5 6 0 8 2 - 4 (D)
BD. 5: RICHARD HEINRICH. HELMUTH VETTER (HG.) BILDER DER PHILOSOPHIE R E F L E X I O N E N U B E R DAS BILDLICHE U N D DIE PHANTASIE 1991. 2 4 8 S. BR. 135 X 210 MM. I S B N 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 2 6 2 - 9 (A) 9 7 8 - 3 - 4 8 6 - 5 5 9 0 7 - 1 (D)
BD. 6: HERTA NAGL-DOCEKAL, F R A N Z WIMMER (HG.) POSTKOLONIALES PHILOSOPHIEREN: AFRIKA 1992. 2 5 2 S. BR. 135 X 210 MM. I S B N 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 3 4 1 -1 (A) 9 7 8 - 3 - 4 8 6 - 5 5 9 6 9 - 9 (D)
BD. 7: LUDWIG NAGL (HG.) TEXTUALITÄT DER PHILOSOPHIE - PHILOSOPHIE UND LITERATUR 1994. 267 S. BR. 135 X 210 MM. I S B N 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 3 8 6 - 2 (A) 9 7 8 - 3 - 4 8 6 - 5 5 9 9 0 - 3 (D)
BÖHLAU V E R L A G , W I E S I N G E R S T R A S S E I , I O I O WIEN. T : + 4 3 ( 0 ) 1 3 3 Ο 2 4 2 7 - Ο B O E H L A U @ B O E H L A U . A T , WWW.BOEHLAU.AT | WIEN KÖLN WEIMAR
WIENER REIHE - THEMEN DER PHILOSOPHIE H E R A U S G E G E B E N VON HERTA NAGL-OOCEKAL, CORNELIA KLINGER LUDWIG NAGL. A L E X A N D E R SOMEK
3 «J Γ Ό
Ώ BD. 8: HELMUTH VETTER, RICHARD HEINRICH (HG ) DIE WIEDERKEHR DER RHETORIK 1999. 2 0 8 S. BR. -135 X 210 MM. ISBN 978-3-702S»-t)421-0 (A) 9 7 8 - 3 - 0 5 - 0 0 3 4 6 5 - 2 (D) BD. 9: ELISABETH NEMETH, RICHARD HEINRICH (HG.) OTTO NEURATH: RATIONALITÄT. PLANUNG. VIELFALT 1999. 232 S. BR. 135 X 210 MM. ISBN 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 3 5 9 - 6 (A) ISBN 9 7 8 - 3 - 0 5 - 0 0 3 4 6 6 - 9 (D) BD. 10: LUDWIG NAGL (HG.) FILMÄSTHETIK 1999. 3 0 8 S. BR. 135 X 210 MM. ISBN 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 4 4 3 - 2 (A) ISBN 9 7 8 - 3 - 0 5 - 0 0 3 4 6 9 - 0 (D) BD. 11: HERLINDE PAUER-STUDER. HERTA NAGL-DOCEKAL (HG.) FREIHEIT, GLEICHHEIT UND AUTONOMIE 2 0 0 3 . 3 9 6 S. BR. 135 X 210 MM. ISBN 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 4 6 2 - 3 (A) 9 7 8 - 3 - 0 5 - 0 0 3 6 0 1 - 4 (D) BD. 12: LUDWIG NAGL (HG.) RELIGION NACH DER RELIGIONSKRITIK 2 0 0 3 . 3 2 8 S. BR. 135 X 210 MM. ISBN 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 4 7 0 - 8 (A) 9 7 8 - 3 - 0 5 - 0 0 3 8 4 4 - 5 (D) BD. 13: R U D O L F LANGTHALER, HERTA NAGL-DOCEKAL (HG.) G L A U B E N UND WISSEN EIN SYMPOSIUM MIT J Ü R G E N H A B E R M A S 2 0 0 6 . 4 2 4 S. BR. 135 X 210 MM. ISBN 9 7 8 - 3 - 7 0 2 9 - 0 5 4 9 - 1 (A) 9 7 8 - 3 - 0 5 - 0 0 4 2 9 1 - 6 (D) BD. 14: HERTA NAGL-DOCEKAL. WOLFGANG KALTENBACHER. LUDWIG NAGL (HG.) VIELE RELIGIONEN - EINE V E R N U N F T ? EIN DISPUT Z U H E G E L 2 0 0 8 . 3 0 6 S. BR. 135 X 210 MM. ISBN 9 7 8 - 3 - 2 0 5 - 7 7 9 3 8 - 4 (A) 9 7 8 - 3 - 0 5 - 0 0 4 5 2 6 - 9 (D)
BÖHLAU V E R L A G , W I E S I N G E R S T R A S S E I , 1 0 1 0 WIEN. T : + 4 3 ( 0 ) 1 3 3 Ο 2 4 2 7 - Ο B O E H L A U @ B O E H L A U . A T , WWW.BOEHLAU.AT | WIEN KÖLN WEIMAR