Zum immateriellen Kulturerbe des Modernen Tanzes: Konzepte - Konkretisierungen - Perspektiven 9783839438022

The cultural heritage of dance: a current academic location of prominent artistic-pedagogic concepts of Central European

196 11 7MB

German Pages 328 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort. Der Moderne Tanz als immaterielles Kulturerbe?
Prozesse der Vermittlung und Aneignung
Zum tanzpädagogischen Erbe des Modernen Tanzes und dessen Weitergabe
Mimetische Grundlagen des Tanzes
Konzepte und didaktische Konkretisierungen
Auftauchen lassen. Über das körperliche Fundament des Modernen Tanzes in Mitteleuropa
Elementarer Tanz – ein Mythos?
Didaktische Konkretisierung des Elementaren Tanzes. Methodische Besonderheiten und ein Stundenbeispiel
Das System und die Lehrweise von Rosalia Chladek
Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien. Einführung in die Konzepte, ihre Entwicklung und didaktische Möglichkeiten
Die Jooss-Leeder-Methode und ihre Geschichte
Übersetzungen im Rahmen zeitgenössischer Ausbildungskonzepte
Zugang – Umgang – Fortgang. Tanzerbe an der Folkwang Universität der Künste Essen seit 2011
Das Erbe der Tanz-Moderne im Studiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“ an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien
Die Suche nach dem Maß – Was ist eine gute und richtige Tanzbewegung?
Beobachter-Perspektiven und Annotationen
Anthropologische und bildungstheoretische Annotationen zu den Konzepten des Modernen Tanzes
Pädagogisch-psychologische Anmerkungen zum Erbe des Modernen Tanzes im zeitgenössischen Kontext
Autorinnen und Autoren
Foto- und Abbildungsnachweise
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Zum immateriellen Kulturerbe des Modernen Tanzes: Konzepte - Konkretisierungen - Perspektiven
 9783839438022

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Claudia Fleischle-Braun, Krystyna Obermaier, Denise Temme (Hg.) Zum immateriellen Kulturerbe des Modernen Tanzes

TanzForschung hrsg. von der Gesellschaft für Tanzforschung

Claudia Fleischle-Braun, Krystyna Obermaier, Denise Temme (Hg.)

Zum immateriellen Kulturerbe des Modernen Tanzes Konzepte – Konkretisierungen – Perspektiven

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien: »Short Works« – Studierende (2016): Foto: Armin Bardel (Nr. CA160312a) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3802-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3802-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort Der Moderne Tanz als immaterielles Kulturerbe?

Claudia Fleischle-Braun, Krystyna Obermaier, Denise Temme | 7

PROZESSE DER VERMITTLUNG UND ANEIGNUNG Zum tanzpädagogischen Erbe des Modernen Tanzes und dessen Weitergabe

Claudia Fleischle-Braun | 31 Mimetische Grundlagen des Tanzes

Christoph Wulf | 53

KONZEPTE UND DIDAKTISCHE KONKRETISIERUNGEN Auftauchen lassen Über das körperliche Fundament des Modernen Tanzes in Mitteleuropa

Gunhild Oberzaucher-Schüller | 61 Elementarer Tanz – ein Mythos?

Krystyna Obermaier | 95 Didaktische Konkretisierung des Elementaren Tanzes Methodische Besonderheiten und ein Stundenbeispiel

Dilan Ercenk-Heimann, Tessa Temme | 123 Das System und die Lehrweise von Rosalia Chladek

Ingrid Giel, Eva Lajko, Ursula Schebrak-Carcich | 141

Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien Einführung in die Konzepte, ihre Entwicklung und didaktische Möglichkeiten

Antja Kennedy, Anja Weber | 169 Die Jooss-Leeder-Methode und ihre Geschichte

Stephan Brinkmann | 197

ÜBERSETZUNGEN IM R AHMEN ZEITGENÖSSISCHER AUSBILDUNGSKONZEPTE Zugang – Umgang – Fortgang Tanzerbe an der Folkwang Universität der Künste Essen seit 2011

Stephan Brinkmann | 209 Das Erbe der Tanz-Moderne im Studiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“ an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien

Nikolaus Selimov | 231 Die Suche nach dem Maß – Was ist eine gute und richtige Tanzbewegung?

Denise Temme | 241

BEOBACHTER-PERSPEKTIVEN UND ANNOTATIONEN Anthropologische und bildungstheoretische Annotationen zu den Konzepten des Modernen Tanzes

Rita Molzberger, Michael Obermaier | 267 Pädagogisch-psychologische Anmerkungen zum Erbe des Modernen Tanzes im zeitgenössischen Kontext

Susanne Quinten | 297 Autorinnen und Autoren | 319 Foto- und Abbildungsnachweise | 325

Vorwort Der Moderne Tanz als immaterielles Kulturerbe? C LAUDIA F LEISCHLE -BRAUN , K RYSTYNA O BERMAIER , D ENISE T EMME

Weshalb beschäftigen wir uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit den Ausprägungen und Bewegungssystemen des Modernen Tanzes, mit deren tanzdidaktischen Konzepten und mit dem dabei immanent vermittelten Körperund Bewegungswissen? – Wurden diese doch bereits vor einem Jahrhundert an verschiedenen Orten und Schulen von Tänzerpersönlichkeiten entwickelt, praktiziert und ihren Schülerinnen und Schülern1 weitergegeben. Inzwischen werden die verschiedenen Ausformungen, Techniken und Arbeitsmethoden des mitteleuropäischen Freien Tanzes bereits von den Enkel- und Urenkelgenerationen mit deren Sichtweisen, mit deren Kontextwissen, Erfahrungen und individuellen Lesarten gelehrt und unterrichtet. Dieser Umstand war aber genau der Grund, der uns veranlasste, den Wert der künstlerisch-pädagogischen Ansätze der Moderne in der Tanzund Vermittlungspraxis von heute zu erkunden. Denn der Stellenwert des Tanzes – insbesondere des künstlerischen Tanzes – ist insgesamt und vor allem auch im Bildungswesens gewachsen, und es haben sich vor allem seit den Anfängen vor 100 Jahren neue (Aus-)Bildungsstrukturen und auch

1

Im gesamten Buch wird aus Gründen eines angenehmeren Leseflusses eine Vereinheitlichung der genderspezifischen Endungen vorgenommen, die sämtliche Geschlechter umfasst.

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äußerst vielgestaltige tanzpädagogische Handlungsfelder entwickelt. Welche Denk- und Arbeitsweisen und welche Praktiken der Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegung erscheinen unter den heutigen Gegebenheiten der Tanzvermittlung und -erziehung sowohl im Rahmen der schulischen als auch der Vielfältigkeit von außerschulischen und soziokulturellen Handlungsfeldern trotzdem immer noch aktuell? Die meisten tanzdidaktischen Konzepte greifen zwar bis heute auf Ideen der tanzkünstlerisch-pädagogischen Vermittlungsansätze der Moderne zurück, aber inwieweit ist das Körper- und Bewegungswissen des Modernen Tanzes bei der Vielzahl von tradierten und neu entstandenen, oft hybriden Stilformen und Techniken in professionellen Ausbildungs- und Weiterbildungseinrichtungen gegenwärtig noch relevant, und wie wird das immaterielle Erbe der damaligen Tanz-Avantgarde heute vermittelt? Die Frage der Bedeutung der in diesem Band zur Diskussion gestellten Konzepte der Ausdruckstanzbewegung erstreckt sich dabei nicht nur auf das Feld der Vermittlung von Künstlerischem Tanz, sondern auch auf jenes der akademischen Tanz- und Tanzpädagogenausbildung. Eines der zentralen Projekte im Rahmen des Tanzplanes der Kulturstiftung des Bundes war das Neu-Denken der Hochschulausbildung im Tanz und damit die Schaffung neuer Studiengänge an prominenten Institutionen akademischer Tanzausbildung. Zentrales Motiv dieser Initiative war die Annahme eines grundlegend veränderten Berufsfeldes künstlerischer Praxis, auf welche es mit Veränderungen der akademischen Ausbildung zu reagieren galt bzw. immer noch gilt. Eva-Maria Hoerster (2005), die Direktorin des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin, macht u.a. folgende Aspekte „weit reichende(r) Entwicklungen im Zeitgenössischem Tanz“ aus:2 Die Erforschung und Formulierung des impliziten Wissens des Tanzes und der tänzerischen Praxis, den interdisziplinären Dialog zwischen Tanz und anderen Künsten und/oder auch der Wissenschaft, die zunehmende Teilnahme an kultureller Bildungsarbeit, die Veränderungen der Produktions- und Präsentationsstrukturen, die Wandlung der Berufsbilder von Tänzern und Choreographen hin zur Auffassung des Tänzerchoreographen als eigenständigem Künstler, die kritische Reflexion, was Tanz und Choreographie heute sein kann sowie das gesteigerte Bewusstsein für die verschiedenen kulturellen,

2

Siehe http://www.tanzplandeutschland.de/ausbildungsprojekte.php? id_language =1

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ALS IMMATERIELLES

K ULTURERBE? | 9

sozialen und politischen Kontexte der Kunstform Tanz. Betrachtet man dabei allein die Ebene der Bewegung, lässt sich feststellen, dass zukünftige Tanzkünstler immer mehr dem Bild eines Tanzbewegungs- bzw. Bewegungsallrounders, der nicht mehr nur konkrete Techniken beherrscht, sondern sich in seinen Bewegungsvollzügen vor allem immer neu ein- und umstellen kann, zu entsprechen scheinen. Tanzkünstler müssen sich dabei nicht nur auf verschiedene Bewegungssprachen verschiedener Choreographen und bei diesen auf die Bewegungssprachen verschiedener Produktionen einlassen können, sondern diese als Mitautoren im Kontext kollaborativer choreographischer Arbeitsformen auch selbst (mit-)gestalten. Mit dem Berufsbild des Tänzerchoreographen ist klar, dass der Tänzer als Choreograph auch eigenständiger Künstler im Feld der Bewegung ist. Mit zur Diskussion steht damit auch, was unter Technik im Tanz und folglich auch unter Technikvermittlung verstanden werden kann. Insbesondere in einem tanzkünstlerischen Feld, dessen Maxime die Entwicklung je anderer und neuer Bewegungssprachen ist. Gemeint sind mit diesen Bewegungsvollzüge, die nicht aus dem Fundus explizit gesetzter Tanzbewegungen, die – wie Hofesh Shechter (2007) kommentiert – „alle gleich aussehen und das Gleiche bedeuten“, entnommen sind.3 Welcher Vermittlungskonzepte akademischer tanzkünstlerischer Ausbildung bedarf es angesichts der Wandlungen des Berufsfeldes? Als eine Strategie zur Herstellung von Flexibilität im tänzerischen Bewegungskönnen erscheint die der Addition von Vielem: Neben verschiedenen Techniken des Tanzes lernen zukünftige Tanzkünstler in den neuen Studiengängen auch Theaterwissenschaft und Philosophie und befassen sich mit verschiedenen somatischen Praktiken und verschiedenen Körpertherapien (vgl. Temme 2015). Die im Rahmen einer Tagung und diesem Band diskutierte damalige Tanz-Avantgarde lieferte neben ihrer neuen Tanzästhetik und Tanzwerken vor allem auch Konzepte der Vermittlung von Bewegung bzw. Tanzbewegung. Es sind solche Konzepte, die sich heute in ihrer expliziten Anwendung zumeist abseits akademischer Tanzausbildung wiederfinden. Welche Bedeutung kann diesen künstlerisch-pädagogischen Ansätzen bzw. ihren Prinzipien der Vermittlung künstlerischen Tanzes im Kontext des Neu-Denkens akademischer Tanzausbildungen – heute noch oder wieder – zugemessen werden?

3

Siehe Weigand (2007), vgl. dazu auch Temme 2015: 89.

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Mit diesen Fragen werden sich die Beiträge dieser Textsammlung beschäftigen. Sie haben einen größtenteils tanzpädagogischen Fokus und fassen die Arbeitsergebnisse der Tagung Das Erbe der Tanz-Moderne im zeitgenössischen Kontext. Tanz-Laboratorien zur Forschung in der Praxis zusammen, welche die im deutschsprachigen Raum aktiven Trägereinrichtungen des Modernen Tanzes im Juni 2015 an der Deutschen Sporthochschule Köln durchgeführt hatten.

Z UM H INTERGRUND : D ER MODERNE T ANZ ALS IMMATERIELLES K ULTURERBE Bereits 2014 wurde die kulturelle Ausdrucksform Moderner Tanz – Stilformen und Vermittlungsweisen der Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegung vom Deutschen UNESCO-Komitee in das neu eingerichtete Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Deutschland aufgenommen. Der Begriff des „Immateriellen“ umfasst in diesem Zusammenhang nicht nur geistig-gedankliche Vorstellungen, Ideen, Weltbilder, Normensysteme oder sprachliche Kommunikationsweisen, sondern es sind insbesondere auch Praktiken, Darstellungs- und Ausdrucksformen mit ihrem immanenten Wissen und Fertigkeiten, die zum immateriellen Kulturerbe gehören. Weiterhin sind auch die Instrumente, Objekte und kulturellen Räume eingeschlossen, die mit dem jeweiligen immateriellen Kulturerbe in Zusammenhang stehen. In der 2003 verabschiedeten UNESCO-Konvention werden generell folgende Formen des immateriellen Kulturerbes unterschieden: 4 •

• •

4

Mündlich überlieferte Traditionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Sprache als Trägerin des immateriellen Kulturerbes (z.B. traditionelle Gesänge, Sagen, Märchenerzählungen, Redensarten) Darstellende Künste (z.B. Musik, Tanz, Theaterformen) Gesellschaftliche Bräuche, soziale Praktiken, Rituale und Feste (z.B. Umzüge, Prozessionen, Karneval, Spiele)

Vgl. dazu Deutsche UNESCO-Kommission e.V. (Hg.) 2013: 10 sowie Wulf 2014: 13.

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Wissen und Praktiken in Bezug auf die Natur und das Universum (z.B. traditionelle Heilverfahren, landwirtschaftliches Wissen) Traditionelle Handwerkstechniken.

Der Anthropologe und Kulturwissenschaftler Christoph Wulf (2014: 203210) hatte in seinem Vortrag bei der Kölner Tagung 2015 dargelegt, dass bei Ausdrucksformen des immateriellen Kulturerbes häufig ein Zusammenhang zwischen folgenden Charakteristika zu beobachten ist: • • •



der menschlichen Körper als wichtigste Medium immateriellen kulturellen Erbes der performative Charakter der körperlichen und sozialen Praktiken die größtenteils auf körperlichen, sinnlich-ästhetischen und mimetischen Prozessen beruhende Aneignung, Vermittlung und Tradierung der Praktiken des immateriellen Kulturerbes sowie die Erfahrungen von kultureller Diversität und Andersheit.5

Auf dem Gebiet des Tanzes verdichten sich diese generellen Merkmalseigenschaften. Kennzeichnend ist außerdem, dass das immaterielle Kulturerbe i.d.R. vor allem in korporaler und oraler Weise von einer Generation an die nächste weitergegeben wird und in diesem Vermittlungsprozess fortwährend neu gestaltet wird. Durch diese personal-kommunizierende Übertragung wird innerhalb der praktizierenden Gemeinschaften häufig auch ein Gefühl von Identität und Kontinuität vermittelt.6 Wie bereits angesprochen, sind im bundesweiten Verzeichnis der Deutschen UNESCOKommission im Bereich der Darstellenden Künste auch die sich stetig wandelnden Spielarten, Körperpraktiken und Vermittlungsweisen des mitteleuropäischen Modernen Tanzes als immaterielles Kulturerbe eingetragen. Das UNESCO-Übereinkommen von 2003 verfolgte insbesondere folgende vier Zielsetzungen:7

5

Vgl. zu diesen Aspekten Wulf 2014: 203-210 und ebenso 2007: 41-43.

6

Siehe dazu http://nationalagentur.unesco.at .

7

Siehe Deutsche UNESCO-Kommission (Hg.) 2013: 9.

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die Erhaltung immateriellen Kulturerbes, die Sicherung des Respekts vor dem immateriellen Kulturerbe von Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen, die Schaffung von Bewusstsein für und die Anerkennung der Bedeutung immateriellen Kulturerbes auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene sowie die Unterstützung internationaler Zusammenarbeit.

So war von der Deutschen UNESCO-Kommission mit dem 2014 eingerichteten nationalen Verzeichnis nicht nur ein Instrument zur Inventarisierung des immateriellen Kulturerbes beabsichtigt, sondern durch dieses sollte zusätzlich eine breite Debatte über das immaterielle Kulturerbe angestoßen werden. Hierbei sollten Fragen diskutiert werden, welche die soziale Funktion und den Beitrag des immateriellen Kulturerbes für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft betreffen. Darüber hinaus sollten vor allem auch Strategien entwickelt werden, welche die Weitergabe und die Erhaltung von immateriellem Kulturerbe unterstützen können. Diese Ziele trafen auf damalige Überlegungen und erste Initiativen der Trägerorganisationen des „modernen Tanzerbes“, das aus der mitteleuropäischen Ausdruckstanzbewegung entstanden war. Die Trägereinrichtungen hatten sich zusammengeschlossen, um sich um die Aufnahme in die bundesweite Liste der Deutschen UNESCO-Komitees zu bewerben.8 Anlässlich der erhaltenen Auszeichnung durch das Deutsche UNESCO-Komitees (2014) hatten sie sich zudem verständigt, im Rahmen einer Fachtagung an der Deutschen Sporthochschule Köln Themenaspekte ihrer aktuellen Vermittlung und Verbreitung zu erörtern. Dabei sollten die Wurzeln der verschiedenen Stilformen sowie ihr Verständnis, ihre pädagogische und künstlerische Praxen und Problemlagen, und vor allem die Weiterentwicklung ihrer Vermittlungs- und Ausbildungsarbeit gemeinsam reflektiert werden.

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Der Trägergruppe der Bewerbung beim Dt. UNESCO-Komitee zur Aufnahme gehörten folgende Institutionen an: Arbeitsgemeinschaft Rosalia Chladek Deutschland e.V. mit Unterstützung der Internationalen Gesellschaft Rosalia Chladek Wien e.V.; Elementarer Tanz e.V. Köln; Europäischer Verband für Laban/Bartenieff Bewegungsstudien e.V.; Institut für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität der Künste Essen; Gesellschaft für Tanzforschung e.V. (Federführung und Koordination).

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ZWISCHEN G ESTERN UND H EUTE : K ONZEPTE DES MODERNEN T ANZES Seit den 1990er Jahren kann zwar nach Julia Wehren (2016) ein verstärktes Interesse des zeitgenössischen Tanzes registriert werden, sich künstlerisch und choreographisch in vielfältiger Weise mit der eigenen Vergangenheit und somit in besonderem Maße mit dem tanzkulturellen Erbe der Moderne auseinanderzusetzen. Dennoch sind aufgrund der nachlassenden lebendigen Erinnerung und nicht zuletzt wegen historisch bedingter Brüche in ihrer Tradierung und Verbreitung die ganzheitlichen Vermittlungskonzepte des mitteleuropäischen Modernen Tanzes mit ihren elaborierten Körperpraktiken zunehmend mehr und mehr in Vergessenheit geraten, zumal dieses tanzkulturelle Wissen vorwiegend auf dem Weg persönlicher Interaktion, insbesondere durch körperliche und orale Kommunikationsprozesse übertragen wird. Inzwischen reicht diese größtenteils über ästhetisch-mimetische Prozesse ablaufende Transmission des elaborierten Körperwissens bereits über die allgemeine Überlebensdauer des kollektiven Gedächtnisses von rund 80 Jahren – das entspricht etwa drei Generationen – hinaus.9 Daher haben es die Repräsentanten der Ausbildungsinstitute des Modernen bzw. Freien Tanzes zunehmend schwer, innerhalb der tanzkulturellen Mannigfaltigkeit der heutigen Tanz- und Ausbildungslandschaft ihr spezifisches „Tanzerbe“, das meint hier vor allem auch die Prinzipien und kennzeichnenden Eigenheiten ihrer Arbeitsweisen und Trainingsmethoden, an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, zumal die Anzahl der speziell in diesen Tanzstilen ausgebildeten Tanzpädagogen und Tanzkünstler marginaler wird. Die Interessensgruppen und Dachorganisationen dieser zumeist in den 1920er Jahren entstandenen der Tanz- und Vermittlungskonzepte der Ausdruckstanzbewegung suchen daher seit geraumer Zeit nach neuen Wegen und Vermittlungsformaten, um ihren Tanzstil, ihre Tanztechnik oder ihre Arbeitsweise im kulturellen Gedächtnis präsent zu halten.

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Vgl. zur Verschränkung der Weitergabe von praktischem Wissen und Mimesis Gebauer/Wulf 1998, die mimetischen Grundlagen des Tanzes erläutert Christoph Wulf in diesem Band S. 53ff. Zu dem von Jan und Aleida Assmann entwickelten Gedächtniskonzept vgl. u.a. Assmann 1988.

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Durch die in Kooperation mit der Deutschen Sporthochschule Köln durchgeführte Tagung Das Erbe der Tanz-Moderne im zeitgenössischen Kontext. Tanz-Laboratorien zur Forschung in der Praxis (2015) wurde ein erstes Forum geschaffen, um diese Fragen gemeinsam mit interessierten Tanzpädagogen und Wissenschaftlern erörtern. Im Mittelpunkt dieser ersten Standortbestimmung stand eine vergleichende Betrachtung des in den verschiedenen Spielarten des Modernen Tanzes artikulierten „Körper- und Bewegungswissens“, das durch intensive, häufig auch kollektiven Bewegungsforschungen gewonnen und verfeinert wurde. Im diesem Rahmen sollten insbesondere die bevorzugt genutzten Lehr- und Arbeitsweisen von Rosalia Chladek, Maja Lex, Rudolf von Laban und Irmgard Bartenieff vergleichend untersucht werden. Ferner sollte das Ausbildungskonzept von Kurt Jooss und Sigurd Leeder, das wesentlich auf Labans Lehre gründet, ebenfalls in diese komparative Analyse einbezogen werden. Die pädagogisch-künstlerischen Konzepte dieser Protagonisten wurden insbesondere aus dem Blickwinkel ihres Wandels und ihrer aktuellen Tanz- und Vermittlungspraxis vorgestellt und erörtert. Ferner wurde auch die Frage ihres augenblicklichen Stellenwerts in der akademischen Tanz- bzw. Tanzpädagogik-Ausbildung debattiert.

D AS T AGUNGSKONZEPT Um die in den Praktiken des Modernen Tanzes innewohnenden immateriellen Wissensbestände erfahrbar und bewusst zu machen, wurde bei der Tagung eine Vorgehensweise realisiert, die man als transdisziplinäre kollaborative Praxisforschung bezeichnen könnte.10 So wurden Arbeitsformate bevorzugt, die das praktische Erfahrungswissen und die ästhetisch-perzeptiven Erkenntniswege der Tagungsteilnehmenden verschränkt haben mit zusätzlichen Informationen zum kontextuellen Hintergrund dieser Lehren. In Tanz-Laboratorien und kollegialen Arbeitsgesprächen erläuterten die Experten, Tanzpädagogen und Zeitzeugen der in Köln versammelten Spielarten des Freien Tanzes beispielhaft die einzelnen Praktiken, Vermittlungsweisen und grundlegende Prinzipien. Hierbei wurden das ChladekSystem und seine Lehrweise sowie das künstlerisch-pädagogische Konzept

10 Vgl. zu dieser Vorgehensweise Fleischle-Braun 2016a sowie 2016 b.

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des Elementaren Tanzes von Maja Lex vorgestellt, desgleichen wurde ein exemplarischer Einblick in die bewegungsanalytischen Themenkomplexe und Kategorien der Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien gegeben. Im Rahmen einer Lecture Performance demonstrierten Studierende der Tanzabteilung der Folkwang Universität der Künste Essen Tanz-Studien des Folkwang-Lehrers Jean Cébron. Stephan Brinkmann, der mit seiner Ausbildungsklasse diese Etüden einstudiert hatte, erklärte hierbei die wesentlichen Grundzüge des dort von Kurt Jooss und Sigurd Leeder entwickelten Ausbildungs- und Trainingskonzepts.11 Darüber hinaus wurde von den Trägerorganisationen ein gemeinsamer Aufführungsabend mit historischen „ReKreationen“ und aktuellen Tanzchoreographien gestaltet. Mit diesen Beispielen aus der künstlerischen Praxis wurden ebenfalls Eigenheiten der thematisierten Stilformen sichtbar. Des Weiteren gaben Panel-Diskussionen Einblicke in geschichtliche Zusammenhänge oder auch in die heutige Praxis der akademischen Tanzpädagogen-Ausbildung. Insgesamt erschloss sich bei der Tagung durch die Tanz-Laboratorien, Lecture Performances, Gesprächsrunden und Aufführungen ein produktiver Denk-Raum, in dem sowohl Erkenntnisse aus den historiographischen und kulturwissenschaftlichen Perspektivierungen mit ästhetischen Eindrücken, Erfahrungen und Beobachtungen der Tagungsbeteiligten miteinander verbanden und diese reflektiert werden konnten. Außerdem waren Kollegen aus dem Bereich der Pädagogischen Anthropologie und Bildungsforschung als prozessbegleitende Beobachter und Berichterstatter eingesetzt. Somit konnten beispielsweise die in den Tanz-Laboratorien oder bei Aufführungen wahrgenommenen ästhetischen Erfahrungen und die Beobachtungen aus den Arbeitsprozessen genutzt werden, um die Ansätze vergleichend zu betrachten. Die im Rahmen der Tagung vorgestellten Tanz-Systeme bzw. ‚Schulen‘ und Vermittlungskonzepte wurden darüber hinaus auch hinsichtlich ihrer Kompatibilitäten zur zeitgenössischen Tanzpraxis untersucht. Hierbei wurde auch ihre Relevanz in heutigen tanzpädagogischen Diskursen hinterfragt. Die Studienleiter der in diesem Zusammenhang bedeutsamen univer-

11 Tanz-Etüden, in denen Themen der tanztechnischen Ausbildung wie auch aus Labans Raum- und Eukinetik-Lehre in Bewegungskombinationen choreographisch verarbeitet werden, stellen ein zentrales Element im Ausbildungskonzept von Kurt Jooss und Sigurd Leeder dar.

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sitären Ausbildungsstätten (Folkwang Universität der Künste Essen, Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien sowie Deutsche Sporthochschule Köln) berichteten dazu über den Stellenwert des modernen Tanzerbes in der Ausbildung von Tanz- und Tanzpädagogik-Studierenden und auch im Rahmen der Sportlehrausbildung. Zusammenfassend standen bei der Kölner Tagung (2015) folgende Fragestellungen im Zentrum, die sich auch in den Beiträgen dieses Themenbandes wiederspiegeln: •

• • • • •

Aus welchem Wissen und Zeitgeist heraus und unter welchen Rahmenbedingungen konnten die verschiedenen Systeme der europäischen Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegung entstehen? Auf welchen Konzepten gründen die Prinzipien dieser Tanzsysteme und welche Einflüsse sind heute erkennbar? Welche Gemeinsamkeiten und signifikante Unterschiede sind in den verschiedenen Ausprägungen und Lehrweisen vorhanden? Welche soziokulturellen und institutionellen Gegebenheiten und welche personalen Einflüsse bewirkten Veränderungen in den Lehr-Systemen? Inwieweit bestehen Anknüpfungsmöglichkeiten und Kompatibilität an zeitgenössisch tanzdidaktische Konzepte? Welchen Wert und Relevanz besitzen diese Ansätze für die künstlerische und pädagogische Arbeit und für eine professionelle Ausbildung im zeitgenössischen Tanz?

Wie bereits angesprochen, wurden bei der Tagung domänenübergreifende und kooperative Arbeitsformate gewählt, um mehrperspektivisch Praxiswissen dieser Ansätze zugänglich und die größtenteils impliziten und prozeduralen Anteile des Körperwissens der modernen Ansätze fassbar zu machen. Insgesamt lässt sich unsere kooperative Forschungsstrategie somit als eine Zusammenführung des „Practice-as-Research“-Ansatzes mit dem methodischen Ansatz von „Oral History“ und der historiographisch-hermeneutischen Analyse von archivarischem Quellenmaterial kennzeichnen. In abschließenden Auswertungssitzungen wurden wesentliche Arbeitsergebnisse und Denkanstöße protokolliert und somit für die beteiligten Akteure als Ressource nutzbar. Auf dieser Grundlage wurde dann diese erweiterte Tagungsdokumentation erarbeitet, die gleichzeitig eine aktuelle Textsammlung mit vorrangig tanzdidaktischer Fokussierung darstellt. Diese kann

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auch zur Vermittlung und zur Verbreitung der damals wie heute innovativen Methoden, Ideen und Ansätze der tanztechnischen und künstlerischen (Aus-) Bildung im Tanz beitragen.

W EITERGABE UND V ERMITTLUNG DER K ONZEPTE DES M ODERNEN T ANZES Bereits die Kölner Tagung (2015) hatte offen gelegt, dass es hinsichtlich der Übertragung und Weitergabe der verschiedenen Ausrichtungen des Modernen Tanzes und deren „methodengegründeten“ Praxeologien12 bzw. Konzepten ganz unterschiedliche Auffassungen und Positionen gibt, und dass in diesem Feld für die Tanzpädagogik und Tanzwissenschaft noch einige Desiderate liegen. Auch wurde deutlich, wie in der Vermittlungspraxis bisweilen eine Kluft besteht, die zwischen dem „Bewahren des Essenziellen aus der Vergangenheit“ und einer bewussten „zeitgemäßen Übertragung in die Gegenwart“ auszumachen ist. Daher stellt es für die verantwortlichen Lehrkräfte bisweilen durchaus eine Herausforderung dar, hier Wege, Übergänge und Brücken zu finden. Dazu kommt, dass auch „tradierte“ Tanzstile und Tanztechniken heute kaum mehr als festgefügte, in sich geschlossene Systeme betrachtet werden können, sondern sie verändern sich permanent und sind daher zumeist Gebilde mit einem hybridem Charakter. Somit zeigen sich die körperlich repräsentierten Leitbilder in pluraler Weise; auch orientieren sich die ästhetisch-choreographischen Konzepte heute weniger an einer bestimmten Stilform, sondern sie werden flexibel kombiniert und

12 Hilarion Petzold (2001: 226 f.) kennzeichnet „methodengegründete“ Praxeologien als […] durch Erfahrung, systematische Beobachtung und methodisches Erproben erarbeitete, in sich hinlänglich konsistente Formen und Wege praktischen Handelns. Durch Methoden, die als solche reflektiert wurden, sind Wissensbestände entstanden, ein Praxiswissen. […] (Hervorhebung durch H. P.) Er grenzt dieses „Bottom-up-Theorie-Praxis-Verhältnis“ von „top-down“ entwickelten „theoriegegründeten“ Praxeologien ab. In einer Meta-Perspektive kann unter sozial- und kulturtheoretischer Perspektive „Praxeologie“ auch als „Wissenschaft von der Praxis“ gedeutet werden. Vgl. dazu u.a. Bourdieu 1976 und Reckwitz 2003.

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ausgelegt.13 Zeitgenössische Tanzpädagogen und -künstler verstehen sich also kaum mehr als Interpreten oder Vermittler einer ganz bestimmten stilistischen Ausdrucksform oder Tanztechnik. Sie bauen sich in den vielgestaltigen Tätigkeitsfeldern ihr Lehrkonzept und sie mischen, erweitern und verändern dieses aufgrund ihrer eigenen biographischen Erfahrungen oder tanzästhetischen Vorlieben und den Trends in der Tanz-Szene oder entsprechend den Anforderungen ihres momentanen beruflichen Arbeitsfeldes. Die in diesem Band versammelten Richtungen besitzen vor allem aufgrund ihrer didaktischen Fundierung und differenziert-analytischen Betrachtung der tänzerischen Bewegung und der choreographischen Komponenten tänzerischer Bewegungsgestaltung eine entscheidende Ordnungsund Orientierungsfunktion für die Lehre und das künstlerische Schaffen. Damit geben sie Tänzern und Tänzerinnen sowie Tanzpädagogen und Tanzpädagoginnen Instrumentarien, Methoden, Wissen und Werkzeuge, die auch in Verbindung und im Umgang mit anderen tanzkulturellen Formen und Stilen wichtig sein können.

INHALTLICHE S TRUKTUR

DES

T AGUNGSBANDES

In der vorliegenden Tagungsdokumentation sind sowohl Beiträge zu den bereits angesprochenen Ausrichtungen des Modernen Tanzes versammelt als auch Aufsätze, die den geschichtlichen, philosophischen und pädagogischen Hintergrund des Modernen Tanzes näher beleuchten und sich mit der Frage der Transmission von Tanzstilen auseinandersetzen. Zusätzlich werden Anmerkungen und Kommentare der bei der Tagung aktiv mitwirkenden Tanzforscherinnen unseren Blick erweitern oder diesen auch wenden, indem sie ausgewählte Themenaspekte neu fokussieren. Aus dem Bereich der Bildungsforschung und Philosophie werden Kollegen aus der Sicht ihres Faches die Ergebnisse ihrer teilnehmenden Beobachtung und ihre Schlussfolgerungen darlegen. Dementsprechend gliedert sich das Buch in folgende Abschnitte:

13 Darauf verweist u.a. auch Wehren 2016: 181-188.

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Prozesse der Vermittlung und Aneignung Der einführende Beitrag widmet sich dem Prozess der Weitergabe und Übertragung und stellt die Frage nach einer zeitgemäßen Lehre der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Praxeologien und Vermittlungskonzepte des Freien Tanzes. CLAUDIA FLEISCHLE-BRAUN thematisiert die während tänzerischen Aneignungs- und Vermittlungsprozessen immanenten Vorgänge des Erinnerns- und Vergessens sowie die damit verbundenen Interpretations- und Transformationsprozesse, die im Laufe der Übertragung von jeglichem tanzkulturellen Erbe stattfinden. Wenngleich die über das kollektive Gedächtnis tradierten Praxeologien und Konzepte einen gemeinsamen Wissensbestand an grundlegenden Prinzipien, Körperbildern, Denkweisen und ästhetisch-normative Werten aufweisen, so wird dieses spezifische „immaterielle Erbe“ aber im Laufe des Vermittlungsprozesses nicht mehr in einer „ursprünglich-authentischen“ oder „originalen“ Form weitergegeben. Schließlich ist der Wandel für jede „lebendige“ kulturelle Ausdrucksform – und in besonderem Maße im Tanz – geradezu ein Charakteristikum, zumal der Transmissionsprozess immer auch mit zeitgebundenen Lesarten wie auch individuell-subjektiven Auslegung der Vermittelnden verknüpft ist. Aus einer übergreifenden anthropologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektive erläutert CHRISTOPH WULF die grundlegenden Prozesse und Phasen des mimetischen Lernens im Tanz. Das von ihm dargelegte Mimesis-Konzept des Lernens ist als grundlegende menschliche Fähigkeit aufzufassen und als kreative Nachahmung und als performatives Verhalten zu verstehen. Nicht nur für das Lernen tänzerischer Praktiken, sondern für das kulturelle Lernen und für die Weltaneignung und Subjektkonstitution ist es von entscheidender Bedeutung. Die Ausführungen von Wulf fassen die bei der Aneignung von Bewegungs- und Ausdrucksfähigkeiten ablaufenden mimetischen Lernprozesse zusammen. Dabei werden auch die mimetischen Prozesse zwischen Tänzern und Zuschauern reflektiert. Konzepte und didaktische Konkretisierungen Aus tanzhistoriographischer Sicht erläutert GUNHILD OBERZAUCHERSCHÜLLER zunächst die wichtigsten Linien der Gymnastikbewegung. Sie konturiert damit nicht nur ein wesentliches Fundament der körpertechni-

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schen Ausbildung des mitteleuropäischen Modernen Tanzes, sondern auch das Körper- und Menschenbild dieser Konzepte. Um 1910 waren es vorwiegend einzelne Frauen, die aus der Rezeption von Delsartes Lehren – insbesondere in der amerikanischen Version des „Delsartismus“ von Genevieve Stebbins – das funktionelle Bewegungsfundament zur Schulung des körperlichen Ausdrucks geschaffen hatten.14 Gleichzeitig war dadurch eine theoretische Grundlage einer „künstlerischen Körperbildung“ gelegt worden, auf welche die meisten Protagonisten des Modernen Tanzes bei ihrer Suche nach adäquaten Trainingsformen zurückgegriffen hatten. Im Anschluss werden dann die bei der Kölner Tagung (2015) vorgestellten künstlerisch-pädagogischen Ansätze des Modernen Tanzes mit ihren differenten didaktischen und bewegungsanalytischen Grundlagen in ihrer heutigen Fassung und Lehrweise beschrieben. Daher ist dieses Kapitel durchaus als das „Herzstück“ dieses Tagungsbands zu verstehen. Es werden dabei die Lehren des zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Freien bzw. Modernen Tanzes in den wesentlichen Intentionen, Grundlagen und Prinzipien beschrieben, auch werden deren Aktualisierungen, Transformationen und Weiterentwicklungen besprochen. Die Darstellung ihrer gegenwärtigen Praxis und Lehrweise sowie die bewegungsanalytischen und didaktischen Überlegungen werden dabei zumeist auch in Bezug zu den Arbeitsbeispielen und –prozessen der Tanzlaboratorien oder auch der illustrierenden Lecture Performances der Kölner Tagung (2015) gesetzt. Die Autorenteams haben einzeln oder im Kollektiv und mit einer jeweils eigenen Gliederungsstruktur und Perspektivierung verfasst, um die kennzeichnenden Elemente und Eigenschaften des jeweiligen Konzepts herauszuarbeiten. In jedem der hier dargelegten Ausführungen zu den verschiedenen Spielarten und didaktischen Ansätzen lässt sich ein je eigenes „Ensemble“ ausmachen, das sogar im Sinne eines „Dispositivs“ verstanden werden könnte.15 Schließlich werden in den Konzepten Ausformungen be-

14 Das gymnastische Körper- und Bewegungswissen und Delsartes Ausdruckslehre wurde in Mitteleuropa zunächst von Bess Mensendieck und in der Folge vor allem durch Hedwig (Hade) Kallmeyer, Hedwig Hagemann, Dorothee Günther und Elsa Gindler verbreitet. 15 Michel Foucault (1978: 119 f.) versteht unter diesem Begriff […] „erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maß-

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stimmter Körpertechniken, aber auch systematisch-kategoriale bewegungsanalytische Betrachtungen, bevorzugte Lehrinhalte und Vermittlungsstrategien sowie ästhetisch-philosophische Werturteile hinsichtlich des immanenten Tanzverständnisses in ihrer Vernetztheit beschrieben und wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass derartige Beschreibungsmodelle immer auch beeinflusst sind durch die Rezeption zeit- und kontextbedingter Diskurse. Aus den Texten lassen sich trotz ihrer formalen Unterschiedlichkeit dennoch einige gemeinsame Grundgedanken und Verbindungslinien herauslesen, ferner zeigen sie aktuelle Fragestellungen hinsichtlich ihrer Vermittlungspraxis auf. Das Konzept des Elementaren Tanzes wird von KRYSTINA OBERMAIER erörtert. Sie verweist auf die pädagogischen Bildungspotenziale und -ziele seiner heutigen Praxis hin. DILAN ERCENK-HEIMANN und TESSA TEMME beschreiben in ihrem Beitrag exemplarisch die prozessorientierte Vorgehensweise dieses Ansatzes und nehmen dabei Bezug auf die Auslegung des Elementaren Tanzes, wie sie derzeit an der Deutschen Sporthochschule Köln im Rahmen der universitären Ausbildung ihre Realisierung findet. Das Autorenteam INGRID GIEL, EVA LAJKO und URSULA SCHEBRAKCARCICH stellt das Chladek-System vor und erläutert seine charakteristische Lehrweise. Dabei werden auch didaktische Erweiterungen und Neuerungen im Weiterbildungskonzept dargelegt und Projektvorhaben der Internationalen Gesellschaft Rosalia Chladek e. V. angesprochen. ANTJA KENNEDY und ANJA WEBER verfassten den Beitrag zur Entwicklung und aktuellen Lehre der Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien. Ein besonderer Akzent liegt auf der Eröterung der Methodik zur Aneignung der von Irmgard Bartenieff entwickelten „Fundamentals“. Diese Bewegungs-

nahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. […] Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich mit dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen […] Kurz gesagt gibt es zwischen diesen Elementen, ob diskursiv oder nicht, ein Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen […] Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.“

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abläufe beruhen auf Prinzipien einer funktionellen Gesamtkörperkoordination. STEPHAN BRINKMANN stellt die Jooss-Leeder Methode vor, ein Erbe, das in Deutschland bis zum heutigen Tag an der Tanzabteilung der Folkwang Universität der Künste Essen gelehrt wird. „Übersetzungen“ im Rahmen zeitgenössischer akademischer Ausbildungskonzepte Das dritte Kapitel widmet sich der Frage, welche Relevanz diese Ansätze für die künstlerische und pädagogische Arbeit im zeitgenössischen Tanz und für die professionelle Qualifizierung von Tänzern und Tanzpädagogen besitzen. Darüber hinaus werden aus unterschiedlichen Perspektiven „Übersetzungen“ der Konzepte im Rahmen heutiger Ausbildungs- und Studienstrukturen von Tanz- und Tanzpädagogik diskutiert. Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein (2013: 183) betont ausdrücklich, dass „Übersetzen […] immer ein Aushandeln und ein Vermitteln zwischen Verschiedenem“ bedeutet, dass damit nicht der Transfer eines Originals oder eine (vermeintlich) authentische Übertragung gemeint ist, sondern auch von einem „paradoxalen Verhältnis von Identität und Differenz“ auszugehen ist.16 Die Aufsätze dieses Kapitels geben Aufschluss über zeit- und institutionell-strukturbedingte Anpassungen und Weiterentwicklungen der erörterten Bewegungs- und Vermittlungskonzepte und reflektieren deren Vermittlung in übergreifenden und mehrperspektivischen akademischen Studienkonzepten. STEPHAN BRINKMANN berichtet über Aktivitäten und Projekte an der Folkwang Universität der Künste Essen, die im Rahmen der Studiengänge, des Folkwang-Tanzstudios und des Folkwang-Tanzarchivs stattfinden, um den Studierenden (und der Öffentlichkeit) einen „Zugang“ zum „FolkwangTanzerbe“ zu ermöglichen. Er legt dar, wie das Tanzerbe ins Heute geholt wird, um damit Grenzüberschreitungen im Sinne einer Synthese zwischen Innovation und Tradition zu erreichen. Der Beitrag von NIKOLAUS SELIMOV zeigt auf, auf welche Weise und mit welchen Intentionen die Studierenden in den Studiengängen „Zeitgenössischen Tanz“ und „Zeitgenössischen Tanzpädagogik“ gegenwärtig das

16 Hervorhebung im Original durch Gabriele Klein.

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Chladek-System kennenlernen und wie mit Rosalia Chladeks Erbe an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien praktisch und wissenschaftlich forschend gearbeitet wird. DENISE TEMME befasst sich in ihrem Beitrag mit der Frage, welches Maß guter und richtiger Tanzbewegung insbesondere in solchen Feldern des Tanzes in Anspruch genommen wird, welche einen denkbar weiten Begriff von Tanz bzw. Tanzbewegung vertreten. Die Autorin erläutert dabei maßgebliche Prämissen eines Rahmenkonzepts, das Prozesse und Gelegenheiten einer Bewegungsbildung ermöglicht. Abschließend werden Bezüge hergestellt zu zentralen Aspekten des Elementaren Tanz-Konzeptes, um aufzuzeigen, wie dieses an der Deutschen Sporthochschule Köln seine Realisierung findet. Beobachter-Perspektiven und Annotationen Abschließend werden in den Annotationen des Tagungsbandes sowohl die vorgestellten Konzepte des Modernen Tanzes als auch die gemeinsamen Arbeitsprozesse während der Kölner Tagung (2015) aus den jeweiligen theoretischen Blickwinkeln der beobachtenden Kolleginnen und Kollegen reflektiert. Insbesondere werden Frage- und Problemstellungen, die während der Fachtagung in diesem kooperativen reflexiven Forschungsprozess virulent wurden, aufgegriffen und und fokussiert. Wo und wie knüpfen die Konzepte an erziehungs- und verhaltenswissenschaftliche oder tanzwissenschaftliche Diskurse an und welchen speziellen Problemlagen sind sie ausgesetzt? Welche Forschungsdesiderate lassen sich erkennen und welche ‚blinde Flecken‘ der Wahrnehmung sind eventuell sogar innerhalb der Tanz-Szene vorhanden? RITA MOLZBERGER und MICHAEL OBERMAIER thematisieren in ihrem Beitrag aus anthropologischer, bildungs- und wissenschaftstheoretischer Sicht zentrale Grundthemen der tanzdidaktischen Analyse, die ihnen im Verlauf der teilnehmenden Beobachtung der Tanz-Laboratorien und der Tagungsdiskussionen aufgefallen waren. Sie reflektieren den Aspekt der (Selbst-) Bildung und den Subjektbezug im Kontext von Ausbildungs- und Bildungssystemen und somit auch das in den Konzepten immanente Menschenbild. Des Weiteren wird auf den Zusammenhang zwischen Tanzpraxis und Reflexivität, Leiblichkeit und Ästhetische Bildung verwiesen und in einen sozialökologischen Verstehenshorizont überführt.

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Mit tanzpädagogisch-psychologischen Aspekten befassen sich die Anmerkungen von SUSANNE QUINTEN. Es werden Fragestellungen aufgegriffen, die bei der Kölner Tagung angesprochen wurden, insbesondere diskutiert S. Quinten die Bedeutung der Bewegungsdynamik sowie die Betonung des Individuellen und die Heterogenität der Ausdruckskonzeptionen, ferner neuere Forschungsergebnisse bezüglich des Themenfeldes Kinästhesie, Kommunikation und Resonanz. Sie recherchierte dabei insbesondere auch nach Studien, die sich auf das Konzept des Elementaren Tanzes beziehen, zumal dieses nicht nur im tanztherapeutischen Arbeitsfeld, sondern auch im „Fähigkeitsgemischten Tanz“ (mixed-abled-dance) Anwendung findet.

F AZIT In diesem Band fließen Expertisen und Wissen verschiedener Fachdomänen und Tätigkeitsfelder zusammen, um aus ganz unterschiedlichem Blickwinkel die Themeninhalte der Tagung zu beleuchten und zu erörtern. Die Autorinnen und Autoren aus den Trägerorganisationen und aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachdomänen bringen dabei ihre jeweilige Expertise, ihren persönlichen Erfahrungshintergrund und ebenso ihre Standpunkte in die gemeinsam geführte Debatte ein, um dadurch produktive und weiterführende Denkanstöße insbesondere für die tanzpädagogische Lehre, aber auch für weitere Forschungsaktivitäten zu geben. So lag es zum Einen in unserer Intention, einen informativen Überblick über zentrale didaktische Konzepte und Positionen des Modernen Tanzes zu geben, andererseits sollen Diskurs-Spuren wiedergegeben werden, welche sich in Verbindung mit Themen des immateriellen Erbes des Modernen Tanzes ergeben hatten. Die ergänzenden Sachberichte und Beiträge aus den Ausbildungsinstitutionen erweitern die zeitgenössische Perspektivierung der diskutierten Konzepte des Modernen Tanzes und möglicherweise lassen sich auch Strategien für die zukünftige Lehr- und Ausbildungsarbeit innerhalb der Trägerorganisationen und Interessengemeinschaften ableiten, um ihre spezifische tänzerische Ausdrucks- und Vermittlungsform mit dem darin immanent „verkörperten“ Wissen in einer adäquaten zeitgemäßen Weise weiterzugeben. Die Ausführungen der Kollegen aus übergreifenden Fachdomänen (Erziehungswissenschaft, Anthropologie und Kulturwissenschaft) und die theoretischen Rahmungen der Tanzforschenden tragen gleichermaßen zu

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einem neuen Verständnis der behandelten Konzepte des Modernen Tanzes und zur Weiterentwicklung der Tanzpädagogik bei. So setzte sich das „Nach-Denken“ über die Kölner Tagung (2015) hinaus fort, zumal sich aus der Kölner Tagung nicht nur Impulse für konkrete Initiativen ergaben, sondern auch neue Forschungsfragen gestellt wurden.17 Daran lässt sich nicht zuletzt die Dynamik und Unabgeschlossenheit der Kölner Spurensuche erkennen. So sind wir weiter dabei, gedankliche Brücken zu schlagen zwischen der Lehrpraxis von gestern und heute.

U NSER D ANK Wir möchten an dieser Stelle den Repräsentantinnen und Repräsentanten der Trägereinrichtungen herzlich danken für ihre großzügige Unterstützung bei der inhaltlichen und organisatorischen Programmgestaltung. Folgende Institutionen und Personen waren an diesem Prozess beteiligt: Arbeitsgemeinschaft Rosalia Chladek Deutschland e.V. (Eva Lajko) und Internationale Gesellschaft Rosalia Chladek Wien e.V. (Ingrid Giel und Ursula Schebrak-Carcich); Elementarer Tanz e.V. Köln (Krystyna Obermaier); Europäischer Verband für Laban/Bartenieff Bewegungsstudien e.V. (Silvia Dietrich, Antja Kennedy und Anja Weber); Institut für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität der Künste Essen (Roman Arndt (†) und Stephan Brinkmann), Institut für Tanz und Bewegungskultur der Deutschen Sporthochschule Köln (Dilan Ercenk-Heimann, Tessa Temme und Denise Temme) sowie die Gesellschaft für Tanzforschung e.V. (Claudia FleischleBraun), welche die Gesamtkoordination übernommen hatte. Ein herzlicher Dank gebührt an dieser Stelle auch den Tanzgruppen (Deutsche Sporthochschule Köln, Folkwang Universität Essen, Günther-Schule Meerbusch, POGOensemble, Tanzcompanie Odenthal) und Tänzerinnen (Doris BucheReisinger, Gabriele Gierz, Alina Jacobs, Constanze Ponzelar), die bei der Kölner Tagung durch ihre Darbietungen künstlerisch-choreographische Aspekte der Konzepte verdeutlichen konnten. Besonders herzlich möchten wir uns an dieser Stelle bei allen Referenten und Autoren für ihre mit gro-

17 Vgl. hierzu u.a. die Berichte von den Trägereinrichtungen und Ausbildungs stätten in Kap. 2 und 3, ferner Ercenk-Heimann 2016, Fleischle-Braun 2016a und b, Quinten 2016.

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ßer Sensibilität und Verantwortung für das Gesamtprojekt abgefassten Beiträge bedanken. Wir schließen in unseren Dank auch die zahlreichen Tagungsteilnehmenden ein, die durch ihre Diskussionsbereitschaft und engagierte Mitarbeit während der Tagung und bei den anschließenden Auswertungsgesprächen ganz wesentlich zur produktiven Arbeitssphäre beigetragen haben. Darüber hinaus danken wir dem Vorstandsteam der Gesellschaft für Tanzforschung e.V. für die eröffnete Möglichkeit, diesen Tagungsband in der neu geschaffenen GTF-Publikationsreihe TanzForschung realisieren zu können. Margrit Bischof hatte als erste Vorsitzende nicht nur den Kontakt zum transcript-Verlag hergestellt und damit die Rahmenbedingungen geschaffen, sondern unterstützte zudem den Fortgang unseres Publikationsvorhabens persönlich mit ihrem Rat und Zuspruch. Dem transcript-Verlag, namentlich insbesondere Johanna Tönsing, Christine Wichmann und Kai Reinhardt, danken wir für die überaus gute Zusammenarbeit sowie die hilfreiche, kompetente und freundliche Unterstützung, die wir bei allen Fragen der verlagstechnischen Umsetzung unseres Publikationsvorhabens erfahren haben.

L ITERATUR Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-19. Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deutsche UNESCO-Kommission e.V. (Hg.) (DUK) (2013): Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes. Bonn. Deutsche UNESCO-Kommission e.V. (DUK) (Hg.) (2014): Wissen. Können. Weitergeben. Bundesweites Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes. Bonn. Ercenk-Heimann, Dilan (2016): Tanztechnik 2.0 – Der Lehr- und Lernansatz nach Dorothee Günther. Eine bewegungsreflexive Ausrichtung?, in: Susanne Quinten/Stephanie Schroedter (Hg.), Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis. Choreographie, Improvisa-

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tion, Exploration. GTF-Jahrbuch 2016. Bielefeld: transcript, S. 143153. Fleischle-Braun, Claudia (2016 a): „Das Erbe der Tanzmoderne im zeitgenössischen Kontext. Ein Beispiel kooperativer Praxisforschung“, in: Susanne Quinten/Stephanie Schroedter (Hg.), Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis. Choreographie, Improvisation, Exploration. GTF-Jahrbuch 2016. Bielefeld: transcript, S. 49-59. Fleischle-Braun, Claudia (2016 b). „Das Tanzerbe der Moderne im zeitgenössischen Kontext“, in: SportZeiten. Sport in Geschichte Kultur und Gesellschaft (16. Jg. 2016, H. 1), S. 37-60. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (1998): Mimesis, Kunst, Kultur, Gesellschaft. Reinbek: Rowohlt. Klein, Gabriele (2013): Tanz als kulturelles Übersetzen, in: Colleen M. Schmitz/Deutsches Hygienemuseum Dresden (Hg.), tanz! Wie wir uns und die Welt bewegen. Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 181-187. Petzold, Hilarion (2001): Überlegungen zu Praxeologien – körper- und bewegungsorientierte Arbeit mit Menschen aus integrativer Sicht, in: Wolfgang Steinmüller/Karin Schäfer/Michael Fortwängler (Hg.), Gesundheit – Lernen – Kreativität. Alexander-Technik, Eutonie Gerda Alexander und Feldenkrais als Methoden zur Gestaltung somato-psychischer Lernprozesse. Bern: Hans Huber, S. 225-243. Quinten, Susanne (2016): Kinästhetische Kommunikation und Intermediale Wissenstransformation als Forschungsmethoden in tanzkünstlerischen Kontexten, in: Quinten, Susanne/Schroedter, Stephanie (Hg.), Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis. Choreographie, Improvisation, Exploration. GTF-Jahrbuch 2016. Bielefeld: transcript, S. 37-47. Reckwitz, Andreas (2003): „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie (Jg. 32, H. 4, August 2003), S. 282-301. Temme, Denise (2015): Menschliche Bewegung als Tätigkeit: Zur Irritation fragloser Gewissheiten. (Reflexive Sportwissenschaft; Band 3). Berlin: Lehmanns media. Wehren, Julia (2016): Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis. Bielefeld: transcript.

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Wulf, Christoph (2014): Bilder des Menschen. Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur. Bielefeld: transcript. Wulf, Christoph (2007): „Immaterielles Kulturerbe als Aufgabe von Erziehung und Bildung“, in: UNESCO heute. Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission (2007, Heft 1), S. 141-143.

INTERNET -Q UELLEN http://nationalagentur.unesco.at (abgerufen am 30.10.2016) http://www.tanzplandeutschland.de/ausbildungsprojekte.php?id_language= 1 (abgerufen am 22.7.2016) http://www.unesco.de/kultur/immaterielles-kulturerbe.html (abgerufen am 30.10.2016) Weigand, Frank (2007): „ ‚Meine Arbeit ist absolut nicht politisch‘. Ein Interview mit Hofesh Shechter“, http://www.tanznetz.de/blog/10189/ meine-arbeit-ist-absolut-nicht politisch. (abgerufen am 4.12.2017)

Prozesse der Vermittlung und Aneignung

Zum tanzpädagogischen Erbe des Modernen Tanzes und dessen Weitergabe C LAUDIA F LEISCHLE -BRAUN

In jeder Tanzkultur entwickeln die Tanzenden, indem sie diese ausüben, bestimmte Rituale und Trainingspraktiken. Sie schaffen eine Didaktik zur Vermittlung der prägenden konfigurativen Merkmale und Techniken, welche ihre Ästhetik bestimmen. Innerhalb des jeweiligen „kollektiven Gedächtnisses“ der jeweiligen Akteure entstehen spezifische Anschauungen, Wissensbestände und Theorien. Diese Praxeologien können damit als jeweils zeittypische Wissensformen betrachtet werden, die über Generationen hinweg weitergegeben werden.1 Die Stil- und Vermittlungsformen der Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegung wurden nicht zuletzt aus diesem Grund vom Deutschen UNESCO-Experten-Komitee 2014 in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Aus den Bewegungsrecherchen der damaligen Gründerpersönlichkeiten hatten sich zur Zeit der Weimarer Republik die verschiedenen Praktiken des Freien Tanzes herausgebildet und wurden von den Protagonisten an deren Wirkungsstätten zu Lehr-Systemen ausgearbeitet. Diese während des Epochenumbruchs zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Praktiken des tänzerischen Bewegungsausdrucks werden heute zumeist von den Enkel- und Urenkel-Generationen weitergegeben.

1

Vgl. zum Praxeologie-Begriff Anmerkung 10 des Vorworts zu diesem Band; zu Tanz als Wissensform vgl. u.a. Huschka (Hg.) 2009.

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Bei der Kölner Tagung 2015 wurden die Grundzüge von zentralen Traditionslinien des Modernen Tanzes mit ihren Konzepten der Tanzausbildung und -vermittlung sowohl in ihrer historischen Genese als auch deren Wandel und Transformationen vergleichend diskutiert. Dabei wurden das Chladek-System und das von Maja Lex entwickelte Vermittlungskonzept des Elementaren Tanzes vorgestellt, die Lehren von Rudolf von Laban wurden in der „Übersetzung“2 und Weiterentwicklung von Irmgard Bartenieff, den sog. Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien, dargeboten. Des Weiteren präsentierten Studierende der Folkwang Universität Essen in einer Lecture Perfomance Tanzetüden von Jean Cébron. Diese Etüden sind Bewegungskombinationen mit Themenaspekten der Choreutik- und Eukinetik-Lehre Labans, die im Rahmen des Tanztechnik-Unterrichts erarbeitet wurden. Sie sind ein charakteristisches Element in dem von Kurt Jooss und Sigurd Leeder in Essen und Dartington Hall entwickelten Ausbildungskonzept für den künstlerischen Tanz. Jean Cébron hatte u.a. bei Kurt Jooss und Sigurd Leeder studiert. Der frühere Solo-Tänzer der Ballets Jooss-Kompanie lehrte von 1976 bis 1989 an der Folkwang-Hochschule in Essen als Lehrer und Choreograph.

E IN

SCHEMATISCHER

ÜBERBLICK

ZU DEN

K ONZEPTEN

Mittels einer ersten schematischen Veranschaulichung soll zunächst ein Überblick über die in diesem Band behandelten institutionalisierten Tradierungs- und Transmissionslinien gegeben werden. Aus den Abbildungen 1 bis 3 wird ersichtlich, wo und in welchem Kontext die angesprochenen Protagonisten der zentralen Ausprägungen des mitteleuropäischen Modernen Tanzes ihre Konzepte ausgearbeitet und gelehrt hatten und in welchem institutionellen Rahmen diese weitergetragen wurden. Wir können bereits erkennen, dass diese Konzepte entsprechend den Arbeitsschwerpunkten der Lehrenden in den Einrichtungen modifiziert wurden.

2

Vgl. zum Begriff der „Übersetzung“ die Ausführungen im Vorwort dieses Bandes S. 22.

Z UM TANZPÄDAGOGISCHEN E RBE DES M ODERNEN T ANZES

Abbildung 1: Elementarer Tanz nach Maja Lex

Elementarer Tanz Maja Lex (1906-1986)

Günther-Schule München (1925-1944)

Deutsche Sporthochschule Köln „Schwerpunktfach Elementarer Tanz“ Maja Lex (1955-1976) / Graziela Padilla (1974-2000) / Beate Metz (2001-2005) „Tanz, Komposition, Technik“ (BA Sportwissenschaft) sowie MA-Studiengang „Tanzkultur VIEW“

Elementarer Tanz e.V. (gegr. 1991)

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Abbildung 2: Chladek-System Chladek-System Rosalia Chladek (1905-1995)

Neue Schule Hellerau (1920-1924) und Hellerau-Laxenburg bei Wien (1925-1928)

Konservatorium Basel (1928-1930)

Hellerau-Laxenburg (1930-1938)

Konservatorium der Stadt Wien Tanzpädagogik-Studiengang 1942-1952: Rosalia Chladek 1968-1984: Hedwig Farkas 1984-2001: Elisabeth Kreutzberger

Seit 2002: Nikolaus Selimov Akademie für Musik und Darstellende Kunst Wien 1952-1977: Rosalia Chladek „Moderne tänzerische Erziehung und Tanzpädagogik – System Rosalia Chladek“ (1962-1977)

Internationale Gesellschaft Rosalia Chladek mit Arbeitsgemeinschaften e.V. (gegründet 1972) „Berufsbegleitenden Ausbildung für Bewegungs- und Tanzpädagogik im Chladek-System“

Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien BA-Studiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“

Z UM TANZPÄDAGOGISCHEN E RBE DES M ODERNEN T ANZES

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Abbildung 3: Ausbildungskonzepte in Verbindung mit dem Laban-System Laban-System Rudolf von Laban (1879-1958)

Laban-Schulen, u.a.in München (gegr. 1913), Ascona (Schule für Kunst Monte Verità, 19131917) und Zürich (1915-1919); Laban-Zentralschulen und Tanzbühne in Stuttgart (1920-1922), Hamburg (gegr. 1923); Choreographische Institute Würzburg (1926/1927) und Berlin (1928/1929); Art of Movement Studio Manchester (1946-1953) und Addlestone, Surrey (1953-1974).

↓ Jooss-Leeder-Methode (1934-1947):

↓ Laban/Bartenieff-

Kurt Jooss (1901-1979) /

Bewegungsstudien

Sigurd Leeder (1902-1981):

Irmgard Bartenieff (1900-1981):

Folkwang Schule Essen (gegr. 1927)

Laban/Bartenieff Institute

Kurt Jooss (Leiter der Tanzabteilung

of Movement Studies

der Folkwang Hochschule Essen 1949-

New York

1968)

(gegr. 1978)

Nachfolger: Hans Züllig (1968-1983) Pina Bausch (1983-1989). Institut für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität Essen: MA-Studiengang „Tanzpädagogik“ (Jooss-Leeder-Methode), u.a.

EUROLAB e.V. (gegr. 1988) Zertifikatsprogramm „Laban/ Bartenieff Bewegungsstudien“

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K ERNTHEMATIKEN

DER

P RAXEOLOGIEN

Bevor die hier thematisierten Konzepte und künstlerisch-pädagogischen Praxen des Modernen Tanzes im Einzelnen in ihren Kernpunkten und in ihrer zeitgenössischen didaktischen Kontextualisierung erläutert werden, möchten wir zunächst nach deren damaligen Gemeinsamkeiten suchen. Jede der Tanz- und Bewegungspraxen des mitteleuropäischen Modernen Tanzes hat in ihrer spezifischen Erfindung und Entstehung eigene Formen des Körperzugangs, eigene Regeln, Ordnungen und Orientierungsmuster auf der Basis der Verknüpfung und Verkettung der gedanklichen Grundideen geschaffen, die in ihrer Ausprägungsform einzigartig und komplex sind. Dennoch lassen sich übergreifende, gemeinsame Charakteristika oder Elemente festmachen. Bei einer vergleichenden Betrachtung ergeben sich vor allem folgende gemeinsame pädagogische und didaktische Eckpunkte3: 1. Bildungstheoretische Einbettung innerhalb der Kunsterziehungsbewegung 4 und der Reformpädagogik Die hier versammelten Ansätze der Moderne postulieren eine ganzheitliche Sichtweise, durchaus im Bild von Delsartes holistischem Trinitätsgesetz, das auf einer Einheit von Leben, Geist und Seele beruhte. Die Protagonisten dieser Konzepte betonen eine allseitige Förderung der angehenden Tänzer und tanzaktiven Menschen, indem sie deren körperlich motorischen und künstlerischen Ausdrucksfähigkeiten stimulieren und ausbilden. Ausgangspunkt ihrer tanzpädagogischen und didaktischen Betrachtungen ist der (tanzende) Mensch mit seinen körperlichen, emotionalen und geistigen Kräften und so wird die Körper- und Bewegungsbildung, desgleichen die kreativ-künstlerische Fähigkeitsentwicklung, im Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentwicklung insgesamt gesehen. Zur Legitimation werden

3 4

Vgl. dazu u.a. Fleischle-Braun 2001. Die Kunsterziehungsbewegung ist Teil der Epoche der Reformpädagogik, die an der Wende zum 20. Jh. entstanden war. Ihr Grundziel war die Bildung der Gesellschaft durch Kunst, Musik, Literatur und Leibeserziehung. Vgl. dazu u.a. Pallat/Hilker (Hg.) 1923.

Z UM TANZPÄDAGOGISCHEN E RBE DES M ODERNEN T ANZES

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argumentativ zivilisationskritische Positionen, vor allem die Gedanken der Lebensphilosophie5 aufgegriffen. 2. Forschendes Lernen als Arbeitsprinzip Es werden häufig explorierende und analysierende Arbeitsweisen zum Bewusstmachen und Entwickeln der körperlichen Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten im Rahmen der körpertechnischen Ausbildung sowie bei Arbeitsprozessen angewendet, die mit der schöpferisch-intentionalen Formung und Gestaltung von Bewegung verbunden sind oder im Zusammenhang mit choreographischen Entwicklungsprozessen stehen. Methodische Mittel sind offene und strukturiert-gebundene Bewegungsaufgaben zur Exploration und Improvisation (wie z.B. die „Strukturierte Improvisation“ zur Körperwahrnehmung und zur Erweiterung, Entdeckung und Ausformung eines Bewegungsrepertoires). Dieser Arbeitsprozess verlangt von den Praktizierenden ein nicht unerhebliches Maß an Eigeninitiative und Eigentätigkeit. 3. Erforschung der auf „körpergemäßen“ Grundlagen beruhenden ökonomischen und effizienten Bewegung Dabei wird vor allem auf die Lehren, Praxen und das anatomisch-physiologische und biomechanische „Körperwissen“ der Gymnastik zurückgegriffen und ebenso wird bisweilen auf das reformpädagogische Körperleitbild des „Natürlichen Turnens“ verwiesen.6

5

Der Begriff der „Lebensphilosophie“ bezeichnet eine im 19. Jh. entstandene Strömung, zu deren Vertreter u.a. Henri Bergson, Wilhelm Dilthey sowie Ludwig Klages gehörten. Gemeinsam ist den Ansätzen die kritische Sichtweise und Abgrenzung gegenüber einer einseitigen Betonung des Rationalismus, Intellektualismus, Szientismus und eines materialistischen Weltbildes. Im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Paradigma streichen sie die Ganzheitlichkeit von Lebensprozessen heraus. Daher gehören nach deren Auffassung zu einem ‚umgreifenden‘ Leben auch nicht-rationale, kreative und dynamische Elemente wie Intuition, Instinkt, Triebe und Willen, die durch historische Bedingungen mitgeprägt werden. Vgl. dazu u.a. Fellmann 2010.

6

Vgl. zum Ansatz des „Natürlichen Turnens“ u.a. Gaulhofer/Streicher 1949.

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4. Systematisierung der Ausdrucks- und Formelemente tänzerischer Bewegung Zur Analyse, Systematisierung und Ordnung der Komponenten des Tanzes werden fachverwandte Systematiken, insbesondere der Musik und Rhythmik sowie des Theaters, u.a. von François Delsarte7 einbezogen, und ebenso naturwissenschaftliche Erkenntnisse (Anatomie, Physiologie, Evolutionsbiologie, Geometrie u.a.). Nicht zuletzt stützten die entwicklungs- und persönlichkeitspsychologischen Diskurse, die zur damaligen Zeit geführt wurden, die Lehre dieser Bewegungssysteme oder Tanzauffassungen argumentativ. 5. Etablierung von Schulen und Meister-Lehren Die Lehren bzw. Konzepte des Modernen Tanzes werden zu Beginn bestimmt und weitergegeben durch das Charisma und die Autorität der jeweiligen Künstler-Persönlichkeiten. Damit einhergehend ist eine starke Identifikation der Schüler mit dem künstlerischen Vorbild, seinen tanzästhetischen Idealen und dessen künstlerischen Arbeitsweisen und Produktionsprinzipien. In kollektiven Arbeitsprozessen bildet sich dadurch ein gemeinsamer „Habitus“8 aus sowie ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit, das zu einer gewissen künstlerischen Anhängerschaft führen kann. Es kann aber auch zur Entwicklung von „Gegenmodellen“ oder neuen eigenständigen

7

Vgl. dazu im Einzelnen die Ausführungen von Oberzaucher-Schüller 2012 sowie in diesem Band S. 61ff.

8

Vgl. zum Habitus-Konzept u.a. Krais/Gebauer 2002. Mit dem Begriff des „Habitus“ sind im Allg. vielschichtige Bedeutungen verbunden: Anlage, Haltung, Erscheinungsbild, Gewohnheit, Lebensweise, etc. Pierre Bourdieu bezeichnete die Alltagskultur von Angehörigen bestimmter sozialer Schichten als Habitus. Ein Habitus ist also gesellschaftlich bedingt, er ist nicht angeboren, sondern beruht auf Erfahrungen und besteht aus in kultureller Praxis erworbenen, handlungsleitenden Dispositionen (Denk- und Sichtweisen, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata) einer sozialen Gruppierung oder Gesellschaftsschicht. „Habitus“ beschreibt somit die Grundhaltung eines Menschen zur Welt und zu sich selbst, er erzeugt einen spezifischen Lebensstil, der sich in bestimmten kulturellen Praktiken äußert.

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Alternativen führen. Jene machen erst die Freiheit zur individuellen künstlerischen und persönlichen Entwicklung oder die Wahl und den Einbezug anderer Trainings- und Stilformen möglich. 6. Soziale Empathie durch kollaborative Arbeitsprozesse Die häufig im Unterricht oder auch bei gestalterisch-choreographischen Arbeitsprozessen durchgeführten Gruppenimprovisationen mit interaktivkommunikativen Aufgabenstellungen waren zudem Arbeitsformen, welche die soziale Sensibilität der Akteure förderten und die Kommunikationsfähigkeiten der beteiligten Individuen erweitern verhalfen. Die hier genannten Aspekte bildeten einen Ausgangspunkt für die Reflexion der „Praxisforschungen“ in den Laboratorien. Sie können vielleicht auch einen Referenzpunkt, ja sogar durchaus eine Reibungsfläche darstellen, um im Weiteren die verschiedenen Ansätzen der Tanzmoderne intensiver zu betrachten, und diese aus der Perspektive zeitgenössischer Tanzpraxis und heutiger Konzepte, Handlungsfelder und Vermittlungsweisen auch kritisch zu hinterfragen. Im Weiteren werden zunächst einige generelle Überlegungen aus kulturwissenschaftlicher Sicht zum Prozess der Weitergabe tänzerischer Praktiken und ihrer Lehre ausgeführt.

E RINNERUNGS -

UND

G EDÄCHTNISFORMEN

Im Vorwort wurde bereits dargelegt, dass die Transmission der Konzepte bzw. eines tänzerischen Körper- und Bewegungswissens größtenteils über körperliche mimetische und orale Kommunikationsprozesse geschieht. 9 Der Körper dient sowohl als Wahrnehmungs- und Erinnerungsort als auch als performatives Medium der Vermittlung. Es sind darüber hinaus noch weitere Gedächtnisformen beteiligt, um ein tanzkulturelles Erbe zu bewahren und zu „vergegenwärtigen“, zu pflegen und weiterzuverbreiten, auf diese werden wir im Weiteren noch zu sprechen kommen.

9

Vgl. zu dem grundlegenden mimetischen Aneignungsprozess u.a. Gebauer/ Wulf 2003 sowie den folgenden Beitrag von Christoph Wulf in diesem Band, S. 53ff.

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Übertragungsprozesse geschehen aber niemals 1:1, denn subjektive Auslegungen und Akzentuierungen und zeitbedingte Interpretationen sind implizite Bestandteile des Transmissions- und Vermittlungsprozesses. Das bedeutet, dass ein Weitergeben von tanzkulturellem Erbe mit seinen Wissensformen immer auch mit personen- und zeitgebundenen Lesarten und Modifikationen verbunden ist. Solche interpretative Übertragungsprozesse finden wir bereits bei der Rezeption von Ansätzen der ersten „Wegbereiter“ des Modernen Tanzes. In unserem Zusammenhang sind hier insbesondere François Delsarte, Émile Jaques Dalcroze, Bess Mensendieck, Dorothee Günther zu nennen. Ebenso sind individuelle Übersetzungsprozesse bei der Weitergabe der tanzpädagogischen Vermittlungsansätze oder „Bewegungsschulen“ zu konstatieren, die von Rosalia Chladek, Maja Lex, Rudolf von Laban und Irmgard Bartenieff, Kurt Jooss und Sigurd Leeder erarbeitet worden sind. Aus welchen Gedächtnisformen schöpfen die Lehrenden bei der Vermittlung ihrer künstlerisch-pädagogischen Konzepte? Stephan Brinkmann (2013: 8-15) unterscheidet zwei für die Weitergabe von Tanz relevante Gedächtnisformen: •



Die bereits angesprochenen korporalen Erinnerungen und Dispositionen, die zu unserer menschlichen Existenz gehören und unser „natürliche interne Gedächtnis“ ausmachen und das alle motorischen und geistigen Phänomene umfasst. Das „künstliche, externe Gedächtnis“ besteht beispielsweise Medien, Tanzschriften, Partituren, Filme, Fotos, Aufzeichnungen, Lehrbücher, Literatur oder Kritiken von Zeitgenossen. Also aus dem Material, mit dem nicht nur wissenschaftlich Forschende es gewohnt sind, zu arbeiten, sondern auch Tänzer oder Choreographen, wenn sich diese beispielsweise mit der Wiedereinstudierung oder einer Rekonstruktion bzw. Re-Kreation von Tanzstücken befassen. Wenngleich Tanz auch eine vornehmlich körperlich-motorische Aktivität und Wissensform ist, ist die mediale Repräsentation ebenfalls wichtig, damit eine spezifische Wissensform als kulturelles Erbe erhalten bleiben kann. Dies gilt auch für die Spielarten des Modernen Tanzes.

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Darüber hinaus hatte bereits Jan Assman (1988) aus kulturwissenschaftlicher Sicht ein Gedächtnis-Konzept beschrieben, das hilft, die Prozesse, die mit der Weitergabe des Modernen Tanzes verbunden sind, besser zu verstehen. Als „kulturelles Gedächtnis“ bezeichnete Jan Assmann (1988: 12 f.) ein kollektiv geteiltes Wissen, das zumeist einen größeren Zeithorizont markiert. Es ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Identitätskonkretheit oder Gruppenzugehörigkeit, Rekonstruktivität, Geformtheit, Organisiertheit, Verbindlichkeit (Formativität und Normativität), dreifache Reflexivität (praxisreflexiv, selbst-reflexiv, Selbstbild-reflexiv). 10 Es ist „eher alltagsfern“, orientiert sich an den festen Kodierungen und Inszenierungen einer subjektunabhängigen Überlieferung und weist einen gewissen Geformtheits- und Institutionalisierungsgrad auf. Und es wird häufig von spezialisierten Traditionsträgern vermittelt. Das kulturelle Gedächtnis stellt daher nach Harald Welzer (2004: 167-169) eine „organisierte und zeremonialisierte Kommunikation über die Vergangenheit“ dar, bei Tradition, Wiederholung und Weitergabe ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Jan Assmann (1988: 15) fasst abschließend den Begriff des kulturellen Gedächtnisses folgendermaßen zusammen: „den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, Bildern und Riten [...], in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen, vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenheit stützt.“ 11

Das „kommunikative Gedächtnis“ wird von Jörg Assmann (1988: 10 f.) im Gegensatz dazu als eine Form des kollektiven Gedächtnisses charakterisiert, das kurzfristiger ausgerichtet ist: Das kommunikative Gedächtnis umfasst eine Zeitspanne von etwa 80 Jahren, also drei bis vier Generationen und macht sich vor allem an persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen von Gruppenmitgliedern fest, so dass sein Vergangenheitsbezug sich stän-

10 Hervorhebungen durch Jörg Assmann. 11 Nach Jörg Assmann (1996) ist der Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ somit von anderen Formen der kollektiven Erinnerung wie etwa der (Geschichts-) Wissenschaft zu unterscheiden, die systematischer und abstrakter angelegt ist als das kulturelle Gedächtnis.

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dig verändert. Es ist „alltagsnah“, und die Weitergabe bzw. Vermittlung geschieht größtenteils durch Aktivitäten der Zeitzeugen, mit deren lebendig gebliebenen Erinnerungen und ihrem kollektiven Erfahrungsschatz, gespeichert in organischen Gedächtnissen und in lebendiger Erinnerungskultur. Im Tanz ist diese Erinnerungs- und Übertragungskultur ausgesprochen stark lebendig durch die körperlichen, mimetischen und oralen Interaktionsprozesse während seiner Weitergabe und Vermittlung. Auch wenn das kulturelle Gedächtnis einer Gruppe allgemein verbindliche Fixpunkte der kulturellen Identifikation liefert, ist es aber dennoch immer zeit- und kontextgebunden und konstruiert die Geschichte und Traditionen einer Gruppe stets vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Bedürfnisse und Lebensumstände. Ferner betont Jörg Assmann (1988), dass die Medien der Archivierung und Kommunikation (wie Schriftstücke, Lieder, Notationen, Fotos, Filmaufnahmen, Museen, aber auch ritualisierte und tradierte Praktiken etc.) nicht als neutrale ‚Behälter‘ oder als ‚Transportmittel‘ fungieren, sondern diese wirken selbst formgebend und sinnstiftend. Daher tragen sie auch zu einem wesentlichen Teil zum kulturellen Gedächtnis einer Gruppe oder Gesellschaft bei. Dazu kommt, dass sich das kulturelle Erinnern nicht im machtfreien Raum vollzieht, sondern dass das, was als die ‚Identität‘ einer Gruppe oder Gesellschaft begriffen wird, ist immer auch durch personelle oder institutionelle Einflüsse mitbestimmt.

Ü BERTRAGUNG UND V ERMITTLUNG TANZKULTURELLER AUSDRUCKSFORMEN Aus der Sicht der historischen und soziologischen Verhaltensforschung können wir tänzerische Stile und Praktiken der Moderne auch als eine jeweils eigene gruppenzugehörige Art des (Körper-)Habitus auffassen, die über aktive Aneignungsprozesse und Vermittlungsaktivitäten den Akteuren als relativ dauerhafte Dispositionen gleichsam ‚einverleibt‘ werden.12 Somit erwerben die Tanzenden über formalisierte und informelle Ausbildungsund Trainingsprozesse ein System verinnerlichter Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmuster. Die Künstlerpersönlichkeiten und Protagonisten vermittelten durch die von ihnen aufgeführten Tanzchoreographien und durch 12 Vgl. hierzu die Anmerkungen zum Habitus-Begriff in Fußnote 7.

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die ausgeübten Lehrtätigkeiten ihren Schülern und Anhängern ihre ästhetischen Leitbilder und sie entwickelten somit nicht nur stilbildende Qualitäten des tänzerischen Bewegungsausdrucks, sondern ebenso auch Werthaltungen und Einstellungen. Dieser soziale und kulturelle Vorgang der Habitusbildung vollzieht sich größtenteils über mimetische, ästhetischperformative13 und orale Prozesse, gleichsam als „stille Pädagogik“ 14, beispielsweise durch Rituale und Praxisformen des Weitergebens und Vermittelns, des technischen Körpertrainings, des Entwickelns und Einstudierens eines Stücks oder bei konkreten Entscheidungen über gewählte künstlerische Ausdrucksformen. An den jeweiligen Wirkungsorten und Ausbildungsstätten hatten sich diese Praxeologien häufig auch mit philosophischen, anthropologischen und reformpädagogischen Leitideen verbunden und führten zu eigenständigen Konzepten der Tanzausbildung. Wenn wir uns heute mit den bereits nun mindestens über drei Generation übermittelten „Wissenskulturen“ und Tanzstilen des Modernen Tanzes befassen, so haben sich diese tanzkünstlerischen und pädagogischen Vermächtnisse und Konzepte durch die Arbeits- und Kommunikationsprozesse der personalen mündlichen und körperlichen Übertragung und durch ihre Vermittlung gewandelt. Gleichgültig, ob diese Transmissionsprozesse induktiv spielerisch, explorierend und experimentierend oder auch deduktiv angeleitet werden, die mimetischen, zeigenden, erklärenden oder auch kinästhetisch-taktilen Vermittlungspraktiken werden von den jeweiligen Akteuren immer auch an die jeweiligen situativen Bedingungen des LehrLern- oder Probenprozesses angepasst. Wie bereits angesprochen, ist ihre Tradierung im Rahmen der „kollektiven Gedächtnis- und Erinnerungskultur“ daher immer auch fragmentarisch, selektiv und „gefiltert“, und trotz eines identitätsstiftenden gemeinsamen Fundaments kein festgefügtes und starres Machwerk. Dies umso mehr, weil die Weitergabe gebunden ist an individuell-biographische Erfahrungen, Expertisen und Vorlieben der Akteure (Vermittler und Aktive), genauso wie an deren Erinnerungen und Emotionen, an persönliche Sinngebungen und Interpretationsweisen. Neben

13 Vgl. Gebauer/Wulf 2003 sowie – in Bezug auf den Tanz – Christoph Wulf in diesem Band, S. 53ff. 14 Der Begriff wird auch von Pierre Bourdieu (1987) benutzt.

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ihrem impliziten und explizitens Wissen15 spielt auch deren Vergessen eine Rolle, deren körperlich-motorischen Fähigkeiten oder Ausdrucksvermögen sowie die jeweilige, in der situativen Wechselbeziehung und Interaktion mit den Akteuren getroffene Auswahl und Akzentuierung der Bewegungsthemen. So sind in den einzelnen Konzepten inzwischen eine Anzahl systemischer und didaktischer Transformationen bzw. auch „Übersetzungen“ zu beobachten, zumal Tanzende und Lehrende im 21. Jahrhundert einen anderen körperlichen und sozialen Habitus, ein anderes „Körpergedächtnis“16, andere Ambitionen und andere ästhetische Präferenzen, und deshalb auch andere Fragen an diese bis heute tradierten Konzepte, Praktiken und Arbeitsweisen haben. Fernerhin bestehen für die Tänzer auch andere Anforderungen, sie haben andere Lern- und Trainingsgewohnheiten, studieren in anderen Ausbildungsstrukturen als die Generationen davor, oder zur Entstehungs- und Blütezeit der Tanzstile der mitteleuropäischen Ausdruckstanzbewegung. Wie gehen die Verantwortlichen von Trägereinrichtungen und Ausbildungsinstituten des Tanzerbes der Moderne mit der Übertragung (Transfer) bzw. Übersetzung (Translation) ihres Vermächtnisses um? Wie behalten die Konzepte den substantiellen Kern und die Kraft ihrer jeweiligen Identi-

15 „Implizites Wissen“ ist eng mit dem sog. „Körpergedächtnis“ verflochten (siehe Fußnote 14). Es umfasst eher prozedurales Können („Knowing how“), das durch körperliche Praxis erworben wird und tritt in der Bewegungsausführung zutage. „Explizites Wissen“ ist Wissen über das eigene Wissen und dessen Strukturen, d.h. ein über Begründungen eingebettetes Wissen („Knowing that“). Dieses offenbart sich im Tanz beispielsweise durch Bewegungsanalyse, durch eine visuelle Bestimmung des Raumes oder durch die Abfolge der Bewegungen in einer Choreographie und es wird über das interne und externe Gedächtnis memoriert. 16 Der Begriff des „Körpergedächtnisses“ wird hier im metaphorischen Sinn verwendet. Gemeint wird damit ein komplexer Wahrnehmungs- und Speicherungsvorgang, der uns ermöglicht, dass wir uns an Gelerntes und Erfahrenes erinnern. Vor allem in der tänzerischen Körper- und Bewegungsschulung zur Entwicklung der Tanztechnik, d.h. bei motorischen Lern- und Übungsprozessen, in denen es „um körperliche Erzeugung und Repräsentation von Gedächtnisinhalten“ geht, kommt dieser Begriff zum Tragen. Vgl. dazu u.a. Wehren 2016: 152 f. sowie Brinkmann 2013: 71-75.

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tät und wie integrieren sie diesen in zeitgemäße Aus- und Weiterbildungsstrukturen? – Und wie wird von ihnen das moderne Tanzerbe im zeitgenössischen künstlerischen Tanz vergegenwärtigt? – Mit welchen Strategien verhindern sie ihr Vergessen-Werden und Ausgelöscht-Werden angesichts der Vielzahl zeitgenössischer Tanztechniken und tanzästhetischer Ausdrucksmöglichkeiten? Die in den folgenden Kapiteln versammelten Beiträge der Repräsentanten der verschiedenen Traditionslinien und Konzepten des Modernen Tanzes werden sich diesen Fragen ausführlicher zuwenden. Sie intendieren nicht nur eine historische, sondern vor allem eine aktuelle und selbstreflexive Standortbestimmung. Um die die Ausrichtungen der TanzModerne näher in ihrer gegenwärtigen „Präsenz“ und Eigenart einzuschätzen, können folgende konzeptübergreifende Indikatoren hilfreich sein: •





• •

Ästhetisch-stilistische und bewegungstechnische „Geformtheiten“ sowie spezifische Qualitäten (Praktiken, Techniken, Habitus-Bildung, bevorzugte Lehr-Lernarrangements…) Soziale Gemeinschaft und Vermittlungsweisen im Sinne des „kommunikativ-kollektiven“ Gedächtnisses (Ausbildungs-, Trainings- und Austauschformate, Persönlichkeitsdimensionen der Vermittler…) Ausmaß der künstlerischen Produktion und des Austauschs (Partizipation in der Kunst- und Kultur-Szene, bei Festivals oder im Rahmen breitenkultureller Community Dance-Aktivitäten…) Speicherung in „externen“ Gedächtnissen (Archive, mediale Präsenz, Publikationen, Nutzung neuer Medien) Topographische Orte (Sitz der Gruppierung, Institution, Ausbildungsstätte…)

Wenn wir die Wurzeln und den Entstehungskontext des Modernen Tanzes betrachten, lässt sich erkennen, dass die Tanzstile und Tanzkonzepte jeweils stark durch bestimmte historisch-zeitbedingte Leitgedanken und Leitmuster beeinflusst wurden. Diese dürften sich im Laufe der Zeit und in der Passage der Übertragung verändert haben. Denn schließlich ist der Tanz eine bewegt-dynamische und fragil-veränderliche Wissensform und ihre jeweils vermittelte Geformtheit birgt nicht nur die tradiert übermittelten Anschauungen, Strategien und Gestaltungsweisen in sich, sondern es sind auch neue Elaborate und Ausformungen enthalten. In der jetzigen dritten

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bis bereits fünften (Enkel- und Ur-Enkel-) Generation sind es häufig mit der persönlichen Tanzbiographie verbundene hybride Mischungen der jeweiligen Lehre. Somit können Traditionen – in unserem Fall verstehen wir die Tanzformen der Moderne als solche – als spezifische symbolische Konstruktionen verstanden werden, die immer auch als Interpretationen der jetzigen Repräsentanten und der heutigen Generation zu sehen sind. Selbst traditionelle Tanzformen unterliegen einem solchen Veränderungsprozess, so argumentieren die Ethnologen Jocelyn Linnekin und Richard Handler (1984). Denn selbst im Versuch, eine Tanz- und Vermittlungstradition im Sinne ihrer Schöpfer als ein „System“ oder eine „Schule“ „authentisch“ zu bewahren, liegt immer auch eine subjektiv „gefilterte“ Interpretation dieser Tradition, und genau dadurch verändert sich diese. Der Kern der „symbolischen Konstruktion“, des jeweiligen Tanzstils liegt in der Verwendung von Material aus dem Wissensfundus der Vergangenheit, um Handlungen, Verhalten, Beziehungen und Artefakte in der Gegenwart zu verstehen. Sie bilden daher auch für die zeitgenössischen Tänzergenerationen eine Orientierungshilfe im Sinne eines Referenzrahmens, um mit ihren körperlich-motorischen und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu experimentieren. Dieser Referenzrahmen kann aufgrund der intensiven Begegnung und Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper durchaus verunsichernde Momente bergen, die von Tanzenden in Ausbildungs- und in tanzgestaltendschöpferischen Situationen bisweilen bewältigt werden müssen. Er kann aber vor allem eine Stütze sein – und gleichzeitig eine „produktive“ Reibefläche für das Auffinden eines eigenen künstlerischen Wegs oder für das Verstehen und Ordnen-Können des eigenen tänzerischen Ausdrucksspektrums oder -profils.17 Anlässlich der gemeinsamen Tagung in Köln konnten die Konzepte des Modernen Tanzes in ihrer heutigen zeitgenössischen Fassung vergleichend erfahren und reflektiert werden. Es wurden kollektiv forschende, kinästhetische und reflexive Formate (wie z.B. Tanz-Laboratorien, Lecture Demonstrations und Panels) genutzt, um die gemeinsamen Grundlagen wie auch die jeweils spezifische ‚Identität‘ und ‚Geformtheit dieser Ausrichtungen aufzuspüren und zu verdeutlichen. Dabei wurden wesentliche „Gedächtnisinhalte“ und „Kerne“ des impliziten und expliziten Wissens dieser Stile,

17 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Hans Fors über die Eurythmie, in Amort 2016: 56-60.

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ihre spezifischen Eigenheiten und kennzeichnenden Prinzipien und somit die grundlegenden Gedanken ihrer Praxeologie thematisiert, welche sich aus der künstlerischen und lehrenden Forschungs- und Entwicklungsarbeit der jeweiligen Gründer-Persönlichkeiten entwickelt haben.18 Im Verlauf dieser forschend-reflexiven Auseinandersetzung wurden zugleich deren Gemeinsamkeiten sowie Alteritäten in den Körperpraktiken erkennbar. Diese waren auch bei den Lecture-Demonstrationen und bei Tanzaufführungen ästhetisch präsent und können als ein Aspekt der Permanenz angesehen werden. Zudem konnten Transformationen und Modifikationen, besondere Lesarten und „Übersetzungen“ innerhalb der Konzepte ausgemacht werden, die uns die dynamisch-bewegliche Wandelbarkeit tänzerischer Wissenskulturen besonders bewusst machten. Zeitgenössische Artistic Research-Projekte nutzen heute des Öfteren kollaborative Arbeitsstrategien und Vermittlungsformate, wie sie bereits während der Genese- und Blütezeit des modernen Freien Tanzes und Tanztheaters praktiziert wurden.19 Im gegenwärtigen Zeitgenössischen Tanz werden Geschichte und Tradition sowie deren bewahrende Instanzen und Praktiken, wie es z.B. definierte Tanztechniken und -ästhetiken darstellen, weniger als eine exemplarische Form, sondern eher als ein „common ground“ und als eine „offene Oberfläche“ zur Reflexion oder gar als eine „Sollbruchstelle“ für die freie künstlerische Gestaltung betrachtet. 20 So bekräftigt Franz-Anton Kramer (2005: 76): „Erst aus dem komplexen Umgang mit den Instanzen der Tradition, der Bewahrung und der Hierarchien können sich zeitgenössische Positionen, Haltungen und Erkenntnisse gewinnen, die wiederum den Blick auf ihr ‚Anderes‘, auf die Vorlage und ihre geschichtliche Dimensionierung verändern.“

Das bedeutet, dass für Arbeitsweisen und Wissensbestände der modernen Avantgarde mehrperspektivisch an zeitgenössische Praxen, Denk- und Sichtweisen Anschluss finden können, und dass dafür aber auch Knotenpunkte gefunden werden müssen. Das Sichtbarmachen und Aufzeigen von Wurzeln oder Traditionslinien kann für Tanzstudierende durchaus ein krea-

18 Die Beiträge im nächsten Kapitel werden darauf zu sprechen kommen. 19 Vgl. hierzu Fleischle-Braun 2016. 20 Nach Lepecki 2004: 170f., Wehren 2010: 59 f. und Cramer 2005: 74f.

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tiver Zugang sein, um ihr persönliche Haltung und Tanzsprache bzw. Vermittlungskonzept zu finden. „Die Vergangenheit ist eine Passage in die Zukunft“, hatte der Schweizer Choreograph Foofwa d’Imobilité formuliert (zitiert nach Wehren 2016: 44) und dies trifft nicht nur für den Modernen Tanz, sondern auch für die Übertragung anderer Tanzkulturen zu. Abbildung 4: Wandel tanzkultureller Formen im kollektiven Gedächtnis Übertragung und Vermittlung

Vergangenheit ←

Praxis



Zukunft

Re-Interpretation Erinnerung und Wieder-Entdeckung Re-Konstruktion / De-Konstruktion / Neu-Konstruktion.

V ERBINDUNGEN

ZWISCHEN MODERNEN S TILFORMEN UND ZEITGENÖSSISCHEN ARBEITSWEISEN Wenn wir der Frage nachzugehen, wie die Wissenskulturen der mitteleuropäischen Ausdruckstanzbewegung auch in der Pluralität zeitgenössischer Tanztechniken und -ästhetiken lebendig weitergegeben werden können, so haben wir bereits angemerkt, dass im zeitgenössischen Tanz durchaus eine historische Rückbezüglichkeit existiert. Zumeist geht es den Tanzschaffenden – wie auch den Tanzlehrenden – aber weniger um ein Fortführen von Traditionen, sondern es wird dabei auf körperlich-motorischer bzw. choreographisch-inszenatorischer Ebene ein bestimmtes Verhältnis zur Vergangenheit herausgestellt, abhängig von (auto-)biographischen, sozialen, bewegungstechnischen und diskursabhängigen Faktoren, unterstreicht Julia Wehren (2016: 16). Daher können die modernen Stilformen, Techniken, Tanzchoreographien und Konzepte eben nicht mehr ausschließlich als historisch „einzigartige“ oder „einmalige“ Phänomene betrachtet werden und als solche weiter tradiert bzw. vermittelt werden. Es ist vielmehr erforderlich, dass die Bezüge zwischen den Stilformen und damit auch ihre Verwobenheiten stärker

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ausgelotet werden. Sie sind vor allem auch klarer in Bezug zu tänzerischen Ausdrucksformen der Post-Moderne und zu den häufig tanzkulturell hybriden Tanzformen des Zeitgenössischen Tanzes zu setzen. Dazu wurde im Rahmen des Projekts Tanztechniken 2010 von Tanzplan Deutschland bereits modellhaft eine erste Aufarbeitung geleistet. Diese wäre für die in diesem Werk nicht beschriebenen, aber noch praktizierten Ansätze der mitteleuropäischen Ausdruckstanzbewegung weiter fortzuschreiben.21 Die gegenwärtige zeitgenössische Tanz- und Ausbildungspraxis ist vor allem auch dadurch bestimmt, dass sich Künstler, Choreographen und Pädagogen kaum mehr nur an kodifizierten Techniken oder an singulären, in sich geschlossenen Lehr- und Wissens-Systemen orientieren, sondern sie nutzen und kombinieren zumeist flexibel das Potenzial verschiedener Ansätze. So finden sich je nach individuell-biographischem Ausbildungs- und Erfahrungshintergrund als auch unter Berücksichtigung der institutionellen Einbettung und des Formats des Vermittlungsangebots Mischformen, Verschmelzungen, Übersetzungen und Kompatibilitäten, die es immer wieder auszuforschen und kritisch auszuloten gilt. Wenn wir uns auf Spurensuche begeben, dann existieren hinsichtlich des Körperverständnisses und der Arbeitsweisen durchaus Affinitäten und auch interessante Verflechtungen zwischen den Spielarten des Modernen Tanzes und den zeitgenössischen Formen der Tanzvermittlung. Beispielsweise, wenn wir an den Stellenwert von Release- und Alignement-Techniken denken oder an die Ansätze des somatischen Lernens, in denen bewusstes Wahrnehmen, Spüren, Fühlen, Denken und Handeln eng verknüpft sind.22 Nicht zuletzt lassen sich auch subjekt- und prozessorientierten Arbeitsweisen sowie induktiv-forschender Methoden der Exploration und des Experiments, die nicht nur bei der Vermittlung körpertechnischer Grundlagen, sondern auch im tänzerisch-choreographischen Produktionsprozess Anwendung finden, im Zusammenhang mit den hier diskutierten Ansätzen des Modernen Tanzes erörtern.

21 Vgl. dazu Diehl/Lampert (Hg.) 2011. 22 Vgl. dazu u.a. auch Coogan (Hg.) (2016), hier vor allem die Überlegungen von Jenny Coogan (2016: 18-29) und Sara Reed (2016: 192-197).

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F AZIT Es ist unser dezidiertes Anliegen, die künstlerisch-pädagogischen Konzepte mit dem Wissen von heute wieder stärker in das öffentliche und auch professionelle Bewusstsein zu rücken. Hierbei ist auch darüber nachzudenken, ob diese zukünftig stärker in der berufsbildenden Lehre und Vermittlungsarbeit thematisiert und institutionell verankert werden könnten. Damit die bewegungskulturellen Entdeckungen und Errungenschaften des 20. Jahrhunderts als präsente Wissensbestände im kulturellen Gedächtnis sowie im kollektiven kommunikativen Gedächtnis der Gegenwart präsent bleiben können, ist es notwendig, gleichermaßen Kenntnis über die Diversität und Spezifika von Stilen oder Vermittlungstraditionen zu gewinnen, und auch deren Interferenzen und Gemeinsamkeiten zu erforschen und zu entdecken. Wichtig erscheint aber in der unterrichtlichen Umsetzung, dass Tanzstudierende und Tanzlehrende jeweils für sich persönlich relevante Anknüpfungspunkte finden, damit sie durch das Kennenlernen der Wurzeln und der wirkenden Einflüsse ein Potenzial für sich entdecken, das zur Erweiterung der eigenen tanzkünstlerischen und pädagogischen Fähigkeiten beitragen kann. Bei den Panel-Diskussionen der Kölner Tagung wurde zudem deutlich, dass in der Ausbildungspraxis der Hochschulen die Anknüpfung an die zeitgenössische Tanzkunst und Tanzpädagogik in stärkerem Maße thematisiert wird, währenddessen sich die Ausbildungsinstitute der Interessensverbände einzelner Protagonisten eher in der Pflicht sehen, eine umfassende Weitergabe der Stilformen mit ihren Vermittlungs- und Körperpraktiken in der tradierten „ursprünglich-authentischen“ Fassung zu gewährleisten. Ein Ergebnis des Kölner Treffens war, dass die Verantwortlichen der Spielarten des Modernen Tanzes mit den Ausbildungsstätten zusammen in einen stärkeren Dialog treten wollen – in unterschiedlicher Weise und auch Konstellation, um mit Praktikern und Theoretikern, Lehrenden und Studierenden existierende Verbindungen dieser Konzepte herauszuarbeiten und Verknüpfungen zur eigenen Fachgeschichte und zur zeitgenössischen Tanzvermittlung herauszustellen. Oder auch, um diese im Kontext der Fachdidaktik situativ integrieren zu können. Vielleicht müssen bisweilen durchaus noch einige institutionelle oder ideelle Barrieren aufgelöst werden. Dennoch: Bei der Kölner Tagung nahmen nicht nur viele interessierte Tanz-Lehrkräfte und Studierende teil, die an den „Wissenskulturen“ und

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damit am immateriellen Erbe des Modernen Tanzes interessiert waren und die mehr über das immense Bewegungs-und Körperwissen der verschiedenen ‚Schulen‘ erfahren wollten. Somit war die Tagung 2015 ein gelungenes Pilot-Experiment. Daher gilt wohl auch hier die bei Debatten über den Umgang mit (Lehr-)Traditionen des Öfteren zitierte Erkenntnis von Thomas Morus: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme“.23

L ITERATUR Amort, Andrea im Gespräch mit Hans Fors (2016): „Steineriana“, in: Tanz (03/2016), 56-60. Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-19. Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brinkmann, Stephan (2013): Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz. Bielefeld: transcript. Coogan, Jenny (Hg.) (2016): Tanz praktizieren – ein somatisch orientierter Ansatz. Berlin: Logos. Cramer, Franz Anton (2005): Sollbruchstellen. Die Vielfalt der zeitgenössischen Tanzszene schöpft aus dem Bewusstwerden der eigenen Geschichte, in: Johannes Odenthal (Hg.), tanz.de. Arbeitsbuch Theater der Zeit. Berlin: Friedrich, S. 74-80. Diehl, Ingo/Lampert, Friederike (Hg.) (2011): Tanztechniken 2010 – Tanzplan Deutschland. Leipzig: Henschel. Fellmann, Ferdinand (2010): Lebensphilosophie, in Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. Band 2. Hamburg: Felix Meiner, S. 756-758. Fleischle-Braun, Claudia (2001): Der Moderne Tanz. Geschichte und Vermittlungskonzepte. Butzbach-Griedel: Afra. Fleischle-Braun, Claudia (2016): Das Erbe der Tanzmoderne im zeitgenössischen Kontext. Ein Beispiel kooperativer Praxisforschung, in: Susan-

23 Zitiert nach http://www.helmut-zenz.de/hztradit.html.

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ne Quinten/Stephanie Schroedter (Hg.), Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis. Choreographie, Improvisation, Exploration Bielefeld: transcript, S. 49-59. Gaulhofer, Karl/Margarete Streicher (1949): Natürliches Turnen. Gesammelte Aufsätze I. Wien: Verlag für Jugend und Volk. Halbwachs, Maurice (1967): Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke. Handler, Richard/Linnekin, Jocelyn (1984): “Tradition, Genuine or Spurious?”, in: Journal of American Folklore (Band 97, Nr. 385, 1984), S. 273-290. Huschka, Sabine (Hg.) (2009): Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen. Bielefeld: transcript. Krais, Beate/Gebauer, Gunter (2002): Habitus. Bielefeld: transcript. Lepecki, André (2004): Concept and Presence. The Contemporary European Dance Scene, in: Alexandra Carter (Hg.), Rethinking Dance History. A Reader. London/New York: Routledge, S. 170-181. Oberzaucher-Schüller, Gunhild (2012): „Der Delsartismus als Zeitzeichen“, in: Kodikas/Code – Ars Semeiotica. An International Journal of Semiotics (Volume 35, No. 3/4, July/Dec 2012) Themenheft, hrsg. von Mathias Spohr: Tanz der Zeichen – 200 Jahre Francois Delsarte, S.°319334. Pallat, Ludwig/Hilker, Franz (Hg.) (1925): Künstlerische Körperschulung. Breslau: Ferdinand Hirt. Wehren, Julia (2010): Tradition im Fokus. Choreografie als kritische Reflexion der Tanzgeschichte, in: Christina Thurner/Julia Wehren (Hg.), Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz. Zürich: Chronos, S. 59-66. Wehren, Julia (2015). Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historische Praxis. Bielefeld: transcript. Welzer, Harald (2004): Gedächtnis und Erinnerung, in: Friedrich Jaeger/ Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart: Metzler, S. 155-174.

INTERNET -Q UELLE http://www.helmut-zenz.de/hztradit.html, abgerufen am 15.7.2016.

Mimetische Grundlagen des Tanzes C HRISTOPH W ULF Gabriele Brandstetter zugeeignet.

Bei der Entstehung, der künstlerischen Gestaltung und der Rezeption von Tänzen lassen sich drei Phasen unterscheiden, in denen mimetische Prozesse von zentraler Bedeutung sind. In der ersten Phase erwerben Tänzer und Zuschauer in mimetischen Prozessen allgemeine Bewegungs- und Ausdrucksfähigkeiten (1). In der zweiten Phase werden Tänze mithilfe der erworbenen mimetischen Fähigkeiten inszeniert und aufgeführt. Dabei findet auch eine Anähnlichung an die jeweiligen räumlichen, zeitlichen und sonstigen Bedingungen statt. (2). In der dritten Phase werden Tänze von den Zuschauern mimetisch, d.h. in ihren Wahrnehmungen und in ihrem Imaginären nachvollzogen (3). Verdeutlichen wir uns dies im Weiteren. 1.

In mimetischen Prozessen entsteht in der ersten Phase ein praktisches Körperwissen, das es erst möglich macht zu tanzen. Seit der frühen Kindheit bilden sich die körperlichen Voraussetzungen des Tanzes und die damit verbundenen körperlichen Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Die meisten sind unspezifische allgemeine Bewegungs-, und Ausdruckfähigkeiten, die sich in unterschiedlichen Situationen des alltäglichen Lebens herausbilden und die dennoch wichtige Voraussetzungen für tänzerische Inszenierungen und Aufführungen sind. Diese Fähigkeiten entwickeln wir in Situationen des Alltags und dadurch, dass wir wahrnehmen, wie andere Menschen ihren Köper bewegen und mit ihm umgehen. In der Ausbildung der Tänzerinnen und Tänzer

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2.

werden neue Bewegungs- und Ausdrucksfähigkeiten gelernt, die die bereits erworbenen Alltagsbewegungen erweitern und die auch zum Ausgangspunkt neuer Bewegungen werden können. Mithilfe von Übung wird das Spektrum des gestaltbaren Bewegungspotentials erweitert. Die zweite Phase mimetischen Handelns findet bei der Inszenierung und Aufführung von Tänzen statt. Hierbei erfolgt eine mimetische Bezugnahme auf bereits im Alltag, im Tanzunterricht oder bei früheren Aufführungen erworbene Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Aus dem mimetischen Charakter dieser Bezugnahme geht hervor, dass jede tänzerische Aufführung eine neue Aufführung ist. Zwar legt die Inszenierung deren Rahmen fest. Doch wird jeder Tanz notwendigerweise unter Bezug auf frühere neu aufgeführt. Dabei können tänzerische Bewegungen besser oder auch schlechter gelingen. Entscheidend ist jedoch, dass alle tänzerischen Aufführungen in mimetischer Beziehung zu bereits verkörpertem praktischen Bewegungs- und Ausdruckswissen stehen. Neben der auf bereits verkörpertes tänzerisches Wissen gerichteten Bezugnahme spielt der mimetische Austausch mit den anderen Tänzern und Tänzerinnen einer Aufführung eine zentrale Rolle. In Relation zu diesen muss sich jeder Tänzer bewegen und darstellen. Ihre Bewegungen vollziehen sich in Raum und Zeit, die den Rahmen bieten, in dem die Tänze stattfinden. Tänzer berichten davon, wie wichtig Raum und Zeit für ihren Tanz sind. Sie sind wesentliche Voraussetzung für die Emergenz der Bewegungen und des Ausdrucks. Vergegenwärtigt man sich, wie Walter Benjamin in Berliner Kindheit um 1900 davon spricht, dass er sich als Kind in mimetischen Prozessen die Räume seines Elternhauses erschließt, so kann man in Analogie dazu auch von einer mimetischen Anähnlichung der Tänzer an den Raum ihrer Aufführung sprechen. Diese Erschließung des Raums vollzieht sich vor allem in Bewegungen, die nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit und deren Wahrnehmung strukturieren. Oft folgen die Bewegungen auch Klängen, so dass Resonanz-Beziehungen zwischen den Klängen und den tänzerischen Bewegungen entstehen. Die Resonanz ist das Ergebnis eines mimetischen Prozesses zwischen den Klängen und den Bewegungen der Tänzer und Tänzerinnen. An ihrem Gelingen gilt es in jeder Aufführung zu arbeiten.

M IMETISCHE G RUNDLAGEN DES T ANZES

3.

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Die dritte Phase mit intensiven mimetischen Prozessen vollzieht sich zwischen den Tänzerinnen und den Zuschauern. Damit die Zuschauer ein ästhetisches Erlebnis haben, bedarf es eines mimetischen Nachschaffens der Tänze. Im Nachvollzug der Bewegungen und der Musik erfolgt eine Synchronisierung zwischen Tänzern und Zuschauern, die die Bewegungen, die sie sehen, hören und fühlen, körperlich nachschaffen. Die Zuschauer ähneln sich den Tänzern und Ihren Bewegungen an und machen dadurch die Tänze und ihre Bewegungs- und Ausdrucksformen zu einem Teil ihres Körpers und ihres Imaginären. Diese Mimesis des Tanzes durch die Zuschauer hat auch Rückwirkungen auf die Tänzer, die spüren, wie sie auf die Zuschauer wirken. Kommt es in diesen mimetischen Prozessen zwischen Tänzern und Zuschauern zu einem Fließen der Emotionen, dann entstehen Gefühle der Gemeinsamkeit, der ästhetischen Erregung und des Glücks. In der mimetischen Anähnlichung der Zuschauer an das Tanzgeschehen erfassen die Zuschauer Bewegung und Ausdruck des Tanzes und erweitern dadurch ihre Bewegungswelt durch neue tänzerischen Formen und Darstellungen. Wie jeder Tänzer aufgrund seiner unterschiedlichen physischen Voraussetzungen und biographischen Erfahrungen einmalig ist, so ist es auch jeder Zuschauer. Daher erzeugt jeder Tanz bei jedem Tänzer und jedem Zuschauer eine einmalige Wirkung, die beide in ihrer Einmaligkeit nur in mimetischen Prozessen erfassen können.

Für unser Verständnis von Mimesis implizieren diese Überlegungen drei Akzentuierungen. Erstens spielen mimetische Prozesse in der Ästhetik eine wichtige Rolle, doch darf der Mimesis-Begriff nicht auf Ästhetik reduziert werden. Vielmehr ist Mimesis ein anthropologischer Begriff, der eine ausgeprägte aisthetische Komponente hat. Dies zeigt bereits die Verwendung des Begriffes in der Antike (Wulf 2013; Gebauer/Wulf 1998 und 1992). Zweitens darf Mimesis nicht als bloße Nachahmung im Sinne der Herstellung von Kopien begriffen werden. Vielmehr bezeichnet Mimesis eine kreative menschliche Fähigkeit, mit deren Hilfe auch Neues entsteht. Drittens verweisen bereits der sprachgeschichtliche Ursprung und der frühe Verwendungszusammenhang des Mimesis-Begriffs auf die Rolle, die mimetische Prozesse für die Inszenierung kultureller Praktiken und für die

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Kultur des Performativen spielen. Verdeutlichen wir uns diese Überlegungen wie folgt:

1. M IMESIS

ALS ANTHROPOLOGISCHER

B EGRIFF

Schon Aristoteles weist darauf hin, dass die Fähigkeit zu mimetischem Verhalten den Menschen angeboren ist; „sie zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch durch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat (Aristoteles 1987: 11).“

2. M IMESIS

ALS KREATIVE

N ACHAHMUNG

Mimesis bedeutet, sich einer Sache oder einem Menschen „ähnlich machen“, ihr oder ihm nacheifern, aber auch etwas „zur Darstellung bringen“, etwas „ausdrücken“. Mimetisches Verhalten bzw. Handeln bezeichnet die Bezugnahme auf einen anderen Menschen oder auf eine andere „Welt“, in der Absicht, ihm oder ihr ähnlich zu werden. Mimetisches Verhalten kann sich auf das Verhältnis von vorgegebener und dargestellter „Wirklichkeit“ beziehen; dann bezeichnet es ein Repräsentationsverhältnis. Es kann aber auch die „Nachahmung“ von etwas bezeichnen, das es selbst nicht gegeben hat, etwa die Darstellung eines Mythos, der immer nur in dieser Darstellung gegeben ist und dem kein bekanntes Modell außerhalb dieser Darstellung zugrunde liegt. Mimetisches Verhalten und Handeln haben eine produktive Funktion. Sie beziehen sich nicht notwendig auf eine „Wirklichkeit“; sie können sich auch auf Wort-, Bild- oder Handlungszeichen beziehen, die zum Modell anderer Wort-, Bild-, oder Handlungszeichen werden.

3. M IMESIS

ALS PERFORMATIVES

V ERHALTEN

Als performative Inszenierung und Handlung bezeichnet Mimesis einmal die menschliche Fähigkeit, innere Bilder, Imaginationen, Ereignisse, Erzählungen, den „Plot“ einer Handlungsfolge zu inszenieren und szenisch auf-

M IMETISCHE G RUNDLAGEN DES T ANZES

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zuführen. Entsprechendes gilt für den Tanz. Zum anderen bezeichnet Mimesis die Fähigkeit, in der Beobachtung der Performativität sozialen und ästhetischen Verhaltens sich diesem anzuähneln und es sich dadurch anzueignen. Die unterschiedlichen Voraussetzungen der Prozesse mimetischer Anähnlichung an Vorbilder lassen Unterschiedliches entstehen. Die Unterschiedlichkeit dieser Anähnlichungs- und Aneignungsprozesse führt auch zur Entstehung von Neuem (Hüppauf/Wulf 1996; Wulf/Zirfas 2007). Soziale und ästhetische Handlungen werden als mimetisch bezeichnet, 1. 2. 3.

wenn sie erstens als Bewegungen Bezug auf andere Bewegungen nehmen, wenn sie zweitens sich als körperliche Aufführungen oder Inszenierungen begreifen lassen, und wenn sie drittens eigenständige Handlungen sind, die aus sich heraus verstanden werden können und die auf andere Handlungen oder Welten Bezug nehmen.

Nicht mimetisch sind damit Handlungen wie mentale Kalküle, Entscheidungen, reflexhaftes oder routiniertes Verhalten, aber auch einmalige Handlungen und Regelbrüche (Gebauer/Wulf 1998). Die Fähigkeit, sich mit anderen Personen zu identifizieren, sie als intentional Handelnde zu begreifen und mit ihnen Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, ist an das Begehren gebunden, den Anderen durch imaginäre Anähnlichung zu verstehen. In diesem Begehren, dem Anderen ähnlich zu werden, liegt auch die Voraussetzung dafür, die kommunikativen Absichten anderer Menschen in Gesten, Symbolen und Konstruktionen zu verstehen und zu begreifen, wie diese Gegenstandskategorien und Ereignisschemata herausbilden und kausale Beziehungen zwischen den Gegenständen der Welt erfassen. Ästhetisches Wissen und Handeln sind historisch und kulturell geformt (Wulf 2013). Dies zeigt sich in Tänzen und in dem in Tänzen erworbenen ästhetischen Wissen, für dessen Entstehung die Inszenierung und Aufführung, die Wiederholung und das damit verbundene mimetische Lernen von besonderer Bedeutung sind (Brandstetter/Wulf 2007).

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L ITERATUR Aristoteles (1987): Poetik. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Verlag dt. Bibliothek. Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.) (2007): Tanz als Anthropologie. München: Wilhelm Fink. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (1992): Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek: Rowohlt. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (1998): Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek: Rowohlt. Hüppauf, Bernd/Wulf, Christoph (Hg.) (2006): Bild und Einbildungskraft. München. Wilhelm Fink. Wulf, Christoph (2013): Anthropology. A Continental Perspective. Chicago: The University of Chicago Press. Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (2007): Pädagogik des Performativen. Weinheim/Basel: Beltz.

Konzepte und didaktische Konkretisierungen

Auftauchen lassen Über das körperliche Fundament des Modernen Tanzes in Mitteleuropa G UNHILD O BERZAUCHER -S CHÜLLER „Wie immer, beginnt der neue Stil nicht mit den großen Könnern, sondern mit den reichen Erkennern; wie immer springt er rückwärts in ein Altes, Vorgestriges, um sich Form und Sicherheit für den Weg aus dem Gestern in die Zukunft zu holen.“ CURT SACHS (1933: 300)

„Es war bekannt geworden, daß in den Konzentrationslagern Neueingelieferte oft gezwungen wurden, ganze Nächte hindurch zu stehen, und wenn sie das nicht konnten, mißhandelt wurden. Infolgedessen machte Elsa Gindler sehr häufig mit uns Stehübungen. Ohne den Zweck dieser Übungen zu erwähnen, half sie uns auszuprobieren, wie wir am längsten und am besten viele Stunden stehen konnten.“ (Lily Pinkus 1980: 18, zitiert nach Zeitler (Hg.) 1991: 88)

Die Schilderung dieser extremen Unterrichtssituation bezeugt jene schockierenden Zeitumstände, die im nationalsozialistischen Berlin schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs herrschten, sie dokumentiert dazu jene Eigenschaften, die – neben den künstlerischen Aspekten – zu den wichtigen Errungenschaften der mitteleuropäischen Bewegung des Moder-

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nen Tanzes1 gehören und die gerade heute von größter Aktualität sind: Den eigenen Körper in seiner Funktionalität wahrnehmen, ihn für das Leben – sei es nun das alltägliche oder sei es das künstlerische – bereitstellen und, bei Bedarf, als Instrument auch einsetzen zu können. Des Weiteren, das Selbst derart durchlässig zu machen, dass man fähig wird, aus seinem Körpergedächtnis etwas auftauchen zu lassen. Diese schon immer bestehenden Anliegen hatten weniger die großen Utopisten der Bewegung – Émile Jaques-Dalcroze (1865-1950) und Rudolf von Laban (1879-1958) –, die kurz nach 1900 wirksam wurden, erstmals zu realisieren vermocht, als vielmehr die Arbeit jener Frauen, denen es gelang, deren kühne Ideen von einem neuen Leben, einer neuen Frau, einer neuen (Musik-) Pädagogik, einem neuen Tanz tatsächlich in Körperformen zu bringen. Werden JaquesDalcroze2 und Laban3 als die charismatischen Impulsgeber (nicht nur) für die Bewegung des Modernen Tanzes angesehen, waren es die Frauen um sie, die schon vor dem Ersten Weltkrieg körperlich das zu formulieren begannen, was die jeweilige ‚Führungspersönlichkeit‘ dachte oder schrieb. Sie, die Frauen, taten dies mithilfe der schon um 1900 aufgeblühten „Gym-

1

Ergebnis der seit den letzten Jahrzehnten auf universitärer Ebene diskutierten Benennung für den nicht institutionalisierten Tanz in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist wohl der Begriff des „Modernen Tanzes“. „Freier Tanz“ und „Ausdruckstanz“, Begriffe, die zuweilen als Synonyma für Modernen Tanz herangezogen werden, bezeichnen eher bestimmte Abschnitte der Gesamtbewegung. Meint „Freier Tanz“ den Beginn der Bewegung, also die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, so kann unter Ausdruckstanz der Tanz der Zwischenkriegszeit verstanden werden. Vom „Expressionistischen Tanz“ spricht man als Spezifizierung der Gesamtbewegung für jene Spielart des Ausdruckstanzes, der sich in den Zwanzigerjahren etablierte.

2

Für Jaques-Dalcroze waren dies Nina Gorter, Annie Beck, Marie Adama von Scheltema und Myriam Ramberg [Marie Rambert]. Siehe dazu Laden Odom 2005: 137-151. Dazu kam Suzanne Perrottet, der, zwischen Jaques-Dalcroze und Laban vermittelnd, eine ganz wesentliche Rolle im Werden des Modernen Tanzes zukommt.

3

Für Labans Werdejahre waren dies vor allem Suzanne Perrottet und Dussia Bereska, sowie Gertrud Snell, die sich besonders um die Drucklegung der „Kinetographie Laban“ (später Labanotation) verdient gemacht hat.

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nastikbewegung“4, die Teil jener vielfältigen Reformbestrebungen war, in denen auch Jaques-Dalcroze und Laban verankert waren. Den verschiedenen Richtungen der Gymnastik, die man erlernt hatte und auf die man in weiterer Folge baute, entsprach die Einflussnahme. Die wichtigsten Richtungen der Gymnastik um 1900 waren: die hygienisch-physiologischpädagogische, die rhythmisch-pädagogische, die tänzerisch-pädagogische. Mit Bess M. Mensendieck (1864-1957) kam die gesundheitlichpädagogische Richtung hinzu, die wiederum in der reformpädagogischen Bewegung wurzelte. Das allgemein angestrebte Ziel war – meist mit der Frau im Blick – neben der Vermittlung medizinischer Grundlagen die Persönlichkeitsbildung sowie die Förderung kreativer Fähigkeiten.5 Die für das Werden des Modernen Tanzes wichtigsten Linien dieser Gymnastikbewegung wurzeln in den Kunsterziehungsbestrebungen, die durch die Kunsterziehungstage 1901, 1902, besonders aber 1905 die Weichen setzten.6 Resultat dieser Bestrebungen war „künstlerische Körperbildung“. Dieser Begriff, der schon in den Zwanzigerjahren zum Allgemeingut wurde, baute auf verschiedenen Fundamenten auf und durchlief seinerseits wiederum wesentliche Entwicklungsprozesse. Basis und Ausgangspunkt dieses Prozesses war wohl der „Delsartismus“7, der in Mitteleuropa zunächst von Mensendieck und in der Folge vor allem durch Hedwig (Hade) Kallmeyer (1881-1976), Hedwig Hagemann (Lebensdaten unbekannt) und Elsa Gindler (1885-1961) vertreten wurde.

4

Siehe dazu Diem 1991; Wedemeyer-Kolwe 2004; Möhring, 2004. – Aufschlussreich dazu sind die Lexikoneinträge von Victor Junk (1930: 100f.). Als Herausgeber des 1930 erschienenen Handbuch des Tanzes definiert er als ein herausragender Kenner schon vom Standpunkt der Dreißigerjahre rückblickend „Gymnastik“ wie folgt: „Gymnastik nennt man die Pflege geordneter, meist durch musikalische Rhythmen bestimmter Körperbewegung […] Gymnastik als Selbstzweck haben heute die Systeme Bode, Duncan, Hellerau und Menzendieck [sic].“ Bemerkenswert dabei ist, dass Junk der Musik eine größere Bedeutung einräumt, als ihr – etwa bei Mensendieck – zukommt.

5 6

Siehe dazu Diem 1991: 13 f. Das Thema dieser Kunsterziehungstagung, die in Hamburg stattfand, war „Musik und Gymnastik“. Siehe dazu Diem 1991: 15-22 sowie die Ausführungen von Else Wirminghaus 1911: 32-40.

7

Auf diesen Begriff wird weiter unten eingegangen.

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Schon der Delsartismus hatte gefordert, „den Körper auf absolut physiologische Weise zu einem gefügigen Instrument des naturgemäßen körperlichen Ausdrucks für seelische Vorgänge zu erziehen“ (zitiert aus Alphons Török 1918: 31). Daran hatte Mensendieck direkt angeschlossen. Ihre Ausbildung von Frauen, die sie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von Berlin aus begann, war von der Nüchternheit der Ärztin geprägt. Kallmeyers Unterricht – auch sie unterrichtete schon vor 1914 – schloss an den amerikanischen Delsartismus an, besonders an den von Genevieve Stebbins (1857-1934)8. Im Zentrum ihrer Lehre stand zunächst die „harmonische“ Erziehung des Frauenkörpers, eine Akzentuierung, die sich offenbar unter dem Eindruck der Kriegsereignisse zu verschieben begann. Hagemann wiederum ging von Mensendieck und somit von der Funktionalität des Körpers aus, wobei sie aber schon während des Ersten Weltkriegs eigene Wege zu gehen begann. Wieder anders Gindler. Ihre Arbeit, zwar aus der Zeit heraus entstanden, durch Weitsicht aber völlig ungebunden, scheint heute aktueller denn je. Sie hatte sich zur Aufgabe gemacht, „rhythmische Quellen menschlicher Bewegung, Atmung, Spannung und Entspannung“ zu befreien, „um daraus die Bereitschaft für die Lösung der Aufgaben im täglichen Leben zu entwickeln“.9 Dazu hatte sie „einen neuen und wirklich befreienden Ansatz des ‚Experimentierens‘“ entwickelt, bei dem sie – dies durchaus im Delsarte’schen Sinn – „das Funktionieren des Organismus in allen möglichen Lebenssituationen“ 10 studiert hatte. Ihr Ziel war „der Versuch, sich selber als Instrument wahrzunehmen, zu forschen, zu erkennen, wo wir uns zweckmäßig verhalten oder unzweckmäßig“.11 Mensendieck, Kallmeyer, Hagemann und Gindler waren es also, die jene – bis dahin nicht existierende – körperliche Basis schufen, mit deren Hilfe sich die so verschiedenen Utopien der Jahrhundertwende verwirklichen ließen. Anders als die in den Zwanzigerjahren mehr und mehr im Rampenlicht wirkenden Protagonisten des Modernen Tanzes – allen voran Laban und Mary Wigman (1886-1973) mit ihren Kreisen, wozu ursprünglich auch Kurt Jooss (1901-1979) und Gret Palucca (1902-1993) gehörten –

8

Siehe hierzu besonders Stebbins 1885.

9

Siehe Franz Hilker, in Zeitler 1991: 138.

10 Siehe Speads, in Zeitler 1991: 60. 11 Siehe Gindler, in Zeitler 1991: 129.

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agierten die Pädagoginnen weitgehend außerhalb des öffentlichen Blicks. Heute im besten Fall als wichtige Vertreterinnen der Gymnastikbewegung geschätzt, waren jedoch sie es, die ein Instrumentarium schufen, das den Umwandlungsprozess von Ideen in körperliche Formen erst ermöglichte. Ihre Lehrinhalte legten nicht nur das körperbildnerische Fundament für weitere Protagonistinnen des Modernen Tanzes wie Dorothee Günther (1896-1975), Maja Lex (1906-1986) oder Rosalia Chladek (1905-1995), sondern sie leiteten auch im Unterrichten einen Paradigmenwechsel ein: Das körperliche „Selbst-Erfühlen“ und „Selbst-Erfahren“, das bereits vor dem Ersten Weltkrieg als die oberste Maxime einer neuen Tanzbewegung angesehen wurde, trat an die Stelle des „Nachahmens“, des mechanischen „Übens“, das durch Wiederholung gekennzeichnet war. Von diesem Einstieg ausgehend, soll im Folgenden auf jene Fragen eingegangen werden, die bei der Kölner Tagung Das Erbe der Tanz-Moderne im zeitgenössischen Kontext 2015 gestellt wurden. Die Fragen galten dem „Wissen und Zeitgeist“, aus dem bestimmte „Systeme“ entstehen konnten, der Basis, auf welcher Tanzsysteme gründeten, und deren „Gemeinsamkeiten sowie signifikanten Unterschiede“. Dazu wurde nach den „soziokulturellen, institutionellen und personalen Einflüssen“ gefragt, die „Veränderungen von bestimmten Lehrsystemen bewirkten“, und schließlich nach der „Überlegung zur Relevanz von künstlerischer und pädagogischer Arbeit im zeitgenössischen Tanz“. Schon ein erster Blick auf diese Fragestellungen fördert die Schwierigkeit des Unterfangens zutage, Antworten zu finden, denn die überaus dünne Quellenlage gibt kaum über die gesamte Bewegung des Modernen Tanzes Auskunft12, sondern begnügte sich weitgehend mit Untersuchungen herausragender Persönlichkeiten. Dies mögen Tänzer oder Tänzerinnen, Choreographen oder Choreographinnen oder auch Philosophen sein, denen kleinerer oder größerer Einfluss auf Entwicklungen zugeschrieben wird.13 Die

12 Siehe dazu Oberzaucher-Schüller, G. in Zusammenarbeit mit A. Oberzaucher und T. Steiert (Hg.) 1992. 13 An erster Stelle sei in diesem Zusammenhang Ludwig Klages genannt, der mit seinen Schriften tatsächlich Einfluss auf eine Persönlichkeit wie Rudolf Bode hatte. Nicht zuletzt durch sein politisches Engagement nahm Bode mit seiner

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dünne Quellenlage ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass sich der Blick auf die ständig in Bewegung gewesene Szene – auch bedingt durch die Zeitläufte und die damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Umstürze – von Jahrzehnt zu Jahrzehnt stark veränderte. Wenn im Folgenden der Versuch gemacht wird, gerade auf jene frühen Entwicklungen zu blicken, die dem Modernen Tanz in Mitteleuropa in Form von Körperbildung das Bewegungsfundament gaben, erfolgt dies mit dem Bemühen, die Geschehnisse weitgehend aus direkten Zeitzeugnissen heraus zu lesen und weniger aus heutigen Reflexionen darüber. Dieser Ansatz bedingt aber auch andere Aufgabenstellungen, denn die Frage etwa nach konkreten Ausbildungs- oder Bewegungskonzepten vor 1920, die von Interessierten hätten aufgegriffen werden können, kann demnach so nicht gestellt werden, da es kurz vor, während oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg weder in sich geschlossene (Tanz-)Konzepte oder Systeme noch diesbezügliche Methoden gab. Aus diesem Grund konnte sich auch niemand für das eine oder andere entscheiden. Man wandte sich vielmehr – aus bestimmter Neigung, nach Begabung oder auch ganz einfach aus örtlicher Nähe – einer Persönlichkeit oder einem Trend zu und wurde in der Folge selbst Teil eines Entwicklungsprozesses, der letztlich tatsächlich auch Systeme oder Methoden auf den Weg brachte. Dies trifft sowohl für die Arbeit von Günther, in geringerem Maß für Lex, als auch für Chladek zu, weniger aber für Irmgard Bartenieff (geb. Dombois, 1900-1981). Sie war zwar in den Zwanzigerjahren Schülerin von Laban gewesen, begann sich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, freilich mit dem schon erlangten Rüstzeug, jener Arbeit zuzuwenden, für die sie heute weltweit bekannt ist. Der Fokus der folgenden Ausführungen wird auf die Praxis gelegt, er versucht jener Körperarbeit nachzugehen, die sich in Mitteleuropa in der Folge des Delsartismus seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bis zum Beginn der Zwanzigerjahre zu entwickeln begann. In diesem Zeitraum hatten sich die verschiedenen Facetten des Forschens am (Frauen-)Körper so weit gefestigt, dass sich klare Linien abzeichneten, die wiederum von entscheidendem Einfluss für die Bewegung waren. Anhand der Arbeit der genannten Frauen soll jenes Körperinstrumentarium freigelegt werden, das nicht nur Günther und Chladek, sondern wohl auch Laban als Fundament

„Ausdrucksgymnastik“ besonders in den Zwanziger- und Dreißigerjahren erheblichen Einfluss auf die Gymnastikbewegung in der Zeit des Nationalsozialismus.

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diente. Dieses Fundament scheint Mitte der Zwanzigerjahre – eine Zeit, die in vielem ein Wendepunkt gewesen zu sein scheint – bereits als ein Erbe angenommen worden zu sein.

G ENDER -B ODY-R ESEARCH Wiewohl Jaques-Dalcroze und Laban als die Gründerväter des Modernen Tanzes angesehen werden, herrscht heute allgemeiner Konsens darüber, dass die Bewegung vor allem von Frauen getragen wurde. Sie vermochten Ideen und Theorien in körperliche Formen zu transformieren und so in Studios und auf Bühnen zu bringen. Sie taten dies, auch darauf wurde bereits hingewiesen, mithilfe der Gymnastik, die zu dieser Zeit zur Verfügung stand. Die gewählte Gymnastik aber stammte ebenfalls von Frauen, die die körperliche Arbeit an Frauen erprobt und weiterentwickelt hatten, die aber letztlich wiederum auf die Körperforschung eines Mannes zurückging. Die Rede ist von François Delsarte (1811-1871).14 Seine theoretische Lehre, die von Frankreich in die USA gelangte, dort in eine weitergebbare „Gymnastik“ transformiert wurde und als solche wieder nach Europa zurückkam, wurde „Delsartismus“ genannt. Den Begriff, der noch während des Ersten Weltkriegs in Mitteleuropa gebräuchlich wurde, definiert etwa der herausragende Kenner Alphons Török (1918: 31) wie folgt: Man verstehe darunter jenes „Gesamtgebiet des körperlichen Ausdrucks“, das Delsarte begründet habe. Der Körper werde dabei auf „absolut physiologische Weise zu einem gefügigen Instrument des naturgemäßen körperlichen Ausdrucks für seelische Vorgänge“ (ebd.). Unter den für die Verbreitung des Delsartismus maßgeblichen Persönlichkeiten ist – für Mitteleuropa – Mensendieck wohl die wichtigste Erscheinung. Nachdem sie 1905 in Berlin eine Schule gegründet hatte, verbreitete sich ihre Lehre, die sich explizit an Frauen wandte, wie ein Lauffeuer. Diese Entwicklung überrascht keinesfalls, ist doch die Emanzipationsbestrebung der Frau Teil jener Utopien der Jahrhundertwende – Schul-

14 Zu Delsarte siehe Shawn 1975; Ruyter 1999 und Ruyter (Hg.) 2005; Jeschke/ Vettermann in G. Oberzaucher-Schüller (Hg.) 1992: 15-24; Spohr (Hg.) 2013; Waille 2011 sowie Waille (Hg.) 2011 und 2015.

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reformen, Lebens-, Gesellschafts- und künstlerische Reformen –, aus denen heraus sich alle Bewegungskünste des 20. Jahrhunderts formierten. Das enorme Echo der Arbeit der ausgebildeten Ärztin Mensendieck wurde einerseits durch ein Netzwerk von Schulen, andererseits durch ihre schriftstellerische Tätigkeit erzielt. In einem ihrer Aufsätze gibt Mensendieck selbst über ihr „Standing“ in Bezug zu Delsarte Auskunft.15

B ESS M. MENSENDIECK – V ON „ ORGANISCHEN B EWEGUNGSVORGÄNGEN UND DEREN Z USAMMENHÄNGEN “16 Schon in der 1906 erschienenen ersten Ausgabe ihres Buches Körperkultur der Frau. Praktisch hygienische und praktisch ästhetische Winke, das damals noch den Titel Körperkultur des Weibes17 trug, legt Mensendieck (1906) im Vorwort klar ihre Ausbildungsziele vor: „Es liegt nicht die Absicht vor, ein „System“ an den Körper „heranzutragen“, sondern darauf aufmerksam zu machen, daß der menschliche Organismus in seinem anatomischen Aufbau und seiner physikalischen Gesetzmäßigkeit selbst ein „System“ bildet, dessen Kenntnis und richtige Verwertung der Frau wichtige Anpassungsvorteile an alle Lebensanforderungen gewährt, und ihr zugleich aus sich heraus die Möglichkeiten bietet, ihren Pflichten in der Körperästhetik gewissenhaft nachzukommen.“ (B. Mensendieck, im Vorwort zur 1. Aufl. 1906, S. V der 7. Aufl. 1920).

Wie die Übungen in den Zwanzigerjahren beschaffen waren, die eine solche gedankliche Basis zugrunde hatten, schildert Ilse Loesch (1909–2006), die neben einem Unterricht bei Laban18 1926 in ihrer Heimatstadt Breslau

15 Siehe dazu ausführlicher Oberzaucher-Schüller in Spohr (2013: 319-334). 16 Siehe dazu Loesch 1990: 12f. 17 Bess M. Mensendiecks Buch Körperkultur des Weibes (1906) erlebte acht Auflagen. Die zweite Auflage erschien 1907, die dritte 1908, die vierte 1909, die fünfte 1912, die sechste 1919, die siebente 1920 und die achte 1924. 18 Loesch war später wegen ihrer politischen Überzeugung von den Nationalsozialisten verfolgt und hatte nach dem Krieg als Pädagogin in der DDR gewirkt.

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ein Mensendieck-Studium begann. Die zu dieser Zeit dort wirkende Lehrerin, die Mensendieck-Schülerin Toni Homagk, hatte ein nahes Verhältnis zu der damals bereits existierenden Günther-Schule in München. Homak assistierte neben Hedwig Hagemann, Marie Müller-Brunn und Thekla Malmberg bei der Erstellung des Günther-Buches Gymnastische Grundübungen nach dem System Mensendieck. Im Bewegungsablauf dargestellt (1926). Da Loesch jenen Unterricht genau beschreibt, den in dieser Art auch Günther genommen hatte, sei dies zitiert: „Aufbauend auf der Beckenstellung, haben wir im Unterricht zunächst sehr eingehend und ausdauernd an der Haltung gearbeitet. Dazu gehörten d ie Gewichtsverteilung aus den – parallelgestellten – Füßen, der Spannungsgrad in den Beinen, die Bewegung in allen Teilen der Wirbelsäule bis zum Kopf wie auch die Haltung des Brustkorbs, das Zusammenziehen und Lösen der Schulterblätter bei unterschied licher Schulter- und Armhaltung sowie der zu beobachtende Einfluß auf die gesamte Haltung. Mit der Verlagerung auf den vorderen Teil des Fußes begannen die Gleichgewichtsübungen und damit auch die Verlagerungen des Schwerpunktes über die Unterstützungsfläche hinaus, in unterschiedlicher Weise aufgefangen mit einem Schritt, und von da zur Fortbewegung. Alle diese Übungen wurden in ganz ruhigem Tempo ausgeführt, um in ununterbrochener Konzentration alles Entstehende wahrnehmen und präzise lenken zu können. Es war ein ständiges Erkennen und Nutzen organischer und physikalischer Gesetzmäßigkeiten.“ (Lösch 1990: 12f.)

Diese Übungsabläufe waren in den Zwanzigerjahren offenbar schon Routine gewesen. Unter der Überschrift Körperpflege in Amerika beschreibt Mensendieck in ihrem Buch Körperkultur der Frau (1920, 7. Aufl.) die Basis dafür. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe man begonnen, sich dem Studium des Körpers zu widmen, habe sich allerdings damit begnügt, die Funktionen des Körpers „nur mit Rücksicht auf Schönheitsgewinn“ (1920: 11), auf „Anmut“ und „Grazie“ (ebd.) zu untersuchen. Dabei habe man nur zwei Gruppen des menschlichen Organismus studiert: die Muskel- und die Atmungsfunktionen. Die Anregung dafür sei, so Mensendieck, ursprünglich von Delsarte sowie dessen amerikanischem Schüler Steele MacKaye (1842-1894) gekommen. Dieser sei 1869/70 nach Amerika zurückgegangen, um seinem Lehrer die Wege zum Unterricht in

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Boston zu ermöglichen. Doch bevor dies realisiert werden konnte, sei Delsarte gestorben. Durch Stebbins sei die Delsarte’sche Lehre mit der schwedischen Heilgymnastik verquickt und in das Alltagsleben verpflanzt worden. Stebbins habe dann die Delsarte’schen „Aufstellungen“ (ebd.: 12) auf ihre Richtigkeit hin überprüft und war zur Erkenntnis gekommen, Grazie hänge vom methodisch angewandten Muskelspiel ab. „Es handelt sich bei der anmutigen Schönheit darum, durch einen bestimmten Unterricht den Vorteil herauszufinden, mittels dessen man eine Muskelgruppe der anderen rhythmisch untertänig macht, und immer nur gerade diejenige Muskelgruppe auf jegliche Bewegung verwendet, die nach der anatomischen Anordnung und den physikalischen Gesetzen des Körperbaues dazu bestimmt ist.“ (Mensendieck 1920: 12f.)

Diese „Körperkultur“ habe einen unglaublichen Erfolg in Amerika gehabt und werde unter dem Namen „ästhetisches Turnen“ in Mädchenschulen angeboten. In Stebbins’ Schriften gebe es aber, so Mensendieck (1920: 13 f.) „ungenießbare metaphysische Beimengungen“. Dadurch sei sowohl von Stebbins wie schon von MacKaye „blühender Unsinn“ hinzugekommen“ (ebd.: 14). Der Fehler der beiden sei gewesen, allein den „schönheitlichen Moment“ im Auge gehabt und die „gesundheitliche Nützlichkeit“ völlig außer Acht gelassen zu haben. Ihr, Mensendieck, gehe es allein um „Bewegungsmechanik des menschlichen Körpers“, sie biete nun die Lehren Delsartes „von allen metaphysischen Verschnörkelungen entkleidet, nur auf ihren praktischen Wert kondensiert“ (ebd.) Dorothee Günther, für die die Lehren Mensendiecks Grundlage ihrer Arbeit war, resümiert nach Diem (1991: 39) rückblickend aus Anlass ihres Todes: „Es spielt gar keine Rolle, ob heute noch alle ihre Übungen benutzt oder durch, unserer Überzeugung nach, andere erfolgreichere abgelöst wurden. Ihr Wissen und ihre Direktiven gaben uns ja erst die Anregung dazu und die praktischen Grundlagen des Erkennens. Selbst wenn ihre Übungen einst ganz vergessen würden – ihre Erkenntnisse leben mitten unter uns und sind so selbstverständlicher Besitz geworden, daß die meisten Leibeserzieher gar nicht mal wissen, daß sie alle irgendwo ‚mensendiecken‘“ […] (Günther 1960, zitiert nach Diem 1991: 39).

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H EDWIG K ALLMEYER – V ERTRETERIN „H ARMONISCHEN E RZIEHUNG “

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EINER

War Mensendieck mit ihrem „angewandten Delsartismus“ bereits 1905 durch eine Schule in Berlin vertreten, so fanden Stebbins’ Lehren durch Hedwig Kallmeyer 1909 über deren Schule Eingang in dieselbe Stadt. Kallmeyer gehört heute zu den weitgehend Unbekannten der Körperkulturbewegung.19 Dies steht in krassem Gegensatz zu jenem hohen Stellenwert, der ihrer Unterrichtstätigkeit für das Werden und den weiteren Verlauf der Körperbildungsbewegung, aus der heraus auch der Ausdruckstanz entstanden war, in Mitteleuropa zukam. Kallmeyer war jene Persönlichkeit, die mit ihrer Schule, von Stebbins als Mittlerin zwischen der Theorie Delsartes und deren Zurichtung zu einer weitergebbaren Körperbildung ausgehend, Generationen von Lehrerinnen ausbildete. Es waren Mensendieck und Kallmeyer, die die notwendigen körperlichen Grundlagen sowohl für eine geschlechtsspezifische und/oder künstlerisch orientierte Gymnastik legten; ihre Schülerinnen überzogen in der Folge mit einem Schulnetz ganz Mitteleuropa. Kallmeyer, eine gebürtige Stuttgarterin, die, nach eigenen Aussagen in England „Calistenics“20 und bei Stebbins in New York studiert hatte, referiert in der Einleitung ihrer Schrift Künstlerische Gymnastik. Harmonische Körperkultur nach dem amerikanischen System Stebbins-Kallmeyer (1910) über jene Gymnastik- und Körperbildungssysteme, die im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende in Deutschland aktuell waren. Dies waren neben dem „Deutschen Turnen“21 und der „Schwedischen Gymnastik“22 vor

19 Siehe dazu von Steinaecker (2000), hier insbesondere das Kapitel Reformpädagogik und Gymnastikbewegung (S. 115-130); Oberzaucher-Schüller in M. Spohr (Hg.) 2013: 319-334. 20 Der Begriff „Calisthenics“ (Kallisthenie) bezeichnet eine Frauengymnastik, die, mit Geräten ausgeführt, durch oftmalige Wiederholung einer Bewegung Muskelkraft stärken und so eine gute körperliche Verfassung herstellen sollte. Siehe dazu Diem 1991: 9-11. 21 Siehe zur Entwicklung der Turnbewegung Streicher (1924) in Denk/Hecker (Hg.) 1996: 75-80; Krüger in Krüger/Langenfeld (Hg.) 2010: 199-209; Langenfeld/Pfister in Überhorst (Hg.) 1982: 977-1007.

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allem das System von Jørgen Peter Müller (1866-1938)23, dem sie allerdings Mangel an „Anmut“ nachsagt. Kallmeyer erwähnt auch bereits das Wirken von Jaques-Dalcroze, das schon vor der Eröffnung von Hellerau 1911 in Deutschland Aufmerksamkeit erregt hatte. Zu diesen Formen gelte es, so Kallmeyer (1910: 3), eine Alternative zu bieten. Diese sei durch das „System Mensendieck“ gegeben, das sich ganz an das System Stebbins anlehne und da „Vorzügliches“ leiste. Es setze die Idee von Stebbins fort, „körperliche Erziehung auf künstlerischer Grundlage“ (ebd.) zu leisten, wobei die Muskelausbildung die Grundlage sei. Kallmeyers 1910 erschienenes Buch sei, so die Autorin, keine Übersetzung der Bücher von Stebbins (Society Gymnastics and Voice Culture 1888; Dynamic Breathing and Harmonic Gymnastic 1892; System of Physical Training 1898), sondern eine Zusammenlegung einiger ihrer Schriften, diese jedoch mit der Erfahrung der eigenen Lehrtätigkeit ergänzt. Auch bei ihr baue, wie bei Stebbins, Körperbewegung auf „gesetzmäßiger Grundlage“ auf, wobei „das künstlerische Moment sowie die Pflege des Ausdrucks in ihr zur Geltung“ gebracht werden müsse (ebd.: 6). Basis dafür sei, wie bei Stebbins, das Delsarte’sche „System des Ausdrucks“. Delsarte sei es dabei um eine „Wiederentdeckung und Formulierung der Gesetze der Ausdruckswissenschaft“ (ebd.) gegangen. Im Mittelpunkt der Stebbins-Ausbildung und somit auch in der ihren steht: Kräftigung der inneren Organe, Kräftigung der Muskulatur unter besonderer Berücksichtigung des weiblichen Organismus. Des Weiteren: Harmonie der Bewegung, Erziehung zur bewussten gesetzmäßigen Beherrschung des Körpers, Pflege des Ausdrucks und stufenweise Entwicklung der einfachsten Bewegungen. Dazu Übungen, Stellungen, Schritte, die dann so weit zusammengesetzt werden könnten, dass damit nach und nach sowohl „plastische Darstellungen“ als auch künstlerischer Tanz ausgeführt werden könnten (ebd.: 8).

22 Die „Schwedische Gymnastik“ war von Pehr Henrik Ling (1776-1839) auch in bewusstem Gegensatz zur „Deutschen Gymnastik“ entwickelt worden. Ling teilte seine Lehre in eine medizinische, eine pädagogische Gymnastik, eine Wehrgymnastik und eine ästhetische Gymnastik. 23 Das „Gymnastiksystem“ des Dänen Jørgen Peter Müller erlangte nicht nur in seiner Heimat, sondern auch im übrigen Europa große Verbreitung. Siehe dazu Diem 1991: 40-46.

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„So schuf sie [Stebbins] ein System, welches selbst von Kindern in seinen Anfängen mit großem Nutzen ausgeübt werden kann und jedem die individuelle Freiheit lässt, so viel aus dem überreichen Material zu wählen, wie er Lust hat, Zeit und Veranlagung besitzt.“ (Kallmeyer 1910: 8)

Neben den Delsarte’schen Grundlagen stützten sich die Stebbins-Übungen, die zu Musik ausgeführt werden, nach eigenen Aussagen auch auf das medizinische System von George H. Taylor 24 sowie auf die schwedische Heilgymnastik.25 Kallmeyer (1910: 11) geht dann auf die „Harmonische Erziehung“ ein, die sie nach Stebbins lehrt. Wie Stebbins, geht sie von der Delsarte’schen Dreiheit Intellekt (Geist), Gemüt (Seele) und Körper (Materie) aus. „Um Harmonie ermöglichen zu können, müssen alle drei Gebiete zu Geltung gelangen und jedes für sich gesondert, sowie in Beziehung zu den beiden anderen Elementen, volle Beachtung finden.“ (Kallmeyer 1910: 11).

Kallmeyers Ziele waren zweierlei: 1.

2.

„Harmonische Durchbildung des Frauen- und Männerkörpers und Erziehung zur Bewegungsschönheit auf Grund der Gesetze der Bewegung“. „Schulung des Körpers als Instrument des Ausdrucks, im täglichen Leben, für die Bühne und zur plastischen Darstellung musikalischer Eindrücke“ (ebd.: 3).

Als Grundelement nennt Kallmeyer die Atmung26, das „Schlaffmachen“ und das „Muskelanspannen“. Die drei Gesetze der Bewegung sind:

24 George Herbert Taylor (1821-1896), amerikanischer Arzt, der auch mithilfe der schwedischen Heilgymnastik Heilung durch Bewegung entwickelte. Er schrieb u.a. das Buch Health by Exercise (1879). 25 Die schwedische Heilgymnastik war eine Unterabteilung der Ling-Gymnastik. 26 Dem hohen Stellenwert, der der Atmung in jeder körperbildnerischen Arbeit zukommt, muss eine eigene Studie gewidmet sein.

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1. Gesetz der harmonischen Stellung, 2. Gesetz der Gegenbewegung, 3. Gesetz der Folge.

H EDWIG H AGEMANN UND D OROTHEE GÜNTHER – „ ZWECKMÄSSIGE WEIBLICHE K ÖRPERKULTUR “ 27 Karl Toepfer28, der, wie auch Bernd Wedemeyer-Kolwe, die so wichtigen Jahre des Werdens der unterschiedlichen „Schulen der Bewegung“ in Mitteleuropa – freilich unter völlig unterschiedlichen Aspekten –29 ausführlich behandelt, sieht in Fritz Giese und Hedwig Hagemann diejenigen, die um das Lehrgut der Mensendieck am meisten bemüht waren. Dazu werden – neben Dorothee Günther, die bei Hagemann studierte, und Maja Lex – genannt: Ellen Petz (1899-1970), Dora Menzler (1874-1951) und Jarmila Kröschlová (1893-1983), auf die im Zusammenhang mit Rosalia Chladek näher eingegangen wird. Fritz Giese30 veröffentlichte 1920 zusammen mit Hagemann den Sammelband Weibliche Körperbildung und Bewegungskunst. Nach dem System Mensendieck. Die verschiedenen Beiträge des Buches sollten sowohl die Bedeutung des Lehrgutes von Mensendieck als wichtiger Beitrag „zweckmäßiger weiblicher Körperkultur“31 bezeugen als auch die breite Anwendbarkeit des „Systems“ unterstreichen. Hagemann fungierte in dieser Zeit als Vorsitzende des Mensendieck-Bund e.V. (Schule Mensendieck-Bewegungskunst Ellen Petz), 32 der 1917 in Hamburg – in Abwesenheit von Mensendieck – gegründet worden war. Die Leitung des Bundes hatte, wie ausdrücklich betont wird, das System bereits durch „Ergänzungen“ erwei-

27 Siehe Giese/Hagemann 1920: V. 28 Siehe Toepfer 1997: 39-47, hier S. 41-44. 29 Toepfer (1997) betrachtet das Geschehen vom Standpunkt der Nacktkultur, Wedemeyer-Kolwe (2004) von der Körperkultur aus. 30 Giese war Psychologe, der sich auch mit sportmedizinischen und musiktherapeutischen Fragen auseinandersetzte. 31 Siehe Giese/Hagemann 1920: V. 32 Siehe dazu Wedemeyer-Kolwe 2004:42-52, hier S. 45f.

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tert. „Fortschritte“ habe man durch „organischen Ausbau“33 erzielt und sei dadurch zu Neuem gelangt. Zusätzlich und grundsätzlich wird betont, das Buch biete die Basis für das „Verlangen“ nach einer „rassephysiologisch und ästhetisch befriedigend begründeten Körperkultur der Frau“.34 Was verhindert werden sollte, war ein „veräußerlichtes Pflegen von Ausdruckstänzen“.35 Diese seien Abirrungen von der Notwendigkeit der „Pflege des gesunden weiblichen Körpers“.36 Der kleine Band betrachtet die Lehre der Mensendieck aus den verschiedensten Blickwinkeln. Neben Aufsätzen über das System vom ärztlichen Standpunkt aus finden sich Betrachtungen über Atmung, über Tanz und Gymnastik, über künstlerischen Einzeltanz, Körperkultur und Erziehung. Damit werden nicht nur die damals wichtigsten Themen der Körperbildung angesprochen, sondern auch der Weg, den die Autoren mithilfe der Propagierung des Systems gehen wollen. Neben ihrem Hauptanliegen, den weiblichen Körper zu bilden, wird hier auf die Bühne geblickt und damit auf jene Funktion verwiesen, die dem System in den Zwanziger- und Dreißigerjahren auch tatsächlich zukam. Der Körper sollte auch für das Podium bereitgestellt werden. Das System Mensendieck ersetzte somit den klassischen Tanz, der bis dahin für den „Gebrauch“ des Körpers als durchgearbeitetes Instrument verbindlich gewesen war.37

33 Siehe Giese/Hagemann 1920: V. 34 Ebd., S. VI. 35 Als Mensendieck 1921/22 wieder nach Europa zurückkehrte, gründete sie, da sie mit den vielfach gemachten Änderungen ihres Systems nicht einverstanden war, in Den Haag eine Zentralstelle für Mensendieck-Ausbildung. Schon 1921 hatte man Mensendieck mitgeteilt, dass man mit ihren ursprünglichen Erkenntnissen nicht einverstanden sei. Von der Hagemann-Gruppe spalteten sich 1923/24 Dorothee Günther und andere ab. Siehe dazu Wedemeyer-Kolwe 2004: 45f. 36 Vgl. Giese/Hagemann 1920: VI. 37 In diesem Zusammenhang ist zu vermerken, dass es in den Dreißigerjahren Tanzkritiker gab, die, sehr genau und durchaus wertend, auf Ausbildungsunterschiede und eine sich aus der jeweiligen Ausbildung ergebende Ästhetik hinwiesen. So schreibt Artur Michel etwa über einen Tanzabend der Münchner Günther-Schule 1930. Zwar billigt er dem Gesehenen „große Sauberkeit des Strebens wie der Formen“ zu, zudem sei Maja Lex nicht arm an „Bewegungs-

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Von weiterer Bedeutung des Buches in unserem Zusammenhang ist, dass einer der Aufsätze von Dorothee Günther stammt. Günther hatte 1919 ihre Ausbildung bei Hagemann mit einem Diplom abgeschlossen, hatte also hier das körperliche Rüstzeug für ihre spätere Tätigkeit erhalten. Günthers Beitrag trägt den Titel Der unschöne Körper als Gegenstand der Körperkultur38. Darin diskutiert sie nicht nur die damals aktuellen Themen, sie zeigt auch – freilich indirekt –, welche Richtung sie als Pädagogin einzuschlagen gedenkt, eine Richtung übrigens, die noch keine Eigenständigkeit erkennen lässt. Günther (1920: 97) schreibt eingangs von der „äußeren“ und der „inneren“ Schönheit. Der Mensch stehe durch seine rein geistige Erziehung „seiner körperlichen Unschönheit viel hilfloser gegenüber als seiner seelischen“. Nach einer Reflexion über den Begriff „Schönheit“ und der Bedeutung, die ihr in verschiedenen Zeiten zukam, schreibt sie vom Mittelalter, das keine „geschulten, veredelten Körper“ (ebd.) kannte, Schönheit daher in Kleidung legte. Leonardo da Vinci wie Michelangelo hätten sich immer mit „Anatomiestunden, Muskel- und Formenfülle“ (ebd.) begnügt. „Dem Griechen allein war es bisher gelungen, einen für alle Begriffe gleichermaßen vollkommenen Menschen zu schaffen. Doch glückte ihm das wie einem spielenden Kinde. Er übte und stählte seinen Körper aus Lust an der unbekleideten Bewegung unter seinem göttlich blauen Sonnenhimmel. So sah er sich wachsen und werden und ahnte durch das Sehen seine Schönheit und strebte ihr nach in Spiel und Tanz, wie ein Kind dem Schmetterling, und keine Mühe scheuend, ihn zu erreichen. Und er hatte seine Lust am Spiel seiner Glieder, und hatte das Recht, sich göttlich zu preisen, da er sich vollkommen wußte. So konnte er aus seiner Schönheit heraus Schönheit schaffen und ausstreuen.“ (Günther 1920: 98)

Dem gegenüber stehe der Mensch des Zeitalters der „gesteigerten Geistesund Maschinenarbeit“. Als solcher habe man zwar eine schier „quälende Sehnsucht“ (ebd.) nach Schönheit, man habe aber vergessen, dass man

einfällen“, die Arbeit erreiche aber nicht „die Sphäre des Tanzes“. Die etwas „exotisch angehauchte Tanzgebärdensprache – unterstützt von einer sehr sorgfältig geübten Geräuschmusik – ist auf Edelgymnastik aufgesetzt“. In F.-M. Peter (Hg.) 2015: 253. 38 In Giese/Hagemann 1920: 97-107.

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selbst schön sein könne und man – besonders als Frau – gleichsam verpflichtet sei, es anzustreben. Allgemein herrsche die Meinung, nur für „gut gebaute“ und „schöne“ Menschen sei es sinnvoll, sich körperlich zu bilden, dem sei entgegenzuwirken (ebd.: 98f.). Wesentlichster Grund dafür sei die allgemeine Verwechslung von Gymnastik und Tanz, dazu komme die völlige Unwissenheit über menschliche Anatomie. Frauen wirft Günther ein allzu rasches Dreinfinden in den falschen Glauben vor, „Mängel, Fehler und Schwächen“ könne nichts entgegengesetzt werden. Dadurch entstehe eine „Unschönheit des Körpers“, auf deren Ursachen dann näher eingegangen wird. Körperliche Vernachlässigung, die durch „richtige“ Haltung leicht korrigiert werden könne, sei bei Frauen jeden Alters und Standes zu beobachten. Und Günther meint (1920: 103): „Jede Frau, die nur einmal durchgreifende Gymnastik geübt hat, wird wissen, welche Erleichterung in jeder Tätigkeit des täglichen Lebens davon erwächst […] Die Frau wird mit einem Wort, leistungsfähiger und allein dadurch schön.“

Frauen hätten sich also für Körperkultur zu interessieren. Auch ein im landläufigen Sinne nicht schöner Körper werde anders wirken, „wenn seine Bewegungen elastisch und ausgeglichen sind“ (ebd.: 105). Die Körper dürften nicht nur äußerlich gepflegt werden. Gymnastik sei auch nötig zur „inneren Durcharbeitung und Reinigung“ (ebd.: 106). Der sittlich strebende Mensch habe das Recht, auch von seinem Mitmenschen Sittlichkeit zu fordern. Trägheit, mangelndes Wissen, dazu im Sehen ungeübte Augen, hindern. Schönheit wirke zudem auf das Seelische, dies wiederum bilde den Körper (ebd.: 106 f.). Jeder habe es selbst in der Hand, uns „von unserem unschönen Körper zu erlösen und eine Harmonie zwischen ihm und der Seele herzustellen“ (ebd.: 106).

E LSA G INDLER – DURCH K ÖRPERARBEIT „ ERFAHRBEREIT “ WERDEN „Ich habe ein Laboratorium. Ich möchte niemand ausbilden. Ich möchte forschen – wer dabei mitforschen möchte, ist herzlich willkommen.“ In ei-

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nem Erinnerungsbuch an Elsa Gindler39 legen Schülerinnen der Pädagogin diese Worte in den Mund. Die Sätze, die die Herausgeberin Peggy Zeitler (1991) bereits in ihrem Vorwort zitiert, bündeln nicht allein die Essenz von Bestrebungen einer heute weitgehend unbekannten Persönlichkeit (deren Lehren gleichwohl weiter angeboten werden 40), sie können als symbolhaft für jenen prozesshaften Charakter der Entwicklung von Körperarbeit angesehen werden, die noch vor dem Ersten Weltkrieg begann. Und mehr noch: Mit dem – freilich erst etwas später so formulierten – Ansinnen, den Körper „erfahrbereit“ gemacht zu haben, war Gindler es, die eine bis heute gültige Sicht auf Körperbildung eingeleitet und in weiterer Folge auch realisiert hatte. Gindler (1926: 48) ging es um die „Einheit des Bewußtseins, das sich aus dem Zusammenwirken der körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte ergibt“. Sie selbst komme dabei immer wieder in Verlegenheit, diese Arbeit als Gymnastik zu bezeichnen. Es gehe ihr nie um bloße Übungen, sondern allein um das Bewusstsein, „unseren Körper mittels der gymnastischen Übungen zu einem gefügigen Instrument für unser Leben zu machen“ (ebd.: 50). Gindler war, wie Franz Hilker (1961) in seinem Würdigungsartikel anlässlich des Todes der „großen“41 Pädagogin schrieb, um 1910 in das „Seminar für Harmonische Gymnastik“ eingetreten, das Kallmeyer in Berlin eröffnet hatte. 42 Kolleginnen Gindlers in diesen Jahren waren unter anderen Dora Menzler und Gertrud Markus (verehelichte von Hollander, Gindlers spätere Mitarbeiterin43) sowie Hedwig von Rohden (1890-1987), die später gemeinsam mit der Mensendieck-Schülerin Louise Langgaard (1883-1974) die Loheland-Schule betrieb. Als ausgebildete „Gymnastiklehrerin“ scheint Gindler zunächst im Sinne Kallmeyers „Harmonische Gymnastik“ unterrichtet zu haben.

39 Siehe Zeitler 1991: 7. Die Lehren Gindlers kamen unter anderen durch Charlotte Selver (1901-2003) in die USA und wurden dort, weiterentwickelt, „Sensory Awareness” genannt. 40 Siehe dazu auch Heinrich Jacoby-Elsa Gindler-Stiftung (Hg.) 2015, sowie die Homepage der Heinrich Jacoby-Elsa Gindler-Stiftung. 41 Siehe dazu Hilker 1961, abgedruckt in Zeitler (Hg.) 1991: 133-139. 42 Ebd., S. 134. 43 Sie übernahm 1926 die Ausbildungsklassen für Lehrerinnen und Lehrer.

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Eine von Gindlers Schülerinnen, die 1915 bei ihr zu studieren begonnen hatte, erinnert sich an ihre damalige Lehrweise: Sie tat zunächst das, was man sie gelehrt hatte, sie vermittelte „schöne Bewegung“.44 Im Unterricht „stand [sie] vorne und wir ihr gegenüber […]. Sie zeigte uns die Bewegungen, und wir versuchten sie nachzuahmen.“45 Um 1917, so die Schülerin, begann Gindler mit etwas Neuem. Sie forderte die Schülerinnen auf, bei der Körperarbeit die Augen geschlossen zu halten. Dies bewirkte, „daß man sich seiner selbst im Raum gewahr wurde, wie auch des Raumes, den man einnahm, und daß man sich diesem Raum mehr öffnete. Gleichzeitig brachte es einen in Beziehung mit der Welt, in der man steht.“46 Im Laufe der Kriegsjahre änderten sich mehr und mehr Gindlers Zielsetzungen. Weiters auf die Zeitumstände reagierend – sie arbeitete seit 1924 mit dem Musiker Heinrich Jacoby zusammen47 –, wandte sie sich „Berufsmenschen“48 an sich und hier wiederum Frauen zu. Es galt, „die Menschen so führen und ansprechen, daß sie die einfachen Dinge (z.B. Sitzen, Liegen, Stehen, einen Gegenstand tragen, eine alltägliche Hausarbeit) ganz tun, nicht nur mit vollem Bewußtsein, sondern mit der totalen Präsenz der Person, was ganz wesentlich mehr ist.“ (Wilhelm 1961, abgedruckt in Zeitler (Hg.) 1991: 21)

Der Körper hatte eben „erfahrbereit“ 49 zu werden. Man sollte sich dabei voll der Schwerkraft überlassen, sollte lernen, „Sinn und Wesen des Ruhens“ zu verstehen, nämlich als ein „lebendiges Sich-Überlassen“.50 Zudem wurden „Bewegungsfähigkeit“ und „Bewegungssinn“51 gepflegt, „Gefühl der Qualität einer Bewegung“ geschult, sowie

44 Siehe Fenichel 1978, in Zeitler (Hg.) 1991: 29. 45 Ebd. 46 Ebd.: 30. 47 Der Musikpädagoge Heinrich Jacoby (1889-1964) hatte seit 1921 an der Odenwaldschule gearbeitet und ging 1933 in die Schweiz. 48 Siehe Zeitler 1991: 8. 49 Ebd.: 22. 50 Ebd.: S. 24. 51 Siehe Hilker (1961), in Zeitler (Hg.) 1991: 138.

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„das Unterscheidungsvermögen zwischen einer oberflächlichen und einer tief empfundenen Bewegung; wir belebten die Sensibilität für den Ausdruck der Bewegung, an der die ganze Persönlichkeit beteiligt ist und wodurch, zumindest momentan, sowohl der Gemütszustand als auch die physische Erscheinung sich verwandelten“. (Aginsky, o.T. in Zeitler (Hg.) 1991: 41)

Und resümierend meint eine Schülerin in einem Bericht aus dem Jahr 1980, bei Gindler habe sie „Wahrnehmungsfähigkeit“52 gelernt und dazu fähig zu sein, nicht nur Bewegung „auftauchen lassen“53, sondern auch „ruhenlassen“.54

J ARMILA K RÖSCHLOVÁ – EINE WEITERE MENSENDIECK -S CHÜLERIN MELDET SICH

ZU

W ORT

Am 14. Februar 1921 schreibt die Pragerin Jarmila Kröschlová 55 an Christine Baer-Frissell (1886-1932), die dem leitenden Team der „Neuen Schule Hellerau“ angehört, einen Brief. Die Schule, die sich als Nachfolge-Institut der „Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze“ – allerdings mit bereits veränderten Lehrzielen – verstand, war 1919 von Baer-Frissell, die u.a. Rhythmische Gymnastik unterrichtete, und Valeria Kratina (1892-1983), die den künstlerischen Tanz vertrat, gegründet worden. Neben ihnen fungierte seit 1920 Ernst Ferand (1887-1972), der für Musiktheorie zuständig war, als Leiter. Kröschlová also schreibt: „Es ist mir eine Notwendigkeit Ihnen das zu sagen, was ich eben schreiben will. Wenn ich auf ein Gespräch mit Ihnen warten sollte – würde ich zu lange warten müssen. Erinnern Sie sich, Frau Baer, dass ich Ihnen sagte, ich möchte nicht die Körpertechnik von der Wigman haben? Ich muss es Ihnen näher erklären. Ich will schon gehen, laufen, springen lernen – schön, sehr schön, aber ich will dazu durch einen ganz anderen Weg gelangen. Ich will nicht, dass es eine technische Fertigkeit,

52 Löhrke (1980), in: Zeitler (Hg.) 1991: 122. 53 Ebd., S. 120. 54 Ebd., S. 121. 55 Zu Jarmila Kröschlová vgl. Oberzaucher-Schüller 1993 sowie J. Kröschlová 1993 und E. Kröschlová (Hg.) 2008.

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aber eine Konsequenz meines inneren Menschen wird. Ich komme immer u. immer wieder auf das zurück – – mir einen Künstler ohne eine grosse Menschenseele nicht denken zu können – oder vielleicht nicht wollen. Wenigstens was für mich in Betracht kommt, ist, dass ich durch den Menschen zur Kunst gelangen will. Die Technik ist ein Teil der Kunst u. für mein Gefühl soll sie nicht an einen Menschen angeklebt werden wie ein Kleid, aber sie soll der Ausdruck sein seiner inneren Reife. Ich weiss, durch fleissiges üben u. immer wieder üben, würde ich schneller, viel schneller schön laufen etc. aber würde es wirklich schön sein? Würde da, in meinem Schritt meine Seele herausstrahlen? Würde da meine Seele gehen u. laufen oder würde es nur der gut gezüchtete Körper tun? – Sehen Sie, Fr. Baer, wenn ich in meiner Stunde einmal gut gegangen bin, sodass ich schön war – es war, weil ich in diesem Augenblick so ganz meine Seele freimachte u. sie schmolz mit meinem Körper zusammen – es ist mir schon früher geschehen, in verschiedenen Augenblicken meines Lebens – – – ich bin aber noch nicht so weit, um immer so zu gehen. Noch verstecke ich mich, noch habe ich von meinem Körper keinen Besitz ergriffen. Und sehen Sie, dazu will ich kommen, aber nicht auf dem äusseren Wege. Es scheint mir, dass das, was mich bei der Wigman kalt lässt, ist eben ihre körperliche Fertigkeit, die nicht so erreicht war, wie ich es mir vorstelle. Vielleicht ist mein Weg unsinnig – ich will ihn aber doch gehen. Ich will zur Kunst durch keinen anderen Weg gelangen – – u. ich glaube, ich könnte es nicht, auch wenn ich wollte – – ich kann eher verzichten auf die Kunst selbst. Verstehen Sie mich? Jarmila“ 56

Mit diesem Brief, der exemplarisch die Anliegen der ersten Nachkriegsjahre zusammenfasst, überzeugt Kröschlová das Hellerauer Lehrerkollegium. 1922 wird sie in den Lehrkörper der Neuen Schule Hellerau aufgenommen. Ihre Lehre war es, die die Ausrichtung des Instituts erweiterte, ihre Lehre war es auch, auf der Rosalia Chladek aufbaute, die zu diesem Zeitpunkt als Schülerin der Schule angehörte. Kröschlová hatte 1919 bei Jaques-Dalcroze in Genf studiert – nach seiner Vertreibung aus Deutschland 1914 war er wieder nach Genf zurückgekehrt. In Prag wandte sich Kröschlová dann Mensendieck zu, deren Lehre dort durch eine 1915 gegründete Schule von Helena Vojačková vertreten war. Kröschlovás Arbeit war daher von zweierlei geprägt. Zum einen von der Rhythmischen Gymnastik und der musikalischen Grundlage durch Jaques-Dalcroze und zum anderen durch die

56 Eine Kopie des Briefentwurfs ist im Besitz der Autorin.

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Lehre der Mensendieck. In der Verbindung dieser Richtungen entstand in der Neuen Schule Hellerau nun das Fach „Körperbildung“, das Kröschlová bis 1923 unterrichtete. Dazu kam ein dritter Akzent: der Blick auf die Bühne, auf ein – wie Kröschlová es später nannte – „Theater der Bewegung“. Eine Gruppe solches Namens gründete sie auch, als sie 1924 nach Prag zurückkehrte. Fortan eingebunden in die überaus lebhafte moderne tschechische Theaterszene, gründete Kröschlová 1931 eine eigene Schule für „Bewegung und Tanzerziehung“. Obwohl ihre Arbeit immer wieder durch politische Umstürze beeinträchtigt wurde (Okkupation des Landes durch die Nationalsozialisten, Machtübernahme im Land durch die Kommunisten), blieb Kröschlová bis in die Siebzigerjahre lehrend und schreibend aktiv. Seit Kröschlovás Tätigkeit in Hellerau ging das ehemalige Institut von Jaques-Dalcroze, das seine Ausbildungslinie schon 1919 geändert hatte, weitere neue Wege. Ein Strang setzte die mittlerweile neu definierte Linie von Jaques-Dalcroze fort, der zweite blickte mehr auf die Bühne, eine Arbeit, die mit Kratina angeboten wurde.57 Der dritte Strang war jener Weg, den Chladek schließlich mit der Entwicklung ihres Systems weiterging.58 Die Ausrichtungen in den großen Schulen sind nun klar vorgegeben. Erst ab jetzt besteht für Interessenten die Möglichkeit, sich für das eine oder andere „Konzept“, das freilich sehr oft in die Aura einer Persönlichkeit eingebettet ist, zu entscheiden.

E IN „ GANZHEITLICHES “, DENNOCH VARIABLES K ÖRPERKONZEPT IST BEREITGESTELLT Trotz der verheerenden wirtschaftlichen Situation scheint die Szene schon in den ersten Jahren des neuen Jahrzehnts förmlich zu explodieren, wobei es sich als überaus schwierig erweist, die ungeheure Vielfalt der Aktivitäten zu überschauen. Diese Schwierigkeit ergibt sich auch aus der Tatsache, dass vermeintlich klar zu unterscheidende Ausrichtungen immer wieder ineinandergreifen oder sich überlappen. Eine Vielzahl von Tänzerinnen und Tänzern, solistisch oder in Gruppen, treten auf. In neuen Engagements präsentieren sie sich in neuen Formationen oder theatralischen Formen. 57 Siehe dazu Oberzaucher-Schüller/Giel 2002. 58 Siehe dazu Alexander/Groll (Hg.) 1995.

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Schulen, Vereine, Bünde werden gegründet, werden wieder aufgelassen, nur um sich erneut und in anderer Besetzung wieder zusammenzuschließen.59 1922 etwa richtet die Hochschule für Musik in Charlottenburg eine Tagung Künstlerische Körperschulung aus, die von dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, vom Bund Entschiedener Schulreformer, vom Deutschen Reichsausschuß für Leibesübung sowie von der Zentralkommission für Sport- und Körperpflege veranstaltet wird.60 Bünde, Vereine und Schulen fächern sich in Deutschland bis 1933 weiter auf, eine Entwicklung, der durch die Gründung der Reichstheaterkammer 1933 Einhalt geboten wird. Diejenigen, die sich nicht in die nunmehr vorgeschriebenen Bahnen einfinden wollen oder können, verlassen das Deutsche Reich. Um die Vielfalt der Szene in den Zwanzigerjahren zu demonstrieren, sei ein eingehenderer Blick auf die Mitte des Jahrzehnts getan, die in mancher Hinsicht als Schaltstelle für weitere Entwicklungen angesehen werden kann. In diesen Jahren sind mindestens fünf teils völlig divergierende, teils ineinandergreifende Stränge auszumachen, die sich – in welcher Form auch immer – mit dem Körper beschäftigen. Es sind dies: die aus der Reformpädagogik kommende Landschulbewegung, des Weiteren die Gymnastikbewegung61, deren ursprünglich verschiedene Stränge sich erneut aufgefächert haben, die von Jaques-Dalcroze kommende Rhythmusbewegung, die verschiedenen Facetten der theatralischen Ausprägungen des Modernen Tanzes sowie die Laienbewegung, die mit ihrem partizipierenden Charakter ein immer größeres Ausmaß annimmt. Zu den genannten Bereichen, die sich in ständiger Veränderung befinden, kommen in sich geschlossene Welten, „Lebensschulen“ wie etwa die von Rudolf Steiner 62, die der Elizabeth Duncan-Schule63 oder der Loheland-Schule64.

59 Siehe dazu wohl am ausführlichsten Wedemeyer-Kolwe 2004. 60 Siehe dazu Pallat/Hilker (Hg.) 1923. 61 Siehe dazu Diem 1991: 9-14. 62 Dies soll jedoch nicht heißen, dass etwa die Eurythmie nicht vom Ideengut des russischen Delsartismus beeinflusst war. 63 Es herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass die Lehre der Duncan -Schulen vom amerikanischen Delsartismus beeinflusst ist. Siehe dazu Peter (Hg.) 2000. 64 Siehe dazu Loheland-Stiftung (Hg.) 2012.

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1924/25 stellt sich die „bewegte Szene“ – dieser Begriff soll alle jene Aktivitäten umfassen, die sich im weitesten Sinne mit Aspekten der Körperbildung und ihrer Anwendung beschäftigen – in Deutschland wie folgt dar. Am 1. September 1924 eröffnet Dorothee Günther ihre Schule in München65, am 1. April 1925 kommt Maja Lex als Schülerin an die GüntherSchule. Der Name der Schule ist zu diesem Zeitpunkt (bis 1931): Ausbildungsstätte vom Bund für angewandte und freie Pädagogik e. V.66 Wie es den Intentionen der Körperschulen dieser Jahre entspricht67, bietet die Schule mehrere Ausbildungswege an. 1926 erlangt Lex das Lehrbefähigungszeugnis für Gymnastik mit Schwerpunkt „Musikalisch-Rhythmische Körperbildung“ und wird Assistenzlehrkraft an der Günther-Schule.68 Nach ihrem Solodebüt 1924 in Dresden unternimmt Rosalia Chladek – noch als Studierende der Neuen Schule Hellerau – Tourneen mit der Tanz-

65 Günther hatte bereits vor diesem Datum mit dem späteren „Musikausbildner“ ihrer Schule, Carl Orff, zusammengearbeitet. Sie hatte, nachdem sie Orff offenbar 1923 kennengelernt hatte, eine „freie Neugestaltung“ des Textes von Claudio Monteverdis L’Orfeo verfasst. Diese Bearbeitung, die im Mai 1924 abgeschlossen war, wurde erstmals 1925 in Mannheim in der Regie von Richard Meyer-Walden und der Choreographie von Lida Wolkowa gegeben. Die Choreographin schreibt über ihre Arbeit: „Wir hatten in der Bearbeitung des Monteverdischen ‚Orfeo‘, einer sozusagen prähistorischen Oper (1607), alles auf Bewegung gestellt: die Chöre waren im Orchester und wurden auf der Bühne durch Bewegungschöre dargestellt, die Solisten wurden bewegungsmäßig stark betont.“ In: Paul Stefan (Hg.), o. J., S. 103. Eine weitere Zusammenarbeit zwischen Günther und Orff war Tanz der Spröden, eine Arbeit, der Monteverdis Ballo dell’ingrate in genere rappresentativo zugrunde lag. Das Werk kam, ebenfalls in einer Übersetzung von Günther, 1925 in Karlsruhe zu Uraufführung. Für die Dekoration und Kostüme hatte Günther die Entwürfe geliefert, Regie führte Otto Krauß. (Für wertvolle Hinweise, Orff betreffend, sei Sabine Fröhlich, Orff-Zentrum, München, gedankt.) 66 Ein Prospekt der Schule aus dieser frühen Zeit scheint sich nicht erhalten zu haben. Kugler dokumentiert einen undatierten Schulprospekt, siehe dazu Kugler (Hg.) 2002: 241-250. 67 Vgl. dazu das Ausbildungsangebot der Neuen Schule Hellerau in OberzaucherSchüller/Giel 2002: 17f. 68 Die Schule trägt diesen Namen erst ab 1931.

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gruppe Hellerau, die unter der Leitung von Valeria Kratina steht. Im Dezember 1924 erlangt Chladek als Gymnastiklehrerin das „Lehrdiplom für Körperbildung“ und wird in den Lehrkörper der Schule aufgenommen. Im Sommer 1925 übersiedelt die Schule nach Laxenburg bei Wien, der Name ist nun Schule Hellerau-Laxenburg. Rudolf von Laban ist seit 1922 in Hamburg tätig, wo seine breit ge fächerten Interessen zu voller Entfaltung kommen.69 Zur weiteren Etablierung von Laban-Schulen, zu den Gastspielen der Tanzbühne Laban und der Kammertanzbühne (ihnen gehören solche Persönlichkeiten wie Dussia Bereska, Albrecht Knust, Kurt Jooss, Ruth Loeser an) in Mitteleuropa, forciert er im Hamburger „Zentralinstitut“ die Idee einer Bewegungsschrift, die vor allem dazu dienen soll, seine Werke einstudieren zu können. Lehrende ist Gertrud Snell, die vorerst noch die Körperkreuz- beziehungsweise Schwalbenschwanz-Schrift unterrichtet. (Ab 1929 ist Snell für die Drucklegung der Kinetographie Laban verantwortlich.) Ab November 1925 arbeitet Laban verstärkt an seinen Chor- und Festideen, die sich zu einer größeren, als „Laienbewegung“ bekannt gewordenen Massenbewegung entwickeln sollte. Am 1. November 1925 vereinen sich die Gymnastikschulen von Mensendieck, Kallmeyer und Gindler, die Loheland-Schule sowie die Schulen von Laban und Rudolf Bode (1881-1970) zum Deutschen Gymnastik-Bund, den Vorsitz übernimmt Franz Hilker.70 Im Frühsommer 1926 zieht Laban weiter nach Würzburg. Mary Wigman, die lange Jahre (1913-18) zu den Mitstreiterinnen Labans gehörte, hat 1920 ihre Schule in Dresden eröffnet. Nach ihrem kometenhaften Aufstieg als Solotänzerin entstehen in den Jahren 1924 und 1925 so wichtige Gruppenwerke wie Szenen aus einem Tanzdrama und Das Tanzmärchen. 1924 erhält sie finanzielle Absicherung durch eine private Fördergesellschaft, womit die Existenz der Schule und der Tanzgruppe bis auf weiteres gesichert ist. Wigmans offensichtliche Vorrangstellung innerhalb der Bewegung des Modernen Tanzes lässt starke Persönlichkeiten in ihrer näheren Umgebung nicht zu. Nachdem ihre Schülerin Gret Palucca im Februar 1924 den ersten eigenen Solotanzabend in Dresden gegeben hat, gründet sie dort im Oktober desselben Jahres ihre Schule. Berthe Trümpy,

69 Siehe dazu vor allem Evelyn Dörr 2005. 70 Damit hat man sich von den Turn- und Sportorganisationen abgespalten.

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eine der wichtigsten Mitstreiterinnen der Wigman, eröffnet 1924 eine eigene Schule in Berlin. An der dortigen Staatsoper hat seit 1923 der WigmanAdept Max Terpis die Leitung des Balletts inne, er engagiert 1924 den Wigman-Schüler Harald Kreutzberg, dessen Solotanzkarriere parallel dazu bereits im Gange ist. Yvonne Georgi, eine weitere Wigman-Schülerin, geht 1924 zu Jooss an die Tanzbühne des Theaters in Münster, ehe sie 1925 am Theater in Gera erstmals selbst die Leitung einer Tanzgruppe übernimmt. Nach einer Zeit des ständigen Ortswechsels hat die Elizabeth DuncanSchule 1925 einen (vorerst) permanenten Sitz in Kleßheim bei Salzburg gefunden. Anders die Loheland-Schule, sie harrt seit 1919 bis heute an ein und demselben Ort aus. Wieder anders die Bode-Schule in München, die bestrebt war, ihren Aktionsradius ständig zu weiten. 1929 erfolgte eine Abspaltung von Hinrich Medau (1890-1974), der bis dahin die Berliner BodeSchule geleitet hatte. Dem gegenüber steht das eher stille Wirken der Schulen von Mensendieck, Kallmeyer und Gindler. Sie unterrichten weiterhin und bilden dazu auch Lehrerinnen aus. Dora Menzler führte weiterhin eine eigene Schule. Ebenso unspektakulär, dafür umso nachhaltiger, ist die Arbeit jener Pädagoginnen, die sich – ähnlich wie Hellerau-Laxenburg – als diejenigen ansehen, die, von Jaques-Dalcroze ausgehend, eine „Rhythmik“ entwickelten. Von den verschiedenen Ausbildungssträngen, die auf dem nunmehr in der Schweiz agierenden Jaques-Dalcroze aufbauen, seien Elfriede Feudel (1881-1966) und ihr Engagement für die Rhythmik in der Pädagogik und Mimi Scheiblauer (1891–1968) mit der von ihr entwickelten bewegungsorientierten Heilpädagogik genannt. 1926 wird der Deutsche Rhythmikverband e. V. gegründet.71

71 Auf die Querelen rund um Jaques-Dalcroze und den mit seinem Namen verbundenen Begriff der „Rhythmischen Gymnastik“ kann hier nicht weiter eingegangen werden. Die noch in den Zwanzigerjahren anzutreffende Eilfertigkeit, Person und Arbeit des Musikpädagogen beiseitezuschieben, wurzelt in der bekannten Tatsache, dass der Schweizer Jaques-Dalcroze, noch dazu aus seiner privilegierten Stellung in Deutschland heraus, es 1914 gewagt hatte, politische Vorgangsweisen der Deutschen zu kritisieren. Immerhin konnte sich jemand wie Elfriede Feudel, die ihre Arbeit auf Jaques-Dalcroze aufbaut, 1926 zu folgendem Urteil aufraffen: „Aber bestehen bleiben wird die große Idee Dalcroze’ von dem körperlich-musikalischen Erleben, von der Einheit geistigen und körperli-

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Buchstäblich im Rampenlicht steht dagegen die Arbeit in den Theatern, die sich dem ungeheuren Erfolg des Modernen Tanzes, der ja außerhalb der etablierten Theater stattfand, beugen müssen. Mehr und mehr Vertreter der Bewegung des Modernen Tanzes finden seit 1920 in der Eigenschaft als „Tanzmeister“ (anstelle der bis dahin agierenden „Ballettmeister“) im Theater ein neues Betätigungsfeld. In der Saison 1924/25 etwa wird diese Position an 15 Theatern neu besetzt. Um nur einige zu nennen: Ellen Petz übernimmt Dresden, Helga Swedlund Breslau, Edith Walcher Stuttgart, Kurt Jooss Münster, Vera Skoronel Oberhausen, Martin Gleisner Gera, Elsa Kahl Hagen.72 Im Rampenlicht stand auch die schier überwältigende Zahl der Solotänzerinnen und Solotänzer, die, freischaffend, die eigentlichen Träger des Modernen Tanzes waren. Hier seien nur so extreme Persönlichkeiten wie Valeska Gert und Anita Berber, aber auch Niddy Impekoven oder Hans (Jean) Weidt erwähnt. In ebendieser Saison (März 1925) kommt es zur Uraufführung des Kulturfilms Wege zu Kraft und Schönheit. Dieser Film ist im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Szene von besonderem Interesse, denn die hier dokumentierte Summe an Körperarbeit erweist sich als Pool, aus dem der Nationalsozialismus die ihm genehme Auswahl zu treffen wusste. Bei dieser „Auswahlarbeit“, die letztlich eine der größten soziokulturellen und künstlerischen Errungenschaften des ganzen Kulturraums zerstörte, war unter anderen Jutta Klamt (1890-1970) überaus tatkräftig. Die KallmeyerSchülerin, die seit 1920 eine Schule in Berlin unterhielt, holte sich mit der 1925 erfolgten Heirat mit dem Laban-Schüler Gustav (Jo) Vischer (FischerKlamt) für ihr Tun Verstärkung. Tatkräftigen Eifer legte auch Rudolf Bode an den Tag. Aufgrund seiner politischen Gesinnung gelang es ihm, auch nach 1933 eine Rolle zu spielen. 1933 erfolgte schließlich die „Gleichschaltung der bestehenden Schulen für Gymnastik oder Künstlerischen Tanz“ 73

chen Tuns durch das Mittel der Musik, die in allen Kulturländern Fuß gefaßt hat und in jedem Land zu eigenen Formen gelangen muß.“ (Feudel 1926: 12). Grundidee von Jaques-Dalcroze war der Sozialpädagogin Dore Jacobs (o.J.) nach, „die objektive Formenwelt der Musik zum Formprinzip der Bewegung“ gemacht zu haben (zitiert aus Diem 1991: 109). 72 Siehe dazu Oberzaucher-Schüller 2000: 19-26. 73 Siehe Diem (1991: 185).

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im Reichsverband Deutscher Turn-, Sport- und Gymnastiklehrer, in der Bode eine führende Position innehatte. 74 Damit war auch ein jahrzehntelang andauernder Streit zwischen dem männlich konnotierten Turn- und Sportlehrerberuf und dem der Gymnastiklehrerinnen zugunsten der Männer entschieden. Die Arbeit der Reichstheaterkammer walzte weitere Vielfalt nieder.75 In der Nachkriegszeit hatten die „Überlebenden“ des Modernen Tanzes gegen die vorherrschende Ballettästhetik der Besatzungsmächte anzukämpfen. Die aus der Emigration Zurückgekommenen – etwa Jooss in der BRD oder Weidt in der DDR – vermochten neue Impulse zu setzen. Gleichwohl dauerte es einige Jahrzehnte, bis die in der Emigration gewonnenen Erkenntnisse – etwa die Lehren der Irmgard Bartenieff – auch in Mitteleuropa Fuß zu fassen begannen.

U ND WAS

BLIEB ?

Das Geschehen auf dem Theater ist versunken. Das, was zuweilen – wie dies ab den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts geschehen ist – rekonstruiert wird, wirkt im neuen Umraum – ihrer Schöpferinterpreten beraubt – oft wie ein zwar willkommenes, aber doch schwaches Winken aus Zeiten, die vergangen sind. Was geblieben ist, ist die Arbeit am und mit dem Körper, sind Ausbildungssysteme, die mit ihrem Körperbildungsansatz heute mehr denn je den Menschen ansprechen. Schon in den Fünfzigerjahren schrieb Günther, die Erkenntnisse einer Mensendieck lebten „mitten unter uns und sind so selbstverständlicher Besitz“ 76. Und Gindler gelang es, Teile jener Utopie zu realisieren, die zu erreichen man um 1900 angestrebt hatte. Von der Erkenntnis ausgehend, „Ich bin mein Körper“77, lernte man das „Sichselbst-Freigeben“.78 Sie eröffnete damit die immer aktuelle Möglichkeit, sich des Prozesses des Menschwerdens bewusst zu werden, „Lebensenergie

74 Vgl. dazu Wedemeyer-Kolwe 2004: 390f. und auch Ulrich Bode (Hg.) 2011. 75 Zur Entwicklung des Tanzes auf dem Theater in der Zeit des Nationalsozialismus siehe Oberzaucher-Schüller 2014: 251-277. 76 Zitiert nach Diem 1991: 39. 77 Henschke Durham 1978, in: Zeitler (Hg.) 1991: 43. 78 Ebd.

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zu begreifen, zu schätzen und ihr Funktionieren in allen Bereichen und Beziehungen des täglichen Lebens zuzulassen. Offen zu werden, den inneren Raum zu spüren, empfangsbereit zu sein […]“79.

L ITERATUR Alexander, Gerda/Groll, Hans (Hg.) (1995): Tänzerin Choreographin Pädagogin Rosalia Chladek (4. Aufl.). Wien: ÖBV Pädagogischer Verlag. Bode, Ulrich (Hg.) (2011): 100 Jahre Bode Schule, 100 Jahre Gymnastik. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Bode Schule 1911-2011. Eichenau: Trochos. Diem, Liselott (1991): Die Gymnastikbewegung. Ein Beitrag zur Entwicklung des Frauensports. Sankt Augustin: Academia. Dörr, Evelyn (2005): Die Schrift des Tänzers. Rudolf Laban. Ein Porträt. Norderstedt: Books on Demand. Fenichel, Clare Nathanson (1978): Auszüge aus Korrespondenz und Interviews mit Mary Alice Roche. Los Angeles 1978, in: Peggy Zeitler (Hg.) (1991), Erinnerungen an Elsa Gindler. München (Selbstverlag), S. 2931. Feudel, Elfriede (1926): Rhythmik. Theorie und Praxis der körperlichmusikalischen Erziehung. München: Delphin. Giese, Fritz/Hagemann, Hedwig (Hg.) (1920): Weibliche Körperbildung und Bewegungskunst nach dem System Mensendieck. München: F. Bruckmann. Gindler, Elsa (1926): „Die Gymnastik des Berufsmenschen“, in: Gymnnastik (Jg. I, 1926, 5-6, S. 82), hrsg vom Deutschen Gymnastikbund e.V., Wiederabdruck in: Peggy Zeitler (Hg.) (1991), Erinnerungen an Elsa Gindler. Berichte – Briefe – Gespräche mit Schülern. München (SelbstVerlag), S. 48-57. Gindler, Elsa (1991): „Auszüge aus Briefen von Elsa Gindler an Erna Löhrke“, in: Peggy Zeitler (Hg.), Erinnerungen an Elsa Gindler. Berichte – Briefe – Gespräche mit Schülern. München (Selbst-Verlag), S. 129-131.

79 Ebd.: 46.

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INTERNET -Q UELLE Heinrich Jacoby – Elsa Gindler-Stiftung, http://www.jgstiftung.de/ (abgerufen am 25.9.2016).

Elementarer Tanz – ein Mythos? K RYSTYNA O BERMAIER

Seit seiner Gründung hat der Elementare Tanz weitreichende Verbreitung gefunden. Gleichwohl dieser langen Tradition und der weiten Verbreitung, so scheint es, gibt es bis heute keine ausreichende systematische Aufarbeitung dieser Tanzrichtung. Der Elementare Tanz, so drängt es sich auf, erscheint eher als Mythos, als Randerscheinung denn als ein in sich geschlossenes und intersubjektiv nachvollziehbares Konzept. Insofern kann dieser Beitrag weniger Antworten geben, denn Anfragen stellen. Zu fragen ist auch, ob der Ansatz des Elementaren Tanzes denn überhaupt ein rahmengebendes, vielleicht auch seine Freiheit einschränkendes Verbindendes benötigt? Dazu wird im ersten Teil, nach einer kurzen historischen und pädagogischen Einordnung das künstlerisch-tänzerische Konzept von Dorothee Günther, Maja Lex und Graziella Padilla skizziert, mit einigen praktischen Erfahrungen kontrastiert und nachfolgend anhand einer systematischen Analyse einschlägiger Werke zum zeitgenössischen Tanz aufgezeigt, wo eine vertiefte tanzwissenschaftliche Auseinandersetzung und Reflexion des Elementaren Tanzen geboten wäre. Ein optimistischer Ausblick rundet den Beitrag ab.

H ISTORISCHER K ONTEXT UND POLITISCH GESELLSCHAFTLICHER H INTERGRUND Die Gründung der Günther-Schule, als Geburtsstätte des Elementaren Tanzes, fiel in einen Zeitabschnitt der deutschen Geschichte, als die Lebens-

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umstände und Sichtweisen von den Menschen kritisch hinterfragt wurden. Um die Jahrhundertwende schritt die Industrialisierung voran und prägte das Leben durch Maschinen und Massenproduktionen. Die Menschen waren gezwungen, in die Industriezentren der Städte abzuwandern. Die gravierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen lösten eine große Verunsicherung und einen Identifikationsverlust aus. Das alte soziale Gefüge der Kaiserzeit zerbrach. Als Gegenbewegung zu den sinnentleerten Werten entstanden Vereine wie der „Wandervogel“ oder der Freikörperkultur e.V. „Das gesellige Erlebnis beim Wandern, beim Lagerfeuer unter freiem Himmel, beim Volkstanz befriedigte das erwachte Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Freiheit und Körperlichkeit“ (Müller/Stöckemann 1993: 8)

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse von Max Planck oder Albert Einstein sowie die neuartigen Erkenntnisse in der Psychoanalyse lenkten den Fokus auf das Individuum und veränderten das Weltbild. Diese meinungsbildenden, gesellschaftlichen Eruptionen genährt von der zivilisationskritische Schriften Nitzsches über die deutsche „Scheinkultur“ entfesselten einen Nährboden für die sich ausbreitende Jugendprotestbewegung, die schon bald den Slogan „Zurück zur Natur“ für sich entdeckte.

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Die gefeierte Wiedergeburt des Leibes entfesselte das Ideal von einem gesunden und geformten Körper und entlud sich zwangsläufig in vielfältigsten gymnastischen Bewegungsansätzen, um „alle Teile des menschlichen Leibes wieder funktions- und ausdrucksfähig zu machen, den Körper aus der Verkrampfung, Verkrüppelung und Verkümmerung zu befreien“ (Schikowski 1928: o.S.). Schon bald beherrschten Elemente wie Rhythmus, Musik, Ausdruck und Gestaltung zunehmend die Gymnastik und ebneten allmählich den Weg für den modernen Tanz, „das sinnlich-dynamisch Individuelle [...] führte zunehmend durch Gestaltung und Betonung musikalischer und musikpädagogischer Aspekte zum Ausdruckstanz. In der Folge waren Rhythmische Gymnastik und Tanz vielfach nicht mehr voneinander zu trennen“ (Wobbe 1992: 30).

E LEMENTARER T ANZ – EIN M YTHOS ?

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Die neue unerprobte demokratische Staatsform der Weimarer Republik stellte die geltenden gesellschaftlichen Normvorstellungen in Frage und eröffnete neue Horizonte bei der Suche nach anderen Lebensentwürfen und prägte somit die kulturelle Landschaft Deutschlands. Der freiheitliche Rahmen bot einen einmaligen und optimalen Rahmen für Experimente und somit auch für den modernen künstlerischen Tanz, Freien Tanz oder „Ausdruckstanz“, wie dieser später als Sammelbegriff hauptsächlich genutzt wurde, „denn nichts war verbindlich und wo es nichts zu verlieren gab, war alles möglich. Der Ausdruckstanz war kein einheitliches ästhetisches Gebilde, sondern setzte sich zusammen aus unzähligen Tanzereignissen, Theorien und weltanschaulichen Richtungen“ (Müller/Stöckemann 1993: 33). Die verbindende historische Basis aller damals aktiven Tanzvertreter ist auf die Rhythmik- und Gymnastikbewegung sowie den Expressionismus zurückzuführen und durch die Attribute formfrei, natürlich, individuell, eigenständig vom verstockten und unfreien Ballett abzugrenzen. „Alle Richtungen existierten nebeneinander, alle Ansätze wurden toleriert und für jede Art von Tanz fand sich ein Publikum, dem sie gefiel“ (ebd.). Folglich entstand eine Vielzahl an Gymnastikschulen und Ausbildungsstätten, die sich dem neuen Weg zum Tanz verschrieben haben.

D IE G ÜNTHERSCHULE MÜNCHEN 1924-1944 Dorothee Günther, 1896 geboren, war das Kind ihrer Zeit. Geprägt durch den vorherrschenden Zeitgeist und ihre Studien im Kunstgewerbe, Kunstgeschichte und Anatomie sowie ihre künstlerische Tätigkeit als Inszenierungsvolontärin konzentrierte sie ihren wachen und kritischen Blick auf die zeitgenössischen Tendenzen. Ihre Erfahrung und Erkenntnisse diesbezüglich führten sie schon bald zu der Frage nach den Grundkriterien einer organischen Bewegungserziehung. „Ich wendete mich der damals neuen Form der Körpererziehung, Mensendieck-Gymnastik, zu und lernte Dalcroze- und Laban-Arbeit kennen“ (Günther 1962: 220). Zwangsläufig verließ nach kurzer Zeit Günther das starre System des Mensendieckbund e.V. und gründete mit Gleichgesinnten den Bund für Angewandte und Freie Bewegung e.V. mit dem Ziel, eine Ausbildungsstätte nach freiheitlichen Vorstellungen entstehen zu lassen. Als Dorothee Günther 1924 schließlich mit dem Komponisten, Musiker und Mitstreiter Carl Orff die Günther-

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Schule in München gründete, „war es [ihre; K.O.] Absicht, einen Weg zur Wiederherstellung der naturgegebenen Einheit von Musik und Bewegung – Musik und Tanz – zu finden. Ein Weg, der nicht nur für einige intuitive Künstler gangbar sei, sondern der eine pädagogische Lösung bringen sollte, die es ermöglichte, allgemein im Menschen wieder rhythmische Schwingung Aufnahme- und Gebefähigkeit, Tanz und Musizierlust zu erwecken“ (Günther 1935: 33). Im Gegensatz zu vielen anderen Gymnastikschulen der damaligen Zeit zeichnete sich die Güntherschule durch einen freien und offenen Lehrstil aus. Bei den Gründern lag es an einer neuartigen Entwicklung eines organischen Unterrichtskonzepts, in der die Einheit von Musik und Bewegung zu einer rhythmischen Erlebnisfähigkeit, als wesentliche Lebenskraft, führt (vgl. Günther 1962: 221). Das Ziel ist ein rhythmischer Mensch, der bewegt, reaktionsfähig, einfühlend und führend zu gleich sein kann, der in der Lage ist physisch und psychisch Anregungen aufzunehmen sowie zu geben und der in dem Umgang mit Hemmungen hervorgerufen bei Selbstäußerung durch Bewegung, Sprache und Musik einen Weg der Überwindung findet und darüber hinaus hierbei nicht nur zur stupiden Wiedergabe, sondern zu Formung und Gestaltung fähig ist (vgl. Günther 1932: 144). Der Lehrplan der neu gegründeten Güntherschule, Bildungsstätte für Gymnastik/ Rhythmik/ Musik/ Kultur- und Formenkunde/ Tanz, die ab 1931 staatlich anerkannt war, beinhaltete drei unterschiedliche Schwerpunkte, deren Gewichtung von der Veranlagung und Qualifikation der Schüler abhing: I.

Funktionell-gymnastische Körperbildung (Deutsche MensendieckGymnastik) II. Rhythmisch-gymnastische Körperbildung mit und ohne Musikausbildung III. Tänzerische Schulung Das Besondere an dem dritten Schwerpunkt war, dass dieser auf den Voraussetzungen der Fächer I. und II. aufbaute und nur nach deren Abschluss gewählt werden durfte. „Das Streben der Schule ist durch Beweglichmachung, Steigerung und Erweiterung aller, oft gebunden gelagerter Kräfte, in geistiger wie in körperlicher Beziehung zur Selbsterkenntnis und

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Selbstführung anzuregen und so eine einheitliche Entwicklung anzubahnen“ (Kugler 2002: 242), und somit die Auszubildende zu eigenständigen Persönlichkeiten auf künstlerischer- und pädagogischer Ebene zu erziehen. Günthers pädagogisches Konzept war überpersönlich und fächerübergreifend. Die anvisierten Ziele waren das Schöpferische im Einzelnen anzuregen, die Gestaltungskräfte zu fördern und über die Improvisation zu elementaren Äußerungsmöglichkeiten zu kommen. „Es sein nur erwähnt, daß sie [die Bewegungserziehung; K.O.] adäquat das rhythmisch-melodische Element der Bewegung in freier Improvisation und Gestaltung lösen muß. Was dort [in der Musikerziehung; K.O.] Technik des Instruments, ist hier die Funktion der Bewegung; [...] ebenso wie auch hier Übung nie Selbstzweck, sondern lediglich Anregung zur Selbsttätigkeit ist und sein darf“ (Günther 1933: 156).

INHALTE DER TANZPÄDAGOGISCHEN E RZIEHUNG NACH D OROTHEE G ÜNTHER Günthers pädagogisches Konzept gründet auf einer differenzierten Wahrnehmungsschulung im Sinne körperlicher, geistiger und seelischer Sensibilisierungsprozesse mit dem Ziel, den Einzelnen in seinem Selbst zu stärken und seine ihm eigene Ausdrucksweise zu fördern. Eine dadurch erworbene reflektierte Selbsteinschätzung vermittelt Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und stärkt das Selbstbewusstsein. Das Rhythmische in der Erziehung bringt den dynamischen Aspekt mit sich und folglich auch die Hinwendung nach Außen, dies wiederum prägt das soziale Verhalten. Der daraus resultierende Impuls zur Selbstäußerung und Gestaltung sollte positiv bestärkt werden. Die daraus resultierende Auseinandersetzung mit den gestalterischen Prozessen impliziert ein künstlerisches Handeln, das gleichzeitig Empathie und kritisches Verhalten hervorruft. Das sich schließlich in einer verantwortungsvollen Haltung in der Laienkunst sowie in einer professionellen künstlerischen Arbeit widerspiegelt. Somit steht in Günthers Konzept nicht nur die Ausprägung der Individualität im Vordergrund, sondern auch die Fokussierung auf die sozialen Bezüge (vgl. Haselbach 2002). Die Unterrichtsmethode, die an der Günther-Schule vermittelte wurde, sollte das Bewegungsmaterial „nicht zergliedern, sondern aufbauen“ (Günther 1933: 153) und mit den erarbeiteten Grundlagen einen organischen

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Boden für unendliche Variationen von Bewegungsgrundelementen schaffen. Die Bewegungsaufgaben sollten ständigen Wechseln unterliegen, um Vorlieben für bestimmte Bewegungsstile zu vermeiden und dadurch dem Lernende ein Forum für die Ausprägung eines persönlichen Stils zu gewährleisten. Der Unterricht sollte bestimmt sein von einer Balance zwischen dem funktionellen und emotionalen Empfinden. Die funktionelle Arbeit bedeutet für Günther eine ‚arteigene’ Tätigkeit des Körpers und sie sieht in einer Missachtung der Funktion die Ursache für eine Entwicklungshemmung und in der Unkenntnis eine Fehlentwicklung (vgl. Günther 1933: 154). Absolventen sollten befähigt sein, das erworbene, vielfältige Können und Wissen in allen Bereichen und Niveaus selbständig einsetzen zu können, d.h. die Übertragbarkeit des Gelernten in alle Lebensbereiche ohne eine eng geführte Spezialisierung.

M AJA L EX UND IHRE LEHRANFÄNGE AN DER G ÜNTHER -S CHULE Maja Lex wurde 1906 in München geboren. Ihre große Affinität zur Musik und Rhythmus entsprang ihrem Jugendwunsch Konzertpianistin zu werden und zog sich durch ihr gesamtes Lebenswerk. Ihre Bestimmung führte sie 1925 an die Günther-Schule in München, wo sie von dem freiheitlich und experimentell geführten Stil der Schulgründer Günther und Orff sofort begeistert war. Die moderne und innovative Ausbildung zur Musik und Gymnastiklehrerin verband auf eine einmalige Art und Weise Bewegung und Musik und entsprach damit ihrem musikalischen Wesen. Maja Lex wählte die rhythmisch-gymnastische Körperbildung, ihrer Begabung entsprechend fand sie hier beide Komponenten Bewegung und Musik. Die ‚Echtheitsfanatikerin‘, wie sie sich später selbst bezeichnete, gefiel die künstliche und pantomimische Ausrichtung der tänzerischen Klassen an der Güntherschule nicht. Für sie handelte es sich um „fernliegende von der reinen Bewegung wegführende ablenkende Aspekte“ (Lex 1980: o.S.). Bis zum Ende ihres Schaffensweges blieb sie der ‚reinen‘ und ‚echten‘ Bewegung verpflichtet. Aus dem rhythmisch-musikalischen Ansatz entwickelte sie zunächst die rhythmische Bewegungsbildung aus der später der künstlerische Tanz entstand.

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„D. Günther leitet den Begriff ‚Kunsttanz‘ (künstlerischer Tanz) aus der Formung her, jedoch Formung im künstlerischen Sinne ist nur das, was aus „innerer Notwendigkeit“ entsteht. Denn erst seelische Kräfte und die Vielschichtigkeit und Tiefe der Empfindungswelt befähigen auf die Umwelt formend einzuwirken, Kultur zu erzeugen und dadurch im erhöhten Sinne zu tanzen“ (Padilla 1990: 255; H.i.O.).

Die offene und aufgeschlossene Atmosphäre der Günther-Schule ermöglichte Maja Lex eine optimale Entfaltung ihre Begabungen und Neigungen, daher schloss sie schon vorzeitig ihre Ausbildung ab und wurde von Günther und Orff beauftragt, die von ihr kritisierte Tanzausbildung nach ihren Vorstellungen aufzubauen. Ab diesem Zeitpunkt begann für Lex der aufregende Weg zur Entwicklung des künstlerisch-pädagogischen Konzeptes Elementarer Tanz. „So wie C. Orff bekam ich nun ebenfalls freie Hand, einen Weg zu suchen, der zu lebendiger, freier Bewegung und zum Tanz führen sollte, wie ich ihn ahnte und fühlte. Damit begannen aufregende, herrliche, aber zeitweise auch immer belastende Lern- und Lehrjahre, in denen erst zögernd, dann immer deutlicher die Konturen ‚meines Tanzes‘ heraustraten, der einmal Elementarer Tanz werden sollte“ (Lex: 1980), wie sie ihn schließlich in den 1960er Jahren, als sie an der Deutschen Sporthochschule in Köln angekommen war, genannt hatte. Der Begriff „Elementarer Tanz“ indessen wurde schon in den 1930er Jahren von Dorothee Günther eingeführt, damit meinte sie die zweckfreien Bewegungskünste, die sich durch das spielerische Handeln an Hand der Bewegungsgrundformen bei Kleinkind entwickeln. Durch ihre musisch-tänzerische Prädisposition konnte Lex die konzeptionellen Vorstellungen von Günther umfassend im Bereich der tänzerischen Erziehung realisieren und schrieb 1931: „Sie ist ein begeisterter Pädagoge und insofern Neuentdecker auf dem Bewegungsgebiet; neue Formen, die einander immer wieder ablösen, nie stillstehen, sich selbst in neue Fülle treiben, das ist vielleicht das Typische an ihr und hieraus entsteht ein Stil“ (Günther 1931 zit. n. Padilla 1990: 256).

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D IE T ÄNZERIN

UND

C HOREOGRAPHIN M AJA L EX

Parallel zu ihrer Lehrverpflichtung begann Lex mit den begabtesten Schülerinnen der Günther-Schule zunächst Tänze für die Schulaufführung zu gestalten, die sich bald in einem nationalen und internationalen Erfolg der 1930 gegründeten Tanzgruppe Günther widerspiegelten. Der außergewöhnliche Tanzstil, den Lex innehatte, setzte sich schnell in der damaligen Tanzszene durch und sorgte für große Begeisterung: „Alles [...] an dieser Art des künstlerischen Tanzes war neu: die klaren, formalen Bewegungen, bar jeder Theatralik; die Musik Gunild Keetmans, die ‚den Geräuschradau der üblichen Tanzbegleitungen blamiert‘; das Klangorchester der Güntherschule, das auf der Bühne untergebracht war, sowie das nie zuvor gesehene Zusammenspiel von Musik und Bewegung: „Der Mensch wurde zum Motiv, der Tanz wurde zur Musik, Musik wurde zum plastischen Raum“ (Wolf 1993: 19).

Maja Lex verfolgte bei ihrer Arbeit einen ganz persönlichen Ansatz und ließ sich nicht durch aktuelle einflussreiche Strömungen, wie z.B. die einer Mary Wigman, von ihrem Weg abbringen. Die Zusammenarbeit mit Keetmann, einer Meisterschülerin Carl Orffs, vervollkommnete die eigenwillige Handschrift von Maja Lex, „eine minutiöse, auf jede Bewegungsnuance des Tänzers eingehende Ausarbeitung der Musik, die im gleichen Atem, gleichsam von „tanzenden Musikern“ ausgeführt wurde“ (Keetmann 1979: 10). Die Tänze waren von einer Urhaftigkeit geprägt, die sich durch den vordergründigen Einsatz von Rhythmus und Dynamik sowie einem raumgreifenden Zusammenspiel der Gruppe ausdrückte. Sie verzichtet auf die Darstellung von persönlichen Empfindungen und jeglicher schauspielerischen Wirkung und macht Stimmungen und Gefühle allein mit tänzerischen Mitteln sichtbar. „Ich war nicht wie Wigman, so schicksalsbelastet [...]. Die Schrecknisse des Lebens waren für mich nicht der Ausgangspunkt für die Gestaltung von Tänzen. [...]. Also war Mary Wigman für mich ein wundervolles Vorbild für die Intensität und diese Absolutheit, mit der sie die Tänze gestaltete“ (Lex 1986: o.S.).

Darüber hinaus betonte sie im modernen Tanz die Wichtigkeit einer präzisen Tanztechnik.

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„Nicht gefühlsdramatische Aussage, wie sie die expressionistische AusdruckstanzÄra hervorbrachte, sondern objektivierende Bewegung eines kunstvoll beherrschten Körpers prägte die [...] Methode der Maja Lex“ (Klein 1990: 34).

In dem von ihr favorisierten absoluten Tanz spiegelten sich die pädagogischen Ansätze des späteren Konzepts „Elementarer Tanz“. „Ihre Tänze sollen nichts bedeuten und nichts erzählen. Sie sollen durch die reine Sprache ihrer Kunstmittel, des rhythmisch bewegten Körpers, ohne Umweg über den Verstand, direkt zum Herzen dringen. Sie wollen eigenes seelisches Erleben gestalten und es in anderen erzeugen“ (Schikowski 1924: 20).

Die tänzerisch-künstlerische Arbeit in der Mitte der dreißiger Jahre nahm Maja Lex sehr in Anspruch, so dass sie teilweise vom Unterrichten befreit wurde. Der Krieg unterbrach die steile Karriere der Tanzgruppe Günther. 1947 – inzwischen gesundheitlich sehr angeschlagen, ging Lex mit Dorothee Günther nach Italien, von wo aus sie 1956 an die Deutsche Sporthochschule Köln berufen wurde. In den ersten Jahren unterrichtet sie in Köln Rhythmische Bewegungsbildung. Ab 1958 erweiterte sie ihr Lehrangebot durch den „Modernen Künstlerischen Tanz“, den sie später in Elementaren Tanz umbenannte. Wie schon an der Günther-Schule hatte sie auch hier sehr schnell mit begabten Studierenden die Tanzgruppe DSHS Köln gegründet.

E LEMENTARER T ANZ AN DER DEUTSCHEN S PORTHOCHSCHULE K ÖLN Der Wechsel von der künstlerisch geprägten Günther-Schule München der 1930 Jahre an die Deutsche Sporthochschule Köln rückte für Maja Lex den pädagogischen Schwerpunkt in den Mittelpunkt ihres Schaffens und verlangte eine Modifizierung an die veränderte sportorientierte Umwelt. „Es war nicht einfach, die Münchner Vergangenheit an anderem Ort – mit anderen Menschen an die von Grund auf veränderte Gegenwart anzuknüpfen. Aber es gelang, und dieser zweite Abschnitt meiner Lebensarbeit stand sogar unter einem ganz besonders guten Stern“ (Lex, 1980: o.S.).

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Schon bald überwand sie den Verlust des Orff-Instrumentariums, improvisierte und komponierte selbst oder mit den Studierenden die Musik für den Unterricht. Darüber hinaus wandte sie sich u.a. wieder der alten Musik zu und auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenszeit dem Jazz, der sie in der rhythmischen Komplexität herausforderte und begeisterte. „Ich hörte ihn [Don Ellis] mir an und war auch umgeworfen. Sicherlich der Klang war für mich sehr neu, aber rhythmisch ungeheuer interessant, 7/8, 9/8, 11/8, dann auch kanonisch“ (Lex 1986, zit. nach Wolf 1993: 21).

Nach intensiver Auseinandersetzung mit der neuentdeckten Musik wagte Maja Lex eine erste Gestaltung für die 1967 gegründete Tanzgruppe. Dieser sollten weitere Tänze folgen, als absoluter meisterlicher Höhepunkt steht aus dieser Zeit die Passacaglia und Fuge von Don Ellis. Lex’ Choreographien fanden national und international große Anerkennung und zeichneten sich, wie zur Zeit der Günther-Schule, durch hohe Musikalität, rhythmische Prägnanz, klare, formale Bewegungssprache im Raum ohne Theatralik, aber mit hoher technischer Präzision und Gruppenanpassung. Zum Beginn der 1970 Jahre begann die Zusammenarbeit mit ihrer Schülerin und Nachfolgerin Graziela Padilla. Gemeinsam haben sie das künstlerisch-pädagogische Konzept Elementarer Tanz weiterentwickelt und hierzu mehrere Lehrfilme sowie eine dreibändige schriftliche Veröffentlichung in Form eines Anwendungshandbuchs herausgebracht. Im Jahre 1974 wurde Maja Lex vom Hochschuldienst entlassen und übergab die Ausbildung an G. Padilla: „1966 begegnete ich Graziela Padilla – die nach Abschluss des Studiums an der Sporthochschule Buenos Aires ein Stipendium für ihre Weiterbildung in Europa bekommen hatte u. unter anderem auch die musischen Fächer der SHS (Sporthochschule) als Gasthörerin studierte u. absolvierte. Sehr schnell erkannte ich ihr großes Talent – dem ich in diesem Zusammentreffen von Musikalität – angeborenem Tänzertum u. hoher pädagogischer Eignung bis dahin noch nie – auch nicht an der Güntherschule begegnet bin. Sie wurde bald meine Mitarbeiterin u. hat seit meinem Ausscheiden aus der Hochschule den El. Tanz u. seine Weiterentwicklung selbstverantwortlich übernommen“ (Lex 1980: o.S.).

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MEISTERSCHÜLERIN G RAZIELA P ADILLA

UND

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N ACHFOLGERIN

Nach dem Tod von Maja Lex 1986 arbeitet Graziela Padilla bis zur ihrer Verrentung 2001 an der DSHS Köln an der Weiterentwicklung des künstlerisch-pädagogischen Wegs und prägte die Herangehensweise durch einen eignen pädagogischen Zugang. Darüber hinaus veröffentlichte sie 1990 einen Artikel zum „Inhalt und Lehre des Elementaren Tanzes“. 1991 gründete sie mit Studierenden und Dozenten der DSHS Köln den Elementaren Tanz e.V., eine Gesellschaft zur Förderung der künstlerisch-pädagogischen Konzeption nach Maja Lex. Ein Jahr später entstand das Padilla Tanzensemble Köln PTK, das neben der Tanzgruppe Maja Lex existierte, dessen Leitung seit 1986 Studentinnen des Faches Elementarer Tanz übernommen hatten. In den späten 1990er Jahren veränderte sich zunehmend die Studienordnung an der DSHS Köln. Die Semesterwochenstunden wurden im Bereich „Elementarer Tanz“ stark eingekürzt. Weiterhin eine entsprechende Qualität in der Ausbildung zu gewährleisten, dies stellte Padilla vor enorme pädagogische Herausforderungen, die sie, wie sie später sagte, dem herausragenden pädagogischen Konzept von Maja Lex verdankte. Schließlich mit dem Wechsel vom Diplom- zum Bachelorstudium verlor der Elementare Tanz an der DSHS seine dominierende und einen Studienschwerpunkt umfassende Form. Obschon er erfreulicherweise aktuell wieder in einigen Modulen als zentrales Vermittlungsmoment von dem derzeitigen Dozententeam angeboten wird, so ist er doch an wenige Personen gebunden und hochschulpolitischen Moden unterworfen. Insofern bleibt es für die Zukunft zu hoffen, dass die Pflege und Weiterentwicklung des Konzepts des Elementaren Tanzes auf vielen Schultern bzw. Füssen verteilt werden, so dass es ihre breitenwirksame Überzeugungskraft auch weiterhin auszustrahlen vermag. Hierbei haben sich in den letzten Jahren insbesondere die multidimensionalen Aktivitäten des unabhängigen und nach demokratischen Prinzipien handelnden Vereins Elementaren Tanz e.V. als besonders effektiv erwiesen, unterschiedlichste Interpretationen des Elementaren Tanzes ein gemeinsames Dach zu bieten und gleichzeitig dieses verbindende Konzept als Immaterielles Kulturerbe des Modernen Tanzes einer kritischen Aufarbeitung und konstruktiven Weiterführung zugänglich zu machen.

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V ERORTUNG DES E LEMENTAREN

IN DER

P ÄDAGOGIK

„Alle großen Wahrheiten sind einfach. Es ist fraglich, ob die Welt selbst so klar und durchsichtig ist, wie wir es voraussetzten. Aber dem menschlichen Geist ist es eigen, daß er einfacher Grundrisse bedarf, um sich in ihr zurechtzufinden. Für jeden Zweig der Erkenntnisbildung – sie ist natürlich nicht die einzige Aufgabe der Bildung – erwächst daraus die Aufgabe, das wahrhaft Elementare zu finden“ (Spranger, 1969: 81).

Eduard Spranger ordnet in seinem Artikel „Die Fruchtbarkeit des Elementaren“, erschienen 1969 im Jahrbuch III des Orff-Instituts, die Erkenntnisbildung als Bemühen um Klarheit dem Kind und dem Erwachsenem zu. Er weist hierbei auf die Bedeutung von vereinfachten Gebilden hin, die komplexe Strukturen auch im Alter begreifbar machen und zu neuen Denkmodellen anregen. „In ähnlicher Weise arbeitet unser Geist durchweg mit grundlegenden „Denkmodellen“. Es muss immer wieder erprobt werden, wie weit sie auf das Gegebene passen, und sie müssen abgeändert werden, wenn sich herausstellt, daß sie nicht passen“ (ebd., H.i.O.).

Nicht ohne Grund hat Günther schon in den 1920er Jahren dem Tanz- und Musikkonzept das Adjektiv ‚elementar‘ vorabgestellt. Das Elementare stand schon damals in einer langen pädagogischen Tradition. Zahlreiche namenhafte Pädagogen wie Heinrich Pestalozzi (1746-1827) und später auch Wolfgang Klafki (1927-2016), um hier einige der ausschlaggebenden Persönlichkeiten zu nennen, haben sich mit dem Phänomen des Elementaren in der Erziehung aus wissenschaftlicher Sicht beschäftigt. In Klafkis Theorie steht einem besonderen immer auch ein allgemeiner Sachverhalt gegenüber. Somit wird nicht nur der konkrete Inhalt deutlich, sondern auch das darin eingeschlossene Allgemeine. Darin sieht Klafki die bildende Begegnung als einen Vorgang mit Wechselwirkung. In seinen vielbesehenen Ausführungen zu allgemeinen bildungstheoretischen Grundlagen wird das Elementare wie folgt zusammengefasst:

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„Das Elementare ist das am Besonderen zu gewinnende oder im Besondern er scheinende Allgemeine, und diese Allgemeine erweist sich im Elementaren als das anschaulich erfaßbare Prinzip, Gesetz, Sinnzentrum, als der tragende Wirkungs-, Bedeutungs- oder Zweckzusammenhang des Besonderen“ (Klafki 1958: 6).

Sinngemäß sollte es dem Menschen möglich sein, durch eine Aufforderung von außen den innersten Kern eines Inhalts zu erfassen. Durch das Erfassen wird der Mensch getroffen und im Prozess des Ergreifens kommt es zum Ergriffensein dadurch verliert das Objekt seine Fremdheit und wird sein geistiges Eigentum ohne, daß das Objekt sein Wesen verliert oder aufgibt. Hierbei ist es nach Klafki das Besondere eines Gegenstands, was den Menschen ergreift und ihn für ein Allgemeines erschließt (vgl. Jungmair 2003: 59). Hiermit ist der „Inbegriff [...] erschließender Inhalte“ [gemeint; K.O.]; er deutet auf das Verhältnis der Bildungsinhalte zu der in ihnen repräsentierten Wirklichkeit hin: nur weil die Bildungsinhalte relativ einfach sind, vermögen sie dem Sich-Bildenden Wirklichkeit geistig aufzuschließen. Das Elementare ist das doppelseitige Erschließende“ (Klafki 1964: 322): „Die Wirklichkeit erschließt sich dem Schüler – der Schüler erschließt sich die Wirklichkeit. Damit erwirbt der Schüler Kategorien, d.h. generell gültige Prinzipien des Erkennens und des Sinnverständnisses, die er selbständig anzuwenden vermag. Inhalte, die den Schüler in diesem Sinne „bilden“, ihm diese Kategorien vermitteln, nennt Klafki ‚Elementaria‘. Er beschreibt sieben Erscheinungsformen des Elementaren“ (Rosenbach 2008: o.S., H.i.O.). Darin unterscheidet Klafki die einfachen Zweckformen und die einfachen ästhetischen Formen. Sie können nur durch die Praxis erfahrbar gemacht werden. Unter ästhetischen Formen sind bildnerische, musikalische, sprachliche Mittel zu verstehen. Das Ästhetisch-Elementare [ist nur; K.O.] im Konkreten, Einmaligen erschaubar, erlebbar. Allein in der gestaltenden oder hingebenden Vertiefung in das ganz Individuelle um des Individuellen willen – diese Melodie, die ich singe, dieses [...] bescheidene Bild, das ich male, dieses Märchen, das ich erzähle [oder der Tanz, den ich tanze; K.O.] [...] – erschließt sich hier im „fruchtbaren Moment“ das gestaltende Prinzip der jeweiligen Form“ (Klafki 1972: 171ff.). Den Begriff Elementarbildung hat zuvor schon Pestalozzi eingeführt als er feststellte, dass das Kind sich seine Umwelt durch „geistige Urakte aufbaute“ (Spranger 1969: 81). Diese Erkenntnis zog eine folgenreiche Wendung in der Erziehungslehre nach sich. Die von den bis dahin gültigen

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Prinzipien des Lenkens, Machens, Gebens zu neuen Attributen wie Hervorlocken, Erwecken, Aussprechen und Anrufen wechselte. Wie Obermaier (2013: 95) in seiner Analyse zu Pestalozzis Elementarbildung aufzeigt, wird erst auf der Basis gemachter Erfahrungen eine sinnvolle Reflexion über die Situation möglich. Die Reflexion wiederum ermöglicht der sich entwickelnden Person zu erkennen, inwieweit sein Bewusstsein mit den eigenen Möglichkeiten und den objektiven Verhältnissen übereinstimmt, es also ein Passungsverhältnis ergibt. Je mehr Wissen sich ein Kind sonach durch eigene Erfahrungen und deren Reflexion über das menschliche Leben aneignet, je stärker wird es mit „eine[m] für Wahrheit und Recht sehr sicheren Takt“ (Pestalozzi 1997: 27) durchs Leben gehen. Zusammenfassend zielt Pestalozzis Elementarbildung auf drei Schwerpunkte ab: • • •

Lernen durch Erfahrung und Anschauung, innere Stärke und Harmonie, verantwortungsvolle Gesellschaftsfähigkeit

Um das Elementare und Urhafte des Menschen hervorzulocken und sichtbar zu machen, bedarf es in der Entwicklung des Menschen das freie Spiel. Hierbei verdanken wir Friedrich Fröbel (1782-1852) durch sein Engagement für das Recht des Kindes aufs Spiel die Ursprünge einer pädagogisch fundierten Spieltheorie. Er deutet das Spiel als „freitätige Darstellung des Inneren“ (Jungmair 2003: 62) verstanden als Notwendigkeit und Bedürfnis – eine Art Trieb. „Spiel ist die höchste Stufe der Kindheitsentwicklung, der Menschentwicklung dieser Zeit, denn es ist die freithätige Darstellung des Inneren, die Darstellung des Inneren aus Nothwendigkeit und Bedürfnis des inneren selbst, was auch das Wort Spiel selbst sagt. Spiel ist das reinste, geistige Erzeugnis des Menschen auf dieser Stufe und ist zugleich das Vorbild des gesamten Menschenlebens“ (Fröbel 1826/1863: § 30).

Heute weiß man, um die Wirkungskraft des Spiels und „von der enorme Entwicklungsrelevanz des freien frühkindlichen Spiels für die ungestörte Entfaltung der leiblich-seelischen, kognitiven, emotionalen, psychosozialen, motorischen, kreativ-ästhetischen, naturwissenschaftliche-mathemati-

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schen usf. Fähigkeiten“ (Obermaier 2013: 107). Auch hierzu finden wir Parallelen in Günthers Theorie zum Elementaren Tanz: „Zur Entfaltung dieser Elemente seines Bewegungslebens bedarf das Kind in der Zivilisation des rhythmisch-dynamischen Spiels mit der Bewegung, der Variation und der Improvisation aller Bewegungselemente, die dem jeweiligen Alter gemäß sind“ (Günther 1962: 39).

Für Günther liegt in der Improvisation der Schlüssel zur tänzerischen Hingabe, hier sieht sie die Entwicklung einer dem Individuum entsprechenden Tanzsprache. Sie ist überzeugt, dass durch entsprechende Erziehung die Disposition zur Improvisation zum einem im Sinne einer Geschicklichkeit im Umgang mit bestimmten Material und zum anderem „in der Einswerdung mit dem Stoff und der daraus resultierenden Durchdringung und wachsenden Bildung“ (Padilla 1990: 252) erfolgt. Darüber hinaus verweist sie in diesem Zusammenhang auch auf die frühen Entwicklungsjahre der Kindheit: „Das im heranwachsenden Kinde sich steigernde Bedürfnis, über sich herauszuwachsen, das Gewohnte, schon Gekannte zu sprengen, den Drang, sich „ungewohnt“, „ungeahnt“ und bis dahin „nie gefühlt“ zu empfinden, muß entwicklungsgerecht befriedigt werden. Sonst bleibt die Entwicklungswelt unentwickelt oder das seelische Gleichgewicht gerät ins Wanken“ (Günther 1962: 39, H.i.O.).

E LEMENTARER T ANZ – ANNÄHERUNG AN EIN KOMPLEXES P HÄNOMEN Grundlegend lassen sich folgende bildungstheoretischen und -praktischen Zieldimensionen im Elementaren Tanz bestimmen: • • • • • • •

Körperwissen erwerben Kreatives Handeln, Problemlösen, Improvisieren Stärkung individueller Ausformungen Prosoziales Verhalten erlebbar und reflektierbar machen Selbsteinschätzung ermöglichen und reflexive Lernen ermöglichen Kritisches Denken und Urteilsvermögen ausbilden Zu diszipliniertem und konzentriertem Agieren befähigen

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• • • •

Transferfähigkeiten entwickeln Entwicklung von identitätsstärkenden Selbstdarstellungs- und Ausdrucksformen Ausformung empathischer Fähigkeiten durch Anpassung und Führung Differenzierung umfassender kommunikativen Fähigkeiten

Übergeordnete pädagogische Ziele im Elementaren Tanz sollen den Tanzenden • •

zu einer individuell gefärbte Tanzsprache und einem persönlichen Stil verhelfen, sowie zu einer differenzierten Umsetzung des pädagogischen Prinzips sowie der Anwendung der Methode in unterschiedlichsten Lebensbereichen.

Untergeordnete Ziele im Elementaren Tanz sollen den Tanzenden • • •

eine differenzierte Körperbildung basierend auf den Grundlagen der menschlichen Anatomie ermöglichen, eine fundierte Bewegungsbildung basierend auf den Grundbewegungsformen sowie Bewegungsgestaltung in Form von Improvisation und Komposition vermitteln. Abbildung 1: Gruppenarbeit im Kölner Tanzlabor „Elementarer Tanz“ von Krystyna Obermaier zum Thema Bewegungsansatz aus der Schulter, dem Arm und den Fingerspitzen

Foto: © Krystyna Obermaier, Elementarer Tanz e.V.

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Die Namensgeberin Dorothee Günther führt das ‚Elementare‘ im Elementaren Tanz auf den ursprünglichen, unbelasteten und unverbildeten Bewegungsimpuls des Kindes. Haselbach interpretiert in Bezug auf die Musikpädagogik Orffs das Elementare wie folgt: „Das Elementare ist zeitlos und unterliegt nicht den häufig wechselnden pädagogischen Trends [und] es steht der Welt des Kindes besonders nahe“ (Haselbach 1990: 190 f.). Die Grundstufe gilt als Ausgangspunkt zur Exploration auf dem Weg zu einer differenzierten Weiterentwicklung und leitet somit Bildungsprozesse ein. Der Elementare Tanz wählt hierzu die Methode vom Einfachen zum Komplexen. Die zweckfreien Bewegungskünste, die sich in ihren Grundformen bei Kindern selbstverständlich spielerisch ausbilden, münden durch eine auf freien Aufgaben basierten Pädagogik im tänzerischen Handeln. Die Erfahrung mit dem Einfachen/Essentiellen sensibilisiert für das Wesentliche und macht Allgemeingültiges erfahrbar. Zentral ist die Bewegung, die durch das natürliche Bedürfnis des Menschen nach Rhythmus sich im rhythmischen Spiel entfesselt und sein Wesen ergreift. Auf der Basis von grundlegenden rhythmisch-dynamischen Erlebnissen wird eine spontane, lebendige Ausdruckskraft entfacht. Der Zustand des Ergriffenseins vermittelt dem Tanzenden eine Selbstwirksamkeit, die sich durch die Mobilisierung aller körperlich-geistigen-seelischen Kräfte in einer starken Präsenz darstellt. Der Drang nach Selbstäußerung wird unentwegt gefördert und vor äußern Beurteilung wie Lob und Tadel geschützt. Lediglich durch eine reflektierte Beschreibung des Wahrgenommenen wird den Akteuren ein Feedback zuteil. Durch entsprechende Freiräume werden vielseitige Möglichkeiten aufgezeigt, die zum schöpferischen Handeln anregen sollen. Eine tragende Sinnstruktur lenkt die gestalterische Kraft des Einzelnen und gibt Raum für kreative Prozesse. Die Voraussetzung hierzu soll eine durchgängige Arbeit mit halboffenen und offenen Bewegungsaufgaben auf der Basis einer „geführten“ Improvisation herstellen. „In der Ausgewogenheit zwischen freier Gestaltung klar umrissener Themen sowie in der Einordnung in nicht selbst gestaltete Bewegungsvorgänge verläuft der pädagogische Weg des Elementaren Tanzes“ (Padilla 1990: 259).

Die Integration individueller Gestaltungen z.B. durch Nachahmung oder Anpassung in die Gruppenarbeit wirkt selbstreferenziellen Tendenzen entgegen und intendiert ein soziales Verhalten in der Gruppe. Ausschlag-

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gebend ist hier neben der Vielfalt der individuellen Äußerung, die Musikalität, die rhythmische Prägnanz, die Klarheit der Bewegungs- und Raumformen und damit auch der tänzerische Ausdruck. Hierbei verzichtet der Elementare Tanz weitgehend auf symbolhaft beladene Bilder. Die angestrebten Stimmungen und Situationen sollen mit rein tänzerischen Mitteln umgesetzt werden. Das ursprüngliche Erscheinungsbild des Elementaren Tanzes basiert auf einer reinen Bewegungsthematik und Bewegungsarchitektur ohne dabei willkürlich zu wirken. Aktuell ist jedoch in der tänzerischen Umsetzung, und dies vor allem im Bereich Kindertanz, ein zunehmender Wunsch nach theatralen Ausdrucksformen zu beobachten. Eine durch die Präzision und Klarheit in der Bewegung hervorgerufene innere Spannung der Tanzenden überzeugt durch die daraus entstehende Authentizität. Klar abgrenzende Gestaltungskriterien wie rhythmisch-dynamische Impulse, gestalterische Phantasie, Formwille, Musikalität und seelische Disposition (vgl. Padilla 1990: 258ff.) geben der tänzerischen Bewegung Kontur und vermeiden eine ausufernde Beliebigkeit. In der neuentdeckten und aufgespürten Ausdrucksmöglichkeit entfaltet sich die uneingeschränkte Motivation sich dem tänzerischen Geschehen vollkommen hinzugeben, woraus sich u.U. ein künstlerischer Prozess entfachen kann. Die tänzerische Äußerung entspricht einer eigenständigen und individuellen Tanzsprache und wird nicht durch bekannte Bilder, Formen oder Klischees gekleidet, vielmehr geht es hier um die Verpflichtung zur einen dem Individuum entsprechenden „reinen“ Tanzsprache. Diese wird durch die „persönlichkeitsbestimmte Vision des Tänzers, die er auf einer soliden technischen, rhythmischen und kompositorischen Grundlage in individueller und abstrahierter Form in seine tänzerische Artikulation transponiert“ (Kunze 1991: 38).

IMPROVISATION –

EIN

S PIEL MIT V ARIATIONEN

Die Improvisation ist laut Konzeptbeschreibung von Lex/Padilla ein tragender Unterrichtsschwerpunkt des Elementaren Tanzes. Der Begriff der Improvisation wird im Konzept, betrachtet man diesen aus tanzwissenschaftlichen Sicht, von den Protagonistinnen nicht hinreichend eingegrenzt und definiert. Erst der Zusatz „geführte“ oder „strukturierte“ Improvisation deutet auf eine Ergänzung und Erweiterung des womöglich allgemein über-

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strapazierten Begriffs. So erläutert Padilla 1990 in der Beschreibung des Konzepts: „es ist zu unterscheiden zwischen Geschicklichkeit in der Handlung eines Stoffes, die sich in Variation und Kombination zeigen kann und dem Zustand, der der Improvisation zugrunde liegt. Dieser Zustand äußert sich in der Einswerdung mit dem Stoff und der daraus resultierenden Durchdringung und wachsenden Bildung“ (Padilla 1990: 252).

Ausgangspunkt der Improvisation im Elementaren Tanz ist also der freie Umgang mit einem bekannten bzw. erarbeiteten Material, das auf individuelle Weise verändert werden soll. Es entsteht ein Freiraum zum Variieren und Kombinieren. Zusammenfassend bedeutet es, dass „[d]er Gestaltungsaspekt von Bewegung bzw. Tanz […] zum wesentlichen Ansatzpunkt der Improvisation [wird]. Die Improvisation wird also verstanden als eine ‚Zwischenstufe‘ zur Komposition bzw. ‚Vorstufe‘, in der eine Materialsammlung stattfindet, die dann zur Gestaltung, zur Komposition führt“ (Rüschstroer 1996: 34, H.i.O.).

Maja Lex nutzte den kreativen Prozess in der Improvisation zur Erarbeitung von tänzerischen Bausteinen, die zum Teil als Bewegungsmaterial im Unterricht und zur Gestaltung von Choreographien genutzt wurden. Inwieweit Lex den vorgegebenen Handlungsraum in diesem Sinne auch als „eröffneten Freiraum“ für Improvisation meinte, lässt sich aus heutiger Sicht schwer nachvollziehen und wäre noch zu untersuchen. Problematisch bleibt jedoch der Umstand, dass Ungeübte und Laien in der Regel den angebotenen Freiraum oft nicht ausschöpfen können und u.U. aus Unsicherheit keine entsprechend Lösungen anbieten können und in gewohnten Mustern verbleiben. „Der Tanzende, der sich auf offene Aufgabenstellungen einlässt, setzt sich dem Risiko aus, entweder keine Lösung anbieten zu können oder nur eine – von ihm selbst oder auch anderen – als banal eingestufte Bewegungslösung vorweisen zu können. Von daher ist es verständlich, wenn der Tanzende, vor offene Aufgaben gestellt, zunächst auch sehr häufig auf bewährte Bewegungsmuster zurückgreifen“ (Artus/ Mahler 1992: 59).

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Abbildung 2: Improvisation im Tanzlabor Elementarer Tanz von Krystyna Obermaier zum Thema Bewegungsansatz aus der Schulter, dem Arm und den Fingerspitzen

Foto © Krystyna Obermaier, Elementarer Tanz e.V.

Tradiertes Verhalten, gewohnte Bewegungsmuster und funktionale Rigidität verhindern oft den kreativen Akt, der sich aber insbesondere durch das Ausbrechen aus der Konformität auszeichnet. Diesen Prozess im Unterricht anzuleiten setzt den Pädagogen im Elementaren Tanzunterricht vor große Herausforderungen. Um diese Hürde zu überwinden benötigt die Lehrperson insbesondere viel Lehrerfahrung. Darüber hinaus braucht sie eine große Sensibilität, Beobachtungsgabe und Vertrautheit, um gelingend die Bedingungen für die Förderung von Kreativität zu kreieren. Konkrete methodisch-didaktische Beschreibungen und Anregungen zur konzeptionell fundierten und alters- und niveauspezifischen Ausdifferenzierung von Unterrichtssituationen, die beim Tanzenden Fähigkeiten mobilisieren, gewohnte Muster zu verlassen und sich auf neue Inhalte und Ausdrucksformen zu verlassen, fehlen noch im Konzept des Elementaren Tanzes. „Speziell auf den Elementaren Tanz bezogen kann konstatiert werden, daß dieser sich ein „erweitertes Improvisationsverständnis“ zu eigen machen sollte. Dadurch kann es ihm einmal gelingen, das pädagogische Konzept zu fundieren, zu differenzieren und zu konkretisieren. Ein Erfahrungsprozess, der von der äußeren Form zur inneren elementaren Äußerung führen soll, erscheint mir dann erreichbar“. (Rüschstroer 1996: 37).

Auch wenn diese Prozesse aus der Praxis durchaus bekannt sind und einige Tanzpädagogen gelingende Lösungen inzwischen entwickelt haben, kapitulieren die meisten vor diese Aufgabe und verbleiben in tradierten Schemata. An dieser Stelle gilt es den angeführten Anregungen zu folgen und eine

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Erweiterung des Improvisationsverständnisses im Konzept anzuregen, theoretisch zu fundieren und methodisch-didaktisch aufzuarbeiten.

K RITISCHE R EFLEXION Es ist evident, dem komplexen, teils nicht ausformulierten und theoretisch nur fragmentarisch reflektierten Konzept des Elementaren Tanzes kann man sich nur unter Berücksichtigung geschichtlicher, theoretischer und methodischer Inhalte und (tanz-)pädagogischer Bezüge sowie auf Basis eines fundierten Körper- und Bewegungswissens annähern. Dennoch, nur durch ein eigenverantwortliches und reflektiertes Verhalten sowie durch die Entwicklung von tanzspezifischen Sichtweisen und der nie enden wollenden Suche nach individuellem Ausdruck, verbunden mit dem Mut zum Ungewöhnlichen und der Lust auf Aufbruch zu neuen Formen und Denkweisen kann die lähmende Gefahr der Reproduktion von unhinterfragt tradierten und auch erstarrten Inhalten gelingend begegnet werden. Allein die beständige Ausrichtung der Vermittlungsinhalte auf einen unzensierten, individuellen Ausdruck – dem typischen und bezeichnenden Charakteristikum des Elementaren Tanzes – wird es gelingen, diese Konzeption in Begleitung einer unaufgeregten wissenschaftlichen Begleitung für die Zukunft zu bewahren. Hiermit ist ein zentraler „wunder Punkt“ angesprochen und die Frage aufgeworfen, wie ein als „überpersönlich“ und „zeitlos“ dargestelltes Konzept, das über Jahre von nur wenigen Personen, die für sich die alleinige „inkorporierte“ Deutungshoheit (vgl. Bourdieu 1992) reklamierten, sich vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens als noch authentisch verstehen kann. An dieser Stelle kann muss mit Anke Abraham konkret angefragt werden, „wie kann es denn sein, daß eine pädagogische Idee, die derart allgemeingültige Prinzipien und Zielsetzungen aufgreift, nur jeweils von einer Person gelehrt werden kann und wolmöglich ganz vom Aussterben bedroht ist? [...] Warum wird der Ansatz – ganz im Sinne einer ‚Meisterlehre‘ – als ‚Erbe‘ gehütet und nur an eine Person weitergegeben?“ (Abraham 1999: 69)

Unbenommen ist der Elementare Tanz ein durchweg in seinen Wurzeln überzeugendes, pädagogisch ausgerichtetes Konzept, das seine ursprüng-

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liche „elementare“ Überzeugungskraft durch künstlerisch geprägte Ambitionen zweifelsfrei eingebüßt hat. Die aus der Doppelstruktur pädagogischer und (professionell) künstlerischer Zielsetzungen resultierende Widersprüchlichkeit führte schließlich zu einer Lähmung der Entwicklung dieses zunächst pädagogischen Konzeptes und damit zu einer konzeptionellen Ratlosigkeit, methodischen Verunsicherung und identitären Desorientierung bei den Studierenden, Absolventen, Dozierenden und Praktizierenden gleichermaßen. Hierzu führt Abraham unmissverständlich (1998: 71) aus: „Um die Spannung, in der der Elementarer Tanz hinsichtlich der Orientierung an künstlerischen und pädagogischen Zielsetzungen steht, verstehen zu können, darf man eine Grundbedingung der Entstehung des Faches nicht unterschätzten: nämlich die, daß Maja Lex in erster Linie und aus tiefster Seele Künstlerin war und nicht Pädagogin“. (H.i.O.)

Dies spiegelt sich auch in den wenigen vorhanden pädagogischen Schriften und Bezügen wider, vor allem in der Zeit an der Günther-Schule, aber auch was die wissenschaftliche Hinterlassenschaft aus der Zeit der Sporthochschule betrifft. Im Konzept des Elementaren Tanzes wird keine „verobjektivierte“ Vermittlung von Bewegungskompetenz angestrebt, was bedeutet, dass es keinen Elementaren-Tanz-spezifischen Stil jenseits der Deutungshoheit weniger Autorisierter gibt. „Sie [Maja Lex] ist ein begeisterter Pädagoge und insofern Neuentdecker auf dem Bewegungsgebiet; neue Formen, die einander immer wieder ablösen, nie stillstehen, sich selbst in neue Fülle treiben, das ist vielleicht das Typische an ihr und hieraus entsteht ein Stil“ (Günther 1931 zit. nach Padilla 1990: 256).

Ein Stil, der sich permanent erneuert und somit nicht festgeschrieben werden kann und darf? – „Die Annahme, es gäbe im Elementaren Tanz keinen Stil, ist eine Verkennung. In dieser Verkennung liegt die Gefahr, daß der sehr wohl existierende Stil nicht reflektiert wird und damit in seiner Besonderheit – in seinen Stärken, aber auch in seinen Auslassungen und Reduktionen – weder bewußt wird noch überzeugend weiterentwickelt und vertreten werden kann.“ (Abraham 1998: 70)

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An diesen, in gebotener Kürze nur kurz entfalteten Reibungspunkten und Widersprüchen wird deutlich, wie wissenschaftlich optimierbar und zeitgemäß unaufgearbeitet bisher die Inhalte des Elementaren Tanzes verhandelt wurden. Ein tänzerisches Vermittlungskonzept, das zur Grundlage die Bildung und Stärkung freiheitlicher humanistischer Werte durch Tanz für sich reklamiert, stellt eine große Chance zur Persönlichkeitsbildung sowie zur Integration und Inklusion dar: Aufgaben unserer Zeit. Insofern ist die prinzipielle Aufgabe in der trennscharfen Aufarbeitung der Anliegen und der Formen der Umsetzung des Elementaren Tanzes gegeben, „wenn er also etwas als „universell“, „allgemeingültig“ und „zeitlos überdauernd“ ausweist, was aber tatsächlich einem bestimmten Zeitgeist entspringt und von spezifischen persönlichen Vorlieben und Präferenzen durchsetzt ist“ (Abraham 1998: 69, H.i.O.).

AUSBLICK Betrachtet man den Elementaren Tanz aus der inzwischen weit verbreiteten, vielschichtigen und erfolgreichen tanzpädagogischen und tanzkünstlerischen Praxis, dann zeigt sich sehr deutlich, dass sich die durchaus überzeugenden Inhalte und in ihrer humanistischen Grundstruktur allgemeingültigen Prinzipien in der Anwendung bei allen Altersgruppen und Niveaus bewährt und die angezielte Wirkungsmacht entfaltet haben. Beflügelt durch die Kraft der freien Bewegung hat die aktuelle Praxis schon längst den konzeptionellen Stand von Maja Lex und Graziela Padilla hinter sich gelassen. Es ist nun an der Zeit ist, dieser Entwicklung wissenschaftlich nachzuspüren, die konzeptionelle Diversifisierung zu untersuchen, diese erziehungsund tanzwissenschaftlich zu verorten und methodisch-didaktisch aufzuarbeiten. Obschon es bisher nur wenige Wirkungsstudien zum Elementaren Tanz gibt (vgl. etwa Borczyk/Behrens 2014), die aufzeigen, dass nicht nur Studierende der DSHS Köln von diesem umfassendem Konzept profitieren, beweist die langjährige Stabilität der zahlreichen Kinder-, Jugendlichenund Seniorengruppen, dass dieses Tanzkonzept in der Lage ist, Menschen Dimensionen zu öffnen, in denen sie selbsttätig Sinn erzeugen, Körperwissen sammeln, sinnlicher Leib werden und jenseits einer Leistungsorientie-

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rung soziale Inklusion erfahren können.1 In der inzwischen 25jährigen intensiven Vereinsarbeit des Elementaren Tanz e.V.ʼs, die sich hauptsächlich für den Fortbestand, die Weiterentwicklung und die wissenschaftliche Aufarbeitung des Elementaren Tanzes einsetzt, engagieren sich seit vielen Jahren Personen aus Wissenschaft, Politik, Kunst und dem Privatem in den unterschiedlichen Werkstätten, die an der längst überfälligen Ergründung des Elementaren Tanzes arbeiten. Doch schließlich zielt ihre verdienstvolle Mitarbeit auf die verantwortliche Fortführung des Immateriellen Kulturerbes, oder mit den Worten Gustav Mahlers ausgedrückt: Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.

L ITERATUR Abraham, Anke (1998): Die Inszenierung des Basalen? Der Elementare Tanz im Spannungsfeld zwischen Kunst und Pädagogik, in: Gunda Chtai/Graziela Padilla/Elementarer Tanz e.V. (Hg.), Dokumentation. Tagung´96 Elementarer Tanz jetzt – „Maja Lex zum Gedenken“. Köln: Eigenverlag ElTa, S. 67-76. Artus, Hans-Gerd/Mahler, Madeleine (1991): Kreativität im Tanz. Zur Anwendung theoretischer Grundlagen auf die Tanzpraxis, in: Michael Klein (Hg.), Jahrbuch Tanzforschung Band 2. Wilhelmshaven: Nötzel, S. 37-60. Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. VSA: Hamburg. Borczyk, Marion; Behrens, Claudia (2014): Ästhetisches Interesse an künstlerischem Tanz im Alter – eine explorative Analyse biografischer Erfahrungen und tätigkeitsspezifischer Vollzugsanreize, in: Claudia Behrens/Christiana Rosenberg (Hg.), TanzZeit – LebensZeit. Leipzig: Henschel, S. 136-154. Fröbel, Friedrich, A. W. (1826/1863): die Menschenerziehung, in: Wichard Lange (Hg.): Friederich Fröbels gesammelte pädagogische Schriften. Erste Abteilung: Friedrich Fröbel in seiner Entwicklung als Mensch

1

Vgl. hierzu Rita Molzberger und Michael Obermaier S. 267 ff. sowie Susanne Quinten S. 209 ff. in diesem Band.

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und Pädagoge. Bd. 2: Ideen Friedrich Fröbels über die Menschenerziehung und Aufsätze verschiedenen Inhalts. Berlin: o. A. Günther, Dorothee (1962): Der Tanz als Bewegungsphänomen. Reinbek: Rowohlt, S. 220-221. Günther, Dorothee (1962): Elementarer Tanz, in: Werner Thomas/ Willibald Götze (Hg.): Orff-Institut Jahrbuch 1962. Mainz: B. Schott´s Söhne, S. 36-40. Günther, Dorothee (1931): Die Barbarische Suite, in: Kugler, Michael (Hg.) (2002), Elementare Tanz – Elementare Musik. Die GüntherSchule München 1924 bis 1944. Mainz: Schott, S. 139-140. Günther, Dorothee (1932): Der rhythmische Mensch und seine Erziehung, in: Michael Kugler (Hg.) (2002): Elementare Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz. Schott, S. 144150. Günther, Dorothee (1933): Die Einheit von Musik und Bewegung. Eine pädagogische und methodische Stellungnahme, in: Michael Kugler (Hg.) (2002): Elementare Tanz – Elementare Musik. Die GüntherSchule München 1924 bis 1944. Mainz: Schott, S. 151-156. Haselbach, Barbara (1990): ORFF-Schulwerk – Elementare Musik- und Bewegungserziehung, in: Eva Bannmüller/Peter Röthig (Hg.), Grundlagen und perspektiven ästhetischer und rhythmischer Bewegungserziehung. Stuttgart: Klett, S. 183-208. Haselbach, Barbara (2002): Dorothee Günther, in: Michael Kugler (Hg.), Elementare Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz: Schott, S. 50-66. Jungmair, Ulrike, E. (1992): Das Elementare: Zur Musik- und Bewegungserziehung im Sinne Carl Orffs. Theorie und Praxis. Mainz: Schott. Keetmann, Gunhild (1979): „Erinnerungen an die Günther-Schule“, in: Das Orff-Schulwerk, Informationen. Nr. 23. S. 10. Klafki, Wolfgang (1958): „Die Fruchtbarkeit des Elementaren für die Bildungsarbeit der Volksschule“, in: Handreichungen für den Unterricht. Beilage zur Hamburger Lehrerzeitung (1958) Nr. 11, S. 1-15. [Nachdruck in: Die Bayerische Schule 17 (1964), S. 373-379]. Klafki, Wolfgang (1972): Grundformen des Fundamentalen und Elementaren, in: Berthold Gerner (Hg.), Das exemplarische Prinzip. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Wege der Forschung. Bd. 30), S. 152-177. (5., unveränd. Auflage).

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Klafki, Wolfgang (1964): Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. 3./4., durchges. u. erg. Aufl. Weinheim: Beltz. Klein, Gabriele (1990): „Vom Ausdruck ‚reiner‘ Bewegung“, in: TanzAktuell 12/ 1. Jg.1989/90, S. 33-34. Kugler, Michael (2002): Schulprospekt der Günther-Schule 1930, in: Michael Kugler. (Hg.), Elementare Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz: Schott. Kunze, Andrea (1993): Die künstlerisch-pädagogische Konzeption von Maja Lex – der Stellenwert der Improvisation im Elementaren Tanz, in: Elementarer Tanz e.V. (Hg.): Dokumentation. Tagung’91 Maja Lex zum Gedenken. Köln: Eigenverlag El-Ta, S. 36-40. Lex, Maja (1980): Herkunft des Elementaren Tanzes. Wörtliche Abschrift eines handschriftlichen Manuskriptes vom 29.10.1980. El-Ta Archiv, Köln. Lex, Maja (1986): Über den Elementaren Tanz. Abschrift eines Gesprächs mit Ulla Ellermann für ihre Dissertation. Unveröffentlicht. El-Ta Archiv, Köln. Lex, Maja; Padilla, Graziela (Hg.) (1988): Elementarer Tanz. Band 1. Der Gang. Wilhelmshaven: Noetzel. Müller, Hedwig; Stöckemann, Patricia (Hg.) (1993): „... jeder Mensch ist ein Tänzer“. Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900-1945, Gießen: Anabas. Obermaier, Michael; Hoffmann, Cornelia (Hg.): Projekt Frühkindliche Erziehung. Ein Lehr- und Lernbuch. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Padilla, Graziela (1990): Inhalt und Lehre des Elementaren Tanzes, in: Bannmüller, Eva, Röthig, Peter (Hg.): Grundlagen und perspektiven ästhetischer und rhythmischer Bewegungserziehung, Stuttgart: Klett, S. 245-269. Pestalozzi, Johann Heinrich (1799): Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans, in: Wolfgang Klafki (Hg.) (1997), Pestalozzi über seine Anstalt in Stans. 7. Aufl. Weinheim/Basel: Beltz, S. 7-36. Rüschstroer, Birgit (1998): Kreativität und Elementarer Tanz – ein Verhältnis?, in Gunda Chtai/Graziela Padilla/Elementarer Tanz e.V. (Hg.) Dokumentation. Tagung´96 Elementarer Tanz jetzt – „Maja Lex zum Gedenken“. Köln: Eigenverlag El-Ta, S. 32-38.

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Spranger, Eduard (1969): Die Fruchtbarkeit des Elementaren, in: Werner Thomas/Willibald Götze (Hg.), Orff-Institut; Jahrbuch III 1964-1968. Mainz: B. Schott´s Söhne, S. 81-84 Schikowski, John (1928): „Der neue Tanz und die neue Körperkultur“, in: Olympiade, Februar-März 1928, 1. Jg,. Heft 8. Wobbe, Eva (1992): Die Gymnastik. Entwicklung der Bewegung bis zur Rhythmischen Gymnastik und deren Einfluß auf den Ausdruckstanz, in: Gunhild Oberzaucher-Schüler (Hg.) Ausdruckstanz. Wilhelmshaven: Noetzel. Wolf, Dagmar (1996): „Maja Lex: Tänzerin, Choreografin und Pädagogin der reinen Gesten“, in Tanzdrama, Heft 34, Berlin. S. 15-21.

INTERNET -Q UELLE Rosenbach, Manfred (2008): Aspekte zeitgenössischer Bildungstheorien: http://ods3.schule.de/aseminar/erziehung/bildung/aspekte.htm (letzter Zugriff: 18.12.2016).

Didaktische Konkretisierung des Elementaren Tanzes Methodische Besonderheiten und ein Stundenbeispiel D ILAN E RCENK -H EIMANN , T ESSA T EMME

Im vorliegenden Artikel soll es um eine didaktische Konkretisierung des Elementaren Tanzes gehen. Ziel ist die Herausarbeitung methodischer Besonderheiten dieses Tanzvermittlungskonzeptes, so wie wir es erfahren haben und weiterführen. 1 Umsetzung erfährt die Konzeption in verschiedenen Modulen im Rahmen der Bachelorstudiengänge an der Deutschen Sporthochschule Köln sowie im Weiterbildungsmaster Tanzkultur des Instituts.2 Die methodischen Besonderheiten zeichnen sich nach Ansicht der Verfasserinnen nicht den Kern treffend dadurch ab, einzelne Übungsbeispiele

1

Das Unterrichtsfach Elementarer Tanz wurde an der DSHS Köln zwischen 2001 und 2005 von Beate Metz vertreten.

2

Im Bachelor-Basisstudium kommt die Methodik des Elementaren Tanzes im Modul BAS 4 Tanz zum Tragen. Unter dem Titel „Tanz – Improvisation, Technik, Komposition“ wird der Elementare Tanz als Vertiefung im Rahmen des Bachelorstudiengangs „Sport, Erlebnis, Bewegung“ unterrichtet. Im Modul „Tanzen, Darstellen, Gestalten“ im Rahmen des Lehramtsstudiums ist die Methodik des Elementaren Tanzes Teil des Moduls. Für weiterführende Informationen sei auf die Institutsseite unter https://www.dshs-koeln.de/institut-fuertanz-und-bewegungskultur/studium/lehrangebot/ verwiesen.

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zu beschreiben oder/ und grundlegende Prinzipien zu nennen. Unserer Ansicht nach liegen die methodisch-didaktischen Besonderheiten des Elementaren Tanzes in der impliziten Auffassung zur Prozesshaftigkeit des Tanzens/Tanzes. Das gesamte Unterrichtsgeschehen ist dieser Prozesshaftigkeit geschuldet, indem eine so gedachte strukturierte Improvisation zum Drehund Angelpunkt des Unterrichts im Elementaren Tanz wird. Insofern widmen wir uns in dem vorliegenden Beitrag diesem Unterrichtsgeschehen. Die strukturierte Improvisation zum methodischen Dreh- und Angelpunkt zu machen, ist nicht unsere Erkenntnis, diese Hervorhebung ist bereits vollzogen bei Günther (2002 [1932]) bzw. Lex und Padilla (1988). Dennoch möchten wir eine inhaltlich andere Betonung vornehmen, begründet grundlegend aus der praktischen Erfahrung im Rahmen unseres Studiums, der choreografischen Tätigkeit sowie der Unterrichtstätigkeit am Institut für Tanz und Bewegungskultur an der Deutschen Sporthochschule Köln und dies wiederum mit einem Einbezug einer anderen theoretischen Brille: Die Betrachtung der Improvisation als Prozessontologie (vgl. Schürmann/Temme 2015). Bevor wir uns der Konkretisierung in Form der Darstellung einer Unterrichtsstunde widmen, möchten wir zunächst diese Sichtweise und die sich daraus ergebenden grundlegenden Konsequenzen für den Unterricht erläutern. Zum Einstieg kurz zur Position Günthers bzw. Lex und Padillas: Für Dorothee Günther ist die Fähigkeit zur Improvisation die höchste Form des Kunstschaffens (vgl. Günther 2002 [1932]: 148). Dies insofern, als dass Improvisieren bedeutet, sich einem soweit als möglich ungehemmten, ungebundenen Bewegungsfluss zu überlassen, welcher bei den Tanzendenden die Entwicklung einer eigenen Bewegungssprache ermöglicht. Eine Tanzerziehung, die eine künstlerische Entwicklung im Gegensatz zu einer rein tanztechnischen Ausbildung arrangieren will, muss dazu angemessene methodische Zugänge schaffen. Eine grundlegende Zuspitzung und damit Begrenzung der Bewegungsmöglichkeiten durch Vorgabe von Tanztechniken verbunden mit der Lehre dieser Techniken über das Einschleifen entspräche nicht dieser Auffassung (vgl. Lex/Padilla: 260f.). Aber worin liegt nun unserer Ansicht nach das Besondere der strukturierten Improvisation? Dieser Frage möchten wir anhand der Unterrichtsstruktur im Elementaren Tanz nachgehen: Inwiefern zeigt sich eine Auffassung von (Tanz-)Bewegung resp. Improvisation als Prozess innerhalb der

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drei unterrichts-strukturellen Fokussierungen der rhythmischen Bewegungsbildung, der aufbauenden Körperbildung und der Bewegungsgestaltung. Die strukturierte Improvisation ist in allen drei Fokussierungen der methodische Weg. Prozesse sind Vorgänge, die von selbst laufen, das ist das Wesen des Prozesses; in ihrer Prozesshaftigkeit sind Prozesse nicht determiniert, aber bestimmt (vgl. Schürmann 2015 [2008])3. Fasst man Bewegung als Prozess auf, bedeutet dies, dass die Bewegung nicht eines Bewegungsaktors4 bedarf, um stattzufinden, Bewegung ist damit nicht als reine Ausführung seitens eines des Subjekts vollzogenen Planungsaktes denkbar (vgl. Temme 2015: 158). Konkret heißt das, dass es bei Bewegungsvorgängen zuallererst um ein Zulassen und nicht um ein Herstellen gehen kann (vgl. Schürmann/ Temme 2015: 94). Übertragen auf die Tanzimprovisation bedeutet dies: Der Tänzer ist nicht Komponist der Bewegung, die Bewegung ist in sich selbst der Komponist und das Subjekt ist in diesem Prozess als bestimmendes Moment, nicht aber als determinierendes einbezogen. Eine solche Idee von Improvisation verändert grundlegend die Herangehensweise des Improvisierenden: Die Idee des Zulassens von Bewegung entlastet den Tanzenden, denn er steht eben nicht vor der Aufgabe des schnellen Erfindens von Bewegungsmotiven. Er greift vielmehr Bewegungen auf, die sich im Bewegungsvorgang ereignen, verändert diese, spitzt sie in die eine oder andere Richtung zu, lässt sie wieder laufen und findet im Prozess neue Ansätze, die es aufzugreifen lohnt. 5 Das Generieren einer solchen Haltung zur eigenen Improvisation bzw. die Förderung der Prozessidee im Umgang mit (Tanz-)Bewegung, insbesondere kulminierend in der Improvisation ist unserer Ansicht nach ein wesentliches Moment im Elementaren Tanz, so wie wir ihn verstehen. Wie wird nun der Prozessidee auf methodischdidaktischer Ebene Rechnung getragen?

3

Der Begriff der Prozessontologie ist tätigkeitstheoretisch fundiert, vgl. dazu Schürmann 2015 [2008].

4

Temme bezieht sich mit diesem Begriff auf Trebels 1999, der gerade nicht auf eine Prozessontologie in Bezug auf Bewegung setzt, sondern das Subjekt als einen solchen Bewegungsaktor auffasst.

5

Für eine beispielhafte Konkretisierung einer solchen Konzeption siehe Temme 2015: 94f.

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Wie schon genannt beinhaltet die Grundstruktur im Unterrichtsgeschehen des Elementaren Tanzunterrichts drei Ausrichtungen: Die rhythmische Bewegungsbildung, die aufbauende Körperbildung und die Bewegungsgestaltung (vgl. Lex/Padilla 1988: 15). Dabei zeigen sich diese Ausrichtungen nicht als abgegrenzte Abschnitte im Unterrichtsverlauf, sondern sie wechseln fließend. Je nach gewähltem Stundenthema überwiegt mal die eine oder andere Fokussierung. Die Konzipierung der Improvisation als Prozess wird insbesondere augenscheinlich in der rhythmischen Bewegungsbildung. Die Bewegungsgrundformen wie Gehen, Laufen, Hüpfen, Federn, werden hier als Ausgangspunkte genommen, die Tanzenden buchstäblich in Bewegung zu bringen. Sie haben die Möglichkeit sich einem mehr ungebundenen Bewegungsfluss zu überlassen, gegeben vor allem durch den Fortbewegungscharakter der Grundformen. Auch die Ganzkörperlichkeit unterstützt den Fluss, die Eigendynamiken der Bewegungsvorgänge werden den Tanzenden offensichtlich: Bei Federungen, Sprüngen schnellen Raumquerungen, Kurven und Bremsvorgängen bringt allein schon die Wirkung der externen Kräfte den Körper in Bewegung. Eine rhythmisch-musikalische Grundlage entlastet die Tanzenden darüber hinaus: Die Bewegung kann durch die Musik getragen werden. Gerade Anfänger im Tanz bzw. der tänzerischen Improvisation profitieren vom Bremsenlösenden Charakter der Grundformen mit Unterstützung einer stärker rhythmisch betonten Musik bzw. akustischen Bewegungsbegleitung. Mithilfe räumlicher, formaler, rhythmischer und dynamischer Fokussierungen strukturiert die Lehrende den Bewegungsfluss der Tanzenden. Bewegungsaufgaben, -vorgaben, -anregungen unter Anwendung der Gestaltungskriterien6 formen den Bewegungsfluss und engen den Lösungsraum im Bewegungsprozess ein: Welche Bewegungsmotive, die sich im Bewegungsprozess ereignen, lohnt es sich, aufzugreifen, sich weiterentwickeln zu lassen? Möglicherweise mündet dieses Bewegungsspiel in einer kleinen Motivkette, die wiederholend erfahren und in ihrem Charakter zunehmend geklärt wird, diese Motivfolge könnte dann von der ganzen Gruppe aufgenommen werden. Die Tanzenden erleben dabei das Entwickeln einer Komposition in Form eines gleichsam gleitenden Übergangs aus dem Bewegungsspiel und

6

In diesem Zusammenhang sind die vier Gestaltungskriterien der Bewegung: Raum, Form, Zeit und Dynamik gemeint, auf die u.a. Vent/Drefke 1982: 10 verweisen.

D IDAKTISCHE K ONKRETISIERUNG DES E LEMENTAREN T ANZES

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eben nicht als überlegungsreichen, geistigen Akt buchstäblich aus dem Stand. Dem so gebildeten Tanzenden ist klar geworden, dass er sich – soll eine Komposition erarbeitet werden, auf den Prozess verlassen kann. Seine Aufgabe ist es, den Prozess in eine Richtung zu strukturieren, und aufmerksam für das zu sein, was sich ereignet. Die aufbauende Körperbildung „[…] hat die Aufgabe, Körper- und Funktionskenntnis, waches Bewusstsein für Ansatz, Verlauf und Wirkungsweise von Bewegungsvorgängen zu entwickeln […]“ (Lex/Padilla 1988: 15). Anders formuliert: Ziel ist es, ein funktionales Bewegungsverständnis bei den Tanzenden zu entwickeln. Was ist kennzeichnend für ein entwickeltes Bewegungsverständnis? Tanzende mit ausgeprägtem Bewegungsverständnis haben Einsicht in ihre Bewegungsprozesse, sie nehmen diese Prozesse aus der Perspektive der Gestaltungskriterien der Bewegung – die in diesem Kontext als Unterscheidungskriterien verstanden werden können – wahr: Sie verstehen die Formung der Bewegung, dabei insbesondere die Bewegungsansätze, sie erkennen die rhythmische Struktur, die Umfänge der Kraft und die Weise des Kraftverlaufs, die Bewegung ist den Tanzenden schließlich in ihrer Räumlichkeit klar. Aufbauend ist die Körperbildung insofern, als dass im Lernverlauf zunehmend feinere Differenzierungen dieser Aspekte wahrgenommen und umgesetzt werden können. So erweitern die Tanzenden fortlaufend ihre Bewegungsmöglichkeiten. Der Begriff funktional bezieht sich auf die Bewegungsmöglichkeiten des Körpers: welche Freiheitsgrade sind im Gelenk bzw. in Zusammenhang mit weiteren Gelenken möglich, welche Bewegungstätigkeiten können mithilfe interner und externe Kräfte entfaltet werden. Integriert ist in dieses Verständnis allerdings auch die Einsicht in die körpergegebenen und individuellen Grenzen: Wo ist die Grenze meiner Belastung, ist mein Gelenk, der Muskel-Sehnen-Verbund für diese Belastung ausgelegt und vorbereitet? Das Verständnis für die Grenzen wird dabei weniger über ein anatomisch-theoretisches Vorgehen entwickelt, als vielmehr über das bewusste und vertiefte Wahrnehmen der Bewegungsvorgänge, mit dem Ziel den Tanzenden selbst sensibel werden für seine Grenzen werden zu lassen. Die Thematisierung der Bewegungsmöglichkeiten ohne eine grundsätzliche Eingrenzung eines als wichtig erachteten Bewegungsvokabulars oder bestimmter Bewegungsprinzipien bietet dabei die Chance, auch ungewohntere Dynamiken (z. B. Zittern oder Krampfen) zu Bewegungsmotiven zu

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entwickeln und eine individuelle, situative, tanzstückspezifische Bewegungssprache zu entwerfen. Die Konzipierung des Prozesshaften tritt im Rahmen der Körperbildung insofern in Erscheinung, als das Wahrnehmen des Bewegungsprozesses und die sich zeigenden Unterschiede im Vordergrund stehen und nicht das Produzieren von Bewegungen. So gedacht ist ein Bewegungskönner vielmehr ein feiner Wahrnehmer für kleinste Veränderungen und Entwicklungsmöglichkeiten im Bewegungsprozess. Zu betonen ist dazu, dass die aufbauende Körperbildung nicht als ein funktionalistisches Durchdeklinieren der Bewegungsmöglichkeiten zu verstehen ist. Immer wieder läuft der Unterrichtsprozess in der Körperbildung darauf hinaus, ein Bewegungsmotiv zuzuspitzen, und sich dabei darüber klar zu werden: Was ist das für eine Bewegung? Aus der Klärung über die Gestaltungskriterien erhält die Bewegung ihren Charakter, der Tanzende erkennt die Bewegung als Etwas. Die Bewegung ist in ihrem Sinn gesättigt7, sie ist verstanden und will mitgeteilt werden. Das auf diese Weise entwickelte reflexive Können 8 tritt damit an die Stelle der Beherrschung einer auf Material beruhenden Bewegungstechnik. Die Fokussierung darauf, dass die Bewegung dem Tanzenden etwas sagt oder zeigt, führt die Bewegung zudem von einem hinsichtlich der Gestaltungskriterien geklärten Bewegungsmotiv (Gymnastik) in ein Tanzmotiv. Der Ausgangspunkt ist allerdings wieder – wie auch in der rhythmischen Bewegungsbildung – das strukturierte Erkunden des Bewegungsprozesses. Der Übergang von der abstrakten Form in ein geklärtes Bewegungsmotiv bzw. Tanzmotiv markiert im Rahmen des Unterrichtsgeschehens den Übergang in die dritte Fokussierung im Elementaren Tanz, die Bewegungsgestaltung. Diese wird in explorativ-improvisatorischen und kompositorisch-festlegenden Arbeitsformen realisiert und „[…] und ist wie folgt charakterisiert: Einmal verlangt sie klar umrissene Aufgabenstellungen, die es dem Schüler ermöglichen, die in der Körper- und Bewegungsbildung erfahrenen Bewegungen behutsam und zielgerichtet zu verändern. Zum anderen muss sie dem Schüler genügend Spielraum gewähren, um das Gestalten nach freiem Ermessen vollführen zu können“ (Mentz 1977: 5).

7

Vgl. Denise Temme 2015: 87ff. zum Konzept der Sinnsättigung von (Tanz-) Bewegung sowie in diesem Band S.241 ff.

8

Zur Konzeption eines reflexiven Könnens im Tanz siehe Denise Temme ebd.

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Die Methode der Bewegungsgestaltung ist die strukturierte Improvisation, sie vollzieht sich im Stellen von Bewegungsaufgaben, bezieht dazu aber auch Bewegungsvorgaben mit ein. Das Sich-zu-Eigen-Machen von Vorgegebenem9 ermöglicht dem Tanzenden Differenzerfahrungen zu selbst gestalteten Bewegungsvorgängen, zum anderen bieten solche Vorgaben wieder neue Strukturierungen, Rahmungen für darauf aufbauende Improvisationen. Hervorzuheben ist hier, dass die Gestaltungsmethoden Bewegungsaufgaben und Vorgaben nicht hierarchisch zueinander in Beziehung stehen. Bewegungsvorgaben werden durch die Lehrperson oder – in den meisten Fällen durch die Teilnehmer (!) – eingebracht und entstammen den Bewegungsaufgaben oder sollen neue Aufgaben eröffnen. Die festzulegenden oder dargebrachten Bewegungssequenzen haben somit eine starke, aufgabenthematische Gebundenheit inne. So hat eine Bewegungsvorgabe in jeder Hinsicht immer auch einen Bezug zum Stundenthema bzw. Unterrichtsinhalt und ist dabei aber voll und ganz exemplarisch gemeint. Möchten die Tanzenden eine Sequenz oder ein ganzes Stück komponieren, ermöglichen sie selbst, die Lehrkraft oder die Choreographin einen Prozess, der mithilfe der Gestaltungskriterien strukturiert wird. Sie denken sich nicht Bewegungsmotiv für Bewegungsmotiv aus und setzen das Erdachte und Geplante um, sondern lassen einen Bewegungsverlauf zu, in dem sie sich ereignende Motive aufgreifen und zunehmend zu Motiven bzw. Motivketten kondensieren lassen. In diesem Vorgehen – nämlich einen selbstlaufenden Prozess zu ermöglichen und so quasi immer zunächst die Bewegung sprechen zu lassen und darüber dann zu einem Erkennen des Sinns der Bewegung – im semantischen Sinne – zu gelangen, ist das besondere Merkmal des Elementaren Tanzes, so wie wir ihn sehen und praktizieren. Die ersten beiden Fokussierungen, die Körperbildung und die Bewegungsbildung, werden als Herangehensweisen verstanden, die – wahlweise – jeweils eine oder andere Perspektive auf die Bewegungstätigkeit ermöglichen: In der aufbauenden Körperbildung richtet sich der Fokus auf funktionale Momente innerhalb der Bewegungsausführung. Bei der rhythmischen Bewegungsbildung wiederum ist die Aufmerksamkeit auf die rhythmische und/ oder die musikalische, sich in die Fortbewegung und somit in den

9

Vgl. zu den Deutungsmöglichkeiten des Nachmachens in Abhängigkeit des zugrunde gelegten Bewegungskonzepts Temme 2015: 234ff.

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Raum (über)tragende Bewegung gerichtet. Der Prozesscharakter tritt hier besonders hervor: die sich so Bewegenden werden durch die Eigendynamik ihrer Bewegungsvollzüge getragen. Die Fokussierung der Bewegungsgestaltung stellt hierbei die Methode(n) zur Verfügung mit der Bewegung unter Berücksichtigung der Gestaltungskriterien nach-, neu- und umgeformt werden kann. Insofern existiert auch keine echte Abgrenzung zwischen Trainieren für das Tanzen und Tanzen in Komposition und Improvisation, über beide Herangehensweisen, über die Körperbildung sowie die rhythmische Bewegungsbildung vollzieht sich ein fließender Übergang in den Tanz. Alle drei Fokussierungsmöglichkeiten ein-und-derselben Bewegung liegen im Vermögen und in der Intention der so Tätigen. Die Tanzende kann sich im Vollzug der Bewegung auf die funktionelle Genauigkeit, dynamische Feinheit, Stimmigkeit, Sinnhaftigkeit, etc. der Bewegung beziehen. Die These ist, dass mit fortschreitendem Lernprozess immer deutlicher wird, dass die Abgrenzungen zwischen körperbildenden, bewegungsbildenden und gestalterischen Vollzugsfoki nicht mehr in der Stärke vorzunehmen sind. Alle drei Vollzugsfoki können innerhalb einer Bewegung – gleichzeitig und gleichwertig aktiv – zu einem Vollzugsfokus werden.

B EISPIEL EINER U NTERRICHTSSTUNDE Stundenthema: Direkte und indirekte Armbewegungen aus dem Zug der Fingerspitzen Das Stundenthema soll nachfolgend als mögliches Beispiel elementartanzspezifischer Didaktik und Methodik angeführt werden. Direkte und indirekte Armbewegungen aus dem Zug der Fingerspitzen ist ein bewegungstechnikorientiertes und damit der Körperbildung zugewandtes Thema. Im vorliegendem Fall steht zunächst einmal das Erlernen und die Erprobung eines spezifischen Bewegungsprinzips – hier beispielhaft: direkte und indirekte Armbewegungen aus dem Zug der Fingerspitzen – als zentraler Lehrinhalt im Fokus der Einheit. Aufbauend darauf erfolgt ein zunehmend freierer Umgang mit diesem Bewegungsansatz in Form von improvisatorischen Aufgabenstellungen.

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1. Allgemeines und themenspezifisches Aufwärmen (mit Musik) 1.1 Allgemeine Erwärmung Die Teilnehmer bewegen sich laufend durch die Halle und passen ihr Tempo der ausgewählten Musik an. Die Raumausnutzung in der Fortbewegung ist durch häufige Richtungswechsel gekennzeichnet. Dieses „Durcheinanderlaufen“ – im Gegensatz zum „im-Kreis-laufen“ – erfordert eine hohe Aufmerksam- und Achtsamkeit gegenüber der Gruppe. Um Kollisionen zu vermeiden, müssen die Teilnehmenden ihr peripheres Sehen aktivieren und freie Räume für ihre Laufwege nutzen. Die Lehrperson sollte zu einer dynamisch federnden, besonders hochverlagerten Laufbewegung anregen und diese ggfs. praktisch demonstrieren. Das gewählte Musikbeispiel bietet eine passende Tempogrundlage zur Bewegungsaufgabe. 1.2 Themenspezifische Erwärmung Das Laufen durch die Halle mit voller Raumausnutzung bleibt weiterhin wie beschrieben bestehen. In der Folgeaufgabe wird der für diese Einheit charakteristische Bewegungsansatz eingeführt. Die Aufgabenstellung konzentriert sich zunächst auf den rechten oder linken Arm. Durch eine plötzliche und in-den-Raumstechende Armbewegung, initiiert durch die Fingerspitzen, ergibt sich eine abrupte Richtungsänderung (rückwärts, seitwärts, vorwärts, diagonal). Der Arm sticht dabei in die neue Richtung vor und der Körper folgt nach. Die Bewegungsaufgabe soll mit Armbewegungen auf Schulterhöhe beginnen und sukzessive hohe und tiefe Ebenen (in Form von Sprüngen und Bodenarbeit) miteinbeziehen. Die Lehrperson demonstriert hierfür den Bewegungsansatz und nutzt ggfs. folgenden Hinweis: „Euer Arm macht sich selbstständig.“ Handwechsel erfolgen durch Ansage. Lehrinhalte mit bewegungsbildendem Fokus: • Bewegungsgrundform Laufen • Sensibilisierung für einen spezifischen Laufstil • zyklische Laufbewegung auf dem musikalischen Metrum • plötzliche Richtungswechsel im Raum

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Ausnutzung der Ebenen

Musik: What I'd Say; Pts.1&2/ Interpret: Ray Charles

2. Einstimmung und Einstieg in das Bewegungsthema (ohne Musik) 2.1 Gleiten am Boden Nach der Erwärmungsphase begeben sich die Teilnehmenden in gleicher Ausrichtung in den Langsitz. Die Lehrperson erklärt und demonstriert die Bewegungsvorgabe simultan. Bereitet die Einnahme des Langsitzes Schwierigkeiten, können die Beine auch leicht angezogen werden. Der Oberkörper ist aufgerichtet und die Hände ruhen seitlich neben dem Körper. Die Handflächen sind zum Boden gerichtet. Die rechte oder linke Handfläche gleitet über den Boden in Richtung der Füße – bis zur individuellen Dehnungsgrenze der Teilnehmenden – vor. Die Fingerspitzen führen die Bewegung hierbei an. Am Endpunkt der Bewegungsausführung vollzieht sich eine Umkehrbewegung über die Fingerspitzen: Die Finger graben sich schaufelartig in den Boden hinein und ziehen den Arm zurück in Richtung der Ausgangsposition, sodass der Handrücken auf dem Rückweg zurückgleitet. Der Rückweg reicht über den Langsitz hinaus. Die Kraft der Bauchmuskeln bzw. des Hüftbeugers und die Schultergürtelbeweglichkeit entscheiden hier über die Bewegungsreichweite nach hinten. Am Endpunkt der Bewegungsausführung angekommen, führen die Fingerspitzen durch eine erneute Umkehrbewegung wieder vorwärts in Richtung der Füße. Die Teilnehmenden kommen durch den vorwärts- und rückwärts-Charakter des Ablaufes in einen wellenartigen Bewegungsfluss. Während des gesamten Ablaufs verfolgen die Ausführenden ihre Finger- und Handbewegungen mit den Augen mit. Durch die visuelle Beteiligung haben sie einen direkten Bezug zum eigenen Tun und können ggfs. einwirken, wenn ihr Bewegungsablauf von der Bewegungsvorgabe (Die Bewegung wird immer aus dem Zug der Fingerspitzen eingeleitet!) abweicht. Zum anderen ist durch die Blickbeteiligung auch der Kopf Teil des Bewegungsablaufs. Die Lehrperson lässt die Teilnehmer im eigenen Tempo ausprobieren, gibt individuelle und allgemeine Hilfestellung, bis das Prinzip des Bewegungsansatzes über

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die Fingerspitzen verinnerlicht und verstanden worden ist. Handwechsel erfolgen durch Ansage. Lehrinhalte mit körperbildendem Fokus • Dehnung der rückwärtigen Oberschenkelmuskulatur • Kräftigung der Bauch- und Hüftmuskulatur • Beweglichmachung des Schultergürtels • Sensibilisierung für das Gesamtkörperzusammenspiel • Prinzip Bewegungsansatz: hier Fingerspitzen 2.2 Gleiten am Boden: Variations- und Gestaltungsmöglichkeiten Die Teilnehmer verbleiben im Langsitz, festigen und verfeinern den Ablauf. Gelingt es der Gruppe größtenteils die Bewegungsvorgabe und Bewegungsprinzipien umzusetzen, erweitert die Lehrperson die Aufgabenstellung indem sie nach und nach Variationsmöglichkeiten anbietet: Bewegungsausführung mit und ohne Blickbeteiligung; lange und kurze Hin- und Rückwege; unterschiedliche Geschwindigkeiten und Dynamiken (bsp. legato oder staccato); beidarmige Ausführung; etc. Letzte Variationsmöglichkeit (!): Die Fingerspitzen leiten eine impulshafte Bewegung des Armes ein, die weg vom Boden führt. Der Körper reagiert auf den Zug der Fingerspitzen. Die eingebrachte Intensität bzw. Zugstärke der Bewegung bringt die Ausführenden in verschiedene Sitzpositionen und Lagen. Vielleicht sogar bis in den Stand. Mithilfe der Umkehrbewegung finden die Ausführenden immer wieder zurück in die Gleitbewegung am Boden. Lehrinhalte mit bewegungsgestaltendem Fokus • Üben und festigen der Bewegungsvorgabe (Nachgestalten) • Zeitliche Variationsmöglichkeiten explorieren • Formale Variationsmöglichkeiten explorieren • Dynamische Variationsmöglichkeiten explorieren Lehrinhalte mit körperbildendem Fokus • Wechsel der Körperposition (Lagen, Sitze, Stände)

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Hinweis: Diese Phase der Einheit darf – je nach Gruppenzusammensetzung – ruhig etwas ausgedehnter und intensiver erfolgen. Sie bildet die bewegungstechnische Grundlage für alle weiteren und aufbauenden Aufgabenstellungen dieser Einheit. Je klarer das Bewegungsprinzip von den Teilnehmenden erfasst wird, desto freier werden sie Umgang mit diesem Prinzip werden. 3. Hauptteil 3.1 Übertragung des Prinzips auf alle Raumebenen (ohne Musik) Die letzte Variationsmöglichkeit der vorangegangenen Aufgabe führt ohne Unterbrechung in den Hauptteil. Mit dem etablierten Bewegungsprinzip sollen die Raumebenen um den Körper herum umspielt werden. Die Lehrperson erklärt und demonstriert die Möglichkeiten und lässt der Gruppe Raum und Zeit zur praktischen Erprobung. In der Sagittalebene meint dies die Ante- und Retroversion des Armes (Vor- und Rückführung des Armes vor und hinter dem Körper). In der Frontalebene können die Arme ab- und adduziert werden (seitliches Heben und Senken der Arme). In der Transversalebene (auch Horizontalebene genannt) sind Armbewegungen um die Längsachse des Körpers möglich, die den Körper in die Verwringung und Drehung bringen können. Innerhalb dieser Ebene können im Besonderen indirekte Armbewegungen eingebaut werden. Hier sei kurz erwähnt, dass die direkte Armbewegung, eine geradlinige Bewegung ist, die ohne Umwege zum Endpunkt kommt. Während der indirekt vollführte Weg Haken schlägt, abschweift und kurvig verläuft. Sind die Bewegungsmöglichkeiten in den einzelnen Ebenen klar, regt die Lehrperson zur Verbindung der Ebenen an. Die flüssige Verbindung der Ebenen durch direkte und indirekte Armbewegungen aus dem Zug der Fingerspitzen sollte zunächst mit einem Arm erfolgen. Der Handwechsel erfolgt in freier Weise. Die Teilnehmenden achten dabei zunehmend auf Aspekte der Bewegungsweite: Sie testen ihre individuellen und (anatomisch möglichen) Bewegungsgrenzen aus. Sie geben der Bewegung viel oder wenig Raum. Das bedeutet, sie können beispielsweise zaghafte, an Ort und Stelle stattfindende Bewegungen ausführen oder aber mit kräftigen Zügen in die Fortbewegung kommen. Wie bereits im Langsitz verfolgen

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die Ausführenden ihre direkten und indirekten schaufelartigen Handbewegungen mit ihren Blicken. Die Erprobung dieser räumlich-dynamischen Feinheiten kommt in der abschließenden Improvisationsaufgabe zum Tragen. An dieser Stelle ergibt sich die Möglichkeit eine kurze gemeinsame Klärung hinsichtlich der Genauigkeit der Bewegungsausführung einzufügen: Die ansetzende Umkehrbewegung der Fingerspitzen leiten die neue Richtung ein. Die Finger biegen sich förmlich in die gewollte Richtung und ziehen die Ausführenden mit. Darüber hinaus sollte absolute Klarheit bzgl. der Raumrichtung herrschen. Der Bewegungsansatz sollte in der Ausführung zu keinem Zeitpunkt ungerichtet sein oder abgebrochen werden. Die Bewegungsaufgabe erscheint simpel. Das Gelingen jedoch hängt an den beschriebenen Aspekten, die gleichsam Knackpunkte des Bewegungsprinzips sind. Gegebenenfalls können sich die Gruppenteilnehmer an dieser Stelle zu zweit zusammenschließen und den Partner bzw. die Partnerin bei der Ausführung beobachten, Rückmeldung geben (korrigieren). Lehrinhalte mit körperbildendem Fokus • Kenntnis über Bewegungsmöglichkeiten in verschiedenen Ebenen bzw. um verschiedene Körperachsen • Schulung der Genauigkeit in der geforderten Bewegungsausführung • Sensibilisierung für das (muskuläre) Spannungsverhalten von Hand und Finger Lehrinhalte mit bewegungsgestaltendem Fokus • direkte und indirekte Raumwege • Nutzung von Raumebenen • Aufmerksamkeit für Richtungen, Linien und Strebungen in den Raum wecken 3.2 Schaufeln und Stechen an der Stange (mit Musik) Für die Folgeaufgabe begeben sich die Teilnehmer an die Stange. Sie dient als Haltgeber und Unterstützungsfläche in der Umsetzung der dargelegten Bewegungsidee in allen Körper- und Raumebenen. Unter Hinzunahme der

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Stange kann der Körper stärker und extremer auf die Züge aus den Fingerspitzen reagieren. Stand bisher die präzise Ausführung des Bewegungsansatzes im Vordergrund des Unterrichtsgeschehens, richtet sich das Augenmerk nun auf den Verlauf und den möglichen Endpunkt der angesetzten Bewegung. Die Lehrkraft kann an dieser Stelle sensibilisierend einwirken, indem sie den Teilnehmenden Fragen zum Bewegungsverlauf stellt, um damit den Boden für eine feinere Auseinandersetzung mit dem Stundenthema zu schaffen: Wo setzt die Bewegung an? Wann setzt die Bewegung ein? Wohin führt sie mich? Oder führe ich die Bewegung? Wann und vor allem Wie endet die Bewegung? Wann setzt sie wieder an? Die Lehrperson sollte die Gruppe dazu anregen, mutiger zu werden und sich in der gestellten Aufgabe zu fordern! – Einbeinstände, Hängepositionen, Sprünge, Drehungen und Verwringungen können den Bewegungsfluss durchaus in Sackgassen bringen. In einem solchen Fall könnte ein Handwechsel oder ein neuer Start Abhilfe schaffen. Innerhalb dieser Unterrichtsphase wird die Bewusstheit für das Gesamtkörperverhalten gestärkt. Die Lehrperson nutzt erneut folgende Hinweise: „Umkehrbewegung der Finger beachten! Blickbeteiligung nicht vergessen!“ Die Lehrperson fügt die Musik mit einem sanften fade in zur Aufgabe hinzu. Ein geeigneter Zeitpunkt wäre, wenn mögliche Fragen hinsichtlich der Aufgabenstellung geklärt und die Teilnehmer ruhig und konzentriert in Bewegung sind. Musik: Drumming/ Interpret: Steve Reich

Lehrinhalte mit bewegungsgestaltendem Fokus • Umgang mit Musik • Einstellen und Übertragung der Prinzipien auf ein neues Setting (hier: Stange) • Gestalterisches Geschick trainieren Lehrinhalte mit körperbildendem Fokus • Augenmerk auf Bewegungsverlauf und Bewegungsende 3.3 Von der Stange in den Raum (mit Musik) Ausgehend von der vorangegangenen Aufgabe lösen sich die Ausführenden mit direkten und stechenden Armbewegungen (wie schon in der Erwärmungsphase) von der Stange in den Raum hinein. Eine Umkehrbewegung

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und ein neuer Bewegungsansatz bringt sie in direkter und/oder indirekter Weise zurück an die Stange (aber nicht zwangsläufig an den alten Stangenplatz!). Alternativ weiterführende Aufgabe: Die TeilnehmerInnen gestalten und festigen einen kurzen Ablauf von der Stange in den Raum und wieder zurück. Die Lehrperson kann eine besonders gelungenen und klaren Ablauf auswählen und diese Vorgabe mit der Gesamtgruppe erarbeiten. (Lehrinhalt mit bewegungsgestaltendem Fokus: Nachgestaltung) Um den Übergang zur letzten Aufgabe der Einheit ohne größere Unterbrechung zu gestalten, fordert die Lehrperson die Teilnehmenden dazu auf, die Bewegungsphasen an der Stange immer kürzer werden zu lassen und sich sukzessive dem Raum zu widmen. Zwischenzeitlich sollte ein kurzer Austausch bzgl. der charakteristischen Eigenschaften des ausgewählten Musikstücks und der Umsetzung des Bewegungsprinzips auf diese Musik erfolgen. Musik: Drumming/ Interpret: Steve Reich

Lehrinhalte mit bewegungsgestaltendem Fokus • Raum für sich einnehmen Lehrinhalte mit bewegungsbildendem Fokus • Vom Stand in die Fortbewegung 4. Strukturierte Improvisation 4.1 Anwendung des Prinzips Die letzte Aufgabenstellung vereint alle Aufgaben. Die bisher relevanten Prinzipien können in der strukturierten Improvisation im freien Umgang unter Hinzugabe der Musik angewendet werdet. Die Lehrperson sollte wesentliche Aspekte bzw. Optionen nochmals darlegen, um den Rahmen der Improvisationsmöglichkeiten zu stecken. Darüber hinaus könnte die Lehrperson auch Hinweise zum Anfang und zum Ende der Improvisationssituation geben:

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„Ausgehend von der Stange arbeitet ihr euch in den Raum. Versucht bitte weitestgehend am Stundenthema dran zu bleiben. Das heißt, ihr nutzt den Bewegungsansatz über den Zug der Fingerspitzen in den Raum. Den Raum nehmt ihr über direkt stechende und indirekt schweifende Raumwege für euch ein. Diese bringen euch in verschiedene Ebenen (räumlicher und körperlicher Art). Ganz wichtig: Habt die Aufmerksamkeit bitte weiterhin auf die Umkehrbewegung der Finger als Initiator für die Bewegung und nehmt euer Tun visuell unter die Lupe. Die Improvisation ist zu Ende wenn ich die Musik sanft ausklingen lasse. Kommt dabei bitte langsam (!) zum Ende.“ Selbst wenn (oder gerade weil!) improvisiert wird, können Eingaben seitens der Lehrperson hilfreich und motivierend und strukturgebend für die Improvisierenden sein: „Lasst euch von der Rasanz der Musik treiben! Die Musik hat einen hohen Aufforderungscharakter zur schnellen Fortbewegung. Nutzt das!“ „Baut schnelle aber auch verzögerte Bewegungsphasen ein, um Gegengewichte zur Musik zu finden. Kurze, aktive Haltemomente wären hier denkbar.“ Lehrinhalte mit bewegungsgestaltendem Fokus Lehrinhalte mit körperbildendem Fokus Lehrinhalte mit bewegungsbildendem Fokus •

Anwenden, Variieren, Erfinden

L ITERATUR Günther, Dorothee (1933): Die Einheit von Musik und Bewegung. Eine pädagogische und methodische Stellungnahme (1933), in: Matthias Kugler (Hg.) (2002), Elementarer Tanz – Elementare Musik. Mainz: Schott, S. 151-162. Lex, Maja/Padilla, Graziela (1988): Der Elementare Tanz. Der Gang. Band 1. Wilhelmshaven: Noetzel.

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Mentz, Beate (1977): Der Elementare Tanz. Möglichkeiten und Verwirklichung in der Leibeserziehung. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Deutsche Sporthochschule Köln. Padilla, Graziela (1990): Inhalt und Lehre des Elementaren Tanzes, in: Eva Bannmüller/Pether Röthig (Hg.), Grundlagen und Perspektiven ästhetischer und rhythmischer Bewegungserziehung. Stuttgart: Klett, S. 245271. Schürmann, Volker (2015): „Prozess und Tätigkeit. Zur Spezifik der Tätigkeitstheorie“ (2008), in: Tätigkeitstheorie, 13(1), S. 75-86. Schürmann, Volker/Temme, Denise (2015): Grundannahmen von Bewegungs-Konzeptionen, in: Jörg Bietz/Rainer Laging/Michael Pott-Klindworth (Hg.), Didaktische Grundlagen des Lehrens und Lernens von Bewegungen: bewegungswissenschaftliche und sportpädagogische Bezüge, (Bewegungspädagogik Band 11). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 83-99. Temme, Denise (2017): Auf der Suche nach dem Maß guter und richtiger Tanzbewegung, in: Claudia Fleischle-Braun/Krystyna Obermaier/Denise Temme (Hg.), Zum immateriellen Kulturerbe des Modernen Tanzes. Konzepte, Konkretisierungen Perspektiven. Bilefeld: transcript, S. 241264. Temme, Denise (2015): Menschliche Bewegung als Tätigkeit. Zur Irritation fragloser Gewissheiten. Berlin: Lehmanns Media. Trebels, Andreas H. (1999): Sich-bewegen: Lernen und Lehren, in: Ralf Laging (Hg.), Bewegungslernen in Erziehung und Bildung. Tagung der dvs-Sektion Sportpädagogik vom 11.-13.6.1998 in Magdeburg. Hamburg: Cwalina, S. 39-52. Vent, Helmi/Drefke, Helma (1982): Gymnastik/Tanz. Sport – Sekundarstufe II. Düsseldorf: Cornelsen.

Das System und die Lehrweise von Rosalia Chladek I NGRID G IEL , E VA L AJKO , URSULA S CHEBRAK -C ARCICH

I NGRID G IEL

D AS C HLADEK -S YSTEM UND

SEINE

LEHRWEISE

Rosalia Chladeks tänzerisches, choreographisches und pädagogisches Wirken umfasst einen jeweils eindrucksvollen Zeitraum. Zur 35 Jahre währenden Karriere als Solotänzerin kommen eine 40 Jahre andauernde Tätigkeit als Choreographin sowie 70 Jahre als Tanzpädagogin. Bis 1995 – also bis zu ihrem 90. Lebensjahr – lehrte sie in einer sehr eigenen Weise „Gesetzmäßige Bewegung als Grundlage tänzerischer Erziehung“, das Chladek-System.1 In der Betrachtung dieses langen pädagogischen Wirkens ist deutlich zwischen dem Chladek-System und der Lehrweise Chladek zu unterscheiden. Das Chladek-System ist, wenn man sich auf die gesetzmäßigen Grundformen beschränkt, relativ rasch erfassbar. Die gesamte tänzerische Erzie-

1

Siehe dazu die von Rosalia Chladek verfassten Aufsätze (1964 sowie in einer überarbeiteten Fassung 1965) in Radrizzani, 2003: 28-41. Die Beschreibung der grundlegenden Leitgedanken des Systems und der Lehrweise von Rosalia Chladek basiert auf den Ausführungen von Giel/Oberzaucher-Schüller 2002: 129133.

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hung nach Chladek beinhaltet jedoch ein Netzwerk verschiedener Bereiche, wobei der Entwicklung des einzelnen in seiner Gesamtpersönlichkeit breiter Raum gegeben ist. Das Chladek-System ist logisch aufgebaut. Chladek systematisiert aufgrund der anatomischen Gegebenheiten und physikalischen Gesetzmäßigkeiten: Der Mensch ist der Schwerkraft ausgesetzt, und er besitzt Eigenenergie. Chladek zeigt anhand einer Spannungsskala Stufen auf zwischen den beiden Endpolen, der totalen Passivität und der totalen Aktivität, die Bewegungslosigkeit bedeuten und zwischen denen sich in vielfältiger Differenzierung unsere gesamten Bewegungsmöglichkeiten abspielen. Es gilt, den Ansatz einer Bewegung – in der Zentrale, der Peripherie, doppelseitig oder einseitig – zu betrachten, wobei Größe, Dauer und Richtung der Energie die Verlagerung des Körpergewichts und somit die Bewegung bestimmen. Chladek unterscheidet bei der Einstellung zur Bewegung neben dem normalen, aktiven und passiven auch ein gleichförmiges (unbeeinflussbares) und labiles (beeinflussbares) Körperverhalten. Insgesamt handelt es sich um einige wenige Gesetzmäßigkeiten, denen wir unterworfen sind; außer der Gravität wären auch Hebelwirkung, Schwungkraft, Zentripetal- und Zentrifugalkraft zu nennen. Und hier nun hat Chladek eine Systematisierung mit einer klaren Terminologie geschaffen, die, ähnlich der Harmonielehre für die Musik oder der Grammatik für die Sprache, die Grundlage für eine schöpferische Tanzerziehung bilden kann. Welches sind die Ziele, und wie wird das Chladek-System vermittelt? Es geht in der Lehrweise Chladek um das Erfahren und Erleben von Gesetzmäßigkeiten und nicht darum, bestimmte Bewegungsmuster oder -formen zu erlernen. Zunächst ist die eigene Körperwahrnehmung Ausgangspunkt für die Bewegungsarbeit; durch die Konzentration auf den Körper wird er in seiner Totalität und Partialität als aktiv oder passiv, als fixiert oder beeinflussbar erfahren. Die Arbeit erfolgt im Anfangsstadium vorwiegend bei geschlossenen Augen in der Bodenlage. Auf diese Weise können Bewegungsansätze und der folgerichtige Verlauf von Bewegungen ohne Balanceschwierigkeiten sehr intensiv erlebt werden, was zu erhöhtem Körperbewusstsein, Präzision und größerer Bewegungsqualität führt.

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Der folgerichtige Bewegungsverlauf schließt gleichzeitig das Prinzip der Bewegungsökonomie ein: durch bewusste Nutzung der Schwerkraft Eliminierung zusätzlicher, nicht erforderlicher Bewegung.2 Diese grundlegenden Bewegungsprinzipien werden durch verbale Aufgabenstellungen vermittelt. Vormachen und Nachmachen von Bewegung ist im Chladek-System nur selten zu finden. Es gilt, die Ursache einer Bewegung und deren Auswirkung selbständig zu erforschen. Daher wird eine gewisse Neugierde der Studierenden an funktionaler Bewegung vorausgesetzt. Abbildung 1: Skizzen von Rosalia Chladek zur gesetzmäßigen Bewegung

Quelle: Oberzaucher-Schüller/Giel, 2002: 128, © IGRC-Archiv; MUK.Wien & Theatermuseum Wien.

2

Die Beispiele des Tanzlaboratoriums von Ursula Schebrak-Carcich zur ChladekTechnik im letzten Abschnitt unseres Beitrags veranschaulichen, in welcher Differenziertheit diese Prinzipien erfahren werden.

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Bis jetzt wurde lediglich die Funktionalität der Bewegung angesprochen. Ein ganz wesentlicher Aspekt der Lehrweise Chladek liegt jedoch darin, selbst in der kleinsten Bewegung den Zusammenhang mit den musikalischen Faktoren zu erfahren. Das geschieht vorzugsweise über die Stimme, entweder durch den Unterrichtenden oder die Studierenden selbst. Mit der Stimme, jenem Instrument, das dem Körper am nächsten ist, kann am adäquatesten muskuläre Spannungsveränderung in veränderter Dynamik, Rhythmisierung und Tonhöhe wiedergegeben werden, wobei mit dem Hörbaren unmittelbar der Ausdruckswert einer Bewegung deutlich wird. Aber auch in der körperbildnerischen Arbeit ohne Musik wird immer wieder der Ausdruck einer Bewegung betrachtet. Somit wird hier gleichsam der Keim zur Bewegungs- und Tanzgestaltung gelegt. In dieser Bewegungsarbeit wird der Mensch ständig in seiner psychophysischen Totalität angesprochen. Chladek war es wichtig, nicht nur einen optimal funktionierenden Körper des Tänzers zu entwickeln, sondern ebenso schöpferische Kräfte freizulegen. 3 Hier war im Gestaltungsunterricht zunächst die Musikinterpretation ein zentrales Anliegen. Musik verschiedener Epochen sollte dazu dienen, das Bewegungsvokabular und die Ausdrucksmöglichkeiten im Schüler zu erweitern. Aber auch Dichtung, Malerei, jegliche Materialien sowie eigenes Erleben konnten Inspiration für eine Gestaltung sein, wobei auch hier das Neuschaffen und nicht die Wiederholung eines bereits absolvierten Ablaufs als oberstes Gebot galt. Von den 70 Jahren ihres pädagogischen Wirkens unterrichtete Chladek über 50 Jahre in leitender Position an Ausbildungsinstitutionen für Tänzer und Tanzpädagogen. Nach ihrer Emeritierung als Hochschulprofessorin tat sich ihr ein neues Tätigkeitsfeld auf: Sie leitete über 20 Jahre ein berufsbegleitendes Studium ihres Systems, eine Studienmöglichkeit, die von Teilnehmern ihrer Gastkurse in verschiedenen Ländern, errichtet worden war. Das Besondere dieses Studiums war, dass hier neue Berufsgruppen (Lehrer, Therapeuten, Rhythmiker, Kunst- und Musikerzieher und viele andere) zusammenkamen, die aus unterschiedlichen Gründen am ChladekSystem interessiert waren: Entweder sollte das System in den eigenen

3

Vgl. dazu die Aufsätze Chladeks (1935: 21-23; 1959: 39 sowie 1964: 28), abgedruckt in Radrizzani 2003.

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Tätigkeitsbereich integriert werden oder ‚nur‘ der Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit dienen. Auch in der Allgemeinerziehung sowie für verschiedene künstlerische Berufe hat die Chladek-Pädagogik als Basis ihre vielseitige Anwendbarkeit unter Beweis gestellt. Da der Mensch hier in seiner psychophysischen Totalität erfasst wird, ist die Möglichkeit für Veränderung und Entfaltung in ganzheitlicher Weise gegeben. Durch die intensive Arbeit im Spüren, Hören und Sehen bei Eigen- und Fremdbeobachtung wird der erlebte Bezug zum eigenen Körper und zur eigenen Person auf die Umwelt erweitert. Auch wird immer wieder festgestellt, dass diese Art der tänzerischen Erziehung therapeutische Wirkung hat, ohne eigentlich Therapie zu sein. Der durch die Beschäftigung mit dem Chladek-System in Gang gesetzte Veränderungsprozess führt zu einer Entfaltung und Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten, die als Bereicherung der eigenen Persönlichkeit angesehen werden. Mit der gleichzeitig sich entwickelnden höheren Sensibilität bedarf es für den künstlerischen Schaffensprozess weiterer Qualitäten, denn zu differenzieren erfordert Geduld, sich zu äußern und zu gestalten Mut. Dem inneren Erleben äußere Gestalt geben, dem Eindruck Ausdruck verleihen war einer der Kernsätze Chladeks, und sie regte ihre Studenten immer wieder an, sich mit jeder Art von Kunst zu befassen, darüber hinaus aber auch sehr wach und bewusst wahrzunehmen, was im täglichen Leben in unserer Umwelt und Welt geschieht. Nicht nachschaffen, sondern neuschaffen, nicht zusammensetzen, sondern entwickeln war ein weiteres Diktum Chladeks. So waren auch ihre Unterrichtsstunden jeweils neu erschaffene Unterrichtseinheiten, die vom Studenten ein waches Mitgehen, große Reaktionsfähigkeit und Flexibilität nicht nur physischer Art verlangten. Keine Stunde glich einer anderen. Obzwar erlernte Gesetzmäßigkeiten in klarer Form zu erscheinen hatten, gab es keine Wiederholungen, denn der Weg, den Chladek zu diesen durch genau definierte Prinzipien entstandenen Abläufen führte, war immer wieder ein anderer. Der Student sollte jede Bewegung immer wieder neu erleben, als würde er sie zum ersten Mal erfahren und durchführen, wodurch gleichzeitig große Präsenz gefordert und entwickelt wurde. Somit hat Chladek dem werdenden Tanzpädagogen äußerste Klarheit, große Flexibilität und Variabilität in der Art des Unterrichtens vorgelebt

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und ihm mit ihrem System objektivierte Mittel in die Hand gegeben, so dass er aufgrund der Dynamik seiner eigenen Persönlichkeit – unabhängig vom Vorbild – einen selbständigen Weg finden kann. Der Tänzer profitiert von dieser Pädagogik insofern, als er ebenfalls zu einer Selbständigkeit geführt wird sowie zu der Möglichkeit, sich jegliche technische Differenzierung an seinem Körper und in seiner Bewegungsweise aufgrund der Kenntnis der Gesetzmäßigkeit körperlicher Bewegung erarbeiten zu können. Darüber hinaus erfährt er nicht nur den physischen Teil des Tänzerberufs, sondern lernt Möglichkeiten kennen, die ihm den Weg zu einem schöpferischen Tänzer oder Choreographen zeigen. Allgemein kann gesagt werden, dass die Lehrweise Chladek einen äußerst umfangreichen Anwendungsbereich findet. Beginnend bei Kindern aus Vorschule und Schule, ist sie auf breiter Basis einsetzbar. So spricht sie Menschen jeglicher Altersstufen und verschiedener Berufsgruppen an, um schließlich in einer professionellen Tanzausbildung für das breite Spektrum von gesetzmäßiger Bewegung bis zu kreativer Arbeit eingesetzt zu werden. Wie kam es nun zur Schaffung dieses Systems und der Arbeitsweise in Rosalia Chladeks pädagogischem Wirken?

R OSALIA C HLADEK : T ÄNZERIN , C HOREOGRAPHIN , P ÄDAGOGIN Rosalia Chladek wurde am 21.5.1905 in Brünn geboren. Ihre Familie war deutschsprachig und sie erlebte zusammen mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder eine behütete Kindheit. Der Vater war Lederfabrikant, und in jenen ersten Jahren ereignete sich nichts Spektakuläres. Erst als sie als Jugendliche in einem Turnverein bei Wettbewerben jeweils erste Preise erhielt und nach dem Besuch des Rhythmikunterrichts bei Margarete Kallab, einer Dalcroze-Absolventin, wurde allmählich deutlich, wohin ihr Weg führen würde. Rosalia ertrotzte sich die Ausbildung an der Neuen Schule Hellerau, Schule für Rhythmus, Musik und Körperbildung von 1921 bis 1924 in Hellerau bei Dresden. Hier waren die Lehrenden Christine Baer-Frissell für Rhythmik, Ernst Ferand für Musiktheorie und Valeria Kratina für Tanz, alle Dalcroze-Absolventen. Wichtig wurde auch Jarmila Kröschlová, die

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sowohl eine Dalcroze-Ausbildung wie eine Mensendieck-Ausbildung genossen hatte. Das waren jene Jahre, in denen die Schule zwar noch in der Nachfolge Dalcrozes stand, aber schon ansetzte, eigene Wege zu beschreiten. Ernst Ferand schrieb damals zu den neuen Lehrabsichten: „Wir arbeiten in Hellerau daran, auf der Grundlage, die Jaques-Dalcroze geschaffen hat, weiterzubauen. Seine Grundideen haben sich bewährt, blieben aber in ihrer Ausgestaltung nicht frei von Einseitigkeiten und Übertreibungen. Wir trachten danach, die Einseitigkeit, die sich aus einer ausschließlichen Abhängigkeit der Körperrhythmik und -bewegung von der Musik ergibt, zu vermeiden, indem wir an zwei Punkten zugleich ansetzen: an dem musikalischen Empfinden und dem Körpergefühl.“ (Ernst Ferand-Freud: „Rhythmische Gymnastik und Körperbildung“, zitiert nach Rosalia Chladek 1992: 54)4

In dieser Zeit kam Rosalia Chladek als 16-jährige zum Studium nach Hellerau, welches sie 1924 mit Zeugnis abschloss. Im selben Jahr debütierte sie in Dresden mit einem Soloprogramm und bereits 1925 wurde sie auch in den Lehrkörper aufgenommen. Eine wichtige Persönlichkeit in diesem Lehrerteam war Valeria Kratina. Durch sie war es zur Gründung einer Tanzgruppe gekommen, ein Augangspunkt für die Entwicklung Rosalia Chladeks zur Tänzerin und Choreographin. 1925 übersiedelte die Schule Hellerau aufgrund eines Angebotes Österreichs in das Alte Schloss Laxenburg bei Wien, und seitdem wurde die Schule unter dem Namen „Hellerau-Laxenburg“ bis 1939 weitergeführt. Rosalia Chladek war dort seit 1930 die Leiterin der Gymnastik- und Tanzausbildung, nachdem sie in den Jahren 1928 bis 1930 am Konservatorium in Basel pädagogisch und am dortigen Stadttheater künstlerisch gewirkt hatte. Hier hatte die erst 23-jährige bemerkenswerte Choreographien wie Strawinskis Petruschka, Die Geschichte vom Soldaten, Pulcinella, Glucks Don Juan u.a. geschaffen. „Eine Künstlerin von überragenden Qualitäten“, urteilte damals die Basler Presse (15.5.1929). Auch zahlreiche Soloabende wurden in diesen Jahren bestritten.

4

Siehe Chladek in Oberzaucher-Schüller (Hg.) 1992: 35-70.

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Bereits im Sommerkurs 1930 begann Rosalia Chladek ihre Tätigkeit in Laxenburg, die bis 1938 währen sollte. Hier erweiterte sie ihr Solorepertoire und schuf Choreographien für die Tanzgruppe, wobei der 2. Preis beim ersten Choreographen-Wettbewerb 1932 in Paris nach Kurt Jooss’ Grünem Tisch für Chladek und die Gruppe Hellerau-Laxenburg einen Höhepunkt bedeutete. Im Jahr darauf 1933 errang Chladek ebenfalls den 2. Preis beim Solo-Wettbewerb in Warschau. Bemerkenswert sind auch die Choreographien mit der Hellerau-Laxenburger Tanzgruppe und später mit der Tanzgruppe des Konservatoriums der Stadt Wien bei den Klassischen griechischen Festspielen in Italien (Syrakus, Pästum, Ostia, Acrae, Catania, Vicenza) in den Jahren 1933, 1936, 1938, 1939 und nach Kriegsende 1948, 1949, 1950, 1952. Für diese Tätigkeit wurde ihr im Jahr 1990 vom Istituto nazionale del Dramma antico der Eschilo d’Oro verliehen, eine Auszeichnung, die erstmalig an eine Choreographin der Klassischen Festspiele in Italien verliehen wurde. Neben der künstlerischen Tätigkeit stand das pädagogische Wirken der Schule im Mittelpunkt. Wir haben gesehen, welche Einflüsse Chladek durch ihre Lehrer im Hellerauer Studium gehabt hat. Sicherlich war Jarmila Kröschlová durch ihre Mensendieck-Schulung von besonderer Bedeutung gewesen. Rosalia Chladek (1992) schreibt später über Jarmila Kröschlovà: „Sie beeindruckte mich mit ihrem planmäßigen Unterricht und veranlasste mich, bewusster die Zusammenhänge zwischen rein körperlicher und seelischer Bewegtheit wahrzunehmen. Damit wurde vielleicht der Keim für die Schaffung meiner erst sehr viel später entstandenen Lehrweise der tänzerischen Erziehung gelegt.“ (Rosalia Chladek 1992: 62) 5

In den Jahren 1925 bis 1928 waren bereits Aufzeichnungen bezüglich einer Systematik zur Körperbildung von Rosalia Chladek in Zusammenarbeit mit Marianne Pontan, einer Kollegin aus der Hellerau Schule, gemacht worden. Pontan verließ 1930 Laxenburg und eröffnete später Schulen in Paris und Mexiko. Ihre Stelle übernahm nun Rosalia Chladek an der Schule HellerauLaxenburg, und im Laufe ihrer Tätigkeit in Laxenburg in den 1930er Jahren

5

Siehe Chladek in Oberzaucher-Schüller (Hg.) 1992: 35-70.

D AS S YSTEM UND

DIE

L EHRWEISE VON ROSALIA CHLADEK | 149

kam es schließlich zur Vollendung dessen, was wir heute als das ChladekSystem kennen. Abbildung 2: Rosalia Chladek in „Furiant“ (1936)

Foto © IGRC-Archiv Wien; MUK.Wien & Theatermuseum Wien.

Nach ihrem Weggang von Laxenburg im Jahre 1938 (ein Jahr später wurde die Schule offiziell geschlossen) unternahm Chladek 1939 eine Tournee mit Alexander von Swaine durch Indonesien. 1940 gelang Chladek die überaus positiv besprochene erste Opernregie von Glucks Orpheus und Eurydike an der Wiener Staatsoper. 1940 bis 1941 verpflichtete Hanns NiedeckenGebhard Chladek als Choreographin und Solotänzerin an die Deutsche Tanzbühne sowie als Leiterin der Modernen Tanzausbildung an die Deutschen Meisterstätten des Tanzes in Berlin. Von 1942 bis 1952 war Chladek Vorstand der Ausbildung ,,Tanz für Bühne und Lehrfach“ am Konservatorium der Stadt Wien; danach – von 1952 bis 1970 – leitete sie die Tanzabteilung an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst Wien; danach an der nunmehrigen Hochschule ihren Lehrgang für Tänzerische Erziehung im Chladek-System bis 1977. 1972 wurde von Teilnehmern ihrer europaweit gehaltenen Gastkurse die Internationale Gesellschaft Rosalia Chladek (IGRC) gegründet. Es gibt Arbeitsgemeinschaften in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Italien und Frankreich. Die IGRC setzt das von Chladek begonnene berufsbegleitende Studium im Chladek-System auch heute noch fort.

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Neben der pädagogischen Tätigkeit schuf Chladek ein immenses Oeuvre: über 70 Sologestaltungen, 43 Gruppenchoreographien, 29 Choreographien für Theater, Oper und Operette, 7 Choreographien in Film und Fernsehen und 23 Choreographien bei den Klassischen Festspielen in Italien. Hier zeigt sich eine weite Bandbreite an Ausdrucksgestaltung.6 Leider lebte Chladek in einer Zeit, da technische Mittel wie Film und Video noch nicht so leicht zur Verfügung standen. Glücklicherweise hat Chladek im Zuge des allgemein zunehmenden Interesses an der Geschichte und Entwicklung des Ausdruckstanzes einige ihrer Tanzgestaltungen aus den Jahren 1923 bis 1951 in den 1980er Jahren auf junge Tänzerinnen übertragen, u.a. zwei der großen Frauengestalten Jeanne d’Arc auf Marialuise Jaska und die Kameliendame auf Elisabeth Stelzer, beides fast halbstündige Werke, sowie die Engelgestalten Luzifer und Michael und den Narziss, die sie auf Männer übertragen hat, erstere auf Harmen Tromp, den Narziss auf Ismael Ivo. In all diesen Werken wird der enge sensible Zusammenhang zwischen Musik und Bewegung sichtbar. Und hier manifestiert sich die direkte Weiterführung bzw. Weiterentwicklung der Dalcrozeʼschen Ideen, fundiert durch die differenzierte Befassung mit dem Körper auf Grund der Gesetzmäßigkeit von Bewegung. Chladek unterrichtete vollumfänglich bis zu ihrem 90. Lebensjahr im Jahre 1995. Noch in diesem hohen Alter vermochte Rosalia Chladek auch den jungen Generationen wertvolle Impulse und Denkanstöße für ihre persönliche und künstlerische Entwicklung zu geben. Das heutige Dozentinnen-Team, das aus direkten Schülerinnen und bereits Enkelschülerinnen Chladeks besteht, sieht seine Aufgabe in der Weiterführung des Systems und der Lehrweise Chladek, deren Fundament einerseits auf objektiven Fakten gesetzmäßiger Bewegung basiert und andererseits der Vielfalt und Dynamik der schöpferischen Möglichkeiten gemäß der individuellen Persönlichkeit der Lehrenden offenen Raum gibt. Wir sind uns der Besonderheit des tanzpädagogischen Werkes, das Rosalia Chladek geschaffen und uns hinterlassen hat, bewusst.

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Siehe dazu im Einzelnen das Werkverzeichnis in Oberzaucher/Giel 2002: 160171.

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E VA L AJKO

D IE GEGENWÄRTIGE W EITERGABE DES C HLADEK S YSTEMS UND SEINER L EHRWEISE Nach Emeritierung von Rosalia Chladek wurde auf Initiative mehrerer Proponenten aus den Ländern Holland, Deutschland und Frankreich 1972 die Internationale Gesellschaft Rosalia Chladek (IGRC), mit ihren Mitgliedern, den Arbeitsgemeinschaften Rosalia Chladek – kurz ARC‘s – gegründet, die derzeit in den Ländern Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien und Frankreich aktiv sind. Rosalia Chladek war von 1972 bis zu ihrem Tode 1995 Präsidentin der IGRC und hat mit der IGRC als Trägerin das Ergänzungsstudium zur Vermittlung ihrer Lehrweise und ihres Systems ins Leben gerufen. Das Ergänzungsstudium wurde von 1972 bis 1993 in Straßburg geführt und siedelte 1994 nach Wien über. Nach dem Tod von Rosalia Chladek 1995 übernahm Ingrid Giel die Präsidentschaft und die Leitung der Ausbildung, welche sie 2009 an mich übergab. In dieser Zeit änderten wir das Ergänzungsstudium zur Berufsbegleitenden Ausbildung in Bewegungs- und Tanzpädagogik im Chladek-System mit einigen curricularen und strukturellen Anpassungen. Da ich selbst von 1992 bis 1996 das Ergänzungsstudium im ChladekSystem in Straßburg und Wien absolviert hatte, bevor ich die Vollausbildung zur Tanzpädagogin am Konservatorium in Wien anschloss (1996 bis 1999), konnte ich Rosalia Chladek noch als Lehrerin erleben (1992 bis 1995). Am Wiener Konservatorium wurde ich sowohl von Meisterschülerinnen Chladeks, d.h. von Dozentinnen der ersten Schülergeneration unterrichtet als auch von Dozentinnen der Nachfolgegeneration. Dadurch habe ich sowohl die traditionelle Lehrweise von Rosalia Chladek als auch die Weiterentwicklung der Lehrweise am Konservatorium Wien erleben können, welche meinen beruflichen Werdegang stark geprägt haben. Als pädagogische Leiterin der Berufsbegleitenden Ausbildung der IGRC war ich seit 2009 an den weiteren Revisionen der Struktur und des Lehrplans für die Ausbildung beteiligt.

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Rosalia Chladeks Unterricht In der Rückerinnerung an den Unterricht bei Rosalia Chladek im Vergleich zur heutigen Ausbildung ist vor allem hervorzuheben, dass Chladek uns manchmal über sehr lange Zeiträume an einem Thema forschen und entdecken ließ, wie wir es heutzutage kaum mehr tun. Durch ihre Persönlichkeit hatte sie es dennoch geschafft, die Konzentration und Spannung der Schülerinnen und Schüler wach zu halten. Ihr Unterricht war immer spannend und fordernd, da sie mit immer neuen Herangehensweisen die Bewegungen im Körper „provozierte“ und uns dabei sowohl mental als auch körperlich forderte. Aus dem Spannungsfeld der historischen Genese, der personengebundenen Verwurzelung und Vermittlung einerseits und der zeitgemäßen Weiterentwicklung hat sich in der IGRC folgendes Ausbildungsprofil entwickelt, das die Struktur der Lehre bis heute bestimmt. Profil der heutigen Ausbildung im Chladek-System Die Zielsetzungen und die Bereiche, in welchen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgebildet und geschult werden, sind hier zunächst in Stichworten näher dargelegt. Leitziele der berufsbegleitenden IGRC-Ausbildung sind: • • • • • • • • • • • •

Bewusstes Erfahren der fundamentalen Gesetzmäßigkeiten der Bewegung Entwickeln von Körpergefühl und Bewegungsbewusstsein Differenzierung der Bewegungsqualitäten im Spannungsspiel des Körpers Spüren und Zeigen einer Klarheit in Bewegungsansätzen Erwerb eines fundierten Wissens über Bewegungszusammenhänge Schulung der Beobachtungsfähigkeit und Fähigkeit zur Bewegungsanalyse Kennenlernen pädagogischer Leitlinien zum Bewegungs- und Tanzunterricht Erlernen der Fähigkeit, in der spezifischen Lehrweise Chladek zu unterrichten Kennenlernen der Wechselbeziehung von Musik und Bewegung Entwicklung künstlerischer Sensibilität und individueller Ausdrucksfähigkeit Hinführen zu eigener Tanzgestaltung (mit und ohne Musik) Kennenlernen und Anwenden von Leitlinien für das choreographische Arbeiten.

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Das Erlernen dieser Themeninhalte erfolgt nach wie vor größtenteils über eine induktive Lehrmethode, wie es für die Lehrweise nach Chladek charakteristisch ist. Durch geeignete Aufgaben- und Fragestellungen lenken die Lehrenden die Studierenden dahin, Erkenntnisse und Bewegungszusammenhänge selbst zu erkennen und herauszufinden. Charakteristisch ist eine forschende Vorgehensweise, die vom griechischen Philosophen Sokrates als „Mäeutik“7 bezeichnet wurde. So werden im Unterricht folgende Mittel genutzt: • • • •



die sinnliche Erfahrung der Bewegung (spüren, hören, sehen) die Bewegungsanalyse durch Reflexion das Verbalisieren und Zeichnen der Bewegung (intermedialer Transfer) die musikalische Erfahrung der Bewegung über den Einsatz der Stimme, oder im weiteren Verlauf auch über die Verbindung von Musik und Bewegung die kreativ-tänzerische Erfahrung der Bewegungsprinzipien.

Struktur der IGRC-Tanzpädagogik-Ausbildung Die berufsbegleitende Aus- bzw. Weiterbildung im Chladek-System ist gegenwärtig in drei Studienabschnitte mit jeweils zwei Jahren aufgeteilt. 8 Mit dem 1. Studienabschnitt schließen die Studierenden als Praktizierende ab, mit dem 2. Studienabschnitt als Bewegungspädagoge/-in und mit dem

7

Mit dem metaphorischen Begriff der „Mäeutik“ („Hebammenkunst“) wird ein dialogisches Lehrverfahren bezeichnet, welches dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben wurde. Dieser hatte nämlich das Lehren mit der Tätigkeit einer Hebamme verglichen. Gemeint ist damit, dass man einer Person zu einer Erkenntnis verhilft, indem man sie durch geeignete Fragen dazu veranlasst, den betreffenden Sachverhalt selbst herauszufinden. So wird die Einsicht mit Hilfe der Hebamme bzw. eines Lernhelfers geboren, der Lernende ist der Gebärende. Der Gegensatz dazu wäre ein Unterricht, in dem der Lehrer den Schülern den Stoff dozierend vermittelt.

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Siehe auch www.rosalia-chladek.com mit der detaillierten Darstellung der aktuellen Ausbildungsmöglichkeiten.

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3. Studienabschnitt als Tanzpädagoge bzw. Tanzpädagogin im ChladekSystem. Die Studienabschnitte vermitteln die Praxis und Theorie des ChladekSystems in aufbauender Weise, die gestalterische Arbeit reicht von der Motiventwicklung bis zur Solo- und Gruppengestaltung. Ferner wird das methodische Handwerk hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung erworben und es werden darüber hinaus Grundlagen der Anatomie und der Tanzgeschichte vermittelt. Die Ausbildungsfächer, in denen die zentralen Inhalte des ChladekSystems und der Lehrweise unterrichtet werden, sind im Einzelnen: Körperbildung/Tanztechnik: Vermittlung und Erforschung der Prinzipien des Chladek-Systems (Bewegungsansätze, Körperverhalten, Gewichtsverlagerung). Theorie: Analyse der Bewegungszusammenhänge und Prinzipien des Chladek-Systems. Bewegungslehre: Der Tänzer im Bezug zum Raum, Partner, Gruppe, die Bewegung im Raum. Bewegungsgestaltung/ Tanzkomposition: Improvisation, Vermittlung gestalterischer Grundprinzipien und choreographisches Handwerk. Rhythmik: Erfassung und Bewusstmachung musikalischer Prinzipien in der Bewegung. Bewegungsbegleitung: Vermittlung der adäquaten stimmlichen Begleitung von Bewegung. Methodik: Methodisch-didaktische Grundprinzipien, pädagogischer Leitfaden, Vermittlung der Lehrweise Chladek. Anatomie: Grundsätzliches Verständnis des Bewegungsapparates. Bewegungslernen: Neurologische und psychomotorische Grundlagen des Lernens von Bewegung. Tanzgeschichte: Historische Kontexte und ausgewählte Tänzerpersönlichkeiten des Modernen Tanzes.

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Zum Wandel des IGRC-Ausbildungskonzeptes Wenngleich die Chladek-Dozentinnen der Vermittlungsstrategie von Rosalia Chladek grundsätzlich treu geblieben sind, gab es dennoch inzwischen einige Veränderungen und Anpassungen, die dem heutigen Zeitgeist und stärker dem aktuellen tanzdidaktischen Unterrichtshandeln entsprechen. Durch die Berücksichtigung und den Einbezug neuerer tanzmedizinischer und trainingswissenschaftlicher Erkenntnisse hat sich zudem der Unterricht in folgender Weise erweitert: •







Es fließen heute gezielt Übungen zur Dehnung oder Kräftigung der Muskulatur bzw. zum Ausgleich muskulärer Dysbalancen in den Unterricht ein, um die funktionellen Voraussetzungen zu entwickeln, die für eine Bewegungsausführung notwendig sind. Chladek selbst hatte derartige zusätzliche „gymnastische Bewegungsübungen“, die ausschließlich der Kräftigung und Dehnung dienten, eher abgelehnt. Neben der explorativ-erforschenden Arbeit und dem kreativ-improvisatorischen Anwenden von Bewegungsprinzipien kommen im Tanzunterricht verstärkt tänzerische Bewegungssequenzen zur Anwendung, die aus koordinativen Grundmustern oder Fertigkeiten bestehen. Diese haben den Zweck, den Wechsel verschiedener Körperverhalten, der Verlagerung des Schwerpunktes oder den Wechsel von Bewegungsansätzen in der Gesamtkörperkoordination zu üben. Es wird nicht mehr so lange – wie es bei Chladek üblich war – an einem Bewegungsthema forschend gearbeitet, da die Gefahr besteht, dass die Bewegungsarbeit zugunsten der Erforschung und Reflexion zu statisch oder langatmig wird. Der heutige Unterricht berücksichtigt stärker die Notwendigkeit des Nervensystems nach dynamischen Wechseln, wodurch der Unterricht insgesamt vielseitiger und abwechslungsreicher geworden ist. Das Spektrum der methodischen Maßnahmen und Hilfen hat sich ebenfalls erweitert. Im Lernprozess wird zum Aufbau einer Bewegungsvorstellung oder zur analytischen Klärung und Verbesserung des Bewegungsverständnisses heute bei gegebenem Anlass durchaus auch eine Visualisierung, z.B. durch entsprechendes Vormachen, und ein mimetisches Nachvollziehen einbezogen. Diese Methode kommt allerdings

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meist erst in höheren Zyklen zum Tragen, wenn von den Studierenden ein Thema schon selbst erforschend erarbeitet wurde. Im Unterricht erfolgt mittlerweile die Instruktion und Bewegungsbegleitung nicht mehr ausschließlich stimmlich, sondern ggf. auch mit adäquater musikalischer Begleitung. Und nicht zuletzt wurde im zweiten Studienabschnitt der Kanon der Unterrichtsfächer um das Fach Methodik erweitert. Dabei werden den Studierenden die charakteristischen Besonderheiten der ChladekMethode, die in der verbalen Vermittlung und in der stimmlichen Begleitung liegen sowie die Grundsätze zum didaktischen Aufbau einer Unterrichtsstunde bewusstgemacht. Dabei werden diese Vermittlungsformen auch praktisch geübt. Gerade durch die stimmliche Begleitung und die Bewusstmachung der Grundsätze für die verbale Vermittlung geben den Studierenden umgekehrt wiederum auch eine Erweiterung der eigenen Bewegungserfahrung, -erkenntnis und -qualität.

Ausblick in die Zukunft Das Lehrteam der IGRC ist bestrebt, das tanzpädagogische Ausbildungsund Fortbildungsprogramm, das sowohl in Österreich, als auch in der Schweiz und in Deutschland angeboten wird, weiter zu optimieren. Darüber hinaus gibt es Überlegungen zu einer Revision des bestehenden Ausbildungskonzepts, um nicht nur neuere didaktische Strömungen und das gewandelte professionelle Leitbild von Tanzpädagoginnen und Tanzpädagogen aufzugreifen, sondern um es vor allem auch an die geänderten Bedürfnisse der Interessentinnen oder Interessenten anzupassen, und an deren organisatorischen und zeitlichen Möglichkeiten. Ferner setzt sich das Lehrteam intensiv mit der Frage auseinander, wie dieses wertvolle System mit seinem immanenten Körperwissen und mit seinen Wirkpotenzialen noch mehr verbreitet und in das Bewusstsein der künstlerisch-pädagogischen Fachwelt kommen könnte. Die Verantwortlichen sind auf der Suche nach neuen Vermittlungsformaten, um insgesamt stärker im „kulturellen Gedächtnis“ des Tanzes und in der Gesellschaft präsent zu bleiben und damit die Erhaltung des Systems zu fördern.

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Bislang existiert zum Chladek-System kein umfassendes Lehrbuch mit entsprechenden AV-Medien.9 Rosalia Chladek hatte es immer abgelehnt, selbst ein solches Lehrbuch zu verfassen, da sie darin eine Aufgabe sah, die sie ihrer Nachwelt überlassen wollte. Vor allem aber fürchtete sie die Gefahr, dass ihr System verflachen würde, falls es ausschließlich aus einem Buch übernommen und kopiert werden würde. Grundsätzlich kann man in der Tat kein Bewegungssystem ausschließlich über ein Lehrbuch erlernen, denn die eigentliche Essenz der Arbeit liegt immer im eigenen Spüren und Erfahren des Bewegungsverlaufes und seine Speicherung im „Körpergedächtnis“. Die IGRC will dem Wunsch der Studierenden nach einem adäquaten Lernmittel und Studienbuch entsprechen und ein solches Werk mit einer DVD zur Darstellung des Chladek-Systems erstellen. Aufgrund des momentan zu verzeichnenden Generationswechsels innerhalb des Kreises der Chladek-Meisterschülerinnen und -Pädagoginnen wäre eine Dokumentation des Systems und der Lehrweise zum jetzigen Zeitpunkt ein wünschenswertes und dringliches Vorhaben zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes der Tanzmoderne. Die IGRC-Verantwortlichen suchen für dieses Projekt noch nach entsprechenden Fördermitteln. Ein weiteres Vorhaben liegt in der Aufarbeitung und Weitergabe des künstlerischen Tanzerbes von Rosalia Chladek. Seit 2015 hat die Wiener Tanzforscherin Andrea Amort, die als Universitätsprofessorin an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK) tätig ist, mit der Erschließung und Beforschung des umfangreichen Nachlasses von Rosalia Chladek begonnen. Das mehrjährig angelegte Projekt ist eine Kooperation der Internationalen Gesellschaft Rosalia Chladek mit der MUK.Uni und dem Theatermuseum Wien. Neben der allgemeinen Bestandsaufnahme ist der Themenkomplex „Hellerau-Laxenburg“ einer der Forschungsschwerpunkte. 2016 wurden innerhalb der Fortbildungswoche, die jährlich in Wien stattfindet, erstmalig auf Wunsch vieler Studierenden repräsentative Beispiele des Chladekʼschen Solotanz-Repertoires von Joanna Philippopoulou gelehrt. Das wird in der Fortbildungswoche 2017 fortgeführt werden.

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Ein erstes Kompendium zur tänzerischen Körperbildung von Rosalia Chladek und ihrer Lehrweise wurde von Hans-Gerd Artus und Maud Paulissen-Kaspar 1999 verfasst.

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Angeregt von diesem Unterricht entstand die Idee, 2017 das SolotanzRepertoire von Rosalia Chladek ein weiteres Mal mit jungen Tänzerinnen einzustudieren. Dieser Übertragungsprozess soll 2017/18 von der Tanzforscherin Andrea Amort und einem Team innerhalb des MUK-Projektes filmisch und schriftlich dokumentiert werden. Der nächste Abschnitt wird die generellen Arbeitsprinzipien und die Arbeitsweise des Chladek-Systems anhand der Darstellung eines konkreten Unterrichtsbeispiels, durchgeführt im Rahmen der Tanz-Laboratorien der Kölner Fachtagung 2015, veranschaulichen und reflektieren.

URSULA S CHEBRAK -C ARCICH

D AS K ÖLNER T ANZ -L ABORATORIUM : E INFÜHRUNG IN DIE C HLADEK -T ECHNIK Zu Beginn des Tanz-Laboratoriums werden von der Dozentin die Grundprinzipien der Chladek-Technik skizziert, welche dann auch den Schwerpunkt der praktischen Lektion bilden werden. Die exemplarischen inhaltlichen Themenkomplexe und Aufgaben, die für die Praxis des Tanz-Laboratoriums geplant waren, verdeutlichen und illustrieren den Ansatz der Chladek-Technik und die wesentlichen methodischen Arbeitsformen. Die Intention dieser Lektion war, den teilnehmenden Multiplikatoren, Tanzpädagogen und Studierenden einen ersten Einblick in die Spezifika der Chladek-Technik zu geben. Zur Einführung: Zusammenfassung der Grundprinzipien, Arbeitsweisen und Grundthemen der Chladek-Technik a. Die Spannungsdifferenzierung Die stärkste Komponente für Bewegungsfluss, Bewegungsdynamik und Ausdruck im Tanz liegt in der Regulation und im bewussten Einsatz muskulärer Körperspannung. In der Chladek-Technik wird dieser grundlegenden Erkenntnis in besonderem Maße Rechnung getragen. Die differenzierte Wahrnehmung von muskulären Spannungsverhältnissen im Körper und

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ihre Modulation ist ein essentieller Bestandteil ihrer Methode und wird in der Körperbildung in mannigfacher Weise thematisiert. b. Die drei Prinzipien Die drei grundlegenden Prinzipien der Chladek-Technik beziehen sich auf folgende Aspekte: • • •

Schwerpunkt/Gewichtsverlagerung (7 Raumebenen10, Raumrichtungen) Bewegungsansatz: zentral – peripher Körperverhalten: aktiv – passiv normal beeinflussbar – unbeeinflussbar

Ein wesentlicher Aspekt ist dabei, dass es in der Chladek-Technik keinen fixen Übungskanon gibt, sondern Themenbereiche, die je nach Zielgruppe (Alter, Profis, Freizeit-Amateure etc.) und inhaltlichem Schwerpunkt im Unterricht auf unterschiedliche Weise aufbereitet werden können. c. Methodik In der Gestaltung des Vermittlungsprozesses gibt es verschiedene Zugänge und Arbeitsschwerpunkte: • • •

Erspüren über die Sinneswahrnehmung (visuell, akustisch, taktil, kinästhetisch) Erforschen der anatomischen Zusammenhänge in der Bewegungsanalyse Freies Experimentieren mit den jeweiligen Themen

Aufbauend darauf kommt es zur Verarbeitung der Technik im Tanztraining, in Tanzsequenzen, in der Tanzimprovisation und Tanzgestaltung. Damit

10 Die 7 Raumebenen sind: Bodenlage, Sitz, Kniestand, halbe Schwerpunktsenkung, Stand, Erhebung, Sprung.

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ergibt sich ein wechselseitiger Lernprozess, der zumeist in folgende Aktionsschritte gegliedert ist: • • •

Erspüren – Erforschen – Experimentieren Üben von Fertigkeiten Formen und Gestalten

Mit diesem wechselseitigen Lernprozess befinden wir uns mitten in den Vermittlungsmethoden des Zeitgenössischen Tanzes und damit hat das Erbe der Chladek-Technik seinen Platz gefunden. d. Grundthemen der Chladek-Tanztechnik: Die wesentlichen Grundthemen der Chladek-Tanztechnik sind im Folgenden zusammengefasst: 1. Körperschwerpunkt / Gewichtsverlagerung (7 Raumebenen 11, Raumrichtungen) 2. Spannungsskala 3. Periphere Bewegung (Kopfbewegung, Armführung, Bein- bzw. Fußtechnik) 4. Zentrale Bewegung 5. Bewegungsansätze (zentral – peripher) 6. Körperverhalten (beeinflussbar – unbeeinflussbar) 7. Schwünge und schwunghafte Bewegungen 8. Fortbewegung (Gang, Lauf) 9. Kreisen / Drehungen 10. Federungen und Sprünge

In der praktischen Arbeit des Tanz-Laboratoriums wurden nach diesem skizzenhaften Überblick nun Ausschnitte aus der Chladek-Technik vorgestellt. Die Inhaltsschwerpunkte und Arbeitsformen der geplanten Lektion werden im folgenden Abschnitt skizziert. Die Darstellung und der Aufbau der Aufgaben orientieren sich dabei nicht an einer bestimmten Zielgruppe oder am Anspruch einer professionellen Tanzausbildung.

11 Siehe dazu Anmerkung 10.

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Praxis mit beispielhaften Themen, Aufgabenstellungen und Arbeitsweisen 1. Teil: Spannungsdifferenzierung in der freien Bewegung Hinführung zu Improvisationen, welche den Aspekt der Spannungsdifferenzierung in der freien Bewegung erfahrbar machen. Ferner soll eine Sensibilisierung der Kursteilnehmer in Bezug auf Raum und Gruppe erreicht werden. Die Schulung der Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit ist als eine zentrale Basiskomponente des Freien Tanzes zu verstehen. Aufgaben zum Einstieg: • • •

Gehen im Raum in freien Wegen, mit bewusster Wahrnehmung des Raumes und der Gruppe. Im Wechsel mit Stehenbleiben, dabei Augen schließen und öffnen oder sich vom Raum zurückziehen und wieder auftauchen. Dann aus dem Gehen in freien Haltungen zur Ruhe kommen, auch zwischen hohen, mittleren und tiefen Raumebenen wechseln und sich dabei die Haltespannung bewusst machen.

Explorationsphase: •





Lösen und Fallen-Lassen eines Armes, Beines, des Kopfes oder des Rumpfes, dabei den Impuls dieser Bewegung in einem kurzen Bewegungsfluss aufnehmen und weiter zum Gehen kommen. Im Anhalten Kontakt mit Partner aufnehmen, indem Körperteile sich berühren und anschließend gemeinsam gelöst werden. Der lösende bzw. fallende Körperteil führt in den Bewegungsfluss, zum Gehen oder Lauf. Zunehmender Einbezug der Bodenebene (z.B. Hand- und Fuß Unterstützung, Sitz, Bodenlage). Dabei wird auf einen passiven lockeren Bewegungsfluss geachtet, auch mit geschlossenen Augen. Die Dimensionen von Aktivität und Passivität in den tieferen Ebenen wahrnehmen, dann bis zur Ruhe kommen und spüren der Unterstützungsflächen sowie des Eigengewichts des Körpers (Schwerkraft).

Musik: Ernst Reijseger: The Cave of Forgotten Dreams Nr. 3

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Reflexionsphase mit den Kursteilnehmern: Was war das große Thema dieser Einstiegsimprovisation? • •

Wahrnehmung (Sehen/ Hören/ Spüren) Spannungswechsel im Anhalten, Lösen bzw. Fallen: Differenzierung der Dynamik und des Bewegungsflusses bis hin zur zunehmenden Passivität am Boden.

2. Teil: Grundlagen der Chladek-Technik I. Prinzip: Schwerpunkt / Gewichtsverlagerung: Ausgleich zwischen Eigenenergie und Schwerkraft im aufrechten Stand: • •



Bewusstes Spüren der Aufrichtung, sowie des Quer- und Längsgewölbes des Fußes und der Fußbelastungspunkte. Bewegungsmotiv: 2x halbe Schwerpunktsenkung (demi plié), Spannungsaufbau mit Armheben diagonal und Gewicht vor-hoch, dann Gewicht zur Mitte und Lösen der Arme. Kopf, BWS12 und LWS abrollen in Hang über gestreckten Beinen, halbe Schwerpunktsenkung und bis zur Hocke absenken. Beinstreckung, halbe Schwerpunktsenkung und aufrollen des Rumpfes vom Becken. Über den Stand in die Erhebung (relevé) weiterführen. Diese Folge wird mit paralleler Fußposition sowie in der 1. und 2. Position ausgerollt wiederholt.

Sensibilisierung: Bewusste Wahrnehmung des Körperschwerpunkts bzw. Beckenhebung und -senkung innerhalb der Vertikalachse und in Bezug zur Raumhöhe, Kopfbzw. WS-Beckenstellung sowie Becken-Bein-Fußverbindung beim Ausführen der Bewegungsfolge.

12 HWS: Halswirbelsäule, BWS: Brustwirbelsäule, LWS: Lendenwirbelsäule.

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Anwendung in der Fortbewegung im Raum: •



Gang in zwei Ebenen: 2 Schritte tief in halber Schwerpunktsenkung / 3 Schritte in Erhebung am Platz / in der Folge die 3 hohen Schritte über vorne gedreht. Gesamtes Motiv zu 7/8 Metrum. Herausarbeiten der Schwerpunkthebung und Senkung.

Gewichtsverlagerung zwischen Stand- und Spielbein:13 • • •



• •

Wechselseitige Entlastung mit Abrollen der Füße Ballen-Ferse und Hinführen zur Becken-Schultergürtelrotation und Armpendel. Bewegungsmotiv: re vor – li rück (4x) / li vor – re rück (4x) / re – li seit (4x) / In der vor-rück-Verlagerung mit einem Gegenschwung der Arme, in der Seitverlagerung jeweils mit einem parallelem Armschwung vor dem Körper. Bewegungsmotiv: re vor mit halber Schwerpunktsenkung – li rück normal und Beinwechsel li vor (4x) / re seit mit halber Schwerpunktsenkung – li normal und Beinwechsel (4x). Achte dabei auf Spannung im Standbein und Entspannung im Spielbein. Variation: Dasselbe Motiv mit Rotation um Längsachse: Bewegungsmotiv: Aus der doppelseitigen Erhebung re Schrittübertragung in die halbe Schwerpunktsenkung seit, li Übertragung zurück in die Erhebung. Im Seitenwechsel mit Drehung in der Erhebung; die Rotation wird dabei von Becken und Brustkorb sowie dem Armschwung um die Längsachse eingeleitet.

13 Beim Kölner Tanz-Laboratorium wurde der Ablauf bezüglich Gewichtsverlagerung zwischen Stand- und Spielbein sowie zur Fuß-Beinarbeit aus Zeitgründen weggelassen.

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Fuß- und Beinarbeit (im Spannungswechsel): •





Normale Beingeste: Aus gelöstem Spielbein abdehnen, dann aktive Beingeste (battement tendu) und lösen im Schließen (vor – rück – seit). Der Spannungsverlauf ist ganzkörperlich. Achte auf Beckenreaktion und Gegenbewegung der Arme bei der Beingeste rück. Aktive Beingeste (mit seitlich gehobenen Armen): Bewegungsmotiv: 2x Ballen – Spitze, dann eine aktive Beingeste vor und aktives Schließen, zweite Beingeste mit halber Schwerpunktsenkung im Standbein, schließen zum Stand. Beingeste rück mit Drehung des Beckens und Ausrollung im Spielbein. Variation: Dasselbe seit, mit aktivem Schließen in die Erhebung aus der halben Schwerpunktsenkung. Arme lösen und absenken.

Freier Gang im Raum mit Wahrnehmung der Gehbewegung und des wechselseitigen Abdrucks sowie der Gewichtsverlagerung der Füße, des Spannungswechsels zwischen Stand- und Spielbein, der Rotation in Becken, Brustkorb und Schultergürtel bis hin zum Armpendel. II. Prinzip: Die Spannungsdifferenzierung ist immer in Bezug zur Schwerkraft zu betrachten: Bewegungsaufgaben im Sitz: •



Angebeugter Sitz, mit den Füßen am Boden: Abrollen des Rumpfes über Beckenflachstellung in Hang und Aufrollen des Rumpfes in die Vertikale. Achte auf die Verbindung zwischen Sitzknochen und Scheitelpunkt in der Aufrichtung und auf die Beweglichkeit der Wirbelsäule (Sensibilisierung). Sitz mit den Füßen aneinander: Nachlassen der Spannung entlang der Längsachse. Spüre die Durchlässigkeit von HWS, BWS, LWS sowie die Beckenflachstellung.

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Partnerarbeit: Partner A hält den Kopf von hinten in den Händen. Partner B löst die muskuläre Haltespannung und erspürt die Reaktion des Kopfes, der Wirbelsäule sowie des Beckens beim Nachlassen entlang der Längsachse.

Teilkörperliche und ganzkörperliche Aktivierung bzw. Lösung Bewegungsaufgaben in Rückenlage: • • • • • •

Lockerung und Atembeobachtung als Basis von Spannung und Entspannung. Oberschenkeldehnung doppelseitig zum Rumpf. Ausgehend von der Beinrollung im Hüftgelenk passiver Knieaufzug parallel, anschließend Innenkreis und Außenkreis (re – li). Arme aktivieren und heben in die Senkrechte. Lösen der Spannung oder Fallenlassen. Beinaktivierung und Lösung. Ganzkörperliche Aktivierung und Lösung.

III. Prinzip: Bewegungsansatz und Körperverhalten: Zentrale und periphere Beeinflussung vor – rück, Faltung um Längs- bzw. Querachse: Explorative Bewegungsaufgaben in Rückenlage, Beine im Stütz: • • • • •

Becken flach – normal – steil stellen, auch durch Zug-Schub von den Füßen. Kopf-HWS-Verbindung (kurz – normal – lang). Arme diagonal: Zug der Fingerspitzen und Reaktion Schulterblätter sowie BWS. BWS führt beim Heben und Senken der BWS. Körpermitte führt beim Heben und Senken der LWS.

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Während die peripheren Bewegungsansätze wie Handzug oder FußzugSchub eine nachzeitige Reaktion der WS zur Folge haben, zeigen die zentralen Bewegungsansätze, wie z.B. LWS oder Becken, eine gleichzeitige Reaktion. Bewegungsaufgaben (Partnerarbeit) zur Beeinflussung der Köpermitte aus der Peripherie: •





Partner A liegt in Rückenlage mit angewinkelten Beinen (Füße im Stütz). Partner B beobachtet die flache – normale – steile Stellung des Beckens und in der Folge die Reaktion der WS bis zum Kopf. Partner B fasst die Hände von Partner A und zieht dessen Arme diagonal vor. Beobachtung der Reaktion in Schultergürtel, HWS-KopfVerbindung und BWS bei der Ausführung des Armzugs. Partner A liegt in Rückenlage mit langen Beinen. Partner B bewegt durch Zug bzw. Schub die Füße von Partner A in die Beugung und Streckung. Partner A nimmt die Bewegungsimpulse über die Beine in Becken, LWS, BWS, HWS und Kopf ganzkörperlich auf. Sowohl im Ansatz von den Armen als auch von den Füßen kommend, erreicht der periphere Impuls von beiden Richtungen die Körpermitte.

Reflexion in der Gruppe: • • •

• •

Bewegungsansatz und Körperverhalten entscheiden, wie sich ein Bewegungsimpuls in der anatomischen Struktur des Körpers auswirkt. Definition Körperzentrum: Eine Handbreit über bzw. unter dem Nabel als Band um die Mitte des Rumpfes. Die in der Praxiseinheit nicht behandelte zentrale Beeinflussung wird am Beispiel des zentralen Zusammenzugs vorne in der Rückenlage demonstriert. Hinweis auf die verschiedenen Bewegungsrichtungen der Wirbelsäule. Hinweis auf Ansatzpunkt und Energie im Bewegungsimpuls.

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3. Teil: Wie kommt man mit diesem Bewegungsmaterial zur Tanzgestaltung? 14 Im dritten Teil der Lektion sollten die Themen in der Tanzimprovisation frei angewendet und zum Tanzen gebracht werden: Freie Tanzimprovisation mit Musik zum Thema: „Vom Umspielen der Körpermitte“ Von der Peripherie zur Mitte – Von der Mitte zur Peripherie… … Von Außen nach Innen – von Innen nach Außen ….und was passiert auf dem Weg von Einem ins Andere? Musik: Anja Lechner: Moderato Cantabile Nr. 3

Aufgabe zum Abschluss: Verarbeitung der Themen in der Partnerarbeit: Zu zweit aus der Improvisation Beispiele finden, welche zu den Themen passen: • • • •

Spannungsaufbau und Lösen Schwerpunkt (3 Höhen) und Gewichtsverlagerung (vor/rück/seitwärts/gedreht) Zentrale / Periphere Ansätze Körperverhalten (beeinflussbar – unbeeinflussbar)

Anschauen der Motive und Nachbesprechen in der Gruppe. Aus dem hier zusammengefassten Lektionsaufbau wird deutlich, dass im Chladek-System bei der Vermittlung der tanztechnischen Grundlagen auf eine allseitig-umfassende körperliche Ausbildung großen Wert gelegt wird. Es werden im Technikunterricht aber nicht nur die tänzerischen Bewegungsabläufe hinsichtlich der anatomischen oder biomechanischen Folge-

14 Die Tanzimprovisation konnte beim Kölner Tanz-Laboratorium aus Zeitgründen leider nicht mehr realisiert werden.

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richtigkeit untersucht, sondern es werden dabei auch raum-zeitliche und dynamische Formaspekte und psychosoziale Auswirkungen reflektiert. Die Partnerarbeit verlangt von den Akteuren Sensibilität und Einfühlungsvermögen und ermöglicht das Lernen durch Beobachtung. Im Verständnis der Lehre von Rosalia Chladek hat die Körpertechnik als solche keinen Selbstzweck, sondern sie bildet den Körper zu einem differenziertfeinsinnigen Instrument des Tanzes. Daher wird die Aufmerksamkeit aus dem Bewegungsfluss des Tanzens heraus auf einen bestimmten Fokus des Körpers gerichtet, der weiter untersucht wird. Nach einer strukturiert angeleiteten Experimentier- und Übungsphase werden die Körpererfahrungen und das Bewegungsmaterial wieder in den Tanz und in die tänzerische Bewegungsgestaltung integriert.

L ITERATUR Alexander, Gerda/Groll, Hans (1985) (Hg.): Tänzerin Choreographin Pädagogin Rosalia Chladek. Wien: OBV Pädagogischer Verlag. Artus, Hans-Gerd/Paulissen-Kaspar, Maud (1999). Tänzerische Körperbildung. Lehrweise Rosalia Chladek. Wilhelmshaven: Noetzel. Chladek, Rosalia: Von Hellerau bei Dresden nach Laxenburg bei Wien, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.) (1992). Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wilhelmshaven: Noetzel, S. 35-70. Oberzaucher-Schüller, Gunhild/Giel, Ingrid (2002): Rosalia Chladek. Klassikerin des bewegten Ausdrucks. München: Kieser. Radrizzani, René (Hg.) (2003): Rosalia Chladek. Schriften & Interviews. Wilhelmshaven: Noetzel.

INTERNET -Q UELLE www.rosalia-chladek.com (abgerufen am 20.8.2016).

Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien Einführung in die Konzepte, ihre Entwicklung und didaktische Möglichkeiten A NTJA K ENNEDY , A NJA W EBER

Wir blicken auf über 100 Jahre Historie einer lebendigen, sich im Geist von Laban und Bartenieff ständig weiterentwickelnden Lehre. Da dieses Konzept nicht nur von einer Person und an einem Ort entwickelt wurde, wird die Entwicklung des Systems und seiner Kategorien im folgenden Beitrag chronologisch gegliedert unter Nennung der Hauptakteure der Laban/ Bartenieff-Bewegungsstudien und ihrer Bedeutung vorgestellt. Diese Akteure haben im Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts ihr Wissen zusammengetragen, welches zuerst mit der Person Rudolf Laban – als Begründer der Bewegungsstudien – und später mit der Person Irmgard Bartenieff und ihren Schülern als Weiterentwicklung verbunden ist. Das entstandene europäisch-amerikanische Konzept entwickelte sich vor allem in der freien Tanzszene – ohne Anbindung an eine Institution und meist parallel zu künstlerischen Prozessen. Uns ist es wichtig, zu betonen, dass die Laban/ Bartenieff-Bewegungsstudien kein fester Codex mit einer definierten Didaktik, sondern ein sich kontinuierlich weiterentwickelndes System sind und immer waren. Laban hat dieses nicht alleine, sondern in Zusammenarbeit mit nahen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen entwickelt und die Kategorien des Systems nach und nach klarer definiert: Zunächst vor allem den Raum, später den Antrieb. Die Körper- und Phrasierungskategorie, die er in seinen Schriften bereits angesprochen hatte, wurden von seinen Schülern und

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Schülerinnen weiter ausgearbeitet (s.u.). Form und Beziehung kamen erst nach seinem Tod als 5. und 6. Kategorie des aktuellen Systems (und sich weiterhin entwickelnden Systems) hinzu. 1 Die Kategorien und Elemente dieses Systems können von jedem individuellen Körper auf eigene Weise in Bewegung gesetzt werden und von jedem Tanzschaffenden, Pädagogen oder Bewegungsforscher in unterschiedlicher Weise genutzt werden. Auch die didaktischen Möglichkeiten dieses Systems sind nicht fest vorgegeben, sondern eine Entscheidung des jeweiligen Vermittlers. In diesem Beitrag werden wir die Entwicklung der Bewegungsstudien um die Person Laban und dann die Post-Laban-Entwicklung darstellen. Anschließend werden die zeitgenössischen Anwendungsgebiete der Laban/ Bartenieff-Bewegungsstudien kurz umrissen und die zeitgenössische Form der Konzepte bzw. Kategorien der Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien in Deutschland kurz mit Beispielen eingeführt. Am Ende des Beitrages werden mögliche pädagogisch-didaktische Aspekte der Vermittlung der Bewegungsstudien, und vor allem bezogen auf die Arbeit im Bartenieff Fundamentals-Unterricht (einer Weiterentwicklung von Labans „Körper“Kategorie) beispielhaft vorgestellt.

D ARSTELLUNG DER L ABAN -B EWEGUNGSSTUDIEN UND IHRE E NTWICKLUNG Rudolf von Laban wurde 1879 in Bratislava im damaligen ÖsterreichUngarn geboren und starb 1958 in England. Durch die Reisen seines Vaters, einem Feldmarschall der österreichisch-ungarischen Armee, die er als Jugendlicher mehrfach begleitete, erlebte Laban auch fremde Tänze und Bewegungsrituale bis hin zu Derwischtänzen, was ihn sehr faszinierte. Nach dem ersten Ausbildungsjahr in der Militärakademie auf Wunsch seines Vaters suchte Laban die Kunst als Lebensinhalt und studierte Malerei in Paris. Nach 10 Jahren als Maler und Illustrator starben 1907 kurz hintereinander sein Vater und Labans erste Frau Martha Fricke, mit der er zwei

1

Vgl. Kennedy 2010.

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Kinder hatte. Nach diesen beiden Todesfällen suchte Laban einen neuen Weg – der ihn zum Tanz führen sollte. 2 1910 ließ sich Laban mit seiner zweiten Frau Maja Lederer, einer Sängerin, in München nieder und begann ohne vorhergehende formale Tanzausbildung mit „Tanz-Ton-Wort“ zu experimentieren. Im Sinne des Zeitgeistes wollte er den neuen Tanz von allen Vorgaben befreien, vom klassischen Ballett mit seinem Bewegungskanon abgrenzen und unabhängig und gleichberechtigt neben die anderen Kunstformen, wie Theater und Musik, stellen. Inspiriert wurde er von der Münchner Künstlerszene sowie von den Künstlern und Lebensreformern auf dem Monte Verità nahe Ascona in der Schweiz, wo er mit Maja und seinen Schülern die Sommer verbrachte. 3 Die Lebensreformbewegung proklamierte eine naturnahe Lebensweise mit ökologischem Landbau und Vegetarismus. Frauen befreiten sich hier vom Korsett und bewegten sich in luftigen, selbst genähten Kleidern oder sogar nackt. Die Freikörperkultur war Teil der Lebensreformidee, wie auch alternatives religiöses oder spirituelles Gedankengut. Laban wandte sich zu der Zeit auch den Freimaurern und Rosenkreuzern zu, deren Ansätze4 sich teilweise in seinen Ideen des „Freie(n) Tanz(es) [...] auf Basis harmonischer Bewegungskunst“5 finden lassen. Über die nächsten Jahrzehnte begann er, zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Hunderten von Tänzern und Tänzerinnen seine Bewegungswissenschaft auszuarbeiten. Vor und während des ersten Weltkrieges trugen Suzanne Perrottet (18891983) und Mary Wigman (1886-1973) mit ihrem tänzerischen Vorwissen wesentlich zur Ausarbeitung seiner Raumlehre bei. Beide brachten aus ihren Studien mit Émile Jaques-Dalcroze (1865-1950) in Hellerau das Wissen über Musik und Rhythmus in ihrem Bezug zur Bewegung mit. Laban war aufgrund seines Wissens über Proportionen in der Bildenden Kunst und der Harmonielehre in der Musik der festen Überzeugung, dass man eben-

2

Vgl. Preston-Dunlop 1998.

3

Vgl. Voswinckel 2009.

4

Vgl. Zerling 2009.

5

Vgl. dazu Dörr 2004, Abbildung S. 64 (Plakat der Münchner Laban-Schule, ca. 1914).

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falls im Raum eine entsprechende Harmonie in der Bewegung sehen und fühlen würde. Aus der Beobachtung vieler Schwünge, die vor allem Wigman vor ihm auf dem Monte Verità tanzte, begann Laban, Skalen für Bewegungen festzulegen – wie Tonleitern in der Musik. Zur Orientierung im Raum benutzte er verschiedene Polyeder, die auch die Freimaurer und Rosenkreuzer in Verbindung zu den platonischen Körpern aus der Geometrie verwenden. Im ersten Weltkrieg eröffnete Laban mit Maja Lederer und Suzanne Perrottet (sowie Katja Wulff als Assistentin) in Zürich die Schule für Bewegungskunst, wo sie unterrichteten und die Ansätze von München und vom Monte Verità weiterentwickelten. Da viele seiner Schüler und Mitarbeiter (wie Suzanne Perrottet) mit den Künstlern des Dadaismus im Cabaret Voltaire zusammen auftraten, kam er auch mit dieser Kunstrichtung in Berührung, welche sich jedoch stark von seiner Raumharmonielehre unterscheidet. Die erste Publikation Die Welt des Tänzers (1919) zeigt viele der neuen Ideen auf, jedoch noch in sehr unstrukturierter Art und Weise. Das Buch traf aber wohl den Zeitgeist nach dem ersten Weltkrieg, da sich nach der Veröffentlichung immer mehr Schülerinnen und Schüler um Laban scharten. 1923 wurde die erste Laban-Schule in Hamburg gegründet, der in den nächsten Jahren viele weitere Schulen in ganz Deutschland und in einigen europäischen Großstädten folgten. Im zweiten Buch Choreographie (1926) verdeutlicht Laban seine Raumlehre und versucht mehrere Tanznotationen, die die Weitergabe von Choreographien und Bewegungen (in einer Zeit vor der Einführung von Film und Video) gewährleisten sollten. Dies war auch hilfreich für die Weitergabe von Bewegungswissen in den Laban-Schulen (1927 waren es 18 in Deutschland), wo namhafte Schüler Labans Lehre unterrichteten, während er diese mit seinen Mitstreitern immer weiterentwickelte. Laban selbst kam für Meisterklassen und Prüfungen in die verschiedenen Schulen. In den 1920er Jahren wurde Laban von vielen seiner Meisterschüler bei der Weiterentwicklung und Verbreitung seiner Bewegungsstudien unterstützt, vor allem von Dussia Bereska (ehemals Olga Feld). Sie trug wesentliche Ideen bei und half ihm, 1927 das Choreographische Institut in Berlin zu eröffnen.

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Auf dem Tänzerkongress 1928 wurde die bis heute verwendete Kinetographie Laban vorgestellt. Die Tanznotation basierte auf Labans Orientierung im Raum, die aus der Sicht des Tänzers seine Kinesphäre (den persönlichen Umraum um sich herum) klar definiert. Die dreidimensionalen Achsen im Raum werden um die Schrägen in den drei Flächen (Diametralen genannt) sowie um die reinen Schrägen im Würfel (die Diagonalen) erweitert. Die daraus resultierenden 27 Raumrichtungen sollen ausreichen, um jede Bewegung räumlich zu erfassen. Aus den Zeichen für diese Raumrichtungen hat sich die Kinetographie Labans vor allem durch die unermüdliche Arbeit von Albrecht Knust (1896-1978) ab den 1930er Jahren entwickelt. Laban selbst verwendete die Kinetographie einerseits, um Choreographien schriftlich festzuhalten und andererseits, um damit selbst zu choreographieren, also Tänze vorzubereiten. Laban choreographierte zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg über 100 kurze bis abendfüllende Stücke in verschiedenen Stilen (Tanzdrama, Tanztheater, bis hin zum Abstrakten Tanz) und zu unterschiedlichen Themen.6 Er tanzte häufig selbst in seinen eigenen Stücken, in Duos oder auch Gruppenarbeiten, bis er 1926 (mit 47 Jahren) eine schwere Verletzung erlitt, und nicht mehr als Tänzer auftrat. Er gab mit seiner Gruppe, der Kammertanzbühne Laban, Vorstellungen, die er selbst oder in Kooperation mit anderen, z.B. Dussia Bereska, choreographierte. Insgesamt kann man Laban als einen klaren Vorreiter des Ausdruckstanzes im Zeitgeist des Expressionismus sehen. Laban war aber nicht daran interessiert, eine choreographische Handschrift zu etablieren, sondern er wollte eher choreographisch experimentieren. Auch Ansätze des Modernen Tanzes sowie im Bereich des Zeitgenössischen Tanzes korrespondieren teilweise mit Labans frühen choreographischen Experimenten. 7 Labans choreographische Bemühungen betrafen auch den Laienbereich. Laban deklarierte, dass „Jeder Mensch ein Tänzer“ ist und kreierte ein neues Genre der Choreographie: den Bewegungschor.8 Hier konnten Laien an einem „Tanzwerk“ teilhaben, in die Kunstform Tanz aktiv einsteigen und

6 7

Vgl. Dörr 2004 und 2005. Siehe hierzu die DVDs der Tanz-Rekonstruktionen von Laban Trinity London unter der Leitung von Valerie Preston-Dunlop und Alison Curtis-Jones 2013.

8

Vgl. Kennedy 2015.

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teilweise mit Labans Kammertanzgruppe zusammen aufführen. Die Themen wurden innerhalb einfacher, in eine Reihung gebrachte Strukturen improvisiert, so dass daraus ein abgeschlossenes Werk entstand. 1924 gab es in Europa – vor allem in Deutschland – bereits 12 Bewegungschöre.9 Martin Gleisner war einer der vielen Lehrer, die Labans Ideen in dieser Form realisierten.10 Insgesamt war die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen sehr produktiv für Laban und seine Mitstreiter. Laban galt gegen Ende dieser Zeit als ‚Vater‘ des Ausdruckstanzes, weil er nicht nur die Bewegung angeschoben hatte, sondern auch weil ihm sehr viele Menschen zugearbeitet hatten. Er öffnete den Raum für Experimente oder Improvisationen und strukturierte Kompositionen zu gewissen Themen. Sein Vorgehen, das wir heute als „practice as research“ bezeichnen würden, wurde von der von ihm gestellten Frage getrieben: „Was wäre wenn...?“ („What if...?“ – laut Vortrag von Valerie Preston-Dunlop beim Laban Event 2013 in Ascona). Seine Suche nach Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge und grundlegendem Bewegungswissen war nie ein abgeschlossenes System, eher Studien in Bewegung, die er lehrte und in seinen Schriften dokumentierte. Obwohl Laban nicht der nationalsozialistischen Ideologie folgte, sondern eher Konzepte der Moderne, eine freie Lebensweise, künstlerische Individualität und Gefühlsausdruck betonte, kollaborierte er zunächst mit den nationalsozialistischen Kulturverantwortlichen, die ihm die Chance boten, bei weiteren Tanzkongressen die Protagonisten des neuen Tanzes in Deutschland zusammenzubringen und dessen kulturellen Einfluss zu vergrößern. Im Zusammenhang mit dem Vorprogramm der Olympiade in Berlin 1936, die mit einem von Laban choreographierten Bewegungschor beginnen sollte, fiel Laban jedoch bei den Nationalsozialisten in Ungnade.11 Die Aufführung des Bewegungschores, wie später auch seine Tanzschrift, wurde verboten. Er selbst sollte zurück in seinen ersten Beruf als Maler, was einem Berufsverbot glich. Daraufhin emigrierte er 1937 über Paris nach England.

9

Vgl. Hodgson/Preston-Dunlop 1990.

10 Vgl. Gleisner 1928. 11 Vgl. Müller/Stöckemann 1993.

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Laban ging zu seinem früheren Mitstreiter Kurt Jooss, der in England in Dartington Hall bei den Tanzmäzenen Elmhirst untergekommen war. Hier traf er Lisa Ullmann (1907-1985), eine Berlinerin, die 1929 in einer LabanSchule ihr Diplom gemacht hatte und die ihn bis zu seinem Lebensende begleitete. Die Elmhirsts unterstützten Laban finanziell und mit Kontakten zu potenziellen Auftraggebern, wie z.B. zu dem Berater für die Industrie F.C. Lawrence (1885-1982). Lawrence erkannte den Nutzen von Labans Wissen über Bewegungsbeobachtung und Notation für England im Krieg. Dort mussten Frauen die Arbeit von Männern in der Industrie verrichten. Laban bekam den Auftrag, die Arbeitsabläufe der Männer zu beobachten und die Frauen so zu trainieren, dass sie deren Arbeit bewältigen konnten. So leitete Laban zum Beispiel Frauen an, beim Stemmen großer Baumstämme, den Schwung auszunutzen anstatt Kraft zu benutzen, die ihnen im Gegensatz zu den Männern fehlte. Bei dieser Aufgabe entwickelte Laban sein Wissen über den inneren Antrieb der Bewegung, der in Deutschland noch unter dem Namen „Eukinetik“ bekannt war. Aus dieser Vorarbeit entstand 1947 das mit Lawrence zusammen publizierte Buch Effort. In diesem Buch wird deutlich, dass die Bewegungsstudien nicht nur auf den Tanz angewendet werden können, sondern für Bewegung überhaupt. Im Gegensatz zu anderen Bewegungsberatern der Industrie des frühen 20. Jahrhunderts, die jede überflüssige Bewegung wegrationalisieren wollten, versuchte Laban, die Ermüdung der Arbeiter durch eine Verausgabungs- und Erholungs-Phrasierung zu reduzieren. In diesem Zusammenhang entwickelte er eine weitere Notation für die Kategorie Antrieb, die er dann auch für den Tanz verwenden konnte. Gleich darauf erschien 1948 das Buch Modern Educational Dance (Der Moderne Ausdruckstanz 1981), unter Zuarbeit von Lisa Ullmann. Auch hier wird das Thema Antrieb – vor allem für die Tanzpädagogik – erläutert: Was sonst im Tanz als „Dynamik“ bezeichnet wird, beschreibt Laban mit den Faktoren Raum, Gewicht- und Zeitantrieb. Er beschreibt ausführlich die acht verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten im Aktionstrieb: Schweben, Boxen, Gleiten, Peitschen, Tupfen, Wringen, Flattern und Drücken. Nach dem Krieg arbeitete Laban mit Schauspielern, woraus eine wesentliche Ergänzung resultierte – der Antriebsfaktor Fluss. Natürlich ist in jeder Bewegung der Bewegungsfluss, aber Laban erkannte, dass der Antriebsfaktor Fluss ein wesentlicher Faktor ist, der das Gefühl noch stärker verdeutlicht. Durch diesen vierten Faktor ergeben sich weitere gefühls-

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betonten Stimmungen (Kombinationen, bestehend aus zwei Antrieben) und Bewegungstriebe (Kombinationen aus drei Antrieben). Diese beschrieb Laban in seinem 1950 erstmals erschienenen Buch Mastery of Movement on Stage (1959) (Die Kunst der Bewegung 1988). Hier machte er deutlich, dass alle Antriebsmöglichkeiten – die 4 Faktoren mit jeweils 2 Elementen, die 6 Stimmungen mit jeweils 4 Kombinationsmöglichkeiten, die 4 Bewegungstrieben mit jeweils 8 Möglichkeiten – auf der „Bühne des Lebens“ verwendet werden. Einer dieser 64 Antriebsmöglichkeiten ist in jeder Bewegung präsent, ob bewusst oder unbewusst, funktional oder/und expressiv. Gegen Ende seines Lebens beschäftigte sich Laban mit der Anwendung seiner Arbeit in der Therapie. Schon in „Kunst der Bewegung“ schrieb er in Verbindung zu C.G. Jung (der zur selben Generation gehörte) über das Verhältnis der Antriebsfaktoren zu den vier „psychischen Grundfunktionen aus Jungs „Typologie“: „Denken“ (Raumantrieb), „Fühlen“ (Flussantrieb), „Intuieren“ (Zeitantrieb) und „Spüren/Empfinden“ (Gewichtsantrieb).12 Mit dem Psychologen William Carpenter begann er ein neues Buch „Movement Psychology“ (um 1952) zu schreiben, das bis heute leider nicht veröffentlicht wurde. Dennoch werden die Bewegungsstudien heute von vielen Tanztherapeuten zur Unterstützung von Diagnostik und Therapie verwendet, dank auch der Arbeit von vielen Laban-Schülerinnen, besonders Marion North in England und Irmgard Bartenieff in den USA. Außerdem entwickelte Judith Kestenberg (USA) ein System mit Fokus auf Bewegungsentwicklung zum Kestenberg Movement Profile (KMP)13 und Warren Lamb (GB) als Movement Pattern Analysis (MPA)14. Zu Lebzeiten bildete Laban einen Brennpunkt, der viele Ideen zusammenbrachte, die nicht alle nur von ihm stammten. Doch hatte er die Fähigkeit, sie zu verbinden und Muster dabei zu entdecken. So hat er das Zusammenführen eines umfangreichen Bewegten Wissens beschleunigt und sehr gute Grundlagen geschaffen, auf die seine Schüler und weitere Generationen aufbauen konnten.

12 Laban 1988: 124. 13 Vgl. Kestenberg-Amighi et al. 1999. 14 Vgl. Lamb 1965.

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P OST -L ABAN -E NTWICKLUNGEN DER L ABAN /B ARTENIEFF -B EWEGUNGSSTUDIEN 15 Laban hatte bereits 1946 mit Lisa Ullmann das Art of Movement Studio eröffnet, in dem Ullmann überwiegend unterrichtete und das sie nach Labans Tod 1958 weiterführte. Hier wurde Labans Arbeit auch Schullehrern vermittelt. Es ist vor allem Lisa Ullmann zu verdanken, dass Labans Bewegungsideen, insbesondere auch die acht Antriebsaktionen (s.o.) in England in den Schulunterricht eingeflossen sind. Laban hat nie eine spezielle Tanztechnik für den Körper – das Instrument – entwickelt. In den 1920er und 30er Jahren verwendete er verschiedene „Gebärden“ zur Körperbildung, systematisierte diese jedoch nicht. Während der 1940er und 50er Jahre hat Laban zwar den Körper differenzierter betrachtet und die Körperteile und Körperaktionen benannt, aber kaum mehr. Dies taten wiederum seine Schüler. So spricht man zum Beispiel heute von der Jooss-Leeder-Methode.16 Eine Schülerin und Mitstreiterin Labans, Irmgard Bartenieff (1900-1981), die in den 1920er Jahren in einer Laban-Schule in Berlin studiert hatte und 1936 in die USA emigriert war, entwickelte als Synthese aus Labans Arbeit und ihrer Kenntnisse aus der Physiotherapie die somatische Körperarbeit Bartenieff Fundamentals of Movement. 1978 gründete sie das Laban Institute of Movement Studies in New York, wo sie ihre und Labans Arbeit unterrichtete und weiterentwickelte. Der Schwerpunkt der Bartenieff Fundamentals liegt auf dem lebendigen Zusammenspiel zwischen funktionaler und expressiver Bewegung, d.h. zwischen den Verbindungen im Körper und der Ausdruckskraft des Körpers nach außen. Sie basieren auf anatomischen Kenntnissen, der motorischen Entwicklung des Kindes und den Bewegungsprinzipien nach Laban. Elementare Bewegungsabläufe und Prinzipien werden durch Erspüren, Bewegen und gegenseitige Hilfestellung am Boden erarbeitet. Körperzusammenhänge werden durch Körperverbindungen und -organisationsmuster verdeutlicht. 15 Vgl. Reisel 2003. 16 Vgl. zur Jooss- Leeder-Methode den Beitrag von Stephan Brinkmann S.197 ff. in diesem Band.

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Wenn die Verbindungen körperlich gefestigt sind, kommen weitere Aspekte der Laban-Bewegungsstudien hinzu. Die Bewegungen werden zunehmend komplexer, raumgreifender und antriebsstärker – mit dem Ziel, die körperlichen Verbindungen weiterhin beizubehalten. So kann zum Beispiel die Raum-Diagonale von Laban auf eine Weise gemacht werden, bei der der Körper zwar dorthin zeigt, aber nicht unbedingt „verbunden“ ist. Wenn jedoch die Bartenieff Fundamentals angewendet werden und somit die körperliche Diagonale im „Kontralateralen Muster“ verbunden in diese Diagonale Raumrichtung miteinfließt, hat die Bewegung eine wesentlich klarere Wirkung. Bartenieff ging es nicht nur um den körperlichen Aspekt der Bewegung, sondern vielmehr um die Integration der vielen Aspekte der Bewegung. In Deutschland hatte Bartenieff nach ihrem Laban-Diplom auch mit Albrecht Knust gearbeitet und sich sehr in die damalige Kinetographie Laban eingearbeitet. In den USA wurde die Labanotation vor allem von Ann Hutchinson-Guest (geb. 1918) weiterentwickelt. Die Tendenz war, immer akkurater die Tanzschritte aufzuschreiben, so dass die Labanotation immer komplexer wurde. Hutchinson hat nach Labans Tod eine vereinfachte Schrift, die Motivschrift, entwickelt, die eher dem ähnlich ist, was die Kinetographie Laban in ihren Anfängen war. Die Motivschrift soll nur das „Leitmotiv“ einer Bewegung erfassen und dokumentieren, sodass sie als Gedankenstütze oder als Improvisationsvorgabe funktioniert, aber nicht zur vollständigen Rekonstruktion einer Bewegung. In New York hat Bartenieff die Motivschrift zuerst in den 1960er und 70er Jahren in ihrem „Effort/ Shape“-Programm am Labanotation Institut und später am Laban Institut of Movement Studies unterrichtet. Eine Schülerin von Bartenieff wiederum ist Bonnie Bainbridge Cohen, die Begründerin der Körperarbeit Body-Mind Centering.17 So kann man sagen, dass Labans und Bartenieffs Ansätze in diese Methode eingeflossen sind und dass diese Methode über eine weitere Generation ebenfalls eine Weiterentwicklung der Laban-Bewegungsstudien ist. Eine weitere Meisterschülerin von Bartenieff ist Peggy Hackney, die das umfangreichste Buch über ihre Version der Bartenieff Fundamentals geschrieben hat18. Sie leitete jahrelang ein Zertifikatsprogramm an der

17 Bainbridge Cohen 1994. 18 Hackney 1998.

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Westküste der USA und auch 1992 das erste EUROLAB-Zertifikatsprogramm in Deutschland (in englischer Sprache). So könnte man meinen, dass die Weiterentwicklung der Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien hauptsächlich in die somatische Richtung erfolgt ist, welches wiederum dem Zeitgeist im Tanz auch entsprechen würde, der immer mehr somatische Praktiken mit einbezieht. Dies stimmt aber nur zum Teil, weil es noch viele Bartenieff-Schüler gibt, die sich mit dem Thema Raumharmonie beschäftigen, wie z.B. Carol-Lynne Moore19, und weitere Generationen (z.B. Hackney-Schüler und -Schülerinnen), welche die Bewegungsstudien an sich (auch in der „Theorie“) weiterentwickeln, wie z.B. Karen Studd (USA)20 und Antja Kennedy (Deutschland). Viele andere entwickeln die verschiedenen Anwendungsbereiche weiter, wie z.B. Janet Hamburg (USA), die mit Sportlern sowie mit Parkinson-Patienten21 arbeitete oder Bettina Rollwagen (Deutschland), die sie bei Lernstörungen von Kindern anwendet.22

Z EITGENÖSSISCHE ANWENDUNGSGEBIETE DER L ABAN /B ARTENIEFF -B EWEGUNGSSTUDIEN Für Tanzpädagogen sind die Bewegungsstudien für einen guten didaktischen Aufbau der Unterrichtsstunden, zur Verbesserung der Ansage der Bewegungsabläufe, zur verfeinerten Beobachtung von Problemen und für klare Korrekturen nützlich. Laban hat bewusst keine Tanztechnik entwickelt, weil er den Tänzer auf seinem individuellen Weg fördern wollte. Tanzstudierende, die mit den Bewegungsstudien arbeiten, erweitern ihre kreativen Fähigkeiten und entdecken neue Wachstumsmöglichkeiten, indem sie Bewegungsmuster und persönliche Präferenzen erkennen und durch die Bewegungsstudien erweitern. Durch die verbesserte Bewegungsbeobachtung können komplexe tanztechnische Sequenzen schneller präzise erfasst werden.

19 Moore 2009. 20 Studd 2013. 21 Vgl. Hamburg 2003. 22 Vgl. Rollwagen 2010.

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Den Choreographen können die Bewegungsstudien eine Inspirationsquelle sein, da sich mit dem bestehenden Vokabular durch experimentieren eine fast unerschöpfliche Variationsbreite erschließen lässt. Außerdem erleichtern gemeinsame Begrifflichkeiten die Kommunikation mit den Tänzern. Den Tanztherapeuten sind die Bewegungsstudien eine verlässliche Struktur zur Erfassung des Bewegungsrepertoires, zur Diagnosefindung und zum Kreieren von adäquaten Interventionen. Das Bewegungsgeschehen kann mit den Parametern der Bewegungsstudien qualitativ beschrieben werden, was Bewusstwerdung, sprachliche Aufarbeitung und Reflexion zur Integration des Erlebten fördert. Tanzwissenschaftler können ihre Hypothesen zum Bewegungsgeschehen mit den Bewegungsstudien unter qualitativen Aspekten präziser analysieren. Sie können aus den Bewegungsstudien und der dazugehörigen Systematisierung unterschiedliche Beobachtungs- und Notations-Methoden ableiten, die von anderen Tanzwissenschaftlern nachvollzogen werden.

Z EITGENÖSSISCHE K ONZEPTE DER L ABAN / B ARTENIEFF -B EWEGUNGSSTUDIEN IN D EUTSCHLAND Um die Komplexität einer Bewegung zu analysieren, unterscheiden die Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien heute sechs Bewegungskategorien 23: Körper, Raum, Antrieb, Form, Phrasierung und Beziehung. Die Besonderheit jeder einzelnen Bewegung entsteht nicht nur aus der Addition, sondern aus dem vielseitigen Zusammenwirken der verschiedenen Elemente. Außerdem ist jede Bewegung davon gefärbt, welche Kategorien mehr im Vordergrund stehen. Körper: Welche Teile sind involviert? Laban differenzierte die verschiedenen Körperteile durch die Gelenkstruktur. Die Bartenieff Fundamentals ergänzen Labans Lehre durch die Suche nach dem lebendigen Zusammenspiel zwischen einzelnen Körperteilen. Ein Beispiel ist die Körperverbindung vom Bauchnabel zur Körperperipherie, also zu den Händen, Füßen, Kopf und Steißbein. 23 Vgl. Kennedy 2007; 2008; 2010.

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Raum: Wohin geht die Bewegung? Laban hat den Raum, ähnlich wie in der Architektur, ein- zwei- und dreidimensional erschlossen. Nicht nur der allgemeine Raum um uns herum, sondern auch der persönliche Bewegungsraum, die Kinesphäre, wird betrachtet. Als Modelle für die Kinesphäre nutzte er platonische Körper: die Dimensionen befinden sich z.B. im Modell des Oktaeders. Die innerhalb dieser Modelle von ihm geschaffenen Bewegungsskalen, vergleichbar mit musikalischen Tonleitern, folgen genau beschriebenen Raumwegen, z.B. die „Verteidigungsskala“ im Oktaeder. Die verschiedenen Skalen trainieren und vermitteln ein harmonisches Raumgefühl und fordern dazu heraus, sich auch in bisher unbekannten Bereichen der eigenen Kinesphäre zu bewegen. Dadurch wird Wachheit für die Raumnutzung und ein größeres dreidimensionales Bewegungsrepertoire angestrebt. Zusätzlich unterstützen diese verschiedenen ‚Prototypen‘ von Bewegung die exakte Beobachtung komplexer, spiralischer Bewegung im Raum. Antrieb: Mit welcher energetischen Qualität wird die Bewegung ausgeführt? Um die dynamische Qualität einer Bewegung zu beschreiben, bedient man sich üblicherweise einer sehr bildhaften, subjektiv geprägten und interpretationsreichen Ausdrucksweise, z.B. „Eine Person schüttelte energisch mit dem Kopf.“ Laban hat eine objektivere Sprache und eine klare Struktur für die Charakterisierung von energetischen Qualitäten in der Bewegung geschaffen. Er definierte die vier Bewegungsfaktoren des Antriebs: Gewicht, Fluss, Raum und Zeit – und ein Kontinuum zwischen zwei Polen – dem ankämpfenden und dem erspürenden Pol (vgl. Abb. 1). Mit nur acht Antriebselementen und deren zahlreichen Möglichkeiten in Zweier-, Dreieroder Vierer-Kombinationen können die Bewegungsstudien die 64 Nuancen von dynamischen Qualitäten unterscheiden. Zum Beispiel: eine plötzlich-freie Bewegung ist etwas anderes als eine kraftvoll-plötzlich-freie Bewegung! Das erste wäre eine Zweier-Kombination in der mobilen Stimmung, das zweite eine Dreier-Kombination im Bewegungstrieb Leidenschaft. Nur wer differenzierte Begriffe hat, kann die sehr flüchtigen dynamischen Qualitäten in der Beobachtung unterschieden und konkret benennen.

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Abbildung 1: Antriebselemente

Abbildung 2: Formqualitäten

Form: Mit welcher plastischen Qualität wird die Bewegung ausgeführt? Da Laban zuerst bildender Künstler war, wundert es nicht, dass er zunächst Bewegung als eine Entwicklung von einer stillen Form zur nächsten sah. Um den Prozess der Formveränderung in der Bewegung zu beschreiben, hat Hackney die Formqualitäten: steigen, sinken, ausbreiten, schließen, vorstreben und zurückziehen unterschieden (vgl. Abb. 2). Meistens werden die Formqualitäten wie die Antriebe als Kombinationen beobachtet.

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Phrasierung: Wie ist der zeitliche Ablauf der Bewegung? Laban unterschied bei der Phrasierung der Bewegung generell zwischen Verausgabung und Erholung. Zusätzlich unterscheidet Hackney – wie auch die Jooss-Leeder-Methode – Phrasen durch die Betonung. Falls es eine Betonung gibt, könnte sie: anfangs-, mittel- oder endbetont sein, ob hörbar oder auch nicht. Beziehung: Welche Bezugnahme ist in der Bewegung? Dieser Kategorie hat sich vor allem Hutchinson zugewandt. Die Beziehung kann zu sich selbst, verschiedene Körperteile zueinander, zu jemand Anderem und zu einem Objekt sein. Die unterschiedlichen Stufen der Beziehung sind: etwas gewahr sein, ansprechen, Abstand halten oder verändern, berühren und unterstützen.24 Diese sind in der Regel aufeinander aufbauend. Sie können als grobes Schema ausreichen oder noch weiter aufgefächert werden, wenn es sinnvoll erscheint. Abbildung 3: Bewegungsstudien

Foto © EUROLAB e.V.

Die obigen Beispiele sind nur ein Ausschnitt der heutigen Bewegungsstudien. Innerhalb der sechs Kategorien gibt es insgesamt etwa 60 Parameter, um verschiedenste Aspekte einer Bewegung zu differenzieren. Der Fokus auf das Detail und die minimalen Unterschiede schärft die Klarheit in der

24 Vgl. Hutchinson 1983.

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Bewegung, wie auch in der Beobachtung. Die Beobachtung kann dann in verschiedenen Schriftarten dokumentiert werden. Die Auffächerung ergibt unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe ‚Gebäude‘: die menschliche Bewegung. Am Ende des Prozesses der Differenzierung ist die Synthese der Parameter wichtig – eingebettet in den jeweiligen Kontext, die dann das Analysierte in einen Sinnzusammenhang stellt und Interpretation erlaubt.

S TRATEGIEN DER V ERMITTLUNG VON L ABAN /B ARTENIEFF -B EWEGUNGSSTUDIEN Ausgehend von der Arbeit mit den Kategorien der Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien können flexible Methodiken und unterschiedliche Lehr-LernKonzepte für die Unterrichtsgestaltung verwendet werden. Es können Improvisationsaufgaben entwickelt werden, aber auch festgelegte Folgen. Übergeordnetes Ziel ist eine ganzheitliche Tanzbildung statt -ausbildung. Die Arbeit mit strukturierten Improvisationsaufgaben führt zu erfahrungsbasiertem Lernen. Dies wird in allen Kategorien angewendet und ist auch eine didaktische Methode, die von Laban am meisten angewandt wurde. Eine Improvisationsaufgabe zur Kategorie „Gewichtsantrieb“ (kraftvoll/ leicht) könnte beispielsweise sein: a)

untermauert durch Musik mit Gewichtsantrieb – z.B. eine „kraftvolle“ Trommelmusik – tanzen, b) mit Luftballons tanzen für den „leichten“ Gewichtsantrieb, c) improvisiere mit der Imagination „tanze so leicht wie eine Feder“, d) situative Anweisung: Tanze, als ob Du einen schweren Karton bewegen musst, e) improvisiere mit den beiden Polaritäten des Gewichtsantriebs, f) improvisiere mit dem Gewichtsantrieb innerhalb der Rhythmischen Stimmung, g) entwickle eine Phrasierung mit Gewichtsantrieb enthaltenen Stimmungen oder Trieben. Je fortgeschrittener die Tänzer in den Bewegungsstudien sind, desto komplexer können die Aufgaben sein. Die Nutzung verschiedener Sinnesmoda-

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litäten oder Anregungen dienen der Verdeutlichung und Klärung der jeweiligen Kategorien und Elementen, die gerade thematisch in Bewegung gesetzt werden. In einer Tanzimprovisations- oder Tanzkompositionsklasse, verwendet man z.B. eher die Arbeit mit einer Kategorie und ihren Elementen als Vorlage für eine strukturierte Improvisation (z.B. die Kategorie „Beziehung“ oder verschiedene „Phrasierungsmöglichkeiten“), um eine Fokussierung in einer Gruppenimprovisation oder -komposition zu entwickeln. Die Bewegungsstudien können aber auch den auf Vor- und Nachmachen basierenden Tanzunterricht durch Verbesserung der differenzierten Analyse von Bewegung unterstützen, wobei die Konzepte, Begriffe und Symbole hilfreich sind. Diese didaktische Methode wurde von Laban vor allem in der Vermittlung der festgelegten Raum-Skalen angewandt. Von verschiedenen Laban-Schülern wurden dann auch „Etüden“ für andere Kategorien entwickelt und teilweise notiert 25. In den Laban/BartenieffBewegungsstudien wird diese Methode heute jedoch nur zu einem geringen Anteil verwendet. Daher gibt es in der Regel wenig Lernen durch Wiederholung, außer es ist explizit eine ‚Tanztechnik-Klasse‘, in der dann eher in diesem Modus unterrichtet wird. Auch heute können die Bewegungsstudien als Grundlage für unterschiedliche Bewegungsforschungen und als forschendes Lernen mit Exploration – Analyse – Experimentieren genutzt werden. Der phänomenologische Ansatz, den die Systematik unterstützt, ist hilfreich für verschiedene Fragestellungen, die entsprechend des „practice-based-research“- oder „practice-as-research“-Ansatzes phänomenologisch untersucht werden sollen. Einen besonderen Stellenwert in der Didaktik heutzutage nimmt der Unterricht der somatischen Körperarbeit – die Bartenieff Fundamentals – ein, die für alle Tanzformen als Grundlage oder Ergänzung nützlich sind. Daher wird im Folgenden noch einmal genauer auf diesen Lehrinhalt eingegangen, der sich in der „Post-Laban-Zeit“, vor allem durch Bartenieff und Hackney entwickelt hat.

25 Vgl. Perrottet 1983.

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B ARTENIEFF F UNDAMENTALS -U NTERRICHT Die Bartenieff Fundamentals können jedem auf seinem individuellen Niveau helfen, sich mit größerem Wohlbefinden zu bewegen. Laien und Bewegungsprofis können im gleichen Kurs Neues für sich entdecken, wenn die Lehrkraft den Stoff in einer gewissen Tiefe behandelt. Im Unterricht (wie auch in der Therapie) wollen wir, dass ein Veränderungsprozess stattfindet. Dieser Prozess braucht Zeit und durchläuft in der Regel einige Phasen. Hier die Phasen, die möglicherweise im Prozess der Veränderung durchlaufen werden: • • • • • • •

Bewusstwerden des Istzustands Akzeptanz des alten Zustands Intention und Ziele klären Hilfsmittel finden (z.B. Partner, Bilder, Raumvorstellungen …) Sich einlassen auf den Prozess – ganzkörperlich und als ganze Person Zeit lassen – „Body-Time“ zulassen Neue Muster festigen

Das folgende praktische Beispiel verdeutlicht diesen Prozess: Ich erkenne, dass ich bei der Armhebung die Schultern hochziehe, was meine Schulter- und Nackenmuskulatur anstrengt und verkrampft. Ich möchte eine effizientere Methode für die Armhebung finden und meine verkrampften Muskeln lockerer werden lassen. Ich übe den Armkreis der „Bartenieff Fundamentals“26 mit gradueller Rotation und spüre dabei diagonale Verbindungen und eine spinale Rotation in der Brustwirbelsäule. Dies kann ich in der Arbeit mit einem Partner („Hands-on“) noch deutlicher spüren – vor allem aber auch meine Schulterblattverankerung. Ich wiederhole dies mehrmals mit einem Partner und häufiger zu anderen Zeitpunkten allein, was mein Bewegungsmuster bei der Armbewegung verändert. Später, beim Schreiben am Computer, merke ich, dass ich die Schulterblattverankerung nicht mehr habe, weil ich meine Schultern hochziehe. Ich frage mich, wie kann das sein? Und merke, dass der Zeitdruck meine Spannung in den Schultern beeinflusst. Ich versuche, tief durchzu-

26 Vgl. Bartenieff 1981: 246-247.

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atmen und die Verbindung, die ich auf dem Boden mit der FundamentalsÜbung gespürt habe, im Sitzen wiederherzustellen und gehe dann wieder neu ans Schreiben. Über die nächsten Wochen passiert mir das zwar immer wieder, aber je mehr ich das Schulterblatt in der Übung verankere, desto weniger rutscht es mir beim Schreiben hoch. In jeder Körperarbeit gibt es besondere Methoden und Praktiken, die aus den Ressourcen der Begründer stammen. Bartenieff verfügte über ein großes anatomisches Wissen, aber ihr Motto war: „Denke immer in Bewegung, statt in anatomischen Modi.“27 Sie vermittelte die notwendige Anatomie, besonders im Unterricht für Laien, auf einfachen und zugänglichen Wegen. Deshalb verwenden Fundamentals-Lehrer die knöchernen Anhaltspunkte („Bony Landmarks“) im Skelett, die zum einen besser bekannt sind als die Muskeln und zum anderen leichter abtastbar. Diese knöchernen Anhaltspunkte dienen zur Orientierung und zum Spüren von Verbindungen, Bewegungsansätzen sowie der Bewegungsverläufe selbst. Die Bartenieff-Sequenzen sollen nicht nur einfach nachgemacht werden, sondern es soll die eigene innere Beteiligung für die Bewegung gesucht werden. Eine Fundamentals-Lehrkraft wird durch körperliches Vormachen der Sequenzen und durch klare verbale Anweisungen die Intention der Bewegung verdeutlichen. Dann wird der Schüler diese Intention in sich aufspüren und mit seiner eigenen inneren Beteiligung füllen. Bartenieff (o. J.: 3) brachte es für die Schüler auf folgende Formel: „Entwickle eine fühlende Herangehensweise ... Schau die Bewegung an, spüre die Identifizierung, fühle Deine eigene Bewegung.“ Auch wenn die genaue räumliche Intention und die Antriebsintention geklärt sind, geschieht es häufig, dass die Bewegung nicht effektiv abläuft. Um das Problem der inneren und äußeren Wahrnehmung bewusst anzugehen, werden die Bartenieff Fundamentals häufig mit einem Gegenüber praktiziert, im Gruppenunterricht, in Partnerarbeit mit einem anderen Schüler und mit genauer Anleitung des Lehrers, oder es wird in Einzelarbeit mit einem Therapeuten oder Coach gearbeitet. Eine Person beobachtet von außen das Bewegungsgeschehen, gibt dann Feedback, meist verbal, und darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, den Prozess ggf. mit den Händen zu unterstützten.

27 Bartenieff (o. J.): 2.

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Bei der manuellen Begleitung („Hands-on“) von FundamentalsSequenzen gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Bewegung zu unterstützen. Wenn die Hände auf einem Körperteil liegen, richtet sich dort fast automatisch das Bewusstsein hin. Die Hände können aber auch die Richtung der Bewegung oder den körperlichen Formungsprozess und dadurch die angestrebte Verbindung klären. Es wird darauf geachtet, dass der Praktizierende (der die manuelle Unterstützung gibt) die angestrebte Verbindung im eigenen Köper spürt, weil sich diese durch die Hände überträgt. Je nach Situation ist die Beziehung in der manuellen Begleitung zwischen Praktizierenden und Schüler bzw. Klient eine andere. Es kann sein, dass der Schüler bzw. Klient sich ganz passiv verhält oder aber sich aktiv bewegt, je nachdem, wie sich die gesuchte Verbindung oder Koordination am besten für diese Person herstellen lässt. Im ersten Fall wird der Praktizierende mehr mit den Händen unterstützen und im letzten Fall reicht evtl. eine flüchtige Berührung. In der Fundamentals-Arbeit wird die manuelle Begleitung gern als pädagogisches Hilfsmittel eingesetzt. Ziel dabei ist es, dass der Übende die Bewegung selbstständig, verbunden und effektiv ausführen kann.

U NTERRICHTSAUFBAU BEI DER V ERMITTLUNG DER B ARTENIEFF F UNDAMENTALS Der Unterrichtsaufbau kann unterschiedlich gestaltet sein, je nach Vorlieben des Pädagogen und der Studierenden. Im Folgenden werden wir fünf Möglichkeiten mit Beispielen erläutern: 1.

2.

3. 4.

Komplex – Elementar – Komplex: Zerlegung komplexer Bewegungsabläufe in elementare Teile, welche dann wieder in die komplexen Abläufe integriert werden. Strukturierung entlang der entwicklungsmotorischen Progression: Vermittlung der Ganzkörpermuster in ihrer entwicklungsmotorischen Reihenfolge. Fundamentals zu einem bestimmten Thema (z.B. Erdung). Suchen nach Lösungsansätzen bei Bewegungsproblemen („problem solving“), z.B. bei Problemen bei der Balance auf einem Bein.

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5.

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Körperbezogene Improvisationen (z.B. Improvisation mit der Gegenüberstellung vom Homologen und Kontralateralen Muster).

Ad 1: Komplex – Elementar – Komplex Bereits unsere alltäglichen Bewegungsabläufe sind schon sehr komplex (z.B. das Greifen nach einem Buch in der zweiten Reihe eines Regals) und in Sport oder Tanz, wo es um Präzision, Schnelligkeit oder Bewegungsvielfalt geht, sind eine komplexe Analyse und Methoden der Vermittlung für Ausführende, Pädagogen oder Trainer notwendig. Ein Pädagoge kann mit den Bewegungsstudien die komplexen Bewegungen in ihre elementaren Teile zerlegen. Welche Prinzipien, Muster, Verbindungen und Themen gehören dazu? Im Falle des Greifens nach einem Buch in der zweiten Reihe eines Regals findet sich hier z.B. ein Ausreichen der Hand („reach“) in Verbindung zur Schulterblattverankerung, die Frage welches Bein das Gewicht trägt und wie die Verbindung bei der Greifbewegung durch den Körper geht (zentral-distal, homolateral, kontralateral oder eine Phrasierung von einem zum anderen Muster). Diese Teilaspekte werden dann auf die Fundamentals übertragen (oder Variationen davon) und geübt, sodass der Körper die elementaren Bewegungen ökonomisch gestaltet. Wenn die Basisübungen gefestigt sind, können die Sequenzen Schritt für Schritt zunehmend komplexer, raumgreifender und antriebsstärker werden. Mit jedem Schritt in die Komplexität muss immer wieder beobachtet werden, ob verbundene Bewegungen auf dieser Stufe möglich sind oder ob der Übende in alte, weniger effektive Ausführungen zurückfällt. Ad 2: Strukturierung anhand der entwicklungspsychologischen Progression Es scheint einleuchtend zu sein, die Fundamentals-Übungen und ihre Variationen nach den entwicklungsmotorischen Mustern zu ordnen. Für Erwachsene ist das jedoch nicht unbedingt sinnvoll. Wenn mit dem Respirationsmuster begonnen wird, besteht außerdem die Gefahr, dass Erwachsene darauf „regressiv“ reagieren oder es ihnen einfach ‚zu nahe‘ geht. Um dies zu verhindern, könnte man z.B. im Stehen mit einer bewegten Atemübung anfangen (ähnlich wie in manchen Qi Gong-Übungen) oder trotz der entwicklungsmotorischen Progression, einen anderen Unterrichtsaufbau wählen. So könnte man z.B. mit dem Zentrum-Distal-Muster anfangen, dann in der Progression fortfahren und später auf das Respirationsmuster kommen (also zurück in der entwicklungsmotorischen Progression). Oder

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man könnte die entwicklungsmotorische Progression rückwärts unterrichten, so dass man am Ende (zur Entspannung) beim Respirationsmuster ankommt. Ad 3: Fundamentals zu einem bestimmten Thema Da die Fundamentals-Übungen meistens mehrere Aspekte (Muster, Verbindungen und Prinzipien) beinhalten, kann der Pädagoge diese Aspekte themenspezifisch verwenden. Er kann dann um dieses Thema bestimmte Übungen ranken. Wenn man das Thema Erdung nimmt, dann geht es im Wesentlichen darum, wie der Körper sich zur Schwerkraft verhält: Wieviel wir in die Schwerkraft nachgeben und gleichzeitig wieviel Gegenspannung wir nach oben – für unsere Aufrichtung – verwenden. Dazu wird der Pädagoge die entsprechenden themenspezifischen Fundamentals-Übungen und -Sequenzen auswählen, z.B. Fersenwippen (Erdung durch die Fersen und ein Getragen-Sein des Körpers durch die Rückenlage) sowie eine ähnliche Wipp-Bewegung im Stand (‚Schuckeln‘). Ad 4: Problem Solving Eine andere didaktische Methode, die vor allem im Coaching verwendet wird, aber auch vermehrt im Tanzunterricht seinen Platz haben könnte, ist die Suche nach Lösungsansätzen bei Bewegungsproblemen. Jeder Teilnehmer bringt eine Bewegungssequenz mit, an der er gerade arbeitet. Dann erklärt er sein „Problem“. Eine entsprechende Fundamentals-Übung wird gefunden, welche diese Problemstellung „lösen“ könnte. Falls die Teilnehmer über genügend Fähigkeiten in der Fundamentals-Arbeit verfügen, können sie Vorschläge machen. Wenn nicht, findet der Pädagoge eine Korrespondenz zwischen dem „Problem“ und einem der Aspekte aus den Fundamentals und wählt dazu die passende Fundamentals-Übung oder -Sequenz aus. Diese wird dann ausprobiert, um zu sehen, ob sie eine Lösungsmöglichkeit für diese Schwierigkeit darstellt. Bei Problemen mit der Balance beim Stand auf einem Bein würde man nach Bartenieff z.B. u.a. am homologen Muster arbeiten, erst am Boden, dann im Vierfüßler bzw. auf einer Zwischenebene und zuletzt im Stand. Genauso könnte man bei diesem Problem aber auch mit Labans Antriebskombination Gewicht- und Raumantrieb in der sog. „stabilen Stimmung“ arbeiten.

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Ad 5: Körperbezogene Improvisationen Je nach Unterrichtskontext können Improvisationsaufgaben mit Übungen gemischt oder auch stattdessen verwendet werden. Die Improvisation bietet den Schülern die Möglichkeit, die Fundamentals-Aspekte freier zu erforschen und sie in ihr eigenes Bewegungsrepertoire zu integrieren. Man könnte in der Improvisation zu den Themen Homolateral (Koordination von Arm und Bein auf derselben Seite) und Kontralateral (Koordination von Arm mit Bein der anderen Seite) klar herausarbeiten, was die Unterschiede dieser Bewegungsmuster sind – ohne den Schülern exakte Bewegungen vorzugeben – und dadurch ihre Bereitschaft, sich experimentierfreudig zu bewegen, fördern. Bartenieff schrieb in diesem Zusammenhang: „Wiederholende Bewegungen [...] sollten begrenzt sein, sodass die Bereitschaft, sich zu bewegen, nicht verloren geht.“28 Bartenieff war vor allem eine Praktikerin und reagierte mit ihrem enormen Wissen individuell auf ihre Schüler und Klienten. Sie schätzte die Einzigartigkeit jedes Individuums und suchte gleichzeitig nach universellen Prinzipien. Ihr Motto war: „Analysiere die grundsätzlichen Gesetze der Bewegung“29 und „entwickle Prinzipien, statt einer Technik.“30 In der Praxis werden diese mithilfe von themenorientierter Improvisation sowie Bewegungsübungen und Sequenzen verdeutlicht. Laban war sowohl ein Praktiker wie auch ein Theoretiker, und dieses gilt auch für seine Arbeit. Alle sechs Kategorien der Laban/BartenieffBewegungsstudien (Körper, Form, Raum, Antrieb, Beziehung und Phrasierung), ihre Elemente und Struktur können in unterschiedlichen pädagogischen Kontexten, Stilen und didaktischen Vermittlungsverfahren angewandt werden. Hier zeigt sich die besondere Vielfalt und Offenheit dieses Systems gegenüber verschiedenen Stilen und künstlerischen wie pädagogischen Kontexten. Grundlegend ist jedoch in jedem Fall die körperlichbewegte Erfahrung jeder Kategorie und Subkategorie als Voraussetzung für ihr Verständnis und ihre Anwendung, ob als Analyse-Tool oder innerhalb der pädagogisch-didaktischen oder künstlerischen Arbeit.

28 Bartenieff o. J.: 3. 29 Bartenieff o. J.: 2. 30 Ebd.

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F AZIT Das Ziel des Unterrichts in Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien ist es, körperlich erfahrungsbasiert die Grundlagen für ein ganzheitliches Verständnis von Bewegung zu erlangen und die innere und äußere Wahrnehmung von Bewegung in Einklang bringen. Reflexion der eigenen Bewegung und eine persönlich-individuelle Sinngebung werden betont. Die Praxis wird kontinuierlich in einen theoretischen Zusammenhang eingebunden, der wiederum nur über die eigene Bewegungserfahrung verstanden werden kann. Durch diese Herangehensweise entsteht mehr Klarheit, Koordination und Ausdruck in der Bewegung sowie neue kognitive, motorische und emotionale Zusammenhänge und Verknüpfungen eines “bewegten Wissens“. In anderen Worten: Die persönliche Arbeit mit Bewegung wird anhand der Bewegungsstudien durch ein tieferes Verständnis der eigenen Bewegung und der Bewegung anderer verbessert. Darüber hinaus kann im Sinne Labans und seiner Schüler die körperlich-theoretische und ganzheitliche Tanzausbildung auch als „Menschenbildung“ gesehen werden. Da die Ästhetik der Bewegung bei den Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien offen ist, hat sie sich im Wandel der Zeit kontinuierlich verändert. Das umfassende Konzept der Bewegung wurde im Sinne der Moderne im Grundsatz unabhängig vom Zeitgeist als Entdeckung von grundlegendem Bewegungswissen und Gesetzmäßigkeiten verstanden. Bei der Vermittlung gehen wir auch heute meist Labans Weg: Zuerst Harmonie als Grundlage herzustellen und von daher kommend in die Disharmonie zu gehen. Aber dies ist nur ein möglicher Weg von vielen. Es geht heute vor allem darum, eine Vielfalt von Möglichkeiten zu entwickeln, sodass man nicht nur auf die eigenen Präferenzen zurückgreifen muss, sondern eine größere Wahlfreiheit bezogen auf verschiedene Situationen und Anwendungen zur Verfügung hat. Die Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien bilden eine praxisorientierte Grundlage, um Bewegung zu erleben, präzise zu beobachten, nonverbales Verhalten zu beschreiben und zu dokumentieren. Durch das Verständnis des gesamten Spektrums an Bewegungsmöglichkeiten können die Bewegungsstudien – als interdisziplinär angelegte Toolbox – für vielfältige Arten und Formen der Arbeit mit Bewegung und Tanz im pädagogischen, therapeutischen oder künstlerischen Bereich eingesetzt werden.

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Die Jooss-Leeder-Methode und ihre Geschichte1 S TEPHAN B RINKMANN

Die bis in die Gegenwart zu verfolgende Tradition der Jooss-LeederMethode beginnt 1927 mit der Gründung der Folkwangschule in Essen (Stöckemann 2001). Der Tänzer und Choreograph Kurt Jooss übernimmt in diesem Jahr zusammen mit Sigurd Leeder die Tanzabteilung der neu gegründeten Folkwangschule Essen. Unter der Leitung des Essener Operndirektors wird die Fachschule für Musik, Tanz und Sprache ins Leben gerufen. Der Name Folkwang entstammt der germanischen Mythologie und bezeichnet den Saal der Göttin Freya. Im Namen ist somit angelegt, was sich als Folkwang-Idee etabliert: die Begegnung der Kunstsparten Musik, Sprache und Tanz an einem experimentierfreudigen Ort. Die Idee der Begegnung der unterschiedlichen Künste geht auf Rudolf von Laban zurück, dem Pionier der modernen Bewegungsforschung, dem Kurt Jooss als junger Mann begegnet ist und dem er zeitlebens verbunden bleibt. Laban wiederum war unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt, wie z.B. den Schriften von Jean Georges Noverres oder der Ausdruckslehre von Jean François Delsartes (Dörr 2005). Laban will durch das Zusammenwirken von Tanz, Ton und Wort der schöpferischen Ausdruckskraft des Menschen zur vollen Entfaltung verhelfen. Im Zentrum von Labans ganzheitlichem

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Dieser Text ist entnommen aus: Brinkmann, Stephan (2013): Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz. Bielefeld: transcript, S. 229-239. Wir danken dem transcript-Verlag für die Abdruckgenehmigung.

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Denken steht der Mensch, als dessen ursprünglichste Kunst er den Tanz begreift. Seine theoretischen und praktischen Aktivitäten richten sich daher auf die tänzerische Bewegung. Dabei hat Laban nicht nur den Bühnentanz im Blick, sondern die Bewegungskunst in all ihren Ausprägungen. Das Verhalten im Alltag ist damit genau so gemeint wie Bewegungen des Balletts, Spielformen oder Arbeitsvorgänge. Laban war der Ansicht, dass auch der neue moderne Tanz ein Ordnungsprinzip benötigen würde und entwickelte daraus die Lehre der Choreutik, die die verschiedenen Richtungen im Raum erfasst, sowie die Eukinetik, die sich mit den unterschiedlichen Antriebsaktionen menschlicher Bewegung befasst. Besonders wichtig für Labans Raumlehre ist das Kristallobjekt des Ikosaeders, welches die Richtungen im Raum formal-analytisch erfasst und veranschaulicht. Damit ist Labans Werk einerseits im Zusammenhang mit dem Wissenschaftsglauben seiner Zeit zu sehen (Dörr 1999). Im Zuge von Charles Darwin, dessen Evolutionstheorie die Gesetze der Entwicklungsgeschichte des Menschen offenlegte, wollte Laban ebensolche Gesetze für die Bewegungskunst fixieren. Andererseits ist der irrationale und naturkultische Ton in seinem Werk nicht zu überhören. Laban spricht von der „vereinenden, beseligenden Macht des Tanzes“ (Laban 1989: 183) und es ist der Gedanke des „geschlossenen Gemeinschaftsraums“ (Dörr 1999: 17), der seine Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten begünstigt. Sein Werk steht im Spannungsfeld eines wissenschaftlich-rationalen Denkens einerseits und einer metaphysischen Philosophie andererseits. Für Kurt Jooss ist es zum einen die praktische Anwendung der Laban’schen Prinzipien, zum anderen die Idee einer vom Menschen ausgehenden Kunst, die ihn fasziniert und die er in sein Ausbildungskonzept integrieren will. Als tanzende Menschen sollen die Studierenden der Folkwangschule ausgebildet werden, ein Grundgedanke des Studiums in Essen, der damals wie heute lebendig ist. Von 1927 bis 1933 entwickeln Kurt Jooss und Sigurd Leeder ihre Unterrichtsmethode an der Folkwangschule in Essen, die in Folge als Jooss-Leeder-Methode bekannt wird. Das Tanztraining soll zum einen eine Tanztechnik vermitteln, zum anderen auf die choreographische Arbeit und die Aufführungspraxis vorbereiten. Als Jooss und Leeder die Folkwangschule miteröffnen, übernimmt Jooss das Gebiet der Eukinetik, das er zu seinem Spezialgebiet erklärt und Leeder das der Choreutik. Ann Hutchinson Guest beschreibt Jooss als denjenigen, der sich besonders von

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der Eukinetik angezogen fühlte, während Leeder sich intensiv mit der Choreutik auseinandersetzte. Beide, so Hutchinson „ergänzten sich auf bemerkenswerte Weise“ (Hutchinson Guest 1985: 15). Im Gegensatz zu Jooss ist Leeder kein Schüler von Laban gewesen, adaptiert aber wie Jooss auch Labans Lehre. Jooss und Leeder setzen sich intensiv mit Labans Grundlagenforschung zu Bewegung und darüber hinaus mit Bewegungsnotation auseinander. Die Laban’sche Bewegungsschrift, die Kinetographie, fasziniert sie besonders und wird neben einem modifizierten klassischen Training, Improvisation und Komposition an der Folkwangschule unterrichtet. Besonders Leeder sah in Labans Tanzschrift ein „kreatives Instrument“ (Hutchinson Guest 1985: 21) und schätzte an ihr, dass sie den Ausführenden dazu bringt, Bewegung nach ihren Merkmalen analytisch zu erfassen. Der Zeitpunkt, der Kurt Jooss als einen wegweisenden Choreographen des 20. Jahrhunderts ausweisen wird, ist der 3. Juli 1932, an dem er mit seiner Choreographie Der grüne Tisch beim Concours International de Chorégraphie in Paris den ersten Preis erhält. Rudolf von Laban sitzt in der Jury und für ihn ist Jooss’ Erfolg eine ebensolche Bestätigung wie für Jooss selbst, hat doch Laban die Grundlagen bereitet, auf denen Jooss’ Choreographie entstanden ist. Jooss selbst bezeichnet den grünen Tisch später als „das Beispiel für Eukinetik – und auch für Choreutik“ (Jooss/Huxley 1982: 5). Das Werk wird zu Jooss’ Lebzeiten und weit darüber hinaus ein Aushängewerk des deutschen Ausdruckstanzes, in seiner künstlerischen Strahlkraft mit Pina Bauschs Le Sacre du Printemps vergleichbar. Es ist auch über achtzig Jahre nach seiner Premiere immer noch auf dem Spielplan nationaler und internationaler Tanzkompanien (Jeschke 2002). An dieser Choreographie zeigt sich der Unterschied zwischen Labans und Jooss’ künstlerischer Ästhetik deutlich. Während Laban in seinem Werk Die Welt des Tänzers forderte, dass „das Ästhetische und Konstruktive sichtbarer Repräsentant des Religiösen“ (Laban 1920: 239) sein solle, so war Jooss nicht an dem Religiösen, sondern an dem Sozialpolitischen interessiert, wie die Themen des Totentanzes und des Krieges im Grünen Tisch klar demonstrieren. Jooss’ Kunst war auf der Suche nach den „Menschen schlechthin, den leidenden, ringenden, fehlenden, siegenden, bodenständigen oder erdverketteten einfachen Menschen.“ (Jooss 1958) Damit steht Jooss’ Choreographie sowohl im Gegensatz zum klassischen Tanz und seiner ,schwerelosen‘ Kunst, wie sie z.B. durch die Tänzerin Maria Taglioni verkörpert wurde, als auch zu den am Expressionismus orientierten Tanz-

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werken des Ausdruckstanzes. Die humanistische Haltung, die in Jooss’ Choreographie zum Ausdruck kommt, ihre Themen von Tod, Krieg, Widerstand, Abschied oder Liebe auf einer konkret zwischenmenschlichen und sozialpolitischen Ebene sind diejenigen Themen, die die Choreographen aus dem Umfeld der Jooss-Leeder-Methode in den folgenden Jahrzehnten beschäftigen werden. Für die Entwicklung der Jooss-Leeder-Methode als Unterrichtsmodell ist es ebenso wie für die Entwicklung der Graham-Technik von Martha Graham, der Cunningham-Technik von Merce Cunningham oder der Limón-Technik von Jose Limón von entscheidender Bedeutung, dass sich in Jooss Choreograph und Pädagoge in einer Person vereinen. Ebenso wie Kurt Jooss ist auch Sigurd Leeder als Choreograph tätig: Er schafft eine Reihe von Choreographien wie Sailor‘s Fancy für die Ballets Jooss (1930er Jahre) und Nocturne (1952) oder Allegro Maestro (1959) für seine Londoner Sigurd Leeder Studio-Group und unterrichtet Improvisation und Komposition. Die Beziehung zwischen einer Bewegungsschule und ihrer künstlerischen Anwendung ist sowohl für die Jooss-Leeder-Methode als auch für die erwähnten aus Amerika stammenden Tanztechniken ein entscheidender Motor für deren Entwicklung und Fortschreibung, weil ihre Vertreter da-durch als Pädagogen und gestaltende Künstler gleichzeitig wahrgenommen werden und der Unterricht immer mit einer Aufführungspraxis in Verbindung gebracht werden kann. Nach dem großen Erfolg des Grünen Tisches wird die Entwicklung der Folkwangschule in Jooss’ Sinne 1933 durch seine erzwungene Flucht ins Ausland unterbrochen. Er ist nicht bereit, sich von seinen jüdischen Mitarbeitern zu trennen und ihm bleibt daher keine Wahl als die Emigration. Diese Reaktion von Jooss auf die Repressalien des nationalsozialistischen Regimes zeigt, dass Jooss’ humanistisches Ideal nicht nur auf der Bühne umgesetzt wurde, sondern auch seinen Umgang mit persönlichen, existenziellen Fragen prägte. Im englischen Dartington setzen Jooss und Leeder ihre Arbeit fort und gründen die Jooss-Leeder School of Dance. 1941 siedeln sie nach Camebridge über und rufen das Jooss Leeder Dance Studio ins Leben. Auch dort unterrichtet Jooss Eukinetik, während Leeder Choreutik lehrt. Jooss’ und Leeders Exil in Dartington, Labans Flucht vor den Nationalsozialisten nach England sowie die internationalen Tourneen des Ballets Jooss sorgen ab 1933 dafür, dass Jooss’ und Leeders Ideen außerhalb von Deutschland Ver-

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breitung finden. 1941 gründen ehemalige Tänzer des Ballets Jooss das Ballet National Santiago de Chile, während Sigurd Leeder 1947 seine eigene Schule in London ins Leben ruft. Der Begriff der „Jooss-Leeder-Methode“ oder „Jooss-Leeder-Technik“ geht auf den Zeitraum von 1927 bis 1947 zurück, in dem Jooss und Leeder die Folkwangschule in Essen und die Jooss-Leeder School of Dance in Dartington und Camebridge leiteten. Nach diesem Zeitraum trennen sich ihre Wege. Die Jooss-Leeder-Methode bzw. Jooss-Leeder-Technik bezeichnet in den folgenden Jahrzehnten den Unterricht jener Lehrer, die bei Jooss und Leeder lernten oder in deren Choreographien auftraten. 1949 kann Jooss seine Arbeit an der Folkwangschule fortsetzen, nun allerdings ohne Sigurd Leeder, der nicht mit ihm nach Deutschland zurückkehrt. Dafür wird Jooss von einem führenden Tänzer seiner Kompanie begleitet, Hans Züllig, der zunächst bis 1956 an der Folkwangschule bleibt. Im Anschluss daran arbeitet Züllig in Chile und kehrt schließlich 1961 nach Essen zurück. Auch Sigurd Leeder unterrichtet ab 1959 an der Universität von Santiago de Chile, bevor er 1964 seine Schule ins schweizerische Herisau verlegt und sie in Anlehnung an seine Zeit in England Sigurd Leeder School of Dance nennt. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich Jooss mit dem Neubeginn der Folkwangschule dem klassischen Ballett öffnet und es in den Lehrplan integriert. Nicht nur, dass die Absolventen der Folkwangschule durch die breitere Ausbildung vielseitigere Arbeitsmöglichkeiten erhalten. Besonders der Gedanke, dass sich klassisches Ballett und moderne Tanzformen nicht widersprechen, sondern einander ergänzen können, kommt darin zum Ausdruck. Dieses Konzept einer Tanzausbildung ist wegweisend für die Entwicklung sowohl des modernen als auch des klassischen Tanzes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch wenn Jooss zunächst mit diesem Konzept allein dasteht. Ab 1968 übernimmt Hans Züllig die Leitung der Folkwangschule, die 1963 den Hochschulstatus erhalten hat. Anfang der sechziger Jahre kommt auch Jean Cébron nach Essen, der schon in den späten vierziger Jahren mit Jooss in Chile gearbeitet hat. Cébron ist zunächst Tänzer im FolkwangBallett Essen, das später in Folkwang Tanzstudio umbenannt wird. Nach Aufenthalten in Schweden und Italien sowie Lehraufträgen in Essen von 1972 bis 1978 wird Cébron 1979 Professor für Modernen Tanz an der

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Folkwang Hochschule. Jean Cébron und Hans Züllig sind in der Nachfolge von Kurt Jooss und Sigurd Leeder zwei Pädagogen, deren Persönlichkeit und Kompetenz mehrere Generationen von Tänzern und Choreographen, die an der Folkwang Hochschule studieren, prägen. Beide stehen in direkter Beziehung zu Jooss und Leeder und integrieren deren Einfluss in ihren Unterricht, entwickeln aber gleichzeitig einen eigenen Stil. Jean Cébron hat bei Leeder in London studiert und vermittelt neben Übungen auf dem Boden und an der Stange auch von ihm komponierte Etüden, in denen Elemente aus der Bewegungslehre Labans wie z.B. Schwünge verarbeitet sind. In seiner Person fließen sowohl Leeders Einfluss als auch der Einfluss Joossʼ zusammen. Cébron interpretierte z.B. die Rolle des Todes in Joossʼ Der Grüne Tisch. Mehr als auf Jooss scheint Cébrons Unterricht aber auf Leeder zurückzugehen. Sowohl Leeders einmal in der Woche stattfindende „Bodenstunde“ als auch die „LeederStange“ (Müller 2001: 30) finden in Cébrons Unterricht ihre Fortsetzung. Die Idee von Tanzetüden, die ein bestimmtes Thema als Vorlage haben und die auch Cébron entwirft, geht ebenfalls auf Leeder zurück. Bei diesen Etüden geht es darum, ein Bewegungsmotiv zu entwerfen, zu entwickeln und zu variieren, vergleichbar mit Variationen eines musikalischen Themas. Hans Zülligs Unterricht beginnt mit einem Exercice an der Stange, welches sich an das Stangen-Exercice des klassischen Balletts anlehnt, in seinem weiteren Verlauf aber parallele Fußstellungen und die Mobilisierung des Oberkörpers durch Schwünge und labile Körperpositionen in die Stangenarbeit integriert und sich schließlich mit Übungen im freien Stand und durch den Raum fortsetzt. Sowohl Jean Cébron als auch Hans Züllig integrieren die Technik des klassischen Balletts in ihren Unterricht. Züllig studierte klassischen Tanz bei der Waganowa-Schülerin Vera Volkova und Cébron wurde durch Margret Craske beeinflusst, die eine der führenden Autoritäten für die dem klassischen Tanz zuzurechnende italienische Cecchetti-Technik war. Auch diese beiden Pädagogen stehen damit für ein Tanztraining, welches versucht, die Tradition des klassischen Tanzes für eine moderne Tanztechnik verwertbar zu machen, ohne den beiden Techniken dabei ihre Eigenständigkeit und Unterschiedlichkeit abzusprechen. 1955 kommt die junge Pina Bausch an die Folkwangschule. Mitte der sechziger Jahre folgen ihr Susanne Linke und Reinhild Hoffmann. Sie alle lernen Jooss, Züllig und Cébron als Künstler kennen, deren erklärtes Ziel in

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dem „rücksichtslosen Streben nach Wahrheit“ (Jooss 1958) liegt. Für den Unterricht bedeutet das, die Grundlagen klassischer und moderner Tanztechniken zu kennen und umsetzen zu können, für die künstlerische Arbeit bedeutet das vor allem ,Ehrlichkeit‘ sich selbst und dem eigenen Schaffen gegenüber. Darin sahen jedenfalls die beiden Choreographen Pina Bausch und Kurt Jooss ihre grundsätzliche Gemeinsamkeit und einigten sich während eines gemeinsamen Interviews darauf, dass es diese ,gewisse Ehrlichkeit‘ sei, die Pina Bausch von Kurt Jooss übernommen habe (Schmidt 1999: 29-30). Reinhild Hoffmann erinnert sich in Rückbesinnung an ihre Ausbildungszeit an der Folkwang Hochschule, wie wichtig es Jooss war, „das Bewusstsein: warum bewege ich mich? zu wecken“ (Hoffmann, zitiert nach Fleischle-Braun 2011: 109). Anfang der siebziger Jahre übernimmt Pina Bausch die Leitung des Tanzensembles der Wuppertaler Bühnen. Sie bindet Hans Züllig und Jean Cébron als Lehrer ihrer Kompanie in die künstlerische Arbeit ein und übernimmt 1983 als Nachfolgerin von Hans Züllig die Leitung der Tanzabteilung der Folkwang Hochschule. Auch Pina Bausch kennt die JoossLeeder-Methode aus ihrer Ausbildung an der Folkwangschule und besitzt neben ihrem Abschluss in Bühnentanz ein tanzpädagogisches Examen. Ihr ist es besonders wichtig, Jooss’ Haltung zum Tanz zu bewahren. Die Studenten sollen nicht an einen einzigen Formenkanon glauben, sondern zu Künstlern ausgebildet werden, die Bewegungsverständnis besitzen und ein Thema im Tanz zum Ausdruck bringen können. In enger Zusammenarbeit mit Jean Cébron wählt sie die Studenten aus, die in die Tanzabteilung aufgenommen werden, unterrichtet in Essen und stellt einen Austausch zwischen dem Wuppertaler Tanztheater und der Folkwang Hochschule her, der bis in die Gegenwart andauert. Als sie 1993 die Leitung der Hochschule abgibt, sind es die Tänzer des Tanztheaters Wuppertal, die weiterhin in der Tradition der Jooss-Leeder-Methode unterrichten. Malou Airaudo, Lutz Förster, Dominique Mercy und Stephan Brinkmann haben ebenso wie Jean Cébron und Hans Züllig ein eigenes Unterrichtsprofil, das sich aus ihrer unterschiedlichen tänzerischen Laufbahn erklärt, aber Parallelen zu dem Unterricht von Hans Züllig und Jean Cébron sind bei ihnen erkennbar. Durch das Fach der Kinetographie, das vierzig Jahre lang von der JoossSchülerin Christine Eckerle bis zu ihrer Pensionierung 2010 gelehrt wurde, waren die Themenbereiche der Eukinetik und der Choreutik weiterhin vertreten. Henner Drewes, selbst ehemaliger Studierender von Christine Ecker-

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le, führt heute das Fach Kinetographie unter Einbezug anderer Notationssysteme fort. Eine von der Folkwang Hochschule sich unabhängig entwickelnde Fortschreibung der Jooss’schen Bewegungsschule wurde von Eckard Brakel und Loni Harmßen in Hannover betrieben. Sowohl Brakel als auch Harmßen haben an der Folkwangschule studiert, ein Meisterstudium bei Kurt Jooss absolviert und waren im Folkwangballett engagiert, bevor sie ihre Karriere an unterschiedlichen Stadttheatern innerhalb Deutschlands fortsetzten. Nach dem Abschluss ihrer Bühnenkarriere eröffneten sie 1969 ihre eigene Ballettschule in Hannover. Während die tanzpraktische Ausbildung an der Folkwang Hochschule nach dem altersbedingten Ausscheiden von Jooss hauptsächlich durch den Unterricht von Hans Züllig und Jean Cébron geprägt wurde, hat Eckard Brakel die Bewegungsideen von Kurt Jooss beständig weiterverfolgt. Schon nach seinem Studium an der Folkwangschule arbeitete Brakel mit seiner Frau und zwei weiteren Studienkollegen, Sophie Schulz-Fürstenau und Ulrich Roehm, daran, das Bewegungsvokabular von Jooss auszuarbeiten. Von 1990 an beginnt Brakel ein Ordnungsprinzip für deutschen modernen Tanz zu entwickeln, das auf der Bewegungsfindung von Kurt Jooss beruht. Die Ergebnisse dieser Recherche wurden von Brakel mit einer seiner Tanzklassen verfilmt und von Christine Eckerle in Kinetogrammen festgehalten. Neben der Arbeit von Eckard Brakel und Loni Harmßen in Hannover ist außerdem die Lehrtätigkeit von Michael Diekamp und Barbara Passow zu erwähnen sowie die Lehrtätigkeit des in Chile arbeitenden Raymond Hilbert. Diese Pädagogen sind ebenfalls durch die Jooss-Leeder-Methode geprägt. Barbara Passows auf der Jooss-Leeder-Methode beruhender Unterricht wird in dem Sammelband Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland dargestellt (Dröge 2011). Barbara Passow nennt ihren Mann Michael Diekamp einen wichtigen Lehrer, der ihren eigenen Unterricht beeinflusst habe. Diekamp wiederum arbeitete eng mit Kurt Jooss zusammen und war von 1994 bis 2004 Professor für Modernen Tanz an der Paluccaschule in Dresden. Sowohl in seinem als auch in Barbara Passows Unterricht lassen sich viele Prinzipien der Jooss’schen Bewegungsschule wiederfinden. Raymond Hilbert war ein Schüler des Jooss-Tänzers Patricio Bunster, welcher ebenfalls mehrere Jahre an der Paluccaschule in Dresden lehrte. Er arbeitet nun, nachdem er wie Bunster an der Paluccaschule unterrichtete und

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Dozent für Modernen Tanz an der Universidad Academia de Humanismo Cristiano in Chile war, wieder in Deutschland. Zusammenfassend gesehen, erscheint die Jooss-Leeder-Methode nicht als ein in sich geschlossenes System oder als eine ausformulierte Tanztechnik. Sie kann eine Grundlage des Unterrichtens sein, ist jedoch keine Anweisung zur Ausübung starrer Bewegungsabläufe. Der Lehrende bleibt darin als Persönlichkeit erkennbar, indem er eigene Übungen entwickeln kann und der Unterricht bleibt dadurch ein kreativer Akt. Die Theorie von Rudolf von Laban mit ihrer Analyse von Bewegung und Raum ist die wichtigste Grundlage der Jooss-Leeder-Methode, aber auch Labans Philosophie, sein ganzheitliches Denken und sein Streben nach Ausdruck im Tanz, kommen in ihr zum Tragen. Humane Haltung und Vorstellung von Dynamik und Linie sind darin nicht voneinander zu trennen. Sie wurde nie zu einer verbindlichen Tanztechnik kodifiziert, sondern im persönlichen Umgang miteinander weitergereicht. Die Jooss-Leeder-Methode scheint zum Nachdenken, zum Lernen aufzufordern und es ist letztlich auch ihrer Offenheit zu danken, dass aus vielen Studenten, die mit ihr in Berührung kamen, kreative Tänzer und innovative Choreographen wurden. Tänzer und Choreographen, die mit der Jooss-Leeder-Methode in Verbindung stehen und an der Folkwang Universität ausgebildet wurden, sind außer den bereits genannten z.B. Urs Dietrich, Claudia Lichtblau, Gregor Zöllig, Joachim Schlömer, Felix Ruckert, Wanda Golonka, Henrietta Horn, Samir Akika und Ben Riepe sowie viele Tänzer des Wuppertaler Tanztheaters von Pina Bausch. Zum 25-jährigen Bestehen der Sigurd Leeder School of Dance fand Jooss in einem Glückwunschschreiben an seinen einstigen Partner ein Bild für die Verästelung der Jooss-Leeder-Methode, die nach 1947 zwei unterschiedliche Richtungen nahm: zum einen ihre Fortschreibung an der Folkwangschule und zum anderen ihre Fortsetzung an Leeders Schule in London und Herisau. „Sollten wir bedauern, wenn in späteren Wachstumsperioden der Stamm zwei kraftvolle, scheinbar selbstständige Äste hochtrieb, vor deren Reichtum und gesunder Fülle manche den sie tragendenden alten Stamm übersahen? – Aber du und ich wissen, dass er da ist, alt aber unversehrt und gesund und unerschöpfbar die oberen Äste nährend.“ (Jooss zitiert nach Müller 2001: 154)

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LITERATUR Brinkmann, Stephan (2013): Bewegung erinnern, Gedächtnisformen im Tanz. Bielefeld: transcript. Dörr, Evelyn (1999): „Kristall-Denken. Über den geistig-philosophischen Hintergrund des choreographischen Werks von Rudolf von Laban“, in: tanzdrama, 4/99, S. 14-17. Dörr, Evelyn (2005). Rudolf Laban. Ein Portrait. Norderstedt: Books on Demand. Dröge, Wiebke/Fleischle-Braun, Claudia/Stöckemann, Patricia (2011): Barbara Passow – Jooss-Leeder Technik, in: Ingo Diehl/Friederike Lampert (Hg.), Tanztechniken 2010 – Tanzplan Deutschland. Leipzig: Henschel, S. 96-132. Fleischle-Braun, Claudia/Stöckemann, Patricia (2011): Historischer Kontext, in Ingo Diehl/Friederike Lampert (Hg.). Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland. Leipzig: Henschel, S. 108-112. Hutchinson Guest, Ann (1985): „Bilder für den Tanz. Die Lehrmethode von Sigurd Leeder“, in: ballett international, (10/1985), S. 15. Jeschke, Claudia (2002): „Der weise Pakt mit dem Tod. Kurt Jooss‘ Ballett Der Grüne Tisch“, in: tanzdrama, (3/2002), S. 5-9. Jooss, Kurt (1958): Gedanken über Stilfragen im Tanz. Vortrag gehalten am 23. September 1957, Schrift 5, Essen: Folkwang-Offizin der Folkwangschule für Gestaltung, ohne Seitenangabe. Jooss, Kurt/Huxley, Michael (1982): „Der grüne Tisch – Ein Totentanz. Michael Huxley im Gespräch mit Kurt Jooss“, in: ballett international, (8/9 1982), S. 5. Laban, Rudolf von (1920): Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen. Stuttgart: Seifert. Laban, Rudolf von (1989): Ein Leben für den Tanz, Stuttgart: Haupt. Müller, Grete (2001): Sigurd Leeder. Tänzer, Pädagoge und Choreograf. Leben und Werk. Herisau: Appenzeller. Schmidt, Jochen (1999): Pina Bausch. Tanzen gegen die Angst. München: Econ. Stöckemann, Patricia (2001): Etwas ganz Neues muß nun entstehen. Kurt Jooss und das Tanztheater. München: Kieser.

Übersetzungen im Rahmen zeitgenössischer Ausbildungskonzepte

Zugang – Umgang – Fortgang Tanzerbe an der Folkwang Universität der Künste Essen seit 2011 S TEPHAN B RINKMANN

E INLEITUNG Die von Kurt Jooss gegründete Tanzabteilung der Folkwang Universität erhielt 2011 mit der Gründung des Instituts für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität der Künste eine neue Organisationsstruktur. Das durch Lutz Förster eingerichtete Institut bietet einen Bachelorstudiengang im Fach Tanz, einen Masterstudiengang im Fach Tanzkomposition mit den Studienrichtungen Interpretation, Choreographie und Bewegungsnotation und einen Masterstudiengang im Fach Tanzpädagogik mit den Studienrichtungen Klassischer und Zeitgenössischen Tanz an. Neben den Bachelorund Masterstudiengängen sind zum einen das Folkwang Tanzstudio (FTS) zum anderen das Folkwang-Tanzarchiv die zwei weiteren Säulen des Instituts, das sich in seiner Gesamtheit als Synthese aus Tradition und Innovation versteht. Die Bachelor- und Masterstudiengänge wurden im Zuge der BolognaReform geschaffen. Obwohl damit eine Ausdifferenzierung der Studienrichtungen sowie Möglichkeiten der Spezialisierung entstanden, blieben Grundzüge der seit 1927 bestehenden Tanzausbildung erhalten. Absolventen der Essener Tanzausbildung finden ihr Berufsfeld im modernen und zeitgenössischen Tanz sowie im Tanztheater. Das Ausbildungsprofil orientiert sich an der Individualität der Studierenden und Paradigmen wie Moti-

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vation, Aufrichtigkeit und Schlichtheit sind für die tägliche Arbeit im Saal und auf der Bühne maßgeblich. Das klassische Ballett ist neben modernen und zeitgenössischen Tanztechniken ein gleichwertiges Hauptfach der achtsemestrigen Tanzausbildung, berücksichtigt jedoch zum einen die körperlichen Voraussetzungen des Einzelnen zum anderen trägt es den Bedürfnissen moderner und zeitgenössischer Tänzer Rechnung. Die Ausbildung wird außer zahlreichen Nebenfächern durch das traditionsreiche Fach der Kinetographie Laban ergänzt, das bereits zu Jooss’ Zeiten Bestandteil des Lehrplans war. Obwohl Choreographie als Studienrichtung 2011 im Rahmen des Masterstudiengangs Tanzkomposition neu eingerichtet wurde, ist die von dem Choreographen Kurt Jooss gegründete Folkwang-Tanzabteilung seit jeher ein Ort der Kreativität gewesen. Die Tanzkreationen der Studierenden werden seit Jahrzehnten der Öffentlichkeit in einer eigenen Vorstellungsserie präsentiert, die Choreographien der Lehrenden werden bei den jährlichen Tanzabenden der Jahrgänge mit dem Folkwang Tanzstudio oder extern realisiert. Schließlich ist auch die Folkwang-Idee von der Verbindung der Künste ein profilstiftender Grundsatz der heutigen Tanzabteilung, der die künstlerischen Projekte der Tanzabteilung immer wieder in einen Dialog mit den Künsten Musik, Theater, Gestaltung und Architektur treten lässt und der auch die Auseinandersetzung mit Forschung und Wissenschaft sucht. Das Folkwang Tanzstudio, ein der Ausbildung angegliedertes Tanzensemble, arbeitet seit der Gründung des Instituts intensiv mit dem Masterstudiengang Tanzkomposition und dessen Studienrichtungen Interpretation und Choreographie zusammen. Die Mehrzahl der im Folkwang Tanzstudio beschäftigten Tänzer hat ihre Tanzausbildung an Folkwang absolviert, aber bewusst werden auch Tänzer aus anderen Ausbildungsstätten engagiert, um neue Einflüsse zu integrieren. Das Folkwang Tanzstudio – 1928 von Kurt Jooss als Folkwang-Tanztheater-Studio gegründet – existiert seit den 1920er Jahren mit kurzen zeitlichen Unterbrechungen, in unterschiedlichen Formen und unter unterschiedlichen Bezeichnungen. Als es 1930 dem Essener Opernhaus angeschlossen wird erhält das Folkwang-TanztheaterStudio den Namen Folkwang-Tanzbühne. Nachdem Kurt Jooss 1932 mit seiner Choreographie Der grüne Tisch den Grand Concours International de Chorégraphie in Paris gewonnen hat und ins Exil flüchten muss, bereist die Gruppe unter Namen Ballets Jooss die Welt. Nach seiner Rückkehr aus

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dem Exil nennt Jooss die Gruppe Folkwang-Tanztheater (1951) und später Folkwangballett (1961), bis sie ab 1975 unter der Leitung der Choreographinnen Reinhild Hoffmann und Susanne Linke wieder den Namen Folkwang Tanzstudio erhält. Diesen Namen trägt das Ensemble bis heute und wird nach den künstlerischen Leitungen durch Reinhild Hoffmann, Susanne Linke, Pina Bausch und Henrietta Horn seit 2012 von Professor Rodolpho Leoni geleitet. Das Tanzarchiv der Folkwang Universität, Anfang der 1990er Jahre durch Lutz Förster und Martin Bartelt neu aufgebaut und 2008 nur knapp einem Großbrand entkommen, konnte nach 2008 durch die Mitarbeit des Deutschen Tanzarchivs Köln seine Bestände neu sichern und ordnen. Bereits Kurt Jooss sammelte Zeitungsausschnitte, Fotos oder Programmhefte und sowohl die aus Jooss‘ Zeiten erhaltenen Dokumente als auch der Kinetographie bestand, u.a. mit Aufzeichnungen von Albrecht Knust, gehören zu den Materialien aus der Vergangenheit des Folkwang-Tanzes. Von 2008 bis 2016 wurde das Tanzarchiv maßgeblich von Roman Arndt erweitert und gestaltet, der im Mai 2016 im Alter von nur zweiundfünfzig Jahren unerwartet verstarb. Roman Arndt sorgte nicht nur für die Archivierung, Digitalisierung und Aufarbeitung vorhandener Materialien, sondern vor allem auch für deren Nutzung in Praxis, Forschung und Lehre. Die Bachelor- und Master-Studiengänge, das Folkwang Tanzstudio und das Tanzarchiv sind zusammenfassend die drei Einrichtungen, die nicht nur einen Umgang sondern zunächst einen grundsätzlichen Zugang zu dem Tanzerbe Folkwangs bereitstellen. Darüber hinaus liegt es in ihrem Aufgabenbereich über Zu- und Umgang mit vorhandenem Wissen hinaus, dessen Fortgang anzuregen und voranzubringen. Unter dem Begriff „Erbe“ wird vor allem materielles Vermögen verstanden. Archive mit ihren Urkunden, Dokumenten und Materialien aber auch menschliches Können und Wissen zählen dazu. Besonders der Tanz wird ganz wesentlich von Tänzern an Tänzer weitergegeben und für die Folkwang-Tanzabteilung lässt sich daher fragen, wie eine Vermittlung von Tanzerbe erfolgt und was dazu zählt. Im Folgenden soll an ausgewählten Beispielen gezeigt werden, wie sich das Institut für Zeitgenössischen Tanz der Folkwang Universität seinem Tanzerbe nähert, es aus dem Gestern ins Heute holt und es für Lehre und künstlerische Prozesse nutzt.

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D IE S TUDIENGÄNGE Seit Gründung der Tanzabteilung 1927 existiert eine nicht unterbrochene, persönliche Verbindung von Lehrenden der Tanzabteilung, die miteinander tanzten, voneinander lernten und ihr Wissen an die nächste Generation lehrender Pädagogen vermittelten. Ausgehend von Kurt Jooss wurden Ideen und Inhalte seiner und Sigurd Leeders Tanzpädagogik über Hans Züllig und Jean Cébron bis hin zu Pina Bausch und in deren Nachfolge an Lutz Förster und Malou Airaudo und nunmehr in der fünften Generation an Stephan Brinkmann, Henrietta Horn und Giorgia Maddamma weitergegeben. Die Inhalte dieser Pädagogik, die auch als Jooss-Leeder-Technik oder Jooss-Leeder-Methode bekannt ist, schließt zum einen die Theorie Labans und deren praktische Ausarbeitung durch Jooss und Leeder ein, zum anderen eine Unterrichtspraxis, die vergleichbare tanztechnische Elemente in der Bewegungsgestaltung zeigt, allerdings von Lehrer zu Lehrer variiert. Dass alle genannten Lehrenden der Essener Tanzabteilung auch als Choreographen eigener Werke wirkten beziehungsweise wirksam sind, zeigt darüber hinaus, dass Tanzunterricht und choreographische Praxis in der JoossLeeder-Methode nicht unabhängig voneinander gedacht werden und aufeinander bezogen sind. Dieser Bezug besteht seit 1927, verkörpert durch die Person und das Werk von Kurt Jooss, der Choreograph und Pädagoge zugleich war. Sein Erbe ist an Folkwang vor allem durch seine beispielgebende Person, seine Ideen und seine in Vorträgen und Reden geäußerte Haltung zum Tanz lebendig geblieben (Jooss 1958). Die Ausformulierung einer verbindlichen, modernen Tanztechnik ist von Jooss laut Aussagen einiger seiner Mitarbeiter zwar in Planung gewesen (Passow, zitiert nach Dröge, 2011: 101), erfolgt ist sie aber nicht. Der Nachlass von Kurt Jooss liegt im Deutschen Tanzarchiv Köln und auf diese Weise sind zahlreiche Dokumente von und über Jooss in geographisch erreichbarer Nähe. Jooss selbst hat bereits zu seiner Zeit die Anfänge des heutigen Folkwang-Tanzarchivs gelegt, indem er Zeitungsausschnitte und Artikel über Folkwang sammelte und vor Ort aufbewahrte. In den 1990 Jahren hat Eckard Brakel – Folkwang-Alumnus, Mitglied des Folkwangballetts in den 1960er Jahren und ab 1969 Inhaber der privat geführten TanzAkademie Brakel – das Trainingssystem Deutscher Moderner Tanz entwickelt, welches sich an Jooss’ Bewegungsgestaltung anlehnt und somit Rückschlüsse auf ihre Inhalte zulässt. Sowohl Henrietta Horn als auch Stephan Brinkmann haben

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sich mit dieser Trainingsmethode beschäftigt. Die vier erhaltenen Choreographien von Kurt Jooss – darunter besonders Der Grüne Tisch – erhielten in den letzten Jahrzehnten durch die Rechtevergabe an vornehmlich klassische Kompanien eine Prägung durch das klassische Ballett und es ist ungewiss, ob eine Genehmigung zur Einstudierung für moderne Kompanien in naher Zukunft erfolgen wird. Da Sigurd Leeder nach dem zweiten Weltkrieg nicht mit Jooss nach Essen zurückkehrte, lag seine künstlerische Hinterlassenschaft in Essen bisher weitgehend im Verborgenen, obgleich sich sein umfassender Nachlass im schweizerischen Tanzarchiv in Lausanne sowie im Tanzfilmarchiv Zürich befindet. Der theoretische Hintergrund seines Wirkens ist durch Veröffentlichungen von Jane Winearls (1958) oder seiner Weggefährtin Grete Müller (2001) zugänglicher. Leeders künstlerisches Erbe wurde an Folkwang vor allem in der Person seines Schülers Jean Cébron weiterentwickelt, der viele Ideen von Leeder übernahm, zum Beispiel, indem er wie Leeder Etüden für den Tanzunterricht schuf. Leeders Relevanz für den Zeitgenössischen Tanz soll durch ein Projekt der Schweizer Choreologin Karin Hermes sowie einem Projekt der ehemaligen Leeder-Schülerin Rée de Smit-Rohner in naher Zukunft neu in den Blick genommen werden. Bei beiden Projekten ist die Mitwirkung der Folkwang-Tanzabteilung geplant. Die Lehre von Hans Züllig und Jean Cébron, die nahezu dreißig Jahre lang den modernen Tanzunterricht an Folkwang prägte, blieb anders als der Unterricht von Jooss in Form von Übungen und Etüden erhalten und wird von einigen Lehrenden der Tanzabteilung auf unterschiedliche Weise und in Variationen aufgegriffen und an die Studierenden weitervermittelt. Jean Cébrons Choreographien, wie z.B. seine Soloarbeiten oder seine Duette, sind für Neueinstudierungen mit Hilfe seiner Schüler und durch filmische Dokumentationen erreichbar. Besonders nachhaltig war der Einfluss Cébrons und Zülligs auf nachfolgende Tanzpädagogen aber auch durch ihre künstlerische Strahlkraft. „Sie haben gelebt, was sie unterrichtet haben, und sie haben unterrichtet, was sie gelebt haben“, beschrieb Lutz Förster einmal den unvergesslichen Eindruck den Züllig und Cébron bei ihm hinterließen (Förster, zitiert nach Kapp 2014: 73). Leben, Kunst und Lehre sind im Wirken dieser Pädagogen nicht voneinander zu trennen und auch darin sind sie

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beispielgebend für eine junge Generation von Tänzern, Choreographen und Tanzpädagogen. Besonders das Werk von Jean Cébron ist seit 2011 wieder in den Fokus genommen worden (Cébron 1990). Nicht nur, dass von ihm generierte Übungen und Bewegungssequenzen in den modernen Tanzunterricht einfließen, sondern seine Etüden wurden durch Stephan Brinkmann und Henner Drewes zum Teil anhand von notierten Kinetographiepartituren neu einstudiert. Drei von Cébrons Etüden sowie eines seiner Stangenexercise wurden bei der Tagung „Das Erbe der Tanz-Moderne im zeitgenössischen Kontext“, die vom 5. bis 7. Juni 2015 in Köln stattfand, von fünf Studierenden des Studiengangs Tanz im Tanzsaal gezeigt. Seine Etüde Starting Point war Ausgangspunkt des Beitrages der Folkwang-Tanzabteilung zur Biennale Tanzausbildung 2016 in Köln (Brinkmann/Drewes 2016). Das Fach „Kinetographie Laban“ ist innerhalb der Tanzausbildung an der Folkwang Universität nach wie vor eine bedeutende Schnittstelle sowohl zwischen Praxis und Theorie, als neuerdings auch zwischen Tradition und Innovation. Das von Rudolf von Laban initiierte Notationssystem ist das wesentliche Medium der Tanzdokumentation und der Bewegungsanalyse des letzten Jahrhunderts (Laban 1928). Die Entwicklung dieses Notationssystems ist eng mit der Folkwang-Tanzausbildung verbunden, denn die Jahrzehnte währende Arbeit von Albrecht Knust, der von 1951 bis 1978 Dozent an der Tanzabteilung war, spielte eine entscheidende Rolle in der Entwicklung und weltweiten Verbreitung dieses Systems (Knust 1979). Seit nunmehr fünfzig Jahren gehen Dozenten und Experten für das Fach Kinetographie aus der Tanzausbildung in Essen hervor. Es wurde von 1969 bis 2010 von Christine Eckerle unterrichtet, die selbst von 1962 bis 1968 bei Albrecht Knust und Kurt Jooss an Folkwang studierte. Nach wie vor ist es im Bachelor-Studiengang Tanz fest im Curriculum der Universität verankert und kann mittlerweile als Masterstudiengang unter der Bezeichnung „Tanzkomposition Studienrichtung Bewegungsnotation/Bewegungsanalyse“ belegt werden. In der Gegenwart wird die Tradition der Kinetographie Laban durch neue Möglichkeiten der visuellen und digitalen Bewegungsrepräsentation ergänzt, die durch Henner Drewes – auch er ein Folkwang-Alumnus – eingebracht und ausgebaut werden. Neben der Vermittlung der Grundlagen der Kinetographie Laban führt Drewes z.B. die an der

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Universität Salzburg begonnene Arbeit an der Software MovEngine fort, einem Computerprogramm für die Notation von bestehender Bewegung, das als Werkzeug für die Archivierung und Rekonstruktion von Tanzbewegungen dient (Drewes 2016). Grundsätzlich versteht Drewes Notationssysteme aber nicht nur als Reflektions- und Dokumentationssysteme, sondern auch als ein Mittel zur Komposition, indem unter Bezug auf Notationen Strukturen von Bewegung identifiziert und anschließend isoliert werden können, um sie für kompositorische Prozesse zu nutzen (Brinkmann/ Drewes 2016). Ein besonders bedeutsamer Teil des an Folkwang gepflegten Tanzerbes besteht nach wie vor in dem Werk von Pina Bausch. Pina Bausch studierte in den 1950er Jahren nicht nur selbst an der Folkwangschule, sondern leitete später das Folkwang Tanzstudio und gab seit ihrer Zeit als Leiterin des Wuppertaler Tanztheaters Generationen von Studierenden und Tänzern des FTS die Möglichkeit in ihren Werken – hauptsächlich in ihrer Version von Strawinskys Le Sacre du Printemps – mitzutanzen. Sie schuf einen Austausch zwischen dem Wuppertaler Tanztheater und der Folkwang Universität, der bis heute anhält und auch in der Zukunft erhalten bleiben soll. Zahlreiche ausländische Studierende kommen an die Folkwang-Tanzabteilung, um mehr über die Bewegungsgestaltung von Pina Bausch zu erfahren, die selbst maßgeblich durch die an Folkwang entwickelte Tanztechnik beeinflusst wurde. Mit Studierenden der Tanzabteilung wurde 2013 das TannhäuserBacchanal einstudiert, jene 1972 von Pina Bausch für eine WagnerInszenierung choreographierten Venusberg-Szene, die ihr 1973 den Posten als Ballettdirektorin der Wuppertaler Bühnen einbrachte. Es wurde bei Aufführungen in Essen und während der Biennale Tanzausbildung 2014 in Dresden gezeigt, nachdem es zuletzt 2004 für das Internationale Tanzfestival NRW – damals noch unter der Betreuung der Choreographin selbst – neu einstudiert worden war (Brinkmann 2014).

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Abbildung 1: Pina Bausch: Tannhäuser-Bacchanal

Foto © Georg Schreiber (2013)

Um das Vermitteln von Pina Bauschs Werk geht es auch in einem Projekt, bei dem nicht die Aufführung sondern die tanzpraktische Auseinandersetzung mit einem Werk im Mittelpunkt steht. Seit dem Wintersemester 2015/16 wird das Wahlpflichtfach Pina Bausch Repertoire angeboten, das Studierende ab dem 5. Semester wählen können. Das Fach wird in Zusammenarbeit mit der Pina Bausch Foundation und wechselnden Dozenten aus dem Ensemble des Wuppertaler Tanztheaters durchgeführt und vermittelt ausgesuchte Bewegungssequenzen aus vier Jahrzehnten Bausch-Repertoire. So können die Studierenden nicht nur Ausschnitte aus Stücken von Pina Bausch erlernen, sondern kommen auch in direkten persönlichen Kontakt mit den Tänzern des Tanztheaters Wuppertal und können von deren Erfahrungen und deren künstlerischen Qualitäten profitieren. Das Erbe von Pina Bausch wird auch durch die intensive Zusammenarbeit von Folkwang-Lehrenden mit dem Tanztheater Wuppertal und der Pina Bausch Foundation weitergetragen. Lutz Förster, Tänzer beim Tanztheater Wuppertal seit 1975 übernahm von 2013 bis 2016 die künstlerische Leitung des Tanztheaters und kehrte mit Beginn des Wintersemesters 2016/2017 als Lehrender an die Tanzabteilung zurück. Malou Airaudo – Gründungsmitglied des Tanztheaters 1973 – und Stephan Brinkmann – Tänzer des Tanztheaters von 1993 bis 2010 – geben die von ihnen geschaffenen Rollen an nachfolgende Tänzergeneration weiter, z.B. während

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der Wiederaufnahmen der Stücke Café Müller, Nur Du oder Masurca Fogo und gehören zu dem Kreis der Trainingsleiter, die das Tanztheater für das tägliche Kompanie-Training engagiert. Sie tragen auch damit zu einem lebendigen Austausch zwischen der Folkwang Universität und Pina Bauschs Erbe bei, der auch in der Zukunft eine bedeutsame Rolle für das Profil des Studiengangs Tanz der Folkwang Universität spielen soll. Zum Erbe der Essener Tanzabteilung gehört aber auch eine Tradition, die sich nicht in Übungen, Etüden oder Choreographien fixieren lässt, nämlich die, eigenständig Tanzkompositionen zu entwerfen. Dies war bereits ein erklärtes Lernziel der Tanzausbildung unter Kurt Jooss. Die Tanzstudierende haben heutzutage die Möglichkeit, einmal im Jahr eigene choreographische Arbeiten in der Neuen Aula der Folkwang Universität zu zeigen, die während des Semesters durch die Pädagogen der Tanzabteilung beraten und begleitet werden. Das Programm Junge Choreographen, bestehend aus Soli, Duetten und Gruppenstücken, ist seit Jahrzehnten ein Veranstaltungsformat der Tanzabteilung, das für viele Choreographen der Beginn ihrer weiteren, eigenständigen künstlerischen Arbeit war. Schon Hans Züllig berichtete über diese Folkwang-Tradition aus seiner Zeit als Folkwangschüler: „Wenn wir unsere Tänze machen mußten, hatte Jooss immer gesagt – erstmal mach. Und danach wurde es dann zerpflückt...“ (Züllig, zitiert nach Schlicher 1987: 104).

Ebenso wie Sigurd Leeder forderte auch Kurt Jooss die Studierenden kontinuierlich dazu auf, etwas Eigenes zu machen und in dieser Tradition, diesem schöpferischen Geist, ist ein wesentlicher Zug des Erbes der Folkwang-Tanzabteilung seit 1927 zu sehen.

D AS F OLKWANG T ANZSTUDIO (FTS) Das Erbe von Pina Bausch spielt auch für das Folkwang Tanzstudio eine wichtige Rolle. Seit 2011 hat es zahlreiche Aufführungen gegeben, bei denen die Tänzer des FTS in Stücken der berühmten Folkwang-Alumna tanzend mitwirkten. Le Sacre du Printemps – sicherlich eines von Pina Bauschs berühmtesten Tanzwerken – wurde seit 2011 außer in Wuppertal

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in Warschau, Taipei, Kaohsiung, Moskau, Göteborg, Paris, Neapel, Bordeaux, Antwerpen, Wellington und Nîmes gezeigt, immer unter Beteiligung der Tänzer des Folkwang Tanzstudios und einiger Studierender der Masterstudiengänge. So konnten junge Tänzer und Tänzerinnern dieses epochale Werk von Pina Bausch mit dem eigenen Körper erleben und einem Publikum mitteilen. Viele Ideen von Laban und Jooss – wie z.B. der zentrale Bewegungsansatz, aber auch die von einer vom Menschen ausgehenden Tanzkunst – finden in Pina Bauschs Sacre eine Fortsetzung. Suchte Jooss in seinem Werk und seinem Wirken nach dem „bodenständigen oder erdverketteten einfachen Menschen“ (Jooss 1958), ließ Pina Bausch ihre Tänzer in Sacre schlicht bekleidet auf Erde tanzen (Brinkmann 2015). Außer der Beteiligung an Sacre gab es auch Mitwirkungen von Folkwang Tanzstudio-Tänzern bei den Stücken Iphigenie auf Tauris, Wind von West, Der zweite Frühling und Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört. Bei der Rekonstruktion des dreiteiligen Abends Frühlingsopfer von 1975, der aus den drei Choreographien Der zweite Frühling, Wind von West und Das Frühlingsopfer (Sacre) zu Musik von Igor Strawinsky besteht, spielte das FTS eine tragende Rolle. Der zweite Frühling wurde ausschließlich mit FTS-Tänzern besetzt. In Wind von West tanzten außer dem FTS Studierende der Folkwang Universität und der Juilliard School aus New York, in Sacre tanzten die Tänzer des Folkwang Tanzstudios wie immer zusammen mit den Tänzern des Tanztheaters Wuppertal. Die Rekonstruktion von Wind von West konnte dank einer Projektförderung des TANZFONDS ERBE ermöglicht werden und feierte im Rahmen des dreiteiligen Strawinsky-Abends im November 2013 im Wuppertaler Opernhaus seine Premiere. Alle drei Stücke waren anschließend in einer Aufführung im Essener Aalto Theater zu sehen und zwar in einer Besetzung, die komplett aus FTS-Tänzern und Folkwang-Studierenden bestand. In zwei Vorstellungen wurde die Choreographie Wind von West mit einem kombinierten Ensemble aus Folkwang- und Juilliard-Tänzern anschließend im Peter Jay Sharp Theatre in New York gezeigt. Für die Tänzer des Folkwang Tanzstudios bietet diese Zusammenarbeit mit dem Tanztheater Wuppertal Pina Bausch nicht nur die Möglichkeit einer nationalen und internationalen Tourneetätigkeit, sondern auch ein hochprofessionelles Arbeitsumfeld in einer international besetzten Tanzkompanie sowie die Möglichkeit, neben tänzerischen auch darstellerische Fähigkeiten zu entwickeln und anzuwenden. Sie tragen außerdem dazu bei, das Erbe von Pina Bausch auf der

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Bühne zum Leben zu bringen. Für 2017 sind Aufführungen von Sacre in Wuppertal und Hong Kong angesetzt. Mit dem durch den Bund geförderten Umbau des Wuppertaler Schauspielhauses zu einem Internationalen Tanzzentrum Pina Bausch – voraussichtliche Eröffnung 2022 – scheinen auch für die fernere Zukunft Wiederaufnahmen des Werkes von Pina Bausch unter Mitwirkung des FTS gesichert. Zu den Protagonisten des deutschen Tanztheaters, die aus der FolkwangTanzabteilung hervorgegangen sind, gehört neben Pina Bausch auch die Choreographin Reinhild Hoffmann. 2016 ließ sich eine Produktion mit dem Folkwang Tanzstudio realisieren, die beispielhaft für die Verbindung von Tradition und Innovation stehen kann. Die Choreographie ...une campagne noire de soleil wurde von Reinhild Hoffmann zu der Musik von Manfred Trojahn choreographiert und während der Aufführungen live vom Ensemble Modern begleitet. Sie war beim Festival Körperstürme in der Kirche St. Martin in Kassel am 15. und am 16. Mai 2016 zu erleben und soll 2017 wiederaufgenommen werden. Von Februar bis Mai 2016 probte Reinhild Hoffmann auf dem Essener Campus, bevor sie und das Folkwang Tanzstudio zu den Endproben und Aufführungen nach Kassel reisten. Das bisher nur konzertant aufgeführte Musikwerk wurde 2016 als interdisziplinäres Tanzkonzert angelegt und entsprach damit dem Grundsatz der Einheit der Künste, der seit 1927 zu einem zentralen Leitbild der Folkwang Universität der Künste zählt. Hoffmann wurde von modernen Tanztechniken geprägt, die die Choreographin während ihres Studiums an der Folkwang Hochschule Ende der 1960er Jahre erlernte. Eine damit zusammenhängende Auswirkung der Jooss-Leeder-Technik auf die Bewegungsgestaltung der Choreographie ist dadurch deutlich erkennbar. Choreutik und Eukinetik, die beiden auf der Bewegungstheorie von Rudolf von Laban fußenden und von Jooss weiterentwickelten Lehrfächer, werden von Reinhild Hoffmann als Theoriefelder betrachtet, die einen bewussteren Umgang mit Choreographie, Unterricht und Tanzpraxis ermöglichen (Vgl. Hoffmann, zitiert nach Stöckemann, 2011: 160). Dementsprechend ist ein versierter Umgang mit Kraft, Zeit und Raum in der Choreographie offenkundig und ein Beispiel dafür, wie tradiertes Wissen im schöpferischen Prozess des Choreographierens genutzt werden kann. Ungewöhnlich ist die Produktion durch die Wahl einer Kirche als Aufführungsort, womit sie die Theaterbühne verlässt und einen ursprünglich religiösen Raum mit neuer Bedeutung füllt.

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Teil der Aufführung war auch eine Filmprojektion, die die Wirkung von Licht und Schatten in Bezug auf den menschlichen Körper thematisierte und das Medium Film neben den Künsten Musik und Tanz in die interdisziplinäre Inszenierung einbezog. Die Choreographin wurde laut eigener Aussage vor allem durch den Kompositionsunterricht an Folkwang geprägt, in dem sie von Kurt Jooss dazu aufgefordert wurde nach eigenen Ausdrucksformen zu suchen (Hoffmann, zitiert nach Stöckemann 2011: 160). Auch Reinhild Hoffmann folgend, gehört also nicht nur das Bewahren von Formen, sondern genauso deren Erfinden zum wesentlichen gedanklichen Erbe des Choreographen Kurt Jooss und der nach ihm benannten JoossLeeder-Methode. Eng mit dem FTS ist auch die Tänzerin und Choreographin Susanne Linke verbunden, auch sie eine der Protagonistinnen des deutschen Tanztheaters. Von 1978 bis 1985 hatte sie die künstlerische Leitung der Gruppe inne und choreographierte auch in den darauffolgenden Jahrzehnten immer wieder für das Folkwang Tanzstudio und die Studiengänge der Tanzabteilung. Seit 2011 schuf sie Stücke für die Master- und Bachelorstudierenden, die 2013 und 2014 während der jährlich stattfindenden Tanzabende der FolkwangTanzabteilung gezeigt wurden. Darüber hinaus unterrichtete sie gastweise den modernen Tanzunterricht für den zweiten Jahrgang der Tanzabteilung und nahm 2014 an dem Workshop Uni-Tanz im süditalienischen Lecce teil. 2010 ernannte sie die Folkwang Universität zur Honorarprofessorin. Susanne Linke hat sich in den vergangenen Jahren damit beschäftigt, ihre über Jahrzehnte gemachten Erfahrungen als Tänzerin und Choreographin in einer eigenen Tanztechnik zu verdichten, die sie Inner Suspension nennt. Beeinflusst ist Inner Suspension durch die Pionierin des Ausdruckstanzes Mary Wigman, an deren Schule Susanne Linke studierte. Ebenso setzt sich der Unterricht der Folkwang-Pädagogen Kurt Jooss, Hans Züllig und Jean Cébron, mit denen Susanne Linke zum Teil intensiv gearbeitet hat, in ihrer Technik fort, sowie prägende Erfahrungen der Zusammenarbeit mit Dore Hoyer und Pina Bausch. Ein erster Workshop zu dieser Technik wurde mit dem FTS und Masterstudierenden im April 2015 an der Folkwang Universität durchgeführt und in darauffolgenden Workshops in Berlin und beim Tanzkongress 2016 fortgesetzt. Susanne Linke spricht von einem Bewegungsgedächtnis, das die Arbeit mit Tanzkünstlern von Wigman bis Bausch in ihr hinterlassen hat und versucht mit der Ausformulierung einer eigenen

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Technik diese Gedächtnisspuren neu hervorzubringen und in einer eigenen Trainingsmethode zu fassen. Ein Umgang mit verkörpertem Tanzerbe wird an Susanne Linkes Verfahren deutlich, der tänzerisches Wissen nicht nur erhalten und weitergeben sondern auch neu gestalten will. Erbe – und damit Gedächtnis – ist über seine identitätsstiftende Funktion nicht nur eine notwendige Voraussetzung für die praktische Bewältigung der Gegenwart, sondern kann auf die Zukunft bezogen auch als Motor für die Ingangsetzung neuer Prozesse genutzt werden. Abbildung 2: Susanne Linke: Frauenballett

Foto © Georg Schreiber (2010).

D AS T ANZARCHIV Zeitungsausschnitte von 1927 bis 1961, Presseberichte, Programmhefte, Nachlässe von Kurt Jooss und Hans Züllig, Plakate, Fotos, Videos... alle diese Materialien und mehr zählen zum Bestand des Folkwang-Tanzarchivs. Die Sammlung wurde von Kurt Jooss mit Gründung der Folkwangschule 1927 begonnen und später durch Christine Eckerle weiterbetreut, die sich auch um den Kinetographiebestand kümmerte, der sich aus Aufzeichnungen von Albrecht Knust aus der Zeit seiner Unterrichtstätigkeit an der Folkwang-Hochschule, dem Nachlass der 1987 verstorbenen Tänzerin und Pädagogin Gisela Reber sowie Unterlagen zur tanzpädagogischen Tätigkeit von Christine Eckerle zusammensetzt. Lutz Förster sorgte Anfang

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der 1990er Jahre dafür, dass Materialien nicht weggeworfen wurden und baute das Tanzarchiv mit der Hilfe von Martin Bartelt neu auf. 2007 wurde es von Thomas Thorausch, dem Stellvertretenden Leiter des Deutschen Tanzarchivs Köln und Tonja Wiebracht, der damaligen Lehrbeauftragten für das Fach Tanzgeschichte sowie Mitarbeiterin des Folkwang-Tanzarchivs, gesichtet und in Teilen gesichert. Bis dahin befand sich das Tanzarchiv im Dachgeschoss der Hochschule und ein Großbrand 2008 führte nicht nur zur Auslagerung der Bestände ins Deutsche Tanzarchiv Köln, sondern auch zu deren dortigen Aufarbeitung, Katalogisierung und Digitalisierung. Nach der Rückführung der Bestände nach Essen kümmerte sich ab 2011 der 2016 verstorbene Roman Arndt um die Weiterentwicklung des Tanzarchives, das sich seitdem im Dachgeschoss des renovierten Südflügels der Universität befindet. Wie niemand vor ihm machte Roman Arndt die Materialien für Studenten, Dozenten und Gäste der FolkwangHochschule zugänglich und initiierte zahlreiche Projekte, die sich mit Tanzgeschichte und der Tradition des Tanzes an der Folkwang-Universität beschäftigten. Er lud Tänzer, Tanzwissenschaftler und Künstler anderer Disziplinen ein und führte im Namen des Tanzarchives Lehrveranstaltungen, Werkwochen, Vorträge und Exkursionen zu Ausstellungen und Tanzvorführungen durch. Beispielhaft sei im Folgenden ein Projekt skizziert, das von Roman Arndt und Wibke Hartewig, freie Tanzwissenschaftlerin und Autorin, unter dem Namen Folkwangschule Essen: Zwischen Restauration und Aufbruch 2013 begonnen wurde und nun der Fortsetzung bedarf. Anlass des Projektes war die Übergabe von Nachlässen ehemaliger Studierender von Kurt Jooss sowie von Kommilitonen von Pina Bausch. Die Folkwang-Alumni aus den 1950er und 1960er Jahren wollten ihre subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen während ihrer Studienzeit an der Folkwangschule einer interessierten Öffentlichkeit mitteilen und somit für die Nachwelt erhalten. 2013 wurden qualitative Interviews mit ehemaligen Folkwang-Studierenden geführt, in denen die Befragten nach den damaligen Lehrplänen, nach Lehrern und Gastdozenten, nach Mitschülern oder nach Auftritten während der Studienzeit befragt wurden. Im Fokus der Befragung stand nicht nur das Anliegen, ein Bild der damaligen Tanzausbildung zu erhalten, sondern es sollte darüber hinaus die Wechselwirkung von Tanzausbildung und gesellschaftspolitischen Tendenzen im Deutschland der 1950er und 1960er Jahre herausgearbeitet werden. Dieser vor allem über die Biographie der Persön-

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lichkeiten Pina Bausch und Kurt Jooss wahrgenommenen Zeitabschnitt der Folkwangschule sollte durch die Ergebnisse des Projektes in einen neuen tanz- und zeitgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Die von Roman Arndt und Wibke Hartewig erstellten audiovisuellen und schriftlichen Interview-Materialien wurden dem Folkwang-Tanzarchiv hinzugefügt. Geplant war, über Formate wie Vorträge, Workshops und Werkwochen sowohl den Studierenden als auch der interessierten Öffentlichkeit Ergebnisse des Projektes zu vermitteln und dadurch auch neue performative Formate der Präsentation von Tanzgeschichte zu entwickeln. Die Ausarbeitung dieses Projektes steht für die Zukunft an. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein bestanden die vom FolkwangTanzarchiv und Roman Arndt ausgehenden Aktivitäten aber nicht nur in der Aufarbeitung und Aktualisierung von historischen Beständen und Erinnerungen, sondern auch in der Initiierung von an der zeitgenössischen Kunstproduktion und -forschung orientierten Projekten. Diese greifen immer auf ein existierendes Gedächtnis zurück und können insofern auch unter dem Gesichtspunkt einer Tradition betrachtet werden. Im Jahr 2015 wurden die Wissenschaftler Agnieszka Jelewska und Michal Krawczak von der Universität Adam Mickiewicz in Poznan, Polen eingeladen. Sie haben dort die Leitung des Forschungszentrums Humanities Art Technology (HAT) inne, das die Schnittstellen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technologie erforscht. Mit Studierenden des Fachbereiches der Darstellende Künste der Folkwang Universität der Künste führten die beiden Wissenschaftler einen einwöchigen künstlerisch-wissenschaftlichen Workshop mit dem Titel Affective Communication in Techno-Natural Environments durch, dessen Ziel es war, neue Kommunikationsstrategien zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Natürlichem und Künstlichem oder Analogem und Digitalem zu erforschen. Das letzte von Roman Arndt begonnene und durch die Tanzjournalistin Melanie Suchy zu Ende geführte Projekt bezog sich auf Forsythes Improvisation Technologies, deren Wurzeln bei Rudolf von Laban – Kurt Jooss’ bedeutendstem Lehrer – liegen. Im Juni 2016 präsentierten die Studierenden des zweiten Semesters Ergebnisse ihrer theoretischen und praktischen Recherche zu Forsythes Methode in Saal A des Tanzhauses Hans Züllig der Folkwang Universität. Die tanzpraktischen Ergebnisse in Form von kurzen Soli und Duetten machten auf überzeugende Art und Weise deutlich, dass durch historisches Wissen (Laban), innovative Systeme und Technologien

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entstehen (Forsythe), die von einer neuen Generation für eigene Ausdrucksmöglichkeiten genutzt werden können. Prozesse dieser Art in Gang zu setzen kann ebenso zu den Aufgaben eines Archives gehören, wie die Bewahrung von Bestehendem. Die Vielseitigkeit der Interessen und der Initiativen des Tanzhistorikers Roman Arndt können beispielgebend sein für die Zukunft des Tanzarchivs der Folkwang Universität sowie des Fachs Tanzgeschichte überhaupt. Roman Arndts Vision eines Folkwang-Tanzarchivs bestand darin, über einen Ort an dem Dokumente gesammelt und aufbewahrt werden hinaus, Wege und Formen zu schaffen, in denen Tanzgeschichte lebendig gemacht und durch vielseitige Methoden der Vermittlung eine in die Zukunft weisende Dynamik entfalten kann. In einer seiner Stellungnahmen zur Tanzgeschichte finden sich folgende Sätze von Kurt Jooss: „Um in gewisser Weise sensibel zu werden, muß man sich auf die Tradition beziehen [...] Wenn ein Künstler sieht, was vor ihm geschah, ist er offen und erhält zurück, was frühere Zeiten erreicht haben [...] Es wäre eine Sünde, über Bord zu werfen, was wir geerbt haben. Wir müssen es nicht praktizieren, aber wir sollten es in unser Wissen und unsere Möglichkeiten einbeziehen. Dann können wir auswählen, was wir brauchen, was wir wollen. Aber wir können eine Auswahl nur von Dingen treffen, die wir kennen“ (Kurt Jooss, zitiert nach Stöckemann 2001: 67).

Abbildung 3: Tanzgeschichte-Unterricht mit Roman Arndt

Foto © Christian Piechaczek (2016)

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Z USAMMENFASSUNG Zusammenfassend besteht das an der Folkwang-Tanzabteilung gepflegte Tanzerbe aus der Jooss-Leeder-Technik, einem über Jahrzehnte gewachsenes Repertoire an Choreographien und den im Tanzarchiv gesammelten Beständen. Diese drei Elemente von Tanzerbe, die in Form von materiellen und immateriellen Gütern existieren, sind kaum unabhängig voneinander zu betrachten und befinden sich in einem anhaltenden Prozess des Austauschs miteinander. Was in neunzig Jahren Moderner Tanz an der Folkwang Tanzabteilung gelehrt und geschaffen wurde lebt darüber hinausgehend nicht nur auf dem Essener Campus fort, sondern wurde durch Tanzstudierende aus aller Welt in diese zurückgetragen und wirkt dort fort. Die Jooss-Leeder-Technik wurde zwar nie kodifiziert, ist aber durch direkte Vermittlung lehrender Pädagogen von Generation zu Generation weitergegeben worden. Diese persönliche Vermittlung einer zeitgenössischen Tanztechnik über einen Gesamtzeitraum von inzwischen neunzig Jahren an ein und demselben Ort dürfte für den modernen und zeitgenössischen Tanz des 20. und 21. Jahrhunderts einzigartig sein. Dadurch blieb nicht nur ein verkörpertes Wissen erhalten, sondern mit den Namen Jooss, Leeder, Züllig, Cébron und Bausch sind persönliche Erfahrungen verbunden, die das Fachwissen ergänzen und beleben. Die praktische Lehre der Jooss-Leeder-Technik ist in Übungen und Etüden erhalten, zum Teil durch notiertes und audiovisuelles Material, zum Teil durch implizites Wissen lehrender Pädagogen. Relevant ist dieses Bewegungswissen auch heute noch, weil es die Elemente Kraft, Zeit und Raum in tänzerischer Bewegung bewusst macht und in der Bewegungsgestaltung räumlich komplex und dynamisch vielfältig anwendet. Die Variabilität von Methodik und Didaktik gehört zum Selbstverständnis der Jooss-Leeder-Methode dazu, denn sie fordert den Lehrenden dazu auf, sein Unterrichtsmaterial immer wieder gedanklich zu durchdringen und gegenwartsbezogen an die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Studierenden anzupassen. Kennzeichnend für die JoossLeeder-Methode ist darüber hinaus, dass sie Beziehungen zwischen Bewegung und Musik sowie zwischen Bewegung und Emotion herstellt und damit auf die tänzerische und choreographische Praxis zielt (Brinkmann 2013). Dies ist nach wie vor für zeitgenössische Methoden der Tanzpädagogik sowie für choreographische Verfahren relevant.

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Die gesamte Theorie des Bewegungspioniers Rudolf von Laban liegt der Jooss-Leeder-Technik zugrunde und wurde von Jooss und Leeder geringfügig an ihre Vorstellungen angepasst. Relevant ist der Jooss-LeederAnsatz also auch deswegen, weil der Zugang zu ihm nicht nur körperlich, sondern auch analytisch erfolgen kann. Bewegungsgeschehen kann auf diese Weise über das Nachahmen hinaus verstanden und auf andere Körpertechniken übertragen werden. Auch für die Improvisation, die Komposition und die Arbeit mit nicht-professionellen Tänzern bietet die Theorie der Jooss-Leeder-Methode eine Fülle von methodischen und didaktischen Ansätzen. Das Theoriefeld der Kinetographie Laban zählt ebenfalls zu dem theoretisch-wissenschaftlichen Potential der Jooss-Leeder-Technik dazu. Es zeigt besonders durch Ansätze einer neuen Generation von Bewegungsanalytikern vielversprechende und innovative Umgangsweisen mit Tanzschrift auf. Dass Jooss von Beginn an Ensemble-Arbeit und Ausbildung gleichzeitig betrieb und förderte gehört ebenfalls zum gedanklichen Erbe der Folkwang-Tanzabteilung. Wissen will nicht nur tradiert, sondern in der Kunst-ausübung angewandt werden und die Zukunft neu gestalten. Das Folkwang Tanzstudio ist ein Beispiel dafür, dass Ausbildung und künstlerische Praxis den gleichen Ort besitzen und besetzen können und Rekonstruktionen und innovative Choreographien einander nicht ausschließen. Dass ausgerechnet das kleine Ensemble um Kurt Jooss und in seiner Folge um Pina Bausch, Susanne Linke und Reinhild Hoffmann zur Keimzelle des Deutschen Tanztheaters wurde, demonstriert darüber hinaus, dass eine Ausbildungsstätte nicht ausschließlich existierende Traditionen und Institutionen bedienen muss, sondern sie auch zu ändern im Stande ist. Indem Jooss das klassische Ballett als gleichberechtigtes Hauptfach in der Tanzausbildung etablierte, sperrte er das Erbe des klassischen Tanzes aus der modernen Tanzausbildung nicht aus, sondern suchte nach Wegen, es für die zeitgenössische Tanzkunst fruchtbar zu machen. Nicht widersprechen, sondern ergänzen sollten sich die unterschiedlichen Tanztechniken, um die Studierenden mit verschiedenen Körpertechniken auszustatten, die dazu dienen, Tanz als Bühnenkunst in seiner ganzen Vielfältigkeit, Komplexität und auch Virtuosität auszudrücken und voranzubringen. Das Tanzarchiv der Folkwang Universität ermöglicht es den Studierenden, anhand der Geschichte ihrer Tanzausbildung den eigenen künstlerischen Werdegang historisch zu verorten, zu reflektieren und zu hinterfra-

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gen. Dokumente und Materialien bieten nicht nur die Möglichkeiten umfangreicher theoretischer und praktischer Recherchen sondern auch den Anstoß für Überlegungen zur Zeitgenossenschaft von Tanzerbe. Auf dem Nährboden der künstlerischen Nachlässe von Jooss bis Bausch wächst die Kreativität einer neuen Generation von Tänzern, Choreographen und Tanzpädagogen, zu der der individuelle Ausdruck und die Fähigkeit der eigenständigen Tanzkomposition ebenso hinzuzählt, wie die selbständige Gestaltung des Tanzunterrichts. Das an Folkwang gepflegte Tanzerbe ist nicht allein in fixierten Formen, Techniken oder Dokumenten zu finden. Die Rechte an den Werken von Jooss, Leeder oder Bausch liegen nicht bei der Folkwang-Tanzabteilung, sondern bei den gesetzlichen Erben der betreffenden Künstler. Jenseits von Rechten, Techniken und Materialien aber existiert eine Atmosphäre des Ortes, ein künstlerisches Klima sowie eine Haltung der Kunst gegenüber, die im Künstler den Menschen, in der Tradition den Reichtum und im eigenen Ausdruck die Zukunft erkennt. Diese Haltung schließt auch die Offenheit gegenüber anderen Traditionen ein. Seit 2011 wurden zahlreiche Dozenten an die Tanzabteilung eingeladen, die aus anderen zeitgenössischen Kontexten als denen des Folkwang-Tanzes stammen, wie z.B. Juan Cruz Diaz de Garaio Esnaola, Robert Swinston, Roxane D’Orleans Juste, Ingo Reulecke, Khosro Adibi oder die Street Art-Tänzer der Bochumer Renegade-Kompanie. Emanuel Gat, David Hernandez und Johannes Wieland sowie Mitglieder der Ensembles von Sasha Waltz und Josef Nadj schufen Choreographien für das FTS sowie für die Tanzabteilung und es fand Tanz an ungewöhnlichen Spielorten wie z.B. im U-Bahnhof unter dem Rathaus in Essen oder im Internationalen Zentrum für Lichtkunst in Unna statt. Die Relevanz des an Folkwang vermittelten Tanzerbes besteht also nicht allein in der Vermittlung von Erreichtem sondern in einem daraus hervorgehenden Mut zum Experiment sowie dem Streben nach neuen Ausdrucksformen.

L ITERATUR Arndt, Roman (2015). Lebendiges Archiv, Zum Status quo, den Projekten und Zielsetzungen des Folkwang-Tanzarchivs. Unveröffentlichtes Dokument.

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Arndt, Roman (2016). Mein Statement. Unveröffentlichtes Dokument. Brinkmann, Stephan (2013). Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz. Bielefeld: transcript. Brinkmann, Stephan (2014): „Rekonstruktion als schöpferischer Prozess“, in: In Marc Wagenbach/Pina Bausch Foundation (Hg.), Tanz erben. Pina lädt ein (S. 85-95). Bielefeld: transcript. Brinkmann, Stephan (2015). „Ihr seid die Musik! Zur Einstudierung von Sacre aus tänzerischer Perspektive“, in: Gabriele Brandstetter/Gabriele Klein (Hg.): Methoden der Tanzwissenschaft. Bielefeld: transcript, S. 143-164. Brinkmann, Stephan/Drewes Henner (2016): „Notation Reflexion Komposition, Die Etüde „Starting Point“ von Jean Cébron“, in Susanne Quinten/Stephanie Schroedter (Hg.): Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis, Choreographie – Improvisation – Exploration. Bielefeld: transcript, S. 73-85. Cébron, Jean (1990): „Das Wesen der Bewegung. Studienmaterial nach der Theorie von Rudolf von Laban“, in: Dietrich, Urs (Hg.), Eine Choreographie entsteht. Das kalte Gloria. Essen: Die Blaue Eule, S. 73-98. Drewes, Henner (2014): „MovEngine – Movement Values Visualized“, in: Claudia Jeschke/Nicole Haitzinger (Hg.): Tanz & Archiv, Forschungsreisen, Mobile Notate. München: epodium, S. 22-33. Dröge, Wiebke; Fleischle-Braun, Claudia; Stöckemann, Patricia (2011): „Barbara Passow – Jooss-Leeder Technik“, in: Ingo Diehl/Friederike Lampert (Hg.), Tanztechniken 2010 – Tanzplan Deutschland. Leipzig: Henschel, S. 96-132. Jooss, Kurt (1958): „Gedanken über Stilfragen im Tanz. Vortrag gehalten am 23. September 1957“, Schrift 5. Essen: Folkwang-Offizin der Folkwang-Schule für Gestaltung 1958. ohne Seitenangabe. Kapp, Patricia (2014): Tanzlehrer die uns bewegen. Wuppertal: Nacke. Knust, Albrecht (1979): Dictionary of Kinetography Laban. London: MacDonald and Evans. Laban, Rudolf von (1928): Schrift-Tanz. Wien: Universal Edition. Müller, Grete (2001): Sigurd Leeder: Tänzer, Pädagoge und Choreograf. Leben und Werk. Herisau: Appenzeller. Schlicher, Susanne (1987): TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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Stöckemann, Patricia (2001): Etwas ganz Neues muß nun entstehen. Kurt Jooss und das Tanztheater. München: Kieser. Stöckemann, Patricia (2011): „Tanztechniken und Lebenswege – Der deutsche Ausdruckstanz im Gespräch. Interviews mit Ann Hutchinson Guest, Anna Markard, Reinhild Hoffmann und Katharine Sehnert“, in: Ingo Diehl/Friederike Lampert (Hg.): Tanztechniken 2010 – Tanzplan Deutschland. Leipzig: Henschel, S. 156-167.. Winearls, Jane (1958). Modern Dance: The Jooss-Leeder Method. London: A. & C. Black.

Das Erbe der Tanz-Moderne im Studiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“ an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien N IKOLAUS S ELIMOV

Die Tänzerin, Choreographin und Pädagogin Rosalia Chladek (1905-1995) begann ihr System und ihre Lehrweise bereits während ihrer Tätigkeit als Ausbildungsleiterin für Gymnastik und Tanz an der Schule HellerauLaxenburg (1930-1938) zu entwickeln: „Als ich von Basel, wo ich ja schon selbständig gearbeitet habe (1928-1930), das zweite Mal nach Hellerau-Laxenburg ging, bildete sich meine eigene Lehrweise heraus, die ständig überprüft und ergänzt wurde. [...] Meine Lehrerin in Hellerau (19211924) Jarmila Kröschlowa, eine Mensendieck-Schülerin, hat bestimmt einen wesentlichen Grundstein für meine Arbeit gelegt, das Verständnis für Bewegung, ihre Ansätze und Konsequenzen im Verlauf, auch für ihre anatomisch-physiologische Richtigkeit.“ (Rosalia Chladek 1985, im Interview mit Hans-Gerd Artus) 1

Die Ausbildung von Tanzpädagogen und Tänzern an Hand des Chladek Systems hat am ehemaligen Konservatorium der Stadt Wien – der heutigen Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK.Uni) – eine lange und wechselvolle Geschichte.

1

Siehe Artus 1985: 16-17.

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In den Jahren 1942-1952 war Rosalia Chladek selbst Leiterin der Ausbildungsstätte Tanz für Bühne und Lehrfach am Konservatorium der Stadt Wien. Von 1968-2002 leiteten ihre Schülerinnen Hedwig Farkas (bis 1984) und danach Elisabeth Kreutzberger (bis 2002) die Ausbildung mit jeweils unterschiedlichen Zielsetzungen. Seit 2002 leite ich den Studiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“, der seither eine inhaltliche und in pädagogischer Hinsicht methodisch-didaktische Neuausrichtung erfahren hat.

P ERSÖNLICHER B EZUG ZUM C HLADEK -S YSTEM Ich habe meine tänzerische und tanzpädagogische Ausbildung am ehemaligen Konservatorium der Stadt Wien, Mitte der 1980er Jahre abgeschlossen. Meine damaligen Lehrerinnen hatten die Lehrweise und das ChladekSystem direkt von Rosalia Chladek vermittelt bekommen, allerdings nicht zur gleichen Zeit. Daher gab es bereits in der zweiten Generation nach Chladek durchaus unterschiedliche Methoden der Vermittlung. Ich hatte auch die Gelegenheit, in mehreren von Rosalia Chladek geleiteten Kursen ihren Unterricht aus erster Hand kennenzulernen. Im Gegensatz zur zweiten Generation, die bemüht war, das Chladek-System punktgenau und bisweilen etwas zu ehrfurchtsvoll zu vermitteln, konnte die dritte Generation, zu der ich mich zähle, einen befreiten Umgang mit diesem wichtigen Erbe der Tanz-Moderne entwickeln.

N EUPOSITIONIERUNG DES C HLADEK -S YSTEMS Zu Beginn meiner Tätigkeit als Studiengangsleiter haben wir im Kollegium diskutiert, welchen Stellenwert die Vermittlung des Chladek-Systems in der Zeitgenössischen Tanzpädagogik Ausbildung in Zukunft einnehmen sollte. Das Substanzielle von Roasalia Chlakes Erbe ist die Entwicklung einer Systematik zur Ausbildung von Tänzern und Tanzpädagogen, die die grundlegenden tänzerischen Bewegungsmöglichkeiten strukturiert, ohne dabei einen Bewegungsstil zu etablieren. Die von ihr definierten Grundprinzipien: Bewegungsansatz, Gewichtsverlagerung und Körperverhalten unter Einbeziehung der Spannungsdifferenzierung im Wechselspiel von Eigenenergie und Gravitation ermöglichen den Studierenden eine viel-

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fältige, zeitgenössische Tanzsprache ohne ästhetische Einschränkung zu entwickeln.2 Diese Eigenschaften unterscheiden das Chladek-System wesentlich von allen anderen Modernen Tanztechniken und rechtfertigen seine Anwendung im Zeitgenössischen Tanzpädagogik-Studium. Die Qualität von pädagogischen Vermittlungsprozessen wird durch die Klarheit des Chladek-Systems unterstützt: Beispielsweise bei der Entwicklung von Lehrplänen, bei der Gestaltung eines abwechslungsreichen Unterrichts, der mit Hilfe von unterschiedlichen methodischen Schritten ein Lehrziel erreicht und schließlich durch die Möglichkeit, an Hand klarer Analysen sachlich-unterstützende Korrekturen an die Studierenden zu geben. Die Kritik am Chladek-System wurde in der Vergangenheit einerseits an der von ihr selbst entwickelten Methodik („Lehrweise Chladek“) als auch an einem starren, die Studierenden zum Teil formatierenden Übungskanon geübt. Dieser entwickelte sich in den Jahren, als die zweite Generation nach Chladek unterrichtet hat. Rosalia Chladek hat in ihrem System keinen Übungskanon intendiert und hat auch stets die Verschriftlichung des Chladek-Systems abgelehnt. „Die Schüler sollen sich in der Bewegung selbst kennenlernen, um damit auch einen Schlüssel für die eigene Entwicklung zu erhalten. Es geht mir nicht darum, einen speziellen Bewegungsstil zu vermitteln. Körperbildung und Tanztechnik sind für mich nicht Selbstzweck, sie sind nur Mittel, um den Körper zu einem individuell vielseitig spielbaren Tanzinstrument zu entwickeln.“ (Rosalia Chladek 1985, im Interview mit Hans-Gerd Artus)3

Vielmehr geht es ihr in einem durchaus zeitgenössischen Sinn um die individuelle Entwicklung tanzkünstlerischer Kompetenzen. Ingrid Giel und Gunhild Oberzaucher-Schüller (2002: 132) stellen resümierend fest:4 „Somit hat Chladek dem werdenden Tanzpädagogen äußerste Klarheit, große Flexibilität und Variabilität in der Art des Unterrichtens vorgelebt und ihm mit ihrem System objektivierte Mittel in die Hand gegeben, so dass er aufgrund der Dynamik

2

Vgl. zur Chladek-Technik auch die Ausführungen von Ingrid Giel S. 141 ff. und Ursula Schebrak-Carcich S. 158 in diesem Band.

3

Siehe Artus 1985: 16-17.

4

Siehe Oberzaucher-Schüller/Giel 2002: 132.

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seiner eigenen Persönlichkeit – unabhängig vom Vorbild – einen selbständigen Weg finden kann. Der Tänzer profitiert von dieser Pädagogik insofern, als er ebenfalls zu einer Selbständigkeit geführt wird [...] Darüber hinaus erfährt er nicht nur den physischen Teil des Tänzerberufs, sondern lernt Möglichkeiten kennen, die ihm den Weg zu einem schöpferischen Tänzer oder Choreografen zeigen.“

Die wichtigsten Maßnahmen, die die Studienkommission zur Neupositionierung des Chladek-Systems an der MUK.Uni beschlossen hatte, waren: Im Hauptfach „Zeitgenössischer Tanz für Tanzpädagogen/-innen“ wurden Bewegungsimitation, Bewegungsanalyse und Training sowie Improvisation an Hand tanztechnischer Aspekte und die Vermittlung vorgegebener Tanzkompositionen – ergänzend zur Lehrweise Chladek, die als Methode fast ausschließlich auf verbale Vermittlung setzt – als zusätzliche Methoden eingeführt. Weiters wurden für die einzelnen Semesterstufen klare Zielvorgaben formuliert, ohne dabei die individuellen und ganzheitlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Studierenden, die das Chladek-System intendiert, zu gefährden. Die kritische Hinterfragung des Chladek-Systems und die Entscheidung, einige Aspekte, die der Ästhetik der Entwicklungszeit verpflichtet waren, nicht mehr zu vermitteln, unterstützten die Etablierung einer zeitgemäßen und den gegenwärtigen Berufsanforderungen von Tänzern und Tanzpädagogen entsprechenden Methode. In künstlerischer Hinsicht wurde im Studiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“ ebenfalls die Positionierung hin zum Zeitgenössischen Tanz vollzogen. Der Moderne Tanz und seine Techniken waren der Schulung von Bewegungsharmonie, einem hohen Stellenwert von rhythmischmusikalischen Prinzipien und der so genannten „natürlichen“ Bewegung verpflichtet. Folglich war das künstlerische Schaffen oft von „harmonisierenden Bewegungsprinzipien“ geprägt. „Ich bin von dem Bestreben durchdrungen, Menschen, denen sich infolge der tiefgreifenden Ereignisse der letzten Jahre der Sinn des Daseins verschleiert hat und die dadurch mit sich und der Umwelt zerworfen sind, wieder zur Harmonisierung ihres Seins zu verhelfen.“ (Rosalia Chladek bei einer Ansprache 1950, USA)

5

Siehe Radrizzani 2003: 24.

5

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Bis auf wenige Ausnahmen mangelte es dem Modernen Tanz an körperlicher und im heutigen Sinn ästhetischer Radikalität. Der Zeitgenössische Tanz öffnet sich neuen inhaltlichen Themenfelder, intensiviert interdisziplinäre Konzepte und strebt die Vielfalt tänzerischer und künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten an. Erst im Zeitgenössischen Tanz begegnen wir der Dekonstruktion von Bewegung, Disharmonie, dem Einsatz von Alltagsbewegung, performativen Konzepten, dem bewussten Nicht-Ausschöpfen körperlicher und tänzerischer Bewegungsmöglichkeiten und bisweilen dem Einsatz von tänzerischen Ausdrucksmitteln, die sich auf schmerzhafte Weise gegen den Körper selbst richten können. Um diesen Anforderungen der aktuellen künstlerischen Praxis gerecht zu werden, bietet das neue Curriculum Raum für unterschiedlichste Zugänge und Herangehensweisen der Improvisation, Choreographie und Performance. Die Grundlage der künstlerisch-kreativen Schulung im Hauptfach Gestaltung (Improvisation, Interdisziplinäres Gestalten und Choreographie) ist die von Manfred Aichinger entwickelte Methode der strukturierten Improvisation. Die Einflüsse des Chladek-Systems sind in diesem Bereich nur indirekt.

C URRICULARE V ERORTUNG DES C HLADEK -S YSTEMS Zeitgenössische Tanz- und Tanzpädagogikausbildungen berufen sich in der Regel nicht auf eine spezielle Technik, sondern schöpfen aus vielen unterschiedlichen Quellen. Im neuen Curriculum des Studiengangs „Zeitgenössische Tanzpädagogik“ ist das Chladek-System, vor allem im ersten Studienabschnitt (Grundlagen) im Zentralen Künstlerischen Fach „Zeitgenössischer Tanz für Tanzpädagogen/-innen“ verortet.6 In meinen Improvisationsunterricht integriere ich auch Themen des Chladek-Systems, um bestimmte Bewegungsqualitäten in Form von strukturierten Improvisationen zu etablieren. Im zweiten Studienabschnitt (Professionalisierung) werden auch andere Methoden des Zeitgenössischen Tanzes gelehrt.

6

Vgl. dazu den Studienplan des BA-Studiengangs „Zeitgenössische Tanzpädagogik“, abrufbar unter http://www.muk.ac.at/fileadmin/mediafiles/documents/ Studienplaene_2016-17/Studienplaene_Stundentafeln/ SG11_BA_Zeitgen Tanz paedagogik_2016_17.pdf .

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Im Fokus der ersten vier Semester steht die Beschäftigung mit den Grundprinzipien des Chladek-Systems und deren Anwendung im tänzerischen Bewegungsfluss. Dabei wird die Etablierung einer umfassenden zeitgenössischen Tanztechnik initiiert, die einen harmonischen Bewegungsfluss fördert und zugleich Raum für individuelle Entwicklungen bietet. Der ganzheitliche Ansatz des Chladek-Systems fördert die Studierenden von Beginn an, die Eigenwahrnehmung zu vertiefen, Bewusstheit über die jeweilige Bewegung zu erlangen und ein definiertes Körperbild zu entwickeln. Weiters unterstützt es dabei, funktionelle Bewegungsmöglichkeiten kennenzulernen und bewegungsanalytische Kompetenz zu erlangen. Die Grundprinzipien des Chladek-Systems werden auch in Improvisationen fächerübergreifend angewandt und vertieft. Kreative Prozesse fördern ab dem ersten Ausbildungssemester die gestalterische Kompetenz der Studierenden. Im zweiten Studienabschnitt werden die Inhalte des Chladek-Systems weiter vertieft und in komplexen Tanzformen zur Anwendung gebracht. Die Studierenden werden ab dem 5. Semester angeregt, das bisher Gelernte intensiv zu reflektieren und zu hinterfragen um in der Folge selbständig individuelle tänzerische Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln. Abbildung 1 und 2: „Short Works 2016“ (1. bis 3. Studienjahr)

Fotos © Armin Bardel (2016)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der neue Studienplan die Etablierung einer umfassenden tanztechnischen Schulung an Hand des ChladekSystems intendiert und somit Erkenntnisse und Methoden der Tanz-

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Moderne im ersten Studienabschnitt der Ausbildung verortet sind. Im weiteren Studienverlauf unterstützt die Vermittlung von vielfältigen künstlerischen Konzepten und unterschiedlichen Methoden des Zeitgenössischen Tanzes die Studierenden bei der Entwicklung individueller tanzkünstlerischer Kompetenz und deren Anwendung in den Berufsfeldern des Zeitgenössischen Tanzes. Die Ziele und die verschiedenen Ausbildungsfelder innerhalb des Zentralen Künstlerischen Fachs „Zeitgenössischer Tanz“ an der MUK.Uni, in welche die Grundelemente und Inhalte des Chladek-Erbes einfließen, sind nachfolgend zusammengefasst. Ziele des Zentralen Künstlerischen Fachs „Zeitgenössischer Tanz“:



Entwicklung von tanztechnischer Kompetenz und Etablierung von zeitgenössischem tanzkünstlerischem Handwerk an Hand der Grundprinzipien des Chladek-Systems: - Bewegungsansatz und Bewegungskonsequenz (ganzkörperlich/ peripher) - Gewichtsverlagerung / Gewichtsübertragung - Körperverhalten - Spannungsdifferenzierung

• • • • •

Förderung der individuellen Tänzerpersönlichkeit Vielfalt des Bewegungsvokabulars und Klarheit in der Ausführung Körperliche Flexibilität und Stabilität Koordination und tänzerischer Fluss in dynamischer Differenzierung Kinetik im Spannungsfeld von Kraft, Zeit und Raum

Methoden: Körperwahrnehmung/ Bewegungsanalyse/ Reflexion Ziel: Voraussetzungen für tänzerische Entwicklung schaffen. Ganzheitlicher Ansatz, erlebnis- und erfahrungsorientiert (vgl. „Lehrweise Chladek“)

• •

Förderung der Eigenwahrnehmung Entwicklung von Körperbewusstheit und definiertem Körperbild an Hand der funktionalen Bewegungsmöglichkeiten sowie Aufrichtung, Grundspannung, Körperachsen, Platzierung

• •

Bewusstmachung der Systematik Entwicklung von bewegungsanalytischer Kompetenz

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Improvisation Ziel: Initiierung der künstlerischer Anwendung



Kreative Prozesse zur Schärfung spezifischer tänzerischer Qualitäten auf der Basis der entwickelten Grundlagen.

Tanzinterpretation / Tanzkomposition Imitation und Kreation:



Vermittlung von Tanzkombinationen zu unterschiedlichen tanztechnischen Themen.



Studierende gestalten eigenständig Tanzkompositionen zu tanztechnischen Themen (Etüden).

Training Ziel: Erweiterung und Absicherung der physischen Möglichkeiten



Kräftigung, Dehnung, Koordination, Ausdauer und Kondition.

W ISSENSCHAFTLICHE E RSCHLIESSUNG DES N ACHLASSES VON R OSALIA C HLADEK Der Tanzhistorikerin Univ.-Prof. Dr. Andrea Amort, Lehrende im Studiengang Tanz an der MUK.Uni, ist es gelungen, die Internationale Gesellschaft Rosalia Chladek und das Theatermuseum Wien zu einer mehrjährigen Kooperation zu gewinnen. Der besonders große und wertvolle Text-Nachlass von Rosalia Chladek wird von Amort und Team an der MUK.Uni wissenschaftlich erschlossen und in mehreren Projekten beforscht. Danach geht dieser sortierte und beschriebene ‚eröffnete‘ Bestand an das Theatermuseum Wien, wo er die bereits dort lagernde Fotosammlung und die Kostüme aus dem Chladek-Nachlass ergänzt. In den kommenden Jahren können daher wichtige Quellen des choreographischen und pädagogischen Nachlasses erschlossen werden. Die wissenschaftliche Arbeit und die zu erwartenden Forschungsergebnisse werden neben Publikationen auch künstlerische Projekte resultieren. Dieser Prozess der angewandten Forschung unterstützt unseren Anspruch, das Erbe von Rosalia Chladek aus dem Blickwinkel der Gegenwart zu analysieren und zu reflek-

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tieren, um es auch in Zukunft als wertvollen Inhalt des Tanzpädagogik Studiums anwenden zu können.

D IE W EITERWIRKUNG DES E RBES DER T ANZ MODERNE IM Z EITGENÖSSISCHEN T ANZ Wesentliche Merkmale der Tanz-Moderne sind der ganzheitliche Bildungsanspruch, das gemeinsame forschende Lernen, die Betonung der körpergerechten und effizienten Tanztechnik, der vielfältige Umgang mit Raum sowie der zumeist nicht hierarchische Ansatz in Vermittlung und künstlerischer Praxis. Viele dieser Erkenntnisse und Errungenschaften des Modernen Tanzes sind heute selbstverständliche Inhalte der zeitgenössischen Tanz- und Tanzpädagogik-Ausbildungen. Das Erbe der Tanz-Moderne liegt sozusagen in den Genen des Zeitgenössischen Tanzes. Die Beschäftigung mit dem Erbe des Modernen Tanzes im universitären Kontext rechtfertigt sich nicht nur in der Bewusstmachung der Vorbedingungen des gegenwärtigen Tanzschaffens, sondern insbesondere in der lebendigen tanzkünstlerischen Forschung, Anwendung und Weiterentwicklung. Die museale Pflege der Tanz-Moderne stellt weder für Studierende noch für Lehrende eine attraktive Herausforderung dar und würde wohl bald zum Verlust dieses wichtigen Erbes führen.

L ITERATUR Artus, Hans-Gerd (1985): „Lebendige Tradition im Ausdruckstanz. Interview mit Rosalia Chladek“, in: ballett international (1985, Nr. 6/7), S. 17-19. Oberzaucher-Schüller, Gunhild/Giel, Ingrid (2002): Rosalia Chladek. Klassikerin des bewegten Ausdrucks. München: Kieser. Radrizzani, René (Hg.) (2003): Rosalia Chladek. Schriften und Interviews. Wilhelmshaven: Noetzel.

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INTERNET -Q UELLE Fakultät Darstellende Kunst – Tanz der MUK Privatuniversität der Stadt Wien. Studienplan für das Bachelorstudium Zeitgenössische Tanzpädagogik. Zugriff unter http://www.muk.ac.at/fileadmin/mediafiles/ documents/Studienplaene (abgerufen am 20.1.2017)

Die Suche nach dem Maß – Was ist eine gute und richtige Tanzbewegung? D ENISE T EMME „Es kann fast alles Tanz sein. […] Es hat immer mit dem Wie zu tun.“ PINA BAUSCH, ZIT. N. SERVOS 2003: 305 „Denn das Traurigste an den Auftretern und Workshop-Schluffis, die hier alljährlich eingeladen werden, ist ihr vollkommenes Desinteresse an der Tanzkunst“ WIEBKE HÜSTER 2011: OHNE SEITE „Oder will sie [Wiebke Hüster] einfach nur, dass die zeitgenössischen Choreographen endlich wieder anfangen, „richtig“ zu tanzen?“ MARTIN NACHBAR 2005: OHNE SEITE

Z UM P ROBLEM Diehl und Lampert (vgl. 2011: 15) stellen – die Darlegung und Reflexion tanzkünstlerischer Ausbildungskonzepte in Deutschland einleitend – hinsichtlich des Wandels von Technik und Training im Zeitgenössischen Tanz heraus, dass der Choreograph William Forsythe im Rahmen der 1. Biennale

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Tanzausbildung 2008 die Studierenden sinngemäß dazu ermunterte, so viele Techniken und Körpersprachen so gut wie möglich zu lernen – dies, um „durch die Erarbeitung von Fertigkeiten größere Freiheit zu erlangen“ (ebd.: 15). An anderer Stelle kommentiert der Choreograph Hofesh Shechter im Kontext eines Gesprächs über seine künstlerische Arbeit die zeitgenössische bzw. Zeitgenössische Praxis des Bühnentanzes in einem Interview wie folgt: „Nichts als eine eineinhalb-stündige Serie von Bewegungen, die alle gleich aussehen und das Gleiche bedeuten. Da klammern sich Leute an eine bestimmte Vorstellung von Bewegung – anstatt zu versuchen, ihre eigene Bewegungssprache zu entwickeln, um damit ihre Gedanken oder Gefühle ausdrücken.“ (Shechter, zit. nach Wiegand 2007: ohne Seite).

Die Möglichkeit eine eigene Bewegungssprache im Tanz zu entwickeln und gerade nicht – um den Gedanken Shechters aufzunehmen – auf ein bestimmtes Material an Bewegungsvollzügen zurückzugreifen, die das Gleiche bedeuten, verbindet sich mit einer Idee tanzkünstlerischer Bildung, welche das Moment der Freiheit im Tun zu ermöglichen vermag. Was bedeutet dieses Anliegen ganz konkret für die Praxis von Tanzvermittlung – beispielweise im Kontext tanzkünstlerischer Ausbildung? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage oszilliert zwischen folgenden Bezugsfeldern: Bildungsprozesse in Bewegung – Verständnis von menschlicher Bewegung und von Tanz resp. von Tanzbewegung – Vermittlungspraxis des Elementaren Tanzes. So geht es zum einen um eine Verständigung darüber, welche Konzeptualisierung von Bildung und Bildungsprozessen sich mit dem Anliegen einer Freiheit im tanzkünstlerischen Tun verbinden lässt. Zum zweiten gilt es offenzulegen, welches Verständnis menschlicher Bewegung mit der Idee einer Gebildetheit – im Unterschied zu einer Ausgebildetheit – in Bewegung in Anspruch genommen ist. Mit einer tätigkeitstheoretischen Modellierung menschlicher Bewegung ist es hieran anschließend möglich, ein Maß guter und richtiger Tanzbewegung zu präzisieren, das gerade nicht an bestimmten Tanzbewegungsvollzügen gebunden ist. Die Gegebenheit eines solchen Maßes ist mithin die Bedingung der Möglichkeit bewegungsbildungsorientierter Vermittlung in einer Tanzpraxis, die explizit auf eine Offenheit der Bewegungssprache – von den Bewegungsmöglichkeiten des Körpers ausgehend – ausgerichtet ist. Im

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letzten Schritt geht es dann darum, zentrale Aspekte der am Institut für Tanz und Bewegungskultur der Deutschen Sporthochschule Köln realisierten Konzeption und Vermittlungskonzeption des Elementaren Tanzes zu den bewegungsbildungstheoretischen Prämissen sowie dem formulierten Verständnis von Bewegung und Tanz in Bezug zu setzen.

B ILDUNG ODER A USBILDUNG Worin liegt das Nicht-Austauschbare von Bildungsprozessen? Worin das Nicht-Austauschbare einer Praxis der Vermittlung von Tanz – sowohl im Feld akademischer Tanzausbildung als auch in jenem kultureller BreitenBildung –, die als tanzkünstlerische Bildungsprozesse aufgefasst sind? Was unterscheidet eine solche Vermittlungspraxis – um den hier wesentlichen Gegenkandidaten zu nennen – von einer Vermittlung von Technik oder Techniken im Sinne einer berufsfeld-optimierten Ausbildung im Tanz? Bei dieser Frage nach dem Eigentümlichen von Bildungsprozessen geht es gerade nicht darum, die Felder akademischer Tanzausbildung einerseits und tanzkultureller Bildung andererseits in der Weise zu unterscheiden und als von einander zu trennende Bereiche aufzufassen, dass es in dem einem um den künstlerischen Tanz selbst geht und in dem anderen um den Tanz als Mittel einer Bildung von sozialer Kompetenz, emotionaler Ausdrucksfähigkeit oder auch einer Kreativität etc. pp. – und damit dann um je – grundlegend – andere Vermittlungskonzepte. Eine hierzu analoge und manifeste Unterscheidung ist jene, welche für die Praktiken des Sports geradezu archetypisch zu sein scheint: Während es im Feld des Leistungssports klarerweise um den Sport selbst geht, ist dieser im Feld beispielsweise von Sportunterricht explizit oder implizit – mithin entgegen formulierter Absicht – zuallererst als Mittel einer Bildung des Subjekts gedacht (vgl. Temme 2015: 146ff). Mit diesen Setzungen ist dann die Setzung je eigener und betont anderer Vermittlungsstrategien verknüpft. Es ist ein Anliegen dieses Beitrags, eine solche Unterscheidung und Trennung von Kontexten der Vermittlung hier gerade nicht treffen. Der Beitrag geht von der Auffassung aus, dass es in den verschiedenen Kontexten der Tanzvermittlung um Bildungsprozesse geht – und zwar um solche, die den Tanz selbst als Ort von Bildungsprozessen setzen.

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Worin liegt also das Eigentümliche von Bildungsprozessen? Worin liegt der konkrete Unterschied einer Ausrichtung der Tanzvermittlungspraxis, die auf die Initiierung von Bildungsprozessen ausgerichtet ist, zu einer zuvorderst ausbildungsorientierten Praxis der Tanzvermittlung? Bildungsprozesse sollen es ermöglichen, die Welt und sich selbst besser verstehen zu lernen (Meinberg 2012: 168). Insofern spricht Meinberg in Bezug auf eine Leibesbildung von einer „Hermeneutik des Leibseins“ (vgl. ebd.). Auf eine Tanzbildung bezogen bedeutete dies: Tanzbildungsprozesse sollen es ermöglichen, den Tanz bzw. Tanzbewegungen – eigene und fremde – besser verstehen zu lernen. Wie lässt sich dieses Verstehen präzisieren und für die Praxis des Tanzes konkretisieren? In gelingenden Bildungsprozessen liegt ein Versprechen von Freiheit. 1 Die Freiheit, etwas so oder anders zu denken, tun bzw. lassen zu können. Bezogen auf Tanz: Es geht um die Freiheit, sich so oder auch anders bewegen bzw. tanzen zu können und Tanz so selbstbestimmt realisieren zu können. Greifbar wird das Wesen dieser Freiheit in dem Verfahren ihrer Ermöglichung: Als konstitutiv für Bildungsprozesse sind Reflexionsprozesse gesetzt. Mit Bezug den reflexiven Bildungsbegriff Kants präzisiert Schürmann (2010) diese wie folgt: „Die Aufforderung zielt jetzt nicht darauf ab, das material Richtige zu denken, sondern zielt darauf, richtig zu denken – mit dem wesentlichen Kern des Selbstdenkens. Nicht bestimmte Inhalte zu vertreten, gilt als aufgeklärt, sondern Aufklärung ist mit Kant definitiv an ein (formales) Verfahren der (Selbst-) Prüfung von Inhalten gebunden.“ (Ebd.: 64).

Angewandt auf das menschliche Bewegen bedeutet dies – in Kurzform: Bewegungsreflexität verweist auf ein Tun, in dem es nicht darum geht, material richtige Bewegungen – Bewegungstechniken und -fertigkeiten – zu vollziehen, sondern darum, sich richtig zu bewegen (vgl. Temme 2015: 232). Dieser Aspekt der Ausrichtung auf ein Material oder auf den Umgang mit diesem – oder jenen – markiert einen für das vorliegende Anliegen wesentlichen Unterschied von Bildung und Ausbildung. Damit verbunden ist zugleich die Frage des Zwecks beider Vorgänge: Eine auf ein bestimmtes Material ausgerichtete Ausbildung ist klar zweckorientiert, es geht um

1

Vgl. hierzu anschaulich Schürmann (2010: 66f.).

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die Aneignung von bestimmten Wissensbeständen, mit deren vollzogener Aneignung der Vorgang der Ausbildung gelingend abgeschlossen ist. Das herzustellende Produkt der Ausbildung – der bestimmte Wissens- oder Könnensbestand – liefert zugleich das zentrale Maß des Gelingens dieses Vorgangs. Bildungsprozesse sind als Prozesse unverfügbar, folgen nicht der Logik einer Mittel-Zweck-Struktur und fokussieren nicht bestimmte Wissensbestände (vgl. Schürmann 2010: 61ff). Es geht um den prüfenden Umgang mit Inhalten als Wissens- oder Könnensbeständen. Diese Tätigkeit des Prüfens lässt sich mit Herder als eine Tätigkeit des Absonderns von Merkmalen, „daß dies der Gegenstand und kein anderer ist“ (1772: 32), konkretisieren. Reflektiertes Können beispielsweise im Tanz dokumentiert sich demnach darin, das eigene Tun oder Geschehen der Bewegung in dem Wie des Sich-Realisierens zu erkennen, prüfen und darüber so über es verfügen zu können – es so oder anders vor sich hinstellen zu können. Am Beispiel der Strebung des Armes: Es geht nicht allein darum, das Streben als Streben in seinem Unterschied zu einem GestrecktHalten zu erkennen – Wie fühlt es sich an? So fühlt es sich an. Das ist Streben – und so in der Unterscheidung zu verstehen. Es geht in diesem Verstehen darum, zugleich dessen gewahr zu werden, wie sich dieses Streben körperlich realisiert resp. wie es sich realisieren lässt. Dieses Prüfen ist die Voraussetzung dafür, mit den Merkmalen des Strebens zu spielen, beispielsweise mit den Momenten des Umschlagens von Streben und Halten. Allgemeiner formuliert: Es bedeutet demnach erkennen zu können, inwiefern der je realisierte Bewegungsvollzug der Vollzug dieser Bewegung ist. Ein solcher Modus des Zu-eigen-Machens von Bewegung fragt nicht allein danach, was das je für eine Bewegung ist, sondern auch inwiefern die Bewegung sich als diese Bewegung realisiert. Veranschaulichen lässt sich diese Gedankenfigur der Reflexion mithilfe der Präzisierung der hier zugrunde gelegten Konzeption von Bewegung, welche an späterer Stelle erfolgt und auf dieses zentrale Moment der Reflexion zurückkommen wird. Worin unterscheidet sich ein solches reflektiertes Können bzw. Verstehen von einem bloßen Können bzw. Verstehen – dies konkret in Bezug auf Tanzbewegung? Es unterscheidet sich in dem genannten Moment von Freiheit im Tun. Es geht nicht darum, bestimmte – und material richtige – Tanzbewegungen anzueignen und diese zu können – auch nicht eine Vielzahl derer – sondern darum, an Tanzbewegungen die Tätigkeit des Tanzens zu lernen, ein Verstehen-Können von Bewegung und Tanzbewegung zu

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fokussieren. Insofern weist ein reflektiertes Können bzw. Verstehen über das Spezifische – über bestimmte Bewegungsvollzüge – hinaus und vermag so das Versprechen von Freiheit im Tun einzulösen.

T ANZBEWEGUNGSGEBILDETHEIT – UNTER SCHIEDLICHE S TRATEGIEN BEI GLEICHEM ANLIEGEN Welche möglichen Strategien zur Hervorbringung von vielseitigen Tänzern mit flexiblem Bewegungskönnen sind – analytisch – unterscheidbar? Es lassen sich zwei Strategien eine Freiheit im tänzerischen Tun zu ermöglichen, abgrenzen. Eine dieser Strategien geht zuallererst von einem bestimmten Bewegungsmaterial aus, von bestimmten Bewegungsformen und -weisen. Gefasst sind damit Tanzpraktiken, deren Techniken sich als bestimmte körperliche Bewegungsvollzüge realisieren. Der prototypische Fall hierfür ist der Klassische Tanz. Innerhalb dieser am Material orientierten Herangehensweise an Tanz und Tanzvermittlung lässt sich wiederum eine Binnenunterscheidung von Strategien vornehmen: Die erste dieser am Material orientierten Strategien setzt eine bestimmte Tanzpraktik mit ihren bestimmten Formen und Weisen der Bewegung als eine solche, die gleichsam als grundlegender Ausgangsort aller anderen Bewegungen aufgefasst ist. Sie geht davon, dass auch ein tanzkünstlerische Praxis mit explizit offener Ausrichtung des Tanzbewegungsverständnisses – nicht eine bestimmte stilistische Ausprägung des Tanzes mit festgelegten Bewegungsvollzügen in der choreografischen Praxis – eines bestimmten Grundbewegungsmaterials bedarf, welches es zu beherrschen gilt. Sie geht damit, wie gesagt, davon aus, dass sich ausgehend von diesem systematisch angeeigneten, bestimmten Material alle anderen Bewegungen entwickeln lassen. Forsythe setzt den Klassischen Tanz als eine solcherart grundlegende Tanzbewegungspraxis (Forsythe in Kirchner 1984: 8): „Ballet ist a body of knowledge, not an ideology, and I see it as something you can depart.“ (Ebd.). Sie ist damit als eine Tanzpraxis gesetzt, die nicht ausschließlich dieser Ausformung des Tanzes selbst dient, sondern als gleichsam neutraler Ausgangsort der Entwicklung anderer Bewegungssprachen im Tanz gedacht ist. Die zweite Strategie innerhalb einer Fokussierung an einem bestimmten Material an Bewegungen – Formen und Weisen – setzt Freiheit im Können

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mit addiertem Können gleich: Es gilt nicht nur eine – als grundlegend erachtete – oder zwei grundlegende Tanzpraktiken, die an bestimmten Bewegungsvollzügen gebunden sind, zu beherrschen, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Tanztechniken, welche mitunter durch verschiedene Bewegungspraktiken – den so genannten somatischen Praktiken – ergänzt werden (vgl. Temme 2015: 244). Diese Strategie zur Hervorbringung einer Vielseitigkeit und Flexibilität im Sich-Bewegen ist dabei keineswegs neu: Im Feld des Sports nannte man das polysportive Ausbildung bzw. polysportives Training – mit Martina Hingis als prominenter Exponentin. Etwas aktueller, bei etwas anderer Zuspitzung spricht man von einem deliberate play, welches dem deliberate practice entgegengesetzt wird.2 Welche Grundidee steckt hinter diesen Konzepten – sowohl im Leistungssport als auch im Feld der Tanzausbildung? Als Kern lässt sich das Problem der motorische Variabilität und Flexibilität des Sportlers bzw. des Tänzers ausmachen. Gesucht werden Formen des Trainings, die ein solches Bewegungskönnen beispielsweise in der Zielsportart hervorbringen, das sich als immer wieder veränderbar realisiert und so auch eine stete bewegungstechnische Weiterentwicklung des Sportlers ermöglicht. Der Sportler soll auf Basis vielfältiger Bewegungserfahrungen in die Lage versetzt werden, seine Bewegungsvollzüge immer wieder um- oder auch neulernen zu können. Wie erstere Strategie setzt eine zuallererst additive Konzeptualisierung von Können Tanzbewegung als Bewegen am Material – mit dem Unterschied nicht von einem als grundlegend gesetzten Material auszugehen, sondern von einem Nebeneinander, einer Vielheit distinkten Bewegungsmaterials. Bewegungskönnen wird in beiden Fällen als ein Können bestimmter Bewegungen gesetzt und entwickelt. Wie lässt sich bei dieser Setzung jedoch der Schritt von einem bestimmten, beherrschten Material an Bewegungen – der bei Forsythe als Grundtanztechnik verhandelte Klassische Tanz – bzw. einer Vielfalt an je für sich erlernten Bewegungstechniken als Mittel hin zu einem flexiblen Können im Tanz präzisieren? Hierzu sind wiederum zwei Möglichkeiten denkbar: Zum Einen die implizite Idee, dass der Tänzer oder Sportler mit der Vielheit der angeeigneten Bewegungen gleichsam jede Bewegung so oder etwas anders schon mal gemacht hat – flexibles Können als verbreiter-

2

Vgl. zum Konzept des deliberate play Côté (2007); zum Konzept des deliberate practice Ericsson et al. (1993).

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tes Können. Die andere Möglichkeit deutet bereits auf die zweite der oben angekündigten zwei Strategien für die Hervorbringung eines flexiblen Könnens hin. Es ist die Idee, dass man durch verschiedene Bewegungserfahrungen – irgendwie – so etwas wie ein vertieftes Bewegungskönnen im Sinne eines vertieften Verständnisses zu entwickeln vermag. Auf welchem Weg genau sich jedoch ein solches tieferes Verstehen aus dem Nebeneinander oder Nacheinander disparat praktizierter Bewegungspraktiken herausbilden kann, wird in diesem Kontext nicht explizit deutlich gemacht. Es wird vielmehr implizit ein Automatismus von einer Vielheit des Könnens in ein vertieftes Können vorausgesetzt. Bis hierhin festzustellen sind für solche Konzepte der Tanzausbildung, die ein Können im Tanz als die Beherrschung eines bestimmten Materials an Bewegung setzen, zwei Aspekte: Als Addition von möglichst vielen gekonnten Bewegungen ist ein in dieser Lesart als flexibel gedachtes Können logisch endlich. So zählt es in dieser quantitativen Konzeptualisierung von Können, sich möglichst eine große Zahl an Bewegungspraktiken oder Tanztechniken anzueignen. Ein so ausgebildeter Tänzer ist damit derjenige, der nicht diese und jene Technik beherrscht, sondern auch eine bestimmte Bewegung aus der einen Praktik mit einer Bewegung der anderen verbinden kann – Vielseitigkeit als Kompetenz stilübergreifender Kombinatorik? Zudem ist keineswegs klar, dass sich aus einer als Ausgangstechnik gedachten Tanzpraxis, welche ganz bestimmte Bewegungsvollzüge einübt, sich eine Freiheit in Bewegung eröffnen kann, die nicht auf diese bestimmten Bewegungen zurückgreift. Dies widerspräche dem Konzept des Bourdieuʼschen Bewegungshabitus, dessen springender Punkt gerade ist, dass man Bewegungsroutinen nicht abstreifen kann wie einen Mantel. Wie sich also aus der Beherrschung eines bestimmten Materials an Bewegungen die formulierte Freiheit im tänzerischen Tun ergeben soll – mit dem bloßen Entscheiden, dass jetzt tun zu wollen –, bleibt offen.

Z UM V ERSTÄNDNIS

VON

B EWEGUNG

Das bis hierhin Formulierte hat einen bisher schlicht umgangenen Haken: Die Denkmöglichkeit der Tätigkeit eines Verstehens von Bewegung oder eines reflektierten Verstehens von Bewegung hängt daran, welche Grundannahme von Bewegung gesetzt ist. Auch insofern ist diese Frage nach dem

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theoretischen Verständnis von Bewegung und Tanz kein theoretisches Luxusproblem. Sie geht davon aus, dass es schlicht nicht möglich ist, Tanz beispielsweise bewegungstheoretisch neutral zu vermitteln oder bewegungstheoretisch neutral an ein Improvisieren heranzugehen. Spätestens jedoch mit der Frage nach dem Maß gelingender Tanzbewegung ist die Bedeutung der Frage nach dem theoretischen Verständnis von Bewegung und Tanz offenkundig und unumgänglich. Im Kern geht es um die Verständigung darüber, wie die kleinste, damit nicht mehr teilbare Einheit menschlicher Bewegung gesetzt ist. Setzt man menschliche Bewegung in ihrer kleinsten Einheit als rein physischen Vorgang, ist dieser als solcher der Tätigkeit des Verstehens nicht zugänglich. Rein körperlich gedachte Vorgänge lassen sich nicht verstehen. Die weiter oben formulierte Frage nach dem Was einer Bewegung fragt danach, als was eine Bewegung bestimmt ist, als was sie gilt. Sie fragt nach der Bedeutung bzw. dem Sinn – im semantischen Sinne – der Bewegung. In Anspruch genommen wird in vorliegendem Beitrag insofern ein Verständnis menschlicher Bewegung, welches diese als sinnhaften Prozess setzt – dies in der Weise, dass Bewegung als solche sinnhaft ist und nicht eines hinzukommenden Aktes der Sinnzuweisung bedarf. Gegeben ist die Möglichkeit eines solchen Verständnisses menschlicher Bewegung mit einer tätigkeitstheoretischen Modellierung derselben (vgl. Temme 2015: 21ff). In dieser ist Bewegung als ein logisches Zugleich von geistiger und körperlicher Tätigkeit konzipiert – ohne jedoch den Unterschied zwischen diesen Tätigkeiten aufzuheben. Diese Möglichkeit einer solchen theoretischen Modellierung eröffnet sich mit der Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule der Psychologie.3 Als kleinste Einheit menschlicher Bewegung gesetzt ist demnach die sinnhafte Bewegung, an der das Moment des Sinns von dem des körperlichen Bewegungsvollzugs zu unterschieden ist; gedacht ist damit ein diakritisches Verhältnis des Sinns der Bewegung und des biomechanisch beobachtbaren körperlichen – mithilfe physikalischer Parameter beschreibbaren und erklärbaren – Bewegungsvollzugs.4 Um die oben

3

Vgl. grundlegend für die Tätigkeitstheorie Leont’ev (1982; 2012) und in der Übertragung auf menschliche Bewegung Temme (2015: 21ff).

4

Vgl. grundlegend für eine sprachanaloge Modellierung menschlicher Bewegung mit Bezug auf das Saussure’sche Konzept des Diakritischen von Zeichenkörper und Zeichenbedeutung Fikus/Schürmann (2004).

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eingeführte Denkfigur des Verstehens und reflektierten Verstehens – mündend in einem Können und einem reflektierten Können – von Bewegung in einer tätigkeitstheoretischen Modellierung menschlicher Bewegung zu präzisieren:5 Eine Bewegung zu verstehen bedeutet die Sinnhaftigkeit der Bewegung als solcher zu erfassen: Die Streckbewegung des Armes wird als ein Streben – in Form einer dichten6 Beschreibung beispielsweise in Unterscheidung zu einem Halten-als-Schranke – und nicht in den physikalischen Parametern des körperlichen Bewegungsvollzugs als damit (noch) abstrakte Bewegung aufgefasst. Zu unterscheiden ist diese Praxis der Aneignung von Bewegung von einem nicht-verstehenden Aneignen von Bewegung und von einem reflektierten Verstehen von Bewegung. Ein reflektiertes Verstehen bedeutet dessen gewahr zu werden, was in dem Vollzug einer Bewegung die So-oder-anders-Sinnhaftigkeit ausmacht (vgl. ebd.: 241). Die Setzung eines Verstehens in und von Bewegung – welche ihrerseits eine Grundbedingung für eine Rede von Bewegungsbildungsprozessen ist – bedarf somit einer Konzeption, welche Bewegung als sinnhaften Prozess auffasst. Wie angedeutet wird die Bedeutsamkeit dieser Setzung jedoch insbesondere in der Suche nach einem Maß guter und richtiger Tanzbewegung als allesentscheidend offenkundig. Ohne die Setzung eines logischen Zugleichs von Sinn und körperlichen Bewegungsvollzug ergibt sich ein Folgeproblem hinsichtlich der Präzisierung eines Maßes des Gelingens, das für Tanzbewegungen taugt, die nicht einem bereits gegebenen Bewegungskanon entstammen oder auch zugeordnet werden.

5

Vgl. für eine tätigkeitstheoretische Modellierung von Bewegungsbildung und der Differenzierung von einem nicht-verstehenden Aneignen, einem Verstehen und einem reflektieren Verstehen Temme (2015: 229 ff).

6

Der auf Geertz (1983; 1987) zurückgehende Terminus der „dichten Beschreibung“ wenden Fikus und Schürmann auf menschliche Bewegung an: Eine dünne Beschreibung menschlicher Bewegung ist demnach eine solche, die vom konkreten Sinn eines Tuns resp. einer Bewegung abstrahiert, eine dichte, eine solche, welche die Bewegung diesem gemäß bestimmt (vgl. Fikus/Schürmann 2004: 40-42).

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AUF DER S UCHE

NACH DEM M ASS GUTER UND RICHTIGER T ANZBEWEGUNG Bezugnehmend auf die oben skizzierten Herangehensweisen an die Ermöglichung eines allgemeinen, flexibles Tanzbewegungskönnens ist festzustellen, dass eine materiale Ausrichtung von Tanzausbildung einen Vorteil hat: Es ist – vergleichsweise – sonnenklar, was eine gute und richtige Tanzbewegung ist. Für die Möglichkeit den Tanz als Tanz sowie deren Richtigkeit und Güte an einer eindeutig festgelegten und explizierten Bewegungstechnik festmachen zu können, ist der Klassische Tanz – mit seinen Varietäten mit dann je eigenen Präzisierungen der Techniken – ein prominentes und, wie gesagt, geradezu prototypisches Beispiel. Gegeben ist ein klar umrissener Kanon idealer körperlicher Bewegungsvollzüge, die dann als grundlegendes und primäres Ziel des Ausbildungsvorgangs und Maß guter und richtiger Bewegung gelten können. Im Klassischen Tanz ist gesetzt, was eine Arabesque ist und wann diese richtig und gut ist. Es ist damit auch klar, was zu üben ist. Mit der Ausrichtung auf ein bestimmtes Material an Bewegungen und dem damit gegebenen Maß guter und richtiger Bewegungsvollzüge, die es bis zu ihrer Beherrschung zu entwickeln gilt, manifestiert sich eine ausbildungsorientierte Vermittlungspraxis. Vorgänge der Ausbildung sind auf ein bestimmtes Können – als Bestand an Können – hin ausgerichtet und fokussieren nicht die Reflexion dieses Könnens bzw. Tuns, an welchem wiederum das Moment der Freiheit und Selbstbestimmtheit im Tun hängt. Insofern stellt sich die Frage, wie eine am Material orientierte Vermittlungspraxis verträglich ist mit dem Anliegen eines flexiblen, damit reflexiven Könnens im Tanz – einer Bewegungsgebildetheit im Tanz –, welches die Entwicklung individueller und neuer Tanzsprachen zu ermöglichen bzw. befördern vermag. Die grundlegend andere Herangehensweise dem impliziten Anliegen einer Bewegungsgebildetheit im Tanz nachzukommen ist eine solche tänzerischen Praxis, welche die Offenheit der Bewegungsmöglichkeiten nicht als bloße Perspektive auf ein Später verschiebt, sondern von dieser Offenheit auch in der Vermittlungspraxis selbst ausgeht. Die Grundfigur der Entwicklung einer eigenen bzw. individuellen Bewegungssprache im Tanz ist kennzeichnend für die Ausdruckstanzbewegung, in deren Kontext sich die Konzeption des Elementaren Tanzes einordnet. Und in dieser Betonung – oder

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Glorifizierung – des Individuellen liegt ein Problem. Maja Lex selbst macht es in einer Kommentierung einer Solo-Unterrichtsstunde, die sie bei Mary Wigman erbeten hatte, deutlich: „Es war dort (in der Wigman-Schule, d.V.) alles sehr verwirrend und sehr ungeordnet – sehr interessant auch, sehr schöne Bewegungsstunden…, aber ganz anders, als ich mir vorgestellt hatte. Und ich bat Wigman um eine Solo-Stunde, wollte mal mit ihr allein sein und wollte von ihr geführt werden. Sie sollte mir auch sagen können ob ich…ich weiß nicht, was ich mir dachte, eben von ihr eine Solostunde. […] Und ich bekam sie. Ich hab‘ einen Bewegungsablauf eine Stunde lang gemacht. Nur einen Ablauf. Und den variiert vom Piano, vom Pianissimo bis zum Fortissimo. Ich hab mich nicht von der Stelle bewegt. Das war so ein stagnierender Ablauf am Ort. Und gehetzt und gejagt von ihr, und gebremst von ihr, zurückgenommen von ihr und wieder gesteigert – das war die Solo-Stunde und sie sagte mir am Schluß nur: ‚Du bist begabt…Du bist begabt.‘ Gar nicht mit mir gesprochen. Gar nicht sich weiter geäußert.“ (Maja Lex im Gespräch mit Helga Pollhäne 1981, zit. nach Hanft/ Abraham 1986: 14-15)

Für Lex war nicht nachvollziehbar, inwiefern – woran gemessen – ihr Tanz bzw. ihre Bewegungen im Tanz gelungen oder nicht gelungen waren. So ist die Frage nach dem Maß der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Frage nach Tanzbildungsprozessen: Was gilt als guter und richtiger Tanz, als gute und richtige Tanzbewegung – und dies klarerweise jenseits von Geschmack? So wie darüber gesprochen und gestritten wird – um auf die eingangs zitierten Sichtweisen der Tanzkritikerin Hüster und dem Choreographen Nachbar zu sprechen zu kommen – könnte man meinen, dass ja völlig klar sei, was mit Tanzkunst oder richtigem und guten Tanz gemeint ist: Ist doch klar, wovon wir bei ‚richtigem‘ Tanz eigentlich reden. Klar dabei ist, wie skizziert, lediglich Folgendes: Für bestimmte Praxen künstlerischen Tanzes ist diese Frage zumindest für eine erste Antwort trivial. Das Vorhandensein dieses Maßes bestimmter, als ideal gesetzter körperlicher Bewegungsvollzüge schließt zweifelsohne nicht per se aus, dass weitere Aspekte für einen gelingenden Tanz hinzukommen können. Strittig ist dabei jedoch kaum, dass die je betrachtete Tanzbewegung entweder einer idealen Arabesque entspricht oder nicht, sondern allenfalls wie wichtig diese Entsprechung in dem einen oder anderen Fall dann je sein kann, ob eine eventuelle Nicht-Entsprechung also durch irgendetwas aufgewogen werden

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kann. Dass ein – für die Tanzpraxis konstitutives – Maß besteht, ist dabei unstrittig. Auch innerhalb des Zeitgenössischen Tanzes finden sich solcherart explizite Bestimmungen guter und richtiger Bewegungen, insofern auch hier Tanzpraxen mit ganz bestimmten Konzepten körperlicher Bewegungsvollzugsweisen und -formen einhergehen. Sind es nicht konkrete Bewegungsformen, die zur Beurteilung des je Gezeigten herangezogen werden können, so finden sich mitunter explizit bestimmte Bewegungsweisen, die als Bestimmungsmöglichkeit und Maß richtigen und guten Tuns in dieser oder jener Tanzpraxis fungieren. So setzt die so genannte Release-Technik – um nur ein Beispiel zu nennen – zwar keine bestimmte Bewegungsformen als Bewegungstechniken voraus, setzt aber das Prinzip, Bewegungen möglichst entspannt zu vollziehen bzw. aus der Entspannung entstehen zu lassen, als konstitutive Regel und Maß ihrer Praxis. Die Konzeption eines Maßes von Tanzbewegung, welche die Richtigkeit und Güte der Bewegung zuallererst an dem körperlichen Bewegungsvollzug festmacht, verdeutlicht sich bei Fischer (vgl. hierzu auch Temme 2015: 90): „Wie bereits erwähnt, kann eine äußerlich perfekt getanzte Choreographie zuweilen ‚tot‘ und mechanisch wirken, wohingegen ein technisch nicht ganz perfekt getanztes Tanzstück dennoch sehr energetisch, lebendig und geistreich erscheinen kann. Im besten Falle gehen technische Perfektion und (seelisch-geistiger) Ausdruck (etwa ‚Witz‘ und ‚Elan‘) zusammen.“ (Fischer 2010: 245)

Die Autorin, die hier nicht deutlich macht, auf welche Tanzpraxis sie sich bezieht, (er)kennt demgemäß eine Richtigkeit und Güte rein körperlicher Bewegungsvollzüge – ob diese zudem ‚Witz‘ und ‚Elan‘ zu versprühen vermögen, ist damit eine zweite und ganz andere Frage. Die Möglichkeit einer solchen Unterscheidung von einer Technik körperlicher Bewegungsvollzüge einerseits und einem Ausdruck der Bewegung andererseits hängt jedoch daran, bestimmte körperliche Bewegungsvollzüge als solche erkennen zu können. Dies wird schon schwieriger, wenn es um eine Tanzpraxis geht, die gerade kein bestimmtes Material vorlegt. Woran und inwiefern lassen sich in diesem Fall Güte und Richtigkeit rein körperlicher Bewegungsvollzüge ersehen? Was ist als Maß in einem Tanztheater oder zeitgenössischen Tanz gesetzt und praktiziert, welcher weder bestimmte Bewegungsformen noch Bewegungsregeln kennen will? – also mit Pina Bausch davon ausgeht, dass ‚fast alles‘ Tanz sein kann? Eine insofern als offen be-

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griffene Tanzkonzeption setzt es als konstitutiv für die künstlerische Praxis eine – wie es Shechter als wesentlich für das Tanztheater sieht – je neue, eigene Tanzbewegungssprache zu entwickeln. Die Vorstellung, dass Bewegungen, die in dem Sinne neue Bewegungen sind, dass sie keiner bestimmten Technik folgen, als gelingend oder nicht-gelingend erkannt werden können, scheint mit der Setzung eines materialen Maßes von Bewegung als ziemlich sperrig. Im Feld des Sports kann die Bewegung immerhin noch an ihrem Effekt gemessen werden, der dann den Vollzug als gut und richtig setzen kann. Insofern im Tanz der Vollzug der Bewegung selbst das Wesentliche ist, bleibt auch keine Bezugsmöglichkeit für ein Maß außerhalb der Bewegung als solcher. Inwiefern ist aber eine neue Bewegung als gute und richtige erkennbar? Ist das Fehlen eines maßgebenden Bewgungsmaterials gleichbedeutend mit dem Fehlen jeglichen Maßes der Bewegung im Tanz? Ist dann alles an Tanzbewegung immer gut und richtig? Ist Tanzbewegung in diesem Feld des künstlerischen Tanzes dann lediglich eine Frage des Geschmacks? Oder ist das gerade nicht wichtig? Versteht sich ein solches Tanztheater, das ein offenes, flexibles Bewegungskonzept realisiert, als enthoben von jeglichem Maß körperlichen Tuns? Ist damit – auf der Ebene des körperlichen Bewegungsvollzugs – alles insofern immer richtig, als es weder gut noch richtig sein will? Zwei Möglichkeiten sind denkbar: Eine verzichtet wie gesagt auf jegliches Maß der Bewegung im Tanz: Tanz als kultivierte Absage an Virtuosität und Leistungssteigerung. Eine solche programmatische Anti-Virtuosität prägte bekanntermaßen den Tanz von Yvonne Rainer.7 Damit bleibt dann scheinbar nur die Wahl zwischen einem Maß, welches sich an ideal gesetzten Bewegungsabläufen festhält auf der einen Seite und einem bewussten Verzicht auf ein Maß der Tanzbewegung auf der anderen. Nochmal: Bedeutet freier Tanz damit per se die Befreiung von einem Gut und Richtig in der Tanzbewegung? Was kann der Tanzende innerhalb einer als bewegungsoffen gesetzten tanzkünstlerischen Praxis damit – salopp formuliert – täglich üben, um gut zu werden tanzen? Wenn das Maß nicht öffentlich gegeben ist – wie mit der Lex’schen Kommentierung der Unterrichtsstunde bei Mary Wigmans verdeutlicht –, braucht der Tanzende bei jeder Bewegung immer denjeni-

7

Die Künstlerin Yvonne Rainer wandte sich gegen „the ‚preening’ look of vir tuoso dancing“ (Banes 1987: 47).

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gen, der ein Maß anlegt und zeitnah über das Ergebnis informiert. Eine Einsicht in das Inwiefern des Richtigkeit und Güte ist damit fraglos nicht gegeben. Der Pferdefuß einer als bewegungsoffen gesetzten tanzkünstlerischen Praxis, die nicht nur perspektivisch angedacht ist, sondern sich in der Vermittlungspraxis selbst realisiert, scheint die Tatsache zu sein, dass in diesem Feld nicht so sonnenklar ist, was als eine gute und richtige Bewegung gelten kann. An dieser Stelle erweist sich die Setzung menschlicher Bewegung als in ihrer kleinsten Einheit sinnhafte Bewegung als springender Punkt. Setzt man Bewegung als logisches Eines von körperlichem Bewegungsvollzug und Sinn der Bewegung, bedeutet dies, zugleich auch die Güte und Richtigkeit einer Bewegung an einer solchen, in ihrer kleinsten Einheit sinnhaften Bewegung festzumachen. Die These, die sich aus dieser der Setzung ergibt, ist, dass die Bestimmung der Güte und Richtigkeit einer Tanzbewegung an ihrer Sinnhaftigkeit hängt, will sagen: Gut und richtig ist eine Bewegung damit ausschließlich in Bezug zu ihrer Sinnhaftigkeit. Dies widerspricht der fraglosen Trennung von körperlichem Bewegungsvollzug einerseits und Sinn andererseits und der daraus abgeleiteten Setzung eines je eigenen Maßes – für den körperlichen Bewegungsvollzug als solchen sowie für den Sinn der Bewegung als dem so genannten ‚Ausdruck‘ der Bewegung. Das Gelingen einer Bewegung als Tanzbewegung hängt in der hiermit vorgeschlagenen Setzung an der Resonanz von Bewegungssinn und dem körperlichem Bewegungsvollzug. Umgekehrt formuliert: Ein NichtGelingen einer Tanzbewegung dokumentiert sich als eine Nicht-Stimmigkeit von dem, was sich als Sinn der Bewegung andeutet und dem, als was sich mit dem körperlichen Bewegungsvollzug im Ganzen als Sinnhaftigkeit und de facto realisiert. Beabsichtigt ist eine solche Diskrepanz bzw. NichtStimmigkeit in der Komik: Eine Bewegung, von der klar ist, wie sie sich vollziehen will, kippt im Vollzug in eine andere Richtung. Setzt man Bewegungsvollzug und Sinn als logisches zugleich, kann man gegen diesen Vorschlag Einwände haben: Der Sinn manifestiert sich mit dem körperlichen Vollzug der Bewegung. Bewegung ist tätigkeitstheoretisch modelliert als sich selbst bewegender Prozess gedacht, er ist an sich bestimmt und gerade nicht die bloße Umsetzung intentionaler Sinnhaftigkeit.8 Wie soll

8

Vgl. für die Konkretisierung einer Setzung menschlicher Bewegung als sich selbst bewegender Prozess und der Setzung der Tanzimprovisation als So-oderanders-Zulassen der Bewegung Schürmann/Temme (2015); vgl. grundlegend für

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sich dieser sich im Vollzug realisierende Sinn vor diesem Vollzug zeigen? Wie kann man einer Bewegung, die sich erst mit ihrem Vollzug als eine bestimmte Bewegung bestimmter Sinnhaftigkeit realisiert, die als bedeutsam erachtete Resonanz von Sinn und körperlichem Bewegungsvollzug ansehen? Die präzisierte These lautet: Eine gelingende Tanzbewegung ist eine sinngesättigte Bewegung.9 Eine dagegen als abstrakt – als nicht-sinngesättigt – gefasste Bewegung ist nicht etwa als sinnleere Bewegung gedacht – dies ist mit einer tätigkeitstheoretischen Modellierung menschlicher Bewegung nicht denkbar –, sondern eine Bewegung, die in ihrer Sinnhaftigkeit (noch) nicht bestimmt, gleichsam im Wortsinne diffus ist: Der körperliche Bewegungsvollzug strebt gleichsam mit jeder Faser in eine je eigene und andere Sinnrichtung. Eine Bewegung, die dagegen mit jeder Faser und vollumfänglich einer Sinnhaftigkeit – die ambi- oder polyvalent ausgeprägt sein kann – zustrebt, ist in ihrer Sinnhaftigkeit als gesättigt fassbar. Denkbar ist nun, dass die Sinnoptionen innerhalb einer abstrakten Bewegungen, die je eines Ausdrücklich-Werdens bedürfen, nicht gleichermaßen ausgeprägt sind: es lässt sich ein dominierender bzw. prominenter Sinn greifen, der ein Erkennen der Bewegung in ihrer Sinnanmutung ermöglicht. Bleibt ein Ausdrücklich-Werden aus – indem sich andere Sinnoptionen herausschälen – bleibt die Bewegung unklar. Es manifestiert sich eine Nicht-Stimmigkeit der Bewegung, sie erscheint als gleichsam nicht ausgetanzt, als in der Bewegungssprache nicht klar formuliert. Insofern das Verstehen einer Bewegung als das Erfassen ihres Sinns gesetzt ist, ist der Prozess der Sinnsättigung die Voraussetzung für eine damit dem Verstehen bzw. dem reflektierten Verstehen zugängliche Bewegung. Vermittlungsprozesse, die auf ein Verstehen ausgerichtet sind, müssen demnach Sättigungsprozesse zulassen bzw. bahnen.

die Konzeptualisierung der Tätigkeitstheorie als Prozessontologie Schürmann (2008). 9

Vgl. zur Tätigkeit der Sinnsättigung im Kontext der Bewegungsimprovisation Temme (2015: 94ff).

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D IE V ERMITTLUNGSPRAXIS DES E LEMENTAREN T ANZES – E IN V ERSUCH DER E INORDUNG Wie lässt sich nun die in der Lehre und Forschung des Instituts für Tanz und Bewegungskultur realisierte Konzeption des Elementaren Tanzes innerhalb dieses Anspruches der Ermöglichung von Bildungsprozessen in Bewegung verorten? Zur Verständigung: Die Rede von der Konzeption des Elementaren Tanzes geht von der Annahme aus, dass sich keine von der konkreten Realisierung abstrakte Idee des Elementaren Tanzes als solche formulieren lässt. Die Konzeption des Elementaren Tanzes manifestiert sich in dem je gegebenen Kontext ihrer Realisierung. Dabei speist sich die hier in ausgewählten Aspekten dargelegte Konzeption einer Elementaren Tanzvermittlungspraxis zuallererst aus der von der Autorin erfahrenen Praxis im Elementaren Tanz selbst10, – ergänzt durch die Bezugnahme auf die Ausführungen von Günther sowie Lex/Padilla. In diesem letzten Abschnitt geht es – ausblickshaft – darum, ausgewählte Aspekte der realisierten Konzeption des Elementaren Tanzes zu einer auf Bildungsprozesse ausgerichteten Tanzvermittlungspraxis in Bezug zu setzen. 11 Im Zentrum der Konzeption des Elementaren Tanzes steht die strukturierte Improvisation. Explizit strukturiert ist diese über die Aufgabenstellung. Lex/Padilla präzisieren: „Die Bewegungsgestaltung in Form von Improvisation und Komposition wird der Konturlosigkeit im Allgemeinen nur dann entgehen, wenn sie durch klar umrissene Aufgabenstellungen aus dem jeweils zu erarbeitenden Bereich abgegrenzt wird.“ (Lex/Padilla 1988: 15)

10 Beate Metz ist diejenige, die als Dozentin des Elementaren Tanzes an der Deutschen Sporthochschule Köln meine Idee des Elementaren Tanzes während meiner Studienzeit und auch danach entscheidend geprägt hat. An dieser Stelle danke ich ihr für die wichtigen Hinweise und Fragen, die sie mir zur Konzeption des Elementaren Tanzes und zur Frage nach dem Maß guter und richtiger Tanzbewegung gegeben bzw. gestellt hat. 11 Siehe zu einer didaktischen Konkretisierung der Konzeption insbesondere Dilan Ercenk-Heimann/Tessa Temme (2017) in diesem Band, S.123 ff.

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Die differenzierte Aufgabenstellung kann insofern als ein Einleiten von Sinnsättigungs- und damit Verstehensprozessen im Tanz aufgefasst werden, als sie der Bewegung ein explizites Maß gibt, welches Sinnsättigungsprozesse und so Verstehensprozesse zu bahnen vermag. Mit der differenzierten Aufgabenstellung ist ein solches Maß gegeben, das die differenzierte Bewegungsexploration – in der Orientierung an den Bewegungsmöglichkeiten des Körpers in Bezug zur Aufgabenstellung – ermöglicht und so nicht an ein bestimmtes, gegebenes Bewegungsmaterial gebunden ist. Für Verstehensprozesse ist das Erfahren bzw. Setzen von Unterschieden wesentlich. Diese Tätigkeit des Unterscheidens als ein So-und-nichtanders-Setzen der Bewegung wird über die Hinzunahme der Gestaltungskriterien – Raum, Zeit, Form. Dynamik12 – innerhalb des Kontexts der strukturierten Improvisation explizit und systematisch zum Thema gemacht. Im Falle als ideal gesetzter Bewegungsformen und -weisen in Tanzpraktiken, die an einem bestimmten Material orientiert sind, wird diese Differenzerfahrung gerade nicht in dieser Weise explizit gemacht und kultiviert. Umgekehrt geht es vielmehr darum, die als richtig gesetzte Bewegung über die Idee eines Wiederholens einzuschleifen – ein bewusstes Setzen von Unterschieden ist damit lediglich in Abweichung zur eigentlichen Grundkonzeption möglich. In der Anwendung des Prinzips der Variation auf Basis der Gestaltungskriterien im Kontext der Auseinandersetzung mit einer differenzierten Aufgabenstellung ergibt sich ein reflexiver Modus des Bewegungsverstehens. Das Variieren der Bewegung auf Basis einer differenzierten Hinzunahme der Gestaltungskriterien erfordert ein Verfügen-Können über die Merkmale der Bewegung, die mit der Bewegungsaufgabe gesetzt sind. Es gilt noch einen wesentlichen Aspekt der Konzeption des Elementaren Tanzes vor dem Hintergrund eines tätigkeitstheoretisch formatierten Verständnisses von Bewegung zu diskutieren. Formuliert ist der Elementare Tanz als ein ‚bildfreier‘, ‚absoluter‘ Tanz (vgl. Padilla 1990: 258). Günther präzisiert zur theoretischen Figur eines bildfreien Tanzes:

12 Vgl. hierzu Ercenk-Heimann/Temme (2017) in diesem Band S. 123ff.

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„Und als letztes, aber unendlich großes Gebiet sind noch all diejenigen Themen zu nennen, die der Tanz aus seinen eigensten Elementen ableitet – aus und mit und durch die er sich darstellt, wie z.B. ‚Raum‘, ‚Weite‘, ‚Leichtigkeit‘, ‚Schwung‘, ‚Rhythmus‘, die die reinste Inkarnation des Begriffs Tanz darstellen, denn sie sind abbild-, und sinnbildfrei, sie sind absolut und nur Tanz.“ (Günther 1962: 21)

Wie ist die Setzung des Elementaren Tanzes als ein solcherart ‚bildfreier‘, ‚absoluter‘ Tanz mit der Konzeption einer bedeutungslogischen Einheit von Bewegung und Sinn verträglich? Theoretisch scheint sie das nicht. Eine tätigkeitstheoretische Modellierung menschlicher Bewegung widerstreitet der Annahme eines rein körperlichen Bewegungsvollzugs und geht gerade nicht von der Möglichkeit einer sinnleeren Tanzbewegung bzw. Bewegung aus. Wesentlich für die Deutung dieser theoretischen Figur des Sinnfreien ist der Kontext, innerhalb dessen sich die Konzeption des Elementaren Tanzes entwickelt hat. Der Elementare Tanz ist eine Tanzkonzeption, deren Herausbildung innerhalb der Ausdruckstanzbewegung zu verorten ist. Diese wiederum hatte ihren historischen Ursprung in der Rhythmik- und Gymnastikbewegung wie auch in der expressionistischen Kunst (vgl. Klein 1992:180). Der Ausdruckstanz als neuer Tanz verstand sich auf der Ebene der Tanzästhetik als Gegenbewegung zum Ballett als einer Praxis technisierter Bewegungsvorschriften und subjektenthobener Inhalte (vgl. ebd.: 180 f.). Das Konzept des Elementaren Tanzes – im genannten historischen Kontext noch unter anderer Bezeichnung – wiederum positionierte sich innerhalb dieses bewegungsformal und inhaltlich heterogenen Feldes des neuen auf bewegungsästhetische Formfreiheit und thematisch-künstlerische Individualität ausgerichteten Tanzes wiederum in betont anderer Weise. Als Quelle menschlicher und damit tänzerischer Bewegung ist im Ausdruckstanz die Seele – im Gegensatz zum Verstand und Intellekt –, bzw. das „Unterbewußtsein des Sinnlich-Triebhaften“ (ebd.: 182). Die Tänzerin Gret Palucca konkretisiert innerhalb dieser Setzung, dass es nicht die Gefühle als solche sind, die im Tanz ausdrücklich werden, sondern der „Wandel und Wechsel seelischer Zustände“ (Palucca 1936: 10). Mit dem Ausdruckstanz galt es demnach den seelischen Empfindungen als dem Irrational-Triebhaften wieder zu einer Öffentlichkeit zu verhelfen, das Unbewusste als innere Bewegtheit zu einer körperlich-tänzerischen und öffentlichen Gestalt zu formen, und den Menschen so in seinem Menschsein zu vollenden (vgl. Klein 1992: 183ff). Dass

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Günther den Anspruch eines absoluten Tanzes formuliert, ist meiner Ansicht nach in expliziter Opposition zum Tanz als Ausdrucksmedium von Gefühlen und deren Wandlungen zu verstehen. Klein (vgl. ebd.:183) weist darauf hin, dass auch der Ausdruckstanz den Körper instrumentalisierte und in dieser Hinsicht nicht in Differenz zum Klassischen Tanz – gegen den sich die Ausdruckstanzbewegung richtete – zu deuten ist. Mit der Setzung der Seele an die Stelle des Intellekts als zentrale Instanz, die sich qua Körper ausdrückt, ist diese Grundfigur der Instrumentalisierung nicht aufgehoben. Der Körper ist reine Peripherie einer ihm übergeordneten Instanz. Die Bewegung als solche wird in dieser Setzung als reine Ausführung eines sie vorwegnehmenden seelischen oder intellektuellen Vorgangs gedacht. Anders in der Konzeption des Elementaren Tanzes nach Günther und Lex/ Padilla. In dieser Konzeption ist das Bewegungsspiel selbst an die zentrale Stelle tänzerischer Tätigkeit gesetzt (vgl. Günther: 1962: 139; Padilla 1990: 258). Nicht das Subjekt – sei es als seelisches oder verstandesmäßiges bestimmt – in seinen tänzerischen Bewegungsäußerungsintentionen steht als „Bewegungsunternehmer“ (Temme 2015: 247) im Mittelpunkt der Tanzpraxis und bildet den fraglosen Ausgangspunkt tänzerischen Tuns – die Bewegung entspringt nach Günther nicht dem Einfall eines Erfinders (vgl. Günther 1962: 139) –, sondern die Bewegung als sich selbst bewegender Prozess. In der Improvisation, im Bewegungsspiel, kultiviert sich eine solche, bereits weiter oben angedeutete, prozessontologische Auffassung menschlicher Tätigkeit: „Die realisierte Tätigkeit ist reicher, wahrer als das sie vorwegnehmende Bewusstsein.“ (Leont’ev 1982: 125)

In dieser Hinsicht ist die mit der Konzeption des Elementaren Tanzes gegebene Auslegung des Tanzes zu einer tätigkeitstheoretischen Modellierung menschlicher Bewegung anschlussfähig. Insofern diese menschliche Bewegung als sich selbst bewegender Prozess fasst, widerspricht sie handlungstheoretischen Setzungen menschlichen Tuns als reine Ausführung einer kognitiven Tätigkeit eines als zentral gesetzten Subjekts, welches im

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Prinzip all sein Tun intentional steuert.13 Beide Konzepte – Tätigkeitstheorie und Elementarer Tanz – setzen nicht eine subjektive Intentionalität in das Zentrum von Tätigkeit bzw. tänzerischer Tätigkeit: Sinnhaft ist in tätigkeitstheoretischer Modellierung menschliche Bewegung als solche und nicht durch die Tätigkeit der Hinzugabe von subjektivem Sinn seitens des Subjekts (vgl. Temme 2015: 21-30). Dass Günther das Bewegungsspiel als Ausgangspunkt des tänzerischen Geschehens setzt und gerade nicht eine subjektive, gefühlshafte Intentionalität, ermöglicht eine besondere Weise des Zugriffs auf Bewegung. Fasst man menschliche Bewegung als logisches Zugleich von körperlichem Bewegungsvollzug und Bewegungssinn, sind damit zwei Orte unterscheidbar, über die auf die Bewegung – z. B. in Form von Bewegungsaufgaben – zugegriffen werden kann: Über die Seite des körperlichen Bewegungsvollzugs oder über die Seite des Sinns der Bewegung. Bewegungsaufgaben können damit auf konkrete Sinngehalte verweisen – in Form metaphorischer Instruktionen – oder motorische Prinzipien zum Ausgangspunkt nehmen, wie beispielsweise ‚die Fläche der einen Hand bleibt am Boden‘. Die Aufgabe ist nicht in Form eines Verweises auf eine Sinnhaftigkeit der Bewegung formuliert, wie beispielsweise ‚die Hand ist am Boden festzementiert‘, ‚die Hand wird magnetisch vom Boden angezogen‘ oder ‚die Hand drückt gegen den Boden‘. Im Fall des Zugriffs über die Seite des körperlichen Bewegungsvollzugs ermöglicht sich eine Bewegung, die als zunächst abstrakte Bewegung einem in sich offenen Sinnsättigungsprozess und damit Bewegungsbestimmungsprozess zugänglich ist. So eröffnet die Günther’sche Gedankenfigur eines ‚sinnbildfreien‘ Tanzes die Möglichkeit einer Vermittlungspraxis, in welcher der Tanzende gerade nicht mit der Idee einer bestimmten Sinnhaftigkeit nach dem körperlichen Vollzug dieser Sinnhaftigkeit zu suchen beginnt, sondern sich zunächst mit einer abstrakten Bewegung in die variierende Bewegungsexploration hineinbegibt, um über die Differenzerfahrung aus den sich ergebenden Sinnoptionen eine – vielleicht überraschende Sinnhaftigkeit – und damit Bewegung – aufzugreifen und sich realisieren zu lassen.

13 Vgl. zur Differenz von Verhaltenstheorie, Handlungstheorie und Tätigkeitstheorie, welche als Prozessontontologie fassbar ist, Schürmann/ Temme (2015); vgl. ferner zur zugrunde gelegten Konzeption von Prozess Schürmann (2008).

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Beobachter-Perspektiven und Annotationen

Anthropologische und bildungstheoretische Annotationen zu den Konzepten des Modernen Tanzes RIT A M OLZBERGER , M ICHAEL O BERMAIER

Der These folgend, dass verschiedenen Modernen Tanzsystemen ein Körperwissen immanent sei, das im Tanz selbst zum Ausdruck kommt und dem nachzuspüren auch in pädagogischer Hinsicht lohnend sein könnte, sollte das Erbe der Tanz-Moderne nicht nur theoretisch dargestellt, sondern auch praktisch erfahrbar gemacht, kritisch reflektiert und kommunikativ validiert werden. In diesem Sinne wurde den Praxis-Laboren zur Chladek-Technik, zum Elementaren Tanz und zu Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien beobachtend beigewohnt. Hierbei sollte die Aufmerksamkeitsrichtung zwar offen sein, jedoch zugleich auch Einzelaspekte fokussiert werden, deren bildungstheoretischer Anschluss naheliegt. Auf Basis der Lektüre grundlegender Texte zu den einzelnen Tanzsystemen kristallisierten sich so bereits im Vorfeld Aspekte heraus, von denen vermutet werden konnte, dass sie sich in der einen oder anderen Weise zeigen würden und die in ihrem inneren, systematischen Zusammenhang nun versuchsweise darzustellen sind. Hierbei geht es also nicht um eine umfassende Dokumentation der Geschehnisse in den Tanzlaboren oder um eine Wiedergabe der Vortragsund Diskussionsinhalte, sondern vielmehr um von exemplarischen Situationen angestoßene Hypothesenbildung, die das Beobachtete, Gehörte, überhaupt: Wahrgenommene zum Anlass nimmt, den Horizont anthropologischer und bildungstheoretischer Fragen weiter zu spannen.

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D AS V ERHÄLTNIS VON (T ANZ -)AUSBILDUNG UND B ILDUNG UND SEINE E RFORSCHUNG Im Eröffnungsvortrag von Christoph Wulf, der Überlegungen zum Tanz als immaterielles kulturelles Erbe vorstellte, wurde auch auf die Bedeutung des Tanzes in Hinblick auf Wissen und Lernen verwiesen. Im Zuge dessen wurden mehrere Verhältnisbestimmungen entfaltet, darunter die Verschränkung von Immaterialität und Materialität des Kulturerbes sowie der Bezug des Einzelnen zum Anderen, zur Gesellschaft und zur Sozialität als solcher (bezugnehmend auf den Terminus der „Weltoffenheit“, der gleichwohl noch mehr meint). Innerhalb dieser Verhältnisse können nicht nur Wissen und Lernen, sondern kann vor allem „Bildung“ verortet werden, versteht man darunter die Gestaltung der Verhältnisse zu sich selbst, zur Welt und zum anderen. Man bildet sich – ausgebildet und erzogen wird man von anderen.1 Hierbei wird Bildung traditionell als selbstzwecklich, Ausbildung hingegen als äußeren Zwecken dienend verstanden. Selbstzwecklichkeit ist hierbei nicht mit der allerorten gescholtenen „Elfenbeinturmmentalität“ zu verwechseln; Bildung richtet sich zwar nicht nach äußeren Zwecken, wie es Ausbildung tut, ist aber keineswegs zweckfrei oder zwecklos. Auch geht Bildung nicht in Selbst-Bildung auf; sie hat eine Seite zur Welt und zum Anderen hin, und sie braucht einen Gegenstand: „Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegenstand genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner Einheit zu beschäftigen; so muß er der Gegenstand schlechthin, die Welt seyn, oder doch (denn dieß ist eigentlich allein richtig) als solcher betrachtet werden.“ (Humboldt 1997: 26f.)

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Denise Temmes Zeitdiagnose folgte der These, dass Ausbildung und Bildung durchaus in einem Konkurrenzverhältnis gesehen werden können. Tanzausbildung neige heute zu quantitativem „Mehr“, zur Verbreiterung im Sinne polysportiver Ausbildung bei gleichzeitiger qualitativer Verengung (was sich an der zeitlichen Beschneidung tänzerischer Anteile im Studium an der DSHS Köln exemplarisch zeige – qualitative Tiefe sei bei quantitativer Verknappung deutlich erschwert); Ideale von „Bildung“ seien so zugunsten ausbildnerischer Ansprüche reduziert.

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Man mag an der Aktualität der Humboldtschen Bildungstheorie, die den Menschen als Kräftewesen optimistisch in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu möglichem Fortschritt im Sinne des Humanismus rückt, zweifeln; 2 die Bezüge zum vorgenannten Terminus der „Weltoffenheit“ treten hier jedoch klar zutage. „Welt“ versteht Humboldt im Horizont von Allheit und Einheit als höchstmögliche „Mannigfaltigkeit, mit welcher die äußeren Gegenstände unsre Sinne rühren, und das eigne selbstständige Daseyn, wodurch sie auf unsere Empfindungen einwirken.“ (Ebd.: 26) Wie soll man nun beobachten und wissenschaftlich zugänglich machen, was unsere Sinne rührt und was bildend auf unsere Empfindungen einwirkt? Bildungsprozesse zu beobachten ist ein schwieriges Unterfangen; Pädagogik ringt seit jeher damit. Was ist an Bildung überhaupt beobachtbar oder gar operationalisierbar? Die Diskussion um sog. Bildungsstandards, um Bildungsziele und -inhalte ist breit und unabgeschlossen (und thematisiert meist einen recht ungestalten Begriff von Bildung oder gleich konsequent etwas anderes, wie z.B. Kompetenzen). Insofern darf es nicht verwundern, dass Thesen in Anschluss an die phänomenologisch orientierten Betrachtungen hier nur vorsichtig geäußert werden sollen. Tanzend beschäftigt man sich sicher in besonderer Weise3 mit sich selbst und den anderen (was für viele weitere, insbesondere auch sportliche, künstlerische Aktivitäten ebenso gilt). Inwiefern hierin aktive, freiheitliche Gestaltung des eigenen Verhältnisses zur Welt stattfindet, entzieht sich der direkten Beobachtung; es lässt sich nur vermuten, dass es anders ist, als Tänzerin oder Tänzer in der Welt zu sein als als Nicht-Tänzer oder Nicht-Tänzerin, und dass zu diesem Anders-Sein nicht vollständig erzogen oder ausgebildet werden kann, sondern die Beteiligung des/der Tanzenden selbst von entscheidender Bedeutung ist. Auch ein Bewegungsvollzug kann unter Zwang geschehen und demjenigen, der sich bewegt, recht „äußerlich“ bleiben; es handelt sich dann weder um Ausbildung noch um Bildung, sondern strenggenommen um Dressur. In allen drei Tanz-Laboren wurde demgegenüber – je unterschiedlich – die Rolle des Selbst und sein Gestaltungswille angesprochen; es blieb selbst bei eher instruktiv ausgelegten Vermittlungen nicht bei der bloßen Aufforderung zum Nachvollzug. Insofern könnte in der

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Überlegungen zur Subjektivität folgen.

3

Vgl. den Abschnitt Leiblichkeit und Ästhetischer Bildung..

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Betrachtung des Verhältnisses von Bildung und Ausbildung in tänzerischer Theorie und Praxis ein Forschungsdesiderat liegen; gleichzeitig muss Forschung sich an dieser Stelle selbst zum Thema machen, wenn sie nicht entweder einseitig der Praxis zugeneigt oder im Theoretischen verbleiben soll. Offenbar ist dieses Bemühen gerade in der Tanzforschung hoch-aktuell; das Stichwort „practice as research“4 steht hier im Raum. Wie dynamisch das Verhältnis von Theorie und Praxis auch im pädagogischen Forschungsdiskurs diskutiert wird, zeigt folgender kleiner Exkurs: „Die ‚Wende zum Alltag‘ ist entscheidend motiviert durch das Bemühen, das Theorie-Praxis-Gefälle zu verringern. […] Die Erziehungswissenschaft sollte nicht länger ihre Zeit damit vergeuden, ‚objektive‘ Meßverfahren zu entwickeln und bloß das Allgemeine der pädagogischen Praxis zu erkunden. Gefordert wird dagegen die Beachtung der subjektiven Deutungen der lebensweltlich Agierenden.“ (Meinberg 1988: 242)

Diesen Ruf nach einer Alltagswende verortet Meinberg in den späten 1970er Jahren; der Ruf erschalle allerdings keineswegs nur erziehungswissenschaftsintern, sondern erfasse die Sozialwissenschaften im Allgemeinen. Die Ablehnung der geisteswissenschaftlichen Traditionslinien und die Hinwendung zu systemtheoretisch inspirierten Grundlegungen bedingte zuvor, so Meinberg, auch das Verabschieden sogenannter ‚alteuropäischer Denkbilder‘, sodass nun die „methodisch am Objektivitätsideal ausgerichteten Wissenschaften“ (ebd.: 245) reüssierten. Hier setzt die Kritik der Lebensweltvergessenheit 5 ein und fordert die Wende zum Alltag, denn der Objektivismus lasse den Menschen bezüglich „Handlungsrelevanz oder Sinnspendung“ (ebd.) notwendig im Stich; Aussagen über ein Außen, das (vermeintlich) leichter zu objektivieren ist, genügen aber dem Bedürfnis nach Sinnerleben offenbar nicht zur Gänze. Es wird deutlich, dass die Prob-

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Auf diesen Aspekt kann hier nicht näher eingegangen werden; es sei jedoch verwiesen auf die grundlegenden Werke von Barrett/Bolt 2010 und Nelson 2013.

5

Dem Begriff der „Lebenswelt“ müsste eigens nachgegangen werden; Meinberg unternimmt dies und zeichnet in diesem Kontext Husserls Vorhaben einer „Letztbegründung für alle Wissenschaften“ sowie die dazugehörigen kritischen Implikationen nach (Meinberg 1988: 244).

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lematik von Forschung und Wissenschaft im Spannungsfeld von Theorie und Praxis eingelagert ist in die Frage nach Menschenbild und Subjektdenken an sich.

S UBJEKTIVITÄT UND M ACHT : ZWISCHEN AUSSEN -, INNEN - UND MITWELT Ein Subjekt, dessen Innenwelt radikal von Außen- und Mitwelt getrennt wäre, ist kaum denkbar. Selbst wenn man das Subjekt als formale Denkkategorie versteht, so sind seine Vollzüge betroffen von Fremdem, Anderen. Selbst sprachlich und satzlogisch wird dies deutlich: Mit der Benennung des Subjekts ist noch keine Aussage gemacht; Prädikat und ggf. Objekt treten hinzu, damit ein Bedeutungsgehalt ausgemacht werden kann. Diese Analogie lässt sich noch weitergehend bemühen, wenn wir uns vor Augen führen, dass in unserem Sprachraum das Subjekt den Satz „regiert“; in Flexionen hat der Rest der Worte ihm zu folgen. Der Begriff des Subjekts schillert. Schon gemäß Etymologie ist unter dem „subiectum“ einerseits das Zugrundeliegende, andererseits das Unterworfene zu verstehen. Es wird also, je nach Fokus, entweder als handlungsinitiativ und mit freiem Willen ausgestattet vorgestellt und unterwirft sich demgemäß sozusagen die Welt, indem es als Souverän von Entscheidungen agiert, oder aber es wird in seiner „Geworfenheit“ betrachtet, d.h., die Verhältnisse, in denen es steht, zeigen es als keineswegs so frei und souverän. Auch diesbezüglich finden sich schon im Bildungsdenken Wilhelm von Humboldts Hinweise auf eine solche die menschliche Souveränität infrage stellende Verstrickung von „Ich und Welt“: „Die letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unserer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu einer allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.“ (Humboldt 1997:°25)

Man würde Humboldt missverstehen, unterstellte man ihm, die Welt komme hier nur als Objekt für das Bildungsstreben des Menschen vor. Zwar

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braucht menschliche Bildung, wie Humboldt sie versteht – als Kräftebildung nämlich – die Welt als Gegenstand, da (s.o.) nur dieser maximale „Mannigfaltigkeit“ aufweist und so den allseitig ausgreifenden KräfteBestrebungen gerecht wird, aber sie hat einen Eigensinn, der sich einseitigen Zugriffen auch widersetzt: „Denn nur die Welt umfaßt alle nur denkbare Mannigfaltigkeit, und nur sie besitzt eine so unabhängige Selbstständigkeit, daß sie dem Eigensinn unseres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt.“ (Ebd.: 26)

Hier treffen Eigensinnigkeiten aufeinander und gehen ein spannungsreiches Wechselverhältnis ein. Dennoch ergibt die analytische Trennung von Subjekt und Welt Sinn, wenn man über ihr Verhältnis nachdenken will; hinzu kommt, dass gerade Erziehung und Bildung (auch: Tanzerziehung und Tanz(aus)bildung) nur schwerlich „subjektlos“ gedacht werden können. Wenn Dichotomien wie die oben holzschnittartig angedeuteten – z.B. Innen-Außen, Regieren-Unterwerfen, Autonom-Fremdbestimmt – der Rede vom Subjekt anhaften, so stellt sich im Anschluss allerdings die Frage, ob der Terminus „Subjektivierung“ nicht angemessener wäre. Er verweist auf das Prozesshafte, die Übergänge und Einflüsse, die dem Subjekt eingeschrieben sind und die sich in jedem Akt neu einschreiben.6 Judith Butlers Thesen, die sie im Anschluss an die Machtanalysen Foucaults entwickelt, enthalten diesbezüglich Sprengkraft und irritieren: Sie weist darauf hin, dass Subjekte vor allem in Sprache – verbal und nonverbal – konstruiert7 und in jedem Handlungs- oder Sprechakt Machtstrukturen (re-)produziert werden. Subjektivierung ist insofern relationales Geschehen. Jeder relationale Akt wiederum beruht darauf, dass der andere als anderer adressiert wird; so wird das Subjekt „aktual“ immer wieder neu angesprochen – und

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Im Beitrag Temmes wurde diesem Umstand kritisch Rechnung getragen, indem im Kontext der Tätigkeitstheorie der kulturhistorischen Schule und deren theoretischen Aktualisierungen die Gegenüberstellung von Herstellen und Handeln um die dritte Perspektive des Zulassens ergänzt wurde. Auch hier bildet sich Subjektkritik konkret ab.

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Ein sinnfälliges Beispiel ist die Aussage „Es ist ein Junge/ ein Mädchen“ nach der Geburt; sie enthält weit mehr als die Beschreibung einer biologischen Grundausstattung mit bestimmten Geschlechtsorganen.

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damit gewissermaßen jedes Mal neu konstruiert. Zudem besteht die Möglichkeit, dass ein Subjekt als etwas angesprochen wird, was es (ggf.: noch) nicht ist, wodurch es sich selbst entrückt wird: So verstanden werde ich im Angesprochensein und Angesprochenwerden zu etwas, was ich noch nicht bin, aber was ich sein kann. Dieser Vorgang kann nach Butler als „Bildung“ verstanden werden. Macht man sich deutlich, dass die Verengung auf Sprachakte keine notwendige ist, sondern dass auch andere Äußerungen und Ausdrucksformen „Aussagen machen“, so erhellt, dass dies eine fruchtbare Analysehinsicht bezüglich des Tanzes sein könnte: Wie bringt das Subjekt sich und andere tanzend hervor? Welche Machtstrukturen liegen dem Geschehen zugrunde, welche werden wie prolongiert, fortgeschrieben oder je neu „installiert“? Wie frei ist Subjektivierung in den machtvollen, mannigfaltigen Verstrickungen? Dass diese Hinsicht eine bedenkenswerte ist, zeigte sich auch in den jeweiligen Tanzlaboren in unterschiedlicher Weise: So wurde im ChladekLabor aufgefordert, man möge sich so frei wie möglich im Raum bewegen – dies an sich schon ein ähnlich gelagertes Paradox wie die pädagogisch sattsam bekannte Aufforderung zu Mündigkeit und Autonomie bzw. die bereits von Kant problematisierte Frage: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ Zunächst wurden hier Basis-Prinzipien vermittelt sowie Wahrnehmungsübungen angeleitet; es folgte eine Phase der Reflexion, gefolgt von erneuter Instruktion und der Aufforderung zu eigenen kleineren Variationen. In eine These gegossen könnte dies bedeuten: Das Subjekt kann seine Freiheitsmöglichkeiten erst wahrnehmen, wenn es zuvor grundlegende Haltungen und Prinzipien erlernt hat.8 Demgegenüber wurde im

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Der Rückschluss, unterschiedlich erlebte Charaktere der Workshops hätten mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der dahinterstehenden Techniken und Theorien zu tun und ließen eine Art „Systemvergleich“ zu, würde an der Sache vorbeigehen. Mit den Workshops wurden unterschiedliche Zielsetzungen verwirklicht; dies war schon im Vorfeld und mit Bedacht seitens der Tagungsleitung so geplant. Beispielsweise war zu erleben, dass es im Rahmen des Chladek-Labors kaum zu „freier Bewegung“ kam, jedoch war dies im Vorfeld mit der Referentin ausdrücklich abgesprochen: Es sollten insbesondere die analytischen Prinzipien der Chladek-Technik vermittelt werden, da dieser Aspekt gegenüber den anderen Konzepten ein Spezifikum darstellt, während das Moment der „freien Bewegung“ in der Gestaltung und Erprobung des tänzerischen

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Laban/Bartenieff-Labor auffallend häufig zur Freiheit jenseits der ‚direkten‘ Instruktion aufgefordert; man solle seine Bedürfnisse spüren und selbständig nach diesen handeln („Ich mache für mich, was ich gerade brauche“); man möge die Stimmung und Atmosphäre, die v.a. die Musik vermittle, aufnehmen und in Bewegung umsetzen („Du bist im Raum. Mit Deiner Bewegung zeigst Du den Raum. Das kannst Du auch mit Deinen Beinen…“). Es schien dies der These zu folgen: Die Freiheitsmöglichkeiten des Subjekts liegen in ihm selbst begründet und müssen nur (gewissermaßen maieutisch) „hervorgeholt“ werden. Hierzu dient dann das Arbeiten in Kategorien und Formen. Beide Thesen stehen keineswegs in direktem Widerspruch zueinander. Dennoch zeigt sich eine deutliche Differenz, die sich auch in der jeweiligen Art der Vermittlung niederschlug. Theorie und Praxis stehen offenbar in vielfältigen Zusammenhängen, die in den Laboren auf unterschiedliche Weisen zur Geltung kamen.

T HEORIE UND P RAXIS : D ER Z USAMMENHANG VON T ANZPRAXIS UND R EFLEXIVITÄT Üblicherweise spricht man dort von Reflexion, wo das Denken sich selbst zum Thema macht. Auch die Unterscheidung von Vollzügen erster Ordnung und zweiter Ordnung ist für das Kenntlichmachen reflexiver Prozesse hilfreich: So macht es einen Unterschied, ob ich über etwas nachdenke (1. Ordnung) oder darüber nachdenke, warum und in welcher Weise ich über dieses „etwas“ nachdenke (2. Ordnung). Doch auch andere als bloß denkerische Rück-Beugungen sind möglich; insbesondere leibliche Reflexion, die stärker aisthetisch (wahrnehmungsbezogen, sinnlich) als kognitiv vorzustellen ist, zeigt sich als Bestandteil tänzerischer Theorie und Praxis. 9 Ausdrucks in allen drei Konzepten oder Systemen in ähnlicher Weise praktiziert wird. Für diesen ergänzenden Hinweis sei Dr. Claudia Fleischle-Braun gedankt. 9

Ein eindrückliches Beispiel für den Wechsel der Wahrnehmung von erster in zweite Ordnung war die Wahrnehmungsübung im Rahmen des Labors „Elementarer Tanz“, innerhalb derer die eigene Hand betrachtet wurde und den Teilnehmenden, wie sie später berichteten, zunehmend „fremd“ und dann wieder „neu vertraut“ wurde. Betrachtet wurde hier gemäß Aufforderung zunächst die eigene Hand; dann aber wurden mögliche Blickvariationen vorgestellt (bspw. „Betrach-

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Dies lässt sich auch bildungstheoretisch wenden. Peter Bieri, der in seinem wohlgemerkt als Frage und konjunktivisch überschriebenen Beitrag „Wie wäre es gebildet zu sein?“ auch den Aspekt der Selbsterkenntnis als zentral für Bildung vorstellt, formuliert dies so: „Statt dass ich nur bestimmte Dinge glaube, wünsche und fühle, kann ich mich fragen, woher sie kommen: welchen Ursprung sie haben und auf welchen Gründen sie beruhen. Im Falle des Denkens und Meinens entsteht dadurch Wissen zweiter Ordnung, […]. Doch nun werde ich auch reflektierter, was meinen Willen und meine Emotionen betrifft: Wie bin ich zu ihnen gekommen? Was hat sie angeschoben, und wie gut sind sie begründet?“ (Bieri 2012: 235)

Reflexion braucht demnach einerseits den Bruch des gewohnten Vollzugs; sie kann durch Unterbrechungen, Pausen und Wiederholungen/Variationen zwar „angeschoben“, nicht aber hergestellt und im engeren Sinne gelehrt werden. Tänzerische Praxis, insofern sie sich responsiv als Antwort auf das, was widerfährt (Raum, Musik, Bewegungsimpulse) versteht, ist in diesem Sinne andererseits von sich her schon reflexiv; zuweilen erscheint die Bewegung selbst gewissermaßen reicher als eine falschverstandene nachträgliche Reflexion, die im Gewand des Meinungsaustauschs oder des Verbalisierens von Befindlichkeiten daherkommt. Überspitzt ließe sich vermuten: „Reflexion“ im emphatischen Sinne findet gerade da, wo sie programmatisch als solche angesagt wird, selten statt. Indessen sind reflexive Anteile implizit oder explizit Bestandteil tänzerischer Theorie und Praxis. Hierbei ist auf eine Besonderheit zu verweisen, die dem Tänzerischen zugrunde liegt und bildungstheoretisch nicht zu unterschätzen ist: Leiblichkeit.

L EIBLICHKEIT UND ÄSTHETISCHE B ILDUNG Dass Leiber sich zurück-beugen können, scheint zunächst im Tanzzusammenhang selbstverständlich. Die Vermutung, der Aspekt „Leiblichkeit“

te sie, als ob die Finger eine Choreographie aufführten“), und so wurde zunehmend das Betrachten selbst thematisch: „Ich habe meine Hand noch nie so gesehen“, „Normalerweise schaue ich mich selbst nicht so an“, „Warum habe ich das bislang noch nicht gemacht?“ etc.

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werde in Tanztheorie und Tanzpraxis thematisch, liegt nahe. Dem Modernen Tanz und seinen unterschiedlichen Konzepten liegt ja gerade der Impetus einer Überwindung starrer Dichotomien von Geist und Körper zugrunde; auf unterschiedliche Weise wird „Ganzheitlichkeit“ 10 proklamiert, die im Terminus „Leiblichkeit“, so die Vermutung, begrifflich zu binden und abzugrenzen wäre, insofern sie Körper, Geist und das Eingelagertsein beider in Welt gleichermaßen meinte. Abgesehen davon, dass eine solch allgemeine Bestimmung wenig Trennschärfe hergibt, ist sie als definitorische Festlegung auch aus anderen Gründen problematisch: „Obgleich die Forderung nach einem Begriff eine klassische Forderung der Philosophie ist, nämlich durch eine Definition anzugeben, was man unter einem Terminus verstehen will, bzw. für eine Sache, worin sie eigentlich besteht, ist sie in der Regel kaum zu erfüllen und es gibt auch gute Gründe dagegen, sie erfüllen zu wollen. Denn eine Definition ist immer eine Festlegung und ein Begriff ein Zugriff auf die Mannigfaltigkeit der Dinge und Erscheinungen, unter dem sie erstarren. […] Daraus folgt, dass es zumindest nicht einen Begriff des Leibes geben kann, sodass sich die Frage nach dem Begriff des Leibes verwandelt in die nach der jeweiligen Berechtigung unterschiedlicher Leibbegriffe.“ (Böhme 2003: 55)

Diesem Dilemma begegnet man wiederum in Theorie und Praxis; eine Enthaltung von begrifflichen Schärfungsversuchen scheint genauso unmöglich wie starre definitorische Festlegungen vor allem bezüglich der eigenen leiblichen Erfahrung. Dieser ist vielmehr – und umso mehr im vorliegenden Fall – Rechnung zu tragen. So meint auch Böhme (2003: 56), es wäre „[…] wünschenswert, einen Leibbegriff zu bilden, der nicht nur die Prädikate einer bestimmten Art von Leibphänomenen bestimmt – also im Kognitiven bleibt – sondern gerade dieses Selbstverhältnis mit in den Begriff des Leibes aufnimmt.“ (Ebd.: 56) 11

10 Dieser Begriff müsste eigens problematisiert und differenziert werden, wie sich bereits in der Diskussion mit Vertretern der einzelnen Tanz-Konzeptionen am 07. Juni 2015 eindrücklich zeigte.

11 Die Rolle des Leibes für das Selbst-, Welt- und Mitverhältnis zu bedenken, ist bereits bezüglich Subjektfrage und Reflexivität indiziert. So zeigt sich, dass auch dies ins Zentrum der Bildungsfrage führt.

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Der Hinweis „nicht nur“ [Hervorhebung R.M.] soll nun ernstgenommen werden; es scheint sinnvoll, nach den Prädikaten von Leibphänomenen zu fragen, es hierbei jedoch nicht zu belassen. Verzichtete man gänzlich darauf, so steht zu befürchten, dass alle Beobachtungen leiblicher, auch tänzerischer Praxis in Hinsicht auf Leiblichkeit gewissermaßen blind betrieben werden, insofern – frei nach Kant – Anschauungen ohne Begriffe blind und Begriffe ohne Anschauungen leer sind. Gerade pädagogische Theorie muss hieran anschließen: „Die Reflexionsweise, die wir für pädagogische Theoriebildung zu erschließen versuchen, absorbiert nicht die konkrete Praxis in verschiedenen Schemata, Axiomen oder gar Rezepten, sondern sie bleibt geschärftes Bewusstsein von ihrer Verwurzelung in faktischen Bezügen. Phänomenologische Kritik begreift sich dabei als ständig aufgegebenes Unterscheiden zwischen konstruktiven Überfremdungen und Selbstartikulation gelebter Praxis.“ (Meyer-Drawe 1987: 232)

Was sind nun also Besonderheiten, die den „Leib“ als ein „Ding besonderer Art“ (Waldenfels) kennzeichnen? Waldenfels (2000: 30ff.) nennt folgende Eigenschaften, die den Leib vom Körper unterscheiden: 1. 2. 3. 4. 5.

Permanenz, Doppelempfindung, Affektivität, Kinästhetische Empfindung und Der Leib als Willensorgan.

Permanenz bezeichnet zunächst nichts anderes als den vermeintlich trivialen Umstand, dass der Leib „immer da“ (ebd., S. 31) ist, woraus unter anderem die Besonderheit einer eigenen Perspektive folgt. Dies impliziert zweierlei; zum einen ist der Leib selbst immer nur aus einem bestimmten Blickwinkel sichtbar, wobei der Ort, von dem aus betrachtet wird, nur indirekt (über Spiegel, Fotografien o.ä.) zugänglich ist; zum anderen muss infolgedessen unterschieden werden zwischen „dem Ereignis des Sehens, und dem, was gesehen wird“. (Ebd.: 34). Will man also die spezifische Leiblichkeit des Tanzens thematisieren, so ist diese Blick-Verschiebung zu berücksichtigen. Doch nicht nur bezüglich des Sehsinns liegen Besonderheiten vor; auch beim Tastsinn sind solche auszumachen. Die „Doppel-

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empfindung“ ist sicher das prominenteste Kriterium, das den Leib vom Körper unterscheidet. Differenzierte Überlegungen hierzu finden sich bereits bei Husserl und in besonderer Weise bei Merleau-Ponty, der der Wahrnehmung am Beispiel des Phantomgliedes nach-spürt. Für Waldenfels ist entscheidend, dass der Leib, der sich selbst im Tasten gegeben ist (man stelle sich vor, die linke Hand berühre die rechte), leiblich reflexiv ist: „Nicht darum geht es, daß in der Doppelempfindung Empfindendes und Empfundenes schlichtweg eins sind, sondern daß es einen Selbstbezug gibt bis in die Sinnlichkeit hinein.“ (Ebd.: 36)

Diese sinnliche Selbstbezüglichkeit ist von besonderem Interesse, wenn die Rede von ästhetischer Bildung ist – wurde doch bereits gezeigt, dass Reflexion hier ein Schlüsselbegriff ist. Selbstverständlich wäre Reflexivität auch gemäß der anderen Sinne bildungstheoretisch in Geltung zu bringen: Der Leib sieht und tastet sich selbst, er hört sich aber auch usw. Ergänzt werden diese Leib-Besonderheiten, so Waldenfels, durch die Affektivität, deren anschaulichstes (besser: anspürlichstes) Beispiel der Schmerz ist. Auf dem Umweg der Frage nach einer Lokalisierung von Schmerz – ist der Schmerz im Fuß, wenn ich gegen den Schrank laufe, oder findet er in den Nervenbahnen statt oder im Gehirn? – bzw. durch die Probleme, die diese aufwirft, zeigt sich, dass der Schmerz des Leibes nicht mit der Beschädigung eines Ding-Körpers zu vergleichen ist, denn auch hier ist Reflexivität beteiligt: „man fühlt sich selber in Lust und Schmerz.“ (Ebd: 39) Von Schmerz und Lust abgesehen, sind Eigenbezüglichkeiten weiterhin als „Kinästhetische Empfindung“ zu kennzeichnen. Diese ‚Bewegungsempfindung‘ (ebd.) wird erneut anhand eines Vergleichs anschaulich; der geometrische Körper „Kugel“ rollt über den Boden, und ebenso bewegt sich ein Mensch im Raum – dennoch ist beides grundverschieden dadurch, dass der Leib seine Bewegung selbst empfindet. Mit Rückgriff auf Husserl führt Waldenfels aus, dass dieses „Sichbewegen“ von einem Jemand statt von einem Etwas her gedacht ist, was heißt, dass ein Zugleich von Bewegung und Bewegungsempfindung vorliegt. Nicht zuletzt postuliert Waldenfels für den Leib im Unterschied zum Körper, dass die Bewegung willentlich initiiert werden könne, und zwar nicht mittels eines Willenswerkzeuges, sondern unmittelbar (vgl. ebd.: 40f.). Diese fünf Aspekte werden nun nicht nur als Hinweise darauf gewertet, dass der Leib anders zu verstehen ist als der Körper, son-

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dern zeigen gleichzeitig, wie sehr wir bezüglich der Beschreibung von Leibphänomenen sprachlich und gedanklich noch dem Dualismus von „Körper + Geist“ verhaftet sind. Es gelingt kaum, dies einfach auszusetzen, wie auch Waldenfels problematisiert. Will man nicht das eher schwammige Diktum der „Ganzheitlichkeit“, die letztlich für Theorie weitgehend unzugänglich bleibt, bemühen, so muss der „fungierende Leib“ (ebd.: 42) von den konkreten Erfahrungen des Leibseins her erschlossen werden. Diesen Ansatz mit dem Begriff der Bildung zu verknüpfen, hieße dann, nach „Aisthetischer Bildung“ (aisthesis = Wahrnehmung; daher Aisthetik als Wahrnehmungslehre, und nicht Ästhetik im engeren Sinne des Wortes, d.h. als philosophische Disziplin oder Lehre vom Schönen) zu fragen. Leibsein erschiene vor diesem Hintergrund zunehmend als Aufgabe; es vollzieht sich nicht instinkthaft wie beim Tier oder automatisch wie bei der Maschine.12 Menschen sind in ihrer Leiblichkeit reflexiv, sodass ein rein gedanklicher Nachvollzug der oben explizierten Begrifflichkeiten noch nicht mit ästhetischer Bildung im oben angesprochenen Sinne gleichzusetzen ist. Es müsste vielmehr ein Anliegen ästhetischer Bildung sein, die Begrifflichkeiten nicht nur zu klären und zu denken, sondern sie leiblich zu vollziehen. Böhme weist in dieser Hinsicht der Arbeit und dem Sport 13 besondere Bedeutung zu, „[…] weil uns in Arbeit und Sport Bewegung zur Aufgabe wird. Leibliche Existenz vollzieht sich natürlich in jeder Form des Sich-Bewegens, doch in Arbeit und Sport wird sie zum Sich-Bewegen-Müssen, zum Sich-Bewegen-Müssen in einer ganz be-

12 In diesem Zusammenhang müsste die Rede von der „Automatisierung“ von Bewegungsabläufen korrigiert werden; die Rede wäre dann eher von Inkorporierungen oder Verleiblichungen von zuvor noch als äußerlich empfundenen Vollzügen.Die Rolle des Leibes für das Selbst-, Welt- und Mitverhältnis zu bedenken, ist bereits bezüglich Subjektfrage und Reflexivität indiziert. So zeigt sich, dass auch dies ins Zentrum der Bildungsfrage führt. 13 In diesem Zusammenhang müsste die Rede von der „Automatisierung“ von Bewegungsabläufen korrigiert werden; die Rede wäre dann eher von Inkorporierungen oder Verleiblichungen von zuvor noch als äußerlich empfundenen Vollzügen. Die Rolle des Leibes für das Selbst-, Welt- und Mitverhältnis zu bedenken, ist bereits bezüglich Subjektfrage und Reflexivität indiziert. So zeigt sich, dass auch dies ins Zentrum der Bildungsfrage führt.

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stimmten, meist disziplinierten Weise. […] Sich-Bewegen heißt für uns, die wir uns als Leib spüren, in der Welt als Körper zu agieren. […] Das Sich-Bewegen muss gerade die Vermittlung zwischen Leib und Körper leisten.“ (Böhme 2003: 292f.)

Er wertet im Weiteren die Differenz von Körper und Leib im SichBewegen nun gleichermaßen als Problem und als Chance; Vermittlungsdisziplinierungen können als militärischer Drill (bildungstheoretisch ein Problem) oder sportliche Übung (bildungstheoretisch eine Chance) auftreten. Hierbei wird deutlich, dass die soziale und geschichtliche Komponente des jeweiligen Leib- und Körperverständnisses von nicht zu überschätzender Bedeutung ist, was wiederum ebenfalls bildungstheoretisch relevant wird: Waren wir bislang geneigt, Bildung als Projekt des Individuums zu verstehen, das selbsttätig seine Bezüge zu sich selbst, zur Welt und zum anderen gestaltet, so tritt nun noch einmal neu des Menschen leibliche „Einlagerung“ in Geschichte, Sprache, Sozialität, Kultur zutage. 14 Böhme kritisiert vor dieser theoretischen Folie die Konvergenz von Arbeit und Sport im Leistungsideal: „Die Performanz erzeugt über ihre Bewertung […] auch ein Produkt. Und in der Leistungsgesellschaft wird alles darangesetzt, durch Trainingsmethoden, Rationalisierung der Lebensführung, Coaching und schließlich durch Doping, dieses Produkt zu steigern. Im Ergebnis bedeutet das, dass wir im Sport im Prinzip keine andere leiblich-körperliche Beziehung des Menschen zu sich finden als in körperlicher Arbeit. Auch hier geht es um Kraftentwicklung einerseits und um die Ausbildung

14 Aufgrund gerade der geschichtlichen und sprachlichen Veränderungen, die sowohl Individuen und Gruppen als auch die Begriffe selbst erfahren, braucht es nach Gadamer erst Sinnauslegungen. Gäbe es die Unterschiedlichkeiten, Abstände und Lücken im Verstehen nicht, so müssten sie auch nicht erst durch Bemühungen wie das Klären von Vorverständnissen und weitergehend „Horizontverschmelzungen“ überbrückt werden. Dass dies aber gelingen kann, stellt Gadamer nicht infrage. Vielmehr beruft er sich bezüglich möglichen Gelingens auf Sprache, die insofern universal sei, als sie die potentielle Gemeinsamkeit von Vernunft realisiere. Denkbar ist m.E. eine analoge Figur universeller Leiblichkeit, die als potentielle gemeinsame Verletzlichkeit Verständigung noch einmal dringlich als Desiderat kenntlich macht. Argumentationen dieser Art finden sich u.a. bei Levinas, Merleau-Ponty und Butler.

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von skills, tacit knowledge, embodyment und leiblicher Kommunikation andererseits. Nur dass im Sport das Können als solches, bei der Arbeit das gegenständliche Produkt bewertet wird.“ (Ebd.: 311)

Im Anschluss an seine Kritik legt er konkrete Folgerungen vor und fordert „Leibesübungen als Praxis der Menschenbildung“ (ebd.: 313), was vor allem heißt, „das Spektrum möglicher Leibesübungen offen zu halten und eine Einsicht in deren unterschiedliche Funktionalität zu gewinnen“ (ebd.: 312). Über den sehr konkreten Bereich des schulischen Sportunterrichts hinaus muss, nimmt man Böhmes Thesen ernst, anders über Bildung als solche nachgedacht werden, insofern auch diese derzeit häufig nicht im Gewand der Selbstbildung, sondern als ‚Coaching‘, ‚teaching to the test‘ und ‚Kompetenzerwerb‘15 (Kompetenz heißt hier: Lernen, in verschiedenen Feldern zu funktionieren) auftritt. Sein Plädoyer dafür, die Bezüge von Leib und Körper, von Individuum und Gesellschaft, Ich und Welt nicht nur zu denken, sondern sie auch zu vollziehen, ist hier „in pragmatischer Hinsicht“ (siehe Untertitel) durchaus als Kritik am Übergewicht des Denkens verstehen, macht er doch schon eingangs deutlich: „Für uns dagegen ist Leibsein eine Aufgabe, und das heißt: - gegenüber dem dominanten naturwissenschaftlichen Selbstverständnis die Bedeutung leiblichen Spürens zu rehabilitieren - das leibliche Spüren aus der Borniertheit reiner Bewusstseinszustände herauszuführen - und das heißt praktisch, Existenzweisen einzuüben, in denen der Leib als die Natur, die wir selbst sind, gelebt wird.“ (Ebd.: 14)

15 Der Kompetenzbegriff ist so ubiquitär wie umstritten und wird von unterschiedlichen Seiten mit Bedeutung gefüllt. Dem nachzugehen würde zu weit führen. Festzuhalten ist, dass es begriffslogisch nicht möglich ist, Bildung ausschließlich als Kompetenzerwerb zu verstehen, insofern stets eine InkompetenzKompetenz und eine Kompetenz-Kompetenz „hinzugerechnet“ werden müssten, um den Bildungsansprüchen nachgeordneter Funktionalität (mögliches Scheitern braucht Inkompetenz-Kompetenz) und Reflexivität (dass Kompetenz sich selbst zum Thema machte, wäre als Kompetenzkompetenz zu qualifizieren) wenigstens annähernd zu entsprechen. Weiterhin ist über die sachliche Seite von Bildungsbezügen oder Kompetenzen dann noch nichts ausgesagt.

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Es leuchtet demgegenüber aber auch ein, dass mit neuen Frontstellungen keine Dichotomien über-wunden und Borniertheiten schwerlich aufgebrochen werden können. Gibt es also tatsächlich eine Dominanz des naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses, des Leistungsdenkens und der erkenntnistheoretischen Verortung des Leiblichen in reinen Bewusstseinszuständen, so ist es mit dem Abweis dieser Dominanzen nicht getan. Vielmehr müssen diese aufgeklärt und ins Spiel gebracht werden, was sowohl Böhme vorschlägt als auch zur Lippe, der dies – mit Bezug auf Nietzsche – als „Das Denken zum Tanzen bringen“ sowie als „Dekonstruktion“ versteht und eine Neuentfaltung der „Kunst der Wahrnehmung“ fordert, ohne die Nützlichkeit von definitorischen Abgrenzungen, Identifikationen und Rationalität zu leugnen. Diese nämlich, so zur Lippe, gehören zu den menschlichen Vermögen ebenso wie Wahrnehmung oder etwa Phantasie. Rationale Leistungen sichern Erkenntnis (dort, wo Begriffe und Theorien sich „festschreiben“) und somit Stabilität in den Wechselfällen des Lebens. Sie haben allerdings – dies stützt die Kritik Böhmes – die Tendenz, Kontrolle und Planbarkeit der Zukunft zu suggerieren und somit zu unguter Beschleunigung zu führen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass andere Vermögen an den Rand gedrängt und marginalisiert werden, was dem Unterdrücken von „Lebendigkeiten“ gleichkommt (vgl. zur Lippe 2010: 238f.). Ein Dilemma für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, insofern diese doch nicht nur „practice“ im Sinne der Lebendigkeit betreiben können, sondern gerade auch „research“ (und das bedeutet letztlich gewissermaßen: Rationalisierung von Lebendigkeiten, zuhanden-Machen, Begriffsarbeit) zur Aufgabe haben? Zur Lippe identifiziert hier eine gewisse Bedürftigkeit, denn so „[…] sieht sich allerdings der Sozialwissenschaftler auf die Künste angewiesen, die für seinen urteilenden Intellekt aufbereiten sollen, was seinen Kategorien und Denkfiguren sich, gestisch, entzieht. Gerade um dem sich widmen zu können, sollte indessen Ästhetik sich zur anthropologischen Disziplin entwickeln.“ (Ebd.: 239)

Hier wird deutlich, wie bedürftig Wissenschaft ist – sie braucht aufgeklärte Wahrnehmung nicht nur als theoretisches Projekt; sie braucht, und das selbstverständlich, die konkrete Anschauung. Im vorliegenden Fall generierten die beobachtete Praxis (und der Dialog darüber!) neue theoretische Impulse, die im Vorhinein und durch das Studium der grundlegenden Texte

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allein nicht abzusehen waren. Beispielsweise zeigte sich der Spielraum zwischen Interpretation und Neuschöpfung als mögliches Forschungsfeld; wiesen doch die jeweiligen Schul-Zugehörigkeiten mehr oder weniger enge Bindungen an die Lehrmeinung der Gründer und Gründerinnen auf und zeitigten immer weitere Fragen: Wie sind das Generationenverhältnis und der Umgang der Nachkommenschaft mit einem Erbe zu verstehen? Wodurch ist die Rolle einer Gründungsperson bzw. deren Schülerinnen und Schülern bestimmt? Wer hat die Hoheit über die Auslegung des „richtigen“ Verstehens; sind Horizontverschmelzungen im Gadamer’schen Sinne überhaupt erwünscht, oder ist mehr an kongenialer Einfühlung und am „Gehorsam“ gelegen? Sind Schulen Orte für die Bewahrung eines Erbes oder für seine kreative Weiterschöpfung? Die Fragen nach Bildung, Erziehung, Lernen und Sozialisation – Grundbegriffe einer Erziehungswissenschaft, die Theorie einer je schon vorgängigen Praxis ist – sind somit an Erfahrung gebunden; Praxis ihrerseits verbliebe ohne theoretische Bezugnahmen im Modus blinden Tuns. 16 Die Künste bringen Leiblichkeit je unterschiedlich ins Spiel; hierbei kommt der Tanz-Moderne ein so eigenes Verdienst zu, dass die Würdigung als „Immaterielles Kulturerbe“ vielleicht gar nicht weit genug greift, wie ja auch schon Wulf zeigte. Sie verbleibt ja eben nicht im Modus der Immaterialität; getanzte Leiblichkeit ist weder reine Theorie noch reine Praxis. Forschung, die sich ihr zuwendet, muss daher Modelle bereitstellen, die dieser Komplexität gerecht werden.

16 An der Figur des Künstlers zeigt sich, dass ein solches Auseinanderdriften von Theorie und Praxis realiter schwerlich vorkommen wird: „Das, was die Texte an ästhetischen Reflexionen leisten, ist den artistischen Körpern und Körperartisten immer schon inhärent. Und sie versuchen schließlich herauszustellen, dass der Körper des Künstlers zugleich ein höchst materieller, sinnlicher, emotionaler, leiblicher Körper und ein höchst abstrakter, imaginierter, reflexiver, vergeistigter Körper ist.“ (Lohwasser/Zirfas 2014: 271).

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S OZIALÖKOLOGISCH ORIENTIERTE B ILDUNGSTHEORIE UND M ODERNER T ANZ : EINE ANNÄHERUNG Verfolgt man trotz der im Bisherigen artikulierten Gefahren beispielsweise der Festlegung auf begriffliche Verkürzungen, der Vertreibung aus gewohnten Denkschemata oder gar der Entmythologisierung von Deutungsmacht weiterhin das Erkenntnisinteresse, das Verbindende und Gemeinsame der hier fokussierten Konzepte des Modernen Tanzes aus den Beobachtungen und Diskussionen zu destillieren, so sind zunächst zwei Phänomene augenscheinlich: erstens die Orientierung an Bildung im hier artikulierten Sinn und zweitens eine, zumindest was den Anschluss an bildungstheoretische Diskurslinien betrifft, irritierende Sprachlosigkeit. Die je unterschiedlichen Symbolstrukturen bzw. Sprachen, mit welchen das sinnlich-ästhetisch Inskribierte, das Wertvolle, das Störende, das Intendierte usf. der verschiedenen Tanzsysteme erfasst, begriffen und somit einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zugänglich werden soll, erschwert aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive das gemeinsame Nachdenken und Diskutieren über Bildung, Tanz und deren reflexiven Aufarbeitung. Zunehmend drängt sich der Verdacht auf, dass in der tänzerischen Performanz „Fäden ins Unsichtbare“ hinein gesponnen werden, die sich in einem „heiligen Loch“ bündeln, zu dessen Beschreibung die Reichweite des sprachlichen Symbolsystems keinesfalls ausreicht. Diese Setzung zeitigt weitreichende Konsequenzen, nämlich dass tänzerische Ein- und AusDrücke in ihrer phänomenalen Erscheinung in die präverbalen Dimensionen menschlichen Seins verbannt und weiterführenden Reflexionen entzogen werden. Von der diskursiven Exekution zur sozialökologischen Inklusion Ein Blick in die Historizität etwa des Elementaren Tanzes zeigt auf, dass es offensichtlich nicht nur dem Mangel an erkenntnistheoretischer Leidenschaft der Protagonisten der Konzepte des Modernen Tanzes geschuldet ist, das „Mysterium Tanz“ zu entschleiern, wissenschaftlich zu dechiffrieren und so ein gemeinsames Symbolsystem zu entwickeln, sondern auf einer naturalistisch argumentierten prinzipiellen Unmöglichkeit gründet, das

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Phänomen Tanz sprachlich zu erfassen. Maja Lex und Graziela Padilla (1988: 11) bringen diese Haltung geradeaus ins Wort: „Zu keiner Zeit bestand die Absicht, den Elementaren Tanz wissenschaftlich darzustellen. Auch Literatur wurde nicht herangezogen. Viele große Themenkomplexe dieser Welt werden erst durch wissenschaftliche Untersuchung zumindest temporär gültig abgesichert. Darunter auch der Tanz in seinem geschichtlichen Verlauf und seinen völkerkundlichen Aspekten. Nicht so der „lebende Tanz“, der sich als ständig verändernder Prozeß darstellt. Er muß den Beweis seines Wertes und der Qualität seiner Wirkkraft aus sich und durch sich erbringen. […] Denn das Geheimnis, das den Tanz umgibt – und besonders, wie aus Bewegung Tanz wird – enthüllt es [dieses Buch; M.O.] nicht. Wie sollte es auch?“

Dies mag auch nicht wirklich verwundern, wie Sabine Huschka (2002: 17) bei ihrer intensiven Befragung eines vagen Gegenstandes, nämlich des Tanzes, feststellt: „Der Tanz führt dank seiner Eigenheit, Tänze nur im Tanzen produzieren zu können, eine eigenwillige kulturelle und phänomenologische Existenz. Man kann ihn sehen, die Stimmungen des Tanzens kinästhetisch fühlen, man kann (mit gewisser Übung) die Bewegungen der Tänzer erinnern und mit einigem Glück Notationen von Choreographien lesen oder – als zeitgenössische Variante – Videoaufzeichnungen anschauen und analysieren. Schwieriger indessen ist es, das Tanzen zu beschreiben, das Gesehene in Worte zu fassen.“

Und die exemplarisch aus der Sicht von Lex und Padilla (1988) beschriebene Unerreichbarkeit des Tanzes durch Sprache schreibt sich in tanzwissenschaftlichen Diskursen fort und führt so zu einer reproduktiven Verdichtung der hinreichenden Bedingungen der Unmöglichkeit, das komplexe Phänomen Tanz intersubjektiv zugänglich zu machen. Denn interessanterweise dominieren diese tanzwissenschaftlichen Diskurse nicht so sehr die kritische Hinterfragung des sprachlichen, argumentativen oder methodischen Zugriffs, sondern das kategorische Problem liegt wesentlich tiefer und beschreibt Grundsätzliches, denn die Diskurse reproduzieren „ihr eigenes Dilemma, sich dem Tanz nicht nähern zu können, und manifestieren die Kluft zwischen Tanz und Sprache zu einer letztlich unüberbrückbaren Barriere. Der

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Tanz wird als ein sprachfremdes Phänomen bestimmt, womit allein schon das Vorhaben, Tanzaufführungen beschreiben zu wollen, ins Stocken gerät. Der Hiatus zwischen Schreiben und Tanzen schreibst sich somit fort.“ „Über das Eigentliche des Tanzes lässt sich demnach nicht nur schwer etwas sagen, sondern gar nicht. Die Sprache wird seinen Phänomenbereich niemals berühren können.“ (Ebd.: 19f.)

Die hier aufgezeigte Perspektive unterstellt eine sprachliche Unzulänglichkeit, exkludiert den kulturwissenschaftlichen Tanzdiskurs aus sämtlichen sprachlichen Symbolsystemen und exekutiert somit jegliche belastbare Diskursbasis über Tanz in Wissenschaft, Praxis, Politik und Öffentlichkeit. Jenseits dieser sprachenteignenden, mythologisierend-metaphysischen Deutungsart von Tanz könnte sich eine sozialökologische Annäherung an das komplexe Wechselverhältnis von Tanz, Bildung und Kultur als bildungstheoretisch und kulturpolitisch inklusiver und somit für die Sache des Tanzes in Theorie und Praxis zielführender erweisen. Etwa in der Tradition des von George Herbert Mead entwickelten Paradigmas des Symbolischen Interaktionismus (1934), aus der sozialpsychologischen Perspektive der Lewinschen Feld- und Umwelttheorie (1951) oder aus der phänomenologischen Betrachtungsweise Husserls (1986) und schließlich durch die sozialisationstheoretische Verschränkung dieser verschiedenen kultur- und sozialwissenschaftlichen Zugänge zu einer umfassenden Ökologie der menschlichen Entwicklung durch Urie Bronfenbrenner (1981) ist eine derart konstruierte „weltlose Person“ nicht mehr denkbar. Ob tanzend, schlafend, kochend, wandernd, stets ist der sich entwickelnde Mensch, der hier als biopsychosoziale Einheit gedacht wird, in soziokulturelle Settings eingebettet. Aus einer sozialökologischen Perspektiver erscheint dann der Tanz als ein prozessuales, reziprokes Geschehen, das die „doppelte Artifizierung des Körpers“ (Huschka 2002: 24) sowie. die „Doppelaspektivität als Körperleib“ (Abraham 2016: 22) in einen ökosystemischen Verstehenshorizont und somit in fundierte Analysekategorien überführt, die, wie dies Hartmut Ditton (2006: 279) festhält, „zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil des Systems der Erziehungswissenschaft geworden sind“. In dieser ökosystemischen Herangehensweise wird dann theoretisch greifbar, wie das Natürliche kulturell überformt wird und gleichzeitig wird in den Blick genommen, wie das Individuelle, bei Mead als das Wilde, Unge-

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zähmte, Unverbildete und sprachlich nicht Erreichbare, auf die soziokulturellen Umwelten einwirkt bzw. einwirken kann oder soll. An dieser Stelle wird das im Abschnitt 1 entfaltete dialektische Bildungsverständnis aufgegriffen, wonach Bildung als ein auf die Zukunft hin fortwährend „offenzuhaltendes Vermittlungsverhältnis“ (Klafki 1985: 44) an der Nahtstelle zwischen Person und Umwelt begriffen wird. Zudem verweist die normative Komponente bzw. die Frage nach der kulturellen Einflussnahme und Partizipation auf die in Abschnitt 2 fokussierten Dispositive bzw. „Lebensbereiche der Macht“ (Bronfenbrenner 1981: 239). Tanz – affirmativ, selbstreferentiell oder rebellisch – erscheint in einer sozialökologischen Perspektive dann als eine mögliche Option aus dem reichhaltigen Spektrum kultureller Artikulations- und politischer Gestaltungsformen, welche bildungstheoretisch in ihrer Reichweite und Entwicklungsförderlichkeit in den Blick genommen und pädagogisch unterstützt werden müssen (vgl. hierzu auch Abraham 2016). Die Aufarbeitung von Tanz, Bildung und der Erforschung dieses Verhältnisses, wie dies beispielgebend die Jahrbücher der Gesellschaft für Tanzforschung seit langem illustrieren, ist vielgestaltig, multiperspektivisch und hat eine weite kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektive zur Erforschung des Tanzes eröffnet (vgl. etwa Quinten/Schroedter 2016; Gehm/ Husemann/von Wilcke 2007 oder Klein 2004). Aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive hingegen, so Marianne Bäckers (2007: 171) kritische Einschätzung, scheinen dennoch grundlegende Desiderata offen zu sein: „Das gerade von Brandstätter/Klein herausgegebene Buch zu Methoden der Tanzwissenschaft weist leider keinen Beitrag zur tanzpädagogischen Forschung auf. […]. Hier gilt es zu fragen, ob die Methoden der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und der empirischen Sozialforschung zur Erforschung tanzpädagogischer Fragestellungen ausreichen.“

K ONTUREN

EINER SOZIALÖKOLOGISCH ORIENTIERTEN B ILDUNGSTHEORIE In deutlicher Distanz zu umweltausblendenden Zugängen formuliert Bronfenbrenner – und mit Gerhard Mertens (1998) ins Pädagogische gewendet –

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eine „Theorie der Umweltkontexte und ihrer Auswirkungen auf die Kräfte, die das psychische Wachstum unmittelbar beeinflussen“ (Bronfenbrenner 1981: 22). Forschungsgegenstand ist demnach „Entwicklung im Kontext“ (ebd.: 29), wobei bereits die phänomenologische Ausrichtung der ökologischen Orientierung deutlich wird: Entwicklung kann sonach verstanden werden als die „dauerhafte Veränderung der Art und Weise, wie die Person Umwelt wahrnimmt und sich mit ihr auseinandersetzt“ (ebd.: 19). Hieraus wird deutlich, dass der Bildungsbegriff stark an den individuellen psychischen Prozessen, dem persönlichen Erleben orientiert ist. Im Zentrum einer sozialökologisch orientierten Bildungstheorie steht dabei das sich entwickelnde Individuum als biopsychosoziale Einheit in seiner je spezifischen soziokulturellen und damit soziohistorischen Eingebundenheit. Demnach gleicht diese aktiv-realitätsverarbeitende Auseinandersetzung des Einzelnen in und mit seinen Umweltkontexten unterschiedlicher Reichweite bzw. entspricht dieser sinnlich-ästhetische, stets in soziokulturelle Bezüge eingebettete Bildungsprozess dabei einem fortlaufenden Geschehen, das zwischen den Ebenen Wahrnehmung, Vorstellung und Veränderung oszilliert und zu immer höherer Komplexität der Umwelterfahrung-, durchdringung, und partizipativer Gestaltung führen soll. In Fortführung der Humboldtschen Bildungsauffassung wird menschliche Bildung sonach als ein soziokulturell eingeflochtener Prozess verstanden, durch den die sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verlässlichere Vorstellungen über sich und ihre Umwelt erwirbt. Dabei wird sie zu Aktivitäten und Tätigkeiten (so etwa dazu, aus Bewegung tänzerischen Ausdruck zu erzeugen) motiviert und befähigt, die es ihr ermöglichen, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu erkennen und zu erhalten oder auf nach Form und Inhalt ähnlich komplexen oder komplexerem Niveau umzubilden (vgl. Bronfenbrenner 1981: 44; Obermaier 2012, 2015). In einem derart prozessualen Verständnis ereignet sich Bildung eben gerade nicht nur exklusiv im Kontext außerordentlicher, rarer und die komplette Person transformierender Ereignisse im Lebenslauf. Vielmehr sind dies die subtilen, unspektakulären, leisen, spielerischen Alltagserfahrungen im ständigen Prozess des Ausbalancierens am Scharnier zwischen Ich und Welt, die auch in der tänzerischen Performanz zum Ausdruck kommen und dieses Verhältnis von Ich und Welt, Natur und Kultur, Leiblichkeit und Körperlichkeit, Sein und Sollen usf. bearbeiten.

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Dabei sind es, wie bereits im Abschnitt 4 zu Leiblichkeit und Ästhetischer Bildung entfaltet, vorwiegend die negativen, widerständlichen Erfahrungen, in denen an Bekanntem Neues entdeckt und bislang Fremdes in Eigenes assimiliert wird. Bildsame Erfahrungen dieser Art sind vornehmlich über sinnlich-ästhetische Irritationen vermittelt, die (so ganz beiläufig) zu Handlungsfähigkeit und Verantwortung führen (vgl. Benner 2011: 17f; Meyer-Drawe 2008; Abraham 2016). Der sozialökologisch verstandene Prozess der Bildung ist sonach stark an den individuellen, sinnlich-ästhetischen Deutungen, dem persönlichen Erleben und Bewerten orientiert: „Die Betonung liegt nicht auf den traditionellen psychischen Prozessen der Wahrnehmung, der Motivation, des Denkens und des Lernens, sondern auf ihrem Inhalt: Was wird wahrgenommen, gewünscht, gefürchtet und gedacht oder als Wissen erworben, und wie verändert sich das Wesen dieses psychologischen Materials durch den Einfluß der Umwelt auf die Person, die ihr ausgesetzt ist und sich mit ihr auseinandersetzt.“ (Bronfenbrenner 1981: 25)

Insofern geht der ökologische Ansatz grundsätzlich davon aus, dass „für Verhalten und Entwicklung bedeutsam ist, wie die Umwelt wahrgenommen wird und nicht, wie sie in der objektiven Realität sein könnte“ (vgl. ebd.: 20).17 Demgemäß verfolg eine sozialökologisch orientierte Bildungs-

17 In methodologischer Hinsicht zeichnet sich eine sozialökologisch orientierte Bildungsforschung ausdrücklich durch folgende Grundsätze aus (vgl. Obermaier 2005: 54):



Orientierung am daily life (Lebensweltorientierung und Lebensbewältigung statt analytische Orientierung),



Integration naturalistischer Methoden ((teilnehmende) Beobachtung; Feldforschung; nicht-reaktive Verfahren),



normative Ausrichtung im Unterschied zur wertneutralen Deskription (Setzung klarer Sollwerte zur Entwicklungs- und Bildungsförderung),

• •

systemtheoretisch beeinflusste, holistische Perspektive, Fokussierung von Nebeneffekten (Konzept Opfer durch Nähe; Sekundäreffeke und Kollateralschäden),



Betonung Kultur und Lebensalter vergleichender Strategien und schließlich



die Interdisziplinarität der Forschung sowie die Methodentriangulation.

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forschung das Ziel, einerseits auf der Grundlage einer offenen Heuristik eine Theorie von Bildungsprozessen zu fundieren und andererseits ein detaillierteres Verständnis der Empirie menschlicher Lebensumwelten zu erlangen, um auf diesem Fundament adressatenorientiert bildungsförderliche Arrangements (sozialpolitisch) einfordern und (professionsspezifisch) gestalten zu können. Bezogen auf die in diesem Kontext interessierenden tanzpädagogischen Anfragen müssten zunächst die tanzpädagogischen Zielsetzungen im modernen Tanz in Sprache überführt und nachfolgend differenziert werden. Denn der Maßstab zur Legitimation tanzpädagogischer Praxen gründet letztlich in den empirisch zu leistenden Nachweisen darüber, inwieweit gemachte normativen Setzungen (bspw. Tanz als Menschenrecht; Tanz als anthropologisches Grundbedürfnis; Tanz als gesellschaftspolitische Partizipation; Tanz als Form politischer Bildung usf.) im vorher explizierten Bildungsverständnis eingelöst werden können. Konkret geht es dabei um die Nachweise, dass die tanzpädagogischen Konstrukte in Theorie und Praxis geeignet sind, den je individuellen Auseinandersetzungsprozess hinreichend zu ermöglichen, entwicklungsförderlich anzureichern und nachhaltig zu sichern (vgl. Obermaier & Obermaier 2012).

F AZIT Zweifelsohne ist ohnehin Vorsicht geboten, das komplexe Phänomen Tanz allzu schnell der Deutungshoheit einer evidenzbasierten Allmachtsempirie zu überlassen und schwerlich einholbare Sinnstrukturen auf messbares Niveau zu schrumpfen. Aus einer kritisch emanzipatorischen Tradition heraus ist es keinesfalls anzuraten, den anthropologischen Eigenwert des Tanzes gar zu instrumentalisieren, indem empirisch ‚nachweisbare‘ Effekte, beispielsweise der durch Kindertanz (bildungsökonomisch operationalisierbare) Zugewinn an kognitiver Leistungsfähigkeit in Mathematik, als letzte

Insofern kommt einer sozialökologisch orientierten Bildungsforschung die integrative Bestimmung zu, die wertvollen Beiträge auch anderer Bezugswissenschaften für Fragen der kindlichen Erziehung, Entwicklung und Bildung aufzubereiten und für die eigene Forschung nutzbar zu machen.

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Legitimationsgrundlage für die Persistenz öffentlich getragener tanzpädagogischer und tanzkünstlerischer Institutionen missbraucht wird. Andererseits scheint eine kritische Überprüfung der konstruierten und teilweise romantisch verklärten Modellierungen von Tanz als Schon-, Schutz- oder intermediärer Raum, der sich per se eines wie auch immer gearteten Zugriffs von außen entzieht, erhellend und notwendig. Und mit kritischem Blick auf die aktuell fortschreitende Psychologisierung, leibfernen Kognitivierung18 und Ökonomisierung von Bildungs- und Entwicklungsprozessen wäre zudem die Frage zu klären, wie und warum Wissen über Tanz und Tanzbildung (nicht) hergestellt, reproduziert und legitimiert wird und welcher Art dieses Wissen ist (vgl. Obermaier 2011; 2015: 73f.). Gerade in diesem Zusammenhang gilt es, wie dies Klaus Mollenhauer (1983) schon früh für eine kritisch-emanzipatorische Bildungstheorie postulierte, ideologiekritisch „die verborgenen Mechanismen der Macht“ (Bourdieu 2005) zu entschleiern und nachzuspüren, welche Legitimationsmuster die (tanz-)pädagogischen Alltagspraxen prägen und bestimmen und welche letztlich den je eigenen Bildungsprozesse positiv zu unterstützen in der Lage sind. Dazu ist der Anschluss an geeignete Diskurse und Forschungszugänge zu suchen, die Möglichkeiten bieten zur Selbstvergewisserung und Identitätsfindung, zur tanzpädagogischen Professionalisierung, zur argumentativen Selbstverteidigung, zur Dekonstruktion und zum Wiederaufbau, zur bildungspolitischen Lobbyarbeit oder auch zur Abgrenzung von Konzepten, die das Eigene eben nicht widerspiegeln und somit fremd, anders bleiben. Vermutlich erweist sich in diesem zu tätigenden Unter-

18 In Anlehnung an Reiner Kellers Methode (2011) der wissenssoziologischen Diskursanalyse zeitigt bereits eine rein deskriptive Herangehensweise an die vom Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2016) herausgegebenen „Bildungsgrundsätze. Mehr Chancen durch Bildung von Anfang an. Grundsätze zur Bildungsförderung für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Kindertagesbetreuung und Schulen im Primarbereich in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf“ interessante Ergebnisse: Das Wort Mathematik wird insgesamt 37-mal in den 148 seitigen Empfehlungen eingeflochten und als eigener Bildungsbereich ausgewiesen. Das Wort Tanz kann ebenfalls 37-mal aufgefunden werden, jedoch 9-mal als Bestandteil des Wortes Akzeptanz und 6-mal als Bestandteil des Wortes Distanz.

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fangen die sozialökologische Perspektivierung als die unterschiedlichen Zugänge verschränkendes Element als geeignete Heuristik. Dass das Chladek-System, der Elementare Tanz, die Jooss-Leeder-Methode sowie die Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien als Ausprägungen der Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegung in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der deutschen UNESCO-Kommission aufgenommen wurden, kann gleichermaßen als Bestätigung wie als (bildungs-)theoretisch und empirisch zu erfüllende Aufforderung verstanden werden, das kulturelle Erbe einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zu öffnen und so seine Existenz als „lebendiger Tanz“ dauerhaft zu sichern.

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Pädagogisch-psychologische Anmerkungen zum Erbe des Modernen Tanzes im zeitgenössischen Kontext S USANNE Q UINTEN

E INLEITUNG Der Moderne Tanz avanciert zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer eigenen Kunstgattung, die ein neues Verständnis von Tanz hervorgebracht hat. Eines seiner prägendsten und folgenreichsten Prinzipien ist die Betonung des Individuellen. Der Körper des Tänzers und seine ihm eigenen Bewegungen rücken ins Zentrum des künstlerischen Schaffens, was zu einem neuen, differenzierten Bewegungsvokabular, überraschenden Körperausdrücken sowie vielen neuartigen Stilformen geführt hat (Fleischle-Braun 2001; Huschka 2002; Martin 1933; Postuwka 1999). Unter ihnen befinden sich sowohl die an der „Neuen Sachlichkeit“ orientierten Tanzformen von Rosalia Chladek, Vera Skoronel, Maja Lex oder Gret Palucca ebenso wie expressive, an subjektiven Motivationen und inneren Impulsen ausgerichtete Tanzformen in Weiterführung des Stils von Mary Wigman (Postuwka 1999: 22ff.). Neben bewegungsästhetischen Besonderheiten sind in dieser Zeit teils unterschiedliche Auffassungen zu grundlegenden Kategorien wie Bewegung, Rhythmus, Ausdruck oder Kommunikation formuliert worden. Die Bewegungstheorie von Labans ist hier als eine der bislang am häufigsten rezipierten und weiterentwickelten Theorien in pädagogisch-psychologisch relevanten Zusammenhängen zu nennen (Koch/Bender 2007; Fernandes 2015; Kennedy 2010; Lamb 1965). Aber auch andere der damals

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konzipierten Annahmen erweisen sich bis heute als Ideengeber und Katalysator für (Tanz)Kunstschaffende ebenso wie für Akteure in Wissenschaft, Bildung und Therapie. In diesem Sinne möchte der Beitrag dem Erbe des Modernen Tanzes anhand ausgewählter Themen aus pädagogisch-psychologischer Sicht nachspüren. Dabei erweist es sich als interessant, dass aktuelle Forschungsbefunde insbesondere aus den Bewegungs- und Neurowissenschaften sowie aus der Entwicklungspsychologie einige theoretische Annahmen und typischen Arbeitsweisen des Modernen Tanzes und seines zeitgenössischen Erbes zu bekräftigen scheinen. Die folgenden Anmerkungen beziehen sich auf die Themen Bewegungsdynamik (1) Betonung des Individuellen (2), Heterogenität der Ausdruckskonzeptionen (3) sowie Kinästhesie, Kommunikation und Resonanz (4). Um den Beitrag nicht zu sprengen, musste sowohl bei der Auswahl dieser Themen, als auch bei den Stilformen eine Eingrenzung erfolgen. Somit versteht sich der Beitrag auch als Anregung, um das Erbe der Tanz-Moderne unter pädagogisch-psychologischer Perspektive weiter zu untersuchen. Dort, wo die einschlägige Literatur es zulässt, wird der Elementare Tanz (Maja Lex/Graziela Padilla) einer besonderen Betrachtung unterzogen 1. Tanztherapie und der Fähigkeitsgemischte Tanz (mixed-abled dance) werden an geeigneter Stelle herangezogen, um den Einfluss des Erbes der Tanzstilformen aus pädagogischpsychologischer Perspektive exemplarisch zu demonstrieren.

ANMERKUNG 1: BEWEGUNGSDYNAMIK Viele „moderne“ Tänzer haben sich mit der Dynamik des Bewegens beschäftigt, sie waren „Avantgardisten in der Erforschung der Bewegungsdynamik“ (Stern 2011: 113). Laban hat dynamische Merkmale des Tanzes

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Diese Auswahl wurde einerseits aus biographischen Gründen der Verfasserin getroffen. Sie war nach Studium des Elementaren Tanzes an der Deutschen Sporthochschule Mitglied der Tanzgruppe Maja Lex und dadurch mit Vermittlungstradition ebenso wie mit dem tänzerischen Stil von Maja Lex und Graziela Padilla vertraut. Andererseits erfordert die wissenschaftliche Analyse eines Tanzstiles umfangreiche Recherchen, so dass die Analyse weiterer Stilformen wie von Chladek, Jooss-Leeder oder Laban/Bartenieff den Rahmen des Beitrages sprengen würde.

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untersucht, Warren Lamb entwickelte, beeinflusst von Labans Ideen, weitere neue Beschreibungen und Terminologien für die Arbeit mit dem dynamischen Erleben (Stern 2011: 113). Auch im Elementaren Tanz ist seit den Anfängen in der Günther-Schule die Bewegungsdynamik eines der zentralen Themen – nicht zuletzt durch die enge Zusammenarbeit von Maja Lex mit der Orff-Schülerin Gunild Keetman und der zentralen Bedeutung, die die Musik für den Elementaren Tanz spielt. Maja Lex lehrte das „differenzierte Spielen mit Zeit und Kraft, mit Steigerung und Zurücknehmen, so daß die Tänzerinnen ausgeprägte Zwischentöne zwischen den beiden Polen der schwachen und der starken Dynamik erlernten [...].“ (Willke 1993: 33).

Der Entwicklungspsychologe Daniel Stern knüpft mit seiner Neukonzeption der „Vitalität“ (Stern 2011) an die Bewegung und ihre dynamischen Möglichkeiten an. Ausgehend von Beobachtungen früher Interaktionen zwischen Babys und ihren Müttern (bzw. anderen signifikanten Bezugs personen) arbeitet er die enorme Bedeutung von Vitalitätsformen für zwischenmenschliche Beziehungen allgemein sowie in der therapeutischen Behandlungssituation im Besonderen heraus. Dabei versteht er die Vitalitätsformen als „psychische, subjektive Phänomene, die aus der Begegnung mit dynamischen Vorgängen hervorgehen“ (Stern 2011: 16). Nach Stern (2011) können Wörter wie „explodierend, anschwellend, lang gezogen, energisch, ansteigend, eilend, entspannend, aufgeregt, angespannt, gleitend, stillhaltend, aufwallend, aufberstend, verschwindend, kraftvoll, pulsierend, mitziehend [...] sanft schwingend locker, akzelerierend, verblassend, [...]“ (Stern 2011: 17)

u.v.a.m. eine Vorstellung von den dynamischen Vitalitätsformen vermitteln. Für Stern sind die dynamischen Vitalitätsformen „die fundamentalsten aller gefühlten Erfahrungen [...], wenn wir mit anderen ‚Menschen in Bewegung‘ zu tun haben.“ (2011: 19). Aus pädagogisch-psychologischer Perspektive ist bedeutsam, dass eine an die Bewegungsdynamik gebundene Intersubjektivität die Basis für das Zusammensein mit einem anderen Menschen ist und Teilhabe an dessen Erleben ermöglicht. Entwicklungspsychologisch betrachtet ist ein solches gemeinsames Teilen der Vitalitätsformen „vermutlich der früheste, einfachste und direkteste Weg hinein in das sub-

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jektive Erleben eines Anderen.“ (Stern 2011: 59-60). Die Erkenntnisse der „modernen Tänzer“ über dynamisches Bewegen und Erleben haben nach Stern (2011) viele der nonverbalen und bewegungsgestützten Psychotherapieformen beeinflusst, da Bewegungsdynamik, Dynamik des Erlebens und das Erleben von Vitalität in engem Zusammenhang stehen – so auch in der Tanztherapie. Die Fähigkeit, sich selbst dynamisch bewegen zu können, ist beispielsweise eine grundlegende Voraussetzung für den Emotionsausdruck. So bedarf das Äußern großer Wut der Erfahrung in einer dynamischen Steigerung (Willke 1993). Auch die wechselseitige gefühlsmäßige Abstimmung zwischen zwei Personen beruht auf der Anpassung dynamischer Vitalitätsformen. Stern verwendet den in therapeutischen und entwicklungspsychologischen Kontexten zentralen Begriff der „Affektabstimmung“ im Sinne von „Angleichung der Vitalitätsformen“ (2011: 59). Eine Affektabstimmung beruht „auf der Anpassung und dem gemeinsamen Teilen dynamischer Vitalitätsformen [...]“ (Stern 2011: 58). Wesentlicher Gedanke dabei ist, dass die Vitalitätsformen in ganz unterschiedlichen Modalitäten wie z.B. in der Sprachmelodie, im Gestikulieren, aber auch im Malen, Tanzen oder Musizieren ihren Ausdruck finden können. Besonders deutlich und nachvollziehbar findet die Dynamik des Erlebens daher in den Künsten ihren Ausdruck, weil diese alle dieselbe „meta-modale Sprache der Vitalitätsformen“ (Stern 2011: 106) sprechen. In der Tanzkunst war es vor allem der Moderne Tanz, der sich um „das Spiel der Vitalitätskräfte“ (Stern 2011: 111) verdient gemacht und dieses zur Aufführung auf die Bühne gebracht hat. Lange, bevor Kinder über Sprache verfügen, greifen sie auf implizite Formen der Kommunikation zurück, um das Zusammensein mit anderen Menschen zu gestalten. In den nichtsprachlichen, durch Vitalitätsformen geprägten intersubjektiven Prozessen entwickelt sich mit der Zeit implizites Beziehungswissen, das nicht nur im präsymbolischen Stadium des Säuglings Garant für gelingende Interaktionen ist, sondern das lebenslang in den vielen „Möglichkeiten des Zusammenseins-mit-Anderen“ (Stern et al. 2012: 23) zum Tragen kommt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die intensiven Forschungen zur Bewegungsdynamik in der Tanz-Moderne ein Erbe hinterlassen haben, dessen Bedeutung heute für das zwischenmenschliche Miteinander im Alltag, in Bildungs-, Förder- und Therapiekontexten von großer Bedeutung ist, dessen Potenzial jedoch sicherlich noch weiterer wissenschaftlicher Bemühungen bedarf.

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ANMERKUNG 2: BETONUNG

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DES INDIVIDUELLEN

Die zweite Anmerkung in diesem Beitrag bezieht sich auf das den Modernen Tanz prägende Prinzip der Betonung des Individuellen (FleischleBraun 2001; Huschka 2002; Martin 1933; Postuwka 1999), welches sich auf unterschiedlichen Ebenen realisierte: Tänzer konnten sich von ihrer eigenen Persönlichkeit, ihren Präferenzen oder Abneigungen, inneren Regungen, Bedürfnissen und Motivationen ebenso leiten lassen, wie von ihren Bewegungsvorlieben, ihren körperlichen Fähigkeiten und Begrenzungen; das körperliche Aussehen spielte eher eine untergeordnete Rolle (Postuwka 1999: 74). Die Suche nach individuellen Lösungen stand in der tänzerischen Auseinandersetzung an erster Stelle. Dies alles war Voraussetzung dafür, dass sich aus dem Modernen Tanz heraus mannigfaltige Tanzformen herausgebildet haben, dessen tanzpraktisches Erbe u.a. durch die Vielzahl an Stilformen und Vermittlungsweisen des zeitgenössischen Tanzes sichtbar wird (Diehl/Lampert 2010). Als – wenn auch bisher eher unterbeleuchtetes – Erbe zu nennen ist hierbei auch der Fähigkeitsgemischte Tanz (mixed-abled dance) (Quinten/Schwiertz 2014), dessen Wurzeln bis ins beginnende 20. Jahrhundert reichen. Der Fähigkeitsgemischte Tanz ist eine Spielart des heute als „inklusiv“ bezeichneten Tanzes, bei dem Tänzer mit und ohne Beeinträchtigungen unterschiedlichster Form miteinander tanzen, wobei diese unterschiedlichen Fähigkeiten für den künstlerischen Ausdruck konstituierend sind und die Vermittlungsarbeit vor neue Herausforderung stellt, da die Künstler durch ihre Beeinträchtigungen neue Voraussetzungen und damit auch neue Welterfahrungen und Weltsichten mitbringen. Ausgehend vom Modernen Tanz der 1920er Jahre lassen sich (mindestens) zwei Traditionslinien skizzieren, die zum Fähigkeitsgemischten Tanz führen: 1.

Eine erste Linie verbindet den österreichischen Ausdruckstanz der Wienerin Gertrud Bodenwieser (1890-1955) und ihrer Schülerin Hilde Holger (1905-2001) mit aktuellen führenden Vertretern der mixedabled Szene wie Wolfgang Stange (Hirschbach/Takvorian 1990). Die tänzerische Arbeit von Gertrud Bodenwieser war stark von der Ausdruckslehre des Francois Delsarte geprägt, der freie Ausdruck war für sie „persönliche Entwicklung einer Muttersprache des Körpers“ (Hirschbach/Takvorian 1990: 14). Hilde Holger studierte Tanz bei Gertrud Bodenwieser, sie emigrierte 1939 von Wien nach Bombay und

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2.

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siedelte 1948 von Bombay nach London um. Bedingt durch die geistige Beeinträchtigung ihres Sohnes, der 1949 zur Welt kam, entwickelte sich ihr Interesse für die pädagogische und künstlerische Arbeit mit Menschen mit Behinderung. 1969 führte sie mit Towards the Light zur Musik von Edvard Grieg ihr erstes „inklusives“ Tanzwerk auf, in dem Menschen mit geistiger Behinderung zusammen mit einem professionellen Tänzer im Sadlers Wells Theatre auftraten. Carl Campbell und Wolfang Stange entwickelten Holgers tänzerische Arbeit mit Menschen mit Behinderung in den Folgejahren weiter. Wolfgang Stange gründete 1980 Englands erste fähigkeitsgemischte Tanzcompany AMICI (Hirschbach/Takvorian 1990). Eine weitere Traditionslinie verbindet den Elementaren Tanz von Maja Lex über die Kölner Tanzgruppe MOBIAKI (Anna Richardsdottir und Christine Merschemke-Hader), in der Rollstuhlfahrer und Fußgänger gemeinsam tänzerisch aktiv waren, mit der Choreographin und Tänzerin Gerda König, die mit ihrer (aus MOBIAKI hervorgegangenen) Tanzcompany DIN-A-13 international den mixed-abled Tanz derzeit auf hohem künstlerischen Niveau praktiziert (siehe MerschhemkeHader 2014). Wie viele andere, an der Neuen Sachlichkeit orientierte Stilformen auch, bietet der Elementare Tanz größtmögliche Freiheit in der Auswahl ganz eigener Bewegungen, da es ihm primär um die tänzerische Gestaltung der Bewegungsmerkmale Raum, Zeit, Kraft und Form geht (vgl. Fleischle-Braun 2016) – unabhängig von den individuellen Voraussetzungen der tanzenden Person. Der kreative Umgang mit allen individuellen Gegebenheiten ist folglich eine der „modernen“ Wurzeln des Fähigkeitsgemischten Tanzes und führt zur Erweiterung des Wissens (auch) über „andere“ Körperlichkeiten, Denk- und Erlebensweisen. Der Fähigkeitsgemischte Tanz erweist sich damit deutlich als ein Erbe des Modernen Tanzes, denn dieser hat immer wieder neue gestalterische Möglichkeiten des Körpers erfunden und damit das Wissen über den Körper bereichert (Huschka 2002: 11).2

Mit der Kontaktimprovisation, die im Postmodernen Tanz in der Folge der Tanzmoderne entstanden ist, liegt eine weitere bedeutsame Wurzel des Fähigkeitsgemischten Tanzes vor, deren besondere Bedeutung in der Erforschung des kreativen Umgangs im Miteinander-Bewegen liegt. (Quinten 2016 b).

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Psychische Grundbedürfnisse und Moderner Tanz Eine aus pädagogischer wie psychologischer Sicht relevante Beobachtung liegt darin, dass die Arbeit an individuellen kreativen Bewegungslösungen – wie sie typisch für die Vermittlungstraditionen des Modernen Tanzes und ihres Erbes ist – die gleichzeitige Erfüllung psychischer Grundbedürfnisse (Kontrolle und Orientierung, Selbstwerterhöhung, soziale Zugehörigkeit, Lustgewinn) möglich macht (Quinten 2013). Die Gesundheitsforschung geht davon aus, dass die gelingende Befriedigung dieser Bedürfnisse zu positiven Emotionen, zu mehr Wohlbefinden und zu guter psychischer Gesundheit führen. Für den kreativen Tanz, der in der Tradition des Modernen Tanzes steht, liegen hierzu Befunde vor (Rittelmeyer 2010). Für den Fähigkeitsgemischten Tanz haben jüngst Dinold und Zitomer (2015) die positiven Wirkungen überblicksartig zusammengefasst. Improvisation, Ausprobieren oder auch das Lösen mehr oder weniger offener Bewegungsaufgaben sind typische Arbeitsweisen innerhalb des Modernen Tanzes, die neben der Aufgabenorientierung immer auch die Subjektorientierung zulassen und damit potenziell zur Erfüllung psychischer Grundbedürfnisse beitragen können. Die aus spielerischem Erproben heraus gefundenen kreativen Bewegungsideen integrieren in diesem Sinne sowohl die Lösung der Aufgabenanforderungen, als auch die Erfüllung der für den Tänzer relevanten Grundbedürfnisse (Quinten 2013: 173). Da die psychischen Grundbedürfnisse tief im menschlichen Nervensystem verankert sind (Grawe 2004), ist ihr in der Regel impliziter Einfluss auf menschliches Verhalten sehr stark, wenn auch unbewusst. Menschen suchen verstärkt solche Situationen auf (und bilden entsprechende Annäherungsziele aus), die ihnen Erfahrungen verschaffen, durch welche ihre psychischen Grundbedürfnisse erfüllt werden können. Umgekehrt tendieren sie dazu Situationen zu vermeiden (und bilden entsprechend Vermeidungsziele aus), in denen die gemachten Erfahrungen psychische Grundbedürfnisse frustrieren (Grawe 2004). Kreatives Handeln im Tanz, wie es in den verschiedensten Ansätzen des Modernen Tanzes in der Praxis entwickelt worden ist, bietet unter der Voraussetzung einer ressourcenorientierten Vorgehensweise Erfahrungsmöglichkeiten zur Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse. Dieses Potenzial ist ein bedeutsames Erbe des Modernen Tanzes aus pädagogischpsychologischer Sicht.

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ANMERKUNG 3: HETEROGENITÄT DER AUSDRUCKSKONZEPTIONEN IM MODERNEN T ANZ Ausdruck im und durch Tanz gehört mit zu den Schlüsselthemen einer pädagogisch-psychologischen Betrachtung des Tanzes und steht in engem Verhältnis zu den zentralen Zielen einer Persönlichkeits- und Identitätsförderung durch Tanz in Pädagogik und Therapie. Die Ausdruckskonzeptionen des Modernen Tanzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind vielfältig, denkt man beispielsweise an den spontanen Selbstausdruck der Isadora Duncan, den expressiven Stil der Mary Wigman, den formalisierten Emotionsausdruck der Martha Graham oder auch an den eher abbild- und sinnfreien Tanzstilen von Rosalia Chladek, Maja Lex, Gret Palucca oder Vera Skoronel (Postuwka 1999: 22ff; vgl. auch Franko 1995). Zwei Sichtweisen des Bewegungsausdrucks – als Träger und Vermittler subjektiver Bedeutungen und Emotionen einerseits sowie als abbild- und sinnfreier, abstrakter Tanz andererseits – spielen bis heute eine wichtige Rolle sozusagen als Erbe der Tanzmoderne aus pädagogisch-psychologischer Sicht. Das wird im Folgenden näher ausgeführt. Bewegungsausdruck als Träger und Vermittler subjektiver Bedeutungen und Emotionen Der Ausdruck von Gefühlen war im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein wichtiges Forschungsthema der Psychologie. Charles Darwin (1872) beschäftigte sich im Rahmen seiner Emotionstheorie mit dem Emotionsausdruck als eine Emotion begleitende beobachtbare körperliche Veränderung (wahrnehmbar in Mimik, Gestik, Körperhaltung oder Vokalisation) sowie auch als beobachtbare physiologische Veränderungen (wie Erröten, Zittern usw.). Aufgrund der körperlichen Beteiligung ist der Emotionsausdrucks eng mit dem subjektiven Erleben verbunden (Hülshoff 2001). Als wichtige Vorreiter eines an Emotionen und Bedeutung gebundenen Ausdruckskonzeptes der Tanz-Moderne gelten der französische Tänzer und Choreograph Jean-Georges Noverre (1727-1810) und der Schauspiellehrer François Delsarte (1811-1871). So schreibt Rudolf von Laban (1926: 157):

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„Alles, was man heute an Stilbestrebungen im Tanz findet, alle die Schulen der Barfußtänzer und Rhythmiker, entspringen aus der Abkehr Noverres von der mittelalterlichen Tanzkunst zur Natürlichkeit und auf dem genialen Neuerschaffen der Gesetzmäßigkeiten naturentsprungener Bewegungen durch Delsarte, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wirkte.“

Es war vor allem die in der „Delsartik“ vertretene Auffassung einer engen Verbindung zwischen Körperhaltung bzw. Körperbewegung und seelischem Zustand, welche auch die Ausdruckstanzbewegung des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts stark beeinflusst hat (von Arps-Aubert 2012: 119; Postuwka, 1999: 97/98). Sogenannte Ausdrucksübungen waren Bestandteil der meisten pädagogisch-künstlerischen Konzeptionen, wie Postuwka (1999: 97f.) herausarbeitet: „In Anlehnung an das Übungsgut von Delsarte oder Jaques-Dalcroze schufen die Tanzkünstler verschiedenen sog. ‚Ausdrucksübungen‘, und sie schufen neue, ihren Bedürfnissen entsprechende Aufgaben.“

Auf dieses Potenzial der Bedürfniserfüllung wurde bereits weiter oben ausführlich eingegangen (siehe Anmerkung 2). Willke (2007) hat verschiedene Ausdruckskonzepte der Tanz-Moderne auf ihr tanztherapeutisches Potenzial hin analysiert. Das Ausdrucksverständnis, das den Körper als Träger des emotionalen Ausdrucks versteht, hat die Auffassung von Tanz als Selbstausdruck in der Tanztherapie maßgeblich geprägt (Willke 2007: 117). So erklärt sich, dass das im Ausdruckstanz zentrale Thema des Affektausdrucks für die Entwicklung von Tanztherapiekonzeptionen eine wichtige Rolle gespielt hat. Pionierinnen der Tanztherapie wie Trudi Schoop, Marian Chace oder Mary Whitehouse sind in der Zeit des Ausdruckstanzes tänzerisch sozialisiert und haben diesen auch selbst praktiziert (Willke 2007: 75). So lag ihrem Verständnis von Tanz der direkte Zusammenhang von Körper und Seele zugrunde, sie gingen davon aus, dass Bewegungsmuster die Persönlichkeitsmuster spiegeln (Willke 2007: 79). Da in der heutigen Zeit sehr viel mehr und andere Krankheitsbilder als in der frühen Entstehungszeit der Tanztherapie behandelt werden müssen wie beispielsweise posttraumatische Belastungsstörungen, Essstörungen, Verhaltensstörungen und Verhaltensauffälligkeiten sind jedoch auch andere therapeutische Zugänge, neue und auch verbale Metho-

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den und Techniken in der Therapie notwendig (Willke 2007: 82). Konkrete und praktisch veranschaulichte Einblicke in die Arbeit mit und am Ausdruck der heutigen Tanztherapie finden sich bei Willke (2007: 117 ff.). Abbild- und sinnfreier Bewegungsausdruck Auch das eher an den reinen Bewegungsparametern interessierte, abbildund sinnfreie Verständnis des Tanzausdrucks birgt aus pädagogischpsychologischer Perspektive bedeutendes Potenzial, wie im Folgenden am Beispiel des Elementaren Tanzes3 mit Bezug zur Tanztherapie herausgearbeitet werden soll. Die Vielfalt der individuellen Äußerungen, rhythmische Prägnanz, Klarheit der Bewegungs- und Raumformen, wie sie für den Elementaren Tanz charakteristisch sind (Elementarer Tanz e.V. 1993: 6), klären den tänzerischen Ausdruck, ermöglichen dadurch ein hohes Maß an Selbstwahrnehmung im Bewegungsvollzug und bieten Erfahrungsmöglichkeiten für die verschiedenen Bewegungsqualitäten und Grundformen der Bewegung, die für eine Arbeit mit Tanz in der Therapie wesentlich sind. Darauf weist Elke Willke (2007) hin, eine der Begründerinnen der modernen Tanztherapie in Deutschland, die auch bei Maja Lex an der Deutschen Sporthochschule Elementaren Tanz studiert hat. „Dieses ‚elementare‘ Material nutzen wir in der Tanztherapie, angereichert, ergänzt, erweitert durch andere Tanzrichtungen und spezifisch modifiziert durch die Notwendigkeiten des therapeutischen Prozesses.“ (Willke 1993: 34-35; vgl. dazu auch Drefke-Polzin 1997).

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Weder drückt der Elementare Tanz persönliche Empfindungen aus, noch bezieht er symbolhaft beladene Bilder, erzählerische Inhalte oder pantomimische oder darstellende Elemente mit ein. „Sein Charakteristikum ist die Vielfalt der individuellen Äußerung, die Musikalität, die rhythmische Prägnanz, die Klarheit der Bewegungs- und Raumformen und damit die Klarheit des tänzerischen Ausdrucks.“ (Elementarer Tanz e.V. 1993: 6). Für Dorothee Günther widmet sich diese Art von Tanz denjenigen Themen, „die der Tanz aus seinen eigensten Elementen ableitet – aus und mit denen und durch die er sich darstellt, wie z.B. ‚, ‚Weite‘, Leichtigkeit‘, ‚Schwung‘, Rhythmus‘, die die reinste Inkarnation des Begriffes Tanz darstellen, denn sie sind abbild- und sinnbildfrei, sind absolut und nur Tanz“ (1962: 21).

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Für die bereits weiter oben besprochene tanztherapeutische Arbeit am individuellen Ausdruck von Gefühlen, Stimmungen und Zuständen ist die differenzierende Arbeit am Bewegungsausdruck wichtig. Durch die differenzierte und variationsreiche Arbeit mit den Bewegungsparametern Raum, Zeit, Kraft und Dynamik sowie mit den Bewegungsgrundformen wie Gehen, Laufen, Springen, Drehen, Schwingen kann das grundsätzliche Bewegungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsrepertoire erweitert werden, ohne die Nähe zum Alltäglichen zu verlieren. Wesentlicher Unterschied der therapeutischen im Vergleich zur künstlerischen Arbeitsweise besteht darin, dass die Ausweitung des Bewegungsrepertoires in der Tanztherapie nicht einem künstlerischen Zweck dient, sondern „sie ist dazu da, andere Zugangsmöglichkeiten zur Welt zu schaffen und zu erfahren. Schulung von technischen Schritten soll ein Neuerlernen oder Wiedererlernen von verloren gegangenem oder nie entwickelten Möglichkeiten des Bewegens und Spürens und Fühlens ermöglichen, die dann als erweitertes Verhalten (Transfer) in den Alltag integriert werden können.“ (Willke 1993: 35).

Auf die große Bedeutung, die den Erfahrungen mit dynamischen Bewegungsformen und dynamischem Erleben in der Therapie und grundsätzlich in jeder zwischenmenschlichen Interaktion zukommt, wurde bereits in der ersten Anmerkung ausführlich eingegangen. Daher wird zum Abschluss des Kapitels exemplarisch auf einige Aspekte des Parameters Raum, wie er in der elementaren Bewegungsarbeit vorkommt, kurz eingegangen und ihr Bezug zur Tanztherapie beschrieben: „Das differenzierte Umgehen mit Raumrichtungen, Stellungen des Körpers im Raum, das räumliche Zueinander und Gegeneinander von Gruppen ist in seiner Komplexität einmalig. Die klare Orientierung in seinem Körper und im Raum hat jede Elementare Tänzerin einverleibt. Dieses Lernen und Können ist für eine Tanztherapeutin unschätzbar. Einmal weil sie sehr schnell und sehr klar solche Bewegungsvariablen beim Klienten wahrnehmen kann und genügend Material hat, um damit zu arbeiten. Der Raum und die Raumorientierung in der Tanztherapie haben jeweils eine sehr persönliche Bedeutung, die im Therapieprozess herausgearbeitet werden kann. Wir kennen Menschen, die nicht sehr klar links oder rechts unterscheiden können, die kein klares Oben und Unten haben, die sich nicht getrauen, durch eine Raummitte zu gehen, die immer wieder die Orientierung verlieren. [...]

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Der Raum in der Tanztherapie gewinnt auch eine symbolische Qualität, wie sie z.B. in den Ausdrücken ‚Ich kann mir keinen Raum nehmen‘ oder ‚Er nimmt viel Raum ein‘ deutlich wird.“ (Willke 1993: 33).

ANMERKUNG 4: K INÄSTHESIE , K OMMUNIKATION

UND

R ESONANZ

Die vierte und letzte Anmerkung bezieht sich auf das Erbe der TanzModerne und ihr Beitrag zu einem gelingenden sozialen Miteinander. In Folge der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen sowie angesichts der starken Migrationsbewegungen nach Europa ist das Gelingen von sozialem Miteinander zu einer der größten gesellschaftlichen Herausforderungen geworden. Kommunikation, Resonanz und Empathie zählen dabei aus pädagogisch-psychologischer Sicht zu den Schüsselbegriffen, da sie zu einem besseren Selbst- und Fremdverstehen beitragen können. Als Ausgangspunkt für die folgenden Anmerkungen wird das in den 1930er Jahren von John Martin entwickelte Kommunikationsmodell des Tanzes gewählt, da es die herausragende Bedeutung tänzerischen Bewegungsausdrucks für Kommunikation, Empathie und kinästhetisch basiertem Fremdverstehen theoretisch gefasst hat. In derzeit aktuellen bewegungs- und neurowissenschaftlichen Forschungszugängen, die sich mit Resonanz und Empathie beschäftigen, findet sein Modell wieder Beachtung (Reynolds 2013). In dem Kommunikationsmodell von Martin geht es vorrangig darum zu erklären, wie durch die Wahrnehmung der tänzerischen Bewegungen der Zuschauer Gefühle oder Stimmungen des Tanzenden verstehen kann.4 Das Modell basiert auf dem bereits weiter oben skizzierten Ausdrucksverständnis, das den Zusammenhang zwischen Körper- und Gefühlsausdruck betont. Für Martin sind die in der Tanz-Moderne entstandenen Tanzstile

4

Die Wahrnehmung von Tanz durch Zuschauer ist auch heute wieder zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand z.B. für Bewegungs- und Neurowissenschaften (z.B. Calvo-Merino, Glaser, Grèzes, Passingham und Haggard 2005; Jola, Ehrenberg und Reynolds 2012; Reason/Reynolds 2010; Reynolds/Reason, 2013) sowie auch für (leib-)phänomenologischen Untersuchungen (z.B. Eberlein 2016 b; Jola, Ehrenberg und Reynolds 2012) geworden.

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subjektzentriert, gefühlsgeleitet und vom Drang motiviert, das Innere in einen Ausdruck zu überführen.5 Entsprechend war Martin besonders daran interessiert, choreographische Möglichkeiten zur Darstellung von Gefühlen und Stimmungen zu erfassen und untersuchte hierzu die grundlegenden Bewegungsmerkmale wie Raum, Zeit und Dynamik, sowie auch Rhythmus, Akzentuierung, Wiederholung, Kontrastierung, Sequenzierung u.v.a.m. mit Blick auf ihr emotionsdarstellendes Potenzial (Huschka 2002: 75). Die primäre Aufgabe des Tänzers bzw. Choreographen sah Martin – ganz im Sinne der Idee von Kommunikation – darin, die tänzerischen Bewegungen so zu gestalten, „that it will induce those specific reactions in us that will communicate his purpose.“ (Martin 1933: 54). Martin knüpft das Verstehen der tänzerischen Aussage an das kinästhetische Vermögen des Zuschauers. Dessen Körper reagiert „[...] auf jegliche innere wie äußeren Reize, unterschieden nach deren Sinnesart, mit Eigenbewegungen und einer Regulierung der Lage- und Spannungsveränderungen in seinen Gelenken, Organen u.ä., einer Regulierung von Balance, Muskelspannung, Orientierung und Haltung, was seinen gesamten Wahrnehmungsapparat, seine Emotionen und Erinnerungen bewusst oder unbewusst kinästhetische strukturiert. Die Übertragung von Tanzbewegungen vom Tänzer auf den Zuschauer fasst Martin in vergleichbarer Weise sympathetisch auf. Der Zuschauer absorbiert quasi die Bewegung mit ihren emotional gestimmten Spannungsmomenten in seinen Körper, reagiert also in höchstem Maß emphatisch (1938, S. 107), das heißt, ihm zeigt sich der Tanz nicht primär visuell, sondern er wird von ihm eigenkörperlich berührt. Die Tanzkunst kommuniziert danach mit dem Zuschauer direkt.“ (Huschka 2002: 78-79)6

5

Zu Widersprüchlichkeiten und Kritik an Martins Konzeption siehe Huschka 2002: 77ff.

6

Damit das gelingt, muss es nach Martin jedoch dem Tänzer ein inneres Bedürfnis sein, die Gefühle zum Ausdruck zu bringen (Huschka 2002: 78). In diesem Sinn nennt auch Dorothee Günther (1962: 17) als Voraussetzung für die Resonanz des Beobachters auf den tänzerischen Ausdruck, dass der Tanzende seine gesamte innere Aufmerksamkeit und Anteilnahme in den Bewegungsausdruck hineinlegt. Darüber hinaus weist sie aber auch darauf hin, dass der Zuschauende die Bereitschaft mitbringen muss, seine ganze Aufmerksamkeit auf den Tänzer zu richten und sich auf das tänzerische Geschehen einzulassen.

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Zu seiner Zeit war Martin einer der ersten, der mit seinem Kommunikationsmodell psychologische und neurophysiologische Erkenntnisse zur Kinästhetik in den ästhetischen Tanzdiskurs einführte (Huschka 2002: 78). Reynolds (2013) sieht in seinem Ansatz Parallelen zu der von den Neurowissenschaften beschriebenen Funktion der Spiegelneurone. Diese bilden die biologische Basis für das Erkennen und Verstehen der Gefühle, Handlungen und Absichten anderer Menschen (Rizzolatti/Sinigaglia 2008). Zuschauer einer Tanzaufführung werden durch die Aktivierung ihres motorischen Systems zu Mitwirkenden dieses Tanzereignisses, sie nehmen unmittelbar an dem Geschehen auf der Bühne teil. Vittorio Gallese spricht in diesem Sinne von verkörperter Simulation (embodied simulation), die das Teilen emotionaler und mentaler Zustände ermöglicht, allerdings moduliert durch den jeweiligen persönlichen Erfahrungshintergrund: „A common underlying functional mechanism – embodied simulation – mediates our capacity to experientially share the meaning of actions, intentions, feelings, and emotions with others, thus grounding our identification with and connectedness to others. This occurs in a nonconscious, pre-declarative fashion, though modulated by our own personal history, that is, by the quality of our attachment relations and by our sociocultural background. Embodied simulation generates our ›intentional attunement‹ to others.” (Gallese 2008: 775, zit. in Quinten 2016: 43).

In dem Zitat klingt bereits an, dass die Aktivierung von Spiegelneuronen kontextspezifisch und abhängig von den individuellen Vorerfahrungen, Fähigkeiten, Einstellungen oder vom soziokulturellen Hintergrund des jeweiligen Beobachters gesehen werden muss, auch wenn die Spiegelmechanismen an sich universell sind. Nach Keysers handelt es sich daher auch weniger um einen Spiegelvorgang, als um die „Übersetzung und Reinterpretation dessen, was wir sehen in diejenige Sprache von dem, was wir in derselben Situation getan oder gefühlt hätten. Das, was der Beobachter eines Tanzes sieht, ist die Übersetzung der Information in die eigene Erfahrungswelt. Nicht nur vergangene Erfahrungen, sondern auch Motivationen, besonders hinsichtlich spezifischer Aufgaben und Kontexte über das, was wir sehen, liefern unseren verkörperten Antworten Informationen. [...]“ (Keysers 2011, „The Empathic Brain“, zit. in Reynolds 2013: 217, übersetzt von S.Q.)

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Die Bedeutung, die der Kinästhesie, den Spiegelneuronen und dem motorischen System insgesamt für das Verstehen anderer von der Wissenschaft zugesprochen werden, basiert heute auf belastbaren empirischen Untersuchungen. Dennoch kann Martin’s Kommunikationsmodell des Tanzes als Vorläufer für derzeitig gültige theoretische Konzeptionen betrachtet werden, mit deren Hilfe nichtsprachliche, unmittelbare Austauschvorgänge zwischen Menschen beschrieben und erklärt werden können. Neben den dargestellten neurowissenschaftlichen Vertretern (Rizolatti/Sinigaglia 2008 sowie Vittorio Gallese 2008) können auch leibphänomenologische Ansätze heran gezogen werden, um zwischenmenschliche Verstehensprozesse jenseits der Sprache zu erklären. 7 So werden beispielsweise leibliche Kommunikation und leibliche Resonanz von Undine Eberlein (2016) in Anlehnung an Herrmann Schmitz, Bernhard Waldenfels und Maurice MerleauPonty näher ausgeführt. Kinästhetische Kommunikation wird als Arbeitskonzept von Quinten (2016) näher ausformuliert (vgl. Brandstetter 2007 sowie Smyth 1984). Die große Bedeutung, die dem Tanz als Medium in den bewegungsgestützten Psychotherapieformen zukommt oder auch der große Erfolg inklusiver Tanzarbeit kann sicherlich zum Teil seinem Potenzial an unmittelbarem Verstehen zugeschrieben werden. Allerdings besteht hier noch enormer Forschungsbedarf, um mehr über die soziokulturellen Einflüsse und persönlichen Vorerfahrungen und Einstellungen in kinästhetischen Spiegelprozessen zu erfahren. Darüber hinaus verfügt der Tanz über ein hohes Potenzial, „stille“ oder „verkörperte“ Teilhaberschaft zu ermöglichen, welche an nichtsprachliche, präreflexive, kinästhetische und leibliche Weisen des Teilnehmens, Anteilnehmens, Sich-Beteiligens, Mitwirkens oder Mitbestimmens gebunden ist. (Quinten, i. Dr.; Quinten, 2016 a)

F AZIT Der Moderne Tanz hat eine Vielzahl an theoretischen Konzepten und Vermittlungstraditionen hinterlassen, die heute nicht minder aktuell sind und auch im praktischen zeitgenössischen Erbe Wirkung entfalten. Aus päda-

7

Siehe hierzu das jüngst erschienene und sehr lesenswerte Buch von Undine Eberlein „Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen“ (2016 a).

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gogisch-psychologischer Perspektive sind folgende Themen aufgegriffen und mit Anmerkungen versehen worden: 1.

2.

3.

4.

Bewegungsdynamik: Intensive Forschungen vieler „moderner“ Tänzer zur Bewegungsdynamik Anfang des 20. Jahrhunderts haben Bewegungspraktiken und Erkenntnisse hervorgebracht, welche heute für das zwischenmenschliche Miteinander im Alltags-, Bildungs-, Förderund Therapiekontexten von großer Bedeutung sind. So zeigen entwicklungspsychologische Studien der Arbeitsgruppe um Daniel Stern, dass Bewegungsdynamik, Dynamik des Erlebens und das Erleben von Vitalität eng zusammenhängen. Eine an Bewegungsdynamik gebundene Interaktion ermöglicht es den Beteiligten, am Erleben des jeweils anderen teilzuhaben. Betonung des Individuellen: Kreatives Handeln im Tanz, wie es in den verschiedenen Stilformen der Tanz-Moderne entwickelt worden ist und in ihrem zeitgenössischem Erbe weiterhin praktiziert wird, bietet unter der Voraussetzung einer ressourcenorientierten Vorgehensweise Erfahrungsmöglichkeiten zur Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse (Kontrolle und Orientierung, Selbstwerterhöhung, soziale Zugehörigkeit, Lustgewinn). Die Gesundheitsforschung geht davon aus, dass die gelingende Befriedigung dieser Bedürfnisse zu positiven Emotionen, zu mehr Wohlbefinden und zu guter psychischer Gesundheit führen. Die verschiedenen Ausdruckskonzepte der Tanz-Moderne spielen bis heute aus pädagogisch-psychologischer Sicht eine wichtige Rolle. Sowohl als Träger und Vermittler subjektiver Bedeutungen und Emotionen als auch im Sinne eines abbild- und sinnfreien (abstrakten) Tanzes lassen sich pädagogische und therapeutische Implikationen ableiten. Im Hinblick auf ein gelingendes soziales Miteinander sind Kommunikation, Empathie und Resonanz aus pädagogisch-psychologischer Perspektive zentrale Konzepte. Die Bedeutung, die der Kinästhesie, den Spiegelneuronen und dem motorischen System insgesamt für das Verstehen anderer von der Wissenschaft zugesprochen werden, basiert heute auf belastbaren (meist neurowissenschaftlichen) empirischen Untersuchungen. Mit Blick auf die Verständigung zwischen Menschen unterschiedlichster Fähigkeiten, Bedürfnisse und Provenienzen sind an Bewegung gebundene Verstehensprozesse ein wichtiger Schritt. Mit

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Blick auf die Teilhabemöglichkeit von möglichst vielen Menschen, auch mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, ist eine an das motorische System gebundene unmittelbare, verkörperte Teilhaberschaft von großer Bedeutung. Die skizzierten Erkenntnisse aus Entwicklungspsychologie, Bewegungsund Neurowissenschaften können dazu beitragen, das Potenzial der TanzModerne und ihr zeitgenössisches Erbe zu begründen, zumindest stellen sie theoretische Folien dar, um die ausgewählten Themenfelder näher zu untersuchen. Umgekehrt kann das praktische und theoretische Erbe der TanzModerne dazu beitragen, bestehende Theorien aus der Entwicklungspsychologie und den Neuro- und Bewegungswissenschaften auf ihre Anwendbarkeit hin zu untersuchen und ggf. weiter auszudifferenzieren.

L ITERATUR Abraham, Anke (1997): Inszenierung des Basalen? Der „Elementare Tanz“ im Spannungsfeld zwischen Kunst und Pädagogik, in: Gesellschaft für Tanzforschung e.V. (Hg.), Jahrbuch Tanzforschung (Bd. 8). Wilhelmshaven: Noetzel, S. 184-196. Abraham, Anke/Hanft, Koni (1986): Maja Lex. Ein Portrait der Tänzerin, Choreographin und Pädagogin. Hürth-Hermühlheim: Stohrer-Druck. Brandstetter, Gabriele (2007): Tanz als Wissenskultur. Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung, in: Sabine Gehm/Pirkko Husemann/Katharina von Wilcke (Hg.), Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz. Bielefeld: transcript, S. 37-48. Calvo-Merino, Beatriz, Glaser Daniel E., Grèzes Julie, Passingham Richard E. & Haggard, Patrick (2005): „Action observation and acquired motor skills: an fMRI study with expert dancers”, in: Cerebral Cortex, 15, S. 1243-1249. Diehl, Ingo/Lampert, Friederike (Hg.): (2010): Tanztechniken 2010 – Tanzplan Deutschland. Leipzig: Henschel. Dinold, Maria/Zitomer, Michelle R. (2015): “Creating Opportunities for All in Inclusive Dance”, in: Palaestra, 29, Nr. 4, S. 45-50.

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Drefke-Polzin, Helma (1997): Vom Elementaren Tanz über die Ästhetische Erziehung zur Integrativen Tanztherapie – alles Tanz?, in: Gesellschaft für Tanzforschung e.V. (Hg.), Jahrbuch Tanzforschung (Bd. 8), Wilhelmshaven: Noetzel, S. 197-204. Eberlein, Undine (Hg.) (2016 a): Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen. Intercorporeity, Movement ad Tacit Knowledge. Bielefeld: transcript. Eberlein, Undine (2016 b). Zwischenleiblichkeit. Formen und Dynamiken leiblicher Kommunikation und leibbasiertes Verstehen, in: Undine Eberlein (Hg.), Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen. Intercorporeity, Movement ad Tacit Knowledge. Bielefeld: transcript, S. 215248). Elementarer Tanz e.V. (Hg.). (1993): Tagung 91. Maja Lex – zum Gedenken. Dokumentation. Köln: Selbstverlag. Fernandes, Ciane (2015): The Moving Researcher: Laban/Bartenieff Movement Analysis in Performing Arts Education and Creative Arts Therapies. London, Philadelphia: Kingsley. Fleischle-Braun, Claudia (2016): Das Erbe der Tanzmoderne im zeitgenössischen Kontext. Ein Beispiel kooperativer Praxisforschung, in: Susanne Quinten/Stephanie Schroedter (Hg.), Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis. Choreographie, Improvisation, Exploration. Bielefeld: transcript, S. 49-59. Fleischle-Braun, Claudia (2001). Der Moderne Tanz. Butzbach-Griedel: Afra Verlag. Franko, Mark (1995): Dancing Modernism/Performing Politics. Bloomington & Indianapolis: Indiana University Press. Grawe, Klaus (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Günther, Dorothee (1962). Der Tanz als Bewegungsphänomen. Wesen und Werden. Hamburg: Reinbek Hirschbach, Denny/Takvorian, Rick (1990): Die Kraft des Tanzes. Hilde Holger. Wien – Bombay – London: über das Leben und Werk der Tänzerin, Choreographin und Tanzpädagogin. Bremen: Zeichen und Spuren. Hülshoff, Thomas (2001): Emotionen: eine Einführung für beratende, therapeutische, pädagogische und soziale Berufe (2. bearbeitete Auflage). München, Basel: E. Reinhardt.

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Huschka, Sabine (2002): Moderner Tanz. Konzepte, Stile, Utopien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Jola, Corinne/Ehrenberg, Shantel/Reynolds, Dee (2012): „The experience of watching dance: phenomenological – neuroscience duets”, in: Phenomenology and the Cognitive Science, 11, S. 17-37. Kennedy, Antja (2010): Bewegtes Wissen: Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien verstehen und erleben (2. überarbeitete Auflage). Berlin: Logos. Koch, Sabine & Bender, Susanne (2007): Movement Analysis – The Legacy of Laban, Bartenieff, Lamb and Kestenberg. Berlin: Logos. Lamb, Warren (1965): Posture and gesture: An introduction to the study of physical behavior. London: Brechin Books. Martin, John (1933): The Modern Dance. Dance Horizons. Merschhemke-Hader, Christa (2014): Von MOBIAKI bis DIN A-13. Vortrag beim Workshoptag „Dance and Ability“ des Lehrgebietes Musik und Bewegung in Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung der TU Dortmund. Unveröffentlichtes Manuskript. Postuwka, Gabriele (1999): Moderner Tanz und Tanzerziehung. Analyse historischer und gegenwärtiger Entwicklungstendenzen. Schorndorf: Hofmann. Quinten, Susanne (2013): Zur Bedeutung psychischer Grundbedürfnisse beim kreativem Handel im Tanz, in: Marianne Bäcker/Verena Freytag (Hg.), Tanz Spiel Kreativität (Jahrbuch Tanzforschung; Bd. 23). Leipzig: Henschel, S. 171-184. Quinten, Susanne (2016): Kinästhetische Kommunikation und Intermediale Wissenstransformation als Forschungsmethoden in tanzkünstlerischen Kontexten, in: Susanne Quinten/Stephanie Schroedter (Hg.), Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis. Choreographie, Improvisation, Exploration. Bielefeld: transcript, S. 37-47. Quinten, Susanne (2016 a): „Verkörperte Teilhabe“. Unveröffentlichtes Manuskript für die Präsentation in der Arbeitsgruppe „Begriffe und Theorien“ im Aktionsbündnis Teilhabeforschung, Fulda, am 23.05. 2016. Quinten, Susanne (2016 b): „Forschung zum fähigkeitsgemischten Tanz. Aktuelle Einblicke und zukünftige Herausforderungen.“ Vortrag beim Fachtag „Inklusive Impulse für Praxis und Forschung“ in der Arbeitsgruppe Inklusion und Forschung des Bundesverbandes Tanz in Schulen, 16. September 2016, Köln.

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Quinten, Susanne (i. Dr.): „Verkörperte Teilhabe. Praktische Beispiele aus tanzkünstlerischen Kontexten und theoretische Spurensuche.“ Reynolds, Dee (2013): “Empathy, Cotagion and Affect. The Role of Kinesthesia in Watching Dance”, in: Gabriele Brandstetter/Gerko Egert/ Sabine Zubarik (Hg.), Touching and being touched. Kinesthesia and empathy in dance and movement. Berlin: De Gruyter, S. 211-231. Reynolds, Dee/Reason, Mathew (Hg.): (2013): Kinesthetic Empathy in Creative and Cultural Practices. Chicago: Intellect. Reason, Mattew/Reynolds, Dee (2010): “Kinesthesia, Empathy, and Related Pleasures: An Inquiry into Audience Experience of Watching Dance”, in: Journal of the American Psychoanalytic Association, 56 (3), S. 769-781. Rittelmeyer, Christian (2010): Warum und wozu ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten; ein Forschungsüberblick. Oberhausen Athena Verlag. Rizzolatti, Giacomo/Sinigaglia, Corrado (2008): Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Smyth, Mary M. (1984): “Kinesthetic communication in Dance”, in: Dance Research Journal, 16 (2), S. 19-22. Stern, Daniel N. et al. (The Boston Change Process Study Group) (2012): Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel. Stern, Daniel N. (2011): Ausdrucksformen der Vitalität. Die Erforschung dynamischen Erlebens in Psychotherapie, Entwicklungspsychologie und den Künsten. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel. Von Arps-Aubert, Edith (2012): Das Arbeitskonzept von Elsa Gindler (1885-1961) dargestellt im Rahmen der Gymnastik der Reformpädagogik. Hamburg: Verlag Dr. Kovac. Von Laban, Rudolf (1926): Gymnastik und Tanz. Oldenburg: Stalling Verlag. Willke, Elke (2007): Tanztherapie. Theoretische Kontexte und Grundlagen der Intervention. Bern: Huber. Willke, Elke (1993): Tanztherapie und Elementarer Tanz, in: Elementarer Tanz e.V. (Hrsg.), Tagung 1991 Maja Lex – zum Gedenken. Dokumentation. Köln: Eigenverlag, S. 32-35.

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INTERNET -Q UELLEN Quinten, Susanne (2014): „Einstellung in Bewegung. Kann Tanzkunst helfen, Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung zu verändern?“, in: Zeitschrift für Inklusion-online.net, Ausgabe 4/2014. Abgerufen von http://inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/246/ 237 (1.09.2016) Quinten, Susanne/Schwiertz, Heike (2014): „Fähigkeitsgemischter Tanz – Der aktuelle Forschungsstand“, in: Zeitschrift für Inklusion-online.net, Ausgabe 4/2014. Abgerufen von http://www.inklusion-online.net/index. php/inklusion-online/article/view/254/245 (1.09.2016)

Autorinnen und Autoren

Brinkmann, Stephan, Dr., Prof. für Zeitgenössischen Tanz an der Folkwang Universität der Künste Essen. Tänzer, Choreograph, Tanzpädagoge und Tanzwissenschaftler. Tanzstudium an der Folkwang Universität, Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Soziologie an der Universität Köln sowie Zusatzstudium der Tanzpädagogik an der Folkwang Universität. Tänzer beim Folkwang-Tanzstudio und beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Eigene Choreographien und internationale Lehrtätigkeit für Zeitgenössischen Tanz. Promovierte in Bewegungswissenschaft an der Universität Hamburg. Thema: Gedächtnisformen im Tanz. Veröffentlichung: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz (Bielefeld 2013). Ercenk-Heimann, Dilan, Dipl.-Sportwissenschaftlerin, Choreographin und Tanzdozentin. Studium der Diplom-Sportwissenschaften an der Deutschen Sporthochschule Köln. Lehrkraft für besondere Aufgaben und Lehrbeauftragte im Institut für Tanz und Bewegungskultur mit dem Schwerpunkt Tanz und Gymnastik in Basis- und Vertiefungskursen. Studiengangskoordinatorin, Modulleiterin und Lehrende im M.A. Tanzkultur V.I.E.W. der DSHS Köln. Mitbegründerin, Choregraphin und Tänzerin des ausgezeichneten Tanzkollektivs POGOensemble (mit Denise und Tessa Temme). U.a. Int. Choreographenwettbewerb Ludwigshafen 2008; Kritikerumfrage der Ballettanz 2007 „bester Nachwuchschoreograf“; Aufnahme in das renommierte europäische Auftrittsnetzwerk für junge Künstler aerowaves 2010.

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Fleischle-Braun, Claudia, Dr. phil., Tanz- und Bewegungspädagogin und Tanzwissenschaftlerin, war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften der Universität Stuttgart (19772006). Darüber hinaus engagierte sie sich bis 2015 im Leitungsteam der Gesellschaft für Tanzforschung e.V. Giel, Ingrid, M.A., Ausbildung in Rhythmik, Klavier und Kammermusik in Berlin, Studium der Tanzpädagogik bei Prof. Rosalia Chladek in Wien. An der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst leitete sie zwölf Jahre das Rhythmikseminar Wien. Nach ihrer Ausbildung zur Ausdruckstherapeutin in den USA lehrte sie zwölf Jahre am Konservatorium der Stadt Wien, Abteilung „Pädagogik für Modernen Tanz (Chladek®-System)“. Von 1995 bis 2006 leitete sie das berufsbegleitende Studium im Chladek®System der IGRC und war bis zum Jahr 2016 Präsidentin der Internationalen Rosalia Chladek-Gesellschaft Wien (IGRC). Europaweite Gastkurstätigkeit sowie Co-Autorin von Rosalia Chladek. Klassikerin des bewegten Ausdrucks (mit Gunhild Oberzaucher-Schüller). 2016 wurde sie zur Ehrenpräsidentin der IGRC ernannt. Kennedy, Antja ist freischaffende Tänzerin, Choreographin, Tanzpädagogin und seit 1984 Certified Laban Movement Analyst. Sie ist Mitgründerin der „tanzfabrik Berlin“ und war 11 Jahre aktiv in Company und Schule. Bei „impuls Bremen“ bildete sie über 13 Jahre Tanzpädagogen/-innen aus. An mehreren Universitäten und Hochschulen (u.a. FU Berlin) hatte sie Lehraufträge und an der Universität Hamburg war sie Gastprofessorin. Sie ist Gründungsmitglied von EUROLAB e.V. und war über 10 Jahre im Vorstand. Seit 1994 ist sie Direktorin und Lehrerin in der EUROLAB-Fortbildung in Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien (www.laban-bartenieffberlin.de). Lajko, Eva, Ausbildung am Konservatorium der Stadt Wien zur staatlich geprüften Tanzpädagogin. Freischaffend als Choreograhin, Tänzerin und Musikerin tätig. Gründungsmitglied des MUsikTANzTHeater-Laboratoriums „Mutanth“, mit dem sie künstlerische Produktionen mit Künstlern und Künstlerinnen aus unterschiedlichen Kunstsparten umsetzt. Pädagogische Tätigkeit mit Kindern in Schulen und Kindergärten sowie Erwachsenen. Dozentin und Leiterin der Berufsbegleitenden Ausbildung in Bewe-

AUTORINNEN UND AUTOREN | 321

gungs- und Tanzpädagogik im Chladek®-System in Österreich, Schweiz und Deutschland. Molzberger, Rita, M.A., studierte Allgemeine Pädagogik, Philosophie und Ethnologie an der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Phänomenologischen Pädagogik. Sie arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Historisch-Systematische Pädagogik des Instituts für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Universität zu Köln. Neben Lehraufträgen an der Hochschule für Musik und Tanz Köln sowie der Deutschen Sporthochschule Köln arbeitet sie redaktionell für die Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. Obermaier, Krystyna studierte Elementaren Tanz an der Deutschen Sporthochschule Köln und Choreographie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Neben den künstlerischen Tätigkeiten als Tänzerin, Choreographin und Tanzpädagogin an Theatern und Opernhäusern im In- und Ausland ist sie als Dozentin an Kölner Hochschulen (Universität zu Köln; Katholische Hochschule NRW) und in der Diplom-Tanzpädagogen-Ausbildung des Deutschen Bundesverbands Tanz e.V. eingebunden. Neben der Vorstandstätigkeit in der Gesellschaft für Tanzforschung (20112015) leitet sie seit 2007 den Elementaren Tanz e.V. und seit November 2016 ist sie Präsidentin des Deutschen Bundesverbands Tanz e.V. (DBT). Obermaier, Michael, Dr. phil., Dipl.-Päd. Univ., studierte Allgemeine Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der Universität Regensburg und promovierte am Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. Nach Professuren in Köln und Düsseldorf ist er seit 2014 Professor für Erziehungswissenschaft an der Katholischen Hochschule NordrheinWestfalen, Abteilung Köln, und leitet dort den Studiengang Bildung und Erziehung in der Kindheit, in dem er den Vertiefungsbereich Tanz und Bewegungskultur in der Kindheit etablierte. Daneben ist er als Leiter der Sektion Pädagogik der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft sowie als Gutachter für die Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik engagiert.

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Oberzaucher-Schüller, Gunhild, Dr., studierte Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Unterrichtete Tanzgeschichte an den Universitäten Wien, Bayreuth und Salzburg. Von 1982–2002 war sie Mitglied des Forschungsinstituts für Musiktheater der Universität Bayreuth, von 2003–2009 Leiterin der „Derra de Moroda Dance Archives“ der Universität Salzburg. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Rosalia Chladek. Klassikerin des bewegten Ausdrucks (München 2002, englisch München 2011), Taglioni-Materialien der Derra de Moroda Dance Archives und Souvenirs de Taglioni (beide München 2007) und (zusammen mit Gabriele Brandstetter) Mundart der Wiener Moderne. Der Tanz der Grete Wiesenthal (München 2009). Quinten, Susanne, Dr., ist Sportwissenschaftlerin, Tanzpädagogin, Tanztherapeutin, Ausbilderin/ Supervisorin für Tanztherapie (BTD, DGT, FPI). Seit 2013 lehrt und forscht sie als Vertretungsprofessorin an der TU Dortmund mit Schwerpunkt Tanz im Kontext von Behinderung, Inklusion, Therapie und Kulturelle Bildung. Nach dem Diplomsportlehrerstudium (Auszeichnung für das beste Jahrgangsexamen 1984, Universität Mainz) studierte sie an der DSHS Köln im künstlerisch-pädagogischen Bereich des Sports, promovierte in Sportpsychologie und war Mitglied der Tanzgruppe Maja Lex. Es folgten tanztherapeutische Tätigkeiten in Kliniken, eigener Praxis sowie feste Mitarbeit für Tanz/ Gymnastik (Universität Gießen) und Sportpsychologie (Universität Mainz). Schebrak-Carcich, Ursula, Staatlich geprüfte Tanzpädagogin im Chladek®-System. Studium am Konservatorium Wien, Tänzerin bei „company tanztheater homunculus“ Wien (1985-1992) und eigene künstlerische Projekte als Tänzerin und Choreographin. Lehrbeauftragte am Konservatorium Wien (1990-1996) und an der Fachhochschule Kärnten (2004). Freie Unterrichtstätigkeit in Kursen für Integrated Movement und Modernen Tanz, Referentin in der Lehrerfortbildung und in Schulprojekten. Dozentin in der Berufsbegleitenden Ausbildung im Chladek®-System (IGRC) in Wien, (2002-2015). Aufenthalt in den USA (2004-2010). Ausbildung zum Pilates Mat Instructor (New York). (www.movement-art.at).

AUTORINNEN UND AUTOREN | 323

Selimov, Nikolaus, Univ.-Prof., Prodekan der Fakultät darstellende Kunst, Studiengangsleiter Tanz und Studiengangskoordinator Master of Arts Education an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Tänzer und Choreograph. Er leitete von 1983-2013 mit Manfred Aichinger das „Tanztheater Homunculus“. Choreographische Arbeit seit 1995. Zahlreiche Auszeichnungen. Kurator des Festivals Österreich tanzt am Festspielhaus St. Pölten (2008, 2010-12). Pädagogische Tätigkeit seit 1985 (u.a. Schauspielschule Volkstheater Wien, Lehrauftrag für Improvisation und Choreographie an der MUK.Uni). Seit 2002 Studiengangsleiter Tanz; u.a. Entwicklung neuer BA- und MA-Curricula im Fachbereich Darstellende Kunst/Tanz. Temme, Denise, Juniorprofessorin (seit 2014), Leiterin des Instituts für Tanz und Bewegungskultur der Deutschen Sporthochschule Köln sowie Leiterin des dortigen Weiterbildungsmasterstudiengangs „Tanzkultur“. Sie studierte zunächst Biologie an der Ruhr Universität Bochum, wechselte dann zu Studium der Diplom-Sportwissenschaft (mit Schwerpunkt im Elementaren Tanz) an die DSHS Köln. Nach zunächst ausschließlich künstlerischer Tätigkeit forschte sie von 2009 bis 2013 sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Philosophie des Institutes für Pädagogik und Philosophie (Prof. Dr. Volker Schürmann) der DSHS Köln zur Hermeneutik von menschlicher Bewegung und Tanz. Ihre Dissertation Menschliche Bewegung als Tätigkeit – Zur Irritation fragloser Gewissheiten wurde 2014 mit dem Dissertationspreis der DSHS Köln ausgezeichnet. Forschungsfelder: Praxistheorie und Philosophie von Bewegung und Tanz. Mitbegründerin, Choreographin und Tänzerin des POGOensembles (seit 2001); internationale Gastspiele und künstlerische Auszeichnungen, u.a. Internationaler Choreographen-Wettbewerb für Zeitgenössischen Tanz „no ballet“ (2008); „Priority Company“ Aerowaves – Dance across Europe (2010). Temme, Tessa, Dozentin für Tanz und Gymnastik am Institut für Tanz und Bewegungskultur der Deutschen Sporthochschule Köln sowie Lehrende im dortigen Weiterbildungsmasterstudiengang Tanzkultur. Sie studierte Diplom-Sportwissenschaft (mit Schwerpunkt im Elementaren Tanz) an der DSHS Köln, nachdem sie zuvor zuerst ein Studium in Biologie aufgenommen hatte. Nach ihrem Studienabschluss in Sportwissenschaft war sie zunächst wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sportsoziologie an

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der Sporthochschule bis 2008. Danach arbeitete sie freiberuflich als Choreographin und Tänzerin. Seit 2012 ist sie Dozentin am Institut für Tanz und Gymnastik. Forschungsfelder: Methodik und Didaktik Tanz und Gymnastik, bewegungswissenschaftliche Aspekte von Tanz, Gymnastik und Improvisation. Mitbegründerin, Choreographin und Tänzerin des POGOensembles (seit 2001); internationale Gastspiele und künstlerische Auszeichnungen, u.a. Internationaler Choreographen-Wettbewerb für Zeitgenössischen Tanz „no ballet“ (2008); „Priority Company“ Aerowaves – Dance across Europe (2010). Weber, Anja, freie Tänzerin und Choreographin, M.A. phil., Dipl.-Psych., Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, CLMA (Certified Laban-Bartenieff Movement Analyst), KMP (Kestenberg Movement Profile). Mitglied bei der GTF (Gesellschaft für Tanzforschung), EUROLAB e.V. für Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien, tamed (Tanzmedizin Deutschland e.V.) und dem ZTB (Zeitgenössischer Tanz Berlin e.V.). Forschungsschwerpunkte: Neurowissenschaften, Psychologie, Psychosomatik und räumlich-zeitliche Praxis in Tanz, Tanzvermittlung und Tanztherapie. (www.aartsanjaweber.de) Wulf, Christoph, Dr. phil., Prof. für Anthropologie und Erziehung, Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie, des SFBs „Kulturen des Performativen“, des Clusters „Languages of Emotion“ und des Graduiertenkollegs „InterArts Studies“ an der Freien Universität Berlin; Autor, Koautor und Herausgeber von mehr als hundert Büchern mit Übersetzungen in mehr als fünfzehn Sprachen; zahlreiche Gastprofessuren in allen Teilen der Welt; Vizepräsident der Deutschen UNESCO-Kommission.

Foto- und Abbildungsnachweise

Claudia Fleischle-Braun: „Zum tanzpädagogischen Erbe des Modernen Tanzes und dessen Weitergabe“ Abbildung 1: Elementarer Tanz nach Maja Lex | 33 Abbildung 2: Chladek-System | 34 Abbildung 3: Ausbildungskonzepte in Verbindung mit dem LabanSystem | 35 Abbildung 4: Wandel tanzkultureller Formen im kollektiven Gedächtnis | 48 Krystyna Obermaier: „Elementarer Tanz – ein Mythos?“ Abbildung 1: Gruppenarbeit im Kölner Tanzlabor „Elementarer Tanz“ von Krystyna Obermaier zum Thema Bewegungsansatz aus der Schulter, dem Arm und den Fingerspitzen. Foto: © Krystyna Obermaier, Elementarer Tanz e.V. | 110 Abbildung 2: Improvisation im Tanzlabor Elementarer Tanz von Krystyna Obermaier zum Thema Bewegungsansatz aus der Schulter, dem Arm und den Fingerspitzen. Foto: © Krystyna Obermaier, Elementarer Tanz e.V. | 114 Ingrid Giel, Eva Lajko, Ursula Schebrak-Carcich: „Das System und die Lehrweise von Rosalia Chladek“ Abbildung 1: Skizzen von Rosalia Chladek zur gesetzmäßigen Bewegung. Quelle: Oberzaucher-Schüller/Giel, 2002: 128, © IGRC-Archiv; MUK.Wien & Theatermuseum Wien | 143

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Abbildung 2: Rosalia Chladek (1936) in „Furiant“. Foto © IGRC-Archiv Wien; MUK.Wien & Theatermuseum Wien | 149 Antja Kennedy, Anja Weber: „Laban/Bartenieff-Bewegungsstudien. Einführung in die Konzepte, ihre Entwicklung und didaktische Möglichkeiten“ Abbildung 1: Antriebselemente | 182 Abbildung 2: Formqualitäten | 182 Abbildung 3: Bewegungsstudien. Foto © EUROLAB e.V. | 183 Stephan Brinkmann: „Zugang – Umgang – Fortgang. Tanzerbe an der Folkwang Universität der Künste Essen seit 2011“ Abbildung 1: Pina Bausch: Tannhäuser-Bacchanal. Foto © Georg Schreiber (2013) | 216 Abbildung 2: Susanne Linke: Frauenballett. Foto © Georg Schreiber (2010) | 221 Abbildung 3: Tanzgeschichte-Unterricht mit Roman Arndt. Foto © Christian Piechaczek (2016) | 224 Nikolaus Selimov: „Das Erbe der Tanz-Moderne im Studiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“ an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien“ Abbildung 1 und 2: „Short Works 2016“ (1. bis 3. Studienjahr). Fotos © Armin Bardel (2016) | 236

Theater- und Tanzwissenschaft Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (Hg.) Tanz erben Pina lädt ein 2014, 192 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2771-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2771-2

Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (eds.) Inheriting Dance An Invitation from Pina 2014, 192 p., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2785-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2785-9

Gabriele Klein (Hg.) Choreografischer Baukasten. Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3186-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3

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Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.) Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) Oktober 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3603-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5

Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.) Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance Juni 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3420-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8

Tania Meyer Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit April 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb., 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3520-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5

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