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German Pages 114 Year 2021
gletscher archäologie Kulturerbe in Zeiten des Klimawandels
gletscher archäologie Kulturerbe in Zeiten des Klimawandels Thomas Reitmaier (Hrsg.)
Sonderheft 21/2021 Jahrgang 2/2021 der Zeitschrift »Archäologie in Deutschland« Die Aboauflage enthält eine Beilage der wbg.
Titelseite der Buchhandelsausgabe: Gräberfeld von Likneset im Smeerenburgfjord, Spitzbergen. Im Streifen: Piz Bernina und Tschiervagletscher, Kanton Graubünden, Schweiz, Sommer 2005. Titelseite AiD-Sonderheft: Pfeil aus der Zeit zwischen 300 und 600 n. Chr., gefunden 2019 im Eis des norwegischen Jotunheimen-Gebirges. Frontispiz: Turtmanngletscher im Wallis, Schweiz. Rückseite der Buchhandelsausgabe: Schädel und Hörner von Argalischafen, die nach erfolgreicher Jagd aufgestapelt wurden; Datierung ca. 169 bis 325 n. Chr. Rückseite AiD-Sonderheft: Wissenschaftler beim Aletschgletscher in den Berner Alpen, Schweiz, 1865. Schneereif vom Gurgler Eisjoch, Südtirol, um 3800 v. Chr. Der sogenannte Digervarden-Ski, Norwegen, um 750 v. Chr.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Gestaltung und Produktion: Verlagsbüro Wais & Partner, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in EU Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de isbn 978-3-8062-4381-9 issn 0176-8522
Inhalt
5 Inhalt Vorwort 6 Ötzi war nicht allein!
Von der Speerschleuder bis zur Musketenkugel 70 Gefrorene Geschichten Nordamerikas
Eine Einführung 8 Archäologie im Eis
Erfahrungsbericht einer Wissenschaftlerin 81 Jenseits der 5000 Meter
Auch 30 Jahre später 14 Ötzi – noch immer voller Rätsel
Gipfelheiligtümer der Inka 86 Sakrale Orte in den Nordanden
Brücken statt Barrieren 22 Südtiroler Passagen
Wettlauf mit der Erosion 90 Schmelzendes Kulturerbe in den mongolischen Steppen
Muli, Bergbau, Tante Ju 28 Im Hochgebirge Österreichs Ungefiltert und erschütternd 34 Spuren des Gebirgskriegs in Trentino Strahler, Hirten, Alpinisten 39 Gletscherfunde in der Schweiz
Die »Marmormumie« vom Mount Everest 95 Forschung in extremen Höhen Schlusswort 104 Vergangenheit nutzen, um Zukunft zu gestalten
Seit der Bronzezeit 49 Gebirgspässe in Savoyen Rentierjäger, Wikinger & Co. 54 Eisarchäologie in Norwegen und Schweden Juwel statt eisiger Einöde 64 Grönlands gefrorene Vergangenheit
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Glossar
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Autorinnen und Autoren
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Literatur
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Bildnachweis
Vorwort
Ötzi war nicht allein! Thomas Reitmaier
Die Idee zu diesem Sonderheft stammt aus jener sehr nahen, doch inzwischen seltsam entrückt wirkenden Zeit, als der Klimawandel die mediale Berichterstattung, ja unseren Alltag und zusehends auch die politische Agenda dominierte. Als Fridays for Future bzw. Klimajugend hatte jene Generation ein Gesicht und Aufmerksamkeit bekommen, die in den kommenden Jahren von den massiven Auswirkungen der menschengemachten Klimaerwärmung betroffen sein wird. Initiiert von engagierten Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden ist in kurzer Zeit ein globales Netzwerk entstanden, um durch Streik und Protest von Politik und Gesellschaft möglichst rasche und effiziente Maßnahmen für den Klimaschutz einzufordern. Die wissenschaftlich seit vielen Jahrzehnten bestens belegte und immer detaillierter prognostizierte Erderwärmung ist zur faktischen und vieles bestimmenden Realität, besser gesagt zur unmittelbaren Bedrohung unserer Lebenswelt geworden. Jährlich steigende Rekordwerte, schneearme Winter und Hitzesommer, schwindende Gletscher und schmelzende Polkappen sowie dramatische Naturereignisse in rasch zunehmender Zahl machen die beschleunigten und vielschichtigen Veränderungen unserer Umwelt mittlerweile für jeden Einzelnen spür- und sichtbar. Dieses Bewusstsein wurde auf brutale Weise von jener Pandemie gestört, die seit 2020 die Welt in Atem hält und unsere alte Normalität in kürzester Zeit in einem kaum vorstellbaren Ausmaß verändert hat. Indes: Beide Erscheinungen – Pandemie und Klimawandel – sind als katastrophale Krisen unmittelbare und zusammengehörige Folgen eines schwer gestörten Mensch-Umwelt-Verhältnisses unserer globalisierten Industrie- und Konsumgesellschaft. Sie sind deutliche Zeichen jenes neuen, ursächlich vom Menschen geprägten Prozesses, der mittlerweile als Anthropozän etabliert und zugleich Ausdruck dafür ist, dass der Mensch die Kontrolle über die Natur verloren hat. Nur als Randbemerkung sei erwähnt, dass ebenfalls beide Wirklichkeiten jene Auswüchse an querdenkenden Zweiflern und gefährlichen Ignoranten hervorgebracht haben, die sich ungeachtet aller wissenschaftlicher Grundlagen und klarer Tatsachen ihre eigene alternative Blase konstruieren. Den Wissen-
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schaften und im Besonderen auch den kulturhistorischen bzw. archäologischen Disziplinen fällt hier eine besondere gesellschaftliche Verantwortung und Verpflichtung zu, mit ihrer Arbeit diesen gefährlichen Entwicklungen entgegenzuwirken. Vor diesem Hintergrund haben Inhalt und Intention dieser Publikation in keiner Weise an Brisanz und Aktualität verloren. Im Gegenteil: Das Thema Gletscherarchäologie fügt sich bestens in die Anliegen einer modernen Archäologie des Anthropozäns. Zudem jährt sich in diesem Jahr – und das ist der zweite Anlass – die Auffindung des Südtiroler Eismannes zum 30. Mal. Während die zufällige Entdeckung von Ötzi 1991 noch als singuläre Sensation (fehl-)interpretiert wurde, hat sich in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten durch den Klimawandel und den gigantischen Eisverlust eine eigentliche glacial archaeology mit globaler Perspektive formiert. Auf diese Weise bleibt die diachron, interdisziplinär und international angelegte Archäologie im Eis keinesfalls auf die Alpen beschränkt, sondern umfasst auch großräumige Landschaften in Skandinavien, Grönland, Nord- und Südamerika sowie die riesigen Gebirgszonen des asiatischen Kontinents. Hinzu kommen neue, in ihren Dimensionen noch kaum absehbare und von archäologischer Seite wohl ebenso wenig bewältigbare Herausforderungen wie das Auftauen des Permafrosts in den (sub-)arktischen Gebieten. Dort führen die steigenden Temperaturen auch zur Wiederentdeckung jahrtausendealter Überreste eiszeitlicher Tiere von einer Qualität, wie man sie bislang nur aus Sciencefiction-Filmen kannte. Die verschiedenen in diesem Heft versammelten Beiträge veranschaulichen neben dieser thematischen und geografischen Vielfalt vor allem die Wichtigkeit und Dringlichkeit der Gletscherarchäologie auf eindrucksvolle Weise. Unbestritten ist deren Bedeutung aufgrund der hervorragenden Erhaltungsbedingungen für organische Materialien, die nicht nur faszinierende Einblicke in häufig fehlende bzw. unterschätzte Lebenswelten ermöglichen, sondern gleichzeitig ein enormes Potenzial für naturwissenschaftliche Analysen bereithalten. Dies bedingt gleichzeitig eine enge Zusammenarbeit mit der Umwelt- und Klimaforschung. Hinzu kommt, dass viele der bedeutends-
Vorwort
ten Entdeckungen aus dem Eis nicht von professionellen Archäologinnen und Archäologen, sondern von Wanderern, Bergsteigern und anderen Personen gemacht wurden. Gletscherarchäologie ist also partizipative Wissenschaft – public science – im besten Sinne, weshalb die Beiträge auch dazu anregen sollen, jedes noch so unscheinbare Objekt auf einem Gletscher oder Eisfeld zu dokumentieren, bei Gefahr zu bergen bzw. wenn möglich der zuständigen Fachstelle zu melden. Wie der Untertitel des Sonderhefts suggeriert, greift der Klimawandel aber weit über das enge Themenfeld der Gletscherarchäologie hinaus. Es ist leider absehbar, dass die dramatischen Folgen der globalen Erwärmung auch anderenorts zur Gefährdung bzw. zu einem unwiederbringlichen Verlust von Kulturerbe führen werden, beispielsweise in überfluteten Küstengebieten.
Ötzi war nicht allein!
Es bleibt mir an dieser Stelle all jenen Autorinnen und Autoren zu danken, die mit ihrer spontanen Zusage und mit ihren Beiträgen die Herausgabe dieses Themenhefts ermöglicht haben. Ebenso sei allen Kolleginnen und Kollegen sowie Institutionen gedankt, die wichtige Informationen und spannendes Bild material zur Verfügung gestellt haben. Schließlich bin ich dem routinierten wbg-Team und insbesondere Herrn Holger Kieburg sowie Frau Annine Fuchs vom Verlagsbüro Wais & Partner für die hervorragende Zusammenarbeit und das Vertrauen zu besonderem Dank verpflichtet. Ihnen, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, wünsche ich eine ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Lektüre zur Gletscherarchäo logie, auf dass der Blick in die Vergangenheit Ihr kritisches Verständnis für die gegenwärtige Situation zu schärfen vermag.
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Im Strom der Zeit – Monte Rosa und Dufourspitze, Schweiz, Sommer 1991.
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Eine Einführung
Archäologie im Eis Thomas Reitmaier
Seit mehreren Jahrzehnten erwärmt sich unsere Erde durch den menschengemachten Klimawandel, und als direkte Folge dieses mittlerweile stark beschleunigten Prozesses schmilzt das Eis von Gletschern und an den Polen. Dabei treten mitunter einzigartige Zeugnisse aus der Vergangenheit zutage, die zur Begründung eines vergleichsweise jungen Spezialgebiets der Archäologie geführt haben: der Gletscherarchäologie (glacial archaeology). Diese befasst sich ganz allgemein mit archäologischen Fundstellen bzw. Funden im Eis (aus der Kryosphäre), wobei der zeitliche bzw. thematische Rahmen von der Steinzeit bis ins 20. Jh. reicht und der räumliche all jene Gebiete umfasst, in denen (noch) Gletscher und Eisflächen oder Permafrostböden existieren. Der Begriff ist damit insofern etwas irreführend, als für die Gletscherarchäologie weniger die massereichen, stets talwärts fließenden und sich fortlaufend »erneuernden« Gletscherriesen von Interesse sind, sondern vielmehr kleinere Eis- oder Firnfelder. Im Unterschied zu den Gletschern sind solche sogenannten ice patches mehr oder minder statisch, sodass darin eingelagerte (eingefrorene) Objekte selbst über viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende unversehrt überdauern können, bis sie schließlich freischmelzen und entdeckt werden. Die besondere Bedeutung von gletscherarchäologischen Fundstellen liegt vor allem darin, dass sie hervorragende Erhaltungsbedingungen insbesondere für organische Materialien wie Holz, Knochen, Leder, Textilien u.ä., aber auch für menschliche und tierische Überreste bieten. Sie führen damit eindrücklich vor Augen, was uns in den allermeisten archäologischen Fundstellen in der Regel entgeht und unsichtbar bleibt. Das Eis ist also ein einzigartiger Speicherort für Kultur, Umwelt und Klima. Eigentliche Ausgrabungen im Eis sind allerdings eher selten, vielmehr werden die freigeschmolzenen Funde – meist im ausgeaperten Randbereich eines Eisfeldes oder Gletschers – aufgesammelt und geborgen. Liegen die fragilen Objekte dagegen längere Zeit an der Oberfläche und bleiben Wind und Wetter ausgesetzt, droht der rasche Zerfall. Gletscherarchäologie ist damit meist ein Kampf gegen die Zeit, wobei erschwerend hinzukommt, dass sich die gefährdeten »Eisarchive« meist in abgelegenen, nur schwer und
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für ein kurzes Zeitfenster zugänglichen Regionen befinden. Das macht die Gletscherarchäologie zu einem vielseitigen und anspruchsvollen Aufgabengebiet, doch wird der hohe Aufwand durch mitunter spektakuläre Entdeckungen sowie die rechtzeitige Sicherung von bedrohtem Kulturerbe belohnt. Das war natürlich nicht immer so.
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Menschen und Eis – eine Beziehung bereits seit vielen Jahrtausenden.
Archäologie im Eis
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Wissenschaftler beim Aletschgletscher in den Berner Alpen, Schweiz, 1865.
Von Gipfelstürmern und Kraxenträgern Begegnungen mit merkwürdigen Dingen im Eis gab es wohl schon vor langer Zeit, doch ist anzunehmen, dass derlei bei den Menschen selten besonderes oder gar wissenschaftliches Interesse geweckt hat. Anders sieht das bei Gletscherleichen aus. Das Verschwinden und »unversehrte« Auftauchen von vermissten oder verunglückten Personen im Gletscher hat mehrfach die Fantasie beflügelt und Sagen und Mythen über das Schicksal dieser sündigen Frevler geboren, die sich einst als Jäger, Händler oder Hirten in höchste Höhen wagten. Mit der wissenschaftlichen und alpinistischen Eroberung der Hochgebirge ändert sich diese Sichtweise ab dem 18./19. Jh., die nun – zwischen Schauder und Faszination – zusehends auch die vergletscherte Welt und das »ewige« Eis ins Blickfeld rückt. Der Wettlauf um die Erstbesteigung der höchsten Gipfel in Europa brachte auch eine Vielzahl von tödlichen Ereignissen mit sich und führte dazu, dass die frühen Forscher mitunter selbst zum Sammlungsobjekt wurden. So finden sich heute im Musée Alpin in Chamonix, fein säuberlich in einen Schaukasten gebettet, Fragmente von Textilien, Seilen, geflochtenem Stroh und menschliche Zähne, die der Alpenmaler Gabriel Loppé im August 1863 auf dem Bossons-Gletscher aufgelesen hat. Die Funde stellen die Reste jener Expedition dar, die im Sommer 1820 unter der Leitung des in russischen Diensten stehenden deutschen Arztes und Naturforschers Dr. Joseph Christian Hamel den Mont Blanc zu besteigen versuchte. Dabei verunglückten drei Begleiter, die der Gletscher erst in den 1860er-Jahren freigab. Meldungen von weiteren, zuweilen deutlich älteren Funden im Eis aus den Alpen,
Von Gipfelstürmern und Kraxenträgern
aus Skandinavien und Nordamerika bleiben bis weit ins 20. Jh. jedoch die Ausnahme. Bemerkenswert sind allerdings Beschreibungen von historischen Gletscherleichen aus den Ötztaler Alpen, etwa durch den österreichischen Schriftsteller und Theologen Beda Weber in seinem 1837 erschienenen Handbuch für Reisende:
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Schaukasten mit Resten der Hamel-Expedition auf den Mont Blanc, die in den 1860er-Jahren auf dem Bossons-Gletscher auf gesammelt wurden.
Nichts Fremdartiges, aus Zufall oder Absicht in die tiefen Spalten geworfen, bleibt darin liegen; nach bestimmten Zeiträumen wirft der Ferner (= Gletscher) dasselbe wieder aus, indem er es langsam an die Öffnungen der Oberfläche empor schiebt. So fiel in Schnals ein Kraxen träger hinunter, und büsste durch den Fall das Leben ein; nach 15 Jahren kam das Gerippe wieder ganz unverletzt zum Vorschein, die Kraxe noch regelfest um die fleischlosen Schultern.
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Allererste Aufnahme von Ötzi bei der Entdeckung durch das Nürnberger Ehepaar Simon 1991.
Ein Toter aus dem Eis war im Ötztal also nichts Ungewöhnliches. Überraschend und bis heute einmalig aber bleibt, dass eine menschliche Leiche über 5000 Jahre im Eis erhalten bleiben kann.
Ötzi – Geburtsstunde der Gletscherarchäologie?
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Hitzesommer 2003 mit Temperaturab weichungen zu den Sommern 1971 bis 2000.
Die Entdeckung von Ötzi durch das Nürnberger Ehepaar Simon am magischen 19. September 1991, die abenteuerliche Bergung durch die Gerichtsmedizin sowie die Einordnung als archäologische Sensation durch Konrad Spindler sind oft erzählt – und doch hat die Geschichte vom Mann im Eis bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Mit der 5300 Jahre alten Gletschermumie sowie ihrer nahezu perfekt erhaltenen Ausrüstung und Bekleidung war der hochalpine Raum mit einem Mal für die Archäologie interessant geworden. Gleichzeitig besitzt die Gletscherarchäologie mit Ötzi eine überaus populäre Ikone. Allerdings haben, rückblickend, der Jahrhundertfund und die wechselnden Narrative um Ötzis Leben und Sterben wohl auch den Blick auf die größeren Zusammenhänge und die Komplexität des Themas verstellt. So existieren von der (weiterhin unzureichend publizierten) Fundstelle am Tisenjoch weitere Funde aus älteren und jüngeren Epochen, die deutlich machen, dass es sich auch hier um einen regelmäßig frequentierten Übergang handelt, auf dem zu verschiedenen Zeiten Menschen ihre (im Eis konservierten) Spuren hinterlassen haben. Der zweite, nur wenig jüngere jungsteinzeitliche Beilschaft aus dem frühen 3. Jt. v. Chr. ist dafür nur ein Beispiel. Auch der Klimawandel und dessen unmittelbare Auswirkung auf diese und weitere Fundstellen im Eis waren damals noch kaum Thema, obwohl sich in den 1990er-Jahren an verschiedenen Orten im Alpenraum gletscherarchäologische Funde mehrten. Den dauerhaften Aufbau einer flächendeckenden präventiven
Gletscherarchäologie hat man nach dem Wunderjahr 1991 jedenfalls verpasst und damit wohl wertvolle Zeit verloren. Einzig der mit dem alpinen Terrain bestens vertraute Schweizer Archäologe Werner Meyer hatte schon 1992 in beinahe prophetischen Worten die Eckpfeiler einer kommenden Gletscherarchäologie umrissen: Als gewiss kann gelten, dass die Funde vom Lötschenpass und vom Theodul gletscher kaum als einzigartige Ausnah men zu deuten sind, sondern als Vorboten von weiteren Fundkomplexen, deren Ent deckung einem Wissenschaftszweig der Zukunft vorbehalten bleibt, der kommen den Gletscherarchäologie. Diese muss ihre Methoden und Fragestellungen erst noch entwickeln. interdisziplinär und grenzüberschreitend – das werden ihre wesentlichen Eigenschaften sein. Die Tagung in Innsbruck über den »Mann im Eis« vom 3.–5. Juni 1992 hat den Grund stein gelegt.
Der Hitzesommer 2003 – Ötzi war nicht allein Zum endgültigen Durchbruch der Gletscherarchäologie in Europa sollte es erst etwa zehn Jahre später kommen, als der Klimawandel und seine Folgen auf die immer rascher schmelzenden Gletscher und Eisfelder sicht- und spürbar wurden. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Entdeckung archäologischer Funde am Schnidejoch in der Schweiz im Hitzesommer 2003, abermals durch Wanderer. Auf diesem in Vergessenheit geratenen Pass zwischen dem Berner Oberland und dem Wallis konnten in den darauf folgenden Jahren außergewöhnliche Objekte aus einem abschmelzenden Eisfeld geborgen werden, die aus unterschiedlichen Begehungs- bzw. Klimaphasen vom 5. Jt. bis ins Mittelalter stammen. Die teilweise
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Archäologie im Eis
I einzigartigen Artefakte aus verschiedenen Epochen – darunter die fast vollständige Ausrüstung eines alpinen Jägers aus der Zeit um 2800 v. Chr. – und wohl auch das Fehlen einer mumifizierten Leiche haben, im Unterschied etwa zu Ötzi, das vielschichtige und eigentliche Potenzial derartiger Fundstellen aufgezeigt und zudem den Blick auf andere Gebiete geweitet. Dazu zählen insbesondere die in Mitteleuropa bis dahin kaum wahrgenommenen Arbeiten in Skandinavien und Nordamerika, die seit den frühen 2000erJahren ebenfalls mit einer markanten klimabedingten Zunahme von Funden aus abschmelzenden Eiskörpern (ice patches) vor allem zur frühen Rentier- bzw. Karibujagd konfrontiert sind. Als Folge wurde ab 2008 eine internationale Tagungsreihe Frozen Pasts lanciert und ein weltweites Netzwerk für Gletscherarchäologie aufgebaut, um sich regelmäßig über neue Entdeckungen, aber ebenso über Praktiken der Prospektion, Betreuung, Konservierung, Interpretation und Vermittlung dieser spezifischen Fundstellen in enger Zusammenarbeit mit weiteren Disziplinen auszutauschen. Als wissenschaftliches Kommunikationsmedium dient dabei das Journal of Glacial Archaeology. Nicht unerwähnt soll in diesem zweifellos eurozentrisch gefärbten Zusammenhang bleiben, dass die Gletscherarchäologie in den Gebirgen Südamerikas
Sensationelle Neufunde aus aller Welt
Die Archäologin Constanza Ceruti bei der Entdeckung einer gefrorenen Inka- Mumie auf dem Gipfel des Vulkans Llullaillaco in Argentinien.
bereits einige Jahre bis Jahrzehnte früher begonnen hatte – dort (ebenfalls) gewissermaßen als logische Weiterentwicklung der Höhenarchäologie. Dabei steht beispielsweise in den Anden vor allem die rituelle Verehrung von Berggipfeln im Vordergrund der Forschungen. Während der Inkazeit wurden auf den heiligen Gipfeln zeremonielle Strukturen für rituelle Handlungen errichtet und Menschenopfer (vor allem Kinder) dargebracht. In Höhen zwischen 5000 und beinahe 7000 m wurden an zahlreichen Orten die Bauten und Opfergaben, vor allem aber die aufgrund der kalten dauergefrorenen und trockenen Bedingungen hervorragend erhaltenen Mumien freigelegt und geborgen. Die (bio-)archäologischen Untersuchungen erlauben einen sehr unmittelbaren, ja berührenden Einblick in das Leben und Sterben dieser auserwählten Opfer.
Sensationelle Neufunde aus aller Welt Während die zufällige Entdeckung von Ötzi vor 30 Jahren also noch als Einzelereignis (fehl-)eingeschätzt wurde, konnte sich in den letzten 20 Jahren eine eigentliche Gletscherarchäologie mit globaler und interdisziplinärer Perspektive etablieren. Die Alpen bleiben dabei weiterhin ein Hotspot, wie Neu-
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funde aus den Nachbartälern des Eismannes, aber auch an schon länger bekannten Fundstellen zeigen – hier ist weiterhin mit spannenden Überraschungen zu rechnen. Die ältesten im alpinen Eis überlieferten Objekte reichen mittlerweile sogar in die Zeit um 6000 v. Chr. zurück. Es handelt sich um Geräte aus Geweih und Holz, die vor 8000 Jahren unterhalb der Fuorcla da Strem im Schweizer Kanton Uri auf rund 2800 m Höhe zum Abbau von Bergkristall dienten. Erst vor wenigen Jahren hat der dortige Gletscher – der Brunnifirn – die Kluft und die mittelsteinzeitlichen Werkzeuge freigegeben. Noch ältere Funde sind, zumindest im Alpenraum, kaum zu erwarten. Trotz beträchtlicher thematischer und zeitlicher Differenzen vereint die unterschiedlichen Gebiete und Geschichten der glacial archaeology also primär das besondere gefrorene Milieu, das die beständige Konservierung selbst fragilster Artefakte über sehr lange Zeiträume ermöglicht. Gleichzeitig haben die heute oft abseits gelegenen, früher aber zentraleren Landschaften mit Eisüberdeckung häufig zu ähnlichen menschlichen Aktivitäten geführt: Jagd, Weide-
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wirtschaft, Handel und Verkehr in kanalisierenden Mobilitätskorridoren, Abbau von Rohstoffen, religiöse Praktiken und schließlich Konflikte – vom ermordeten Eismann bis zur Alpenfront im Eis des Ersten Weltkrieges. Ja selbst die Tragödien des Alpinismus finden sich im Eis, bis hinauf in den Gipfelbereich des Mount Everest. Diese wiederkehrenden Muster, die ihren Niederschlag auch im Fundspektrum offenbaren, helfen der Gletscherarchäologie in Verbindung mit der Klimaforschung und modernen Prospektionstechniken durch sog. Vorhersagemodelle, die teilweise riesigen Funderwartungsgebiete genauer einzugrenzen und so die auf wenige Wochen limitierten Geländearbeiten optimal zu nutzen. Dazu kommen neue, bislang kaum adäquat betrachtete Areale wie die weiten Steppen und Hochgebirge Asiens sowie der (sub-)arktische Bereich mit den Zeugen der wissenschaftlichen und militärischen Bezwingung der Pole. Die Klimaerwärmung der Gegenwart konfrontiert uns also mit unserer auftauenden Vergangenheit. Überall herrscht dabei eine außerordentliche Dring-
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Perfekt erhaltener Pfeil zur Rentierjagd aus der Zeit zwischen 300 und 600 n. Chr., gefunden 2019 im Eis des norwegischen Jotunheimen-Gebirges.
Archäologie im Eis
lichkeit, um das gefährdete Kulturerbe rechtzeitig zu retten. Die Einbindung von Laien, denen die allermeisten und wichtigsten Gletscherfunde verdankt werden, ist dabei unabdingbar. Darum wurden zuletzt verstärkt Maßnahmen und Strategien für eine noch bessere Betreuung und Information dieser wichtigen Zielgruppe entwickelt. Eine besonders sensible, auch politisch wichtige Verbindung zwischen der wissenschaftlichen ice patch archaeology und den Vertreterinnen der lokalen indigenen Gruppen (First Nations) wird seit Längerem auf dem nordamerikanischen Kontinent verfolgt, was die Gletscherarchäologie dort zu einer vielschichtigen Verantwortung zwingt.
Nur die Spitze des Eisbergs? Letztlich ist allerdings davon auszugehen, dass trotz aller Bemühungen der Gletscherarchäologie der größere Teil der einst im Eis konservierten Objekte weiterhin unbeobachtet verschwindet oder ohnehin bereits unwiederbringlich verloren ist. Allein aus dieser Perspektive ist die zuweilen geäußerte Unterstellung, die Archäologie sei primär hocherfreuter Profiteur der Klimaerwärmung und der nun zutage tretenden Gletscherfunde mehr als unzutreffend, ja geradezu als zynisch zu bezeichnen. Andererseits mag vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden erheblichen Veränderungen der Verlust jahrtausendealter archäologischer Objekte vernachlässigbar, ja belanglos erscheinen. Indes – all diese im Eis überlieferten Artefakte und die sie umgebenden von menschlichen Nutzungen, Werten und
BAFFIN BAY
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NORDAMERIKA
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Geografische Übersicht zu den in diesem Heft versammelten Beiträgen.
OSTSIBIRISCHE SEE
BARENTSSEE
EUROPÄISCHES NORDMEER
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Abgedeckte Liftrampe bzw. snow farming am Schladminger Gletscher im Sommer 2020.
LAPTEWSEE
KARASEE
BEAUFORTSEE
GOLF VON ALASKA
Erfahrungen geformten Kulturlandschaften sind wertvolle Wissensspeicher. Folglich kommt diesen Objekten und Orten auch für unsere heutige Lebenswelt eine besondere Bedeutung zu. Als kulturelles Erbe unserer Vorfahren stellen sie wichtige Zeugen für den verantwortungs- und respektvollen Umgang früherer Generationen mit den natürlichen Ressourcen unserer Umwelt dar. Der Schwund dieses historischen Wissens scheint leider unabwendbar, und die Gletscherarchäologie ist wohl nur ein schwacher Vorbote für jene Bedrohungen, die auf unser Kulturerbe und unsere Kultur in den nächsten Jahren zukommen.
ASIEN
E U R O PA
OCHOTSKISCHES MEER
Alpen
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JAPANISCHES MEER
GOLF VON MEXIKO
PA Z I F I S C H E R OZEAN
AT L A N T I S C H E R OZEAN
MITTELMEER
Himalaya ROTES MEER
KARIBISCHES MEER
AFRIKA
ARABISCHES MEER
GOLF VON BENGALEN
PA Z I F I S C H E R OZEAN
GOLF VON GUINEA
Anden
SÜDAMERIKA
Nur die Spitze des Eisbergs?
AT L A N T I S C H E R OZEAN
INDISCHER OZEAN
AU S T R A L I E N
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Auch 30 Jahre später
Ötzi – noch immer voller Rätsel Albert Zink und Frank Maixner
Am 19. September 1991 stieß das Nürnberger Ehepaar Erika und Helmut Simon bei einer Bergwanderung in den Ötztaler Alpen auf seiner Rückkehr von der Finailspitze am Tisenjoch in 3210 m Höhe auf einen mumifizierten Leichnam. Zunächst erkannten weder die Finder noch die herbeigerufenen Rettungskräfte und Gerichtsmediziner, dass es sich hierbei nicht um einen erst kürzlich verunglückten Bergsteiger, sondern um einen ebenso außergewöhnlichen wie auch sehr alten Fund handelte. Dies hatte zur Folge, dass die Mumie sowie deren Kleidungsreste und Ausrüstung nicht als archäologischer Fundkomplex eingeordnet und daher auch nicht mit entsprechender Sorgfalt geborgen wurden. Rasch verschlechterte sich damals das Wetter, was die Arbeiten im Hochgebirge zusätzlich erschwerte und letztendlich zu erheblichen Beschädigungen an der Mumie und den Ausrüstungs-
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gegenständen führte. Erst als der Leichnam in der Gerichtsmedizin der Universität Innsbruck untersucht wurde, konnte durch den anwesenden Archäologen Konrad Spindler das wahre Ausmaß erkannt und die Erforschung des rasch als Ötzi bekannt gewordenen Fundes begonnen werden. Nach ersten intensiven Forschungen an der Gletschermumie, inklusive zahlreicher naturwissenschaftlicher und medizinischer Untersuchungen samt archäologischer Nachgrabungen an der Fundstelle, wurde Ötzi im Jahr 1998 nach Bozen ins Südtiroler Archäologiemuseum überführt. Zu dieser Einigung war es gekommen, nachdem eine Nachmessung der Grenzlinie zwischen Österreich und Südtirol ergeben hatte, dass sich der Fundort 92,56 m auf dem Hoheitsgebiet der Autonomen Provinz Bozen befand. Seitdem ist der Mann aus dem Eis zusammen mit seinen
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Die Fundstelle des Mannes aus dem Eis in den Ötztaler Alpen liegt in einer Höhe von 3210 m. Hier wurde die Mumie Ötzis über Jahrtausende in einer Felsmulde konserviert, die seinen Körper vor einer Verlagerung durch den Gletscher schützte.
Kapiteltitel Loreum Ipsum consetetur
Kleiderresten und seiner Ausrüstung in den Räumlichkeiten des dortigen Museums ausgestellt, wo alles fachgerecht konserviert wird. Darauf folgte im Jahr 2007 die Gründung des Instituts für Mumienforschung am Forschungzentrum Eurac Research in Bozen, mit dem Ziel, die Ötzi-Forschung zu institutionalisieren und neue Forschungsansätze sowie wissenschaftliche Verfahren zur Erforschung der Gletschermumie zu entwickeln. Seit diesem Zeitpunkt wurden und werden in mehreren groß angelegten Projekten grundlegende Fragen zur Konservierung Ötzis sowie zu seinen Lebensbedingungen und seinem Gesundheitszustand behandelt.
Alter, Herkunft und Körperschmuck Die dreißigjährige Forschungsgeschichte erlaubt es inzwischen, einige gesicherte Aussagen über den Mann aus dem Eis und seine Lebensumstände zu machen. So ergab die Datierung der Mumie mitsamt ihrer Kleidung und Ausrüstung mithilfe der 14C- Methode ein Alter von etwa 5300 Jahren (3350– 3100 v. Chr.). Damit bestätigte sich auch die Zuordnung seiner Ausrüstungsgegenstände, insbesondere der Axt mit Kupferklinge, in die Epoche der ausgehenden Jungsteinzeit bzw. der Kupferzeit. Ötzi starb in einem Alter von 40 bis 50 Jahren, war zu Lebzeiten etwa 160 cm groß und wog um die 60 kg. Des Weiteren konnte durch eine Isotopenanalyse von verschiedenen Elementen wie Strontium, Blei und Sauerstoff nachgewiesen werden, dass er seine frühe Kindheit im Oberen Eisacktal oder im Unteren Pustertal ver-
Alter, Herkunft und Körperschmuck
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Neben dem Körper blieb auch Ötzis gesamte Ausrüstung im Eis erhalten: Bekleidung, Schuhe, Waffen und Werkzeuge sowie zahlreiche weitere bis heute einzigartige Gegenstände.
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bracht und vor seinem Tod mindestens zehn Jahre im Vintschgau gelebt hat, unweit der heutigen Fundstelle. Die Untersuchung von Pollen und Pflanzenresten aus verschiedenen Abschnitten des Darmtrakts des Mannes erlaubte eine detaillierte Rekonstruktion seiner Route, die ihn in den letzten 36 Stunden vor seinem Tod über verschiedene Höhen und Lebensräume in den Alpen geführt hatte. Zusätzlich konnte durch den Nachweis einer großen Menge von Hopfenbuchenpollen der Todeszeitraum auf das späte Frühjahr bzw. in den Frühsommer eingegrenzt werden, da in diesem Zeitraum die Blütezeit der Hopfenbuche liegt. Einen völlig überraschenden und unerwarteten Befund stellten die zahlreichen Tätowierungen an Ötzis Körper dar, die schon unmittelbar bei der Bergung aufgefallen waren und im Laufe der Jahre ein-
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Die 5300 Jahre alte Gletschermumie liegt heute im Archäologischen Museum von Bozen in einer Kühlkammer.
Körperschmuck oder Spuren einer frühen Form der Akupunktur? Die strich förmigen parallel ange ordneten Tätowierungen auf Ötzis Körper könnten theoretisch auch auf eine Schmerztherapie zurück gehen.
gehend untersucht wurden. Es zeigte sich dabei bald, dass es sich in der Tat um echte Tätowierungen handelt, die durch Einritzung der Haut, vermutlich mit einer Knochennadel, und dem Einreiben einer Kohlemischung angebracht wurden. Die Tätowierungen befinden sich an der rechten Brustseite, am unteren Rücken , dem linken Handgelenk und an den Beinen. Es sind einfache, parallel angeordnete Striche, die lediglich am rechten Knie und am linken Fußknöchel kreuzförmig angeordnet sind. Da einige der Tätowierungen mit dem bloßen Auge nur schwer oder gar nicht zu erkennen sind, konnte ihre genaue Anzahl erst vor einigen Jahren mit dem Verfahren der Spektralfotografie bestimmt werden. Insgesamt sind 61 Tätowierungen vorhanden, die in 19 Gruppen angeordnet sind. Auffällig ist dabei, dass diese überwiegend an Körperregionen zu finden sind, an denen der Mann aus dem Eis vermutlich regelmäßig von Schmerzen oder Beschwerden geplagt wurde, wie gerade am unteren Rücken, am Knie und an den Fußgelenken. Aus diesem Grund wurde schon früh die Vermutung geäußert, dass die strichförmigen Einritzungen in die Haut zu Therapiezwecken angebracht worden sind, möglicherweise sogar eine frühe Form der Akupunktur darstellen. Obwohl sich die Wirksamkeit dieser vermeintlichen Schmerztherapie nicht belegen lässt, sind andere Gründe, wie beispielsweise ästhetische oder dekorative Motive aufgrund der Verteilung am Körper und der einfachen Gestaltung weitestgehend auszuschließen.
Athrose, Karies & Co. – der Gesundheit auf den Zahn gefühlt Im Laufe der langjährigen Forschung am Mann aus dem Eis konnten zahlreiche Erkrankungen bzw. Gesundheitsprobleme nachgewiesen werden, die einen unmittelbaren Einblick in das alltägliche Leben Ötzis
Ötzi – noch immer voller Rätsel
erlauben und auch die Herausforderungen widerspiegeln, denen er in seiner Umwelt ausgesetzt war. So zeigen Abnutzungserscheinungen in Form von Gelenk- und Wirbelsäulenarthrosen im Bereich der unteren Extremitäten und der Hals- und Lendenwirbelsäule, dass der Mann aus dem Eis insgesamt sehr aktiv war, sich überwiegend im bergigen Gelände fortbewegt hat und vermutlich regelmäßig schwere Lasten mit sich trug. In Gegensatz dazu finden sich an den Gelenken der oberen Extremitäten, also den Schultern, Armen und Händen, kaum Abnutzungserscheinungen, was eine ausgeprägte handwerkliche Tätigkeit eher ausschließt. Eine Erfrierung an der kleinen Zehe des linken Fußes und verheilte Rippenbrüche können zudem im Zusammenhang mit zeitweisen Aufenthalten im hochalpinen Gelände gesehen werden. Der Nachweis von Darmparasiteneiern und Gallenblasensteinen zeugt von zumindest gelegentlichen Verdauungsproblemen des Mannes aus dem Eis. Des Weiteren spiegelt sich bei Ötzi eine für die Jungsteinzeit typische Veränderung in der Ernährungsweise wider, die im Gegensatz zu den Jäger- und Sammlerpopulationen der Altsteinzeit einen deutlich höheren Anteil an Kohlenhydraten aufwies. Dies hatte zur Folge, dass es bei den niedergelassenen Ackerbauern und Viehzüchtern zu einem erheblichen Anstieg von Karies und anderen Zahnerkrankungen kam. So litt auch Ötzi bereits an Karies und Zahnfleischent zündungen sowie einer stark fortgeschrittenen Ab nutzung der Zahnkaufläche, die jedoch zu keiner wesentlichen Einschränkung der Funktionalität seines Kauapparats geführt haben dürfte. Ein Durchbruch in der Erforschung des Mannes aus dem Eis gelang durch die Anwendung von modernen genetischen Sequenzierungsverfahren, die es ermöglichen, aus kleinen Knochen- oder Gewebeproben das gesamte Erbgut eines Individuums zu rekonstruieren. So konnte durch die Untersuchung von Ötzis Erbgut unter anderem gezeigt werden, dass er braune Augen und Haare hatte, der Blutgruppe 0 angehörte und eine Laktoseintoleranz aufwies. Darüberhinaus wurden in seinem Genom mehrere genetische Risikofaktoren identifiziert, die heutzutage nachweislich mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung gebracht werden. Dabei zeigte sich insbesondere eine starke genetische Veranlagung für Herzund Kreislaufkrankheiten, die zu einem erhöhten Risiko für Arterienverkalkung bzw. einer koronaren Herzerkrankung beim Mann aus dem Eis geführt haben könnte. Dies lässt erklären, dass in vorher gehenden computertomografischen Untersuchungen Verkalkungen mehrerer Arterien und damit eine generalisierte Gefäßverkalkung (Arteriosklerose) nachgewiesen wurde. Die genetische Veranlagung könnte somit ursächlich für die Ausbildung der Arterien
Ötzis Tod – eine Kriminalgeschichte
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Ähnlich wie uns heute plagten auch Ötzi Karies und Zahnfleischent zündung. Dies zeigt die CT-basierte Rekonstruktion seines Gebisses sehr deutlich.
verkalkungen bei Ötzi gewesen sein, zumal man davon ausgehen kann, dass andere Risikofaktoren wie Übergewicht, Rauchen, fettreiche Ernährung und ein Mangel an Bewegung bei ihm wohl nur eine unter geordnete Rolle gespielt haben.
Ötzis Tod – eine Kriminalgeschichte Die genauen Umstände zu Ötzis Ableben waren lange ungeklärt. Zunächst ging man von einem Tod durch Erfrieren aus, nachdem er im Hochgebirge von einem Schneeeinbruch überrascht worden war. Es dauerte zehn Jahre, bis im Rahmen einer radiologischen Untersuchung in Bozen eine Pfeilspitze in der linken Schulter entdeckt werden konnte, die in allen vorherigen Röntgen- und CT-Aufnahmen verborgen geblieben war. Dieser Hinweis auf eine tödliche Schussverletzung wurde einige Jahre später durch eine erneute Untersuchung mithilfe der Computertomografie bestätigt, durch die der Beweis erbracht werden konnte, dass der Pfeil beim Eindringen in den Körper die linke Schlüsselbeinarterie (Arteria subclavia) verletzt, zu einem erheblichen Blutverlust und schließlich zum Tod geführt hatte. Zusätzlich zeigten die Schichtaufnahmen Hinweise auf eine Gehirnblutung, die vermutlich durch ein schweres Schädel-Hirn-Trauma hervorgerufen wurde. Da keine Anzeichen einer weiteren Wundreaktion zu erkennen waren, musste dieses kurz vor dem Tod aufgetreten sein. Anhand weiterführender Analysen von Gewebeproben, die aus dem mumifizierten Gehirn entnommen wurden, konnten zum einen Blutungsreste nachgewiesen werden und zum anderen eine Anhäufung von Proteinen, die im Zusammenhang mit einer Stressreaktion und Wundheilung stehen. Insgesamt konnte dadurch zweifelsfrei belegt werden, dass der Mann aus dem Eis Opfer einer tödlichen Pfeilschussattacke wurde und infolge eines
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Sturzes oder weiteren Angriffs eine schwere Kopfverletzung erlitt. Darüber hinaus zeigten sich weitere Verletzungen, die im Zusammenhang mit den Hintergründen stehen könnten, die schließlich zu seinem gewaltsamen Tod geführt haben. So konnte eine tiefe Schnittwunde an der rechten Hand nachgewiesen werden, die bei der anschließenden histologischen Untersuchung Anzeichen eines Heilungsprozesses aufwies und damit bereits etwa 3 bis 4 Tage vor Ötzis Tod eingetreten sein musste. Die Position der Verletzung zwischen Daumen und Zeigefinger und die Tiefe des Einschnitts sprechen dabei für eine Wunde, die er sich bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung zugezogen haben könnte. Dies bedeutet, dass der Mann aus dem Eis möglicherweise bereits einige Tage vor seinem Tod in einen Streit geraten war, aus dem er sich zunächst noch leicht verletzt retten konnte. Im Anschluss daran begab er sich ins Hochgebirge, vermutlich um Schutz zu suchen und womöglich einem weiteren Konflikt aus dem Weg zu gehen, ehe er dort Opfer der tödlichen Pfeilschussattacke wurde. Somit handelt es sich um einen 5300 Jahre alten Kriminalfall, der sich zwar im zeitlichen Ablauf weitestgehend rekonstruieren lässt, bei dem aber noch viele Fragen hinsichtlich der genauen Umstände, des Tatmotivs und dem bzw. der Mörder unbeantwortet sind.
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Im Untersuchungsraum der speziell entwickelten Konservierungsanlage des Südtiroler Archäologiemuseums wurden Proben vom Mann aus dem Eis für weiterführende Untersuchungen an seinem Erbgut entnommen.
Ein Blick auf die Gene Die Rekonstruktion des gesamten Erbguts von Ötzi ermöglichte es, weitere Einblicke in seine genetische Abstammung und Herkunft zu gewinnen. Zum einen zeigte dabei die Rekonstruktion seiner männlichen Verwandtschaftslinie durch die Charakterisierung des
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In der 3D-Rekonstruktion der CT-Aufnahmen ist deutlich die Pfeilspitze im Bereich der linken Schulter zu erkennen.
Ötzi – noch immer voller Rätsel
männlichen Geschlechtschromosoms (Y-Chromosom), dass er einer sehr seltenen Gruppe angehört, die in der heutigen Zeit nur noch in einer geringen Häufigkeit in Europa nachzuweisen ist. Lediglich auf den Inseln Korsika und Sardinien ist diese männliche Linie noch vergleichsweise häufig anzutreffen. Dies kann damit erklärt werden, dass sowohl der Mann aus dem Eis als auch ein Teil der heutigen Inselbewohner auf gemeinsame Vorfahren zurückgehen. Diese sind zunächst im Rahmen der Ausbreitung von Ackerbau und Viehzucht aus dem Nahen Osten eingewandert und haben sich sowohl auf dem europäischen Festland als auch auf den Inseln angesiedelt. Im Laufe der Zeit kam es vor allem auf dem Festland durch weitere Einwanderungsbewegungen und Bevölkerungsvermischungen zu einer kontinuierlichen Verdrängung der ersten Einwanderungswelle, wohingegen die genetischen Spuren der ersten Ackerbauern und Viehzüchter vor allem auf den Mittelmeerinseln erhalten geblieben sind. In groß angelegten paläogenetischen Studien zur Bevölkerungsentwicklung des europäischen Raums wurde Ötzi grundsätzlich auch als typischer Vertreter dieser frühen europäischen Farmer eingeordnet. Im Gegensatz dazu ergab die Untersuchung seiner mütterlichen Linie, dass Ötzi einer Untergruppe zuzuordnen ist, die bislang weder in der heutigen Bevölkerung noch in anderen Skelett- oder Mumienfunden nachgewiesen ist. Selbst in einer groß angelegten Studie an Skelettfunden und mehr als Tausend modernen genetischen Proben derselben genetischen Hauptgruppe gelang kein einziger Nachweis von Ötzis Untergruppe. Man kann daher davon ausgehen, dass seine weibliche Linie im Zuge von Bevölkerungsentwicklungen während der letzten 5000 Jahre ausgestorben ist.
Dem antiken Magenkeim auf der Spur Die erfolgreiche Erbgutanalyse von Ötzi bildete die Grundlage, um sich mit dem Nachweis möglicher Krankheitserreger zu beschäftigen. Nachdem bei einer erneuten Auswertung der CT-Aufnahmen, die im November 2010 angefertigt wurden, der bislang übersehene Magen identifiziert werden konnte, kam es zu dem Entschluss, Proben zu entnehmen und nach genetischen Überresten von Bakterien zu forschen. Von besonderem Interesse war dabei der Magenkeim Helicobacter pylori, ein Bakterium, das bei etwa der Hälfte der heutigen Weltbevölkerung den Magen besiedelt. In etwa 10 Prozent der Fälle kann es dabei zu ernsthaften Beschwerden kommen, die sich in Form von Magenschleimhautentzündungen (Gastritis) bzw. Magengeschwüren bis hin zu Magenkrebserkrankungen manifestieren können.
Dem antiken Magenkeim auf der Spur
Nachdem das Genmaterial des kompletten Mageninhalts entnommen worden war, konnten mit einer speziellen Methode die einzelnen HelicobacterSequenzen herausgefischt und ein 5300 Jahre altes Helicobacter pylori-Genom rekonstruiert werden. Es zeigte sich, dass der antike Magenkeim ein potenziell ansteckender Bakterienstamm ist, auf den Ötzis Immunsystem bereits reagiert hatte. Dies gelang durch den Nachweis spezifischer Eiweiße, sogenannter Markerproteine, die auch bei heutigen mit Helicobacter infizierten Patienten auftreten können und Hinweise auf eine Entzündungsreaktion des Immunsystems auf den Magenkeim anzeigen. Inwiefern Ötzi sogar an Gastritis oder Magengeschwüren litt, kann aufgrund seiner nicht mehr erhaltenen Magenschleimhaut jedoch nicht beantwortet werden. Die Voraussetzungen für eine solche Erkrankung waren jedoch gegeben. Weiterführende Studien des Magenkeims, die es erlauben, ihn einer bestimmten geografischen Herkunft zuzuordnen, führten zu einem überraschenden Ergebnis. Bislang hatte man angenommen, bei Ötzi
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Probenmaterial aus dem Gastrointestinaltrakt des Mannes aus dem Eis. Die Probe des Mageninhalts (rechts) besteht im Vergleich zu den beiden anderen Proben aus groben, unverdauten Nahrungsresten, die einen wasserabweisenden, fettartigen Charakter zeigen.
jenen Helicobacter-Stamm zu finden, den die heutigen Europäer in sich tragen. Dazu ist es wichtig zu wissen, dass das Bakterium den Menschen vermutlich schon seit über 100 000 Jahren begleitet und sich zusammen mit dem modernen Menschen über den gesamten Erdball ausgebreitet hat. Dabei erfolgt die Übertragung des Helicobacter überwiegend im familiären Umfeld, im Wesentlichen durch den engen Kontakt der Mütter zu ihren Kindern. Daher finden sich heute in den verschiedenen Gegenden der Welt Stämme dieses Bakteriums, die geografisch genau zugeordnet werden können. Diese werden also in europäische, afrikanische, asiatische, usw. Stämme zusammengefasst. Bisher war man davon ausgegangen, dass sich die europäische Variante bereits in den frühen Ackerbauern und Viehzüchtern entwickelte, und sie diesen Stamm im Zuge der Einwanderung nach Europa bereits mitbrachten. Aus diesem Grund schloss man darauf, dass Ötzi auch den europäischen
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Die Karte zeigt das geografische Verteilungsmuster der heutzutage vorkommenden Helicobacter-pylori-Stämme. Ötzi trug einen Magenkeim in sich, der heute nicht mehr in Europa vorkommt. Eine überrachende Erkenntnis, zeigt es doch, dass die europäische Variante vor 5300 Jahren, entgegen der bisherigen Annahme, noch nicht in Europa vorhanden war.
5300 Jahre vor heute
hp Europa hp Asien2 hp Asien hp Afrika hp Sahul
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Stamm in sich tragen sollte. Entgegen dieser Annahme konnte man in Ötzi aber keinen europäischen Stamm nachweisen, sondern eine Variante, die man heute hauptsächlich in Zentral-‐ und Südasien vorfindet. Nachdem dieser asiatische Stamm einem Vorläufer der europäischen Variante entspricht, widerspricht dies der Vermutung, dass der europäische Stamm bereits durch die Ackerbauern und Viehzüchter während der Jungsteinzeit eingeschleppt wurde. Vielmehr zeigen die Untersuchungen an Ötzi, dass die Entstehung des europäischen Helicobacter pylori-Stammes vermutlich erst sehr viel später stattgefunden hat, möglicherweise im Rahmen einer weiteren Einwanderungswelle. Dies zeigt wiederum, dass die Besiedlungsgeschichte Europas wesentlich komplexer ist als bislang angenommen. Mikroskopische Aufnahmen von tierischen (oben) und pflanzlichen (unten) Nahrungsbestandteilen aus dem Mageninhalt. Die Fleischfaser (oben) zeigt eine für Muskelfasern charakteristische Querstreifung.
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Die letzte Mahlzeit Der Mageninhalt eröffnete neben dem Nachweis von Krankheitserregern die einzigartige Möglichkeit, die letzte Mahlzeit des Mannes aus dem Eis zu rekonstruieren. Der hierbei gewählte methodische Ansatz zielte darauf ab, das gesamte Spektrum an vorhandenen Biomolekülen wie aDNA, Proteine, Metabolite und Lipide zu analysieren. Dadurch zeigte sich, dass der Mageninhalt außergewöhnlich gut erhalten war; neben Resten von pflanzlichen und tierischen Bestandteilen wies er einen extrem hohen Fettanteil auf. Ferner konnte nachgewiesen werden, dass die tierischen Nahrungsbestandteile überwiegend von Muskelfasern und Fettgewebe des Steinbocks stammen. Zusätzlich wurden bei der genetischen Untersuchung des Mageninhaltes Spuren von Hirschfleisch entdeckt. Weiterführende mikroskopische und nanotech-
nologische Untersuchung zeigten, dass die quergestreifte Faserung des Muskelfleischs noch sehr gut zu erkennen war. Das Fleisch war also entweder luft getrocknet oder nur sehr mild (unter 60 °C) erhitzt worden, vermutlich um es haltbar zu machen. Eine Analyse der fettigen Bestandteile aus dem Magen (Lipidanalyse) zeigte eine Verteilung der Fettsäuren, die typischerweise einhergehen mit dem Konsum von tierischem Fleisch und Fettgewebe. Dahingegen fanden sich keine Hinweise, dass der Mann aus dem Eis in seiner letzten Mahlzeit Milchprodukte zu sich genommen hatte. Bei den pflanzlichen Resten handelte es sich im Wesentlichen um Getreidebestandteile der ursprünglichen Weizenform Einkorn (Triticum monococcum). Zusätzlich fanden sich vermehrt Spuren des Adlerfarns (Pteridium aquilinum), der aufgrund seiner Giftigkeit nur sehr bedingt zum Verzehr geeignet ist. Eine mögliche Erklärung für das Vorhandensein von Adlerfarn im Magen des Mannes aus dem Eis ist, dass er diesen als Medizin gegen seine Darmparasiten eingenommen hat. Möglich ist aber auch, dass er die Pflanze als Verpackungsmaterial für seine Nahrung benutzte, wodurch es zu einer unbeabsichtigten Einnahme gekommen sein kann.
Evolution unseres Magenmikrobioms Ein besonderes Potenzial in der Ötzi-Forschung stellt die Möglichkeit dar, weiterführende Untersuchungen zur Zusammensetzung der Mikroorganismen, also Bakterien und Pilze, die auf und in Ötzis Körper gelebt haben, zu rekonstruieren. Diese mikrobielle Gemeinschaft wird allgemein als Mikrobiom bezeichnet,
Ötzi – noch immer voller Rätsel
wobei beim Menschen zusätzlich noch zwischen der Zusammensetzung der auf der Haut, im Mundraum und den im Magen und Darm lebenden Mikroorganismen unterschieden wird. Letztere werden demzufolge als Darmmikrobiom oder auch Darmflora bezeichnet. Aus aktuellen Forschungen ist bekannt, dass das Mikrobiom eine wichtige Rolle für unsere Gesundheit spielt und im Zusammenhang mit Krankheiten wie Asthma, Übergewicht und Lebensmittelallergien zu stehen scheint. Dabei wird vermutet, dass es in der heutigen Bevölkerung, bedingt durch Veränderungen in der Lebensweise und der Ernährung, im Laufe der Zeit zu einer Verringerung der Vielfalt der Darmbakterien gekommen ist und damit zu einer erhöhten Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten. Unklar ist dabei aber, in welchem Zeitraum sich derartige Veränderungen abspielen und wie sich das Mikrobiom unserer Vorfahren zusammensetzte. Daher ist die Untersuchung des Mikrobioms von Ötzi von besonderem Interesse, da es vollkommen neue Einblicke in die Zusammensetzung und mögliche Veränderung der mikrobiellen Gemeinschaft im Laufe der letzten 5000 Jahre liefern könnte. In einer aktuellen Studie konnten wir bereits erste Hinweise dazu erkennen, indem wir das Bakterium Prevotella copri, einen typischen Vertreter des menschlichen Darmmikrobioms, in Proben aus dem Magen- und Darmtrakt der Mumie untersucht haben. In einer vergleichenden Studie von modernen und alten Darmproben zeigte sich ein deutlicher Verlust der Diversität des Bakteriums Prevotella copri und seiner Stammvarianten in der modernen Bevölkerung, die vermutlich auf Veränderungen in der Ernährungsweise und den westlich geprägten Lebensstil zurückzuführen sind. Trotz der dreißigjährigen Forschungsgeschichte rund um den Mann aus dem Eis sind längst nicht alle Fragen zu seinem Leben und Sterben abschließend beantwortet. Zudem eröffnen sich stetig weitere und neue Forschungsansätze. Hier lassen insbesondere die kontinuierliche Entwicklung molekularer Untersuchungsmethoden und bildgebender Verfahren weitere wichtige Erkenntnisse erwarten. Innovative Methoden zur Entschlüsselung genetischer Informationen werden es ermöglichen, das Erbgut von Ötzi in einer noch höheren Detailfülle zu untersuchen, um beispielsweise sein exaktes Sterbealter anhand chemischer Veränderungen der DNA (sogenannte Me thylierungsmuster) zu bestimmen oder Hinweise auf Veränderungen in der Steuerung des Aktivitätsgrades von Genen (Epigenetik), beispielsweise durch Ernährungsumstellungen, zu erhalten. Darüber hinaus hat die Erforschung antiker Mikrobiome, die derzeit noch in den Kinderschuhen steckt, großes Potenzial, wichtige evolutive Einblicke in Veränderungen von Bakteriengemeinschaften zu
Evolution unseres Magenmikrobioms
liefern. Ähnlich wie in der Tier- und Pflanzenwelt ist das Risiko eines bakteriellen Artensterbens im Laufe unserer Menschheitsgeschichte groß. Erste Analysen bei Ötzi deuten an, dass der heutige Einsatz von Antibiotika oder die veränderte Ernährung unserem Mikrobiom unumkehrbare Schäden zuzufügen scheint. Ötzis Mikrobiom könnte zusammen mit jenen anderer Mumien zu Referenzpunkten werden, die die bakterielle Zusammensetzung eines noch natürlichen und intakten Mikrobioms aufzeigen. Ein wesentliches Ziel der Ötzi-Forschung muss daher auch weiterhin darin bestehen, eine bestmögliche Konservierung der Mumie und seiner Funde zu garantieren, um zukünftigen Forschergenerationen die Möglichkeit zu geben, diesen wissenschaftlichen Ansätzen weiter nachzugehen und neue Perspektiven zu eröffnen.
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Analysen an Proben der Lunge und des Darminhalts von Ötzi zeigen neben gemeinsamen Bakterien arten, die sich vermutlich nach dem Tod vermehrt haben, Hinweise auf spezi fische Darmbakterien, die das ursprüngliche Mikro biom Ötzis repräsentieren.
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Brücken statt Barrieren
Südtiroler Passagen Hubert Steiner
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Vrsicpass Nicht nur Ötzi – JULISCHE Karte der gletscher ALPEN archäologischen Kobarid Fundstellen in Südtirol.
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Südtiroler Passagen
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Der bislang älteste bekannte Schneereif stammt vom Gurgler Eisjoch. Das aus einem Birkenast gefertigte Stück wird in die Zeit zwischen 3800 und 3700 v. Chr. datiert.
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den Tod. Doch der extrem steile Anstieg von Süden sowie die vielfältigen Gefahren des Gletschers waren bereits in der Vorgeschichte kein Hindernis für die Menschen, ebendiesen Übergang zu begehen. Im Jahr 2003 barg der Geograf Simone Bartolini aus Florenz im Zuge der Neuvermessung der Grenzsteine im Bereich des Gurgler Eisjochs mehrere Funde aus Holz, darunter einen Schneereif, gefertigt aus einem Birkenast. Der rundovale Reif war im Inneren mit meh-
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Durch den Fund von Ötzi im Jahr 1991 wurde in der alpinen Archäologie ein neues Kapitel aufgeschlagen: die Gletscherarchäologie. Wie es der Zufall wollte, entwickelte sich gerade in den letzten Jahren das unmittelbar südlich der Ötztaler Alpen gelegene Schnalstal in Südtirol zu einem Hotspot dieser jungen Wissenschaftsdisziplin. Wie sehr dieses Gebirge in Zusammenhang mit Jagd, Handel und Kommunikation bereits in der Vorgeschichte begangen wurde, und welch bedeutende Rolle dabei Pässen und Übergängen zukam, verdeutlichen insbesondere Neu funde vom Gurgler Eisjoch, das direkt am Alpenhauptkamm gelegen das Pfossental mit Obergurgl verbindet. Es ist eine Route, über die seit Jahrhunderten alljährlich rund tausend Schafe vom Schnalstal in die Weidegründe des Gurglertals getrieben wurden. Bis heute hat sich daran nichts geändert, und so erfolgt der Schaftrieb über den Alpenhauptkamm im Schnalstal noch immer, seit dem 14. Jh. urkundlich belegt, über das Hoch- und Niederjoch. Die Gefährlichkeit der Route über das 3134 m hohe Gurgler Eisjoch wird im Jahr 1744 deutlich, als Schafe und Hirten am 10. September beim Rückzug in das Schnalstal von einem Sturm überrascht wurOberammergau D E fanden U T S Cfünf HLA N D und den. Dabei Hirten rund 100 Schafe Füssen
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Schon in der Urgeschichte hielten die Gefahren der Route über das Gurgler Eisjoch die Menschen nicht davon ab, diesen Übergang zwischen dem Pfossental und Obergurgl zu nutzen. Zu den Funden aus der mittleren bis späten Jungsteinzeit zählen vor allem bearbeitete Hölzer und Teile von Pfeilschäften. Weitere Funde stammen aus der Eisenzeit, wie diese Schaufel unbekannter Funktion.
reren Strängen bespannt. Ursprünglich besaß er zwei Längs- und drei Querstreben. Zwei Radiokarbondatierungen datieren den Fund auf 3800 bis 3700 v. Chr., also in die späte Jungsteinzeit. Damit handelt es sich um den ältesten Schneereif weltweit. Im Rahmen einer archäologischen Untersuchung zeigte sich, dass das Joch insbesondere von 4500 bis 3700 v. Chr., in der mittleren bis späten Jungsteinzeit, begangen wurde. Bei den Funden handelt es sich nahezu durchwegs um bearbeitete Hölzer und Teile von Pfeilschäften. Das Fragment eines Leders dürfte von einem Schuh stammen. Während Funde aus der Bronzezeit bisher spärlich vorliegen, scheint der Übergang besonders zwischen 800 und 400 v. Chr., in der Eisenzeit, wiederum vermehrt begangen worden zu sein: Pfeilschäfte, zwei schaufelförmige Geräte sowie eine Bindevorrichtung aus Holz lassen annehmen, dass das Joch zu sehr unterschiedlichen Zwecken begangen wurde. Im Vordergrund dürfte der Warentransport gestanden haben. Dieser Aspekt wird für das Spätmittelalter in der Mitte des 15. Jh. mit dem Fund eines Schlittens aus Birkenholz deutlich. Erstmals ist der Transport von Waren über den Gletscher mittels eines eigens dafür konstruierten Schlittens dokumentiert.
Von Mals bis Schnals auf kürzestem Weg
Von Mals bis Schnals auf kürzestem Weg Eine weitere nunmehr für die Gletscherarchäologie bedeutsame Fundstelle liegt am 3017 m hohen Langgrubenjoch, welches das Matschertal in der Gemeinde Mals mit dem hinteren Schnalstal verbindet. Im Jahr 2011 entdeckten die Bergsteiger Christine und Alois Igelspacher aus dem bayerischen Röhrmoos im Umfeld eines bereits stark abgeschmolzenen Gletscherrests unterschiedlich große Teile aus Holz, die auf größerer Fläche verstreut lagen. Daraufhin untersuchte das örtliche Amt für Archäologie Jahr für Jahr diesen Übergang, wobei archäologische Funde aus unterschiedlichen Epochen geborgen werden konnten. Das Langgrubenjoch wurde bereits zwischen 2500 und 2300 v. Chr., in der späten Kupferzeit, von Menschen begangen. Davon zeugen der Fund eines Gürtelhakens aus Holz sowie mehrere Kleidungsstücke aus Ziegenfell, die teils mit Nähten versehen sind. Der Fund menschlicher Zehenknochen bildet ein starkes Indiz dafür, dass an dieser Stelle eine Person zu Tode gekommen sein dürfte. Da keine weiteren menschlichen Knochen im unmittelbaren Umfeld
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gefunden wurden, ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der bereits teilweise zersetzte Leichnam geborgen und im Tal bestattet wurde. In diesem Sinne dürften die Funde während der damaligen Bergung des bereits in fortgeschrittenem Verwesungszustand befindlichen Toten abgefallen und zurückgeblieben sein. Das Langgrubenjoch wurde in der Bronzezeit ab ca. 1600 v. Chr. vermehrt aufgesucht. Im Umfeld der noch verbliebenen Gletscherzunge konnten durchwegs bearbeitete Holzteile geborgen werden, vor allem Bretter und Stangen. Den Großteil der Funde bilden Teile von Dachschindeln aus Lärche mit einer Länge von bis zu 2 m und einer Breite zwischen 20 und 26 cm. Ein ausgestemmtes Loch diente der Fixierung am Dach. Zwei Schindeln konnten anhand der Jahrringchronologie datiert werden. Die letzten Zuwachsringe weisen in die Jahre 1388 und 1292 v. Chr. Die Funde stammen von einer Hütte, die in der späten
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Bronzezeit direkt am Joch errichtet worden war. Erhalten geblieben sind nur Teile der Dachkonstruktion, Hinweise auf einen Steinbau liegen nicht vor. Dabei handelte es sich vermutlich um eine Etappenstation einer Route, die in der Bronzezeit vermehrt im Zusammenhang mit Handel und Gütertausch gestanden haben dürfte. Dieser Übergang spielte auch in der Römerzeit eine gewisse Rolle. Bauhölzer aus Zirbe sowie bearbeitete Äste können entsprechend der Bronzezeit mit einem Unterstand in Verbindung gebracht werden. Neben der Verbindungsstraße der Via Claudia Augusta entlang des Etschtals über den Reschen dürften Routen über das Hochgebirge – neben der Nutzung im Zusammenhang mit Hochweide und Almwirtschaft – auch für die Kommunikation und den Handel in gewissem Umfang nach wie vor bedeutsam ge wesen sein.
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Auch das Langgruben joch zählt zu den bedeutenden Fundstellen der Gletscherarchäologie. Insbesondere die vielen Funde aus der Kupfer-, Bronze- und Römerzeit zeugen von einer starken Frequentierung dieses Übergangs.
Von der Begehung des Langgrubenjochs in der späten Kupferzeit zeugt unter anderem ein Gürtelhaken aus Holz.
Südtiroler Passagen
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Gamaschen aus der älteren Eisenzeit vom Gamsbichljoch auf dem Rieserferner. Flick- und Stopfstellen zeugen von einer längeren Nutzung.
Christine Igelspacher aus Röhrmoos in Oberbayern präsentiert 2011 vom Gletscher freigegebene Holz teile am Langgrubenjoch. Spätere Untersuchungen zeigten, dass diese aus der Römerzeit stammen.
Effizient ausgerüstet Wie sehr sich die Menschen für den Gang ins Hochgebirge bei winterlichen Verhältnissen auszustatten verstanden, zeigen neben dem spätjungsteinzeitlichen Schneereif vom Gurgler Eisjoch auch Kleidungsstücke, die am 2841 m hohen Gamsbichljoch in der Rieserfernergruppe im Pustertal geborgen wurden. Bereits 1992, ein Jahr nach Auffindung von Ötzi, entdeckte der Hüttenwirt Gottfried Leitgeb im Bereich einer Gletscherzunge Stoff- und Lederreste. Das Fundkonvolut konnte anhand von 14C-Datierungen auf 800 bis 500 v. Chr., also in die ältere Eisenzeit datiert werden. Mehrere Lederreste, zum Teil mit Nähten versehen, dürften von Schuhen sowie von der Bekleidung stammen. Zwei Bekleidungsstücke aus Stoff, aus verschiedenen zusammengenähten Streifen gefertigt, können als Socken angesprochen werden. Einen außergewöhnlichen Fund bilden vier Gamaschen aus Stoff in Leinenbindung sowie Spitzköper oder Spitzgratköper deren unteres Ende bogenförmig bis rechtwinkelig ausgeschnitten erscheint und durch einen Saum verstärkt ist. Der an der Vorderseite ausgezogene Teil wird über die Oberseite des Schuhs gelegt. Zwei seitlich angebrachte Bänder werden um den Schuh geschlagen und an der Oberseite verschnürt. Sowohl die Gamaschen als auch die Socken wurden immer wieder repariert. Davon zeugen zahlreiche Flick- und Stopfstellen, die zum Teil auch wenig fachmännisch ausgeführt sind. Die Gründe, weshalb die Kleidungsstücke am Gamsbichljoch zurückgelassen wurden, müssen unklar bleiben. Hinweise auf ein Unglück bzw. auf eine zu Tode gekommene Person gibt es bislang nicht. Eine effiziente Ausrüstung der eisenzeitlichen Menschen für das Hochgebirge bzw. für winterliche Verhältnis-
Effizient ausgerüstet
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Frontlinie des Ersten Weltkriegs
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Baracke in höchsten Höhen: Auf der Königspitze treten Spuren des Ersten Weltkriegs vermehrt zutage, denn hier verlief einst die Südfront. In unmittelbarer Umgebung konnten mehrere Helme geborgen werden.
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se wird neben diesem einmaligen Fund zudem im Grab mit der Nummer 44 des Gräberfeldes von Niederrasen/Windschnur offensichtlich. Diese männ liche Bestattung aus dem 6. Jh. v. Chr. enthielt neben einem Messer und einem Beil, einem Wetzstein und dem Teil einer Schlangenfibel zudem ein Paar Steig eisen, das als berufsspezifische Beigabe anzusehen ist.
Die Gletscherarchäologie ermöglicht aufgrund der idealen Erhaltungsbedingungen organischer Funde nicht nur einmalige Zeitfenster in die Vorgeschichte, sondern auch in erheblich jüngere Epochen. Im Raum Südtirol betrifft dies insbesondere die Zeit des Ersten Weltkrieges, dessen Südfront über weite Strecken durch das vergletscherte Hochgebirge verlief. Mit dem Eintritt Italiens in das Kriegsgeschehen musste Österreich-Ungarn in aller Schnelle die Südfront befestigen und verteidigen. Dabei wurden auch die höchsten Gipfel wie der 3905 m hohe Ortler oder die 3859 m hohe Königspitze besetzt, um den Feind in Schach zu halten. Am 3. November 1918 legten die österreichischen Truppen ihre Waffen nieder und verließen innerhalb weniger Stunden ihre Stellungen, um der Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Die gesamte Frontlinie, bereits für einen weiteren Kriegswinter vorbereitet, war verwaist, wurde eingeschneit, unter Eis begraben und geriet in Vergessenheit.
Südtiroler Passagen
Mit dem Rückzug der Gletscher im Ortlergebiet kommen die Relikte der einstigen Kriegsfront allmählich wieder an die Oberfläche. Ein beeindruckendes Beispiel für die extreme Lage der Kriegsstellungen bildet eine Baracke, die in den vergangenen Jahren allmählich unterhalb des Gipfels der Königspitze zum Vorschein gekommen ist. Es handelt sich um eine Holzbaracke der österreichisch-ungarischen Armee aus den Jahren 1917/18, im Inneren vollständig mit Eis gefüllt. Die 15 m lange und 4,5 m breite, außen sorgfältig mit Dachschindeln verkleidete Baracke besteht einem zeitgenössischen Bericht zufolge aus einem Schlafraum für rund 30 Soldaten und einem Offizierszimmer. Im Jahr 2015 konnten erste archäo logische Untersuchungen durchgeführt werden. Im Umfeld kam der Rest eines Depots zum Vorschein, dazu mehrere Helme, Kleidungsstücke, ein Zelt, Werkzeug, Teile von Maschinengewehren und Munition. Zudem entdeckte man eine Latrine samt Exkrementen zusammen mit Zeitungen und Feldpost, die als Toilettenpapier gedient hatten. Ein an der Baracke angebrachter Isolator ist stummer Zeuge einer neuen Errungenschaft des Ersten Weltkrieges: Die Baracke war nämlich mit einer Telefonverbindung ausgestattet. Gerade diese Einrichtung stellte für die Soldaten, wie den historischen Berichten zu entnehmen ist, eine zusätzliche Gefahr dar, nämlich durch Blitzeinschläge.
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Die Baracke auf der Königspitze war mit einer Telefonverbindung aus gestattet.
In den nächsten Jahren wird versucht, das Innere der Baracke vom Eis zu befreien und zu dokumentieren. Schließlich soll sie abgebaut, ins Tal gebracht und dort zusammen mit den Funden dem Publikum zugänglich gemacht werden, ein kühnes Unterfangen angesichts der Höhenlage und der Bedingungen.
TIPP
Ein Fund im Eis? Das ist zu tun! Es ist eine bekannte Tatsache, dass viele der wertvollsten archäologischen Funde aus dem Eis zufällig von Wanderern oder Alpinisten entdeckt wurden. Was ist also zu tun, wenn man im Sommer bei einer Bergtour in den Alpen auf einen Gegenstand auf oder nahe eines Gletschers oder Firnfelds stößt? Zuerst sollte das Objekt fotografisch in möglichst unveränderter Lage sowie die nahe und weitere Umgebung dokumentiert werden, idealerweise mit einem Maßstab wie einem Taschenmesser, einer Person oder Ähnlichem. Anschließend sollte der Fundort auf einer Wanderkarte, per GPS oder mittels Smartphone lokalisiert und markiert werden, damit er später wiedergefunden werden kann. Optimal ist es, wenn zusätzlich auch eine Skizze angefertigt wird.
Hieraufhin ist umgehend die entsprechende archäologische Fachstelle oder verantwortliche Behörde zu informieren – bei menschlichen Überresten in jedem Fall auch die Polizei. Geborgen werden sollten Funde ausschließlich dann, wenn sie unmittelbar bedroht sind oder der Fundort nicht wiedergefunden werden kann. Geborgene Gegenstände sollten bis zur Übergabe an eine Fachperson immer feucht und kühl/gefroren gelagert werden. Wichtig ist: Auch auf den ersten Blick sehr unscheinbare Objekte aus dem Eis können einen hohen wissenschaftlichen Wert besitzen! Nützliche Links zu Ansprechpartnern und weiterführenden Informationen unter: aid-magazin.de/2021/04/16/objekt-im-eisgefunden-was-tun
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Muli, Bergbau, Tante Ju
Im Hochgebirge Österreichs Thomas Bachnetzer
Gamsbichljoch 2841 m ????
Die Ötztaler Alpen mit ihren 226 Gipfeln über 3000 m Ein Muli im Eis Höhe weisen in den Ostalpen die größte Fläche in Höhenlagen über 3000 m auf. Anteile der GebirgsAm 12. September 2018 meldete die Hüttenwirtin gruppe befinden sich im österreichischen Bundesland vom Brandenburger Haus, Sophie Scheiber, den Ötz Tirol und der italienischen Provinz Südtirol. So ist es taler Museen, dass im unteren Bereich des Kesselnicht verwunderlich, dass in diesem Gebiet die Wahrwandferners Knochen und Ausrüstungsgegenstände scheinlichkeit, Gletscherfunde zu entdecken, sehr eines Maultiers (auch Muli) aus dem Gletschereis ausgeapert sind. Bereits am nächsten Tag stiegen Wisgroß ist. Die bisherigen Forschungen haben gezeigt, dass der Großteil an gletscherarchäologischen Funden senschaftler zur Fundstelle auf, um den Fund zu doauf Südtiroler Gebiet zum Vorschein kam. Ein Grund kumentieren. Die Überreste des Zaumzeugs sowie für die unterschiedliche Fundverteilung könnte sein, weitere Ausrüstungsteile des Mulis waren auf 3112 m Höhe auf eine Länge von ca. 12 m verstreut. Während dass sich die Gletscher am Alpenhauptkamm auf der in Richtung Süden abschmelzenden Seite in größerem der Kadaver bereits stark zersetzt war und alle KnoTempo zurückziehen und Funde dort schneller aus chen freilagen, konservierte das Eis die Holz-, Metalldem Eis auftauchen. Zu berücksichtigen ist auch die und Lederteile in einem verhältnismäßig guten ZuTatsache, dass die Grenzziehung nach dem Ersten stand. Nachforschungen ergaben, dass es sich bei Weltkrieg, die sich eigentlich an der Wasserscheide diesem Muli um ein Tier handelte, das zum Säumen orientieren sollte, nicht immer damit übereinstimmt auf das 3277 hoch gelegene Brandenburger Haus geund so das italienische Staatsgebiet in manchen Fällen dient hatte. Viele ältere Menschen im Gemeinde weiter nach Norden hineinreicht. Dies verdeutlicht Sölden erinnern sich noch an den Unfall, bei München gebiet am besten der Fund des aus der Jungsteinzeit stamdem das Tier des damaligen Hüttenwirtes Alois Taumenden Eismanns am Tisenjoch. Dennoch geben die ferer im Sommer 1958 in eine Gletscherspalte stürzte. Chiemsee Eismassen auch auf Nordtiroler Gebiet immer wieder Der 1930 geborene Venter Martin Gstrein arbeitete Salzburg Erstaunliches frei, wie Funde am Kesselwandferner damals als Bergführer und kam zur Unfallstelle. Er Bad Ischel Sudelfeld-Pass und dem Seekarjoch veranschaulichen. Te g e r n s e e erinnert sich:
Altaussee
DEUTSCHLAND Zugspitze
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Zell am See
2962 m
Innsbruck Inn
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3620 m
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NAT U R PA R K R I E S E R F E R N E R- A H R N
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3657 m 2926/2849 m
P U S T E RTA L
Meran Brixen
O RT L E R- G RU P P E Wichtige gletscherarchäologische Fundstellen in den 4049 m österreichischen Alpen.
Sterzing
ab 3049 m
NAT U R PA R K TEXELG RU P P E
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Comersee
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25
50 km
»Ich bin auf den Kesselwand-Ferner hin aufgegangen. Ein Haufen Leute herum. Jetzt liegt der Muli am Rücken auf dem Sattel, 6 bis 7 m in einer Spalte drinnen. Den hat es beim Hinunterfallen umge dreht, die Füße nach oben ist der auf dem Sattel gelegen im Loch unten. – Ja was tun wir? Wir bringen das Vieh nie herauf, obwohl ziemlich ein paar Gäste und Leute herumgestanden sind. Aber chancenlos. Jetzt sind zufällig vom Kaunertal herauf zwei Finanzer gekommen. Die sind hin und wieder einmal zum Brandenburger Haus heraufgekommen, Dienst machen. Und die haben ihn abgeschossen, den Muli. Und jetzt kommt er hervor.« [lacht].
Eisfreie Gletscherfundstellen Eis konserviert Funde über Jahrtausende. Sobald diese freischmelzen und mit Luft in Kontakt geraten, beginnt der Zersetzungsprozess, der abhängig vom Material zügig voranschreiten kann. Vor allem bei
Eisfreie Gletscherfundstellen
sehr weichen organischen Materialien wie etwa Fell oder Leder kann dies in sehr kurzer Zeit geschehen. Dies bedeutet aber nicht, dass auf seit bereits Jahrzehnten eisfreien Flächen keine Gletscherfunde mehr gemacht werden können. Aufgrund der niedrigen Jahresdurchschnittstemperaturen in Bereichen über 2500 m Höhe erhalten sich beispielsweise Holz, Knochen und anorganische Materialen wie etwa Metallgegenstände über Jahre, nachdem sie aus dem Eis freischmelzen. Dies belegen eindrucksvoll Funde vom Seekarjoch in Nordtirol und vom Vorderen Umbaltörl an der Grenze von Osttirol zu Südtirol. Im Sommer 2016 wurde im Zuge einer Bergtour am Seekarjoch ein 107 cm langes Holzobjekt am Rand eines 2845 m hoch gelegenen Firnfelds entdeckt. Das Seekarjoch befindet sich in den westlichen Ötztaler Alpen und verbindet das hintere Radurschltal mit dem Nauderer Tschey. Richtung Süden gelangt man nach Langtaufers in Südtirol. Der in zwei Hälften gebrochene Fund lässt sich dendrochronologisch zwischen 1249 und 1328 einordnen. Das Artefakt weist zahlreiche Bearbeitungsspuren auf und erinnert stark an ein überdimensioniertes Webschiff, was aufgrund
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Dokumentation eines Maultiers samt Ausrüstung im Eis am Kesselwand ferner. Im Hintergrund das auf 3277 m Höhe gelegene Brandenburger Haus.
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Mittelalterliches Holz objekt am Seekarjoch in Fundlage. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine Art Kufe für Karrenräder, um das Gefährt sicher über unebenes oder vereistes Gelände bewegen zu können.
Im Hochgebirge Österreichs
der Länge aber sehr unwahrscheinlich ist. Eine bessere Interpretation geht in Richtung einer Kufe, die an den Rädern eines Karrens befestigt war und ermöglichte, das Gefährt sicher über Eis, Schnee oder Geröll zu ziehen. Die Untersuchungen zur Funktion bzw. Verwendung sind noch im Gange. Im Zuge einer archäologischen Nachuntersuchung im Sommer 2018 wurde eine Reihe von weiteren sehr interessanten Hölzern entdeckt, die sich zurzeit am Institut für Archäologien der Universität Innsbruck befinden. Die hochalpinen Übergänge »Vorderes und Hinteres Umbaltörl« mit 2926 bzw. 2849 m Höhe im hinteren Umbaltal, Venediger Gruppe, verbinden das Virgental in Osttirol mit dem Windtal, einem Seitental des Tauferer Ahrntals, in Südtirol. Während das Hintere Umbaltörl noch von einem letzten Eisfeld bedeckt ist, ist das Vordere Umbaltörl seit Jahrzenten eisfrei. Ab dem 17. Jh. sind Berichte über Wallfahrten und Kreuzgänge zum Heiligtum nach Obermauern im Virgental überliefert. Der gefährlichste Kreuzgang verlief im Frühsommer von Prettau im Tauferer Ahrntal in Südtirol aus über das Hintere Umbaltörl durch
Eisfreie Gletscherfundstellen
das Umbaltal bis zur Virgener Fraktion Obermauern in Osttirol zur Kirche Maria Schnee, teils über vergletscherte Bereiche. Überliefert ist ein Bergunglück, wonach der vorausgehende Kreuzgänger in eine Gletscherspalte einbrach und die ihm zu Hilfe kommenden Bittgänger ebenfalls in diese hineinstürzten. Hirten nutzten den Übergang bis ins 19. Jh. hinein. Noch bis in die Gegenwart werden jährlich bis zu 600 Schafe zur Hochweide ins hintere Umbaltal aufgetrieben. Im Jahr 2015 lieferten archäologische Untersuchungen am Vorderen Umbaltörl 22 teils bearbeitete und verkohlte Hölzer. Darunter befindet sich ein 24 cm langes leicht gekrümmtes Astfragment, das auf einer Seite neun längliche parallel geschnitzte Einkerbungen und auf einer weiteren Seite zwei fragmentierte V-förmige sowie zwei parallele Kerben aufweist. Das Stück ist am einen Ende abgebrochen und am anderen stark verwittert, weshalb die Einkerbungen wohl ursprünglich in beide Richtungen eine Fortsetzung fanden. Eine 14C-Datierung weist das Artefakt in die Eisenzeit zwischen 724 und 400 v. Chr. Zur
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Heute wie damals erfolgt alljährlich der Schaftrieb zur Hochweide im hinteren Umbaltal. Im Hintergrund das Umbalkees.
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Fundort des gekerbten Astfragments (rechts) am Vorderen Umbaltörl an der Grenze von Osttirol und Südtirol. Das 24 cm lange Stück weist längliche parallel geschnitzte Einkerbungen auf, deren Bedeutung bislang unbekannt ist.
edeutung der Kerben gibt es bislang nur wenige AnB haltspunkte. Es handelt sich jedenfalls kaum um Schriftzeichen im eigentlichen Sinne. Vielmehr werden solche Formen als Marken genutzt, die möglicherweise mit einer Zählung zusammenhängen (Preis? Gewicht? Menge?).
Bergbau konserviert im Eis In hochalpinen Bergbauregionen über 2500 m Höhe in den Hohen Tauern blieben Objekte aus organischen Materialien wie Holz, Leder und Textil unter Eis- und Schneefeldern sowie im gefrorenen Boden über die Jahrhunderte erhalten. Unter den Textilien finden sich auch viele Reste von Bekleidung. Mit dem Projekt »Die neuzeitlichen Textilien des Goldbergbaus in Kärnten«, das in Kooperation mit dem Projekt »Gletscherarchäologie in den Österreichischen Alpen« durchgeführt wurde, werden das Gewand der Bergknappen und weitere im Bergbau verwendeten Stoffe untersucht.
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Begehungen der ehemaligen Goldabbaustätten »Hinteres Freudental« im Großen Zirknitztal und »Goldzeche« am Zirmsee im Kleinfleißtal, Kärnten, ergaben zahlreiche Funde aus organischem Material. Die aufgefundenen Textil- und Lederfragmente können ins 15. bis 17. Jh. datiert werden. Diese Datierung basiert einerseits auf der Betriebszeit der Bergwerke und dem Beginn der sogenannten Kleinen Eiszeit,
Im Hochgebirge Österreichs
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Aus Filz gefertigter Knie bügel, gefunden im Hinte ren Freudental (links) und Obersteiger mit Kniebügel von 1721 (rechts).
einer Periode relativ kühlen Klimas, die im 15. Jh. beginnt und bis zum 19. Jh. anhält. Ihr Höhepunkt in der Mitte des 17. Jh. und die Gletschervorstöße Mitte des 19. Jh. erschwerten bzw. verunmöglichten den Bergbau in großen Höhen. Dies und die Erschöpfung der Goldadern setzten dem Bergbau im Laufe des 19. Jh. endgültig ein Ende. Die Überdeckung der Bergbauareale mit Schnee und Eis bedingte die gute Erhaltung dieser organischen Materialien, die nun rasch freischmelzen. So bieten diese Funde eine seltene Möglichkeit, Ausrüstung und Kleidung der frühneuzeitlichen Bergleute zu untersuchen.
Allgemein ist davon auszugehen, dass in den nächsten Jahren eine Vielzahl an neuen Funden aus den noch vergletscherten Gebieten in den Österreichischen Alpen zutage kommt. Hoffentlich kann der Großteil davon rechtzeitig entdeckt und der Nachwelt erhalten werden.
Vermisst im Eis
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Bergung von Teilen des im Jahr 1941 notgelandeten Ju 52-Transportflugzeugs am Umbalkees in Osttirol, Sommer 2002.
Vermisst im Eis
Die Gletscherarchäologie beschäftigt sich auch mit alpinen Unglücken und beschränkt sich dabei nicht nur auf die Ur- und Frühgeschichte, wie die folgenden Beispiele zeigen. Im Jahr 1929 kamen in rund 2700 m Höhe im Bereich des Gradetzkees in der Granatspitzgruppe am nördlichen Rand Osttirols Teile der ausgeaperten Leiche und Ausrüstung des 1839 als vermisst gemeldeten »Wilderers« Norbert Mattersberger zum Vorschein. Ebenfalls in Österreich, am Pitztaler Mittelbergferner, wurde 2004 auf rund 2900 m Höhe die Leiche von Dr. Bonaventura Schaidnagl entdeckt, der seit 1939 als vermisst galt. Am Umbalkees in Osttirol musste 1941 das deutsche Transportflugzeug Ju 52 auf 2750 m Höhe mit elf Besatzungsmitgliedern notlanden. Seit 2002 schmelzen nun immer wieder Teile des Flugzeuges und der Ladung aus dem Gletscher frei.
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Ungefiltert und erschütternd
Spuren des Gebirgskriegs in Trentino Franco Nicolis
Was die Archäologie des Ersten Weltkriegs von der herkömmlichen Archäologie unterscheidet, ist die zeitliche Nähe zu den Ereignissen, die ans Licht gebracht und erforscht werden. Eine Nähe, die die Geschichte in Gedächtnis, das kollektive Geschehen in ein vertrautes Erlebnis, das öffentliche Narrativ in persönliches Erinnern verwandeln kann: Die Archäologie des Ersten Weltkriegs wird sozusagen »Opas Archäologie«. Bei der Annäherung an dieses archäologische Minenfeld ist ein Bewusstsein über die Folgen, die eine solche chronologische Nähe nach sich zieht, unabdingbar; es gilt, möglichst das Gleichgewicht zwischen einer professionellen, korrekten und objektiven Herangehensweise und einer ganz natür-
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Stavel
lichen emotionalen oder besser gesagt ethischen Anteilnahme zu wahren, die sich aus ebendieser Tat sache ergibt, dass wir Identitäten ausgraben. Im Trentino, das bis 1918 zur Monarchie Österreich-Ungarn gehörte, nahm der Erste Weltkrieg eine besondere Form an, nämlich die des Gebirgskrieges (Guerra Bianca). Dieser Stellungskrieg spielte sich in bis zu 4000 m Höhe entlang der Grenzen zum Königreich Italien ab. Zwischen 1915 und 1918 wurden auch in den Gletscherzonen Befestigungen errichtet, die der ständigen Unterbringung für Menschen und Material dienten. Man baute Unterkünfte, Seilbahnen, Telefonleitungen, Artilleriestellungen, regelrechte Städte im Eis. All diese Materialien, die bei Kriegsende aufgegeben wurden und erneut unter einer Eisschicht verschwanden, treten heute wegen der globalen Erwärmung wiederum zutage, was ihre Zerstörung durch skrupellose Sammler oder natürlichen Verfall zur Folge hat. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass rechtzeitig Sammel-, Konservierungs- und Schutzbestrebungen durch Institutionen durchgeführt werden, die imstande sind umweltbedingte, organisatorische und logistische Probleme wie die extremen Höhenlagen, das alpine Gelände und den schwierigen Zugang anzu gehen. Zudem müssen Methoden und Hilfsmittel verwendet werden, die den Besonderheiten dieser archäologischen Befunde angepasst sind. Obwohl es sich eigentlich um sehr erhaltungsfreundliche Fundkontexte handelt, da der Gefrierzustand die Verfalls prozesse organischer Substanzen aufhält, setzt der Verfall nach einem schnellen Auftauen umgehend, ja sogar beschleunigt ein.
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Auf dem Gipfel der Punta San Matteo fand von August bis September 1918 die höchste Schlacht der Geschichte statt. Durch den Beschuss wurde der Gipfel um mehrere Meter niedriger.
Der höchste Erinnerungsort Europas Schwerpunkt dieser Untersuchungen ist die Erforschung des gesamten Befestigungssystems an der Punta Linke, einem der wichtigsten österreichisch- ungarischen Punkte der Alpenfront, der in 3629 m Höhe in der Gemeinde Pejo in den Ortler-Alpen liegt. Die Archäologiebehörde der Provinz Trient (Ufficio beni archeologici) ist hier unter entscheidender Mitarbeit des Museums Pejo 1914–1918: La guerra sulla porta treibende Kraft.
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Erster Weltkrieg und Gletscherarchäologie an der Alpenfront, Ortler- Alpen, Trentino.
Spuren des Gebirgskriegs in Trentino
Freigelegt wurde eine Seilbahn aus zwei Teilabschnitten, die die Punta Linke einerseits mit dem Talgrund bei Pejo und andererseits mit dem in rund 3300 m Höhe gelegenen, heute als Coston delle barache brusade bekannten wichtigen Posten verband. Die zur Seilbahnanlage gehörigen Bauten umfassten die Bahnstation, in der sich die Werkstatt und der Antriebsmotor befanden, sowie einen rund 30 m langen Stollen. Diese teils in den Permafrostboden, teils in den Fels gehauene Strecke erlaubte es, sicher den Berg zu durchqueren und den Ausgang zu erreichen, von wo aus das letzte Stück der Seilbahnverbindung auf rund 1300 m Wegstrecke den gesamten Forni-Gletscher querte. Außerhalb der Gebäude fand sich der Großteil des beweglichen Inventars: Objekte aus dem Alltag der Soldaten, Werkzeuge, Stacheldrahtrollen, Seilbahnmaterial sowie ein Sauerkrautfass. Besonders interessant war der Fund von gut hundert Überschuhen aus Roggenstroh, die die Soldaten auf ihren Posten über die Stiefel zogen. Die Sohlen dieser Überschuhe bestanden aus Holzbrettchen, auf die manch mal ein Name (wie Antonio oder Januk) geschrieben
Der höchste Erinnerungsort Europas
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Ein Haufen Überschuhe aus Roggenstroh von der Punta Linke. Diese wurden über die Stiefel gezogen und vor allem auf Wachdienst benutzt, der in dieser Höhe zwischen 10 und 20 Minuten dauern konnte.
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Die Baracke auf der Punta Linke mit der Bergstation der Seilbahn am Ende der Restaurierung. In den Sommermonaten ist die Erinnerungsstätte zugänglich; außer der Baracke kann man den in Fels und Permafrost getriebenen Stollen begehen, der zum Ausgang auf den Forni- Gletscher führt.
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war; in einem Fall fand sich ein Stempel mit der Aufschrift »Kriegsgefangenenlager Kleinmünchen«, heute ein Stadtteil von Linz. An den Wänden der Unterkunft waren einige Papiere angebracht: Neben einem Blatt mit der handschriftlichen Anleitung für die Seilbahn fanden sich ein Bogen aus der Mitte der Zeitschrift Wiener Bilder, der Menschen beim Schlangestehen zum Brotkauf in der Hauptstadt der Doppelmonarchie zeigt, sowie eine in Blindenschrift verfasste Postkarte an den Soldaten Georg Kristoff. Beim Abschluss der archäologischen Untersuchungen wurde entschieden, den ursprünglichen Fundkontext zu erhalten, seinen Standort aufzuwerten und zum höchsten Erinnerungsort Europas für den Ersten Weltkrieg zu machen. Wer den Fundort besucht (das tun jeden Sommer im Schnitt über 2000 Menschen), tritt in den Raum der Erinnerung ein und kann deren Materialität mit Händen greifen. Die eindringlichste Erfahrung ist jedoch der Geruch der aus dem Eis befreiten Objekte – ein Geruch, den sie schon vor hundert Jahren ausströmten, der Geruch des
rieges. Auf der Punta Linke gibt es keine Vitrinen, K die sich zwischen den Besucher, die Materialität der Geschichte und die sinnliche Erfahrbarkeit der Erinnerung drängen, keine didaktischen Apparaturen, mit denen sich der Krieg ja doch nicht einfangen lässt – auf der Punta Linke lässt sich der Krieg wahrnehmen, einatmen und riechen.
Gefallen, vermisst, gefunden – ein weiter Weg zurück zur Identität Die Kampfhandlungen, die während des Alpenkriegs inmitten der Gletscher vor sich gingen, haben zwar nicht so viele Menschenleben gefordert wie die großen Schlachten an der Westfront oder im Karst am Isonzo. Dennoch treten noch heute die Überreste von Soldaten aus dem Eis zutage wie aus einem erstarrten Meer, die auf den Schlachtfeldern zurückgelassen oder von ihren Kameraden in Gletscherspalten versenkt wurden. Falls sie unkontrolliert geborgen werden, ohne dass mit der Vorsicht und Aufmerksamkeit einer archäologischen Grabung verfahren wird, kön-
Spuren des Gebirgskriegs in Trentino
nen nicht nur wichtige historische Informationen verloren gehen, sondern kann diesen jungen Männern auch, was noch schwerer wiegt, endgültig die Identität abhanden kommen – womit sie das Heer der Unbekannten Soldaten weiter anschwellen lassen. Zwischen 2007 und 2017 hat die Archäologiebehörde der Provinz Trient zahlreiche Bergungen von Überresten gefallener Soldaten des Ersten Weltkriegs durchgeführt, in Abstimmung und Zusammenarbeit mit den zuständigen Organisationen – dem Commissariato Generale per le onoranze ai caduti des italienischen Verteidigungsministeriums, dem Österreichischen Schwarzen Kreuz und den Carabinieri. Im August 2012 wurden in rund 3000 m Höhe auf dem Presena-Gletscher die Reste zweier österreichisch-ungarischer Soldaten geborgen, die gemeinsam in einer Gletscherspalte lagen. Nach hundert Jahren waren sie wieder zum Vorschein gekommen, verborgen unter einem scheinbaren Lumpenbündel, nur wenige Schritte von den Skiliften. Als sie im Sommer 1918 der Tod in Gestalt einer Schrapnellkugel in den Kopf ereilte, waren sie etwa 18 Jahre alt. Die senkrechten Schnitte in ihren Uniformtaschen zeigten, dass ihnen alles, was sie bei sich trugen (auch etwaiger persönlicher Besitz) abgenommen worden war. 2016 und 2017 fand man in der Adamellogruppe die Leichen zweier italienischer Gebirgsjäger (Alpini). Der eine trug noch seine Uniform, hatte die Kapuze über das Gesicht gezogen und Telefondraht um den Bauch gebunden. Nichts davon erlaubte es, seine Identität zu bestimmen. Der zweite, der in geringem Abstand von ihm aufgefunden wurde, trug zwar noch seine Stiefel, von der Uniform aber waren nur Fetzen
übrig. Auch bei ihm lagen die Kapuze und ein Barett über den Augen und es war Telefondraht um den Leib gewickelt; dazu hatte er einen Alpenstock und einige persönliche Gegenstände bei sich: ein Ring, ein aus Patronenhülsen gebauter Federhalter, eine Pfeife und ein Kamm. Während der archäologischen und bio anthropologischen Untersuchung der Leiche fand sich im Innern der Windjacke ein Stoffetui, das zahlreiche Papiere enthielt: einen Paketschein, eine ärztliche Untersuchungsbescheinigung, Stücke von Postkarten und die Reste eines Heiligenbildes. Nach mühseligen Ermittlungen war es möglich, diesem Alpino seine Identität wiederzugeben und sein Schicksal in Erfahrung zu bringen: Rodolfo Beretta, geboren am 13. Mai 1886 in Besana in der Brianza, einer Hügellandschaft der Lombardei, gestorben in der Nacht des 8. November 1916 »durch Schneelawine beim Provianttransport zwischen Lares- und Caventopass«. Damit hat es die archäologische Untersuchung möglich gemacht, einem seit über hundert Jahren toten Menschen seinen Namen zurückzugeben und ihn an seine Nachkommen zu überstellen – ein Grund zu großer beruflicher Zufriedenheit, vor allem aber ein wichtiges moralisches Ergebnis.
Verantwortungsvoll gegen das Vergessen Die Archäologie des Ersten Weltkriegs kann und will die Geschichte nicht umschreiben, doch sie kann deren materielle und damit objektivere Zeugnisse wiederentdecken, die Beweise liefern und fehlende Dokumente ersetzen helfen können. Das Leben die-
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Verantwortungsvoll gegen das Vergessen
August 2004. An der vereisten Flanke des Piz Giumela in der Ortlergruppe tauten auf ca. 3400 m Höhe die sterblichen Überreste von drei Kaiserschützen frei, die an der Schlacht von San Matteo teilgenommen hatten. Am Stiefel waren noch die Steigeisen angebracht.
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ser Soldaten hat sich in Gestalt formloser Stoffbündel gezeigt, aber diese Bündel enthalten Bruchstücke persönlicher Lebensgeschichten, Fragmente von Familienerinnerungen. In diesen Uniformen ist das verschwundene menschliche Element noch anwesend, Körper, Personen: Sie sind Subjekte, keine Objekte. Der Körper wird Uniform, die Uniform wird Wort und Text, die Materie bringt Erinnerung hervor. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich das Gedächtnis nicht in Staatsakten und Tränen erschöpft, sondern durch Mühe und Beharrlichkeit lebendig gehalten wird: die »vornehmste« Aufgabe der Archäologie des Ersten Weltkriegs besteht schlicht darin, für diese Menschen »die geschichtslose Geschichte ihres Gewesenseins« (Salvatore Satta) zu erzählen.
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Nur wenige Schritte von den Skiliften am PresenaGletscher in der Provinz Trient tauten auf rund 3000 m Höhe die Überreste zweier österreichisch- ungarischer S oldaten aus dem Eis.
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Die Überreste eines Stoffetuis, das der Gebirgsjäger Rodolfo Beretta in seiner Jacke aufbewahrte. Der Alpino kam am 8. November 1918 am Adamello durch eine Lawine um. Im Vordergrund ein Papierdokument mit dem Poststempel MILANO.
Spuren des Gebirgskriegs in Trentino
Strahler, Hirten, Alpinisten
Gletscherfunde in der Schweiz Philippe Curdy, Regula Gubler und Albert Hafner
Rhein
Spuren des Menschen im Hochgebirge reichen im 20. Jh., als die Gletscher sich nach den Hoch 10 000 Jahre zurück. Über Pässe und Gletscher bewegständen des 19. Jh. langsam zurückzogen. Zu diesen ten sich die Menschen in den Alpen, ihre Motive waFunden gehören die berühmten Pfeilbögen aus Eibenholz vom Lötschenpass aus den 1930er- und ren Jagd, Alpwirtschaft, Rohmaterialgewinnung und 1940er-Jahren. 1984 entdeckte ein Geschwisterpaar Handel. In der Schweiz belegen spektakuläre archäologische Funde aus dem Eis eine jahrtausendealte auf dem Oberen Theodulgletscher bei Zermatt die transalpine Mobilität. Überreste eines Mannes und seiner Ausrüstung. Man Sporadische Erwähnungen von archäologischen hätte erwarten können, dass die Entdeckung von Objekten aus Gletschereis in den Schweizer Alpen Ötzi 1991 auch in der Schweiz Forschungen auslösen Federsee Donau Archäofinden sich bereits vom Ende des 19. Jh. In den meiswürde. Tatsächlich berichtete Werner Meyer, ten Fällen handelte es sich dabei um Einzelfunde, loge und Professor für mittelalterliche Geschichte an Freiburg deren Bedeutung zunächst nicht erkannt oder die in der Universität Basel, 1992 im ersten Band zur Ent deckung von Ötzi über die Funde aus den Schweizer der Welt der Archäologie als uninteressant eingestuft wurden. Die Gletscherarchäologie beginnt in der Gletschern und forderte ein rasches Handeln. Sein Überlingen Kempten Schweiz erst 2003 mit dem Fund prähistorischer ObAppell fand jedoch erst zwanzig Jahre s päter in der Schaffhausen Schweiz Gehör, als nach den archäologischenKonstanz Funden Friedrichshafen jekte auf dem Schnidejoch, aber einige wichtige EntBodensee deckungen wurden schon viel früher gemacht. Die vom Schnidejoch ab 2004 neben rettungsarchäo Thur Rhein Lindau ersten Funde stammen aus der Region des Theodullogischen Einsätzen auch Forschungsprojekte in den Basel Bregenz Winterthur passes, einem in 3300 m Höhe gelegenen Übergang Walliser Alpen zwischen 2011 und 2014 sowie 2015/ Gletscherarchäologische St. Gallen zwischen der Schweiz im Kanton Wallis und Italien 2016 in den Bündner Alpen ins Leben gerufen wurFundstellen in den Schweiin der Region Aostatal. Weitere Entdeckungen folgten zer Alpen. den. Appenzell
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Gletscherfunde in der Schweiz
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Zwischen Italien und der Schweiz – die Walliser Alpen Die Walliser Alpen bilden die Grenze zwischen der Schweiz und Norditalien. Die Gebirgskette zeichnet sich durch imposante Gipfel aus, wie die 4634 m hohe Dufourspitze, und über 20 davon sind über 4000 m hoch. Abgesehen von zwei wichtigen und historisch seit mehr als tausend Jahren bekannten Pässen, dem Grossen St. Bernhard und dem Simplon, verbindet eine ganze Reihe von teilweise noch eisbedeckten Übergängen die beiden Regionen. Eine an der Schwei zer Universität Fribourg durchgeführte und auf der Analyse von räumlichen Daten aufbauende Studie des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) hat fast 120 Pässe zwischen dem Rhonetal und Norditalien identifiziert. Davon haben 36 bedeutendes archäologisches Potenzial wie beispielsweise permanentes Eis, stabile Geomorphologie oder Permafrost. Mehrere Pässe finden sich auch in historischen Texten. Die ältesten Quellen stammen aus dem 13/14. Jh., die meisten setzen ab dem 16. Jh. ein. Darin wird von Menschen und sogar Maultierkarawanen berichtet, die Teile von Gletschern oder Eisfelder überqueren.
Der Theodulpass – Weg von Wein und Weihegaben Dieser alpine Übergang in der Nähe des Matterhorns ist heute in einer Stunde Fußmarsch auf dem Eis des Oberen Theodulgletschers erreichbar. Der Theodulpass wird seit dem 16. Jh. in schriftlichen Quellen erwähnt, der Weg ist außerdem auf einer topografischen Karte von 1545 eingezeichnet. Über den Pass wurden Salz und Wein transportiert, mitunter auch Nutzvieh. Vermutlich im 16. Jh. errichtete man auf dem Pass eine Befestigung, deren Ruinen auf Stichen aus dem 19. Jh. noch auftauchen. 1854 fand Thomas Woodbine Hinchliff, Gründungsmitglied des British Alpine Clubs, menschliche Überreste, Schuhe und Maultierknochen in der Nähe des Passes. 1885 wurden ähnliche Funde am Südhang des Passes, also auf italienischem Gebiet, beobachtet. 1896 hörte der berühmte Alpinist Edward Whymper, Erstbesteiger des Matterhorns, vom Fund eines Depots mit 54 römischen Münzen auf dem Pass. Er kaufte der Küchenmagd Josephine Pélissier die Münzen für 60 Franken ab, damals eine bedeutende Summe. Die älteste Münze – ein republikanischer Quadrans – stammt aus
FUND
Die ersten Kristallsucher Die ältesten vom Eis freigegebenen Objekte aus organischem Material sind zwei Geweihstangen von Hirsch und Reh sowie einige Arvenholzstücke von der Unteren Stremlücke, einem in 2830 m Höhe gelegenen Übergang zwischen dem Maderanertal im Kanton Uri und dem Vorderrheintal in Graubünden. Sie blieben vor rund 8000 Jahren in einer Bergkristallkluft zusammen mit Tausenden Kristallscherben liegen. Das Eis des Brunnifirns überdeckte sie und erst 2013 kamen sie wieder ans Tageslicht. Dank der Geistesgegenwart eines einheimischen Strahlers wurden die Funde geborgen und ihre Bedeutung erkannt. Es ist denkbar, dass die Geweihstangen eine ähnliche Funktion hatten wie die bis heute für die Kristallsucher wichtigen Strahlerstöcke. Damit lassen sich Kristalle aus dem Muttergestein heraushebeln. Unter den Tausenden Bergkristallscherben dieser Fundstelle haben erste Untersuchungen auch typologisch datierbare Werkzeuge identifiziert. Sie belegen neben der 14C- datierten Nutzung um 6000 v. Chr. auch, dass bereits 1000 bis 1500 Jahre zuvor Menschen die Kluft ausbeuteten.
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Mittelsteinzeitliche Bergkristallwerkzeuge von der Abbaustelle nahe der Unteren Stremlücke (Fuorcla da Strem Sut) an der Grenze zwischen den Kantonen Uri und Graubünden.
dem 2. Jh. v. Chr., die jüngste – eine Münze des Theodosius Magnus – vom Ende des Römischen Reiches um 379 bis 395 n. Chr. Funde von Münzen auf Pässen werden als Weihegaben interpretiert. Der Gottheit des Passes gewidmet, sollten sie vor den Gefahren einer Überquerung des Hochgebirges schützen. Die spektakulärste Entdeckung, ein menschlicher Körper samt Ausrüstung am Rand des Gletschers bei der Gandegg, wurde 2 km unterhalb des Passes gemacht. Zwischen 1984 und 1990 sammelte Annemarie Julen-Lehner, Skilehrerin aus Zermatt, jeden Herbst gemeinsam mit ihrem Bruder, dem Geologen Peter Lehner, Skelettreste und zahlreiche Gegenstände zusammen: Waffen, Schuhe, Werkzeuge, Kleider und Münzen aus der Zeit um 1600. Noch heute schmelzen an dieser Stelle immer wieder Tierknochen aus dem Eis frei. Die Funde wurden lange als Überreste eines Schweizer Söldners interpretiert, der auf dem Rückweg von einem Feldzug in Italien in eine Gletscherspalte gefallen war. Eine detaillierte Analyse der
Der Theodulpass – Weg von Wein und Weihegaben
e leganten Kleidung und insbesondere der Waffen verrät aber einen jungen Edelmann, wahrscheinlich einen Kaufmann. Prospektionen zu Beginn des 21. Jh. führten zum Fund einer ganzen Anzahl Maultier knochen und eines Bauchgurts (oder Hintergeschirrs), die im Zusammenhang mit dem jungen Mann stehen könnten. Den kuriosesten Fund am Theodulpass machte jedoch Moritz Kronig, ein Mitarbeiter der Zermatt Bergbahnen AG. Auf der 3440 m hohen Testa Grigia stieß er auf einen praktisch neuen Holzgriff und nahm ihn mit nach Hause. Nachdem das Objekt an das Geschichtsmuseum Wallis gelangt war, stellte sich heraus, dass es sich um einen Sichelgriff aus Ahorn handelt, der gemäß 14C-Datierungen im 4. bis 2. Jh. v. Chr. geschnitzt worden war. Was hatte ein solches Gerät auf dieser Höhe zu suchen? Sein Fundort lag nahe dem Col d’Aventine (Passo di Ventina Nord), der das Wallis mit dem Aostatal verbindet – vielleicht ist es eine Weihegabe?
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Ausrüstung und Skelett reste des »Söldners« vom Theodulpass, der Anfang des 17. Jh. starb. Pistole, Dolch und Schwert sind weniger militärische Gebrauchswaffen eines Söldners als Prestige objekte.
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Oben: Der Col d’Aventine (Passo di Ventina nord) oberhalb von Zermatt an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien. Blick vom Pass Richtung Italien. Unten: Sichelgriff aus der Latènezeit, 4. bis 2. Jh. v. Chr., der im Herbst 2011 in der Nähe des Col d’Aventine gefunden wurde. Der ergonomische Griff wurde aus einer Stange Ahornholz geschnitzt.
Holz und Hilfstruppen auf der Spur Um auf den in 3068 m Höhe gelegenen Col Collon zu gelangen, muss heute weniger als 1 km Gletscher überquert werden. Der Pass selbst ist seit Ende des 19. Jh. eisfrei. Seit dem 16. Jh. ist der Übergang schriftlich belegt, aber die Bewohner des Tals nutzten ihn bereits viel länger. Das Staatsarchiv des Kantons Wallis besitzt ein Pergament aus dem Jahr 1369, das die engen Beziehungen zwischen den Menschen beiderseits des Passes bezeugt. Auf einer Karte von Johannes Stumpf aus dem Jahr 1548 wird der Weg zum Pass als »ein langes Schneegebiet genannt der grosse Gletscher in das Augsttal (Valle d’Aosta)« beschrieben. Erste Holzobjekte wurden hier 2012 bei Prospektionen im Rahmen eines Forschungsprojekts gefunden, dazu gehören Holzstäbe und -stangen sowie ein Lederschuh. Die derzeit ältesten datierten Objekte sind angespitzte Stangen, die aus der frühen Eisenzeit stammen, der Schuh datiert um 1800. Die spektakulärste Entdeckung wurde aber auch hier nicht von Archäologen gemacht, sondern vom italienischen Bergsteiger Mauro Ferrini. Im August 1999 fand er eine seltsame Statuette aus Lärchenholz, die er mit nach Hause nahm und an seine Wohnzimmerwand hängte. Über einige Umwege erreichte die Geschichte Pierre-Yves Nicod, Kurator am Geschichtsmuseum Wallis, der eine Ausstellung über Gletscherarchäologie vorbereitete. Das Stück wurde im März 2018 in die
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Schweiz rückgeführt und mit einer 14C-Datierung ins 2. bis 1. Jh. v. Chr. datiert. Eine typologische Analyse führte zur Einschätzung, dass es sich nicht um eine Statuette, sondern um einen Gebrauchsgegenstand handelt, aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Spinnrocken. Auch hier stellt sich die Frage, ob das Objekt als Weihegabe niedergelegt wurde. Darüber hinaus haben archäologische Prospektionen auf weiteren Pässen der Walliser Alpen zu Funden von Hölzern aus prähistorischer, römischer oder mittelalterlicher Zeit geführt, manchmal zu bemerkenswerten Objekten. Auf dem 2990 m hohen Col d’Annibal, unweit des heute zur Straße ausgebauten Großen St. Bernhardpasses, wurden zahlreiche Stangen mit einer grob geschnitzten Spitze aus dem Geröll entlang des Proz-Gletschers geborgen. Auf dem Pass selbst sind noch die Reste einer Trockensteinbefestigung erkennbar. Eine laufende Untersuchung, die sich vor allem auf antike Texte stützt, kommt zu dem Schluss, dass es eine militärische Anlage ist, die im 1. Jh. v. Chr. von Truppen römischer Soldaten oder Hilfstruppen errichtet wurde, um den Zugang zum Aostatal zu kontrollieren. Die 14 C-Datierungen der Hölzer passen dazu, sie streuen vom 1. Jh. v. Chr. bis ins 1. Jh. n. Chr. Eine Suche nach möglichen Alpenübergängen mithilfe von Geografischen Informations-Systemen (GIS) wies den schwer zugänglichen 3017 m hohen Col de Cleuson als Gebiet mit hohem archäologischem Potenzial aus. Tatsächlich fanden sich auf dem Pass einige stark vom Eis
Gletscherfunde in der Schweiz
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Spinnrocken oder Kult objekt? Die Lärchenholz figur aus dem 2. bis 1. Jh. v. Chr. vom Col Collon wirft bis heute Fragen auf.
Prospektion auf dem Col Collon im Herbst 2017. Im Vordergrund Hölzer, die ins 7. bis 5. Jh. v. Chr. datiert wurden. Vom Pass stammen außerdem mehrere Dutzend weitere Hölzer und ein um 1800 datierter Lederschuh.
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deformierte Hölzer, deren 14C-Daten in die Spätbronzezeit weisen. Eine weitere Analyse datierte einen Gertel in das 11. bis 13. Jh. All diese Funde belegen das reiche (gletscher-)archäologische Potenzial der Walliser Alpen.
Vom Schweizer Mittelland in den Süden Die Berner und Waadtländer Alpen trennen das Schweizer Mittelland mit seinen Seen und Hügeln vom inneralpinen Tal der Rhone, dem Wallis und seinen Übergängen nach Norditalien. Mit Ausnahme des westlichen Aarmassivs mit seinen Gipfeln über 4000 m hat die Gebirgskette eine weniger hochalpine Natur als die Walliser Alpen. Für die Gletscherarchäo-
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logie von besonderem Interesse sind vergletscherte Übergänge über etwa 2600 m, da sich nur im Eis organische Objekte erhalten. Dauerhaftere Metall objekte belegen aber auch die Nutzung tiefer gelegener Pässe wie Grimsel, Sanetsch oder Alte Gemmi. Der in 2268 m Höhe liegende Gemmipass wurde ab dem 16. Jh. erschlossen und ist auf seiner Südseite so steil und ausgesetzt, dass in der frühen Neuzeit im Winter der zwar höhere, aber im Schnee einfacher begehbare Lötschenpass als Übergang vom Kandertal ins Wallis diente. Selbst Vieh trieb man im Winter über den Lötschenpass. Dass dies mitunter auch fatale Folgen haben konnte, bezeugt ein ins 17. Jh. datiertes Kuhskelett vom Pass. Andere Übergänge wurden im Verlauf der Kleinen Eiszeit schwer passierbar und gerieten in Vergessenheit.
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Heute wird der Chilchli gletscher auf der Nordseite des Schnidejochs (rechts der Bildmitte am Horizont) umgangen. In Zeiten von Gletschervorstößen musste hier aber eine Spaltenzone überwunden werden.
Gletscherfunde in der Schweiz
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Geflecht aus Lindenbast aus dem 5. Jt. v. Chr., das 2019 auf dem Schnidejoch freischmolz. Es wurde als Block samt Steinen geborgen und im Konservierungslabor sorgfältig ausgepackt. Möglicherweise handelt es sich um einen Beutel.
Einzigartiges Ensemble vom Lötschenpass
Zu diesen vergessenen Pässen gehört das 2755 m hohe Schnidejoch, welches das Simmental im Berner Oberland mit dem Wallis verbindet, eine Passage, die in historischer Zeit vom Rawylpass abgelöst wurde. In Zeiten von Gletschervorstößen ist das Schnidejoch auf der Nordseite nur mit Schwierigkeit erreichbar, da eine Spaltenzone des Chilchligletschers überwunden werden muss. Erst 2003 geriet die mehrere Tausende Jahre zurückreichende Geschichte des Schnidejochs wieder in das Blickfeld von Archäologen und Historikern. Der Wanderin Ursula Leuenberger fiel bei einer Bergtour auf einem Eisfeld unmittelbar nördlich der Passhöhe ein merkwürdiges Objekt aus Birkenrinde auf. Sie meldete ihren Fund via das Bernische Historische Museum der zuständigen Fachstelle, dem Archäologischen Dienst des Kantons Bern, und löste damit regelmäßige Feldeinsätze aus. Das von ihr geborgene Objekt stellte sich als Haube eines Bogenfutterals aus der Jungsteinzeit heraus. Zwischen 2004 und 2007 wurden mehrere Hundert Objekte aus zwei Eisfeldern wenig unterhalb der Passhöhe geborgen, darunter fanden sich auch der Rest des Bogenfutterals und weitere Gegenstände einer Ausrüstung aus der Zeit um 2800 v. Chr.: ein Pfeilbogen aus Eibenholz, die vermutlich dazugehörige Bogensehne, Pfeilschäfte und -spitzen sowie ein Beinling aus Ziegenleder und ein Fellschuh. Ältere Funde, wie eine Schale aus Ulmenholz und Pfeile, belegen aber eine Nutzung bereits im 5. Jt. v. Chr. Reste von bronzezeitlichen Lederschuhen, eine Bronzenadel aus der Frühbronzezeit, römische Textilreste und Schuhnägel sowie Teile von Schuhen zeigen, dass der Pass noch bis etwa ins 10./11. Jh. begangen wurde. Am Schnidejoch wurden so 6000 Jahre Verkehrsgeschichte im Eis konserviert. Während das erste Eisfeld bereits 2006 verschwunden war, erhielt sich das untere und größere Eisfeld relativ stabil bis 2019, als die zwei vorangegangenen Hitzesommer zu seinem Abschmelzen führten. Innerhalb von drei Wochen verschwand über 1 m jahrtausendealtes Eis, das mehrere Dutzend Objekte aus Holz, Leder und Bast freigab. Sie stammen alle aus dem 5. Jt. v. Chr. Unter den Neufunden sticht ein rund 20 mal 20 cm messendes Geflecht aus Lindenbast heraus. Seine Konservierung und wissenschaftliche Untersuchung hat gerade begonnen, aber erste Hinweise lassen einen fast vollständig erhaltenen Beutel vermuten.
Einzigartiges Ensemble vom Lötschenpass In den 1930er- und 1940er-Jahren übernachtete der Maler Albert Nyfeler wochenlang auf dem Lötschenpass unter freiem Himmel, um dort zu malen. Dabei stieß er auf mehrere Pfeilbögen, die er mitnahm und
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FUND
Eine junge Frau auf dem Porchabella-Gletscher In den 1980er-Jahren, als in Zermatt der sogenannte Söldner vom Theodul gefunden wurde, schmolzen auch im Kanton Grau bünden Überreste einer Person aus einem Gletscher. Knochen einer Frau und Teile ihrer Ausrüstung kamen über mehrere Jahre auf dem Porchabella-Gletscher in einer Höhe um 2680 m zum Vorschein. Eine interdiszi plinäre Untersuchung lieferte 2013 neue Erkenntnisse. Die Frau war 20 bis 25 Jahre alt und 1,57 m groß, als sie um 1690 verstarb. Sie trug einen rotvioletten Herrenwollmantel, einen Filzhut und zwei abgenutzte, unterschiedlich große Schuhe. Zusammen mit ihrer Ausrüstung – Schale, Löffel, Holzkamm sowie Rosenkranz – entsteht der Eindruck einer sozial niedrig gestellten Person, die am Höhepunkt der Kleinen Eiszeit den Gletscher überquerte und wohl verunglückte.
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Zwischen 1988 und 1992 wurden am Fuß des Piz Kesch auf dem Porchabella-Gletscher Skelettreste und Ausrüstungsgegenstände einer Frau gefunden, die Ende des 17. Jh. auf dem Gletscher verunglückte.
in seinem Atelier aufbewahrte. Er war vom hohen Alter seiner Funde überzeugt, aber erst 1992 ließ der aus dem Lötschental stammende Ethnologe Werner Bellwald zwei der Bögen mit der 14C-Methode datieren. Es stellte sich heraus, dass sie 3600 Jahre alt waren und somit aus der frühen Bronzezeit stammen. Im Jahr 2006 wurden – im Zusammenhang mit den Funden vom Schnidejoch – erste Prospektionen auf dem 2677 m hohen Lötschenpass durchgeführt. Aber wie so oft war es ein Nicht-Archäologe, der Hüttenwart der Lötschenpasshütte Beat Dietrich, der eine besondere Entdeckung machte. 2011 schmolz ein Firnfeld nördlich der Passhöhe vollständig ab und Lederreste, bearbeitete Hölzer sowie ein rundes Objekt aus zwei vernähten Birkenrindestücken fielen ihm ins Auge. Auch 2012 verschwand dieses Firnfeld und gab auf einer knapp 4 m2 großen Fläche weitere Teile einer frühbronzezeitlichen Ausrüstung frei, die ein einzigartiges Ensemble bildet: mindestens zwei Pfeilbögen aus Ulmenholz, Pfeilfragmente, ein bearbeitetes Kuhhorn, Leder- und Fellreste, ein Knopf aus Horn und eine kreisrunde Spanschachtel von 20 cm Durchmesser. Der Boden der Schachtel besteht aus einem Arvenbrett, auf welches das gebogene Wandbrett aus Weidenholz mit Lärchenzweigen aufgenäht war. In der Schachtel haben sich Reste des Reiseproviants erhalten: grob gemahlenes Getreidemehl. Scheinbar ließ hier jemand zwischen 2000 und 1700 v. Chr. einen Teil der Ausrüstung liegen. Ob diese Person auf der Jagd war, mit Tieren zu Weiden oder
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um Handel zu treiben unterwegs war, bleibt unbekannt. Archäologische Objekte aus Prospektionen im weitläufigen Passgebiet zeugen von einer anhaltenden Nutzung des Übergangs seit der frühen Bronzezeit. Oft werden sie an der Terrainoberfläche aufgelesen, und die Bestimmung ihres Alters ist in der Regel nur durch eine 14C-Analyse möglich. Ein einfaches, aber gekonnt gearbeitetes Holzgefäß aus der späteren Eisenzeit zeigt auf der Innenseite Verkohlungsspuren. Vielleicht wurde es für den Transport von Glut für das Lagerfeuer verwendet. Zwei Münzen und eine skiförmige Latte belegen, dass in römischer Zeit Menschen den Pass überquerten. Aus dem Mittelalter stammen Reste von mehreren Schuhen und verschiedene Dauben- und Bodenbretter von Eimern oder vielleicht von Fässern.
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Rechts: Bei Prospektionen im weitläufigen Gebiet des Lötschenpasses und entlang des Lötschengletschers kommen immer wieder Objekte unterschiedlicher Zeitstellungen zum Vorschein. Zwischen großen Stein blöcken lagen 2012 auf dem Lötschenpass Reste einer frühbronzezeitlichen Ausrüstung. Unter Frag menten von mindestens zwei Ulmenbögen zeichnen sich der Boden einer Spanschachtel mit aufgenähten Wänden und Lederresten ab.
Gletscherfunde in der Schweiz
Von Ost nach West über den Col de la Forcle Der 2547 m hohe Col de la Forcle (oder Col de Forcla) ist im Gegensatz zum Schnidejoch und Lötschenpass kein direkter Übergang zwischen Norden und Süden. Zusammen mit dem 2037 m hohen Pas de Cheville bildet er eine Ost-West-Verbindung zwischen den westlichen Alpen des Kantons Waadt und dem Unterwallis. Vermutlich war der direkte Zugang vom Rhonetal zur Derborence und dem Pas de Cheville durch die steile Schlucht der Lizerne zu gefährlich. Auf der Nordseite des Col de la Forcle liegt heute Toteis des verschwindenden Forcle-Gletschers. Der Fotograf und Mineraloge Stefan Ansermet fand bei einer geologischen Untersuchung 2012 ein Stück Holz. Ihm war sofort klar, dass ein Holz auf dieser Höhe und aus dem schmelzenden Eis ein beträcht liches Alter haben muss. Von 2013 bis 2020 wurden bei Prospektionsarbeiten über hundert Holzfragmente geborgen, viele sind aus Weichhölzern wie Fichte/Tanne oder Lärche gearbeitet. Die laufenden Untersuchungen zeigen, dass es sich ursprünglich um rund 1,2 m lange Stangen mit sorgfältig geschnitzten Spitzen und Enden handelt.
Von Ost nach West über den Col de la Forcle
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Spitze hölzerne Markierungsstangen aus dem 1. bis 3. Jh. n. Chr. vom Col de la Forcle in den Waadtländer Alpen. Sie sind gebrochen und wurden h angabwärts bewegt, als das Eis des Gletschers schmolz.
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Erste 14C-Analysen datieren sie in das 1. bis 3. Jh. n. Chr. Die Fragmente waren über den Hang verteilt. Dies dürfte auf langsame Fließbewegungen zurückzu führen sein, die mit dem Abschmelzen des Gletschers im Zusammenhang stehen. Die Funktion der Stangen ist noch unklar: Es könnten aber Markierungen sein, die den Weg zum Pass oder die Passhöhe selbst anzeigten.
Flugzeuge, Alpinisten, Vermisste
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Propeller einer Dakota DC-3 der US-Luftwaffe, die 1946 auf dem Gauli gletscher verunglückte.
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Die Schweizer Gletscher geben aber nicht nur Tausende und Hunderte Jahre alte Spuren von Menschenleben und Schicksalen frei. In den Berner Alpen flog im November 1946 eine Dakota DC-3 der US-Luftwaffe in 3350 m Höhe in den vergletscherten Südosthang des Berglistocks. Die Besatzung und die Passagiere wurden gerettet, aber die Maschine versank im Gauligletscher. Reste von abgeworfenen Hilfsgütern und Teile der Maschine schmelzen seit 2009 frei. Internationales Aufsehen erregte der Fund von zwei Toten im Juli 2017 auf dem Tsanfleurongletscher oberhalb von Les Diablerets im Kanton Wallis. Es handelte sich um das seit dem 15. August 1942 als vermisst geltende Ehepaar Dumoulin, das von Chandolin bei Savièse aus zu Fuß aufgebrochen war, um Vieh auf ihrer Alp im Kanton Bern zu füttern. Der Tsanfleuron-Gletscher war dafür eine viel benutzte Fußverbindung. Die Vermissten, Eltern von sieben Kindern,
fielen in eine Gletscherspalte und wurden über Monate und Jahre gesucht, das Eis gab sie aber erst 75 Jahre später wieder frei. Das gleiche Schicksal ereilte im August 1970 zwei junge japanische Alpinisten, die das Matterhorn besteigen wollten. Im September 2014 wurden ihre Skelettreste in 2800 m Höhe auf dem Furgggletscher am Fuß des Matterhorns gefunden. Ein Jahr später konnten die beiden Toten durch einen genetischen Abgleich identifiziert werden. 2012 hatte der Große Aletschgletscher nach 86 Jahren Skelettteile und Ausrüstung freigegeben, die drei Brüdern aus dem Lötschental zugeordnet werden. Sie galten seit 1926 als verschollen. Es ist damit zu rechnen, dass in den Gletschern der Schweiz immer noch mehrere Hundert Personen eingeschlossen sind.
Wettlauf mit der Zeit Schmelzende Gletscher in den Alpen sind das deutlichste Zeichen für den Klimawandel, den wir gerade erleben. Man kann davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren auch vermehrt Gletschertote zum Vorschein kommen werden. In Interviews werden Gletscherarchäologen regelmäßig gefragt, ob sie sich über den Klimawandel freuen. Tatsächlich brachte das Schmelzen von Gletschereis die Eismumie Ötzi oder die Funde vom Schnidejoch zum Vorschein und ließ damit auch eine neue archäologische Sub-Disziplin entstehen. Obwohl die Gletscherarchäologie also vordergründig vom Klimawandel profitiert, besteht kein Anlass zur Freude. Welche negativen Folgen der Verlust der Gletscher für den Tourismus, in Bezug auf Naturgefahren und die Wassernutzung mit sich bringen wird, lässt sich im Moment nur erahnen. Die große Ausdehnung der eisbedeckten Gebirgszonen und ihre oft schwierigen Zugänge machen die Erhaltung des kulturellen Erbes, das im Eis konserviert ist, für die zuständigen Institutionen fast unmöglich. In den Alpen sind im Sommer zahlreiche Alpinistinnen und Wanderer unterwegs, die meist zufällige Mithilfe von Laien ist deshalb unverzichtbar. Neue Forschungsprojekte sollten initiiert werden, um die gezielte Suche zu unterstützen. Das Zeitfenster, in dem archäologische Funde noch zu erwarten sind, hat sich zwar gerade erst geöffnet, angesichts der rasch schmelzenden Gletscher dürfte es aber auch nur noch kurze Zeit offen sein. Aus dem Eis schmelzende Funde sind der Witterung ausgesetzt und haben nur geringe Chancen zu überdauern. Gletscherarchäologie ist also auch ein Wettlauf gegen die Zeit.
Gletscherfunde in der Schweiz
Seit der Bronzezeit
Gebirgspässe in Savoyen Eric Thirault und Valentin Lafont
Im Jahr 2003 wurde auf dem Gletscher der in 3200 m Höhe gelegenen Passage du Colerin bei Bessans in Savoyen eine einmalige Entdeckung gemacht: Ein Bergsteiger fand einen in über 80 cm Länge erhaltenen Holzpfahl. Das eine Ende ist geschnitzt und stellt eine männliche bekleidete Figur dar, bei der es sich um einen Mönch, einen mittelalterlichen Heiligen oder auch um einen Gallier handeln könnte. Es ist durchaus möglich, dass das Objekt auf der Passhöhe aufgestellt war wie eine Andachtsstätte. Allerdings blieb diese erstmals 2004 publizierte Entdeckung in Wissenschaftskreisen zunächst völlig unbeachtet.
2007 erlaubte ein erster Aufstieg auf den Colerin in 3200 m Höhe die Feststellung, dass unterhalb des Passes zahlreiche Holzobjekte die Gletscheroberfläche durchstießen oder durch Geröll freigelegt worden waren. Seitdem haben wir fünf Prospektionskampag nen auf dem Colerin unternommen und sie seit 2018 schrittweise auf alle Pässe des Avérole-Tals ausgedehnt. Diese Forschungen wurden in Abstimmung mit der Gemeinde Bessans und dem Service régional de l’Archéologie des französischen Kulturministeriums durchgeführt; finanziert wurden sie vom Departementsrat Savoyens und vom Kulturministerium.
Uia di Ciamarella Bessans
FRANKREICH
3200 m
Passage du Colerin
Martassina
Av
é r o l e - Ta l
Balme
Abri und Ebene von La Teha
Glacier de Charbonnel
Col d’Arnès 3012 m
Col d’Arbéron 3022 m
Col de l’Ouille Mouta
3431 m
Col Martelli
I TA L I E N
Lago della Rossa
3269 m
Glacier du Grand Fond Col de la Valette 3212 m
3072 m
Col de l’Arcelle
Col de l’Autaret
3327 m
Usseglio Perinera
Rocciamelone
Bern SCHWEIZ FRANKREICH
Novalesa
Po ITALIEN
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Gebirgspässe in Savoyen O Etsch RT Susa LE RGR UPP E
Bussoleno
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Karte der archäologischen Funde entlang des AvéroleTals bei Bessans in Savoyen.
Bruzolo
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Borgone Susa
Die gefrorenen Gebirgsübergänge des Avérole-Tals Zwei berühmte Pässe – im Norden der Kleine St. Bernhard (der die Tarentaise und das Aostatal auf 2190 m Höhe verbindet) und im Südwesten der Clapier/Mont-Cenis (zwischen der Maurienne und dem Tal von Susa, auf 2480 bzw. 2085 m) – erlauben den Übergang über die Gebirgskämme, die eine Wasser-
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scheide zwischen den Einzugsgebieten der Rhône und des Po bilden, grob gesprochen also zwischen Savoyen und dem Piemont in Frankreich sowie dem Aosta-Tal auf italienischer Seite. Diese beiden Passagen wurden mindestens seit der Antike häufig besucht und waren seit dem Mittelalter von großer wirtschaftlicher und politischer Bedeutung. Zwischen diesen beiden großen Übergängen schieben sich mehrere kurze Täler einige Kilometer
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Gletscher der Passage du Colerin, 14. September 2007. Am Übergang zwischen Geröll von der Passhöhe und dem Gletscher sind Hölzer sichtbar.
Gebirgspässe in Savoyen
tief ins Herz des Gebirges vor, bis sie an die hohe Barriere der Hauptmassive stoßen. Auf italienischer Seite handelt es sich um die Seitentäler des Val Grande di Lanzo, auf französischer um jene Seitentäler, die vom Tal der Isère (in der Tarentaise) und des Arc (in der Maurienne) abgehen. Für den letztgenannten Fluss bildet das Avérole-Tal einen wichtigen Zugang zum Hauptkamm, der an mehreren Stellen über Pässe in 3000 bis 3400 m Höhe querbar ist, die während der Kleinen Eiszeit alle vergletschert waren. Spätestens ab dem 14. Jh. war es der Ort eines Austauschs zwischen den Nachbartälern, deren Einwohner zahlreiche Gemeinsamkeiten hatten: Waren und Vieh aller Art überquerten den Berg. Zweimal, nämlich 1535 und 1578, überschritt auch das Turiner Grabtuch einen dieser Pässe, um unbemerkt zwischen Chambéry und Turin zu wechseln. Die archäologischen Entdeckungen bestätigen die Realität dieser Pässe und gestatten uns, zeitlich noch weiter zurück zublicken.
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Mönch, Heiliger oder Gallier? Die 2003 unterhalb der Passage du Colerin gefundene Statue ist ein einmaliger Fund aus der Region. Wen oder was sie genau darstellt, bleibt ungewiss.
Frühgeschichtliche Pässe finden – eine Herausforderung
Frühgeschichtliche Pässe finden – eine Herausforderung Bisher sind im Avérole-Tal acht vergletscherte Pässe untersucht worden, aber nur drei von ihnen haben archäologische Spuren geliefert, die weiter zurückreichen als in das 20. Jh.: die Passage du Colerin , der Col d’Arnès und der Col de l’Autaret. Jeder dieser Pässe liegt in einer anderen Umgebung. Am 3200 m hohen Colerin bildet eine riesige vergletscherte Senke unterhalb der Passhöhe ein natürliches Depot und die Funde verteilen sich über rund 15 ha; bei Arnès trifft das Geröll, das vom 3012 m hohen Pass herabrollt, direkt auf einen steilen Gletscher, der die Funde talwärts zieht. Am 3072 m hohen Autaret haben sich in einer kleinen Talmulde unterhalb des Passes und in sehr jungen Moränen aus dem 20. Jh. auf gut 4 ha Funde erhalten. Mittlerweile sind an diesen drei Pässen fast 600 Gegenstände registriert worden. Vor allem handelt es sich dabei um Holz: Äste, Zweige, Reisig (dessen Transport in Bündeln damit belegt ist), Holz mit oder ohne Rinde, mit abgebrochenen oder durch Äxte gekappten Enden. Die Größe schwankt stark; das größte bisher aufgelesene Stück misst 1,5 m. Einige Hölzer sind bearbeitet, andere stellen Werkzeugfragmente oder Teile von Gerätschaften dar: Werkzeug stiele, Henkel, Stücke von Packsätteln, von Tragekörben usw. Hinzu kommen einige Lederobjekte, eine Handvoll jungsteinzeitlicher oder frühgeschichtlicher Scherben, eine noch halb im Eis steckende Gämse, Ziegenhörner, Haare und Fellfragmente. Einige dieser Objekte lassen sich typologisch datieren; so können am Autaret mehrere Keramikscherben grob in die Jungsteinzeit bzw. in die Frühgeschichte eingeordnet werden, allerdings ohne nähere Eingrenzung. Bei den Hölzern muss hingegen auf die 14 C-Datierung zurückgegriffen werden. Bisher verfügen wir, abgesehen von Messergebnissen, die nach 1950 erfolgten, über 20 14C-Daten für den Colerin und vier für den Autaret. Gesichert ist damit die Nutzung des Colerin seit der frühesten Eisenzeit um 800 v. Chr.; der älteste Befund des Übergangs am Autaret datiert zwischen 1400 und 1200 v. Chr, was der mittleren Bronze- bis frühen Spätbronzezeit entspricht. Es ist zu bedenken, dass es sich hierbei um die Offenlegung eines Minimums an Passübergängen handelt, da es bei der Mehrzahl der Reisen nicht zu Unfällen kam, weshalb sie keine Spuren hinterließen. Einige 14C-Daten, die an verschiedenen Objekten erstellt wurden, sind identisch. Dies ermöglicht es, die Hypothese zu formulieren, dass mindestens ein Teil dieser Gegenstände aus punktuellen Ereignissen stammt, zu denen es während der Passüberquerung kam. Am Colerin sind einstweilen drei Ereignisse auszumachen: im 2. und 1. Jh. v. Chr., im 11. und 12. sowie im 14. Jh. n. Chr. Die Art dieser Ereignisse bleibt
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Die Passage du Colerin (der schmale Einschnitt ganz links im Hintergrund), Blick von der Gletschermoräne auf französischer Seite. Im unteren Teil hat sich ein Schmelzwassersee entwickelt; die archäologischen Funde verteilen sich über die Umgebung entlang der Achse des Passes und des darunter liegenden Gerölls.
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Der Col d’Arnès von Westen (französische Seite). Beachtlich sind die Ausmaße des steil abfallenden Gletschers. Der Pass verläuft über die Linie des Felsrückens im Hintergrund links.
Gebirgspässe in Savoyen
der Spekulation überlassen – ob freiwillige Deponierung (etwa durch Entlastung von Packtieren), Unfälle oder anderes.
Klimaerwärmung, Archäologie und Überlieferung Leicht ist das archäologische Arbeiten auf hohen Pässen nie: In Bessans bedeutet der Transport von Arbeitsmaterial zwischen acht und zehn Stunden Fußweg von und zu den Fahrzeugen. Der Bau von Basislagern in Höhenlagen reduziert die täglichen Arbeitszeiten und die Traglasten beträchtlich. Eine wichtige Rolle spielt der Zufallsfaktor Wetter, auch wenn die Prospektionen im August und September stattfinden. Und die Arbeit vor Ort ist strapaziös: steile Hänge, starke Winde, Regen und Graupel, Schneedecken, deren Ausmaß von einem Jahr zum anderen unvorhersehbar ist. Also sind starke wissenschaftliche Motive erforderlich, um in solchen Höhen zu arbeiten – an Prospektionen, topografischen Aufnahmen, geomorphologischen Studien, Entnahme und Konservierung dieser meist wenig spektakulären Überreste. Mit Ausnahme der – durchaus realistischen – Aussicht auf außergewöhnliche Entdeckungen, wie der Funde vom Tisenjoch und Schnidejoch, die aber eine regelmäßige Überwachung erfordern, liegt der Gewinn im Sichern von Informationen, die sonst in kurzer Zeit verschwunden sein werden. In der Tat sind die Glet-
Klimaerwärmung, Archäologie und Überlieferung
scher, die als regelrechte Tiefkühltruhen wirken, im Schmelzen begriffen, und nichts lässt vermuten, dass dieser Prozess so schnell zum Stillstand kommt. Damit werden diese Pässe spätestens in ein paar Jahrzehnten völlig eis- und schneefrei sein, womit die archäologischen Überreste zum Austrocknen verdammt sind. Aber von welchen Informationen ist hier die Rede? Wir wussten ja schon vorher, dass Waren, Ideen und Menschen seit dem nacheiszeitlichen Rückzug der Gletscher die Pässe überquert haben. Was lernen wir dann Neues aus den Funden auf den Pässen? Sie erlauben uns, menschliche Wanderbewegungen mit Leben zu erfüllen, ihre Wege, bevorzugten Pässe und sogar die Umstände der Querung genau zu dokumentieren. Und manchmal können wir den Hauptpersonen sogar in die Augen sehen.
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In den Moränen unterhalb des Col de l’Autaret liegen Gegenstände verstreut. Hier eine hölzerne Zahnstange (Lager eines Waagebalkens?), 14C-Datum zwischen 770 und 980 n. Chr.
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Rentierjäger, Wikinger & Co.
Eisarchäologie in Norwegen und Schweden Lars Pilø und Espen Finstad Skandinavien besitzt sehr vielfältige Landschaften, die von fruchtbaren Ackerböden bis hin zu zerklüfteten Gebirgsgegenden reichen. Insbesondere im Süden Zentralnorwegens und in Teilen Nordschwedens ist die Landschaft alpin und weist hohe Gipfel, Gletscher und tiefe Täler auf. In diesen hohen Bergen streiften schon vor Jahrtausenden Rentiere umher und wurden dort von Menschen gejagt – besonders im Sommer, wenn sich die Rentiere auf Gletschern und Eisflecken sammelten, um den lästigen Dasselfliegen auszuweichen. Außerdem wurden die norwegischen Berge intensiv zur Alpwirtschaft und sommerlichen Beweidung genutzt. Dazu führten Transportwege durch die Berge. In manchen Fällen wurde das Eis als Fernstraße genutzt, die im Fall einer liegenden Schneedecke leicht begehbar war, obwohl dort Gefahr lauerte. Das Hochgebirge war also alles andere als eine entlegene Landschaft, keine menschenleere Einöde, sondern unterlag intensiver menschlicher Nutzung. Wie intensiv, das zeigte sich erst, als das Eis zu schmelzen begann.
Zuhause steckte ich den Schuh in die Tief kühltruhe. Am nächsten Tag rief ich den Provinzarchäologen Espen Finstad an, der bei mir vorbeikam und den Fund mitnahm. Inzwischen ist für den Schuh ein 14C-Alter von ca. 3400 Jahren bestimmt worden, also kommt er aus der Frühen Bronzezeit.«
Die Entdeckung des 3400 Jahre alten Schuhs wurde zum Startschuss für die Eisarchäologie in Norwegens Provinz Innlandet. Im selben Herbst gab das Eis noch viele weitere Funde frei, aber der Schuh war der älteste und interessanteste. Wie kein anderer Fund ließ er uns begreifen, dass sich in unserem Hochgebirge etwas ebenso Aufregendes wie Bestürzendes tat. Der Schuh war nicht der erste Fund, der in Skandinavien aus dem Eis geschmolzen war. Das erste
E U R O PÄ I S C H E S NORDMEER
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Karte Skandinaviens mit wichtigen Fundgebieten in den Provinzen Innlandet, Trøndelag, Møre og Romsdal, Vestland und in den Torneträsk-Bergen.
Torneträsk-Berge
Narvik
Der Startschuss
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AT L A N T I S C H E R OZEAN
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TRØNDELAG
Trondheim
ND
Östersund
MØRE OG ROMSDAL 1780 m
VESTLAND
Bergen
INNLANDET
NL A
Digervarden
SCHWEDEN OSTSEE
Lillehammer Oslo
Turku Uppsala
Stavanger Vännern
Stockholm
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FIN
»Ich sah etwas auf dem Boden liegen. Weil ich den Fundort bestimmen und ein Foto machen musste, machte ich Kamera und GPS-Gerät fertig. Nachdem ich den Gegenstand sehr vorsichtig hochgehoben und behutsam etwas Gletscherschluff entfernt hatte, erkannte ich, dass ich einen Schuh in der Hand hielt – keinen normalen Schuh, sondern einen, der unglaublich alt sein musste. Ich war mir sicher, dass ihn früher ein Rentierjäger mit Pfeil und Bogen getragen hatte.
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NORWEGEN
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Es war der 17. September 2006, ein weiterer heißer Tag in einem ungewöhnlich warmen Herbst. Das Gebirgseis in Norwegen schmolz rasch. Der Hobby archäologe Reidar Marstein aus Lom war auf einem seiner vielen Erkundungsgänge, die er in jenem Jahr zum schmelzenden Eis unternahm. Er hatte bereits einige Objekte gefunden, doch an diesem Tag machte er eine ganz besondere Entdeckung.
100
200 km
Eisarchäologie in Norwegen und Schweden
Artefakt aus dem Eis war ein Pfeil gewesen, der 1914 aus einem Eisfleck (ice patch) in der Gemeinde Oppdal der Provinz Trøndelag auftauchte. Dann führten zwei sehr warme Sommer in den 1930er-Jahren zum Freischmelzen vieler Objekte, vor allem Pfeile, aus den Eisflecken Zentralnorwegens.
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Der bislang älteste Schuhfund aus dem skandinavischen Eis: ein etwa 3400 Jahre alter Schuh aus Rohhaut.
Danach kühlte die Aufregung wieder ab. Gelegentlich gab es Meldungen, dass Gegenstände aus dem Eis kamen, besonders während der 1960er- und 1970er-Jahre in den Provinzen Innlandet und Trøndelag. Zu den Funden zählte ein vollständiger wikingerzeitlicher Speer, den man aus dem Lendbreen-Eisfleck in der Provinz Innlandet barg, einem Fundort, auf den wir noch zurückkommen werden. Auch Schweden verzeichnete damals die ersten Funde – zwei Pfeile, die aus dem Eis in den Torneträsk-Bergen in Nordschweden austraten. Über die skandinavische Archäologie hinaus waren diese Eisfunde allerdings nicht besonders bekannt. Wäre es anders gewesen, hätte Ötzi die Archäologen in den Alpen vielleicht nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen, als er 1991 freitaute.
Die Schmelze von 2006 – ein Schuss vor den Bug
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Vollständig erhaltener wikingerzeitlicher Speer aus dem LendbreenEisfleck.
Die Schmelze von 2006 – ein Schuss vor den Bug
Ab 2002 führte ein beschleunigtes Abschmelzen des Gebirgseises zu langsam steigenden Zahlen archäologischer Funde aus dem Eis in der Provinz Innlandet. Diese Situation veränderte sich 2006 drastisch, als ein langer warmer Sommer eine dramatische Schmelze in den Hochgebirgen Südnorwegens auslöste. Dadurch traten in diesem Jahr gleich Hunderte Gegen-
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Perfekt erhaltener Pfeil aus der Zeit zwischen 300 und 600 n. Chr., gefunden 2019 im Eis des norwegischen Jotunheimen-Gebirges.
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stände aus dem Eis hervor. Es war das Jahr, in dem uns Archäologen klar wurde, dass die Schmelze mit der globalen Erwärmung und dem Klimawandel zusammenhing. Nun konnte es nur noch schlimmer kommen, also mussten wir handeln. Es gab kein Zurück. Archäologen und lokale Hilfskräfte haben die Eisschmelze im norwegischen Hochgebirge seit 2006 verfolgt. Dabei wechseln die Ansätze je nach Provinz, abhängig von der Fundsituation und der Forschungsgeschichte. Bisher haben vier Provinzen in Süd- und Mittelnorwegen mehrere Fundorte gemeldet, an denen Gegenstände aus dem Eis kommen. Einige Funde gab es auch in Nordnorwegen und Nordschweden. Die meisten Eisfunde stammen aus der Provinz Innlandet, die als einzige auch seit 2011 ein permanent finanziertes Projekt zur Eisarchäologie unterhält. Das Glacier Archaeology Program (GAP) ist eine Kooperation zwischen der Provinzverwaltung von Innlandet und dem Museum für Kulturgeschichte der Universität Oslo.
Inzwischen verzeichnet die Provinz Innlandet über 3500 Funde aus 62 Eisfeldern. Das ist über die Hälfte aller weltweiten archäologischen Funde aus Eisflecken. Für diese hohen Fundzahlen sorgen wahrscheinlich drei Hauptfaktoren. Erstens ist der Abstand zwischen den bewohnten Tälern und dem Gebirgseis, wo man im Sommer Rentiere jagen konnte, gering. Zweitens entwickelte sich während der jüngeren Eisenzeit und im Mittelalter innerhalb wie außerhalb Norwegens ein Markt für lokale Gebirgserzeugnisse, besonders Rentiergeweihe und -felle, was zu einer intensiven, nicht nachhaltigen Rentierjagd und zum Verlust vieler Pfeile führte. Drittens dienten die Berge für die sommerliche Hochweide bzw. Alpwirtschaft. In manchen Fällen verliefen die Wege zu den Almen und zu entlegenen Handelsposten über Eis. Im Zusammenspiel dieser drei Faktoren kam es zu einer hohen Aktivität auf dem Gebirgseis, und damit auch zu vielen archäologischen Funden. Zusätzlich hat das dauerhaft finanzierte Programm zur Gletscher archäologie von Innlandet seit 2011 ausgedehnte Feld-
Eisarchäologie in Norwegen und Schweden
arbeit ermöglicht, was zu den vielen Fundbergungen geführt hat. Dennoch sind viele Eisflecken mit Fundpotenzial bisher noch nicht von Archäologen aufgesucht worden.
Jagdfunde und Taktik Alle Fundstellen im Eis der Provinz Innlandet haben Überreste der Rentierjagd erbracht. Das gilt auch für beinahe alle Eisfunde aus anderen norwegischen Provinzen und aus Schweden. An heißen Sommertagen gehen die Rentiere aufs Eis, um den lästigen Dassel fliegen auszuweichen. Schon die frühen Jäger wussten das und bejagten die Rentiere auf ihren Wegen zum Eis und wieder zurück sowie auf dem Eis selber. Das ist derselbe Mechanismus, der beispielsweise im kanadischen Territorium Yukon die Entdeckung vieler Pfeile und Speerschleudern (atlatl) nach sich gezogen hat (vgl. S. 72–73). Rund 200 Pfeile mit erhaltenen Holzschäften sind bisher aus dem Eis von Innlandet herausgeschmolzen; während die ältesten um 4000 v. Chr. entstanden, stammt die Mehrheit aus der jüngeren Eisenzeit (550– 1050 n. Chr.) und dem Mittelalter (1050–1537). Auch einige Bögen wurden gefunden, von denen der älteste auf 3300 v. Chr. datiert ist. Dazu sind von Jagdplätzen hölzerne Schaufeln bekannt, mit denen das Rentierfleisch vielleicht zu Konservierungszwecken im Schnee vergraben wurde. Eine besonders häufige Fundgruppe in Innlandet bilden die sogenannten scaring sticks. Dabei handelt es sich um einen Holzstock von 1 m Länge, an dessen Spitze etwas Bewegliches gebunden ist – das kann ein dünnes Holzfähnchen sein, ein Stück Birkenrinde
oder dünne Zweige. Rentiere sind sehr scheue Tiere und fürchten sich, wenn sie Bewegungen sehen. Indem die Jäger eine Reihe aus Scheuchstöcken aufstellten, schufen sie für die Rentiere eine Art psycholog ische Barriere. So ließen sich die Stöcke nutzen, um die Rentiere auf im Gelände versteckte Jäger zu lenken. An einem typischen Jagdplatz finden sich Scheuch stöcke und Pfeile, wogegen andere Funde seltener sind. Die Objektzahl schwankt dabei. An manchen Jagdplätzen hat sich nur ein einziger Pfeil gefunden, an anderen Dutzende. Manche Fundstellen geben Hunderte Scheuchstöcke frei und gelegentlich lassen sich noch die Treiblinien erkennen, die die frühgeschichtlichen Jäger angelegt haben. Auch zwei Depots mit Scheuchstöcken wurden gefunden. Ein weiteres Charakteristikum von Jagdplätzen sind die Jagdschirme (hunting blinds), niedrige Steinbauten, die es dem Jäger erlaubten, sich zu verbergen und für näher kommende Rentiere unsichtbar zu werden. Wenn an Eisflecken ein solcher Ansitz auftaucht, dann gibt es oft auch aus dem Eis schmelzende Objekte. Allerdings sind einige sehr große Jagdplätze ohne Ansitz ebenfalls bekannt.
Vom Schlitten über Pferdeäpfel bis hin zum Quirl Vergletscherte Gebirgspässe sind aus den Alpen wohlbekannt – etwa das Schnidejoch in der Schweiz und das Tisenjoch an der italienisch-österreichischen Grenze. Zwar ist auch für Skandinavien aus histo rischen Quellen bekannt, dass es Verkehr im Gebirge gab, archäologische Eisfunde von ebendiesen Routen
I Vom Schlitten über Pferdeäpfel bis hin zum Quirl
Ein Bündel von Scheuchstöcken aus der Zeit um 500 n. Chr., gefunden im Åndfonne ice patch.
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gab es jedoch lange Zeit nicht. All das änderte sich erst 2011, als im Rahmen des Glacier Archaeology Program an der Oberseite des Lendbreen-Eisflecks in Innlandet ein bislang unbekannter Gebirgspass freischmolz. Über tausend archäologische Funde sind an diesem Fundort zum Vorschein gekommen. Solche »Verkehrsorte« sind besonders interessant, weil eine reiche Fundauswahl zutage tritt. Denn anders als bei Jagdplätzen, bei denen man schon vorab weiß, dass man Pfeile und Scheuchstöcke finden wird, kann man hier buchstäblich auf alles Mögliche stoßen. So haben wir im Bereich des Lendbreen-Passes die Reste von Schlitten, Knochen von Packpferden, Hufeisen, Pferdeäpfel und sogar Schneeschuhe für Pferde gefunden. Außerdem konnten wir Kleidungsstücke bergen, darunter eine sehr seltene Tunika aus der Eisenzeit, einen wikingerzeitlichen Fäustling und mehrere Schuhe aus ungegerbtem Fell, bei denen die Haarseite außen liegt, damit sie im Schnee besser greifen. Kleidungsfunde sind auch von den Alpenpässen bekannt und es wird angenommen, dass einige dieser Gegenstände glücklose Reisende in den letzten Stadien von Unterkühlung verloren haben. Zu den Funden zählt auch Hausgerät wie ein Quirl, ein Spinnrocken und ein kleines Eisenmesser mit Holzgriff. Die 14C-Daten aus Lendbreen zeigen, dass der Verkehr über den Pass vor rund 1700 Jahren einsetzte. Dieses Startdatum passt gut zu dem, was wir von den zunehmenden landwirtschaftlichen Aktivitäten in den umliegenden Tälern zu dieser Zeit wissen. Einen
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Höhepunkt erreicht die Nutzung des Passes am Ende der Wikingerzeit vor rund 1000 Jahren, einer Zeit zunehmender Urbanisierung und wachsenden Handels. Das deutet darauf hin, dass der Pass nicht nur dem lokalen Verkehr von und zu hochliegenden Sommerhöfen der Almwirtschaft diente, sondern zugleich Teil eines weitläufigeren Handelsnetzes war. Der Verkehr über den Pass ging während des Mittelalters zurück und hörte vor rund 500 Jahren auf. Wir vermuten, dass dieser Niedergang die Folge eines Zusammenspiels mehrerer Faktoren war: Veränderungen in den Handelsnetzen, eine Reihe von Pandemien in der zweiten Hälfte des 14. Jh. und ein Klimawandel bzw. der Beginn der Kleinen Eiszeit um 1450. Als die Gegend sich von dieser tödlichen Kombination erholte, war der Lendbreen-Pass eisbedeckt und vergessen. 2019 gab es am Lendbreen eine starke Schmelze und praktisch das gesamte verbliebene Eis aus der Zeit des Passes taute weg. Doch während das Eis sich zurückzieht, wird es noch weitere Pässe freigeben. 2019 begann 10 km weiter westlich ein neuer Passübergang auszuapern. Der erste Fund an dieser Stelle war ein Schuh, wahrscheinlich aus der Eisenzeit. Doch die skandinavischen Eisflecken enthalten nicht nur von Menschenhand gefertige Artefakte, sondern auch viel biologisches Material, das wissenschaftlich in vielerlei Hinsicht interessant ist. Die meisten Knochen und Geweihe stammen von Rentieren. Aus ihnen lässt sich alte DNA gewinnen. So beleuchten sie die Evolutionsgeschichte des Rentiers
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Seltene Entdeckung: 2011 gelang es erstmals, einen vergletscherten Gebirgspass in Skandina vien archäologisch aus zumachen, nachdem dieser am oberen Ende des Lendbreen-Eisflecks freigeschmolzen war.
Eisarchäologie in Norwegen und Schweden
und liefern Informationen über genetische »Flaschenhälse«, also Zeiten, in denen die Rentierzahl wegen der Bejagung niedrig lag. Ein solcher Zeitraum sind die ersten Jahrhunderte nach 1000 n. Chr., für die auch das archäologische Material aus der Region auf einen übermäßig hohen Jagddruck auf die Rentiere hinweist. Auch die Überreste anderer Tiere sind ausgeschmolzen, darunter ein 4000 Jahre alter Bärenschädel am Lendbreen sowie jahrtausendealte mumifizierte Vögel. Manche Knochen stammen von Nutztieren. Die Verbissspuren von Vielfraßen auf einigen Knochen von Rentieren und Nutzvieh legen nahe, dass solche Knochen aus Vorräten dieser Raubtiere im Schnee stammen.
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Zu den Funden vom Lendbreen zählen auch Kleidungsstücke wie diese seltene Tunika aus der Eisenzeit – in Fundlage und nach der Restau rierung.
folglich menschliche Artefakte oder andere Funde konserviert haben kann. Jedes Jahr entscheiden die Schneeverhältnisse, wo Begehungen stattfinden können, da die Schneemenge in verschiedenen Gegenden unseres Hochgebirges stark schwanken kann. Unsere Feldarbeit im Eis läuft normalerweise in drei Phasen ab: Erstbesuch, systematische Begehung und Überwachung. Zuerst suchen wir das Eis auf und begehen zügig die flechtenfreie Zone, die es umgibt. Dabei zeigt sich rasch, ob es hier Funde gibt oder nicht. Wenn ja, müssen wir Anzahl und Umfang der Funde als Grundlage für die zweite Phase, eine systematische Begehung, ermitteln. Dieser sogenannte
Heute wie damals: Das Wetter entscheidet, wohin die Reise geht Um richtig einschätzen zu können, wo ein Potenzial für Eisfunde besteht, hat das Glacier Archaeology Program ein Repertoire aus verschiedenen Quellentypen genutzt. Von einigen Eisflecken waren schon Funde gemeldet. Bei anderen gab es bekannte frühgeschichtliche Reste wie Jagdschirme. Zusätzlich nutzten wir eine hochauflösende Karte des Hochgebirges, die zeigt, wo sich Eis ohne Gletscherspalten findet, also Eis, das wahrscheinlich stationär ist und
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Rentiergeweihe wie dieses um 1250 bis 1300 n. Chr. datierte können helfen, die Evolutionsgeschichte des Rentiers wie auch seiner Bejagung besser zu verstehen.
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Survey verläuft normalerweise so, dass möglichst nahe am Eis ein Basislager errichtet wird, und dauert bis zu einer Woche, wenn nicht länger. Schrittweise wird so viel von der flechtenfreien Zone begangen, wie wir während unseres Aufenthalts abdecken können. Der Boden im Begehungsgebiet besteht aus abschüssigem Geröll und gewachsenem Fels; ihn müssen wir mit nicht mehr als 2 m Abstand zwischen je zwei Begehenden abdecken. Da manche Fundstellen sehr groß sind, müssen wir oft mehrere Jahre nacheinander Begehungen durchführen, um das gesamte Gebiet zu erfassen. Der Lendbreen-Survey deckte 250 000 m2 ab.
Sobald die flechtenfreie Zone eines Fundorts komplett begangen ist, müssen wir ihn nur noch aufsuchen, um zu überwachen, ob es über die begangene Fläche hinaus einen Rückzug des Eises durch Abschmelzen gegeben hat. Solche Rückzüge können ziemlich umfangreich sein. In diesen Fällen müssen wir mehrere Tage am Fundort arbeiten, um den neu aufgetauten Boden abzudecken. Wertvolle Unterstützung erhalten wir von lokalen Hilfskräften. Dabei kann es sich um Hobbyarchäologen handeln, die eng mit unserem Programm zusammenarbeiten, oder um Bergwanderer, die über einen Fund stolpern und ihn uns melden. Das Hoch-
Eisarchäologie in Norwegen und Schweden
gebirge von Innlandet ist sehr ausgedehnt und wir Archäologen können dieses gesamte Gebiet nicht selbst erfassen.
Was uns die Eisfunde lehren Die Funde aus dem skandinavischen Hochgebirgseis haben Belege geliefert, dass Menschen seit der Steinzeit dort Rentiere jagten. Einen Höhepunkt erreichte das Jagdgeschehen in der jüngeren Eisenzeit und im frühen Mittelalter. Dies war eine Zeit gesteigerter Stadtentwicklung und zunehmenden Handels, und wahrscheinlich führte der Zugang zu Märkten jenseits der Region zu vermehrter Rentierjagd. Die Funde eisenzeitlicher Skier und Schlitten im Eis verraten uns, dass es auch im Winter Aktivitäten im Hochgebirge gab. So wissen wir von einem Vorfall im März 1813, bei dem eine Gruppe Ansässiger von einem Schneesturm bei der Überquerung des Hochgebirges überrascht wurde und samt ihren Pferden umkam. Eine Quelle aus den Jahren um 1400 beschreibt, welche Höfe dafür verantwortlich waren, Tote aus den Bergen ins Tal zu bringen. Doch vor Beginn der Eisschmelze hatten wir nur wenige Belege
Was uns die Eisfunde lehren
dafür, dass es auch schon in prähistorischer Zeit Winteraktivitäten im Hochgebirge gab. Dabei verteilen sich die archäologischen Funde nicht gleichmäßig über die Zeit. Die höchste Aktivität scheint in der jüngeren Eisenzeit (550–1050 n. Chr.) aufgetreten zu sein. Auf die chronologische Fundverteilung könnten aber auch vergangene Klimaveränderungen eingewirkt haben, die zu Objektverlusten in Zeiten zurückweichender Gletscher bzw. zu stärkerem Konservierungsgeschehen bei Eisvorstößen führten. Außerdem nehmen glaziologische Vorgänge Einfluss darauf, wo Objekte zur Ruhe kommen und später entdeckt werden. Transport durch Schmelzwasser, Eisbewegungen und Wind können Gegenstände über beachtliche Strecken verlagern. Dadurch können Fundverteilungen an einem bestimmten Ort eher auf natürliche Prozesse als auf menschliche Aktivitäten zurückgehen. Das Eis im norwegischen Hochgebirge besteht, wie vermutet wird, nicht aus Überresten der letzten Eiszeit. Während des holozänen Klimaoptimums vor 9000 bis 5000 Jahren schmolzen diese überwiegend oder sogar ganz ab. Gegen 8000 vor heute erreichte die Erwärmung ihren Höhepunkt. Die Datierungen
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Das Basislager am Landbreen liegt möglichst nahe am Eis. Von hier aus lässt sich das Gebiet Stück für Stück archäologisch erkunden.
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kleiner Kohlenstoffpartikel aus dem Kern des Juvfonne-Eisflecks haben gezeigt, dass das älteste Eis dort 7600 Jahre alt ist. Die Bildung der Eisflecken begann also ziemlich früh. Während das Eis weiter abschmilzt, sollte es möglich sein, noch ältere Funde als die bisher frühesten zu entdecken, die 6000 Jahre alt sind.
Virtuell und vor Ort – die Öffentlichkeit mitnehmen Unsere Arbeit in der Provinz Innlandet findet sowohl bei der Bevölkerung als auch bei lokalen und internationalen Medien großes Interesse. Ebendiesem Interesse haben wir auf verschiedene Weise Rechnung zu tragen versucht – mit unserer Website, über die Social
Media, durch die Schaffung eines Klimaparks und die Ausstellung unserer Funde im Norwegischen Gebirgszentrum in Lom. Juvfonne, eines unserer Eisfelder, liegt in der Nähe einer asphaltierten Straße. Daher konnte die Provinzregierung von Innlandet zusammen mit dem Norwegian Mountain Center und der Gemeinde Lom das Gebiet zu einem Klimapark ausbauen, in dem Parkguides Gruppen auf Touren durch Natur und Archäologie des Hochgebirges mitnehmen. Das Highlight ist ein 70 m langer Eistunnel, durch den die Besucher bis auf den Grund des Eises gelangen. Das Norwegian Mountain Center in Lom liegt im Herzen unseres Hochgebirges. 2018 wurde dort eine neue Dauerausstellung eröffnet, die auch eine Abteilung zur Eisarchäologie einschließt. Hier können die
Secrets of the Ice (secretsoftheice.com) heißt der Internetauftritt des Gletscherarchäologie-Programms in Innlandet. Hier berichten wir über unsere eigene Arbeit, die Arbeit unserer Kollegen in Norwegen bzw. in aller Welt und über andere Aspekte des gefrorenen Kulturerbes. Außerdem erklärt die W ebsite die Grundzüge der Eisarchäologie, etwa den Unterschied zwischen Gletschern und Eisflecken oder ihre Verbindung zum Klimawandel.
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Der Digervarden-Ski wird auf etwa 750 v. Chr. datiert. Gemeinsam mit weiteren Funden von Skiern und Schlitten ist er ein deut licher Beleg dafür, dass es die Menschen auch im Winter seit Jahrtausenden ins Hochgebirge verschlägt.
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Eisarchäologie in Norwegen und Schweden
I Besucher eine Auswahl der wichtigsten Funde aus dem Eis von Innlandet besichtigen und eine Dokumentation zum Glacier Archaeology Program sehen.
Die Zukunft der Eisarchäologie in Skandinavien In den kommenden Jahren, so verrät uns die Klimaprognose für Skandinavien, wird das Eis weiter abschmelzen. Das wird kein stetiger Rückgang werden. Eher wird es wie beim arktischen Meereis sein, bei dem es von Jahr zu Jahr zwar Höhen und Tiefen gibt, der Trend aber eindeutig abwärts geht. Falls die globale Durchschnittstemperatur um 2 °C ansteigt, wird erwartet, dass in diesem Jahrhundert 90 Prozent des norwegischen Gebirgseises verschwinden werden. Während dieses Eis verlorengeht, wird der Schmelzvorgang weitere archäologische Funde freigeben. Dieser Prozess ist faszinierend und traurig zugleich, aber als Archäologen müssen wir uns darauf konzentrieren, die vielen ausapernden Funde und ihre Geschichten zu retten.
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Die Ausstellung im Gebirgszentrum in Lom trägt gemeinsam mit weiteren Projekten dazu bei, die Arbeit des Glacier Archaeology Programs zu vermitteln.
Eine dieser Geschichten erzählt ein kleiner Holzpfeil mit stumpfer Spitze, der 2011 am Lendbreen gefunden wurde. Er ist nur 26 cm lang, also zu kurz, um beim Aufprall genug kinetische Energie für eine Verletzung zu übertragen. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um einen Spielzeugpfeil, der um 600 n. Chr. auf dem Pass verloren ging. Wir fühlten uns dem Kind, das den Pfeil verloren hat, sofort verbunden. Wahrscheinlich dachte es, er sei auf ewig verschwunden, aber so war es nicht – das Eis hat ihn 1400 Jahre lang konserviert. Solche Geschichten und auch die trockeneren wissenschaftlichen Fakten zu dokumentieren wird in den kommenden Jahren eine wichtige Aufgabe sein, während das Eis weiter schmilzt.
Um 600 n. Chr. ging dieser Spielzeugpfeil auf dem Pass verloren. Das Eis konservierte ihn über mehr als 1400 Jahre. Zum Glück konnte er rechtzeitig entdeckt und geborgen werden und so seine Geschichte preisgeben.
Die Zukunft der Eisarchäologie in Skandinavien
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Juwel statt eisiger Einöde
Grönlands gefrorene Vergangenheit Jørgen Hollesen, Henning Matthiesen, Hans Harmsen und Christian Koch Madsen
Grönländische Eisschild, welcher derzeit 80 Prozent der Insel bedeckt, ist ein Überrest jener Gletscherriesen, die einst während der letzten Eiszeit weite Teile Nordamerikas bedeckten, darunter ganz Grönland und seine Küsten. Als das arktische Klima sich erwärmte und die Gletscher sich allmählich zurück zogen, öffneten sich eisfreie Gebiete an den Küsten und wurden sofort zu ökologisch reichen, vielfältigen Habitaten für viele Arten von Meeres- und Land säugern, Vögel und zahlreiche Gräser, Seggen und andere Pflanzen. Frühe Paläo-Inuit-Gruppen, in der Archäologie bekannt als die Saqqaq- und die Independence I-Kultur, waren die ersten Menschen, die vor rund 4500 Jahren in diese unberührten Territorien Grönlands wanderten. Diese kleinen Gruppen aus Jägern und Sammlern durchzogen von der Westarktis aus das nördliche Kanada und waren ständig in Bewegung; je nach Jahreszeit wechselten sie zwischen der Küste und den inneren Fjorden, um zu jagen, zu fischen und wildwachsende Nahrungsmittel zu sammeln. In den Wintermonaten entstanden halbfeste Lagerplätze entlang der Küsten, von denen aus Jagd auf Meeressäuger gemacht wurde – vor allem auf Robben, die schon immer der Schlüssel zum Über leben in Grönland waren.
Bei vielen Menschen entsteht bei der Erwähnung Grönlands augenblicklich das Bild von Eisbergen und Schnee, einer leeren, unwirtlichen Landschaft, leblos, außer dass ab und zu vielleicht ein Eisbär vorbeikommt. In Wirklichkeit kommt dieser Ruf als eisige Einöde der Wahrheit nicht einmal nahe – die Insel war und ist ein Land voller Menschen, die Unmengen an Zeugnissen ihres früheren Lebens und ihrer Lebensweisen hinterlassen haben. Und zum Glück für die Archäologie ist ein Großteil dieser Zeugnisse in den Permafrost- und Frostböden entlang der Küsten noch gut erhalten. Doch inzwischen bedrohen steigende Temperaturen in der Arktis diese einst unberührten archäologischen Quellen und bringen ein künftiges Verfallsdatum für Grönlands gefrorene Vergangenheit mit sich. Die lange Küstenlinie und die vorgelagerten Inselgruppen Grönlands, wo sich Menschen früher meist niedergelassen haben und immer noch wohnen, sind erst vor rund 8000 Jahren eisfrei geworden. Der
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Wichtige archäologische Fundorte im Eis bzw. Permafrost von Grönland.
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Ein Sprung ins Jahr 1000 n. Chr.
Skandinavische Siedler aus Island begannen an den Küsten Grönlands zu landen, angelockt von der Aussicht auf unbesetztes Land sowie einen einträglichen Exporthandel mit Walrosszähnen und anderen exotischen Tierprodukten. Die Nordleute kamen während ihrer Zeit in Grönland ganz gut zurecht und errichteten zwei permanente Siedlungen, deren Bevölkerung zwischen 2500 und 4000 Menschen schwankte. Entgegen der gängigen Erzählungen über den Zusammenbruch der nordischen Gesellschaft in Grönland legen aktuelle archäologische Befunde nahe, dass sie nicht die unglücklichen Opfer eines von der um 1300 einsetzenden Kleinen Eiszeit ausgelösten Klimawandels waren. Die Nordleute waren ganz geschickt darin, sich an die vielen Veränderungen um sie herum anzupassen, und stellten ihre Ernährung mit der Zeit so um, dass sie weniger auf Hausvieh und
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Grönlands gefrorene Vergangenheit
immer mehr auf lokal verfügbaren marinen Nahrungsquellen wie etwa Sattelrobben beruhte. Das allmähliche Verschwinden der Nordleute in Grönland um 1450 beruhte höchstwahrscheinlich auf einer Kombination aus mehreren Umständen einschließlich des Klimawandels – mit Sicherheit spielten jedoch auch äußere Faktoren mit, darunter der Rückgang des Handels aufgrund der Pest, die Nordeuropa im 14. Jh. heimsuchte, und das Sinken von Wert und Nachfrage nach Walrosselfenbein. Kurz nach der Ankunft der Nordleute in Grönland erscheint um 1250 eine andere, kulturell abgegrenzte Gruppe aus Inuitvölkern auf der Bildfläche, die als Thule-Kultur bekannt ist. Diese wanderten von den Küsten Alaskas durch Nordkanada und nahmen dieselben Wege durch Nordwestgrönland wie die früheren Paläo-Inuit-Kulturen. Die heutigen grönländischen Inuit sind die Nachkommen der Thule-Kultur, eine Ethnie, die für ihre ausgefeilten Kenntnisse und Techniken des Walfangs, der Jagd und das Zurücklegen weiter Wege auf See und auf dem Eis bekannt ist. In relativ kurzer Zeit gelang es den Thule-Menschen, ganz Grönland zu umfahren und zu besiedeln; sie nutzten fast jede ökologische Nische, die sich an den Küsten und den inneren Fjorden bot. Zwar gibt es derzeit nicht viele archäologische Belege für einen Kontakt zwischen der Thule-Kultur und den Nordleuten, aber auf jeden Fall gab es einige Begegnungen zwischen beiden Gruppen; allerdings bleiben Häufigkeit und Formen der stattfindenden Interaktionen, und ob diese freundlich oder feindselig waren, ein wichtiges Forschungsfeld für die Zukunft.
Wertvolle Abfallhaufen aus der Kolonialzeit Im Lauf des 16. und 17. Jh. begannen europäische Entdecker und Walfänger entlang der Westküste Grönlands weiter und weiter nordwärts zu segeln, angezogen von der Aussicht auf Gewinne aus dem Walfang und durch den Handel mit den Thule-Inuit-Gemeinschaften, die über die Küste verstreut lebten. 1721 gründete der Missionar Hans Egede auf der Insel Håbets (Insel der Hoffnung) ganz nahe an der heutigen Hauptstadt Nuuk die erste dänisch-norwegische Missionsstation. Während des 18. und 19. Jh. sah sich die traditionelle Thule-Kultur einer langsamen Zerstörung gegenüber – durch den wachsenden kolonialen Einfluss Dänemarks, einen allmählichen Bevölkerungsrückgang nach der Einschleppung europäischer Krankheiten und durch die Gründung permanenter Siedlungen an den Kolonialstützpunk ten. Die Kontaktaufnahme mit den letzten isolierten Inuit-Gemeinschaften in Ostgrönland während der 1880er-Jahre markiert das Ende der Thule-Kulturphase in Grönland.
Wertvolle Abfallhaufen aus der Kolonialzeit
Klima kalt
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Kultur Independence I-Kultur
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Saqqaq-Kultur 1500
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Grönländische Dorset-Kultur 0
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Späte Dorset-Kultur 1000
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Norse-Kultur
Thule-Kultur
Kolonisation
Moderne Inuit-Kultur 2000 AD
All diese Völker der Vergangenheit – Paläo-Inuit, Nordleute, Thule-Kultur und Europäer – verbindet eine Gemeinsamkeit: die Tendenz, ihre Hausabfälle einfach vor den Eingang zu kippen. Dadurch entstanden Abfallhaufen (Køkkenmøddinger), die ein wahrer Segen für die gegenwärtig in Grönland arbeitende Archäologie sind. Wegen der kalten Bedingungen Grönlands sind viele organische Materialien in diesen Haufen hervorragend erhalten und liefern der Archäologie alles Mögliche von Holz über Knochen, Federn, Walbein, Geweihe, Leder und Pelze bis zu Tierdung und sogar Menschenhaar. Beispielsweise sequenzierten Forscher des Dänischen Museums für Naturgeschichte und vom Beijing Genomics Institute aus einem Büschel Menschenhaar , das aus einem Abfallhaufen in Qeqertasussuk an der westgrönländischen Diskobucht stammte, das erste frühe Menschengenom. Die Ergebnisse zeigten, dass Grönlands Saqqaq-Kultur genetisch gesehen aus Ostsibirien stammte.
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Chronologie der verschiedenen menschlichen Kulturen, die Grönland besiedelten, mit einer generalisierten Klima kurve für die letzten 4500 Jahre.
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Die vielen Entdeckungen aus den grönländischen Abfallhaufen haben für große Aufregung gesorgt. Inzwischen jedoch ist diese von Sorgen begleitet, weil sich die im Norden arbeitenden Archäologen immer stärker bewusst sind, dass viele dieser Abfallablagerungen – in denen noch unersetzliche Überreste der Vergangenheit stecken können – jetzt durch den Klimawandel und durch menschliche Einflüsse wie die
Landwirtschaft in Gefahr geraten. Das gilt besonders für die im Permafrost konservierten archäologischen Überreste. Die steigenden Temperaturen erwärmen den Boden und lassen das Erdreich auftauen, worauf die darin eingeschlossenen organischen Substanzen in einem Prozess zu zerfallen beginnen, der der Kompostierung organischer Lebensmittelreste durch einen Hobbygärtner ähnelt.
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Beispiele für Funde aus grönländischen Abfall haufen. Obere Reihe von links nach rechts: ein Fuchsschädel mit Schnittmarken, das Innenfutter eines Mokassin (kamik) der Saqqaq-Kultur und das vollständige Skelett einer Ringelrobbe; gefunden in Qeqertarsuaq, Westgrönland. Untere Reihe: zwei Jagdgeräte aus K aribugeweih (oben) und Walrosselfenbein (unten) der frühen ThuleKultur (ca. 1300) und ein hölzernes Spielzeugpferd von einem nordischen Gehöft; beides gefunden in Südgrönland.
Das Büschel Menschenhaar aus einem der Abfallhaufen in Qeqertasussuk barg das älteste Menschengenom in sich, das bislang jemals sequenziert werden konnte.
Grönlands gefrorene Vergangenheit
Gefahr vs. Zeit – eine ewige Abwägung Während der letzten 20 Jahre ist die Temperatur in Grönland gestiegen; die Prognosen lauten, dass die Temperatur im Jahr 2100 um 4 bis 7 °C über dem Durchschnitt der Jahre 1961 bis 1990 liegen wird. Schon jetzt wissen wir, dass bereits ein geringer Temperaturanstieg enorme Folgen für archäologische Fundstätten und ihre Ablagerungen hat. In manchen Fällen werden auftauende Böden und übermäßiger Flüssigkeitsverlust die Abfallhaufen austrocknen und Objekte darin zerfallen lassen, an anderen Stellen werden feuchtere, wärmere Bedingungen zu vermehrter mikrobieller Aktivität und – wie oben geschildert – zur »Kompostierung« organischer Objekte führen. Steigende Temperaturen verlängern auch die Vegetationsphase und können zu dichterem Pflanzenbewuchs führen, der die Durchwurzelung bisher ungestörter archäologischer Schichten zur Folge hat. Niederschlag und Sturmfluten sind ebenfalls ein wichtiger Faktor für viele archäologische Fundstätten in Grönland, weil viele von ihnen an der Küste oder in deren Nähe liegen. Schon eine geringe Zunahme des Sturmgeschehens im Nordatlantik kann zu erhöhter Erosion und zum Abrutschen archäologisch wichtiger Strukturen ins Meer führen. Im Lauf des letzten Jahrzehnts haben Forschende vom Greenland National Museum and Archives, vom Dänischen Nationalmuseum und dem Center for Permafrost Studies (CENPERM) an der Universität Kopenhagen zusammengearbeitet, um das Verständnis zu vertiefen, wie sich der Klimawandel auf die Archäologie Grönlands auswirkt. Von 2010 bis 2015 wurde in Qajaa nahe Ilulissat in Westgrönland ein Umweltmonitoring mit begleitenden Forschungen durchgeführt. Dieser Fundort ist für seine massiven Abfallhaufen bekannt, in denen sich ausgezeichnet erhaltene Schichten aus Grönlands kultureller Vergangenheit finden. Dank des permanent gefrorenen Untergrunds in Qajaa sind organische Gegenstände hervorragend konserviert; das macht den Fundort unentbehrlich, wenn es um die Erstellung einer festen Chronologie für Grönlands Besiedlung während der letzten Jahrtausende geht. In Qajaa wurde besonders darauf geachtet, die Beziehung zwischen Luft- und Bodentemperaturen sowie nachweisbaren Zunahmen mikrobieller Aktivität zu verstehen, die zum fortschreitenden Zerfall organischer Substanzen wie Knochen und Holz beitrug. In Laborexperimenten zeigte sich, dass der mikrobielle Abbau sowohl archäologischer Böden als auch von Holzgegenständen hochgradig temperaturabhängig war: Die Zersetzungsraten stiegen pro Grad Bodenerwärmung um 10 bis 15 Prozent. Diese Zersetzungsraten wurden mit anderen Daten der Atmo-
Lösungen finden ist das Ziel
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Archäologische Fundorte in der Arktis sind »Hotspots« der Vegetation voller pflanzlicher Nährstoffe. Wurzelschäden und Überwucherung schädigen viele Stätten im grönländischen Binnenland. Ein Vergleich zweier Fotos von 1932 (oben) und 2017 (unten) zeigt eine deutliche Zunahme des Bewuchses mit Seidenhaariger Weide (Salix glauca) am berühmten nordmänner zeitlichen Fundort Ujarassuit (Anavik).
sphärenüberwachung korreliert, um die Tau- und Verrottungsszenarien für die Zukunft der Abfallhaufen in Qajaa bewerten zu können. Das Ergebnis lautete, dass im schlimmsten Fall bis zu 60 Prozent des organischen Anteils der Ablagerungen während der kommenden 80 Jahre verschwinden könnten; es zeigte aber auch, dass noch Zeit genug bleibt, statt eiliger Rettungsgrabungen eine sorgfältig geplante Überwachung und gezielte Ausgrabungen durchzuführen.
Lösungen finden ist das Ziel Auf die Arbeit in Qajaa folgte 2016 ein großangelegtes multidisziplinäres Forschungsprojekt unter dem Titel REMAINS, das sich auf die Erkundung mehrerer Fundstätten am Nuukfjord in Südwestgrönland konzentrierte. Ausgewählt wurde diese Gegend, weil sie nicht nur eine hohe Dichte an archäologischen Fundorten aufweist, sondern die Auswirkungen des Klimawandels dort vielfach schon mit bloßem Auge sichtbar sind. REMAINS vereinte die Fähigkeiten gleich mehrerer Wissenschaftler, darunter Pflanzenbiologen, Geomorphologen, Geografen, Permafrostspezialisten, Konservatoren, Archäologen und Umweltforscher, die Spektralanalyse und hochpräzise Kartierung mithilfe von Drohnen einsetzten, um die Vegetationsmuster an einer Fülle archäologischer Stätten zu studieren. Die Ergebnisse waren beunru-
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higend: Von den 336 bekannten Stätten in der Region Nuuk ist die Mehrzahl gefährdet und unterliegt Auswirkungen des Klimawandels, die sich unmittelbar mit erhöhter mikrobieller Aktivität, tauendem Permafrost und Pflanzenbewuchs verbinden lassen. Für die nächsten 80 Jahre wird vorausgesagt, dass diese Faktoren in wechselndem Ausmaß auf die Erhaltungsumstände einwirken werden und ein Großteil der Region schwere Verluste erleiden wird, indem die Temperatur in Grönland weiter steigt. Der schnellste Verfall tritt anscheinend in den eher gemäßigten Inlandgebieten des Fjordes auf, wo warme, trockene Sommer vorherrschen. Das bedeutet, dass jetzt sofort gehandelt werden muss, und zwar auf intelligente Weise. Küstenerosion, tauende Permafrostböden, Ausdehnung der Vegetation, Brände und wachsende menschliche Bedrohung durch Kreuzfahrttourismus und Landwirtschaft sind allesamt Teil des großen Ganzen, der Folgen des Klimawandels für das archäologische Erbe des Landes. Jeder dieser Einflussfaktoren hat seine eigenen Folgen und richtet Schäden über Zeiträume hinweg an, die von Tagen bis zu Jahrzehnten oder Jahrhunderten schwanken können. Prioritäten zu setzen, was zuerst gerettet werden muss, ist die am ehesten praktikable Lösung für die finsteren Aussichten, die sich in Grönland abzeichnen. Aber die Voraussetzung dafür ist ein Überblick darüber, welche Stätten am stärksten bedroht sind. Das REMAINS-Projekt ist ein erster Anlauf, um für einen kleinen Teil Grönlands einen solchen Überblick zu gewinnen, der aber auf
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größere Gebiete ausgeweitet werden muss. Ausgrabungen sind teuer und zeitaufwendig, und schon jetzt können die Archäologen mit den Verlusten nicht Schritt halten. Also hängt alles von einer sorgfältigen Prioritätensetzung ab. Während sich das Klima weiter ändert, wird die Lage immer schlimmer werden. Die aktuelle Situation, die wir in Grönland und anderen Teilen der Arktis beobachten, zeigt uns, dass wir schlecht darauf vorbereitet sind, auf ein Szenario zu reagieren, in dem diese zunehmend klimagetriebenen Prozesse auf Tausende archäologischer Fundorte zugleich wirken. Einfache Lösungen gibt es nicht, aber je länger wir warten, desto größer werden die Pro bleme.
Haufen aus Küchenabfällen mit dicken Lagen aus Knochen, Essensresten, ab genutzten Werkzeugen und anderem Müll am Fundort Qajaa. Älteres Erosions geschehen hat einen Einschnitt in den Haufen geschaffen, womit Schicht für Schicht seine ganze Geschichte beobachtet werden kann. Der Haufen ist bis zu 3 m mächtig und enthält Überreste der Saq qaq-, der Dorset- und der Thule-Kultur.
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Rechte Seite: Von 2016 bis 2019 untersuchte das Forschungsprojekt »REMAINS of Greenland« die kurz- und langfristigen Auswirkungen des Klimawandels auf die Erhaltung von archäologischen Fundstellen in der Region Nuuk in Südwestgrönland.
Der Einsatz von Drohnen hilft maßgeblich beim Suchen und Finden weiterer archäologischer Stätten und deren Kartierung.
Grönlands gefrorene Vergangenheit
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Von der Speerschleuder bis zur Musketenkugel
Gefrorene Geschichten Nordamerikas Sheila Greer, Christian D. Thomas, Kyra Chambers, Diana Tirlea, Aaron Osicki, Todd Kristensen und Craig M. Lee
Die Gebirge Nordamerikas sind alte Ökosysteme, die den indigenen Völkern (First Nations) des heutigen Kanada und der Vereinigten Staaten seit Menschengedenken als Heimat dienten. Die Quellen, welche ihre Geschichte erzählen, nehmen viele Formen an: Sagen, Bauten, Kunstwerke, domestizierte Lebewesen, paläoökologische Proben und Befunde der Archäologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Darüber hinaus erzählt aber auch eine im Eis konservierte Chronik die Geschichte dieser spektakulären Kulturlandschaften. In den Küstengebirgen und den Rocky Mountains, die sich durch Kanada und die Vereinigten Staaten ziehen, sind neue Belege durch die Klimaerwärmung aufgetaucht. Der Vorgang treibt eine Gemeinschaft von Bürgerwissenschaftlern, Experten und Wissenschaftlerteams zur Eile an, während sie konservieren, was aus dem zurückweichenden Eis freischmilzt. Im Westen Nordamerikas sind die Gebirge für ihre Gletscher berühmt. Der erste Fund – eine 1000 Jahre alte genähte Bärenhaut – wur-
de im selben Sommer gemacht, als auch Ötzi entdeckt wurde. Diese wurde aus einem Gletscher im Kluane National Park geborgen, der sich quer durch das Territorium der Kluane First Nation zieht – einer indigenen Gruppe mit einem ausgedehnten Territorium im äußersten Nordwesten des nordamerikanischen Kontinents. Die meisten der Funde, die daraufhin in Nordamerika gemacht wurden, stammen allerdings nicht aus Gletschern, sondern aus Eisflecken (ice patches). Diese unterscheiden sich von Gletschern darin, dass es sich meist um kleinere, durch Winde entstandene Ansammlungen handelt, die stationär, also ruhend, sind. Sie sind daher nicht massereich genug, um wie Gletscher bergab gezogen zu werden, und verformen sich deswegen mit der Zeit tendenziell weniger. Aus diesem Grund sind Eisflecken ideale Kandidaten für die Auffindung gut erhaltener Kultur- und Paläoumweltobjekte wie etwa bearbeitete Gegenstände, Pflanzenfossilien und Wasser mit abweichendem Isotopen-
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Ältestes Eisfeld in Yukon in der Nähe der Gladstone Lakes im traditionellen Territorium der Champagne und Aishihik First Nations. Artefakte von dieser Fundstelle datieren in eine Zeit 9300 Jahre vor heute.
Rechte Seite: Karte des nordamerikanischen Küstengebirges und der Rocky Mountains mit den Eisfleck-Forschungsgebieten.
Gefrorene Geschichten Nordamerikas
gehalt. Letzteres ist besonders nützlich für die Messung von Umweltverhältnissen in der Wintersaison im mittleren Breitengrad. In stationärem Eis sammeln sich diese Materialien Schicht für Schicht an, während die kalten Bedingungen sie konservieren. Typischerweise findet sich das älteste Material in Eisflecken unten nahe der Basis und das jüngste oben; indem Forschende in Nordamerika von oben nach unten fortschreitend Eisproben nehmen, lesen sie in der Zeit stattfindende Veränderungen in Pflanzengemeinschaften und Klimaten ab wie Seiten aus einem eingefrorenen Buch. Damit verglichen sind Gletscher wie Förderbänder: Sie tragen die Materialien unerbittlich hangabwärts, schmelzen dort und geben alles frei, was sie enthalten. Im Jasper-Nationalpark finden wir in Eisflecken jahrtausendealte Koniferennadeln und Blätter der Weißen Silberwurz, die immer noch grün vor Chlorophyll sind, und aus dem Eis in Alaska fällt scharf riechender Karibu- und Schafdung. Das Eis enthält Waffen, die so modern sein können wie eine in Yukon gefundene Musketenkugel aus dem 19. Jh. und so alt wie eine 10 400 Jahre alte Speerschleuder aus Colorado. Seit 1998 ist aus einem 3500 km langen Gebirgsstreifen von Alaska bis Colorado eine ganze kryosphärische Chronik gesichert worden. Die Kryosphäre ist buchstäblich die gefrorene Welt, daher ist die kryos phärische Aufzeichnung eine regelrechte Aufzeichnung von Objekten, die aus der gefrorenen Welt oder Umgebungen, in diesem Fall Eisflächen, freigesetzt wurden. Gemeinsam haben diese Befunde, dass sie Entdeckungen im Eis sind, aber in jeder Region erzählen die Quellen einmalige Geschichten von den lokalen Kulturen, Landschaften und Umweltbedingungen von der heutigen bis in die Frühzeit.
Die Yukon-Eisflecken – Fundgruben im Nordwesten Kanadas Seit beinahe 400 Generationen sind die Vorfahren der im Süden der kanadischen Region Yukon lebenden indigenen Gruppen (wie die Dän (Tutchone), Tagish oder die Łingit (Inland-Tlingit) jeden Sommer und Herbst auf die Jagd nach Waldkaribus und Dall-Schafen gegangen. Zu ihren vielen Jagdstrategien zählte es, Tiere zu jagen, während diese Zuflucht auf Eisflecken suchten. Schließlich bieten die Eisflecken Yukons seit Jahrtausenden den Tieren eine Atempause vor parasitischen Insekten. Diesen Umstand kannten die Vorfahren der heutigen First Nations bereits bestens, weshalb sie ihre organisierte Jagd an diese einzigartigen Landschaftsmerkmale anpassten. Bis heute sind darin verloren gegangene Waffen erhalten geblieben. Angestoßen wurde die Erforschung der YukonEisflecken 1997 durch den Fund eines 10 cm langen
Die Yukon-Eisflecken – Fundgruben im Nordwesten Kanadas
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Gefrorene Geschichten Nordamerikas
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Ansammlungen von künst lich angelegten Jagdunter ständen entstanden in der Regel um Landschafts merkmale wie etwa Eis flecken. Linke Seite: Vor dem regio nalen Übergang zu Pfeil und Bogen jagten die Men schen der First Nations mit schlanken, aus Schleudern abgeschossenen Wurfspee ren (als atlatl bekannt). In den Yukon-Eisflecken exis tiert ein 9300 Jahre zurück reichendes Inventar aus Wurfspeer-Komponenten. Oben hält Nansana Murphy (wissenschaftliche For schungsassistentin bei den Champagne und Aishihik First Nations) eine steiner ne Speerspitze mit anhaf tendem 5500 Jahre altem Fichtenharz, das als Kleb stoff diente. Die ältesten bekannten Jagdpfeile der Eisflecken in Yukon und Alaska sind 1350 Jahre alt. Auf der Basis einer komplizierten Materialmischung wie Holz schäfte, Befiederung aus Federn und Sehnen, Ocker farbe und Pfeilspitzen aus Stein, Knochen und Kupfer konnte gezeigt werden, dass für die Jagd auf Kari bus und Schafe eventuell jeweils unterschiedliche Pfeiltypen entwickelt wur den. Reta Johns (Landpfle gerin der Carcross/Tagish First Nation) zeigt hier Fragmente eines 500 Jahre alten Karibu-Jagdpfeils.
Holzstücks, das mit einer Sehne umwickelt war. Dieses Objekt stellte sich als Teil eines 4000 Jahre alten Jagdspeers heraus. Seitdem sind an 45 weiteren Stellen auf Berggipfeln in der Region ähnliche Funde entdeckt worden. Im Jahr 2021 jährt sich das Yukon Ice Patch Research Project zum 23. Mal. Dabei handelt es sich um eine Kooperation zwischen sechs der First Nations in Yukon und den Kulturdiensten der Provinzregierung. Alljährlich ist es ihre Aufgabe, an über 300 Schneeansammlungen die Schmelzvorgänge zu überwachen, und im Rahmen dieser Arbeit haben sie über 385 Artefakte sowie über 2000 tierische Überreste gesammelt. Typisch für dieses eisarchäologische Repertoire sind Objekte, die das Eis jahrtausendelang in faszinierender Qualität erhalten hat – ein weit zurückreichendes Inventar für Materialgebrauch und Objektdesign, das den weltweiten Wissenschaften, die sich mit der Interpretation indigener Kulturen und Landschaftsnutzungen befassen, neue Möglichkeiten eröffnet hat. Die Sammlung aus der fortlaufenden archäologischen Erkundung dieser Fundorte umfasst unter anderem Überreste von Karibus und Schafen, Wurfspeere für den Gebrauch mit der Speerschleuder (atlatl) sowie Bögen und Pfeile. Auch Ansammlungen künstlicher Jagdunterstände sind angetroffen und kartiert worden , die an eine Vielzahl von Lebensräumen grenzen und wichtige Hinweise liefern, wie sich die Menschen der First Nations während ihrer Jagd in den Bergen organisiert haben.
Jagdmethoden einst und heute Die Fundorte an den Eisflecken bezeugen eine lange, fortlaufende Tradition der Karibu- und Schafjagd im Spätsommer und Frühherbst. In der Sprache der indigenen Dän ist diese besondere Jagd als shakat bekannt. Früher war dies die Zeit, in der die Vorfahren Nahrungsvorräte für den nahenden langen Winter anlegten, die nötigen Mengen an Häuten, Sehnen und Babiche (Haut für Schnüre und Riemen) einbrachten, aus denen Kleidung und Unterkünfte für
Regierung und Management des kulturellen Erbes der First Nations
den Winter gemacht wurden, und dazu Knochen, Geweihe und Horn sowie andere Materialien, aus denen eine Vielfalt von Werkzeugen entstand. Zwar hat sich die Lebensweise der indigenen Völker durch Lohnarbeit und Teilnahme an der modernen Wirtschaft tiefgreifend verändert, aber die Jagd im Spätsommer und Frühherbst gibt es noch immer. Ihre Beziehung zum Land zu erhalten bleibt den Menschen der First Nations in Yukon überaus wichtig, ebenso das Besorgen nahrhafter Landkost wie etwa Wild für die eigene Familie. Die Jagd auf Schafe und Karibus geht weiter, auch wenn die Anzahl Letzterer seit der vorkolonialen Zeit stark abgenommen hat. Elche sind heute dagegen viel häufiger und sind tendenziell zur Existenzgrundlage geworden. Also stehen sie im Mittelpunkt kultureller Lern- und Lehrbräuche wie der feierlichen »Ersten Jagd« Jugend licher. Jedes Jahr reisen Menschen ins Hochgebirge, um Ressourcen zu entnehmen, aber auch, um zu lernen und eine über Jahrtausende gewachsene Beziehung fortzuschreiben.
Regierung und Management des kulturellen Erbes der First Nations Die First Nation-Projektpartner in Yukon sind selbstregierte Ethnien, die abschließende Verträge (final agreements) mit den Regierungen Kanadas und des Yukon-Territoriums abgeschlossen haben. Diese Abkommen schreiben den respektvollen Umgang mit Orten fest, die mit Geschichte und Kultur der First Nations verknüpft sind. Die Wichtigkeit der Verträge zeigte sich während der Ereignisse nach der Entdeckung des indigegen Jungen Kwädąy Dän Ts’ìnchi, dessen sterbliche Überreste 1999 aus einem Gletscher im Tatshenshini-Alsek Park ausgeschmolzen waren, der im zu British Columbia gehörigen Teil des CAFN Traditional Territory (dem Gebiet der Champagne and Aishihik First Nations) gehört. Verschiedene Artefakte und 14C-Daten konnten zeigen, dass der junge Mann im späten 18. Jh. zu Tode und in Folge ins Glet-
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schereis gekommen ist. Genetische Analysen konnten eine Verbindung zwischen ihm und mehreren indigenen Familien im südlichen Yukon belegen. Dank der gemeinsamen Schritte der CAFN-Regierung und der Regierung von British Columbia wurde mit der Leiche dieses jungen Mannes entsprechend den Werten der First Nations verfahren; so war die respekt volle Behandlung eines Vorfahren gesichert und zugleich ein wichtiges Bildungsgut für künftige Generationen gewonnen. Der Auftrag der First Nations in Yukon, ihr Kulturerbe zu verwalten, spiegelt sich deutlich in den Zielen des Ice Patch Project. Es beschäftigt sich mit der Überwachung, Erforschung und Vertiefung kultureller Interpretationsarbeit in Gestalt von Präsentationen und Publikationen (darunter diesem Artikel). Und so sehr es ein Ziel dieses Projekts ist, kulturell bedeutsame Objekte zu bereiten, da sie das Leben ihrer Bürger reicher machen können, heben die Regierungen der First Nations doch auch hervor, dass das Kulturerbe zugleich lebendig und ganzheitlich mit dem Land verbunden und durch Geschichten angereichert ist. Wichtige Prinzipien beim Umgang mit diesem Erbe sind das Teilen von Wissen und der Kontakt zwischen Jungen und Alten, um so den Abstand zwischen den Lebensformen, tradierten Bräu-
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chen und dem Wissen der Vergangenheit und den modernen Lebensweisen von heute zu überbrücken. Die Ältesten des Rates der Ta’an Kwäch’än First Nation erinnern uns daran, dass Management »Sorge für das Land« bedeutet. Nicht nur reisen also auch weiterhin Menschen in die Berge, um die Wiederentdeckung jener Techniken mitzuerleben, die eine alte Jagdtradition erst möglich gemacht haben, sie verlassen sie auch mit neuer Wertschätzung für die Wichtigkeit dieser Räume und finden so die Kraft, sich heute an ihrer Pflege zu beteiligen.
Neue Bedingungen und Möglichkeiten Im Jahr 2020 musste die Feldarbeit aufgrund der aktuellen COVID-19-Pandemie anders ablaufen. Damit die Infektion sich nicht so stark zwischen den Gemeinschaften ausbreitete, entschieden sich zwei der First Nations – die Champagne and Aishihik First Nations (CAFN) und das Teslin Tlingit Council (TTC) –, selbst innerhalb ihrer angestammten Gebiete die Tätigkeit im Feld zu übernehmen. Sie koordinierten das bürgerliche Engagement ihrer Angehörigen und führten Surveys an den wichtigen Stellen durch. Forschungen im CAFN-Gebiet führten zur Entdeckung
Eisproben werden mit der Kettensäge ausgeschnitten und gefroren ins Labor gebracht.
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Gefrorene Geschichten Nordamerikas
mehrerer Fragmente alter Wurfspeere und zum Fund eines neuen Jagdunterstands in der Nähe eines wichtigen Netzes aus Wildpfaden. Im TTC-Territorium wurde eine erst 2018 erkannte Eisflecken-Landschaft weiter erforscht, was die Entdeckung von Artefakten zur Folge hatte. Diese sind mit Fallenstellen im Hochgebirge verknüpft sowie mit einem möglichen Zaun zum Treiben von Karibus auf Eisflecken. Dank des Schaffens und des Ausbaus von Regierungsstrukturen und des Übernehmens der Federführung in der Feldarbeit können First Nations ihre Ziele bei der Verwaltung ihres Erbes und ihre Verantwortung bei der Landbewirtschaftung umsetzen. Dazu gehört das Ausmachen und Dokumentieren von Konflikten um die Landnutzung, die jene Orte gefährden, wo Menschen und Tiere seit Jahrtausenden zusammenleben. Indem sich ihre Bürgerinnen und Bürger an dieser Arbeit beteiligen, können sie den Klimawandel miterleben und schaffen damit ein lebendiges Gedächtnis der sich wandelnden Hochgebirgslandschaft. Wenn wir die Geschichte der Eisflecken weitererzählen, erinnern wir alle, die sie lesen, daran, dass es bei dieser Arbeit um mehr als nur das Finden von Objekten geht. Diese Orte lehren uns, was in Gefahr ist, wenn sich das Lokalklima erwärmt und die Ökosysteme verändern. Inzwischen wird die Forschung des Ice Patch Project in umfassendere Initiativen zur Landbewirtschaftung eingebettet. Die Carcross/Tagish First Nation hat zusammen mit der Kwanlin Dün First Nation eine Initiative zur Planung von Landnutzungen in ihren angestammten Gebieten aufgelegt, und beide sehen die Notwendigkeit, dass Gebirgslandschaften eine Detailplanung brauchen. Im Zuge dieses integrierten Prozesses fließen Informationen über Güter des kulturellen Erbes zusammen mit mündlicher Überlieferung und traditionellem Wissen in die Initativen zum Management einer Landschaft ein, die so wichtig ist, dass die Eisflecken auf Kanadas Vorauswahlliste für
Gefrorene Quellen in und um den Jasper-Nationalpark
eine Nominierung als UNESCO-Weltkulturerbe gewandert sind. Diese Entscheidung der Regierungen der Carcross/Tagish First Nation und von Yukon würdigt die Notwendigkeit, Land zu schützen, das ein einmaliges Beispiel für eine fortdauernde indigene Tradition inmitten einer anerkannten Kulturlandschaft ist. Und zu dieser Landschaft gehört seit über 9000 Jahren das Eis. Dessen Rückgang schmälert nicht die Wichtigkeit dieser Orte; eher erhöht er unsere Verantwortung noch, die Bergwelt für künftige Generationen zu verstehen und zu pflegen.
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Im Labor werden die Eisproben auf Makrofossilien wie etwa Früchte oder Mikrofossilien wie beispielsweise Pollen untersucht. Im konkreten Fall konnten unter anderem Blätter des Heidekrauts (Mitte) und Sauergras achäne (rechts) ausgemacht werden.
Gefrorene Quellen in und um den Jasper-Nationalpark Während der letzten fünf Jahre hat die Provinzregierung von Alberta gemeinsam mit der kanadischen Regierungsorganisation zum Schutz und der Vermittlung von national bedeutsamem Kulturbesitz und Naturerbe-Parks Canada daran gearbeitet, den natürlichen Wandel von Lebensräumen in Gebirgsräumen über Jahrtausende hin sowie die Folgen dieses Vorgangs für die Anpassung des Menschen zu verstehen. Dieses Team aus Archäologen und Paläoökologen erforscht Eisflecken im Jasper-Nationalpark, dem angrenzenden Mt. Robson Provincial Park sowie der Willmore Wilderness im Westen Kanadas. Dabei sucht es nach Artefakten, pflanzlichen und tierischen Überresten, Vulkanasche, großen Holzstücken und erhaltenen Befunden zu den Isotopenverhältnissen. Sie alle zeigen, wie sich Pflanzen, Tiere und das Klima im Laufe der Jahrtausende verändert haben. Außerdem deuten sie an, welche Ressourcen zur Jagd und zum Sammeln durch Menschen verfügbar waren. Ziel ist es, zu lernen, an welche Umweltbedingungen sich die Menschen der Vorzeit anpassten. Damit wird es möglich, die Naturvorgänge besser zu verstehen, aus denen sich ableiten lässt, wie die Rocky Mountains heute geschützt werden können.
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Die Forschungen im Jasper-Nationalpark begannen 2006 mit einem kurzen Pilotprojekt, wurden aber erst 2015 wieder aufgenommen, nachdem zufällig ein Fund hölzerner Pfeilschäfte hoch über der Baumgrenze gemeldet worden war. Die entlegenen Gebiete, in denen es üblicherweise zu solchen Funden kommt, sind meistens per Hubschrauber erreichbar; anschließend verbringen die Crews einige Tage bis eine Woche damit, das Hinterland abzuwandern und nach Eisflecken in Hochgebirgszonen zu suchen – das macht die Forschung schwierig und logistisch kompliziert. Außerdem achten die Forschungsteams darauf, den störempfindlichen Karibus auszuweichen, einer in Alberta bedrohten Tierart, die auch weiterhin bei warmem Wetter Eisflecken nutzt. In den Surveys der Anfangsphase fanden sich mehrere Objekte, darunter ein 2400 Jahre alter Holzschaft und ein 300 Jahre alter Riemen aus geflochtenem Leder. Diese Funde kamen aus der Nähe von Hochgebirgspässen, über die Menschen wahrscheinlich zwischen zwei Tälern wechselten. Der Lederriemen kann an einem Kleidungsstück, als Fangschlinge für Kleintiere, oder Teil eines Beutels gewesen sein. Die Entdeckung reicher »Vorkommen« an Gebirgseis hat den Blickwinkel des Teams auf die Paläoökologie
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Dieser geknotete, etwa 300 Jahre alte Lederriemen stammt von einem Eisfleck in der Nähe der Westgrenze des Jasper-Nationalparks.
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erweitert. Diese Eisvorkommen sind außerdem gefährdet, und das Eis zu erforschen, ehe es verschwunden ist, stellt eine dringende Notwendigkeit dar. Inzwischen konzentrieren wir uns auf Eisflecken mit sichtbaren Schichten (stratifizierte organische Bänder), aus denen wir vorsichtig mit Kettensägen Eisblöcke heraustrennen und in Kühlbehältern in Labore transportieren.
Eine Geschichte über Orte im Wandel Aus der Arbeit an den Eisflecken im Jasper-Nationalpark entsteht allmählich eine 7000 Jahre lange Geschichte. Organische Schichten im Eis enthalten konservierte Pollen, Sporen, Nadeln, Blätter, Früchte, Samen, Flechten und mit etwas Glück auch andere schicke Sachen wie etwa Vulkanasche aus vorzeitlichen Eruptionen. Auch Knochen, Geweihe und Federn sind geborgen worden. Schon jetzt sind aus der Aufarbeitung einer bloßen Handvoll Eisproben aus einem einzigen Eisfleck über 2800 winzige Pflanzenund Tierreste (wie Blätter oder Hornmilben) bekannt. Hunderte oder Tausende Pollenkörner und weitere Makrofossilien warten noch auf ihre Identifikation und Zählung. Nicht nur sind diese Kleinodien wichtig für die Rekonstruktion der Landschaft und vergangener Lebensumstände, sie liefern auch Material zur 14 C-Datierung. Das Eis selbst ist sichtbar von Bläschen mit eingeschlossenen Gasen durchsetzt, wertvollen Dokumenten unserer Atmosphäre, an denen Isotopenanalysen vorgenommen werden. Wir erfahren daraus, dass die Bedingungen in Alberta während dieser Zeitspanne generell wärmer und trockener wurden; in den Rocky Mountains kam es jedoch besonders während der letzten 4000 Jahre zu Abkühlungen und Eisvorstößen. Tannen- und Fichtennadeln im Eis sowie zarte Moos- und Weidenblätter belegen, dass diese Baum- und Pflanzenarten seit mindestens 7000 Jahren vertreten waren. Auch Fragmente von Baumholz, die nahe diesen Eisflecken lagen, sind auf rund 7000 Jahre vor der Gegenwart datiert und zeigen an, dass die Baumgrenze in der Region früher höher verlief. Dank all dieser Informationen verstehen wir besser, wie bergbewohnende Baumspezies in den Rocky Mountains nach Norden wanderten, als sich das Eis nach der letzten Eiszeit (dem Letzteiszeit lichen Maximum) vor 20 000 bis 26 000 Jahren zurückzuziehen begann. Belege für das Klima vor 7000 Jahren stammen auch von verschiedenen Arten gebirgstypischer Heidekräuter und von Silberwurzblättern, die in den damals entstehenden Eiskörpern erhalten blieben. Diese Pflanzen deuten auf die Besiedlung offener, eisfreier felsiger Habitate hin. Heute kommen all diese flachwüchsigen Arten immer noch auf nahen Berg
Gefrorene Geschichten Nordamerikas
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Bisons wandern auch in alpine Gebiete, wie hier eine Herde in den Grand Teton Mountains.
Rund 4600 Jahre alter Bisonknochen, gefunden auf einem alpinen Eisfeld im Jasper National Park, Alberta.
rücken vor, was darauf hinweist, dass die Landschaft dort seit Jahrtausenden ähnlich geblieben ist. Die Naturparks in den Gebirgen von Alberta haben mit der Wiederansiedlung des Bisons begonnen, der vor über einem Jahrhundert durch die Jagd ausgerottet wurde. Über 4000 Jahre alte Bisonreste aus Eisflecken legen nahe, dass diese Tiere in ferner Vergangenheit vielleicht Hochgebirgslandschaften nutzten; das ist ein nützlicher Hinweis für den heutigen Umgang mit ihren Herden, die für die indigenen Gruppen der Region weiterhin ungeheuer wichtig sind. Kryotephra sind im Eis konservierte Vulkanglassplitter, die sich nach Eruptionen abgelagert haben. Sie helfen uns Datum, Ausmaß und Auswirkungen alter vulkanischer Aschefälle im westlichen Nordamerika genauer zu bestimmen. In Alberta gibt es zwar keine aktiven Vulkane, aber die Untersuchung früher Eruptionen und ihrer Spuren gibt Aufschluss
Eine Geschichte über Orte im Wandel
über unsere heutige Anfälligkeit für Ausbrüche jenseits der Provinzgrenzen. Erhaltene Vulkanasche ist für die Archäologie auch deshalb wichtig, weil große Eruptionen in der Vergangenheit Auswirkungen auf Pflanzen, Tiere und die Wanderungen menschlicher Populationen hatten. Man hat Verbindungen zwischen Vulkanausbrüchen und größeren Umbrüchen im Waffengebrauch vor Beginn des europäischen Kontakts sowie den Wanderungen von Völkern in kontinentalem Maßstab gezogen. In den Proben aus den Jasper-Eisflecken suchen wir nach Resten starker Eruptionen des Mount St. Helens vor rund 4000 Jahren in Washington, USA, des Mount Meager vor ca. 2500 Jahren in British Columbia, Kanada, und des Mount Mazama vor ca. 7600 Jahren in Oregon, USA. An anderen Orten in Kanada wurden Analysen von geschichtetem Karibudung aus Eisflecken verwendet, um mittels Radiokarbondaten deren Entwicklung, die lokale Vegetationsdynamik, das Nahrungsspektrum der Karibus und die Evolution von Viren zu erforschen. Zwar sind in Jasper 1200 Jahre alte Karibugeweihe aus Eisflecken gefunden worden, aber in den Eisproben aus Alberta fehlen einstweilen nennenswerte Dungschichten wie die dicken Bänder in Yukon und den Northwest Territories. Das lässt vermuten, dass Karibus und andere Tiere sie hier weniger intensiv nutzten, und erklärt vielleicht, weshalb Alberta bisher kein so reichhaltiges archäologisches Inventar von Waffen aus Eisflecken für die Präkontaktzeit hat, wie es sich weiter nördlich in Kanada fand. In Alberta steht die Arbeit erst am Anfang; nur ein kleiner Anteil der Eisflecken ist in den letzten fünf Jahren schon identifiziert und begangen worden. Mit zielgerichteter Forschung wollen wir künftig das ausbauen, womit wir begonnen haben.
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Eisdepots weiter entwickeln
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Der Rauch ferner Wald brände hüllt diesen Eisfleck in einer Gipfellage der Greater Yellowstone Area ein. Dieses Bild war das Haupmotiv im Poster zum Archaeology Awareness-Monat 2018 im Bundesstaat Wyoming. Ein Survey des Eisflecks ergab Baumreste und Steinabschläge.
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Weltweit schrumpfen oder verschwinden die Gletscher, Eisflecken und ganzjährigen Schneeflächen rasch; das betrifft auch jene in den nordamerikanischen Rockies, wo man für die meisten damit rechnet, dass sie bis zum Ende des 21. Jh. verschwunden sein werden. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, so viele dieser Depots aus Eis wie möglich zu beproben, solange sie noch mit unseren Gebirgslandschaften verflochten sind. Es müssen also rasch große »Eisbanken« aufgebaut werden, Archive aus Eisproben und Bohrkernen, um die darin enthaltenen Ressourcen und Informationsquellen zu bewahren. Dank einiger Institute, die gefrorene Proben zum Langzeitgebrauch sammeln, etwa dem Programm Quaternary Environments (QE) am Royal Alberta Museum oder dem Desert Research Institute der Universität Reno, kann die Forschung zu sich verändernden Landschaften und Klimaten selbst dann weitergehen, wenn die fragilen Eisdepots in ihrer Gebirgsheimat schon lange geschmolzen sein werden. Klimawandel, Habitatzersplitterung, die Verhinderung natürlicher Brände und viele andere Faktoren der Gegenwart gefährden Pflanzen- und Tiergemeinschaften in den empfindlichen Hochgebirgslandschaften. Aber woher wissen wir, dass die Veränderungen, die wir miterleben, nicht einfach ein Teil natürlicher
Zyklen in Gebirgsbiotopen sind? Wie gehen wir mit den großen Werten in unseren Gebirgslandschaften um? Gut erhaltene Tierkörper – darunter Karibus, Nager, Bisons, Wapitis, Vögel und Raubtiere wie etwa Vielfraße – die jahrtausendealt sind, erzählen Geschichten aus der Vergangenheit und zeigen uns, wie wichtig diese Eisstrukturen für viele Bergtiere sind. Diesen diente das Eis im Sommer, um sich kühl zu halten, Parasiten auszuweichen oder Nährstoffe im Schmelzwasser zu nutzen. In den kanadischen Rockies haben die Untersuchungen der Eisflecken eine reichhaltige Dokumentation einer uralten Landschaft in beständigem Wandel freigelegt.
Die Rocky Mountains mittlerer Breiten in den USA Die Eisfleckenforschung in den mittleren geografischen Breiten der USA setzte nach der Entdeckung gut erhaltener paläobiologischer Materialien ein, beispielsweise den Überresten von Bisons (Bison bison) und Engelmannfichten (Picea engelmannii), die das schmelzende Eis in den 2000er-Jahren freigab. Im Lauf des letzten Jahrzehnts gab es Eisfleckenprojekte und Zufallsfunde vom Rocky Mountain National Park in Colorado (unter Leitung von Jason LaBelle, Colorado State University) bis zum Olympic National Park in Oregon (unter Leitung von Dave Conca, Na-
Kapiteltitel Loreum Ipsum consetetur
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YUKON TERRITORIUM
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Vancouver
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OLYMPIC NATIONALPARK
Seattle MONTANA
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Sierra Nevada
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Santa Fé
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Angeles tional ParkLos Service) und von der Sierra Nevada in Kalifornien (leider durch illegales Sammeln und Raubgrabungen) bis zur Greater Yellowstone Area (GYA) in Wyoming, Montana und Idaho. Trotz dieser breiten Abdeckung ist das Forschungsbild alles andere als vollständig. Unter den schon erforschten Gebieten sind die Greater Yellowstone Area und der Tampico Glacier National Park im Nordwesten Montanas am Guadalajara Mexico intensivsten untersucht. Die Greater Yellowstone Area umfasst rund 62 000 km2 und gruppiert sich rund um den Yellow stone National Park, der aber nur einen Bruchteil des gesamten Ökosystems einschließt (vgl. Abb. S.71). Projektile aus Steinabschlägen, Bögen, Vor- und Hauptschäfte von Wurfspeeren und Pfeilen sowie die Überreste von Beutetieren – auf jeden Fall Dickhornschafe (Ovis canadensis) und wahrscheinlich auch Bisons – sind im direkten Zusammenhang mit dem Abschmelzen von Eisflecken in der Greater Yellow stone Area geborgen worden. Diese Bilanz zeigt, dass die Jagd an diesen Stellen eine Hauptaktivität war; andere Arten organischer Objekte, die hier gefunden wurden, deuten allerdings eine vielseitigere Nutzung des Hochgebirges an. Zwar ist ihre Zahl relativ gering, aber vergängliche Gegenstände aus Eisflecken, darunter Flechtarbeiten, erweitern den Aussagewert der in Fülle vorhandenen dauerhaften Steinwerkzeuge, die in archäologischen Hochgebirgslandschaften entdeckt und dokumentiert worden sind – Initiativen wie Lawrence Todds Greybull River Sustainable Landscape Ecology (GRSLE) haben dies sehr prominent gezeigt. Insgesamt spiegeln diese Befunde eine wiederkehrende Nutzung der Landschaft durch die indige-
Partnerschaften und Engagement
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San Francisco
ROCKY MOUNTAIN NATIONALPARK
Die gut erhaltenen Materialien, die zum Vorschein kommen, und ihre historisch-ökologischen Kontexte liefern Indizien zum Klimawandel in Vergangenheit und Gegenwart und zeigen deutlich, wie indigene Populationen mit Landschaften Montreal in Höhenlagen über Oberer See Ottawa 3000 m interagierten. Gebiete in der Greater Yellow Huronsee Ontariosee Boston stone Area, die Toronto heute als »leere« Wildnis gelten, waren Michiganseezehn mindestens Jahrtausende Eriesee Newlang Yorkeine Heimat für Chicago indigene Populationen. Aus vielen Gründen bleiben Washington die Berge heilig und das Erbe vieler Stämme untrennbar mit St.diesen Louis Landschaften verknüpft – durch GeOhio schichten, Lieder, traditionelles ökonomisches Wissen undMemphis Zeremonien. Atlanta Ausgehend von der Zusammenarbeit, die im Yukon-Territorium und in Alaska begann, bilden ForscherNew im Glacier OrleansNational Park und in der Greater Yellowstone Area Partnerschaften mit den indigenen Miami Völkern, deren Ahnen diese Ökosysteme lange besetzt haben. DasHavanna Glacier Ice Patch Project, das 2010 bis 2015 im Glacier National ParkPort-au-Prince (Montana, USA) Santo Domingo
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Partnerschaften und Engagement
JASPERNATIONALPARK
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Riesige Landschaften mit enormen Potenzial für ice patch-Archäologie: Nordamerika ( USA/Kanada) mit den wichtigen N Nationalparkgebieten. W
nen Bewohner dieser Gegend wider, die sich einen saisonal reichhaltigen Lebensraum zu Nutze machten. Die archäologische Quellenlage zeigt, dass indigene Völker die Eisflecken jahrtausendelang immer wieder nutzten; das legt den Schluss nahe, dass sie ein wichtiger Teil ihrer soziokulturellen und geografischen Landschaft waren.
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2117 m
Diese interessante 1300 Jahre alte flache Schale mit weitem Hals hatte mindestens 42 cm Durchmesser. Gefunden wurde sie 2013 beim zweiten Kernbohrversuch im Eis an einem der archäologisch ergiebigsten Eisflecken in der Greater Yellowstone Area, konserviert und analysiert durch Edward Jolie und seine Studierenden an der Mercyhurst University. Gerüst und Wülste bestehen aus Weidenruten.
Kingston
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Web-Tipps Streamingvideo über die Auswirkungen des Klimawandels auf archäologische Stätten im Greater Yellow stone Area: https://vimeo. com/252583882
Webseite der Tagung des INSTAAR: https://instaar.colorado.edu/ meetings/frozen pasts5/index.html
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lief, ist ein Beispiel dafür, wie sich ererbte Stammeswerte und die Wissenschaften zusammentun können, um Regeln für die Bergung, den Umgang, die Analyse und die Dokumentation von Objekten aus Eis flecken zu schaffen. Diese in enger Abstimmung mit den Confederated Salish and Kootenai Tribes und der Blackfeet-Nation entwickelten Regeln gelten jetzt für alle Fundsituationen im Glacier National Park (National Park Service 2019). In Anerkennung der engen Zusammenarbeit zwischen dem Park und seinen Partnern in Stämmen und Universitäten zeichnete das US-Innenministerium das Projekt 2012 mit dem Partners in Conservation Dieser 10 400 Jahre alte Vorderschaft ist Teil eines atlatl-WurfAward aus.
speers, dessen Basis sich konisch- symmetrisch verjüngt und ursprünglich in eine Vertiefung am (nicht aufgefun denen) Hauptschaft eingepasst war. Der Bruch nahe der Schaftmitte wurde vermutlich durch ein Tier verursacht, das auf das durchnässte Holz trat. Das gespaltene Heft (unten links) war für eine (nicht aufgefundene) Projektilspitze aus bearbeitetem Stein gedacht. Dicht beim Heft sind beiderseits drei parallele Besitzermarken sichtbar.
Die Geschichte teilen
Die Weitergabe der Ergebnisse aus der Eisfleckenforschung an örtliche Gemeinschaften – und auch an ein größeres Publikum – ist ein Kernanliegen bei Forschungen in der Greater Yellowstone Area. Zum Engagement zählen die Erstellung eines Streamingvideos, USAweit verteilter Poster und Broschüren sowie einer Wanderausstellung. Produziert wurde das Streamingvideo Ice Patch Archaeology von Montana PBS, dem Ableger des Public Broadcasting Service für den Bundes-
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staat Montana, Eisfleckenarchäologie war das Thema beim Archaeology Awareness Month des Staates Wyoming 2018; über die Forschung wurde ein Prospekt mit begleitendem Poster erstellt und in allen 50 Bundesstaaten verteilt. Schließlich stellte die Wanderausstellung Archaeology Out of Ice (AOOI), gefördert durch das Institute of Arctic and Alpine Re search (INSTAAR) der University of Colorado, die Ergebnisse der Forschung vor, die mit dem Camp Monaco Prize 2016 finanziert wurde. AOOI kann unterschiedlich groß in einer Vielzahl temporärer Ausstellungsräume aufgebaut werden. Mit Stammes perspektiven, Originalstücken, Repliken und künstlerischen Darstellungen vermittelt die Ausstellung die menschliche Dimension der Eisflecken vor dem Hintergrund der Klimazyklen (mit Erwärmung und Abkühlung), wie dies Eisbohrkerne und die dendrochronologische Analyse alter Baumbestände zeigen, die das schmelzende Eis freigibt. Zunächst reiste AOOI 2018 zu Gemeinschaften der Eastern Shoshone und der Northern Arapahoe im Wind River-Indianerreservat in Wyoming. Diese Orte hatten den Vortritt, weil ein Großteil des archäologischen Inventars aus schrumpfenden Eisflecken in der Greater Yellowstone Area kulturell mit indigenen Völkern – deren Ahnen sie geschaffen haben – verknüpft sind. Bis Ende 2020 ist AOOC in neun GYA-Gemeinschaften gezeigt worden. Derzeit ist es im Yellowstone Heritage Research Center des Yellowstone-Nationalparks zu sehen (Gardiner, Montana), wo es bis September 2021 verbleibt, gleichzeitig mit der von INSTAAR ausgerichteten 5. Internationalen Frozen Pasts Conference. Tagungsort ist der Chico Hot Springs Resort in Pray, Montana.
Gefrorene Geschichten Nordamerikas
Erfahrungsbericht einer Wissenschaftlerin
Jenseits der 5000 Meter Constanza Ceruti
Die Eisarchäologie ist ein noch junger Forschungszweig, der in Skandinavien, den Alpen und Nordamerika derzeit schnell wächst. Ihre Anfänge liegen jedoch im argentinischen Teil der Anden. Die Inka waren die erste Kultur der Menschheitsgeschichte, die sich in Höhen über 6000 m ausdehnte. Von den hohen Sierras Perus bis zu den Vulkanen im bolivianischen Hochland und zu den riesigen Gipfeln Zentralargentiniens und Chiles krönten die Gipfelheiligtümer der Inka die Spitzen der höchsten Berge und heiligten sie so als Stätten für Weihegaben und Opfer. Man vollzog Rituale zum Andenken an wichtige Momente im Leben des Inka-Herrschers, um Erfolg im Krieg zu sichern, die Fruchtbarkeit der Ernte zu gewährleisten oder zornige Geister zu besänftigen, die Naturkatastrophen verursachten. Die Prozessionen in die Berge taten vor knapp fünfhundert Jahren das Ihre, die Heiligkeit der Andengeografie zu unterstreichen und die Herrschaft der Inka über die neueroberten Gebiete zu festigen.
Lima
Cuzco
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BOLIVIEN
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Titicacasee
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La Paz
5822 m
M am oré
Cochabamba Pooposee
ANDEN Be rm ejo
PA Z I F I S C H E R OZEAN
Llullaillaco 6739 m
CHILE ARGENTINIEN
Valparaíso
Aconcagua 6961 m Santiago de Chile
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600 km
Jenseits der 5000 Meter
I Das erste Auftreten professioneller Archäologinnen und Archäologen in der extremen Bergumgebung Südamerikas reicht ins Jahr 1964 zurück. Zu dieser Zeit unternahm der schweizerisch-argentinische Archäologe Juan Schobinger eine Rettungsmission, um die Mumie eines jungen Erwachsenen zu bergen, den Bergsteiger auf dem El Toro im Westen Argentiniens gefunden hatten. Schon im darauffolgenden Jahr kam es bei einer weiteren Expedition zur Bergung der gefrorenen Leiche eines geopferten Inka-Jungen auf den Hängen des Aconcagua. Schobinger war mein Mentor, als ich 1996 die Hochanden zu erkunden begann. So wurde ich die erste Hochgebirgsarchäologin der Ge schichte (und bin viele Jahre lang auch die einzige gewesen). Im Zuge meiner Pionierbeiträge zu dieser Teildisziplin zählt die Besteigung und Erkundung – manchmal solo und ohne Unterstützung – von über hundert Gipfeln jenseits der 5000 m in entlegenen Teilen der Anden. Die Erweiterung und Festigung der Höhenarchäologie als Tätigkeitsfeld systematischer Forschung nach wissenschaftlichen Kriterien wurde gefördert durch den Ansatz, die höchsten Gipfel vollständig zu vermessen, sowie durch die Publikation der Beobach-
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Constanza Ceruti besteigt den Aconcagua (6961 m), das Dach der Anden und den höchsten Berg der westlichen Hemisphäre.
Die Anden mit den Vulkanen Misti und Llullaillaco, zwei der wichtigsten hochgelegenen Zeremonial stätten der Inka.
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Bündel der bestatteten, gefrorenen Inka-Mumien und zugehörige Beigaben, entdeckt 1999 von Johan Reinhard und Constanza Ceruti auf dem Gipfel des Llullaillaco (6739 m) im Nordwesten Argentiniens.
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tungen und Schlussfolgerungen aus meinen Aufstiegen nach strikten akademischen Standards. Eigenschaften wie die Höhe der Berge, ihre Sichtbarkeit und die Erreichbarkeit der jeweiligen Gipfel flossen in meine Analysen mit ein, deren Ziel es war, die Strategien der Inka im Umgang mit Gletschertouren, aktiven Vulkanen und schneebedeckten Gipfeln zu verstehen. Auch der US-amerikanische Anthropologe und Forscher der National Geographic Society Johan Reinhard hat Dutzende Berge in den peruanischen und chilenischen Anden erkundet und dabei 1995 die Eismumie des Ampato-Mädchens gefunden. 1998 lud er mich zur Teilnahme an einer einmonatigen Ausgrabung im Krater des 5822 m hohen Misti ein, eines aktiven Vulkans bei der peruanischen Stadt Arequipa, wo wir das größte Ensemble an Inka-Opfergaben entdeckten, das je in großen Höhen verzeichnet wurde. Einige Monate später leiteten wir eine archäologische Mission zur Bergung der Überreste einer Mumie, die Schatzjäger auf dem in 6130 m Höhe gelegenen Gipfel des Quehuar zerstört hatten, eines ruhenden Vulkans in Nordargentinien. Schließlich leiteten Reinhard und ich gemeinsam die Expedition zur höchsten Kultstätte der Erde.
Inka-Eismumien in höchsten Höhen 1999 war ich die Mitleiterin des Projekts zur höchsten archäologischen Fundstätte der Welt und an der Entdeckung von drei außerordentlich gut erhaltenen Eismumien beteiligt. Meine Forschungen auf dem in 6793 m Höhe gelegenen Gipfel des Llullaillaco führte ich gemeinsam mit Reinhard und einer Mitarbeitergruppe durch. Wir entdeckten und bargen die drei Mumien und zahlreiche Weihegaben während einer mühseligen zweiwöchigen Grabung in der Todes zone – fast 7 km über dem Meeresspiegel riskierten wir buchstäblich unser Leben. Beigesetzt waren die Mumien in ausgetieften natürlichen Felsnischen, die von einer künstlich geschaffenen Plattform überdeckt wurden. Ganz an der Ober fläche hatte sich eine dünne Permafrostschicht gebildet, die Leichen jedoch waren vollständig von Vulkanasche umgeben, die sich mit Kelle und Pinsel behutsam abtragen ließ. Ein siebenjähriger Junge saß in einer übergebeugten Position. Bekleidet war er mit einem roten Kittel, Ledermokassins, Knöchelschützern aus Pelz, einem Silberarmreif und einer um den Kopf gewickelten Schleuder; seine Stirn schmückten
Jenseits der 5000 Meter
weiße Federn. In der Nähe wurde ein fünfzehnjähriges Mädchen entdeckt, gemeinhin bekannt als die sogenannte Jungfrau von Llullaillaco; zwei braune Überwürfe bedeckten ihren Körper. Ihr Haar war zu vielen kleinen Zöpfchen geflochten; ein Kopfschmuck mit Federn markierte ihren Status als »ausgewählte Frau« (von den spanischen Conquistadores später als »Sonnenjungfrau« beschrieben). Die dritte Mumie gehörte einem sechsjährigen Kind, oft das Blitzmädchen genannt, weil in ihren Körper nach der Bestattung der Blitz eingeschlagen hatte. Sie trug ein ärmelloses Kleid und einen Schal, beide mit Metallnadeln befestigt, dazu Mokassins an den Füßen und eine Metallplatte auf der Stirn. Nicht nur bewahrten wir die gefrorenen Mumien vor der Zerstörung durch Schatzjäger, Bergbau, den Klimawandel usw., sondern wir legten auch eine riesige Menge an Weihegaben frei und brachten diese in Sicherheit; darunter Keramikobjekte und kleine Gold- und Silberfigurinen, die zu den besterhaltenen Sammlungen von Objekten der Inkakultur zählen. Sechs Jahre lang koordinierte ich die interdisziplinäre Forschung zu diesen Funden an der Katholischen Universität Salta (UCASAL), zu der DNA-Studien, radiologische Untersuchungen und Haaranalysen der Mumien, aber auch technische Studien der zugehörigen Weihegaben zählten, die in zahlreichen namhaften akademischen Zeitschriften erschienen. Das MAAM Museum of Mountain Archaeology, wo die Mumien und Opfergaben vom Llullaillaco heute aufbewahrt werden, ist die am zweithäufigsten besuchte Kultureinrichtung des Landes, während die Stadt Salta in Nordargentinien zum Ziel des interna-
tionalen Kulturtourismus geworden ist. Die Bedeutung unserer Entdeckung führte dazu, dass der Vulkan Llullaillaco und andere mit dem Straßennetz der Inka verbundene Fundstätten in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurden.
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Pionierin der Eisarchäologie Die Eisarchäologie ist ein Ableger der Hochgebirgsarchäologie, die auf Bergsituationen in Skandinavien, den Rocky Mountains und den Alpen zugeschnitten ist. Im 21. Jh., über zehn und manchmal auch über
I Pionierin der Eisarchäologie
Opfergaben der Inka auf dem Llullaillaco: zwei bekleidete menschliche Figuren, drei Lamas sowie eine Halskette aus der heiligen Spondylus-Muschel.
Bestattung des LlullaillacoJungen in situ. Mumie und Opfergaben sind heute im Museum of High Altitude Archaeology in Salta, Argentinien, ausgestellt.
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zwanzig Jahre nach dem Fund der Mumie des Tiroler Eismanns, begannen Kolleginnen und Kollegen aus den Alpenländern und Norwegen die Gipfel und Gletscher systematisch zu begehen. Umgekehrt hatte ich als einzige Frau der Welt bereits im 20. Jh. in den Hochanden aktiv als Pionierin bahnbrechender archäologischer Forschung gewirkt. So sehr sich die archäologischen Funde unterscheiden können, Methodik und Techniken sind grundsätzlich ähnlich, wie ich bei meinen Felderfahrungen in Skandinavien und den Alpen feststellte. Heutzutage ist es deutlich leichter als früher, Bergund Eisarchäologie zu betreiben. Mitte der 1990er-Jahre konnte ich nicht auf das positive Image zählen, das die Eisarchäologie dank des aktuellen Bewusstseins und der Sorgen rund um den Klimawandel heute in der Öffentlichkeit genießt. Als Pionierin musste ich mich außerdem mit der Skepsis von Lehnstuhlarchäologen auseinandersetzen, die meine Projektanträge negativ begutachteten und jedem Projekt, in dem eine Frau auf hohen Bergen arbeitete, »geringe Machbarkeit« bescheinigten. Und außerdem gab es damals noch kein Journal of Glacial Archaeology (JOGA), in dem ich meine Ergebnisse hätte publizieren können. Schwierige Umweltbedingungen ähneln sich weltweit, aber in den Anden sind sie deutlich schwerer zu bewältigen – in einem Teil der Welt, wo die Berge viel höher sind, die Gletscher ebenso gefährlich, aber schlechter zugänglich, die Gipfel Hunderte Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt liegen, die Durchschnittstemperaturen deutlich tiefer liegen und gute technische Ausstattung, Unterstützung durch Hubschrauber oder die Möglichkeit für Notru-
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fe nicht zur Verfügung stehen. Viele Male musste ich meine Besteigungen am Ende im Alleingang machen, mit wenig Unterstützung durch Institutionen, wenn überhaupt.
Förderung der Forschung an heiligen Bergen Forschungen im Gebirge sind eine Möglichkeit, die Welt kennenzulernen, ihre echte kulturelle Vielfalt zu würdigen und das Andenken unserer Vorfahren zu ehren. Über meine archäologische Arbeit in den Anden hinaus habe ich Hunderte Gipfel in verschiedenen Gegenden unseres Planeten bestiegen, um dort kulturanthropologische Studien zur Rolle von Bergen für Pilgerreisen, Volksbräuche, Volksfrömmigkeit, Identität und Tourismus durchzuführen. So wurde ich eine der Handvoll Expertinnen und Experten, die es weltweit für heilige Berge gibt. Zu meinen veröffentlichten Büchern zählen Studien über die Gipfel in Thailand, Australien, Irland, Schottland, Spanien, Italien, Norwegen und den Anden, dazu über hundert Fachaufsätze mit Analysen der religiösen Dimension von Bergen in den Pyrenäen, den Alpen, Skandinavien, Polynesien und auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Gefördert wurde das öffentliche Interesse an heiligen Bergen und der Eisarchäologie während meiner 25 Jahre intensiver Lehr- und internationaler Vortrags tätigkeit durch meine Gastaufenthalte an Dutzenden Universitäten in den USA, Europa, Lateinamerika und Australien sowie durch die Medienberichte und die weltweite Aufmerksamkeit, die meine Arbeit und
Zweiräumiges inkazeit liches Gebäude und Gipfelplattform auf dem Llullaillaco während der Ausgrabung 1999.
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Jenseits der 5000 Meter
ihre Ergebnisse erregten. Auch die zahlreichen Auszeichnungen, die ich für diese Pionierarbeit verliehen bekam, haben zum Bewusstsein für die Wichtigkeit archäologischer Forschung in großen Höhen beigetragen. Ich bin das jüngste je gewählte Mitglied der Nationalen Wissenschaftsakademie Argentiniens; gewürdigt wurde mein Werdegang durch die Goldmedaille der International Society of Woman Geographers, ein Ehrendoktorat der Geisteswissenschaften des Moravian College in Pennsylvania, den Courage Award der Wings World Quest (eines Zusammenschlusses, der Wissenschaftlerinnen und Entdeckerinnen fördert) und die Goldmedaille der Universität von Buenos Aires. Ich war eine der ersten Emerging Explorers der National Geographic Society und war als Distinguished Lecturer in Anthropology an der University of West Georgia tätig. Als der Prinz-von- Asturien-Preis für Kommunikation und Geisteswissenschaften an diese Einrichtung ging, war ich eine
Förderung der Forschung an heiligen Bergen
der fünf Ausgezeichneten; außerdem wurde ich als Rednerin zur ersten weltweiten TED-Konferenz in Oxford und als Rising Talent zum Women’s Forum for the Economy & Society eingeladen. Für jede dieser angesehenen Einrichtungen stand die Bedeutung heiliger Berge und der Eisarchäologie fest, und diese Botschaft habe ich weiterverbreitet, wo immer ich im letzten Vierteljahrhundert Vorträge gehalten habe. Als Johan Reinhard und ich 1999 die Mumien vom Llullaillaco entdeckten und in Sicherheit brachten, hatte ich bereits über 50 Andenberge jenseits der 5000 m erkundet. Diese frühen Beiträge, die älter sind als der Großteil der archäologischen Feldstudien auf Bergen in Europa, Afrika, Asien und Nordamerika, sind für die Verstetigung unserer Disziplin grundlegend gewesen. Die Höhenarchäologie der Anden hat eine fundamentale Rolle in der Geschichte der weltweiten Gebirgsarchäologie, Eisarchäologie und Anthropologie heiliger Berge gespielt.
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15 Jahre alt war das »auserwählte« Inkamädchen zum Zeitpunkt ihres Todes auf dem Llullaillaco – sie gilt als eine der besterhaltenen Eismumien der Welt.
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Gipfelheiligtümer der Inka
Sakrale Orte in den Nordanden Alden Yépez
Die Nordanden in Ecuador mit dem Vulkan Chimbo razo (6268 m), rechts das Naturschutzgebiet Chimborazo in einer Satellitenaufnahme.
IF OZ ISCH EA N ER
Esmeraldas
Der vergletscherte Pariacaca ist der Ursprung der Flüsse Cañete und Mantaro, die nach Westen bis zur pazifischen Küste fließen. Die Spitzen dieses Berges erreichen eine imposante Höhe von 5724 bzw. 5571 m.
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Heilige Vulkane und Orakel
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Quito
Cotopaxi
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von den indigenen Völkern auch ganze Gebirgsketten als großer sakraler Raum wahrgenommen werden konnten. Die Gebirgskette (Kordillere) von Pariacaca im südzentralen Peru illustriert eine solche sakrale Dimension, sowohl in der Wahrnehmung der Spanier als auch bei jener der indigenen Völker während der frühen Kolonialzeit im 16.und 17. Jh. Für den sakralen Charakter eines Berges ist vor allem zentral, dass aus seiner Umgebung Gewässer in Form von Flüssen, Bächen oder Wasserquellen entspringen. In diesem Zusammenhang spielen Gletscher eine wichtige Rolle für die indigenen Völker in den Anden sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, denn Gletscher sind wichtige natürliche Wasserspeicher in den Bergen. Dort leben schützende Gottheiten, die meteorologische Phänomene kontrollieren und für die Gläubigen zugleich wichtige Wasserspender darstellen, die das Leben durch die Landwirtschaftszyklen durch die Wasservergabe gewährleisten.
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GOLF VON G U AYA Q U I L
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Cuenca Sakrale Orte in den Nordanden
Machala D R GO R E
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Als die spanischen Eroberer im frühen 16. Jh. die Anden erreichten, vernahmen sie, dass die Berge für die indigene Bevölkerung eine gewisse religiöse Bedeutung haben und dort bestimmte Idole verehrt werden. Diese Verehrung bestand unter anderem im Vergießen von Kamelidenblut und der Darbringung von Menschenopfern, um so den Schutz des Lebens, sichere Ernten und andere Wohltaten von den auf den Bergen lebenden göttlichen Wesen zu erbitten. Die Missachtung von Glauben und Kulthandlungen konnte schwere göttliche Strafen zur Folge haben. Damals war bei den Spaniern die Wahrnehmung von indigenem Glauben und religiösen Riten durch den christlich-katholischen Glauben des europäischen Mittelalters geprägt. Deshalb wurde das indigene Quechuaund Aymara-Wort Huaca, Wak´a oder Guaca als eine Art figürliches Idol von tier- bzw. menschlicher oder gar »teuflischer« Gestalt aus Keramik oder Stein angesehen, das als falsche Gottheit von der »blinden Hexerei« verehrt wurde. In den frühen Schriften der spanischen Priester, deren Mission die Ausmerzung dieser Hexerei war, ist noch eine weitere Bedeutung des Wortes Huaca als sakraler Ort der Götterverehrung abzulesen: ein Heiligtum also, ähnlich einem Tempel oder einer Kirche. Um die Mitte des 16. Jh. war für die Priester diese zweite Bedeutung auch auf die Berge übertragbar, da
Ein Hunderte Kilometer langer Weg führte einst von der peruanischen Küste durch die Wüste den beiden Flüssen folgend über die steile Bergflanke hinauf zu einer mit Treppen befestigten Passage. Diese mündet in einen besonderen Platz, wo mehrere bearbeitete Steine die umliegenden Berggipfel symbolisieren. Dieser »lebendige« Ort war in der (vor-)kolonialen Zeit ein bedeutendes überregionales Heiligtum der südamerikanischen Hochanden. Die Spanier indes wussten nichts von einer zweiten wichtigen Bedeutung dieses Berges: Für die indigenen Völker waren die Berge und Heiligtümer der Anden nicht nur heilige Orte, sondern zugleich Orakel, welche Fragen von Priestern und Gläubigen hören und dazu Auskunft geben konnten. Diese Eigenschaft eines Orakels, mit den Menschen kommunizieren zu können, gibt dem Berg einen mensch lichen Charakter und zugleich eine gewisse Macht über die Bevölkerung. Sakrale Plätze sind in den Anden in ihrer Erscheinung unterschiedlich geformt. Aus den Berichten der spanischen Priester lassen sich zwei Arten von Heiligtümern erkennen: solche, die natürlich und ohne künstliche Bearbeitung für Riten vorkommen und so in die heiligen Mythen integriert wurden, und solche, die bearbeitet und wegen der so geschaffenen Gestalt als heilig angesehen wurden. In den Nordanden im
Heilige Vulkane und Orakel
heutigen Ecuador und Kolumbien waren die heiligen Orte natürliche Gegebenheiten, die eine wichtige religiöse Bedeutung für die Ureinwohner aus der umliegenden Region hatten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der spanische Priester Cristóbal de Alborno im 16. Jh. in seinem Werk »Instrucción para descubrir todas las guacas del Perú y sus camayos y haciendas« mehrere Berge nennt, die für die Bevölkerung heilig waren. Im zentralen Ecuador bildet der Vulkan Chimborazo das beste Beispiel für das sakrale Konzept einer natürlichen (vulkanischen) Gegebenheit als Huaca, also eines Heiligtums für die religiöse Mentalität der indigenen Völker in vorspanischer Zeit. Über diesen Vulkan schreibt der eben erwähnte Priester de Albornoz, dass er neben anderen wie Chichirazi, Carorazo Huaca für die indigenen Pastos (im heutigen Ecuador) sei. Dieser und andere Namen stammen aus Cuzco (Perú) und seien einst vom Inkaherrscher Guaynacapac nach Norden gebracht worden. Der Ortsname Chimborazo wird durch zwei Namen gebildet: erstens Chimbo und zweitens Razu oder Razo. Während die Bedeutung von Chimbo in den frühen Quechua-Quellen nicht eindeutig bestimmt ist, lässt sich der Name Razu als Schnee übersetzen. Demnach wäre eine mögliche Interpretation von Chimborazo also der »verschneite« oder »schneebedeckte Berg
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Bevor die Spanier nach Equador kamen, galt der Chimborazo den dort lebenden Menschen als heilig.
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Spuren des Lebens in der vulkanischen Landschaft? Steingebäude am Vulkan Chimborazo könnten vermutlich für kurze Zeit bewohnt gewesen sein.
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von Chimbo«. Im Unterschied zu den Bergen in Zentral- und Südperu bzw. Bolivien sind die höchsten Berge in Ecuador permanent von Gletschern bedeckt. Die Ausdehnung bzw. der Rückgang der Gletscher wird hier daher nicht von den Jahreszeiten bestimmt, sondern vom Klimawandel und über einen Zeitraum von Jahrhunderten. Mit einer Höhe von 6268 m dominiert der Chimborazo die umliegende Landschaft. Bei gutem Wetter ist er sogar von der Küste in der Provinz Guayas aus sichtbar, und im Hochland sind seine fünf Berggipfel selbst aus der Ferne beeindruckend. Mit einem Durchmesser von 20 km und fünf Gipfeln ist es heute nicht einfach, das Heiligtum des Vulkans, also die Huaca der indigenen Völker der vorspanischen Epoche ausfindig zu machen. Allerdings bieten natürliche Formen in der steinigen vulkanischen Landschaft gute Anhaltspunkte für die Sichtbarkeit der Sakralität dieses Berges und damit zum Verständnis der indigenen religiösen Mentalität. An der südwestlichen Flanke, auf einer Höhe von ca. 4880 m, bildet ein alter Lavafluss einen kleinen Steingipfel, dessen spitze Kuppel dem südlichen und mit 5000 m zweithöchsten Gipfel des Chimborazo gleicht, dem Veintimilla. Diese auffallende Ähnlichkeit beider Kuppeln hat die indigenen Völker des 16. Jh. offensichtlich sehr fasziniert. Aus unserer heutigen beschaulichen Perspektive ist diese Überlap-
pung schön und vielleicht auch beeindruckend, doch für die damaligen Menschen war dies nicht nur ein rein visuelles Phänomen, sondern vor allem ein religiöses. Von kultischen Aktivitäten zeugen jedenfalls die archäologischen Nachweise in der unmittelbaren Umgebung.
Rätselhafte Vertiefungen in Steinen An der südlichen Basis des erwähnten Lavaflusses haben die Inka vier Steingebäude um einen viereckigen Innenhof errichtet. Es handelt sich wohl um Wohngebäude, besiedelt während einer kurzen Zeitspanne von ca. 1410 bis 1440, und damit zugleich um eine der frühesten Spuren der Inkakultur im Hochge-
Sakrale Orte in den Nordanden
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Vertiefungen wie diese finden sich zuhauf auf dem Vulkan. Analysen ergaben, dass sich darin einst Speisen befanden. Handelt es sich hierbei um Opferlöcher?
Der »Gipfel« des Lava stroms ähnelt in Miniaturform einem der vier Gipfel des Chimborazo. Entlang der Überlappungslinie bzw. an deren Fuß wurden organische Opfergaben deponiert.
birge im nördlichen Tahuantinsuyu, dem damaligen Inkaimperium. Während der Ausgrabung in einem dieser rechteckigen Innenräume stellt sich natürlich die Frage, was die Inka in dieser Höhe am Vulkan Chimborazo einst beabsichtigen? Auf der östlichen Seite des Lavaflusses finden sich auf einem leicht ansteigenden breiten Platz einzelne relativ große Vertiefungen in insgesamt über hundert kleineren und größeren Steinen, verstreut auf einem Areal von ca. 2 ha. Besonders aufallend ist, dass auf der Überlappungslinie der oben erwähnten Vulkanund Lavaflussgipfel die Anzahl dieser Löcher in den Steinen deutlich ansteigt, weshalb dieses natürliche Sichtbarkeitsphänomen für die indigene Bevölkerung eine symbolische und kultische Bedeutung gehabt haben musste. Erste Analysen zeigen in den Vertiefungen Überreste von Mais, Bohnen und Kartoffeln, die dort wohl als Opfergaben deponiert wurden. Es ist daher zu vermuten, dass der Lavafluss das eigentliche Heiligtum des Chimborazo war, seine
Rätselhafte Vertiefungen in Steinen
Huaca. Folgt man diesem in Höhen zwischen 4800 m (steinige Umgebung) und 5000 m (Gipfel), sind auch materielle Hinterlassenschaften heutiger Riten zu finden: Mahlzeiten verbunden mit Gebeten und Predigten der Indigenen oder auch Kerzenreste und alte Fotos von modernen Pilgern. Leider sind die materiellen Reste dieser Pilger, im Unterschied zu jenen aus der Inkazeit, nicht mehr natürlich abbaubar, sondern belasten auch die Umwelt am Vulkan Chimborazo: Becher und Verpackung aus Plastik, Glasflaschen und Metalldosen sind überall in der steinigen Landschaft zu finden. Unsere heutige Wahrnehmung interpretiert sie als gewöhnlichen Müll und keinesfalls als dem Vulkan gewidmete Überreste kultischer Riten, die zumindest indirekt eine lange religiöse, in der vorspanischen Epoche verankerte Tradition fortführen. Der Chimborazo prägt bis heute die Bewoh ner, weshalb sich die Archäologie noch stärker mit der symbolischen Wirkung seiner Sichtbarkeit auf die Andenbewohner beschäftigen sollte.
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Wettlauf mit der Erosion
Schmelzendes Kulturerbe in den mongolischen Steppen William Taylor, Jamsranjav Bayarsaikhan und Isaac Hart Wohl nirgends auf der Welt ist die archäologische Überlieferung so wertvoll – oder knapp wie in den kalten, trockenen Steppen der Mongolei und des östlichen Zentralasien. Die mongolischen Kulturen und ihre mobile, um das Pferd kreisende Lebensweise, die der westlichen Welt überwiegend durch die Eroberungen des Mongolenreichs bekannt sind, haben einen gewaltigen Einfluss auf die Weltgeschichte gehabt. Lange bevor Dschingis Khan geboren wurde, halfen Reiternomaden aus Osteurasien schon dabei, die ersten politischen, kulturellen und ökonomischen Verbindungen zwischen den frühen Kulturen Chi nas, des Nahen Ostens, Indiens, Europas und des Mittelmeerraums herzustellen. Über die grasbestandenen Steppenautobahnen im Inneren Eurasiens transportierte man Waren, Ideen, Nutzpflanzen und -tiere, ja sogar schwere Krankheiten wie die Beulenpest. Das Verständnis der globalen Vorgeschichte – und unserer modernen Welt – setzt daher ein genaues Verständnis der Vorgeschichte der mongolischen Steppen voraus. Doch ungeachtet der übergroßen Wichtigkeit der Mongolei für die Geschichte der heutigen Menschheit stellt ihr archäologisches Inventar die wissenschaftliche Forschung vor einzigartige Probleme. Anders als
die in historischen Dokumenten belegten Gesellschaften Chinas und anderer sesshafter Agrarstaaten haben die alten mongolischen Völker kaum historische Spuren hinterlassen – besonders während der frühen Jahrhunderte der Bronze- und Eisenzeit, in denen man zentrale kulturelle Veränderungen wie etwa den Übergang von der Jagd zur Herdenhaltung ansetzt. Wegen des äußerst trockenen Klimas und der Viehwirtschaft ist die Landschaft der Mongolei häufig ein Albtraum für Archäologen: Erosion, Beweidung und Wind tragen an vielen Stellen die spärliche Schutzschicht aus Sedimenten ab, die sich eventuell angesammelt hat. Folglich sind die wenigen tempo rären archäologischen Fundorte, die sich dennoch bilden und Einblick in die Lebensweise früher Nomadenvölker gewähren, typischerweise seit Jahrhun derten oder Jahrtausenden der Schadwirkung der Elemente ausgesetzt. So werden die wenig haltbaren organischen Materialien, welche einen Großteil der materiellen Kultur von Hirtenvölkern ausmachen, rasch zerstört. Verbunden mit der Abgelegenheit des Landes führt dies dazu, dass die Ursprünge der frühen Hirtengesellschaften in der Mongolei nur schlecht in die wissenschaftlichen Globalmodelle unserer Vergangenheit als Menschen eingepasst sind.
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(Peking)
Das Arbeitsgebiet am Rand des Altai-Gebirges im äußersten Westen der Mongolei.
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500 km
Schmelzendes Kulturerbe in den mongolischen Steppen
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Die Milchstraße scheint in einer klaren Nacht hell über dem Altaigebirge. Die Jurte (mongolisch »Ger«) einer einheimischen Hirtenfamilie wird auch von den Archäologen als Unterkunft genutzt.
Frühe Hirten auf Höhenjagd
Dschinghis Khans Butter All diesen »eingebauten« Herausforderungen zum Trotz besitzt die Mongolei eine lange Tradition ausgezeichneter archäologischer Wissenschaft, und ihr kalt-trockenes Kontinentalklima sorgt gelegentlich für die exzellente Erhaltung des organischen Teils der materiellen Kultur. Eine der frühesten archäologischen Grabungen von Bedeutung wurde in der Mongolei 1924/25 durch ein Team unter Leitung des russischen Forschers P. K. Koslow und der Russischen Geografischen Gesellschaft am Fundort Noyon Uul (als Noion Ula ins Russische transkribiert) durchgeführt. Die Stätte besteht aus einem Herrschergrab, das einem frühzeitlichen Anführer der Xiongnu – eines frühen Hirtenreichs – gehörte, der etwa um die Zeitenwende lebte. Das an den Ufern der Selenga gelegene Grab wurde überflutet – und der Permafrost der tiefen Bodenschichten sorgte anschließend für einen erstaunlich guten Erhaltungszustand. Die Forscher entnahmen der Bestattung kostbare Quiltdecken, Seiden- und Wollkleidung, lackierte Schalen sowie die Überreste von Tieren und Pflanzen. Diese Schatzkammer organischer Gegenstände enthüllte fantas tische Details, die sich an weniger vergänglichen Objekten nicht entdecken ließen, darunter auch offenkundige Handelsverbindungen bis nach China und Persien.
In den seither vergangenen Jahrzehnten haben Forscher, die in kälteren Regionen tätig waren, neue faszinierende Entdeckungen gemacht, darunter komplizierte Reitausrüstung und Filzgegenstände aus der Pazyryk-Kultur des 1. Jt. v. Chr. im hohen Altaigebirge im Westen oder Krüge voller Milchprodukte (wie Butter und Urum, ein an Clotted Cream erinnerndes Rahmprodukt) aus der Zeit des Dschingis Khan. Dank derartiger »gefrorener« Gräber hat die archäologische Forschung dazu beigetragen, die fehlenden Details der reichhaltigen Wirtschaft und Kultur einer Region zu liefern, die in vielerlei Hinsicht durch Tiere, tierische Produkte und vergängliche Materialien geprägt ist. Diese Funde haben uns dabei geholfen, die Ausbreitung der Nutzviehhaltung, die Übernahme des Reitens auf Pferden und andere Schlüsselentwicklungen zu verstehen, die der Entstehung der Hirtenkulturen der asiatischen Steppe zugrunde lagen.
Frühe Hirten auf Höhenjagd Zwar liefern Eis- und Permafrostgräber wichtige Momentaufnahmen des Lebens der frühen Hirten in der Mongolei, aber dem Wissenschaftswert solcher Orte sind Grenzen gesetzt. Beispielsweise ist keine dieser frühen »gefrorenen« Stätten älter als das 1. Jt. v. Chr, in das vielleicht die ersten Züge des Übergangs von Jagd- zu Weidewirtschaft fallen. Was noch wichtiger
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ist: Im Grunde sind diese Bestattungen archäologisches Theater, Ansammlungen elitärer Grabinventare, die die einfachen, alltäglichen, ökonomisch grundlegenden und ökologisch wirksamen Aktivitäten früher Völker eventuell nicht zutreffend abbilden. Diese Schieflage ist besonders in den hohen Gebirgslagen der Mongolei problematisch, von wo die ältesten Belege des Hirtenlebens in den östlichen Steppen stammen. In diesem Milieu mit hoher Relief- und Ablagerungsenergie sind Lagerplätze, Abfallhaufen und andere nichtsepulkrale archäologische Stätten, die das Leben der ersten Hirten näher beleuchten könnten, einem noch höheren Grad an Verwitterung und Zerstörung ausgesetzt als in anderen Gebieten. Alpine Gletscher und mehrjährige nicht-glaziale Schnee-/Eisansammlungen (sogenannte ice patches) könnten eine erste Lösung für dieses Problem bieten. Zwar fällt in der Mongolei wenig Regen und noch weniger Schnee, aber dank der großen Höhenlage und niedriger Temperaturen kann sich den Sommer über Bergeis im Altaigebirge halten, das die Westgrenze des Landes formt. Hier bildet schmelzendes Eis im Sommer eine wichtige Süßwasserquelle für Hirten und ihre Tiere, und die Ränder einiger Schneeund Eisflecken in geringerer Höhe ernähren Pflanzen und Gräser, die saisonal nutzbar sind. Außerdem ziehen Eisflecken die kälteangepassten Großwildtiere der Region an, vor allem Rentiere in der Nordmongolei sowie Riesenwildschafe (Argalis) und Sibirische Steinböcke im Westen. Die Forschungen durch unser gemeinsames archäologisches Team von der Univer-
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Archäologische Erkundung und Erfassung von Stätten am Rand eines Eisflecks im Altai
sity of Colorado-Boulder und dem Nationalmuseum der Mongolei zeigen, dass Bergeis in der Mongolei als archäologische Tiefkühltruhe dient, die ein jahrtausendealtes Archiv der Aktivitäten von Mensch und Tier in großer Höhe konserviert und uns neue Hinweise auf die Subsistenzwirtschaft der prähistorischen Völker in der Mongolei liefert. Seit Beginn unserer Forschungen im Sommer 2018 sind unsere Ergebnisse überraschend, ja sogar schockierend gewesen. An einem Berggletscher in der Provinz Bayan-Ulgii in der Westmongolei scheinen frühe Menschen ein bestimmtes Gebiet wiederholt zur strategischen Lauerjagd auf Argalis genutzt zu haben. An dieser Stelle fanden wir eine riesige Ansammlung aus Argaliskeletten, die aus dem Eis apern; bei manchen waren die Schädel zu riesigen Haufen aufgeschichtet. Entlang des Eisrands bargen wir mehrere Dutzend Pfeile und Pfeilfragmente aus Weidenholz, außerdem angespitzte Stöcke, die wahrscheinlich entlang eines Höhenrückens senkrecht in den Boden gerammt waren, um das Treiben des Wildes zu erleichtern. Die 14C-Datierung dieser Objekte deutet eine fast kontinuierliche über 3500 Jahre lange Geschichte des Jagens in großer Höhe an. Die Ergebnisse aus Bayan-Ulgii liefern uns den ersten direkten Hinweis, dass die Jagd bei frühen Hirtengesellschaften des 2. Jt. v. Chr. eine wichtige Rolle spielte. Die wissenschaftliche Erforschung dieser Funde aus den Eisflecken wirft jetzt ein neues Licht auf Technik und kulturellen Kontext der Höhenjagd. 2019 bargen wir einen vollständigen Pfeil, der aus dem Eis
Schmelzendes Kulturerbe in den mongolischen Steppen
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Schädel und Hörner von Argalischafen, die nach erfolgreicher Jagd aufgestapelt wurden; Datierung ca. 169 bis 325 n. Chr.
eines Gletscherrandes herausschmolz. Die Bronzespitze war am Schaft mit Sehnen befestigt, die sich in Laboranalysen als die von Hirschen (wahrscheinlich Cervus elaphus) herausstellten, und am Nockende mit Ocker verziert. Laut der 14C-Datierung ist dieser Pfeil rund 2800 Jahre alt; das verknüpft ihn mit einer der ersten hochbeweglichen Pferdekulturen der Region, die als Deer Stone-Khirigsuur Complex bekannt ist. Diese Funde zeigen, dass außer einer ausgeklügelten Strategie auch sorgfältige Vorbereitung und Ent scheidungen bei der Materialauswahl für eine erfolgreiche Jagd mitspielten. Archäozoologie kombiniert mit Massenspektrometrie (ZooMS) verwendet laserbasierte Massenspektrometrie, um die Struktur von Kollagen in Artefakten aus Knochen oder Weichgewebe zu identifizieren und diese daraus resultierenden »Fingerabdrücke« zu nutzen, um Arten von Objekten zu identifizieren, die sonst nicht taxonomisch identifizierbar wären. Wie die Anwendung dieser Analysetechnik an organischen Pfeilspitzen zeigt, die während unserer Surveys gefunden wurden, verwendete man häufiger Projektilspitzen aus Hirschgeweih oder Schafsknochen als solche aus Metall. In Eisflecken auf geringerer Höhe fanden wir die Überreste
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von Nutztieren und von frühen Hirten verlorene Gegenstände, darunter ein Stück Seil aus Pferdehaar (vielleicht Teil eines Pferdegeschirrs oder zum Festbinden von Lasten auf einem Packtier genutzt), das vor beinahe 1500 Jahren verloren ging. Insgesamt deutet diese Forschungsarbeit an, dass alpines Eis schon für die frühesten Hirtengesellschaften der Bronzezeit einen festen Bestandteil der pastoralen Bedarfswirtschaft im Altai bildete.
Schmelzende Tradition, wärmeres Klima und eine unsichere Zukunft Diese Überlegungen gestatten für eine Region, die mit einem drastischen Rückgang der Wildtierpopulationen und beispiellosen Schmelzraten im Sommer konfrontiert ist, entscheidende Schlussfolgerungen. Nach Satellitenfotos zu urteilen, sind in der kleinen Zone rund um unsere Tätigkeitsorte in nur zwei Jahrzehnten anscheinend über 30 Prozent der Sommerschnee- und -eisdecke verschwunden. In der Nordmongolei schmolzen Eisflecken, die wir noch 2018 dokumentierten (und die laut den Einheimischen seit Menschengedenken nie getaut waren), 2019 vollstän-
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dig weg. Während die Sommertemperaturen steigen, zieht sich auch die Permafrostzone weiter nach Norden und in größere Höhe zurück, womit andere Formen gefrorener Überlieferung in Gefahr geraten. Eisschmelze und Wildverlust gefährden außerdem die Hirten von heute, die vor immer größeren Umweltproblemen stehen. Rentierhirten im Nordteil des Landes verlassen sich auf das Sommereis, damit ihre Tiere Kühlung finden und dem Stress durch Insekten entgehen; jetzt melden sie größere Schwierigkeiten mit der Gesundheit der Tiere. Großwildjagd und Subsistenzfischerei an unserem Untersuchungsort im Altai, an die sich die Ansässigen als wichtige Teile der Bedarfswirtschaft im 20. Jh. erinnern, sind durch Wilderei, Bevölkerungsschwund und einschlägige Restriktionen inzwischen praktisch verschwunden. Im ganzen Land fürchten die Hirten, die wir befragten, das schmelzende Eis könnte die Wasserführung der Gebirgszonen bleibend verändern und die Möglichkeit zur Sommerweide gefährden. Ohne diese produktiven Sommerweiden kann die Viehzucht in der Region aber nicht einmal einen Bruchteil ihres historischen Ausmaßes erreichen. Als Reaktion auf diese akuten Bedrohungen sind archäologische Feldarbeit und Kontaktinitiativen zur Bevölkerung dringend nötig. Für die Zukunft soll unser Projekt erweiterte Forschungen in den riesigen, weithin unbearbeiteten Gebirgseiszonen der Mongolei durchführen. Noch wichtiger ist, dass wir die lokalen Einwohner und Forscher mit den nötigen Mit-
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teln versorgen, um Objekte aus Gletschern und Eisflecken zu identifizieren, zu dokumentieren und zu bergen, ehe die kostbaren wissenschaftlichen Einblicke und das kulturelle Erbe, das sie enthalten, endgültig verloren gehen.
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Archäologische Entdeckungen bei der Eisflecken arbeit in der Westmongolei 2019, darunter ein geschäfteter Bronzepfeil (oben), Datierung ca. 821 bis 791 v. Chr., und ein Stück Rosshaarseil, Datierung ca. 429 bis 535 n. Chr. (unten).
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Die »Marmormumie« vom Mount Everest
Forschung in extremen Höhen Jochen Hemmleb
»Glaub’ mir, Jochen, es war derselbe Rücken!« Mein amerikanischer Expeditionskollege Jake Norton hielt mir das alte Schwarzweißfoto unter die Nase und schien es noch immer nicht ganz fassen zu können. Das Foto war ein Klassiker aus der Frühzeit des Himalayabergsteigens. Drei Mitglieder der englischen Mount-Everest-Expedition von 1922 stehen nach der Durchquerung eines Flusses in Tibet beieinander. Der mittlere hat seine Schuhe ausgezogen und trägt sie, an den Schnürsenkeln zusammengebunden, um den Hals. Sein Partner links von ihm war einen Schritt weiter gegangen und hatte sich seiner Beinkleider
Laufende U2 Loreum Ipsum consetetur
entledigt. Und sein Partner rechts schließlich kannte offenbar keinerlei Hemmungen: bis auf seinen Hut unbekleidet steht George Mallory da und präsentiert kokett lächelnd seinen trainierten Körper mit der perlweißen Haut. 77 Jahre später, am 1. Mai 1999, hatte Jake Norton denselben alabastergleichen Körper vor Augen gehabt, in fast 8200 m Höhe auf einem Geröllfeld in der Nordwand des Mount Everest, wo der Berg George Mallorys Leichnam freigegeben hatte. Tage darauf zierte das Bild vom sogenannten »Marmormann« die Titelseiten von Zeitungen in aller Welt.
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Mitglieder der Suchexpe dition nach Andrew Irvine 2010 beim Zustieg zum Mount Everest. Am Grat links des Gipfels verschwanden 1924 Irvine und sein Partner George Mallory beim Versuch der Erstbesteigung.
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Kapiteltitel Loreum Ipsum consetetur
Nimmt man die Erstbesteigung des Mont Ventoux durch den Dichter Petrarca 1336 als Geburtsjahr des Bergsteigens, so umfasst die Alpinismusgeschichte nicht ganz 700 Jahre und reicht somit zurück bis in die Anfänge der Renaissance; das Höhenbergsteigen im Himalaya ist dagegen gerade einmal rund 130 Jahre alt. Archäologisch betrachtet handelt es sich also um eine sehr junge Vergangenheit, die durch Artefakte, Gemälde oder schriftliche Aufzeichnungen bereits gut dokumentiert ist. Trotzdem können gerade Gletscherfunde wie der Söldner vom Theodulpass im Wallis (ca. 400 Jahre alt) oder die Frau vom Porchabellagletscher in Graubünden (ca. 330 Jahre alt) aufgrund der gut erhaltenen Kleidungsstücke, Waffen und Alltagsgegenstände einen sehr unmittelbaren, berührenden Einblick in diese Zeit liefern. Andere, wie die Entdeckung der Gletscherleiche des 1939 verschollenen Dr. Bonaventura Schaidnagl an der Ötz taler Wildspitze 2004, können helfen, Einzelschicksale aufzuklären und noch lebenden Angehörigen ein Abschiednehmen ermöglichen.
Wer war der Erste? Im Fall der »Marmormumie« von George Mallory stand der Fund in Zusammenhang mit der möglichen Lösung eines der größten alpinhistorischen Rätsel: Auf seiner dritten Expedition zum Mount Everest im Jahr 1924 war Mallory am Morgen des 8. Juni gemeinsam mit dem 22-jährigen Studenten Andrew (Sandy) Irvine zum damals noch unbestiegenen Gipfel aufgebrochen. Ein Expeditionskollege, der Geologe Noel Odell, der am gleichen Tag ins höchste Lager nachrückte, sah um 12.50 Uhr mittags die beiden durch ein Wolkenloch, wie sie eine Felsstufe am über 8500 m hohen Nordostgrat überkletterten – danach blieben Mallory und Irvine verschollen. Hatten sie vor ihrem Tod den Gipfel erreicht? Auch Edmund Hillary beschäftigte diese Frage, als er am 29. Mai 1953 gemeinsam mit Tensing Norgay auf dem Mount Everest stand und die beiden seitdem als Erstbesteiger gelten. Hillary hielt auf dem höchsten Punkt Ausschau nach Spuren von Mallory und Irvine, fand aber keine. Wobei der Everestgipfel – eine riesige überhängende Schneewechte – die lästige Eigenschaft hat, auf ihm hinterlassene Gegenstände im Lauf der Zeit in die Ostwand zu »entsorgen«. Und ein Karikaturist zeichnete einmal Hillary, wie er das weltberühmte Gipfelfoto von Tensing schießt und dabei mit einem kecken Absatzkick eine alte Sauerstoffflasche in den Abgrund befördert … Die einzige Spur, die bis dahin von Mallory und Irvine tatsächlich gefunden worden war, war Irvines Eispickel gewesen. 1933 hatte man ihn am Nordostgrat in 8450 m Höhe entdeckt, auf einer geneigten Felsplatte, wie einfach beiseitegelegt. Markierte der
Begegnung mit einer Legende
Eispickel eine Absturzstelle? War dieser Absturz im Aufstieg oder im Abstieg erfolgt? Der Fund warf mehr Fragen auf als er löste. 1971 näherte sich der damals 31-jährige Deutsch amerikaner Tom Holzel dem Rätsel erstmals mit dem Blick eines Forschers. Er kalkulierte den Sauerstoffverbrauch der Bergsteiger, berechnete mögliche Aufstiegszeiten – und hielt schließlich einen Gipfelerfolg zumindest des erfahrenen Mallory für denkbar, wenn sich dieser von Irvine getrennt und ein Teil von dessen Sauerstoffvorrat benutzt hätte. Irvine sei dann beim Abstieg abgestürzt. Was den Beweis für eine Gipfelbesteigung betraf, so setzte Holzel seine Hoffnung auf den Fund einer der Kameras der Bergsteiger. Es schien möglich, dass der Film konserviert geblieben war und noch immer entwickelbare Bilder liefern könnte. Bei traditionell eingestellten englischen Bergsteigern stießen Holzels Theorien auf harsche Kritik. Nie hätte der verantwortungsvolle Mallory seinen Schützling alleine dem Schicksal überlassen. Doch acht Jahre später schienen Holzels Überlegungen an Substanz zu gewinnen: Ein chinesischer Bergsteiger berichtete, er sei 1975 am Everest in der Nähe seines Lagers auf 8100 m auf einen »alten englischen Toten« gestoßen, dessen Kleidung bei Berührung buchstäblich zu Staub zerfallen sei. Da bis zu dieser Zeit niemand sonst in dieser Höhe an der Nordseite des Everest gestorben war, konnte der Tote nur Irvine oder Mallory gewesen sein! Doch bevor der Chinese weitere Details enthüllen konnte, kam er in einer Lawine ums Leben. Fluch des Mount Everest mochte man da fast meinen. Holzel erhielt schließlich die Genehmigung, im Herbst 1986 eine Suchaktion am Everest zu starten. Doch es war die Nachmonsunzeit, der Berg war tief verschneit. Schlechtwetter und Lawinen verhinderten, dass sein Team das eigentliche Suchgebiet überhaupt erreichte.
Begegnung mit einer Legende Bei einem Suchgebiet in über 8000 m Höhe war klar, dass eine Suchaktion mit einer herkömmlichen archäo logischen Untersuchung nicht vergleichbar war. Sie würde mehr einer üblichen Expedition entsprechen, der einige archäologische Elemente hinzugefügt sind. Im Vorfeld der Suchexpedition von 1999 wurden sämtliche verfügbaren Informationen über das Suchgebiet aus historischen Berichten, Fotografien, Luftbildern und Karten zusammengetragen. Dabei gelang es vor allem, jenes Hochlager zu identifizieren und zu lokalisieren, von dem aus 1975 die Leiche von Mallory oder Irvine entdeckt worden war – der sicherste Startpunkt für eine gezielte Suche. Die Suchmannschaft bestand ausschließlich aus erfahrenen Höhenbergsteigern, von denen einige den
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George Mallory kurz nach seiner Entdeckung am 1. Mai 1999. Nach der Untersuchung wurde der Leichnam auf Wunsch der Nachkommen an Ort und Stelle belassen und mit Steinen bedeckt.
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Nordostschulter (8423 m)
Doppelturm (8444 m)
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x Lager VI 1933
26. 04. 2001
Lager VI 1938
1. 05. 1999
Sauerstoffflasche von 1975
Konservendose von 1938
Lager VI 1 00 . 2 . 04
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Handschuh, Socke Überhandschuhe von 1960
05. 2001 28. 04. / 23.
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Lager VI 1924
29. 04. 2001
7. 05. 2004
20. 05. 200 4
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Wollfäustling, vermutl. 1924
4. 20 24. 0
iet 01 geb 4. 20 h c Su –26. 0 24. Lager VI 1975, Ausrüstungsgegenstände von 1960 01
Wu Zongyue † 1975 Suchgebiet 1. 05. 1999 George Mallory † 1924
Stück von Mallorys Wollpullover
1. 05. 1999
Lager VI 1960
28. 04. / 23. 05. 2001
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Die Karte zeigt die Routen und Areale der Suchexpeditionen 1999 bis 2004 mit den wichtigsten Funden von Hochlagern und Gegenständen der britischen Vorkriegsexpeditionen 1924–1938 sowie der chinesischen Expeditionen von 1960 und 1975. Farblich hervorgehoben ist das Suchareal vom 1. Mai 1999, als Mallorys Leiche entdeckt wurde.
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Everest bereits bestiegen hatten und das Gelände kannten. Zwei besaßen archäologische Grundkenntnisse. Alle wurden in der Anfangszeit der Expedition mit charakteristischen Merkmalen der Ausrüstung aus verschiedenen Epochen der Everest-Geschichte, insbesondere der 1920er-Jahre, vertraut gemacht. Am Berg erwies sich die großflächige visuelle Suche durch die so trainierte Mannschaft als effektivste Methode; Metalldetektoren eigneten sich dagegen aufgrund ihrer limitierten Reichweite nur für die Lokalisierung metallischer Objekte innerhalb einer Fundstelle. Dank dieser Vorgehensweise und zusätzlicher Orientierungshilfe aus dem Basislager mittels Teleskop und Funk konnte der US-amerikanische Spitzenalpinist Conrad Anker am 1. Mai 1999 bereits nach 75-minütiger Suche den englischen Toten finden. Namensschilder in der Kleidung und adressierte Briefe in seinen Jackentaschen identifizierten ihn als George Mallory.
Die Leiche war weitestgehend erhalten, in der kalten und trockenen Höhenluft mumifiziert. Der Unterkörper, der vermutlich häufiger vom Schnee freigelegt worden war, wies einige Schäden durch Vogelfraß auf. Äußerlich waren verschiedene Verletzungen erkennbar, insbesondere ein Bruch des rechten Schien- und Wadenbeins über dem Stiefelschaft. Während der zweieinhalbstündigen Untersuchung wurde der Fund umfangreich dokumentiert, es wurden Proben sämtlicher Kleidungsschichten genommen und verschiedene Habseligkeiten wie Höhenmesser, Schneebrille und Notizzettel geborgen. Zum Transport wurden die Artefakte mit Silicagel als Trockenmittel in verschließbare Plastikbeutel verpackt. Von jedem Fundstück wurden anschließend zwei standardisierte und mit Maßstab versehene Fotos angefertigt: ein Feldfoto im Basislager zur Dokumentation des unmittelbaren Zustands nach der Bergung, und ein Laborfoto nach Reinigung und
Forschung in extremen Höhen
Lag VI 196
Gipfel ↗ Lager Lager VII b 1960 VII a 19. 05. 2004 1960 Erste Stufe Sauerstoff(8568 m) flasche von 1924 Irvines Eispickel, gefunden 1933
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funden wurden: Mallory trug keine Kraxe mit dem Sauerstoffgerät mehr auf dem Rücken. Dafür fand sich in einer seiner Taschen ein Federclip mit zwei Leder riemen, der den Sauerstoffschlauch mit seinem Le derhelm verband – ein Indiz, dass Mallory sein leer geatmetes Sauerstoffgerät abgelegt hatte, bevor er abgestürzt war. In eine ähnliche Richtung schien auch seine Schneebrille zu deuten, die er ebenfalls abge nommen und in einer Tasche verstaut hatte. Vermut lich war sein Absturz also in der Dämmerung oder nachts geschehen. Auch die Kamera, von der man sich im Wesentlichen die Antwort auf die Frage nach einer Gipfelbesteigung 1924 erhofft hatte, blieb verschwun den. Und schließlich war da noch die Anekdote um das Bild von Mallorys Frau Ruth: Mallorys Tochter Clare erinnerte sich daran, dass ihr Vater das Foto auf dem Gipfel hinterlegen wollte. In Mallorys Taschen fanden sich Briefe seines Bruders, von einer seiner Schwestern und von einer Freundin. Aber es war kein Brief seiner Frau darunter – und auch kein Bild von ihr.
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Aufbauend auf den Erfahrungen von 1999 wurde zwei Jahre später versucht, die Leiche von Mallorys Partner Sandy Irvine aufzuspüren, welche die letzte realis tische Chance bot, eine der Kameras der Bergsteiger zu bergen. Das Suchteam bestand erneut aus fünf routinierten Höhenbergsteigern (vier davon aus der Mannschaft von 1999), operierte diesmal aber in zwei Gruppen. Auf diese Weise gelang es, in einer Höhe zwischen 8100 und 8500 m ein rund neunmal so gro ßes Gebiet wie 1999 abzusuchen. Die obere Nord wand des Mount Everest erwies sich dabei als wahre Zeitkapsel, in der die ersten 50 Jahre der Besteigungs
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Die sechs Kleidungsschichten an Mallorys Oberkörper
Präparation im Washington State Historical Society Research Center (Tacoma, USA). Von allen Fundstücken warfen die Kleiderproben das wohl eindrücklichste Schlaglicht auf die Leistung der Pioniere von 1924. Entgegen der landläufigen Meinung von primitiver Ausrüstung entpuppten sie sich als ausgeklügeltes Mehrschichtensystem: Unter wäsche aus Wollseide hielt die Haut trocken, Wolle und Flanell sorgten für Wärme, Seide zudem für Beweglichkeit der vielen Lagen. Das äußere Gewand aus Gabardine war bereits wie heutiges GoreTex windabweisend und atmungsaktiv. Die genagelten Schuhe aus Leder und Filz waren leicht und damit kraftsparend. »Bei guten Verhältnissen ausreichend für den Gipfel« lautete später das Urteil von Beklei dungsexperten – »aber ohne Sicherheitsreserve bei einem Notfall oder Biwak«. Mindestens ebenso wichtig wie die gefundenen Gegenstände erwiesen sich die Dinge, die nicht ge
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geschichte konserviert und die Entwicklung des Bergsteigens in dieser Zeit ablesbar waren. Die Expedition von 1922, auf der das berühmte Foto des koketten Mallory entstanden war, hatte als erste einen konkreten Besteigungsversuch am Mount Everest unternommen. Fast mit jedem ihrer Schritte betraten die Bergsteiger Neuland: Mallory und seine Kollegen Edward Norton und Howard Somervell überschritten zum ersten Mal die 8000 m-Marke; George Finch und Geoffrey Bruce setzten erstmals in der Geschichte des Bergsteigens Flaschensauerstoff als Kletterhilfe ein und erreichten damit die damalige Rekordhöhe von 8320 m. 2001 entdeckten wir auf 7600 m noch eine ihrer Sauerstoffflaschen, die sie beim Aufstieg ins Hochlager verbraucht und zurückgelassen hatten. Weitere Flaschen fanden sich in den Über resten des vorgeschobenen Basislagers auf der Randmoräne des Ost-Rongbukgletschers in 6400 m Höhe, zusammen mit einem wahren Sammelsurium von Gegenständen aus dem Expeditionsalltag: Reste von hölzernen Transportkisten, zahllose verrostete Kon servendosen mit teils noch lesbaren Prägungen, Trockenspirituskocher, das Fersenteil eines handgeschmiedeten Steigeisens und Batterien der Kamera des damaligen Expeditionsfotografen und Filmemachers
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John Noel. Die Konserven waren von der Größe »Single-Haushalt«, und um die Bergsteiger damals mit ausreichend Proviant zu versorgen, musste man enorme Stückzahlen in die Lager transportieren – ein viel größeres logistisches Problem als mit unserer heutigen gefriergetrockneten Leichtnahrung. War man sich 1922 noch unsicher gewesen, ob Menschen überhaupt über 8000 m aufsteigen und dort überleben könnten, so nächtigten zwei Jahre später Bergsteiger erstmals in diesen Höhen. Das letzte Lager der Expedition von 1924 war ein einzelnes Zelt auf 8140 m. Von dort aus brachen am 4. Juni Edward Norton und Howard Somervell zu ihrem Gipfelversuch auf. Sie benutzten keine Sauerstoff geräte. Nachdem Somervell wegen Halsbeschwerden aufgeben musste, stieg Norton alleine bis auf 8572 m – eine Rekordhöhe ohne Flaschensauerstoff, die erst 54 Jahre später bei der ersten Besteigung des Everest »ohne Maske« durch Reinhold Messner und Peter Habeler gebrochen wurde. Drei Tage später verbrachten im gleichen Lager Mallory und Irvine die letzte Nacht ihres Lebens. Später fand man im Zelt Teile der Sauerstoffgeräte, Sauerstoffflaschen und Leuchtmittel wie eine Kerzenlaterne, eine Taschenlampe und Magnesiumfackeln – ein mögliches Indiz,
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Mallorys genagelter Leder stiefel. Mit 800 g pro Schuh war es der leichteste Expeditionsstiefel, der je in Höhen über 8000 m getragen wurde.
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dass Mallory und Irvine vor ihrem Aufstieg noch letzte Reparaturarbeiten an den Geräten durchgeführt und deswegen so spät aufgebrochen waren, dass sie ihre Lampen zurückließen. Zwar wurde das Lager in den kommenden Jahrzehnten noch vereinzelt aufgesucht, doch es befand sich abseits der heute üblichen Route und sein genauer Standort geriet in Vergessenheit. In einer konzertierten Aktion von zwei Suchteams, verteilt über vier Tage, gelang es 2001 das Lager wiederzufinden. 77 Jahre Erosion hatten das Zelt völlig unter gefrorenem Geröll begraben. Es fanden sich Teile der hölzernen Zeltstangen, Zeltstoff und Spannschnüre, Lederriemen von einer Tragekraxe und vermutlich einer Kameratasche, die Linse einer Taschenlampe, ein Stück Sauerstoffschlauch, ein Handschuh und ein Socken mit Nortons Namensschild – aber keine Hinweise, die das Schicksal von Mallory und Irvine weiter zu erhellen halfen. Die einzigen Spuren, die bis dahin vom weiteren Aufstieg der Bergsteiger gefunden worden waren, waren Irvines Eispickel und eine einzelne Sauerstoff flasche, die 1999 vom Nordostgrat in 8475 m Höhe geborgen wurde – das bislang höchste gefundene Artefakt von Mallory und Irvine. 2001 stieß Jake Norton etwa 150 m nordöstlich und 45 m unterhalb auf einen alten Wollhandschuh, der von Machart und Material her höchstwahrscheinlich von 1924 stammte. Er könnte ein Hinweis sein, dass nach einem Unfall am Eispickelfundort, bei dem das Seil gerissen und Mallory abgestürzt war, Irvine alleine am Grat zurückgeblieben war. Drei Monate nach der Suchexpedition 2001 und dem Fund des Handschuhs enthüllte der Chinese Xu Jing in einem Interview mit mir und unserem Expeditionsleiter Eric Simonson, er habe 1960 beim Abstieg vom Nordostgrat in 8300 bis 8400 m Höhe
einen erfrorenen Bergsteiger gefunden. Die Leiche habe in einer Spalte am Grat gelegen und sei in einen Schlafsack eingehüllt gewesen. Nur der Kopf mit der von Erfrierungen geschwärzten Haut habe hervor geschaut. Nur zwei Bergsteiger waren bis zu diesem Zeitpunkt in dieser Höhe an der Everest-Nordseite gestorben. Als wir Xu die Bilder von Mallorys Fundort zeigten, der deutlich tiefer auf 8160 m in der Nordwand lag, schaute er uns an und fragte: »Wo aber ist dann Irvine?« Im gleichen Moment schienen wir alle die Antwort zu kennen.
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Jake Norton (es besteht keine Verwandtschaft mit Edward Norton) entdeckte eine Zeltstange aus dem letzten Lager von Mallory und Irvine.
Offene Fragen Hinsichtlich ihrer Systematik und Dauer sind die beiden Suchexpeditionen nach Mallory und Irvine 1999 und 2001 einzigartig geblieben. Zwar gab es bis heute weitere Suchaktionen – zuletzt 2019 durch eine von National Geographic gesponserte Expedition –, diese brachten aber bislang keine wesentlichen neuen Erkenntnisse mehr. Über die gefundenen und geborgenen Artefakte sowie die abgedeckten Suchgebiete gibt es bislang nur ansatzweise eine vereinheitlichte Erfassung (durch private Recherchen und Veröffentlichungen des Autors). Die meisten Fundstücke la-
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Namensschilder aus Mallorys Kleidung. Zusammen mit an ihn adressierten Briefen und Notizen mit seinem Namen ermöglichten sie die Identifizierung des Leichnams.
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gern heute in Archiven in Großbritannien und den USA, einige befinden sich in Privatbesitz – und es ist nicht auszuschließen, dass andere absichtlich unter Verschluss gehalten werden. So bleibt im Wesentlichen ungeklärt, was genau mit Mallory und Irvine geschah, nachdem sie in 8475 m Höhe ihre (vermutlich erste) verbrauchte Sauerstoffflasche zurückgelassen hatten. Auf 8600 m blockiert ein fast 40 m hoher Felsabbruch, die Zweite Stufe, den Nordostgrat. Die letzten 5 m dieser Stufe bildet eine senkrechte, von Rissen durchzogene Kalkwand. Die meisten Experten halten es für unmöglich, dass Mallory und Irvine mit ihrer Ausrüstung 1924
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dieses Hindernis hätten überwinden können. Der einzige Augenzeuge ihres letzten Aufstiegs, Noel Odell, war hingegen anfangs davon überzeugt, dass er die beiden Bergsteiger bei der erfolgreichen Bezwingung der Zweiten Stufe beobachtet hatte. Der Expeditionsfotograf John Noel wiederum schrieb 1927, dass Mallory überhaupt nicht geplant habe, den Weg über die Zweite Stufe zu nehmen, sondern diese in der Nordwand umgehen und (als eine von zwei Varianten) den Nordostgrat erst oberhalb der Stufe wieder betreten wollte. Jenseits der Zweiten Stufe hätte sich den Bergsteigern bis zum Gipfel kein bedeutendes Hindernis mehr entgegengestellt. Doch
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Gegenstände aus Mallorys und Irvines letztem Lager: Socke, Handschuh, Lederriemen, Konservendose, Linse von Taschenlampe, Streichhölzer und Trockenspiritus. Eine Socke mit dem Namensschild von Edward Norton. Der Wollhandschuh aus 8440 m Höhe – stammte er von Sandy Irvine?
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hätte ihr Sauerstoff bis ganz oben gereicht? Diese Schlüsselfragen für eine mögliche Gipfelbesteigung 1924 ließen sich nur durch ein Foto aus einer der Kameras oder durch den Fund weiterer Ausrüstungsgegenstände oberhalb der Zweiten Stufe lösen – wobei Letzteres eine Suche in Höhen von über 8600 m (was der Gipfelhöhe des zweithöchsten Berges der Welt entspricht) erfordern würde. Am Berg sind die Bedingungen für eine Suche heutzutage schwieriger geworden. Durch die Besteigungsregelungen in Tibet reisen Expeditionen inzwischen deutlich später zum Berg und haben am Ende nur noch ein bis zwei sichere Wetterfenster in der zweiten Maihälfte, die eine Gipfelbesteigung oder Suche ermöglichen. Im Vergleich dazu: Die Suchexpedition 2001 traf bereits Mitte März im Basislager ein und konnte zwischen Ende April und Ende Mai insgesamt vier Vorstöße von bis zu drei Tagen Dauer in über 8000 m Höhe unternehmen. Fortschritte gab es dagegen bei der Technik für eine Suche. 2019 flog der Amerikaner Renan Ozturk eine konventionelle Drohne am Everest bis in eine Höhe von 8500 m und schoss hochauflösende Bilder möglicher Suchregionen, auf denen Körper oder Ausrüstungsgegenstände deutlich erkennbar waren. Einzig Sandy Irvine oder andere Spuren von 1924 blieben den Blicken des modernen fliegenden Archäologenhelfers verborgen. Möglicherweise bieten Multispektralkameras hier noch vielversprechende Ansätze. Schließlich bleibt die Frage, inwieweit der allgegenwärtige Klimawandel einen Einfluss auf zukünftige Suchaktionen haben wird. Denkbar sind zwei Wege: Einerseits könnte ein Anstieg der Temperatur dafür sorgen, dass der Berg häufiger schneefrei wird und damit weitere Artefakte freigelegt werden. Andererseits könnte der gleiche Prozess dafür sorgen, dass solche Artefakte stärker den Elementen ausgesetzt werden und so der Forschung verloren gehen – die Zeitkapsel Mount Everest hört auf zu existieren. Es ist daher fraglich, ob sich das Rätsel um Mallory und Irvine jemals zur Gänze lösen lässt. Da es sich um eine einzigartige historische Fragestellung in einer solch extremen Höhe handelt, dürfte es auch ein seltenes Beispiel für archäologische Forschung über 8000 m bleiben. Trotzdem verkörpert und vermittelt gerade die Höhen-und Gletscherarchäologie etwas, was Archäologie im Allgemeinen faszinierend macht: die mensch liche Ur-Motivation, Wissen zu erweitern und Grenzen zu überwinden, ja vielleicht auch über eine Grenze zu schauen, die man eigentlich für unüberwindlich hält. Mallory und Irvine sind inzwischen seit fast einem Jahrhundert tot – aber die Funde vom Everest können ihrer Geschichte noch immer Kapitel hinzufügen und uns Einblicke geben, welch außergewöhnliche Menschen die beiden waren.
Offene Fragen
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Eine Sauerstoffflasche von 1922 in situ am oberen Ost-Rongbukgletscher in 6400 m Höhe.
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Vergangenheit nutzen, um Zukunft zu gestalten Thomas Reitmaier Die in diesem Heft versammelten Beiträge haben gezeigt, dass die fortschreitende Klimaerwärmung mit der Gletscherarchäologie ein neues, sich rasch und in aller Welt entfaltendes Themengebiet hervorgebracht hat. Mit ihren Inhalten sowie ihrer internationalen, interdisziplinären, partizipativen und stark an die Naturwissenschaften angelehnten Ausrichtung ist glacial archaeology in vielem sehr auf der Höhe der Zeit. Das Fenster, das sich derzeit durch den Klimawandel für die Gletscherarchäologie öffnet und den Blick auf einzigartige Funde und Fundstellen aus vergangenen Zeiten freigibt, ist gleichzeitig aber auch Sinnbild für einen beinahe aussichtlosen Kampf gegen die Zeit. So ist davon auszugehen, dass wahrscheinlich ein nicht unbeträchtlicher Teil des in den holozänen Eisarchiven überlieferten archäologischen Kulturerbes wohl für immer unentdeckt verloren geht, ohne fachgerechte Dokumentation und recht-
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zeitige Sicherung. Das verdeutlicht ein Blick auf die dramatische Entwicklung der vergangenen Jahre und das ungebremste Verschwinden der einst gewaltigen Gletscher- und Eisriesen als offensichtliches Zeichen der aktuellen Veränderungen. Neuen Berechnungen zufolge betrug der globale, zuletzt deutlich beschleunigte Eisverlust zwischen den Jahren 1994 und 2017 insgesamt 28 Billionen Tonnen, wobei der größte Teil des geschmolzenen Eises auf die Arktis bzw. Antarktis fällt, aber immerhin 6,1 Billionen Tonnen auf Berggletscher. Diese enorme Abnahme bestätigt die schlimmsten Prognosen, zu denen auch der mit der Eisschmelze verbundene Anstieg der Meerestemperatur bzw. des Meeresspiegels mit entsprechenden Auswirkungen auf die Küstengebiete gehört. In den (sub-)arktischen Gebieten schmilzt allerdings nicht nur das Eis – die höheren Temperaturen führen gleichzeitig zum Auftauen des Permafrosts
Die 57 000 Jahre alte Wolfsmumie, die 2016 im Perma frost einer kanadischen Goldmine entdeckt wurde.
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Schlusswort
und zu einer starken Veränderung des dortigen Ökosystems, verbunden mit mikrobiologischen Prozessen im Boden und zusätzlichen CO2-Emissionen als Rückkoppelungseffekt. Diese Entwicklung bedroht zum einen die herausragenden Fundstellen der arktischen Archäologie und eröffnet andererseits eine neue Dimension in mehrfacher Hinsicht: Entdeckungen von mumifizierten Höhlenbären, Wölfen, Wollnashörnern oder Mammuts in herausragender Er haltung erlauben einen ungeahnten Einblick in die eiszeitliche Tierwelt des Pleistozäns vor mehreren Zehntausend Jahren. Als aktuelles Beispiel sei jener 57 000 Jahre alte Wolfswelpe erwähnt, der im Sommer 2016 bei der Goldsuche im kanadischen Klondike/ Yukon Territory freigelegt wurde. Der nur wenige Wochen alte weibliche Grauwolf – von den indigenen First Nations als Zhur bezeichnet – ist die bislang älteste und besterhaltene Wolfsmumie der Welt. Es liegt auf der Hand, dass derartige Funde innovative Zugänge zur Evolutionsgeschichte dieser Großraubtiere bieten und enormes Potenzial für die molekulargenetische und mikrobiologische Forschung bereithalten. Ein überaus betrüblicher Aspekt ist hingegen die derzeit boomende systematische Plünderung derartiger eiszeitlicher Faunenreste in abgelegenen Regionen Sibiriens. Schon seit Längerem werden aus der Tundra spektakuläre Funde gemeldet, die dort im Rahmen einer professionellen Schatzsuche aus dem auftauenden Permafrostboden gespült werden. Das Gold dieser mit großem technischen Aufwand am Rande der Legalität und Zivilisation agierenden Schatzjäger stellen vor allem die Stoßzähne von Mammuts dar, die als Ersatz für das selten gewordene Elfenbein auf große Nachfrage bei reichen Käufern stoßen. Die dystopischen Bilder dieser auch unter Tage agierenden Mammutpiraten veranschaulichen dieses gefährliche, aber lukrative Geschäft in einem Lebensraum, in dem gewiss auch Gesellschaften der Altseinzeit ihre Spuren hinterlassen haben. Es zeichnet sich also ab, dass die menschengemachten Veränderungen unserer Umwelt nicht nur weitreichende Auswirkungen auf unsere Zukunft, sondern auch drastische Folgen für unser kulturelles und biologisches Erbe der Vergangenheit haben werden. Diese aus dem Eis und dem einst gefrorenen Boden schmelzenden Zeugen sind dementsprechend nur ein erster und vergleichsweise milder Effekt des Klimawandels. Im Zuge der globalen Erwärmung werden rasch weitere Bedrohungen hinzukommen wie Überschwemmungen und Erosion in Küstengebieten, Hitzesommer und Brände, Starkniederschläge und Stürme, Bergstürze, neue invasive Pflanzenund Tierarten sowie weitere Naturkatastrophen. Zudem werden auch die mit der Klimarettung verbundenen Maßnahmen in unserem Lebensalltag wie Ernährung, Energie, Bauen, Verkehr und Mobilität
Vergangenheit nutzen, um Zukunft zu gestalten
entsprechenden Einfluss auf das Kulturerbe zeigen, gepaart mit hohem politischem, wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Druck. Diese hier nur sehr grob angedeuteten Entwicklungen zwingen wohl auch die Archäologie zu einem teilweisen Umdenken in ihrem gegenwärtigen Handeln. Notwendig scheint dabei vor allem die schon mehrfach eingeforderte, bislang aber kaum verantwortete echte Auseinandersetzung mit der Zukunft. Zwar gilt gemeinhin das Paradigma, dass der ungeschmälerte Erhalt einer Fundstelle im Boden der beste Schutz für die Zukunft ist – ohne dabei jedoch die möglichen und mit Blick auf den Klimawandel ja teilweise sehr absehbaren Szenarien einer Zukunft in diese Denkweise miteinzubeziehen. Es gilt also, neue Debatten anzuregen und zukunftsfähige Strategien für den Schutz der archäologischen Fundstellen und Funde zu entwickeln. Da diese Fundstellen mitunter wichtige Umwelt- und Klimaarchive darstellen und somit essentielle Langzeitperspektiven auf vergan gene Mensch-Umwelt-Beziehungen erlauben, wird ihre Stellung noch an Bedeutung gewinnen. Schließlich sind archäologische Stätten vielschichtige Erinnerungsorte, die vielerorts einen hohen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wert besitzen. Eine moderne, primär dem Menschen verpflichtete Archäologie der Zukunft vermag auf diese Weise durchaus einen gewichtigen Beitrag zum Zeitalter des Menschen zu leisten, um dem unwiederbringlichen Verlust unserer kulturellen Wurzeln entgegenzuwirken und gleichzeitig einen verantwortungsvollen, gerechten Umgang mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen aufzuzeigen. Die Grundlage dafür muss eine internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit bleiben und der Anspruch, mit dem reichen Wissen um unsere Vergangenheit noch besser Gehör zu finden in Gesellschaft und Politik.
I
Ein neuer Goldrausch im 21. Jh. – Mammutpiraten auf der Suche nach eiszeitlichen Faunenresten im auftauenden sibirischen Permafrost.
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Glossar
aDNA Von englisch ancient DNA = alte DNA, die Reste von Erbgutmolekülen bzw. Erbinformationen von toten Lebewesen trägt. aDNA ist heute die Grundlage paläogenetischer Untersuchungen.
Anthropozän Zeitalter des Menschen, d. h. neue geochronologische Periode, in welcher der Mensch zum wesentlichsten Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist, beginnend meist um 1950.
Aper (ausapern) Süddeutsch, österreichisch, schweizerisch für: nicht vom Schnee bedeckt, abgetaut, schneefrei. Ausapern: süddeutsch, österreichisch, schweizerisch für: durch Schmelzen von Schnee (und Eis) befreit, freigelegt werden.
Firn(schnee), Firnfeld Als Firn wird jener Schnee auf dem Gletscher bezeichnet, der mindestens ein Jahr alt ist und durch weitere Umwandlung von Firneis zu Gletschereis wird; umgangssprachlich auch für spätwinterliche Altschneefelder verwendet; Firnfeld bezeichnet jenes von Berggraten umgebene Gebiet, in dem der Gletscher durch Schneefall Firn akkumuliert.
First Nations First Nations ist ein allgemeiner Begriff für alle indigenen Völker in Kanada, die nicht Métis oder Inuit sind. Die First Nations sind die ursprünglichen Bewohner des heutigen Kanada und sie waren die ersten, die europäischen Kontakt, Besiedlung und Handel erlebten. Es gibt 634 First Nations, die mehr als 50 verschiedene Sprachen sprechen.
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Gletscherschluff Wasserstauendes mineralisches Feinsediment, durch die Grundmoräne des Gletschers entstanden.
ice patches Eis- oder Firnfelder vor allem in Skandinavien und Nordamerika, die im Unterschied zu den größeren, massereicheren Gletschern (etwa in den Alpen) mehr oder minder statisch sind und daher nicht talwärts fließen. In ice patches eingelagerte (eingefrorene) Objekte können dadurch besser und mitunter viele Jahrtausende unversehrt überdauern, bis sie freischmelzen und entdeckt werden.
Indigene Völker Indigene Völker sind Bevölkerungsgruppen, die sich als Nachkommen der (ersten) Bewohner eines bestimmten räumlichen Gebietes betrachten, die bereits vor der Eroberung, Kolonisierung oder Staatsgründung durch Fremde dort lebten. Sie haben eine enge Bindung an ihren Lebensraum bzw. an die Natur und verfügen über eine ausgeprägte ethnisch-kulturelle Identität als Gemeinschaft mit eigenen, meist jahrhundertealten Traditionen.
Isotopenanalyse Isotopenuntersuchungen ermitteln den Anteil von Isotopen (Elementarten mit verschiedener Massenzahl) eines chemischen Elementes innerhalb einer Probe mithilfe eines sogenannten Massenspektrometers. In der Archäologie wird die Methode häufig zur Herkunftsbestimmung von tierischen oder menschlichen Überresten verwendet, aber auch zur Rekon struktion des Klimas bzw. früherer Ernährungsweisen.
Glossar
Kryosphäre Die Kryosphäre – der »kalte Bereich« – der Erde umfasst alle Formen von Schnee und Eis unseres Planeten, worunter Meer-, Schelf- und Inlandeis, Eis in Permafrostböden, alle mit Schnee bedeckten Flächen sowie Gebirgsgletscher fallen. Für das Klimasystem der Erde ist die Kryosphäre von zentraler funktionaler Wichtigkeit.
Lipide Der Begriff Lipide bezeichnet die Gesamtheit der in der Regel nicht-wasserlöslichen Fette und fettähnlichen Substanzen. Dazu gehören z. B. Fettsäuren und Wachse.
Metabolite Zwischen- oder Abbauprodukte in einem meist biochemischen Stoffwechsel (Metabolismus).
Permafrost Ein Perma- oder Dauerfrost ist das gesamte Jahr gefroren und bezeichnet somit Boden, Sediment oder Gestein, das in unterschiedlicher Mächtigkeit und Tiefe unter der Erdoberfläche mindestens zwei Jahre ununterbrochen Temperaturen unter dem Gefrierpunkt aufweist. Neben den polaren und subpolaren Gebieten tritt Permafrost auch in Hochgebirgen auf, in den Alpen ab ca. 2500 m Höhe.
scaring sticks Hierbei handelt es sich um ca. 1 m lange Holzstöcke, an deren Spitzen ein leichter beweglicher Gegenstand befestigt ist, beispielsweise eine dünne Holzfahne. Solche »Schreck- oder Scheuchstöcke« sind ein wichtiges Hilfsmittel bei der Jagd nach Rentieren bzw. Karibus und werden vor allem in nördlichen Breiten in großer Zahl gefunden. Die in Reihen aufgestellten Scheuchstöcke wurden von den Jägern benutzt, um die Bewegung der empfindlichen Rentiere zu kon trollieren, diese zu guten Jagdplätzen zu lenken und dort zu erlegen.
Spektralfotografie Verfahren in der Fotografie, um mittels spezieller Sensoren auch nicht-sichtbare Wellenbereiche (Spektren) des Lichts bei der Dokumentation und Analyse von Objekten oder ganzer Landschaften zu erkennen.
Strahler Als Strahler (auch Strahlner) werden vor allem in der Schweiz die alpinen Kristall- und Mineraliensucher bezeichnet.
Toteis Reste eines Gletschers oder Eisschildes, die mit dem aktiven Gletscher nicht mehr verbunden sind und sich daher auch nicht mehr bewegen, sondern mit Sedimenten bedeckt sind.
Prospektion Als Prospektion wird in der Archäologie die Erkundung und Erfassung von archäologischen Stätten in einem bestimmten Gebiet bezeichnet, und zwar primär zerstörungsfrei etwa durch Oberflächenbegehungen (engl. survey) oder Methoden der Fernerkundung (Luftbilder, Laserscan) bzw. Geophysik (Radar, Ma gnetik u. a.).
Glossar
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Autorinnen und Autoren
Mag. Thomas Bachnetzer, Institut für Archäo logien, Universität Innsbruck, Österreich Jamsranjav Bayarsaikhan, National Museum of Mongolia Kyra Chambers, Department of Language, Culture & Heritage, Champagne and Aishihik First Nations Dr. Constanza Ceruti, Catholic University of Salta und National Council of Scientific Research, Argentinien Philippe Curdy, Sion, Schweiz Espen Finstad, Department of Cultural Heritage, Innlandet County Council, Norwegen Sheila Greer, Department of Language, Culture & Heritage, Champagne and Aishihik First Nations Regula Gubler, Archäologischer Dienst des Kantons Bern, Bern, Schweiz Prof. Albert Hafner, Institut für Archäologische Wissenschaften, Universität Bern, Schweiz Hans Harmsen, Grønlands Nationalmuseum og Arkiv, Nuuk, Grönland Isaac Hart, University of Utah Jochen Hemmleb, Autor und Dipl. Geologe, Lana (BZ), Italien Dr. Jørgen Hollesen, Nationalmuseet, Kopen hagen, Dänemark Christian Koch Madsen, Grønlands National museum og Arkiv, Nuuk, Grönland
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Dr. Craig M. Lee, Institute of Arctic and Alpine Research, University of Colorado at Boulder, Vereinigte Staaten Dr. Frank Maixner, Institut für Mumienforschung, Eurac Research, Bozen, Italien Henning Matthiesen, Nationalmuseet, Kopen hagen, Dänemark Dr. Franco Nicolis, Ufficio beni archeologici, rovincia Autonoma di Trento, Italien P Dr. Aaron Osicki, Archaeology and History Branch, Parks Canada Parks Canada, Kanada Dr. Lars Holger Pilø, Department of Cultural Heritage, Innlandet County Council, Norwegen Dr. Thomas Reitmaier, Archäologischer Dienst Graubünden, Chur, Schweiz Dr. Hubert Steiner, Landesdenkmalamt Südtirol, Amt für Archäologie, Bozen, Italien Dr. William Taylor, Museum of Natural History, University of Colorado-Boulder Prof. Eric Thirault, Département d’Histoire de l’Art et d’Archéologie, Université Lumière Lyon 2/ UMR5138 ArAr Christian D. Thomas, Cultural Services Branch, Government of Yukon Diana Tirlea, Royal Alberta Museum, Edmonton, Kanada Dr. Alden Yépez, Pontificia Universidad Católica del Ecuador, Quito
Dr. Todd Kristensen, Historic Resources Management Branch, Archaeological Survey of Alberta , Kanada
PD Dr. Albert Zink, Institut für Mumienforschung, Eurac Research, Bozen, Italien
Valentin Lafont, Doktorand, Université Lumière Lyon 2/UMR5138 ArAr
Übersetzungen von Jörg Fündling: S. 28, 34, 49, 64, 70, 81 und 90
Autorinnen und Autoren
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Bildnachweis
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museum Wallis, Sitten (CH), A. de Torrenté; S48 Archäologischer Dienst des Kantons Bern, Kathrin Glause; S50/51o, 52o/53o, 53u E. Thirault; S51m Léon Personnaz; S52u C. Mani; S54o, 55o Vegard Vike, Norwegisches Museum für Kulturgeschichte; S55u Museum of Cultural History, University of Oslo; S59o Mårten Teigen, Museum of Cultural History, University of Oslo; S65 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Geological Survey of Denmark and Greenland (GEUS); S66, 67o (alle) National Museum of Denmark; S66u Bjarne Grønnow, National Museum of Denmark; S67u Roberto Fortuna, National Museum of Denmark; S68ol/or Jesper Stub Johnsen, National Museum of Denmark; S68u–69 Roberto Fortuna, National Museum of Denmark; S70, 72–73, 104 Government of Yukon; S71 JhVl-1; S74–75 Diana Tirlea und Aaron Osicki; S76 Todd Kristensen und Bob Dawe; S77o Karsten Heuer; S77u Alamy Stock Photo, Evelyn Harrison; S78 Chris Boyer, kestrelaerial.com; S79u–80u mit freundlicher Genehmigung von Craig M. Lee; S82–85 Johan Reinhard; S86ur ESRI, MAXAR, GeoEye, Earthstar Geographics, CNES/Airbus DS, USDA, USGS, AeroGRID, IGN, and the GIS User Community, Pablo Guerrero; S87 Jorge Anhalzer; S88o–89u Alden Yépez; S91, 92, 94o/u Peter Bittner; S93 William Taylo; S95 Jochen Hemmleb/ Irvine Suchexpedition 2010; S96 Jake Norton/ Mallory & Irvine Research Expedition 1999; S98/ 99o Swissphoto AG, Zürich, 2001/Grafik: Jochen Hemmleb; S99u, 100o Rick Reanier & Jochen Hemmleb/Mallory & Irvine Research Expedition 1999; S100/101u Jochen Hemmleb/Mallory & Irvine Research Expedition 1999; S101o Brent Okita/Mallory & Irvine Research Expedition 2001; S102–103 Jochen Hemmleb/Mallory & Irvine Research Expedition 2001; S105 Amos Chapple/ RFE/RL.
Leider ist es uns nicht immer möglich, den Rechtsinhaber ausfindig zu machen. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.