Integrierte nachhaltige Unternehmensführung: Konzepte – Praxisbeispiele – Perspektiven [1. Aufl.] 9783662611678, 9783662611685

Finden Sie in diesem Werk die richtungsweisenden methodischen Überlegungen des Integrierten Management-Ansatzes für die

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German Pages IX, 489 [483] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Front Matter ....Pages 1-1
Themeneinführung und Beiträge im Überblick (Kristin Butzer-Strothmann, Friedel Ahlers)....Pages 3-12
Integrierte Unternehmensführung und Nachhaltige Unternehmensführung: Synergetisches Potenzial einer Konzeptzusammenführung (Friedel Ahlers, Kristin Butzer-Strothmann)....Pages 13-23
Front Matter ....Pages 25-25
Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit in unternehmerische Entscheidungen (Georg Müller-Christ)....Pages 27-48
Unternehmensethik als Basis einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung (Elisabeth Göbel)....Pages 49-67
Gelebte Nachhaltigkeitskultur durch integrale Unternehmensführung (Anja Grothe, Matthias Teller)....Pages 69-87
Was zählt in der Krise? (Markus Vogt, Rana Matthias Bose)....Pages 89-106
Integrierte nachhaltige Unternehmensführung von Familienunternehmen (Reinhard Altenburger, Christine Bachner)....Pages 107-124
Menschenrechtskonforme Unternehmensführung mithilfe des Risikomanagements? (Jutta Knopf, Remo Klinger, Karina Hildebrandt)....Pages 125-145
Front Matter ....Pages 147-147
Technologien als Impulsgeber für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung (Daniela Beyer, Annette Braun, Meike Schiek, Marion Weissenberger-Eibl)....Pages 149-176
Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate Governance (Stefan Vieweg)....Pages 177-196
Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen (Deane L. Harder, Jan T. Frecè, Marie Brechbühler Pešková)....Pages 197-216
Integriertes nachhaltiges Personalmanagement (Friedel Ahlers, Kristin Butzer-Strothmann)....Pages 217-232
#nachhaltig #digital #führen (Michael Barsakidis, Wolfgang Keck)....Pages 233-245
Integriertes nachhaltiges Change Management (Uta Kirschten)....Pages 247-269
Integrated Reporting Bedeutung und Nutzenpotenziale einer nachhaltigen, wertschöpfungsbezogenen Berichterstattung im Rahmen eines integrierten Unternehmensführungskonzepts (Marcel Mock)....Pages 271-286
Nachhaltige Firmenveranstaltungen als Treiber einer nachhaltigen Unternehmensführung (Susanne Steimer, Clemens Arnold)....Pages 287-304
Front Matter ....Pages 305-305
Agilisierung von Organisationen als Baustein einer erfolgreichen integrierten nachhaltigen Führung von Energieversorgungsunternehmen (Christiane Michulitz, Sebastian Seier, Simon Haas)....Pages 307-333
Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG (Thomas Winkelmann, Kristin Butzer-Strothmann, Friedel Ahlers)....Pages 335-351
Nachhaltiger Unternehmenserfolg am Beispiel von Symrise (Christina Witter, Friedrich-Wilhelm Micus)....Pages 353-374
Nachhaltigkeit im Handel am Beispiel von ROSSMANN (Raoul Roßmann, Kristin Butzer-Strothmann, Friedel Ahlers)....Pages 375-393
Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements in der Versicherungsbranche aus Sicht der Talanx AG (Martin Wienke, Kathrin Reichert, Julius Hansen)....Pages 395-414
10 Jahre Nachhaltigkeit bei Union Investment: Integration als dauerhafter Prozess (Matthias Stapelfeldt)....Pages 415-436
Nachhaltigkeit als integraler Bestandteil der Unternehmensführung aus der Perspektive der Beratungsgesellschaft EY (Roger Müller, Mark Veser)....Pages 437-445
„Nachhaltigkeit“ als Querschnittsaufgabe einer integrierten Stadtentwicklung am Beispiel der Landeshauptstadt Hannover (Susanne Wildermann, Friedel Ahlers, Kristin Butzer-Strothmann)....Pages 447-466
Front Matter ....Pages 467-467
Auf dem Weg zu einer „besseren“ Unternehmensführung: Integrierte Nachhaltigkeit als Kernmerkmal von intelligenten zukunftsfähigen Unternehmen (Friedel Ahlers, Kristin Butzer-Strothmann)....Pages 469-478
Finale Gedanken: Integrierte nachhaltige Unternehmensführung quo vadis (Friedel Ahlers, Kristin Butzer-Strothmann)....Pages 479-489
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Integrierte nachhaltige Unternehmensführung: Konzepte – Praxisbeispiele – Perspektiven [1. Aufl.]
 9783662611678, 9783662611685

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Kristin Butzer-Strothmann Friedel Ahlers Hrsg.

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung Konzepte – Praxisbeispiele – Perspektiven

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung

Kristin Butzer-Strothmann Friedel Ahlers Hrsg.

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung Konzepte – Praxisbeispiele – Perspektiven

Hrsg. Kristin Butzer-Strothmann Leibniz-Fachhochschule Hannover, Deutschland

Friedel Ahlers Leibniz Fachhochschule Hannover, Deutschland

ISBN 978-3-662-61167-8    ISBN 978-3-662-61168-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Das Thema Klimaschutz und der einfassende Aspekt der Nachhaltigkeit sind derzeit ein Fokusthema der gesellschaftlichen Diskussion. Die Forderung nach Aufnahme der derzeitigen en vogue Themen Klimaschutz/Nachhaltigkeit als Staatsziele in das Grundgesetz ist ein markanter Ausdruck dieser Diskussion. Alle gesellschaftlichen Gruppen sind dazu aufgerufen, ihren Beitrag dazu zu leisten. In marktwirtschaftlichen Systemen sind Unternehmen als die zentralen Akteure im Wirtschaftsgeschehen hier besonders gefordert. Entsprechend hat das Konzept der nachhaltigen Unternehmensführung  – maßgeblich bedingt durch entsprechende Forderungen aus der In- und Umwelt von Unternehmen – erheblich an Bedeutung gewonnen. Es zählt mittlerweile zu einem arrivierten und etablierten Leitansatz der normativen Managementforschung und -praxis mit „Strahlkraft“ in nahezu alle betrieblichen Subsysteme hinein. Eine – wenn nicht die – zentrale Herausforderung bei der Konzeptumsetzung ist ein möglichst hoher „Durchdringungsgrad“ des Gesamtsystems Unternehmen und dessen Subsysteme mit dem Nachhaltigkeitspostulat und den damit verbundenen Leitideen. Die dahinterstehenden konzeptionellen Überlegungen sollten nicht nur postulatsmäßig in den Unternehmensgrundsätzen festgeschrieben und öffentlichkeitswirksam vermarktet werden, sondern auch substanziell handlungsleitend für die operativen Vollzüge entlang der Wertschöpfungskette sein. Dieser konzeptumsetzenden Forderung Rechnung tragend wird in Teilen der einschlägigen Fachliteratur die nachhaltige Unternehmensführung als integrales bzw. integriertes Konzept gekennzeichnet. Der Integrationsfokus sollte sich dabei auf die unterschiedlichen betrieblichen Ebenen und Subsysteme ausrichten. Im Prinzip geht es – dem weithin anerkannten St. Galler Konzept „Integriertes Management“ folgend – darum, dass der auf der normativen Ebene postulierte Nachhaltigkeitsgedanke über die Strategie in operative Handlungsvollzüge einfließt und dadurch operationalisiert und für alle Anspruchsgruppen (insbesondere Kunden und Mitarbeiter) konkret erfahrbar wird. Das Konzept „Integriertes Management“ bildet mit seinem metapherhaften Grundverständnis als „Leerstellengerüst für Sinnvolles und Ganzheitliches“ hierzu einen sinnvoll „befüllbaren Rahmen“. Die bewusste Zusammenführung mit diesem Konzept weitet das Integrationsverständnis der Nachhaltigkeit über die konzeptimmanente Verzahnung der konstitutiven Kerntriade (Ökonomie/Ökologie/Soziales) hinaus in alle betrieblichen Subsysteme (Ebenen, Teilfunktionen etc.) hinein. V

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Vorwort

Diese Überlegungen führen hin auf den gewählten Buchtitel „Integrierte nachhaltige Unternehmensführung“. Dabei sollen die richtungsweisenden methodischen Überlegungen des Integrierten Managementansatzes nutzbar gemacht werden für die Umsetzung einer nachhaltigen Unternehmensführung. Dabei wird die Thematik – dem praxisnahen Forschungsverständnis der Leibniz-FH als hochschulbezogene Heimat der beiden Herausgeber folgend – sowohl theoretisch-konzeptionell als auch praxisnah-fallbezogen im He­ rausgeberband mit einem intendierten mittelbaren „Brückenschlag“ zwischen beiden Perspektiven ausgeleuchtet. Der Herausgeberband mit ausgewählten Autorinnen und Autoren aus Forschung und Praxis ermöglicht weiterhin aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven der jeweiligen Autorinnen/en eine intendierte breitgefächerte Ausleuchtung der Thematik mit z. T. unterschiedlichen Blickwinkeln, Sichtweisen und Standpunkten. Aufgrund der Vielschichtigkeit der Thematik können per se aber nur exemplarisch als zentral erachtete Themenbereiche akzentuiert werden; ein ganzheitlicher Überblick ist nicht möglich. Aufgrund der Fertigstellung der Beiträge zum Jahresende 2019 fand die seit März 2020 virulente Corona-Krise in Deutschland und die damit verbundenen Auswirkungen keine Berücksichtigung. Die Inhalte der Beiträge werden von ihrer Grundsubstanz, der Ausrichtung auf Nachhaltigkeit, davon auch nicht fundamental berührt. Wie genau und speziell sich die Virus-Krise auf die Zielrichtung von Unternehmen auch mit Blick auf die Nachhaltigkeit auswirken wird, ist zum aktuellen Zeitpunkt (August 2020) noch nicht abschätzbar. Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge, die einen ­interessanten Einblick in den Facettenreichtum der Thematik „Integrierte nachhaltige Unternehmensführung“ ermöglichen. Wir danken Gregor Harder (B.A.) und Angelika Teickner (B.Sc.) für die technische Unterstützung sowie für das Lektorat. Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir dem Verlag Springer Gabler, und hier namentlich Frau Christine Sheppard und Janina Tschech, für die Aufnahme dieses Buches in den Bereich „Management/Business for Professionals“ des Verlagsprogramms sowie ihre vorbildliche Unterstützung in der Erstellungsphase. Hannover, Deutschland  Januar 2020

Kristin Butzer-Strothmann Friedel Ahlers

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Einführung mit Betonung einer integrierten Sichtweise Themeneinführung und Beiträge im Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   3 Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers Integrierte Unternehmensführung und Nachhaltige Unternehmensführung: Synergetisches Potenzial einer Konzeptzusammenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann Teil II  Werteorientierte Grundlagen und Perspektiven Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit in unternehmerische Entscheidungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  27 Georg Müller-Christ Unternehmensethik als Basis einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  49 Elisabeth Göbel Gelebte Nachhaltigkeitskultur durch integrale Unternehmensführung. . . . . . . . .  69 Anja Grothe und Matthias Teller Was zählt in der Krise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  89 Markus Vogt und Rana Matthias Bose Integrierte nachhaltige Unternehmensführung von Familienunternehmen. . . . . . 107 Reinhard Altenburger und Christine Bachner Menschenrechtskonforme Unternehmensführung mithilfe des Risikomanagements? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Jutta Knopf, Remo Klinger und Karina Hildebrandt

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Inhaltsverzeichnis

Teil III  Exemplarisch dargestellte Objekt- und Anwendungsfelder Technologien als Impulsgeber für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Daniela Beyer, Annette Braun, Meike Schiek und Marion Weissenberger-Eibl Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate Governance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Stefan Vieweg Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen. . . . . . . . . . . . . . 197 Deane L. Harder, Jan T. Frecè und Marie Brechbühler Pešková Integriertes nachhaltiges Personalmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann #nachhaltig #digital #führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Michael Barsakidis und Wolfgang Keck Integriertes nachhaltiges Change Management. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Uta Kirschten Integrated Reporting Bedeutung und Nutzenpotenziale einer nachhaltigen, wertschöpfungsbezogenen Berichterstattung im Rahmen eines integrierten Unternehmensführungskonzepts. . . . . . . . . . . . . . 271 Marcel Mock Nachhaltige Firmenveranstaltungen als Treiber einer nachhaltigen Unternehmensführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Susanne Steimer und Clemens Arnold Teil IV  Branchen- und praxisfallorientierte Beispiele Agilisierung von Organisationen als Baustein einer erfolgreichen integrierten nachhaltigen Führung von Energieversorgungsunternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Christiane Michulitz, Sebastian Seier und Simon Haas Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG. . . . . . . . . . 335 Thomas Winkelmann, Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers Nachhaltiger Unternehmenserfolg am Beispiel von Symrise. . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Christina Witter und Friedrich-Wilhelm Micus Nachhaltigkeit im Handel am Beispiel von ROSSMANN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Raoul Roßmann, Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers

Inhaltsverzeichnis

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Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements in der Versicherungsbranche aus Sicht der Talanx AG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Martin Wienke, Kathrin Reichert und Julius Hansen  10Jahre Nachhaltigkeit bei Union Investment: Integration als dauerhafter Prozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Matthias Stapelfeldt Nachhaltigkeit als integraler Bestandteil der Unternehmensführung aus der Perspektive der Beratungsgesellschaft EY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Roger Müller und Mark Veser „Nachhaltigkeit“ als Querschnittsaufgabe einer integrierten Stadtentwicklung am Beispiel der Landeshauptstadt Hannover. . . . . . . . . . . 447 Susanne Wildermann, Friedel Ahlers und Kristin Butzer-­Strothmann Teil V  Fazit und Ausblick Auf dem Weg zu einer „besseren“ Unternehmensführung: Integrierte Nachhaltigkeit als Kernmerkmal von intelligenten zukunftsfähigen Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann Finale Gedanken: Integrierte nachhaltige Unternehmensführung quo vadis . . . . 479 Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann

Teil I Einführung mit Betonung einer integrierten Sichtweise

Themeneinführung und Beiträge im Überblick Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers

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Einführung: „Nachhaltigkeit erreicht DNA der Unternehmen“

„Nachhaltigkeit erreicht DNA der Unternehmen“ – ein in eine prononcierte Formulierung gefasstes Kernergebnis einer von Ernst & Young beauftragten Studie zur nachhaltigen Unternehmensführung in Form einer Befragung von 500 mittelständischen Unternehmen aus dem Jahr 2011 (Ernst & Young 2012, S. 6). Dieses optimistische Studienergebnis ist Anspruch und Hoffnung bzw. Utopie und Realität zugleich. Wenn auch dazu keine absolut belastbaren Daten vorliegen, so ist doch ein eindeutiger Trend dahingehend erkennbar, dass es sich immer mehr Unternehmen zur Aufgabe machen, „… Nachhaltigkeit in ihre Geschäfts-DNA […] zu integrieren“ (Fischer et al. 2019, S. 4). Damit vollziehen Unternehmen den Bedeutungsaufschwung von Nachhaltigkeit in der gesellschaftlichen Diskussion nach. „Nachhaltigkeit kann als das herausforderndste Thema des 21. Jahrhunderts gelten“ (Fischer et al. 2019, S. 3). Entsprechend werden auch von im gesellschaftlichen Kontext agierenden Akteur Unternehmen Beiträge zur Nachhaltigkeit erwartet bzw. aktiv eingefordert. Ein solches Vorgehen entspricht einer zunehmenden gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen. So führen Bleicher und Abegglen (2017, S. 253) in einem „Leitbild einer Verpflichtungspolitik“ zur gesellschaftlichen Legitimation eines Unternehmens aus: „Ohne die Leistung eines gesellschaftlichen Nutzens wird unsere Unternehmung nicht überleben.“ Das wirtschaftliche System insgesamt und die einzelnen Unternehmen als Akteure sind auf der einen Seite die maßgeblichsten Verursacher von Nachhaltigkeitsproblemen und halten auf der anderen Seite auch den Schlüssel für eine Umkehr in Richtung nachhaltigeres Handeln und Wirtschaften in der Hand. Denn es gilt: „Proaktives Handeln des privaten K. Butzer-Strothmann · F. Ahlers (*) Leibniz-Fachhochschule, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_1

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K. Butzer-Strothmann und F. Ahlers

Wirtschaftssektors wird inzwischen als fundamentale Notwendigkeit angesehen, gesellschaftliche Nachhaltigkeit zu verwirklichen“ (Fischer et al. 2019, S. 4). Heute gelten für Unternehmen die von Abegglen schon vor ca. zehn Jahren im Vorwort zum Standardwerk von Bleicher „Integriertes Management“ formulierten Sätze stärker als je zuvor: „Die alten Gewohnheiten tragen nicht mehr, auch nicht für kurze Zeit. Der Paradigmenwechsel ist in vollem Gange. Die Unternehmen von heute werden nur dann zukunftsfähig die Veränderungen überstehen, wenn sie diesen Wechsel jetzt einleiten“ (Abegglen 2011, S. 19). Umgemünzt auf das Thema Nachhaltigkeit bedeutet das, dass die meisten Unternehmen in einem intensiven Wettbewerbsumfeld das Thema „Nachhaltigkeit“ nicht auf die lange Bank schieben können, wollen sie nicht ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährden. Sie müssen jetzt die Weichen zur Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit stellen, indem sie nachhaltiges Denken und Handeln substanziell in ihre Unternehmenssysteme integrieren. Dann wäre das Ziel erreicht, dass „… Nachhaltigkeit als Teil der DNA auch im Geschäftsalltag lebendig werden kann …“ (Killius und Czernin 2015, S. 238), also ihr Orientierungs-, Handlungs- und Wertschöpfungspotenzial entfaltet. Nachhaltigkeit ist dabei eine grundlegende Frage für Unternehmen und Gesellschaft und damit weitab einer vergänglichen Modeströmung. Im Kontext der Ausführungen zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen fragt  – in bewusst prononcierter Form – der Integrationsvordenker Hans Ulrich (1984, S. 323): „Was nützt uns die Erzielung von Gewinnen in der Gegenwart, wenn wir mit unserem heutigen Verhalten zu unserem späteren Untergang beitragen?“. Wenn auch sehr zugespitzt formuliert, so wird damit doch die existenzielle Bedeutung von Nachhaltigkeit für Unternehmen und marktwirtschaftliche Systeme evident.

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Relevanz einer integrierten Sichtweise

In einem Zeitalter von Diskontinuitäten, Dynamik und Komplexität greifen lange Zeit bewährte eindimensionale betriebliche Entscheidungs- und Handlungsmuster nicht mehr: „In vielen Unternehmen wächst daher die Erkenntnis, das mit eindimensionalen, die Komplexität nur scheinbar reduzierenden Eingriffen die wechselnden Probleme in einer komplexen Welt nicht zu lösen sind. Die neue Welt der Wirtschaft erfordert mehr. Sie fordert einen integrativen Ansatz, der es erlaubt, die Unternehmen neu zu positionieren …“ (Abegglen 2011, S. 19). Eine wesentliche aktuelle Anforderung dieser „neuen Welt“ an Unternehmen neben z. B. der Digitalisierung ist die Forderung nach nachhaltigem Wirtschaften. Dabei bedeutet der Handlungsterminus „integrieren“ nicht einfach das Implementieren der Nachhaltigkeitsidee an sich, sondern ein angestrebtes durchgängiges und durchdringendes Verankern der damit verbundenen Überlegungen in alle relevanten tragenden Subsysteme des Unternehmens. Die Relevanz einer integrierten Sichtweise wird auch vielfach in der Nachhaltigkeitsliteratur erkannt und benannt. „Die Umsetzung des Nachhaltigkeitsprinzips kann in Unternehmen mithilfe von integrierten Managementsystemen erfolgen“ (Englert 2019, S.  5).

Themeneinführung und Beiträge im Überblick

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Besonders das Potenzial des integrativ ausgerichteten St. Galler Management Modells neuerer Ausprägung mit systemtheoretischen Wurzeln für die Einordnung der Nachhaltigkeit in den Managementkontext wird in der Literatur zur Nachhaltigkeit durchaus thematisiert (z. B. von Pufé 2017, S. 138 ff.). Richtungsweisend ist dabei die Erkenntnis, dass die Systemtheorie als interdisziplinäres Erkenntnismodell „… die Handhabung komplexer nachhaltigkeitsbezogener Probleme durch eine integrative Sicht- und Herangehensweise unterstützt“ (Pufé 2017, S. 141). Auch Ginter (2015, S. 301 ff.) sieht im integralen Management einen adäquaten Ansatz zur Realisierung einer umfassenden nachhaltigen Entwicklung von Unternehmen. Der Integrationsanspruch wird in vielen Literaturbeiträgen explizit als Postulat formuliert: „Da Nachhaltigkeitsmanagement eine Querschnittsaufgabe darstellt, ist es Aufgabe des Managements, das Thema im Unternehmen zu verankern und systematisch in die täglichen Prozesse und Strukturen zu integrieren“ (Leuphana Universität Lüneburg o.  J., S. 6). „Zentrale Anforderung ist, Nachhaltigkeit durchgängig und stringent in sämtlichen Kernprozessen eines Unternehmens zu verankern“ (Haver 2019, S. 756). Oder: „Zuletzt muss die Nachhaltigkeitsstrategie durch alle Strukturen und Prozesse hindurch in das gesamte Unternehmen integriert werden“ (Bernatzky 2016, S. 45). Abgesehen vom dem Terminus „zuletzt“, der nicht als zeitliche Abfolge gedeutet werden sollte, sind solche Forderungen nach Integration zwar verständlich und gut nachvollziehbar, sorgen aber nicht für eine klare „Aufhellung“ bezogen auf die sich dann ergebende Schlüsselfrage, ob überhaupt und speziell in welchem Grad denn Nachhaltigkeit in der realen Unternehmensführung Platz gegriffen hat. Die Forderung nach Verankerung von Nachhaltigkeit in den Kernprozessen hat sich mehr oder weniger substanziell in den betrieblichen Funktionsbereichen niedergeschlagen, z. B. in Form einer nachhaltigen Logistik als Element eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements (dazu Pfennig 2019). Auch Teilfunktionen wie z. B. ein Kommunikationsmanagement im CSR-Kontext werden mit integrierten Überlegungen in Verbindung gebracht (z. B. Schmitt und Röttger 2011). Trotz der vielgeäußerten Forderung nach einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung in der Literatur und einigen hervorstechenden Praxisbeispielen scheint der Durchdringungsrad in der Unternehmenspraxis noch ausbaufähig: „Obwohl es sehr viele Möglichkeiten gibt, sich mit dem Thema Nachhaltigkeit zu befassen, ist die tatsächliche Umsetzungs- und Anwendungsrate in der Praxis vergleichsweise niedrig“ (Leuphana Universität Lüneburg o. J., S. 7). Indirekt geht das auch aus den Untersuchungen von Fischer et al. (2019, S. 189) hervor, wenn sie als Handlungsempfehlung aus dem festgestellten Status quo ableiten: „Die Verankerung von Nachhaltigkeit im Unternehmen sicherstellen“. Lorentschitsch und Walker (2012, S. 316) fragen sich richtungsweisend zum Abschluss ihres Beitrages in einem Herausgeberband zu CSR, das einen Kerninhalt der Nachhaltigkeit abbildet: „Womit wir nun abschließend bei der wesentlichen Frage angelangt sind: Kann die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen überhaupt anders als durch ein integratives Managementsystem umgesetzt werden, um den Ansprüchen an sie selbst gerecht zu werden?“ Die Art der Fragestellung verrät schon die klare Antwort „nein“, die

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K. Butzer-Strothmann und F. Ahlers

hier schon im Vorlauf der kommenden Beiträge eigentlich außer Frage steht. Also nicht das „ob“, sondern das „wie“ der Integration von Nachhaltigkeit rückt in den Fokus der Betrachtung. Der konservative Ansatz der Nachhaltigkeitsintegration geht von einer instrumentellen Integrationsaufgabe aus mit dem Ziel „… Nachhaltigkeitsaspekte in das konventionelle, zumeist ökonomisch ausgerichtete Managementsystem eines Unternehmens zu integrieren“ (Orth 2016, S. 36). Hier stellt sich dann aber die Frage, inwiefern bei einer solchen „Einpassung“ in ein konventionelles Managementsystem dem Ziel der Nachhaltigkeit substanziell entsprochen werden kann. Die vielfach zu lesende Aufforderung „Unternehmen neu zu denken bzw. neu zu erfinden“ (z. B. Abegglen 2011, S. 19) würde eher eine grundlegende Neuorientierung im Zielsystem von Unternehmen nahelegen, die Nachhaltigkeit mit in den Fokus stellt. Wobei damit nicht das Ökonomische an sich in Frage gestellt werden sollte, was das zielbezogene Grundsubstrat von Unternehmen auch zukünftig abbilden wird, sondern eine Akzentverschiebung in Richtung einer verantwortungsvolleren und damit nachhaltigeren Ökonomie. Die enge Verbindung zwischen einem integrierten, vernetzten Denken und einer verantwortlichen, nachhaltigen Unternehmensführung wurde schon wegweisend und vorausschauend 1999 – als die Nachhaltigkeitsdebatte heutiger Prägung noch kaum Fahrt aufgenommen hatte  – von Gomez/Probst betont, indem sie formulierten: „Verantwortliche Unternehmensführung in turbulenter Zeit erfordert nicht nur vernetztes Denken, sondern auch unternehmerisches Handeln und persönliches Überzeugen. Es reicht nicht aus, neue Denkweisen und innovative Zugänge zu komplexen Problemsituationen zu entwickeln (Vernetztes Denken). Vielmehr muss darauf aufbauend zielgerichtet Wandel herbeigeführt (Unternehmerisches Handeln) und durch eine motivierende und mitreissende Führung im Unternehmen umgesetzt werden (Persönliches Überzeugen)“ (Gomez und Probst 1999, Buchrückseite). Wichtig ist also die Überführung von Nachhaltigkeitsdenken in Nachhaltigkeitshandeln, wozu der hier thematisierte Integrationsgedanke maßgeblich beitragen kann und soll.

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 mwelt- und Inweltbezogene Impulse zu einer integrierten U nachhaltigen Unternehmensführung

Aus systemtheoretischer Perspektive, die einen zentralen theoretischen Ausgangsansatz für das Konzept des integrierten Managements bildet und den „verkürzten Sichtweisen“ von Organisationen ein ganzheitliches Erkenntnisinteresse entgegenstellt (Elias-Linde 2013, S. 167), sind Unternehmen Systeme mit vielfältigen intra- und intersystemischen Vernetzungen. Diese systemische Perspektive sensibilisiert dafür, dass Unternehmen nicht isoliert agierende Akteure sind, sondern im Geflecht von vielfältigen Einflussgrößen der Umwelt agieren. Grundsätzliches Ziel ist dabei die Überlebensfähigkeit des Systems über einen adäquaten Fit zwischen Umweltanforderungen und Systemausrichtung herzustellen (Müller-Christ 2014, S.  80). Dieses breitangelegte Verständnis ist auch maßgebend für

Themeneinführung und Beiträge im Überblick

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Nachhaltigkeitsansätze mit holistischem Grundverständnis, wonach „… die ökologische Verantwortung des Unternehmens, seine Verantwortung gegenüber Mitarbeitern, für Produkte und Lieferketten sowie gegenüber der Gesellschaft …“ (Ankele und Grothe 2019, S. 551) Berücksichtigung finden sollte. Aus der Um- und Inwelt des Unternehmens kommen auch die zentralen Impulsgeber und Triebkräfte für eine nachhaltige Unternehmensführung, wozu exemplarisch der Klimawandel, neue Mitarbeiter- und Konsumentengenerationen mit veränderten Wertvorstellungen, gesetzgeberische Initiativen und eine zunehmend sensibilisierte und kritische Öffentlichkeit zählen (z. B. Ernst & Young 2012, S. 32; Killius und Czernin 2015, S. 236 f.). Immer mehr Unternehmen reagieren im wohlverstandenen Eigeninteresse im Kontext des Organisationalen Lernens auf an die sie herangetragenen nachhaltigkeitszentrierten Forderungen, z. B. in Form einer angestrebten weitgehenden Klimaneutralitätsstrategie (u. a. Günther und Stechemesser 2016, S. 209 f.). Impulse zu einer nachhaltigen Unternehmensführung erwachsen auch aus einem intendierten (ethischen) Diskurs mit den relevanten Stakeholdergruppen und der Öffentlichkeit. Wobei der Diskurs auch explizit die Option beinhaltet, sich als Unternehmen gegenüber den Stakeholdern zu erklären und betriebsspezifische Nachhaltigkeitskonzepte und ethische Standpunkte argumentativ zu vertreten, die aus nachvollziehbaren Gründen nicht allen erhobenen Forderungen entsprechen (können) (Huppenbauer 2017, S. 134). Die Stakeholder-­Betrachtung bezieht explizit die Mitarbeiter des Unternehmens ein, die intern die Diskussion um mehr Nachhaltigkeit anstoßen und gezielt vorantreiben können. Aktuelle technologische Entwicklungen wie das Konzept „Industrie 4.0“ sind zwar nicht primär nachhaltigkeitsgetrieben, erfordern aber auch zur vollen Potenzialausschöpfung ein nachhaltiges Entwicklungs- und Transformationskonzept in Unternehmen (vgl. dazu z. B. Biedermann et al. 2017). Auch die beiden Megatrends „Digitalisierung“ und „Nachhaltigkeit“ können sich gegenseitig befruchten (dazu z.  B.  Ternès 2019; Reichel 2019). Die integrierte Sichtweise richtet sich damit auch auf die „Verträglichmachung“ der sogenannten Megatrends aus. Das internationale Engagement von insbesondere größeren Unternehmen in vielen Ländern mit jeweils anderen kulturvorgeformten Wertestrukturen lassen die Wahrnehmung von nachhaltigem Handeln und betrieblicher Verantwortung noch in einem wesentlich komplexeren Licht erscheinen (Brühl 2018, S. 3 f.), da die Relevanz von Wertestrukturen vor dem Hintergrund des Kulturkontextes zu definieren ist. Gerade auch durch unterschiedliche politische Strömungen mit einem – vorsichtig formuliert – nicht immer klaren Bekenntnis zur Nachhaltigkeit ist ein eindeutiges länder- und kulturübergreifendes positives Statement zur Nachhaltigkeit nicht klar auszumachen, was sich auch in unterschiedlichen Gesetzgebungen niederschlägt. Die eigentliche länderübergreifende Aufgabe der Nachhaltigkeit, die nur international zu bewältigen ist, wie am Klimaschutz evident wird, stößt hier an Grenzen. Verantwortlich handelnde internationale Unternehmen sollten – trotz nicht unbedingt länderbezogener Dringlichkeit – hier einheitliche internationale Maßstäbe setzen.

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K. Butzer-Strothmann und F. Ahlers

Insgesamt speist ein vielfältiger Kranz von Impulsen die Entwicklung hin zu einer substanziellen und nicht nur von vordergründigen Marketinggesichtspunkten getragenen nachhaltigen Unternehmensführung. Die einzelnen Unternehmen sehen sich dabei unterschiedlichen Anforderungsgraden gegenüber und haben dementsprechend ein auf ihre Belange zugeschnittenes Nachhaltigkeitskonzept zu gestalten. Den „Königsweg“ der inte­ grierten nachhaltigen Unternehmensführung gibt es damit nicht. Gleiches gilt im Prinzip für die integrale Steuerung von Unternehmen: „Es kann […] keinen „one best way“ integraler Führung, Organisation und Steuerung geben, wohl aber verschiedene zweck- und sinnvolle Wege, die zu einem integralen Wohlergehen von Individuen und Organisationen […] führen“ (Deeg et  al. 2010, S.  225). Und gerade dieses „Wohlergehen“ ermöglicht wieder den Brückenschlag zur Nachhaltigkeit als motivations- und zukunftsfähige Leitidee für Mitarbeiter individuell und die Organisation insgesamt.

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Überblick und Einordnung der Beiträge

Wie schon im Vorwort kurz angeklungen, können die im diesem Band enthaltenen Beiträge nur ein kleines, exemplarisches Spektrum einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung widerspiegeln. Der Heranzug weiterer aktueller und dabei umfassender Werke zum nachhaltigen Management wie von Englert und Ternès (Hrsg.) (2019) verbreitert den Blick auf den aktuellen Diskussionsstand, ohne ihn ebenfalls ganzheitlich erfassen zu können. Die hier exemplarisch vorliegenden Beiträge werden folgenden fünf Oberkategorien zugeordnet: Teil I: Einführung mit Betonung einer integrierten Sichtweise Teil II: Werteorientierte Grundlagen und Perspektiven Teil III: Exemplarisch dargestellte Objekt- und Anwendungsfelder Teil IV: Branchen- und praxisfallorientierte Beispiele Teil V: Fazit und Ausblick Die Zuordnung der Beiträge ist nicht überschneidungsfrei, soll insofern nur den Hauptfokus der Beiträge fokussieren. Auch per se einzukalkulierende inhaltliche Redundanzen sind für einen Herausgeberband nicht untypisch und auch inhaltlich rechtfertigbar, da so zentrale Aspekte aus unterschiedlichen Perspektiven öfters beleuchtet und ins Bewusstsein gerufen werden. Im Kategoriebereich „Teil I: Einführung mit Betonung einer integrierten Sichtweise“ wurde in diesem Beitrag von Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers schon die Bedeutung der Nachhaltigkeit für die Unternehmensführung herauskristallisiert und dabei die Relevanz einer integrierten Sichtweise betont. Im zweiten Einführungsbeitrag stellen die gleichen Autoren das synergetische Potenzial der beiden Konzepte integrierte und nachhaltige Unternehmensführung heraus und entwickeln auf dieser Basis die Konzeptkonturen einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung.

Themeneinführung und Beiträge im Überblick

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Im zweiten Kategoriefeld „Teil II: Werteorientierte Grundlagen und Perspektiven“ nehmen Wissenschaftler von Hochschulen das Thema Nachhaltigkeit insbesondere aus einer werteorientiert-ethischen Perspektive in den Blick. Grundlegend geht zunächst Georg Müller-Christ in Form einer „Systemischen Erzählung“ auf die Integration von Nachhaltigkeit und damit verbundenen ethischen Normsetzungen in unternehmerische Entscheidungen mit Zielrichtung eines „Sustainable Leadership“ ein. Grundlegend mit der Ethikaffinität einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung beschäftigt sich der darauffolgende Beitrag von Elisabeth Göbel. Anja Grothe und Matthias Teller zeigen in ihrem Beitrag mit einer „gelebten Nachhaltigkeitskultur“ mit Fokus „gute Führung“ ausgehend von der Unternehmensleitung einen zentralen Ansatzpunkt auf, Nachhaltigkeit auch nachhaltig in das Unternehmensführungssystem zu integrieren. Im Anschluss analysieren Markus Vogt und Rana Matthias Bose den Beitrag der werteorientierten Handlungsmaxime Nachhaltigkeit in Zeiten krisengeprägter Herausforderungen wie des Klimawandels zum Systemerhalt mit der Intention, dass Wertegerüst als zentralen Kompass bei der Bewältigung solcher Herausforderungen auszumachen. Im Folgebeitrag verdeutlichen Reinhard Altenburger und Christine Bachner den Einfluss des kulturellen und wertegeprägten Grundgerüstes von Familienunternehmen auf eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung. Mit der interessanten und dabei auch wertegeprägten Frage, inwiefern Potenziale zur Einbindung menschenrechtskonformer Verhaltensweisen in betriebliche Risikomanagementsysteme bestehen, um menschenrechtsaversen Aktivitäten vorzubeugen, beschäftigt sich der Beitrag von Jutta Knopf, Remo Klinger und Karina Hildebrandt. In der dritten Kategorie „Teil III: Exemplarisch dargestellte Objekt- und Anwendungsfelder“ werden Themen eingeordnet, die sich exemplarisch auf konkrete Objekt- und Anwendungsfelder nachhaltigen Handelns beziehen. In den ersten beiden Beiträgen wird dabei der Einfluss neuer Technologien auf die Nachhaltigkeit näher untersucht. Daniela Beyer, Annette Braun, Meike Schiek und Marion Weissenberger-Eibl kennzeichnen in ihrem Beitrag Technologien als Impulsgeber für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung. Stefan Vieweg sieht in seinem Beitrag die nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung vor neue Herausforderungen gestellt, die eine neue Corporate Governance erfordern. Wobei gerade Nachhaltigkeit nicht nur technologische, sondern auch soziale Innovationen einschließt. In diesem Zusammenhang befassen sich Deane L. Harder, Jan T. Frecè und Marie Brechbühler Pešková mit der geplanten Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen, um die Veränderungsfähigkeit und damit auch die Nachhaltigkeit von Organisationen zu stärken. Nachhaltigkeit lässt sich grundsätzlich in alle funktionalen Subsysteme des Unternehmens integrieren, wie exemplarisch die vier nachfolgenden Beiträge verdeutlichen. Zunächst zeigen Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann in ihrem Beitrag die Grundzüge und -inhalte eines integrierten nachhaltigen Personalmanagements auf. Speziell auf den Aspekt der nachhaltigen digitalen Führung und den Anforderungen an die Weiterbildung von Führungskräften gehen Michael Barsakidis und Wolfgang Keck ein. Um die damit einhergehenden vielfältigen Herausforderungen bewältigen zu können, sollten Unternehmen ein integriertes nachhaltiges Change Management nutzen, worauf Uta Kirschten näher eingeht. Marcel Mock

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K. Butzer-Strothmann und F. Ahlers

verdeutlicht in seinem Beitrag das Nutzenpotenzial eines Integrated Reporting Ansatzes als Form einer nachhaltigen wertschöpfungsbezogenen Unternehmensberichterstattung. Im abschließenden Beitrag dieser Kategorie zeigen Susanne Steimer und Clemens Arnold anhand von konkreten Beispielen auf, wie Firmenveranstaltungen im Rahmen eines Event Sustainability Management nachhaltiger gestaltet werden können. Unter der Kategorie „Teil IV: Branchen- und praxisfallorientierte Beispiele“ geht es um die Anwendung nachhaltiger Prinzipien und Handlungsweisen im Branchen- bis zum konkreten Unternehmenskontext. Beginnend mit dem Energie-Branchenbezug gehen Christiane Michulitz, Sebastian Seier und Simon Haas aufgrund von Beratungserfahrungen auf die Agilisierung von Organisationen mit Fokus Energieversorgungsunternehmen ein, wobei Agilität als Element der Nachhaltigkeit verstanden wird. In den folgenden Beiträgen werden fallspezifische Nachhaltigkeitskonzepte von Unternehmen vorgestellt. Für den Sektor Industriebetriebe führen Thomas Winkelmann, Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers mit Bezug auf die Continental AG das bereits realisierte breite Spektrum an nachhaltigen Maßnahmen an. Besonders deutlich wird die Vielfalt an möglichen nachhaltigen Aktivitäten an dem von Christina Witter und Friedrich-Wilhelm Micus verfassten Beitrag zum Unternehmen Symrise. Für den Handelssektor erläutern Raoul Roßmann, Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers, welche nachhaltigen Aktivitäten das Drogeriemarktunternehmen Dirk Rossmann GmbH initiiert und umgesetzt hat. Bezogen auf die Versicherungsbranche und hier speziell für das Fallunternehmen Talanx AG beschreiben Martin Wienke, Kathrin Reichert und Julius Hansen Compliance als wesentlichen Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements. Aus der Finanzwelt schildert Matthias Stapelfeldt das breitgefächerte Nachhaltigkeitsengagement der Investmentgesellschaft „Union Investment“. Aus der Perspektive der Beratungsgesellschaft Ernst & Young leuchten Roger Müller und Mark Veser das Potenzial der Nachhaltigkeit als inte­ graler Bestandteil der Unternehmensführung aus. Über die Unternehmensperspektive hi­ nausgehend stellen Susanne Wildermann, Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann das Nachhaltigkeitsengagement der Landeshaupstadt Hannover vor. Im letzten Kategoriebereich „Teil V: Fazit und Ausblick“ sind die beiden Herausgeber Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers wieder mit zwei Beiträgen vertreten. In ihrem ersten finalen Beitrag kennzeichnen die beiden Autoren vor dem Hintergrund des Leitmotivs einer „besseren“ Unternehmensführung integrierte Nachhaltigkeit als Kernmerkmal von intelligenten zukunftsfähigen Unternehmen. Im zweiten Beitrag wird – dem finalen Anspruch entsprechend – die Quo-vadis-Frage einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung thematisiert. Insgesamt spiegelt die Vielfalt an Themen, mit denen das Thema Nachhaltigkeit in Verbindung gebracht werden kann und von der hier im Buch per se nur einzelne Ausschnitte dargelegt werden konnten, dass Facettenreichtum dieses Themenfeldes wider, selbst wenn man nur wirtschaftliche Systemeinheiten betrachtet. Genau diese vielfältigen Facetten sind ein wesentlicher Ansatzpunkt dafür, ein integriertes Nachhaltigkeitssystem anzustreben, wo die einzelnen Aspekte in ein stimmiges und dabei synergetisches Gesamtsystem aufgehen.

Themeneinführung und Beiträge im Überblick

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Literatur Abegglen C (2011) Geleitwort zum Buch „Das Konzept Integriertes Management“ von Knut Bleicher. Campus, Frankfurt/New York, S 17–21 Ankele K, Grothe A (2019) Strategisches Nachhaltigkeitsmanagement durch Nachhaltigkeitsbewertung. In: Englert M, Ternès A (Hrsg) Nachhaltiges Management: Nachhaltigkeit als exzellenten Managementansatz entwickeln. Springer Gabler, Berlin, S 551–574 Bernatzky S (2016) Strategisches Nachhaltigkeitsmanagement. Dr. Kovač, Hamburg Brühl R (2018) Corporate Social Responsibility: Eine Ethik der gesellschaftlichen Verantwortung und ihre Umsetzung. Franz Vahlen, München Biedermann H, Tschiggerl K, Topic M (2017) Nachhaltige Entwicklung vor dem Hintergrund der digitalen Transformation. In: Biedermann H, Vorbach S, Posch W (Hrsg) Transformation: Neue Wege zu industrieller Nachhaltigkeit. Rainer Hampp, Augsburg/München, S 11–18 Bleicher K, Abegglen C (2017) Das Konzept Integriertes Management, 9. Aufl. Campus, Frankfurt/ New York Deeg J, Küpers W, Weibler J (2010) Integrale Steuerung von Organisationen. Oldenbourg, München Elias-Linde S (2013) Personalknappheit und nachhaltiges Humanressourcenmanagement. Springer Gabler, Wiesbaden Englert M (2019) Road to Excellence: Potenzial des Sustainable Management im 21. Jahrhundert. In: Englert M, Ternès A (Hrsg) Nachhaltiges Management: Nachhaltigkeit als exzellenten Managementansatz entwickeln. Springer Gabler, Berlin, S 3–22 Englert M, Ternès A (Hrsg) (2019) Nachhaltiges Management: Nachhaltigkeit als exzellenten Managementansatz entwickeln. Springer Gabler, Berlin Ernst & Young (2012) Nachhaltige Unternehmensführung: Lage und aktuelle Entwicklungen im Mittelstand. o. Verlag, Essen Fischer S, Eireiner C, Weber S (2019) Nachhaltiges HR-Management: Konzepte – Rollen – Handlungsempfehlungen. Schäffer-Poeschel, Stuttgart Ginter T (2015) Integral Management – New Perspectives for Sustainable Development. In: Ernst D, Sailer U (Hrsg) Sustainable Business Management. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz/München, S 301–318 Gomez P, Probst G (1999) Die Praxis des ganzheitlichen Problemlösens, 3. Aufl. Haupt, Bern Günther E, Stechemesser K (2016) Nachhaltige Unternehmensführung durch organisationales Lernen – das Beispiel Klimawandelanpassung. In: Antes R, Müller M, Siebenhüner B (Hrsg) Umweltmanagement im Nachhaltigkeits- und Verhaltenskontext. Metropolis, Marburg, S 205–223 Haver S (2019) Perspektivwechsel Nachhaltigkeit. In: Englert M, Ternès A (Hrsg) Nachhaltiges Management: Nachhaltigkeit als exzellenten Managementansatz entwickeln. Springer Gabler, Berlin, S 749–760 Huppenbauer M (2017) Leadership und Verantwortung: Grundlagen ethischer Unternehmensführung. Versus, Zürich Killius P, Czernin F (2015) Zusammenfassung zu diesem Buch. In: Günther E, Ruter RX (Hrsg) Grundsätze nachhaltiger Unternehmensführung, 2. Aufl. Erich Schmidt, Berlin, S 229–238 Leuphana Universität Lüneburg (o. J.) Nachhaltigkeitsmanagement mit System: Ein Leitfaden für den Mittelstand, Lüneburg. www.leuphana.de/inami Lorentschitsch B, Walker T (2012) Vom integrierten zum integrativen CSR-Managementansatz. In: Schneider A, Schmidpeter R (Hrsg) Corporate Social Responsibility: Verantwortungsvolle Unternehmensführung in Theorie und Praxis. Springer Gabler, Berlin/Heidelberg, S 299–316 Müller-Christ G (2014) Nachhaltiges Management: Einführung in Ressourcenorientierung und widersprüchliche Managementrationalitäten. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

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K. Butzer-Strothmann und F. Ahlers

Orth R (2016) Nachhaltige Unternehmensentwicklung aus ressourcenorientierter Perspektive: Integrierte Methode für kleine und mittlere Unternehmen. Fraunhofer, Stuttgart Pfennig R (2019) Nachhaltige Logistik als Säule eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements. In: Englert M, Ternès A (Hrsg) Nachhaltiges Management: Nachhaltigkeit als exzellenten Managementansatz entwickeln. Springer Gabler, Berlin, S 581–592 Pufé I (2017) Nachhaltigkeit, 3. Aufl. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz/München Reichel A (2019) Sustainability 4.0 – Über die Konvergenz von Nachhaltigkeit und Digitalisierung. In: Englert M, Ternès A (Hrsg) Nachhaltiges Management: Nachhaltigkeit als exzellenten Managementansatz entwickeln. Springer Gabler, Berlin, S 105–119 Schmitt J, Röttger U (2011) Corporate Responsibility-Kampagnen als integriertes Kommunikationsmanagement. In: Raupp J, Jarolimek S, Schultz F (Hrsg) Handbuch CSR. VS/Springer, Wiesbaden, S 173–187 Ternès A (2019) Nachhaltigkeit und Digitalisierung als Chance für Unternehmen. In: Englert M, Ternes A (Hrsg) Nachhaltiges Management: Nachhaltigkeit als exzellenten Managementansatz entwickeln. Springer Gabler, Berlin, S 79–104 Ulrich H (1984) Management. Paul Haupt, Bern

Prof. Dr. Kristin Butzer-Strothmann  Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing und Empirische Sozialforschung an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover seit 2011. Zuvor war sie ab 2009 Dozentin an der Leibniz-Akademie und bis 2018 Vizepräsidentin für Lehre und Forschung. Sie leitet den Masterstudiengang „Integrierte Unternehmensführung (digital/nachhaltig)“. Nach einer Lehre zur Werbekauffrau und dem Studium der BWL in Lüneburg promovierte sie zum Thema „Krisen in Geschäftsbeziehungen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 1998 bis 2009 arbeitete sie als Marktforscherin und Marketing-Consultant im Business- und Non-Business-Bereich. Darüber hinaus war sie für verschiedene Hochschulen und Bildungsinstitutionen als externe Dozentin für Marketing, Marktforschung sowie Industriebetriebslehre tätig. Prof. Dr. Friedel Ahlers  ist seit 2011 Professor für ABWL mit Schwerpunkten Unternehmensführung und Personalwirtschaft an der Leibniz-­Fachhochschule in Hannover. Zuvor war er Dozent an der Leibniz-Akademie, davor einige Jahre Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Die Jahre zuvor arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Leibniz Universität Hannover (Institut für Unternehmensführung und Organisation). Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 1993. Das wirtschaftswissenschaftliche Studium wurde in Hamburg und Oldenburg ­absolviert.

Integrierte Unternehmensführung und Nachhaltige Unternehmensführung: Synergetisches Potenzial einer Konzeptzusammenführung Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann

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Einführung: Erkenntnisgewinn durch Konzeptzusammenführung

Die Konzepte „Integrierte Unternehmensführung“ und „Nachhaltige Unternehmensführung“ sind zunächst als unabhängig voneinander entwickelte Konzepte mit anderen theoretischen und konzeptionellen Wurzeln zu verstehen, wenn es inhaltlich auch mittelbar bzw. unmittelbar viele Schnittmengen gibt. Der Titel des Buches „Integrierte nachhaltige Unternehmensführung“ lässt schon erahnen, dass sich von der Konzeptzusammenführung im Sinne einer zielgerichteten Verknüpfung von Grundideen statt einer unfokussierten „Vermischung“ ein Erkenntnisgewinn erhofft wird. Betrachtet man die beiden Konzepte, so lässt sich ein Zusammenführungspotenzial allein durch die unterschiedlichen, aber komplementären Grundpositionen erkennen. Der integrierte Managementansatz stellt mit dem „Leerstellengerüst“ eine Methodik dar, die aufnahmefähig für normative Leitideen ist. An erster Stelle steht also die integrative Methodik, die durch die Abschichtungstriade normativ, strategisch und operativ geprägt ist. Aber auch der Nachhaltigkeitsgedanke ist, wenn auch nicht im Inhaltsverzeichnis der Werke von Bleicher (2011) und Bleicher und Abegglen (2017) explizit vertreten, mit dem dort vorzufindenden Wertegefüge in Einklang zu bringen. Bei der nachhaltigen Unternehmensführung steht  – wie die Bezeichnung schon erahnen lässt – der normative Leitsatz der Nachhaltigkeit im Vordergrund. Der integrierte Aspekt wird in der Nachhaltigkeitsliteratur als Forderung dahingehend akzentuiert, dass Nachhaltigkeit in die Unternehmenssysteme zu integrieren sei. Dies lässt zumindest vermuten, dass durch die Konzeptzusammenführung von „Integrierten Management“ und „Nachhaltigkeit“ ein Erkenntnisgewinn zu realisieren wäre. Um die (angenommenen) F. Ahlers (*) · K. Butzer-Strothmann (*) Leibniz-Fachhochschule, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_2

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F. Ahlers und K. Butzer-Strothmann

­ roduktiven Synergien zwischen beiden Ansätzen herauszuarbeiten, werden zunächst die p beiden Konzepte grundlegend charakterisiert, worauf folgend das synergetische Potenzial wieder ins Auge gefasst wird.

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Grundcharakteristika der konstitutiven Konzepte

2.1

Integrierte Unternehmensführung

„Die Notwendigkeit eines integrierten Führungsansatzes ist in Theorie und Praxis unbestritten“ (Dillerup und Stoi 2016, S. 51). Diese Aussage steht für den hohen Resonanzgrad, den das integrierte Managementkonzept speziell St. Galler Prägung heute in der Unternehmensführung findet. Rekurrierend auf der Systemtheorie hat der St. Galler Management­ ansatz, begründet von Hans Ulrich und fortgeführt von Bleicher (2011) bzw. Bleicher und Abegglen (2017) bis hin zu Rüegg-Stürm und Grand (2015), „… der Diskussion um Ganzheitlichkeit und Integration in der deutschsprachigen Managementwissenschaft den Weg gebahnt …“ (Ahlers et al. 2011, S. 4) und ihn mittlerweile fest etabliert. Neben den maßgeblichen und richtungsweisenden Autoren St. Galler Prägung haben sich weitere Autoren intensiv mit dem ganzheitlichen Management auseinandergesetzt, wie z.  B.  Steinle mit dem Managementkubus als Kristallisationspunkt (dazu Steinle 2005). Ausgangspunkt und Begründer einer integrierten Denkweise in der deutschsprachigen Managementlehre ist Hans Ulrich, der auf Basis der Systemtheorie erste wegweisende konzeptionelle Überlegungen entwickelt hat: „Integration ist also eine Vorstellung, die Ergebnis eines Systemdenkens ist, die von der Existenz von Teil und Ganzheit ausgeht. In einer Systemterminologie ausgedrückt, bedeutet also Integrieren Zusammenfügen von Komponenten zu einem System. Dabei verstehen wir bekanntlich unter einem System eine Ganzheit, die aus verschiedenen miteinander verknüpften Komponenten besteht und eine bestimmte Ordnung oder Struktur aufweist“ (Ulrich 1984, S. 261). Eine integrierte Unternehmensführung strebt dabei an, „… sowohl den integrierten Gesamtzusammenhang als auch die miteinander verflochtenen Teile von Organisationen gleichermaßen zu berücksichtigen“ (Deeg et  al. 2010, S.  112). So gilt zum einen sowohl die Vorstellung „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile ist“, zum anderen aber auch die existenzielle Wirkung der Teile für das Ganze. Es liegt ein Wechselspiel von Ganzheit und Teilen vor. Kernpunkt des integrierten Managements nach Bleicher (2011) sind die miteinander zu verknüpfenden Managementdimensionen normativ – strategisch – operativ. Das Konzept von Rüegg-Stürm und Grand (2015) stellt ein umfassendes St. Galler Management-­Modell u. a. mit einer expliziten Stakeholder-Perspektive vor. Die Diskussion um die integrierte Unternehmensführung wird sowohl auf dem wissenschaftlichen Feld, wozu die Publikationen aus der St. Galler Feder wie auch z.  B. das Konzept von Steinle (2005) gehören, als auch von einer eher praxisnahen und zum Teil

Integrierte Unternehmensführung und Nachhaltige Unternehmensführung …

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beratungsaffinen Community geführt (z. B. Koubek und Pölz 2014). Beide Zugangswege zur integrierten Unternehmensführung haben aus Sicht des theoretischen und pragmatischen Wissenschaftsziels der Betriebs- und Managementlehre ihre volle Berechtigung. Wobei der letzteren Kategorie von Ansätzen besonders der Verdienst zur populären Verbreitung integrierter Gedankenguts in der Praxis zukommen kann; allerdings enthalten sie „… bei genauer Analyse nur ‚Spurenelemente‘ bzw. Subaspekte der anspruchsvollen Vorstellung einer integrierten Unternehmungsführung ...“ (Ahlers et al. 2011, S. 4). Die Entwicklung einer integrierten Unternehmensführung hängt unmittelbar mit der zunehmenden Komplexität zusammen, denen Sozialsysteme und hier insbesondere Unternehmen ausgesetzt sind. „Integratives Gedankengut hat dort seine Berechtigung, wo Komplexität herrscht“ (Eggers 2006, S. 79). Gomez (1999, S. 3) sieht dementsprechend integriertes Management als „Antwort“ auf die heute virulente hohe Komplexität, der sich Unternehmen gegenübersehen. Insofern ist ganzheitliche Unternehmensführung „… zu großen Teilen ein Komplexitäts-Management […], um die Handlungsfähigkeit des Sozialsystems Unternehmung auf dynamischen Märkten abzusichern“ (Ahlers et  al. 2011, S. 4). Diesen Überlegungen folgend besteht die grundlegende allgemeine Zielsetzung einer ganzheitlichen bzw. integrierten Unternehmensführung darin, „… ein komplexes System so zu gestalten und zu lenken, dass es in einer hochkomplexen und turbulenten Umwelt überleben kann“ (Jung 2017, S. 948). Dazu ist eine – dem Integrationsgedanken folgend – enge Abstimmung der betrieblichen Subsysteme mit funktionsbzw. wertschöpfungszentrierten Charakter zu einem zielgerichteten Gesamtgefüge notwendig (Eggers 2006, S. 80). Die integrierte Unternehmensführung ist bei Weitem kein fertiges Konzept, was von den konzeptionellen Vorstellungen ausgehend eins zu eins von jedem Unternehmen übernommen werden kann. Vielmehr „… muss jedes Unternehmen sein eigenes integratives, zielführendes Managementmodell für sich finden“ (Neumann 2017, S. 66). Dies korrespondiert treffend mit der Intention des St. Galler Managementmodells, als „Leerstellengerüst für Sinnvolles und Ganzheitliches“ (Bleicher 2011, S. 87) zu fungieren. Das „Leerstellengerüst“ gibt damit (nur) ein integratives Denkgerüst vor, das quasi zur unternehmenssituationsbezogenen „Befüllung“ einlädt (Butzer-Strothmann et al. 2018, S. 4). Mit dem Anspruch des integrierten Managements als Denk- und Handlungsmethodik ist die praktische Anwendbarkeit des Konzeptes verbunden. „Der Integrationsgedanke ist damit nicht ein abgehobener Spross einer (nur) abstrakt denkenden wissenschaftlichen Community, sondern durchaus nah der Realität“ (Ahlers et al. 2017, S. 2). Kritisch muss zum Diskussionsstand aber konstatiert werden, dass aufgrund der eher inflationären Begriffsverwendung und der Vielzahl der mittlerweile als „integriert“ deklarierten Ansätze Vorsicht geboten ist: „‚Integriert ist damit nicht integriert‘, d. h. die Begriffsverwendung erfolgt breitgefächert und lässt allein über den verwandten Terminus keine klare inhaltliche Deutungshoheit zu“ (Ahlers et al. 2017, S. 4), was unisono für den Begriff Nachhaltigkeit gilt.

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2.2

F. Ahlers und K. Butzer-Strothmann

Nachhaltige Unternehmensführung

Das Themenfeld Nachhaltigkeit wird – nicht zuletzt aufgrund seiner Popularität – von partiell unterschiedlichen Ansätzen und damit von unterschiedlich weitgehenden ­Auffassungen und Interpretationen geprägt (Dillerup und Stoi 2016, S. 80). Das Thema Nachhaltigkeit mit den verwandten Themenbereichen wie Corporate Social Responsibilty, Un­ter­neh­mens­ ethik, Unternehmen und Gesellschaft etc. spannt sich mittlerweile inhaltlich-­konzeptionell derart breit auf, dass sogar von „konzeptioneller Anarchie“ gesprochen wird (Matten et al. 2012, S. 3). Zumindest kann dies als Herausforderung verstanden werden, bei Beiträgen das jeweilige Grundverständnis von Nachhaltigkeit offenzulegen, um als Maßstab und Orientierungspunkt für die jeweiligen Ausführungen zu gelten. Nachhaltigkeit im engeren Sinne in Anlehnung an die konzeptbezogenen Wurzeln wird als Substanzerhaltung bzw. Erhaltung der Ressourcenbasis verstanden (Müller-Christ und Giesenbauer 2019, S. 231). Die akzentuierte Ressourcenerhaltung ist gerade im Interesse der zukünftigen Generationen. Entsprechend zielt Nachhaltigkeit auf Generationengerechtigkeit auch im Ressourcenkontext ab (Brühl 2018, S. 36). Entscheidungen im gesellschaftlichen, betrieblichen bis zum individuellen Rahmen sind daher vor dem Hintergrund zu treffen, ob sie auch im Lichte nachfolgender Generationen zu vertreten sind. „Allgemein versteht man unter sozialer Nachhaltigkeit, das in der Gegenwart nur Veränderungen an der Welt vorgenommen werden, die von zukünftigen Generationen gewollt sein könnten“ (Krämer 2018, S. 73). Dieser Argumentationskette folgend sind Schülerproteste in Richtung mehr Klimaschutz, wie sie im Jahre 2019 stattgefunden haben, durchaus inhaltlich legitimierbar. Der Begriff Nachhaltigkeit geht im Gegensatz zu eher eng gefassten Konzepten über die Verantwortung auf Unternehmensebene explizit hinaus. Es „… wird zusätzlich zu einer verantwortungsvollen unternehmerischen Tätigkeit eine Verantwortung gegenüber der gesamten Menschheit und der nachfolgenden Generationen einbezogen“ (Bernatzky 2016, S. 17), im weiteren Sinne auch über die Menschheit hinaus für alle lebenden und existenziellen Gebilde. Deswegen ist auch der Begriff nachhaltige Unternehmensführung nur objektbedingt auf Unternehmen beschränkt und rankt auf vielfältige Weise in ökonomische, ökologische und soziale Fragestellungen auf gesellschaftlicher und globaler Ebene hinein. Mit diesen drei Ebenen werden auch zugleich die drei zentralen Elemente des ursprünglichen Nachhaltigkeitsansatzes beschrieben. Denn als Kern des Nachhaltigkeitskonzeptes gilt die Triade Ökonomie-Ökologie-Soziales, die ursprünglich in Form einer Abbildung von drei neben einander stehenden Säulen („Drei-Säulen-Modell“) mit dem Dach der Nachhaltigkeit transparent gemacht wurde. Aufgrund der engen Verwobenheit der drei konstitutiven Elemente ist heute die Darstellung als Dreiklangmodell gängiger (Baumast 2019, S. 19), was dem integrativen Gedanken auch mehr entspricht. Denn „… erst die Integration ökologischer, sozialer und ökonomischer Ziele führt zu einer nachhaltigen Entwicklung“ (Dillerup und Stoi 2016, S. 82). Eine nachhaltige Unternehmensführung ist nicht nur wegen des Generationenaspektes per se zukunftszugewandt. Entsprechend setzt sie ein proaktives Management voraus

Integrierte Unternehmensführung und Nachhaltige Unternehmensführung …

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(Englert 2019, S. 8). Proaktiv in dem Sinne, dass explizit gegenwärtige und speziell zukünftige Herausforderungen zum Gegenstand akuter betrieblicher Entscheidungen gemacht werden, z. B. hinsichtlich einer umweltschonenden Produktionsweise. Proaktiv im besten Sinne dann, wenn frühzeitig als Unternehmen auf sich abzeichnende schwache Signale mit Nachhaltigkeitsbezug eine Antwort gefunden wird, wobei hier das betriebliche Innovationsmanagement besonders mit nachhaltigkeitsaffinen Ideen gefordert ist. Insgesamt betrachtet ist damit die ursprünglich mit der Idee der Nachhaltigkeit verbundene Vorstellung der Ressourcenschonung und verantwortlichen Ressourcennutzung nichts Neues an sich. Nur die Effekte einer Wohlstandsgesellschaft wie unserer, u. a. mit der Befriedigung z. T. hinterfragbarer bzw. sogar ausufernder Kundenwünsche, den Unternehmen als Marktplayer nachkommen (wollen), rückt die Nachhaltigkeit wieder in ein neues Licht als ein dann mehr oder weniger existenzielles Problem, was es in dieser Dimension in den Vordekaden nicht war bzw. als solches nicht wahrgenommen wurde, denkt man z. B. an die Klima- und Umweltbelastung. Entsprechend hat das Thema auch in Form einer nachhaltigen Unternehmensführung an Virulenz gewonnen.

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 ynergetisches Potenzial der Zusammenführung S der Konzepte

„Eine Integration der einzelnen Dimensionen des Managements bedarf einer paradigmatisch geprägten Leitidee“ (Bleicher und Abegglen 2017, S. 149) – die Nachhaltigkeit hat das entsprechende Potenzial für diese Leitidee und rückt damit in die Nähe einer zukunftsfähigen Unternehmensphilosophie. Diese „… beinhaltet Vorstellungen über eine zukünftige Positionierung der Unternehmung in Wirtschaft und Gesellschaft durch die Bereitstellung eines Nutzens für wesentliche Bezugsgruppen …“ (Bleicher und Abegglen 2017, S. 150), was inhaltlich sehr treffend auch durch eine nachhaltige Unternehmensführung abgedeckt werden kann. Nachhaltigkeit selbst könnte auch die Rolle als integrierendes normatives Element in Unternehmen übernehmen: „So kann die gemeinsame Fokussierung auf das Thema der Nachhaltigkeit integrierend für die Gesamtorganisation wirken …“ (Fischer et al. 2019, S. 57). Integrationskonzepte, z. B. St. Galler Prägung, haben inhaltlich einen Orientierungsund weniger einen Determinierungscharakter (Eggers et al. 2011, S. 215). Entsprechend sind sie „offen“ für konzeptverträgliche Ideen. Die Integrierte Unternehmensführung bildet insofern „… eine gute Ausgangsbasis, als „Leerstellengerüst für Sinnvolles“ oder als spezielle „Heuristik“ neue Entwicklungen in der Unternehmungsführung zu antizipieren und zu integrieren“ (Eggers et al. 2011, S. 213). Die „Aufnahmefähigkeit“ des integrierten Ansatzes für nachhaltige Überlegungen ist damit grundsätzlich gegeben. Auch die inhaltliche „Befüllung“ des „Leerstellengerüstes“ eines integrierten Managements durch Bleicher mit der durchscheinenden Präferenzerkennung für z. B. organisatorische Flexibilität und Dezentralität sowie einer humanistischen Managementphilosophie lassen enge Parallelen zu einer nachhaltigen Unternehmensführung erkennen, wenn auch

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F. Ahlers und K. Butzer-Strothmann

in der 8. und 9. Auflage des Standardwerkes im Stichwortverzeichnis „Nachhaltigkeit“ nicht aufzufinden ist. Besonders deutlich wird die Verknüpfung der beiden Ansätze aus dem Nachhaltigkeitsblickwinkel an folgender Aussage von Pufé (2017, S. 100) mit Blick auf die Verwobenheit der konstitutiven Kernbereiche Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft: „Denn Kern des Nachhaltigkeitsgedankens ist, das integrative Wahrnehmen und Denken von Ganzheitlichkeit, Integrativität und Wechselwirkungen zu schulen.“ Genau hier setzt die integrative Managementmethodik mit dem damit in Verbindung stehen Ansatz eines ganzheitlichen Denkens und Handelns an. Die prinzipielle Anschlussfähigkeit beider Ansätze lässt sich auch aus der Komplexität des Phänomens Nachhaltigkeit ableiten. Denn unternehmerische Verantwortung und im weiteren Sinne Nachhaltigkeit wird als kompliziertes und vielschichtiges Phänomen angesehen (Küpper 2014, S. 39). In Verbindung mit der Erkenntnis, wo Komplexität herrscht, hat integratives Gedankengut seine Berechtigung (nach Eggers 2006, S. 79), wird das Anwendungspotenzial des integrierten Managementansatzes deutlich. Eine Zusammenführung der Integrations- und Nachhaltigkeitsideen ist aspektorientiert zumindest von der Titulierung her schon erfolgt, z. B. auf dem Feld der Nachhaltigkeitsberichterstattung mit dem „Integrated Reporting Ansatz“ (dazu z.  B.  Krause 2016, S. 49 ff.), wo finanzielle Aspekte mit umweltbezogenen und sozialen Informationen kombiniert werden (Dillerup und Stoi 2016, S. 86). Auch unter Managementprozessgesichtspunkten gibt es eine solche Zusammenführung, z. B. in Form eines integrierten Nachhaltigkeitscontrollings (Hilbert 2019, S. 541 ff.). Allerdings ist die Zusammenführung beider Konzepte nicht so problemlos möglich, wie optimistische Aussagen z. B. mit Bezug auf CSR es vermuten lassen, wonach „… die Integration von CSR-Aspekten in ein bestehendes Managementsystem und seine darin enthaltenen Prozesse problemlos möglich“ (Lorentschitsch und Walker 2012, S. 305) ist. Gerade der Terminus „bestehendes“ sollte hier mit Blick auf „problemlos“ aufhorchen lassen. Werte- und Kulturveränderungen, wie sie eine nachhaltige Unternehmensführung implizieren, sind oft eben nicht „problemlos möglich“, sondern Gegenstand durchaus konfliktärer Wandlungsprozesse. Der Weg zu einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung kann insofern je nach betrieblicher Ausgangslage auch recht „steinig“ und auf keinen Fall ein reiner „Selbstläufer“ sein.

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 rundlegende Konzeptkonturen einer integrierten G nachhaltigen Unternehmensführung

Die dem St. Galler Managementansatz zugrunde liegende Triade normativ – strategisch – operativ könnte auch die Konzeptkonturen einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung abbilden. Der normative betriebliche Grundfundus mit nachhaltigkeitsgeprägten Unternehmensgrundsätzen und -werten bildet „… den Überbau, welcher die unterschiedlichen Aktivitäten zum Nachhaltigkeitsmanagement überspannt“ (Orth 2016, S.  31).

Integrierte Unternehmensführung und Nachhaltige Unternehmensführung …

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Nachhaltigkeit ist dabei explizit als übergeordnete Funktion im Unternehmensmanagement zu verorten und nicht als nachgelagerter, subsidiärer Teilbereich des Managements (Baumast 2019, S. 23). Operativ stellt sich die Aufgabe der Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in bestehende Managementsysteme und konkrete Aktivitätsabfolgen, z. B. im Rahmen des Qualitätsmanagements (Orth 2016, S. 31). Eine umfassende Integration liegt dann vor, wenn nachhaltiges Handeln sich in der gesamten Wertschöpfungskette widerspiegelt (Englert 2019, S. 10). Ein Maßstab für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung ist, wenn es keine gesonderte, sondern eine voll in die Unternehmensstrategie integrierte Nachhaltigkeitsstrategie gibt (Fiedler 2019, S. 369 mit Bezug auf das Unternehmen VAUDE). Nachhaltigkeit läuft damit nicht Gefahr, ein abgehobener und gesonderter Bereich im Unternehmen zu sein und zu verbleiben, sondern sie kann in den Bereichen selbst aufgenommen und im Strategiekontext weiterentwickelt werden. Dazu muss die Nachhaltigkeit in die obere, wenn nicht oberste Stelle des Zielsystems von Unternehmen einfließen. Kaskadenbezogen herunterdekliniert kann das Nachhaltigkeitsziel dann in die funktionalen Subsysteme integriert werden, z. B. eine ressourcenschonende Produktpolitik mit entsprechenden Implikationen für Produktinnovationen. Ein substanzielles Konzept einer nachhaltigen integrierten Unternehmensführung lässt sich systematisch beispielhaft am Managementkubus von Steinle als Kristallisationspunkt seines Ansatzes einer integrierten Unternehmensführung ableiten (dazu Steinle 2005, S. 26 ff.; kompakt bei Ahlers et al. 2011, S. 5 ff.). Kern des Ansatzes ist das „Trikompositum“ aus Funktionsbereichen, Managementprozessen und Ebenen, ergänzt um den unternehmenspolitischen „Erker“ mit normativen Akzentsetzungen, dem Personal in seiner besonderen funktionsbereichsübergreifenden Rolle und der Umwelt als „umhüllende Schale“ mit den damit verbundenen Chancen- und Risikopotenzialen für das Unternehmen (siehe dazu auch die Abbildung „Der detaillierte Managementkubus“ bei Steinle 2005, S. 37). Diese Grundstruktur als Basis nehmend ergeben sich folgende Implikationen für die Ausprägung eines Konzeptes einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung: Von der Umwelt, hier der Gesellschaft, Politik und organisierten sowie unorganisierten Inte­ ressengruppen gehen Anforderungen und Impulse in Richtung einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise aus, die dann idealerweise Eingang in die Unternehmenspolitik (inklusive Unternehmensphilosophie, -leitbild und -kultur) und damit das normative Verständnis der einzelnen Betriebseinheit finden. Auch der St. Galler Triade normativ – strategisch – operativ entsprechend fließen dann die nachhaltigen Unternehmensleitsätze in die dann auch nachhaltigen Unternehmensstrategien ein, um sie handlungsleitend zu stellen. Diese und die vorgelagerten normativen Leitsätze sind wiederum die Orientierungsgrößen für die Managementprozesse von der Planung bis Änderung/Wandel, die den konkreten Führungsbezug mit Bezug zur Nachhaltigkeit symbolisieren. Diese Steuerungsmechanismen greifen in jedem Funktionsbereich von der Beschaffung über die Produktion bis zum ­Absatz, bezogen auf Nachhaltigkeit z. B. eine umweltfreundliche Güterproduktion. Das Ebenen-­Differenzierungsmerkmal reicht intrasystemisch von der Unternehmung über die Abteilung und Gruppe bis zum Individuum und ist z. B. eng mit der Funktionsperspektive

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verknüpft. Diese Mehr-Ebenen-Analyse ermöglicht bezogen auf Nachhaltigkeit den notwendigen intensiven Durchdringungsgrad von der Unternehmens- bis zur Individualebene. Die besondere Rolle des Personals als Träger des Unternehmensgeschehens kann bezogen auf Nachhaltigkeit als Aufforderung verstanden werden, das „Können“ und „Wollen“ der Unternehmensmitglieder in Richtung Nachhaltigkeit durch z.  B. entsprechende Schulungen zu adressieren. Insgesamt zeigt das systematische „Durchdeklinieren“ der Elemente des ganzheitlich-­ integrierten Managementansatzes von Steinle, dass er aufnahmefähig für Nachhaltigkeitsgedanken ist. Im Prinzip gilt dies sicherlich auch für den integrierten Managementansatz von Bleicher mit der Kerntriade normatives, strategisches und operatives Management. Wichtig ist dabei, die Vernetzung der einzelnen nachhaltigkeitsgeprägten Systemelemente und deren Stimmigkeit untereinander zu betrachten, was gerade eine integrierte Sichtweise ausmacht. Den Terminus „Stimmigkeit“ aufnehmend ist das Ziel eine „integrative Orchestrierung“ (Steinle et al. 2008, S. 84) der einzelnen Elemente des integrativen Managementansatzes mit Blick auf Nachhaltigkeit zu erlangen, „… um – in der Orchestersprache zu bleiben – ein ‚gesamthaftes klangvolles Hörerlebnis‘ durch das Zusammenspiel der einzelnen Instrumente zu generieren“ (Ahlers et al. 2011, S. 7). Ein solcher Auftritt eines Unternehmens als nachhaltiges Gesamt- und Subsystemkonstrukt, wo die Teilsysteme synergetisch untereinander vernetzt sind, stellt sehr hohe Anforderungen an die Unternehmensführung. Im Gegensatz aber zur angeführten „Orchester“-Vorstellung, wo ein „Misston“ das Klangerlebnis erheblich beeinträchtigen kann, ist für Unternehmen ein schrittweises Verwirklichen einer nachhaltigen Unternehmensführung durchaus respektabel. Dies gerade auch mit Blick auf die damit verbundenen kulturellen Veränderungen, die sich authentisch nicht von heute auf morgen einstellen werden.

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Fazit

Die Notwendigkeit einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung erscheint anhand der aktuellen Diskussionen z. B. um den Klimaschutz in hohem Maße ersichtlich. Der Begriff „integriert“ steht dabei für einen hohen Durchdringungsgrad aller Subsysteme des Unternehmens mit dem Nachhaltigkeitsgedanken. Um eine konzeptionelle Grundlage dafür zu erstellen, bietet sich eine synergetische Zusammenführung der beiden ursprünglich für sich entwickelten Ansätze der „integrierten Unternehmensführung“ und „nachhaltigen Unternehmensführung“ an. Eine solche Zusammenführung birgt aus unterschiedlichen Sichtweisen ein hohes Potenzial: Zum einen passen die beiden Ansätze deshalb auch gut zueinander, weil sich das integrierte Management als Methodik in Form eines „Leerstellengerüst(es) für Sinnvolles und Ganzheitliches“ (Bleicher 2011, S. 87) versteht, wobei das „Sinnvolle“ hier durch die Nachhaltigkeit repräsentiert werden kann. Zum anderen kristallisiert sich als die zentrale Forderung der Nachhaltigkeitskonzepte heraus, dass der Nachhaltigkeitsgedanke substanziell in das normative, strategische und operative Werte- und Handlungsgerüst von Unternehmen integriert wird, damit diese Überlegungen greifen. Die Integration ist quasi der „Lackmustest“ für die Umsetzung von Nachhaltigkeit. Allerdings

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dürfen die vielfältigen Herausforderungen nicht unterschätzt werden, die damit verbunden sind. „Wobei der Terminus ‚Herausforderung‘ hier für das hohe Anspruchsniveau steht, ganzheitliches Denken und speziell Handeln (hier bezogen auf Nachhaltigkeit, Anm. der Verfasser) von der Postulats- in die Realitätsebene zu überführen“ (Ahlers und Gülke 2017, S. 13). Trotz der damit verbundenen Herausforderungen ist zu konstatieren, dass „… ‚Nachhaltigkeit‘ erst in der integralen Entwicklungsstufe von Unternehmen in einem umfassenden Sinne handlungsleitend werden kann“ (Müller-Christ und Giesenbauer 2019, S. 231).

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Prof. Dr. Friedel Ahlers  ist seit 2011 Professor für ABWL mit Schwerpunkten Unternehmensführung und Personalwirtschaft an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover. Zuvor war er Dozent an der Leibniz-Akademie, davor einige Jahre Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Die Jahre zuvor arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Leibniz Universität Hannover (Institut für Unternehmensführung und Organisation). Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 1993. Das wirtschaftswissenschaftliche Studium wurde in Hamburg und Oldenburg absolviert.

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Prof. Dr. Kristin Butzer-­Strothmann  Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing und Empirische Sozialforschung an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover seit 2011. Zuvor war sie ab 2009 Dozentin an der Leibniz-Akademie und bis 2018 Vizepräsidentin für Lehre und Forschung. Sie leitet den Masterstudiengang „Integrierte Unternehmensführung (digital/nachhaltig)“. Nach einer Lehre zur Werbekauffrau und dem Studium der BWL in Lüneburg promovierte sie zum Thema „Krisen in Geschäftsbeziehungen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 1998 bis 2009 arbeitete sie als Marktforscherin und Marketing-Consultant im Business- und Non-Business-Bereich. Darüber hinaus war sie für verschiedene Hochschulen und Bildungsinstitutionen als externe Dozentin für Marketing, Marktforschung sowie Industriebetriebslehre tätig.

Teil II Werteorientierte Grundlagen und Perspektiven

Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit in unternehmerische Entscheidungen Georg Müller-Christ

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Was genau ist Integration von Nachhaltigkeit?

Integration ist ein Hoffnungsbegriff in der heutigen Zeit und der logische Gegenbegriff zu Differenzierung. Entwicklung findet statt, wenn sich aus einer Einheit heraus viele Unterschiede neue entwickeln (sich herausdifferenzieren). Unsere Welt füllt sich mit Unterschieden (Differenzen ist eher negativ belegt) und zwar in fast allen Kontexten. Am einfachsten ist die Welt der Unterscheidungen im Konsumbereich nachzuvollziehen: Ständig kommen neue Varianten eines Produktes auf den Markt, weil die Unternehmen immer wieder neu um die Wahrnehmung der Kunden ringen. Wahrnehmen heißt, Unterschiede zu erkennen und die Wahrnehmung wird durch Werbung auf immer wieder andere Unterschiede in den Produkten gelenkt, um Kaufverhalten auszulösen. Aber auch in der Welt der Organisationsformen nehmen die Unterschiede zu und der Raum zwischen For-Profitund Non-Profit-Organisationen füllt sich mit immer neuen Erscheinungsformen. Auch die Vielfalt in den Biografien der Menschen nehmen zu, weil es Menschen immer bewusster wird, dass sie eine sehr widersprüchliche Aufgabe lösen müssen: Um dazuzugehören, müssen sie sich konform verhalten (Unterschiede vermeiden), um wahrgenommen zu werden, müssen sie sich unterscheiden. Ständig neue Unterscheidungen entwickeln die Welt und halten sie für uns Menschen interessant. Eine Welt voller Unterscheidungen ist aber auch eine unübersichtliche Welt und eine Welt, in der sich starke Varianten durchsetzen. Ab einem gewissen Maß an Unterscheidungen setzt das Bedürfnis der Menschen nach Integration ein: ursprünglich Verbundenes, das sich ausdifferenziert hat, wieder zu verbinden und in eine neue Einheit zu führen oder ein größeres Ganzes einzufügen. Die Herausforderung liegt darin, dass der spätere, ausdiffeG. Müller-Christ (*) Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_3

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renziertere Zustand im Vergleich zu dem früheren ein Mehr an Systematik, Zusammenfassung und synthetischer Leistung beinhalten muss. Jeder Differenzierungsgewinn muss begleitet sein von einer neuartigen Verbindung mit dem Ganzen. Dafür muss das Spätere das Frühere umfassen und transzendieren, um nicht die Verbindung zu verlieren. Gelingt diese Integrationsleistung nicht, kommt es zu einer Dissoziation, einer Abspaltung. Jede Abspaltung ist ein Verlust an Abstimmungsmöglichkeit und in einer komplexen Welt damit eine Regression von Qualitäten (Brunnhuber 2016). Im Kontext von Nachhaltigkeit wird zumeist davon gesprochen, dass die Unterscheidungen zwischen der ökonomischen, der ökologischen und sozialen Dimension wieder zu einer neuen Einheit zusammengeführt werden muss. Manche fügen auch noch weitere Dimensionen wie die kulturelle hinzu. Warum haben sich diese Dimensionen aber ausdifferenziert? Waren sie überhaupt je eine Einheit? Oder war es von Anfang eine Dissoziation, eine Abtrennung der ökologischen und sozialen Dimension von der ökonomischen, die kaum noch rückgängig zu machen ist? Auf jeden Fall zeugen die vielen Dreiecksdarstellungen die heute für Nachhaltigkeit angeboten werden, von einem tiefen Bedürfnis nach Gleichwertigkeit und auch Ästhetik in der Integrationsleistung. Ich möchte diese Überlegungen, die tief in die Historie des wirtschaftlichen Verhaltens von Menschen gehen, an dieser Stelle nicht philosophisch (was auch sehr interessant wäre), sondern pragmatisch handhaben. Wenn die drei Nachhaltigkeitsdimensionen einmal eine Einheit gewesen wären, dann hätte es eine Wirtschaftsform gegeben, in der die materiellen Bedürfnisse der Menschen allein mit regenerierbaren Rohstoffen und Energiequellen befriedigt und zugleich keine negativen Nebenwirkungen auf die Menschen und die Natur erzeugt worden wären. Dieser Zustand bedeutet im Übrigen nicht, dass diese Einheit zugleich zu einer humanen Gesellschaft geführt hätte. Es bedeutet nur, dass die Art der materiellen Bedürfnisbefriedigung zufällig oder bewusst auf die ökologische Tragfähigkeit der Natur und die soziale Belastbarkeit von Gesellschaft abgestimmt war. Warum hat sich diese (fiktive) Einheit ausdifferenziert und zu den Problemen geführt, die wir heute als Nachhaltigkeitsprobleme diskutieren? Vermutlich war es die Erfahrung der Menschen, dass eben nicht alle Bedürfnisse der Menschen mit regenerativen Energien und Rohstoffen befriedigt werden konnten. Zuerst wurde die körperliche Kraft der Menschen für den (landwirtschaftlichen) Produktionsprozess mit Zwang ausgebeutet (Sklaverei in allen Formen), dann, mit der Zunahme des technischen Wissens, wurde die Natur schneller ausgebeutet, als sie sich regenerieren konnte. Vermutlich stand der Berghauptmann Carl von Carlowitz vor über 300 Jahren in einem Wald, als ihm die Herausforderung wieder bewusst wurde, die schon Aristoteles (1958) in ähnlicher Form mit seiner Oikonomia umschrieben hat: Schlage nicht mehr Holz im Wald, als nachwachsen kann, wenn du den Wald nachhaltig (dauerhaft) nutzen willst (Grober 2013). Holz war der Rohstoff für die neu aufkommenden Minen, Holz war der Rohstoff für alle Bauten und Holz war der Energieträger zum Heizen. Es wurde mehr Holz verbraucht, als in den Wäldern neu entstand, und die aufkommende Knappheit führte zu noch mehr sozialen Ungerechtigkeiten, weil arme Menschen sich kein Holz mehr leisten konnten. Hätten die Menschen nicht ungefähr zu gleicher Zeit gelernt, Kohle zu erschließen und damit eine neue und scheinbar

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unermessliche Energiequelle verfügbar gemacht zu haben, hätte es vermutlich erhebliche soziale Verwerfungen und Kriege um den langsam wachsenden Rohstoff Holz gegeben. Damit hat sich eine Unterscheidung im Bewusstsein der Menschen etabliert, die wir heute wieder integrieren wollen. Diese Unterscheidung ist die Zweck-Mittel-Logik oder die Zweckrationalität als grundlegende Unterscheidung der Betriebswirtschaftslehre (Myrdal 1958): Menschliche Bedürfnisse zu befriedigen und damit Geld zu verdienen, ist der ökonomische Zweck, Rohstoffe, Energie und funktionierende Ökosysteme sind die ökologischen Mittel, die Menschen als Arbeitskräfte die sozialen Mittel. Eine Re-Integration von ökonomischen Zwecken mit den ökologischen und sozialen Mitteln ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Was als Integrationsaufgabe zwischen Zwecken und Mitteln hier sehr abstrakt skizziert wurde, möchte ich im Weiteren etwas konkreter (aber immer noch relativ abstrakt) als systemisches Spiel von Entscheidungsprämissen erzählen, die eine neue Beziehung zueinander brauchen.

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Nachhaltigkeit und Ethik als neue Entscheidungsprämissen

In der politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Debatte werden Nachhaltigkeit und Ethik zumeist als ähnliche, wenn nicht identische Prinzipien oder Prämissen behandelt. Das passiert häufig in der Form, dass Nachhaltigkeit als normatives Postulat umschrieben wird, womit letztlich ein ethischer Anspruch erhoben wird: Eine nachhaltigere Welt ist zugleich auch eine ethischere Welt. Für das praktische Handeln und das heißt hier für das konkrete Entscheiden in Unternehmen macht es sehr wohl einen Unterschied, ob Nachhaltigkeit oder Ethik als Prämisse verwendet wird. Ich kann dies hier nur ganz kurz umreißen und darf für ausführlichere Überlegungen auf die Literatur verweisen (Müller-­ Christ und Arndt 2011).

2.1

Nachhaltigkeit: Das Ressourcenproblem der Welt

Ich davon aus, dass sich das Wesen oder der Kern des Nachhaltigkeitsverständnisses als eine Herausforderung klar umreißen lässt, die zwar nicht neu, aber unter den heutigen Bedingungen neuartig ist. Ich schließe an die oben zitierte Erkenntnis von Carlowitz an und gehe davon aus, dass heutzutage viele materielle und immaterielle Ressourcen der Welt absolut knapp sind. Damit wir Menschen dauerhaft unsere Bedürfnisse befriedigen können, dürfen wir nicht mehr verbrauchen, als die Erde und die Gesellschaftssysteme an materiellen und immateriellen Ressourcen produzieren können. Die ökologische Tragfähigkeit der Erde ist dabei genauso eine Ressource wie die soziale Belastbarkeit der Gesellschaft wie auch die ökonomische Entwicklungsfähigkeit der Wirtschaft. Aus dieser Ressourcenperspektive lebt eine Gesellschaft dann nachhaltig, wenn alle ressourcen­ verbrauchenden Systeme sich haushaltsökonomisch verhalten: Sie erhalten die Substanz,

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aus der heraus sie wirtschaften, oder – anders ausgedrückt – sie pflegen die Ressourcenquellen, von denen sie leben und verbrauchen nicht mehr, als nachkommt (ausführlich dazu Müller-Christ 2020). Im Übrigen ist dies auch die Essenz des englischen Begriffs Sustainable Development; eine erhaltende Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Substanz erhält und sich mit dem Vorhandenen beständig qualitativ weiterentwickelt. Mit Öko-Effizienz, mithin mit einem immer sparsameren Einsatz von Ressourcen pro Produkt- und Nutzeneinheit, lässt sich diese Entwicklung nicht erreichen. Denn Öko-Effizienz verlangsamt nur den Anstieg des Ressourcenverbrauchs und führt nicht dazu, dass auch nur eine Einheit Ressource regeneriert wird. Gleichwohl reduziert ein sparsamer Einsatz von Ressourcen deren Reproduktionsnotwendigkeit, sodass Öko-Effizienz eine wichtige Bedeutung hat. Ich verstehe Nachhaltigkeit im engeren Sinne als Substanzerhaltung oder die Erhaltung der Ressourcenbasis. Mit anderen haushälterischen Worten: Verbrauche nicht mehr Ressourcen als im überschauten Zeitraum sich regenerieren können und pflege die Ressourcenquellen, um deren Produktivität zu erhalten.

2.2

 thik: Über den Umgang mit den Nebenwirkungen des E erwerbswirtschaftlichen Handelns

In vielen Diskussionen wird Nachhaltigkeit mit Verantwortung gleichgesetzt und Corporate Social Responsibility (CSR) wird als Begriff wahrscheinlich häufiger als Nachhaltiges Management verwendet. Der Verantwortungsbegriff verweist deutlich auf das zu lösende Problem: Alle wirtschaftenden Einheiten sollen auf die Haupt- und Nebenwirkungen ihres Handelns angemessen antworten. In einer vollen Gesellschaft, in der sehr viele In­ stitutionen und Unternehmen ihre Zwecke (ihre beabsichtigten Hauptwirkungen) erreichen wollen, potenzieren sich die Nebenwirkungen auf Mensch und Natur. Menschliche Gesundheit und Klimaschutz sind in diesem Kontext die großen Themen. Schwieriger, aber ähnlich gravierend, ist die Problematik der unbeabsichtigten Umverteilung von Kapital und Vermögen. Die jetzige Logik der erwerbswirtschaftlichen Wirtschaftsweise führt dazu, dass große Kapitalbestände überproportional auf Kosten kleiner Bestände wachsen und damit immer weniger Menschen übermäßig reich werden. Die Lösung des Verantwortungsproblems liegt vielfach in einer veränderten moralischen Haltung, in der Menschen und Institutionen bereit sind, die Nebenwirkungen ihres Handelns zu reparieren oder auszugleichen – bis hin zu der Haltung, auf Hauptwirkungen zu verzichten, die nicht ohne erhebliche Nebenwirkungen zu erzielen wären. Während es in der Ressourcenperspektive um einen rationalen, substanzerhaltenden Umgang mit materiellen und immateriellen Ressourcen geht, geht es in der Nebenwirkungsperspektive um einen normativen Ansatz: Menschen auf allen Ebenen von Gesellschaft müssen sich Normen dafür setzen, welche Haupt- und welche Nebenwirkungen sie mit ihren Handlungen akzeptieren möchten. Diese Aufgabe ist nicht neu und war auch schon vor der Einführung des Nachhaltigkeitsbegriffs hoch relevant. An sich ist es das

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Hauptthema der Gesellschaftsentwicklung: Wie schaffen wir es, eine lebenswerte Gesellschaft zu gestalten, in der nicht Einzelne ihre Hauptwirkungen (Geld, Macht, Zugänge) auf Kosten von Nebenwirkungen auf andere erzielen können? In einer modernen Indus­ triegesellschaft mit ihrer Tendenz, Kapital, Arbeit und gesunde Lebensverhältnisse ungerecht zu verteilen, sind die Abarbeitung der Nebenfolgen auf Mensch, Gesellschaft und Natur der Normalfall geworden (Beck 1988). Die Themen, die heute unter Corporate Social Responsibility  – oder offener  – unter Verantwortung diskutiert werden, sind genau diese Nebenwirkungen einer intensivierten erwerbswirtschaftlichen Logik. Durch diese normative Debatte über Verteilung werden aber die Ressourcenthemen einer Nachhaltigkeitsrationalität stärker in den Hintergrund gestellt. Dieser Teil der Nachhaltigkeitsdebatte ist für mich eine ethische Diskussion. Im Hintergrund steht die Frage, was ein sittlich gutes Verhalten ist und wie Gesellschaft aushandelt, wer welche Nebenwirkungen anderer tragen muss. Die Diskursethik sieht ihren Erfolgsbegriff in einem herrschaftsfreien Aushandlungsprozess, an dessen Ende die Stakeholder, die eine Nebenwirkung tragen müssen, dieser Belastung zustimmen. Damit sind Nachhaltigkeit und Ethik zwei unterschiedliche Entscheidungsprämissen. Eine Entscheidung unter der Prämisse der Nachhaltigkeit getroffen ist auf die Regeneration der Ressourcen und die Erhaltung der Ressourcenbasis ausgelegt; eine Entscheidung unter der Prämisse der Ethik getroffen ist auf die Vermeidung von Nebenwirkungen und die sittlich gute Aushandlung von Trade-offs gerichtet. Das gesamte Prämissensystem der unternehmerischen Entscheidungen erkläre ich im folgenden Kapitel.

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 as System der Entscheidungsprämissen D eines Unternehmens

Die Betriebswirtschaftslehre versteht sich schon lange als eine entscheidungsorientierte Wissenschaft. Die präskriptive und die deskriptive Entscheidungstheorie haben ihren festen Platz im Denkgebäude der BWL. Seltener werden die Entscheidungsprämissen thematisiert, den Unternehmen gerecht werden wollen. Unter Entscheidungsprämissen werden dabei die Kriterien und Handlungsrationalitäten verstanden, denen ein Entscheidungs­ prozess gerecht werden muss (Luhmann 2000). In der Abb.  1 ist dargestellt, dass die Abb. 1  Die Positionierung der Entscheidungsprämissen im Entscheidungsprozess. (Quelle: eigene Abbildung)

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­ ntscheidungsprämissen dem eigentlichen Entscheidungsprozess übergeordnet sind. Dies E bedeutet letztlich, dass Führungskräfte in Unternehmen mit jeder Entscheidung implizit oder explizit zuerst darüber entscheiden, welchen Prämissen diese Entscheidung gerecht werden soll. Diese Unterscheidung zwischen Entscheidungsprämissen und Entscheidungsprozess ist vielen Praktiker/innen nicht bewusst. Tatsächlich ist zu vermuten, dass viele Entscheidungsprozesse in Unternehmen deshalb inhaltlich so schwierig und menschlich schwer auszuhalten sind, weil die zuständigen Entscheidungsträger/innen im Prozess je nach Informationsstand unbewusst die Entscheidungsprämissen wechseln und damit Verwirrungen im Entscheidungsteam schaffen. Welches sind nun konkret die Entscheidungsprämissen in Unternehmen? Die Betriebswirtschaftslehre eines Gutenbergs (1967) fügte der fast alleinigen Entscheidungsprämisse der Funktionalität der Produktion die Entscheidungsprämisse der Produktivität und daraus abgeleitet die der Effizienz hinzu. Mit der zunehmenden Komplexität folgte die rechtliche Legalität. Ethik als Entscheidungsprämisse war immer im Hintergrund vorhanden und erlangte durch die Diskussion um eine Wirtschaftsethik mehr Bedeutung. Seit Beginn des Jahrtausends ist Nachhaltigkeit eine weitere Entscheidungsprämisse für betriebliches Handeln, welche häufig in Öko-Effizienz, Verantwortung (CSR) und auch Substanzerhaltung zerlegt wird (Müller-Christ 2020). Mit Blick auf die Entscheidungsprämissen entsteht Komplexität nicht alleine durch eine Ausdifferenzierung der Prämissen, sondern vor allem durch deren unklare, weil nicht sichtbare Beziehungen (Abb. 2). Die gesamte Komplexität liegt zusammengefasst darin, dass jede gute unternehmerische Entscheidung den folgenden Prämissen gerecht werden muss: . Es muss funktionieren (Funktionalität)! 1 2. Es muss sich rechnen (Effizienz)! 3. Es muss legal sein (Gesetzeskonformität)! 4. Es muss moralisch einwandfrei sein (Ethik)! 5. Es muss die Substanz erhalten bleiben (ressourcenorientierte Nachhaltigkeit)! Sicherlich gibt es noch weitere relevante Entscheidungsprämissen, wie Politik (es muss machterhaltend sein!), Ästhetik (es muss schön sein!) und andere mehr. Um das System nicht zu komplex darstellen zu müssen, beschränke ich mich auf diese fünf Prämissen, die meiner Meinung nach die relevantesten im betrieblichen Kontext sind. Tatsächlich kennt die BWL das Thema der multikriteriellen Entscheidungsprozesse mit Zielkonflikten. Gleichwohl scheint es so zu sein, dass die Regeln zur Lösung solcher Entscheidungsprozesse von einem spannungsfreien Nebeneinander der Entscheidungskriterien oder Entscheidungsprämissen ausgehen. Dann müssen diese durch unterschiedliche Verfahren in eine Rangfolge gebracht werden, wobei die Entscheidungsprämissen dann eine absteigende Bedeutung erhalten. Die neue Prämisse der Nachhaltigkeit verdeutlicht indes immer mehr, dass es zwischen den Prämissen Spannungen und Anziehungskräfte gibt, die Entscheidungsprozesse nach herkömmlichen Kriterien sehr komplex machen.

Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit …

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Abb. 2  Dreieck Sozio-Effektivität, Öko-Effektivität und Öko-Effizienz. (Quelle: eigene Darstellung)

Aus systemischer Perspektive lassen sich einige der Beziehungen ganz anders erzählen, dies erfolgt dann im nachfolgenden Kapitel. Die verschiedenen Prämissen betrieblicher Entscheidungen können als Elemente eines Prämissensystems betrachtet werden. Kennzeichnend für den systemischen Blick ist der Fokus auf die Beziehungen zwischen den Elementen, die zumeist sofort als neutral, komplementär (anziehend, sich wechselseitig verstärkend) oder konfliktär (in Spannung zueinander, dilemmatisch) beschrieben werden. Konfliktäre Beziehungen verkomplizieren den Entscheidungsprozess und werden daher gerne vermieden. Dies geschieht zuweilen durchaus auch durch Umdefinitionen. So versuchen weite Teile der Politik und der Wirtschaft, Nachhaltigkeit als eine komplementäre Prämisse zur Effizienz zu definieren, um Spannungen zu vermeiden. (Interessanterweise ist dabei deutlich geworden, dass Effizienz bei weitem nicht immer die leitende Prämisse betrieblichen Handelns ist. Ansonsten hätten wir schon eine ausgeprägtere Ressourcenleichtigkeit von Produktion und Konsum, also mehr Öko-Effizienz, und nicht so viele Klimaagenturen für Energieberatungen in Unternehmen.) Wie aber kann man herausfinden, wie sich die faktische Beziehung zwischen Nachhaltigkeit und Effizienz gestaltet? Systeme lassen sich sehr gut visualisieren, indem die einzelnen Elemente aufgestellt werden. Eine solche Systemaufstellung ist mit Figuren auf Tisch und Boden oder mit

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Menschen als Stellvertreter/innen für die Elemente in einem Raum möglich. In diesem dreidimensionalen Bild müssen sofort mehr Fragen als in einer zweidimensionalen Betrachtung beantwortet werden: In welchem Abstand stehen die Elemente zueinander, was ist ihre Blickrichtung, welche Elemente fühlen sich verbunden, welche erleben eine Spannung zwischen sich, welche sind klar und stark, welche sind diffus und schwach (Müller-­ Christ und Pijetlovic 2018)? In Abb. 3 ist das Prämissensystem in der Form visualisiert, wie ich es für viele Unternehmen unter den heutigen Bedingungen sehe. Vielleicht neigen einige dazu, die Prämissen alle nebeneinanderzustellen, gegebenenfalls sortiert nach ihrem zeitlichen Erscheinen in der Betriebswirtschaftslehre. Schon allein dadurch wird dem Beobachter und der Beobachterin deutlich, dass fünf bis sechs Entscheidungsprämissen nebeneinander die Entscheidungsprozesse sehr komplex machen. Gleichgewichtig können sie nicht berücksichtigt werden, also verlieren sie mit ihrem Abstand zu den Entscheidungsträgern/innen – also dem Unternehmen – an Macht. Fallweises Umsortieren fördert noch einmal die Komplexität, weil in jedem Entscheidungsprozess nach begründeten, aber situativen Kriterien für die Verschiebung der Prämissen gesucht werden müssen. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass es in vielen Unternehmen ein sehr unbewusstes Prämissengerangel in Entscheidungsprozessen gibt (Müller-Christ 2013). Nachhaltiges Management verstehe ich als eine Integrationsleistung der Entscheidungsprämisse der Nachhaltigkeit in das vorherrschende System der Entscheidungsprämissen. Tatsächlich kann die Integrationsleistung nicht allein darin bestehen, Nachhaltigkeit als neues Mitglied des Systems zu erklären. Die Praxis zeigt ja gerade, dass die

Abb. 3  Das System der Entscheidungsprämissen visualisiert durch eine Aufstellung. (Quelle: eigene Darstellung)

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rhetorische Bewältigung von vielen Unternehmen sehr gut bewältigt wird, die ­erkennbaren Nachhaltigkeitsleistungen aber vielfach aus Effizienzgründen unterbleiben. Wenn man nun nicht allein den moralischen Finger heben möchte und den Unternehmen moralisch vorschreiben möchte, Nachhaltigkeit als oberste Entscheidungsprämisse anzusetzen, bleibt die Frage, wie Nachhaltigkeit mehr Bedeutung bekommen könnte. Ich möchte im Weiteren zeigen, dass die systemischen Gesetzmäßigkeiten sehr hilfreich sind, um zu verstehen, warum der Integrationsprozess von Nachhaltigkeit in das betriebliche Prämissensystem so schleppend verläuft und wie er besser laufen könnte. Da die systemischen Gesetze bislang zumeist in Coaching- und Organisationsentwicklungsprozessen angewendet werden und weniger auf abstrakte Entitäten wie Entscheidungsprämissen, rede ich im Weiteren von einer Erzählung. Tatsächlich möchte ich mit dieser Erzählung erreichen, dass bei den Lesern/innen ganz neue Bilder im Kopf darüber entstehen, welche Integrationsleistung Unternehmen wirklich bewältigen müssen.

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I ntegrationsherausforderungen als Erzählung über systemische Gesetzmäßigkeiten

Ich möchte im Weiteren die systemischen Gesetzmäßigkeiten dazu benutzen, die Voraussetzung zur Integration von Nachhaltigkeit in Unternehmen und alle wirtschaftenden Einheiten anders zu erzählen. Was in einem ersten Eindruck vielleicht nach einer Vermenschlichung von abstrakten Prinzipien klingt, ist systemisch gesehen aber kein großer Unterschied zur Situation, in der Menschen in ein System integriert werden. Ich gehe davon aus, dass es aus der Sicht eines Systems keinen großen Unterschied macht, ob es ein neues Element, ein Mensch, ein Prinzip oder eine Entscheidungsprämisse ist. Ich verwende daher die Systemgesetzmäßigkeiten im Weiteren, um die Integration der Entscheidungsprämisse Nachhaltigkeit in das System unternehmerischer Entscheidungsprämissen neu zu erzählen. Die Herkunft der Systemgesetze und weitergehende Erläuterungen sind an anderer Stelle erklärt (Bischop 2010; Varga von Kíbed und Sparrer 2009; Müller-Christ und Pijetlovic 2018). Sie werden hier nur in der Abb. 4 visualisiert und direkt auf ihre Beiträge zur Integration von Nachhaltigkeit angewandt. System- und Naturgesetze klingen leicht wie eine Analogie und legen die Annahme nahe, dass es sich hier um Kausalgesetze handelt, wie die Naturwissenschaften sie aus der Beobachtung und Messung der Natur ableiten. Ähnlich enge Kausalannahmen auf die Wirkungen in sozialen Systemen anzulegen, ist für sozialwissenschaftliche Forschung nicht üblich, sie muss ich häufig mit engen Korrelationen zufriedengeben. Gleichwohl lebt gerade die Betriebswirtschaftslehre von dem Anspruch, effektive Gestaltungsempfehlungen für unternehmerischen Erfolg geben zu können, was verlässliche Kausalbeziehungen zwischen Ursache und Wirkung voraussetzt. Tatsächlich kann die BWL gut mit diesem Dilemma umgehen und auch die Sozialwissenschaften reagieren damit, dass sie von Gesetzmäßigkeiten statt von Gesetzen spricht. Im Begriff der Gesetzmäßigkeiten ist die Relativierung eines engen Kausalverständnisses schon eingebaut, sodass man auch die

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Abb. 4  Auflistung der Systemgesetzmäßigkeiten. (Quelle: Müller-Christ und Pijetlovic 2018, S. 86 ff.)

Systemgesetzmäßigkeit in der Art lesen sollte: Wenn man soziale Systeme beobachtet, dann ist es häufig so, dass man ein Recht auf Zugehörigkeit beobachten kann (Systemgesetzmäßigkeit 1 – SG1). Die Systemgesetzmäßigkeiten, die aus der Beobachtung und dem Selbstausdruck von sozialen Systemen in Organisationsaufstellungen entstanden sind (Varga von Kíbed und Sparrer 2009), versuchen eine Antwort darauf zu geben, wann Menschen ihre bestmöglichen Beiträge für die Zweckerreichung eines Systems leisten. Ich wende in den nachfolgenden Überlegungen diese Perspektive auch auf die Entscheidungsprämissen an und stelle die Frage, wann die Elemente des oben erwähnten Systems von Entscheidungsprämissen ihre bestmöglichen Beiträge zum Unternehmenserfolg leisten können. Natürlich entscheiden sich Menschen, das heißt, sie wenden die Entscheidungsprämissen an, gleichwohl tragen diese Prämissen eine Art Eigenlogik in sich, die unabhängig von den Entscheidungsträgern/innen existiert. Meine Hypothese lautet: Führungskräfte können das Thema Nachhaltigkeit erst dann in das Unternehmen integrieren, wenn sie erfahren haben, wie die neue Prämisse auf die bestehenden Prämissen wirken. Nehmen Sie die nachfolgenden Ausführungen als eine Art systemische Erzählung und achten Sie auf die Bilder,

Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit …

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die in ihrem Kopf entstehen. Sie werden vermutlich zumeist vergangene Situationen in Entscheidungsprozessen sein, die ihnen vielleicht plötzlich nachvollziehbarer werden. Die ersten vier Gesetzmäßigkeiten sind grundlegende Kräfte, die die Wirkungskraft und die -richtung von Beiträgen für das System steuern. Die Gesetzmäßigkeiten 5–9 definieren Vorrangsregeln und die Gesetzmäßigkeiten 10–12 Regeln für die Gesundheit des Systems.

4.1

Recht auf Zugehörigkeit

Die Zugehörigkeit zu einem sozialen System ist für Menschen eine Voraussetzung für das Überleben. In das Familiensystem wird man hineingeboren, in ein Organisationssystem wird man durch einen Arbeitsvertrag oder eine andere Willenserklärung aufgenommen. Auch eine Entscheidungsprämisse braucht eine Willenserklärung der legitimierten Entscheidungsträger/innen, von nun an zum Entscheidungssystem dazuzugehören. Diese Willenserklärung ist der erste Schritt der Integration und löst bei den vorhandenen Prämissen Reaktionen aus, meist vermittelt durch bestimmte Entscheidungsträger/innen, die sich einer der Entscheidungsprämissen zuordnen. Ist die Prämisse der Nachhaltigkeit einmal aufgenommen, hat sie ein Recht auf Zugehörigkeit und muss ihren Platz im System behaupten. Interessant ist es, dass es drei verschiedene Arten von Zugehörigkeiten in sozialen Systemen gibt (Varga von Kíbed und Sparrer 2009): die intensivere Zugehörigkeit, die faktische Zugehörigkeit und die bloße Nichtausgeschlossenheit. Was bedeutet das für die Nachhaltigkeit? • Intensivere Zugehörigkeit: Nachhaltigkeit hat denselben Zugehörigkeitsstatus, wie alle andere Entscheidungsprämissen auch, und steht gleichwertig neben Funktionalität, Effizienz, Legalität und Ethik. Im Falle von schwierigen Entscheidungen passiert es nicht, dass Nachhaltigkeit und Ethik vorschnell als Restriktionen ausgeblendet werden. Die intensivere Zugehörigkeit stellt den Status der vollständigen und belastbaren Integration von Nachhaltigkeit in das betriebliche Entscheidungsprämissensystem dar. • Faktische Zugehörigkeit: Nachhaltigkeit wird, wie die anderen Prämissen auch, als Teil des Entscheidungssystems verstanden, die einzelnen Elemente stehen aber weitgehend unverbunden nebeneinander. Dies äußert sich im betrieblichen Alltag darin, dass die Produktionsabteilung nur über Funktionalität redet, die Controllingabteilung nur über Effizienz, die Complianceabteilung nur über Legalität und die Nachhaltigkeitsabteilung nur über Nachhaltigkeit. Niemand stellt die Zugehörigkeit der anderen Prämissen infrage, welche Prämisse aber die Entscheidung führt, wird durch das interne Machtgefüge bestimmt. Im Modus der faktischen Zugehörigkeit entscheiden die mentalen Karten der Führungskräfte, ob Nachhaltigkeit ins Zentrum des Systems vorrücken darf oder vom Rande aus wirken muss.

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• Bloße Nichtausgeschlossenheit: Nur weil es den Stakeholder wichtig ist, wird Nachhaltigkeit nicht aus dem Entscheidungssystem ausgeschlossen. Die Prämisse ist zwar rhetorisch noch vorhanden, sie hat aber keine Möglichkeiten, betriebliche Entscheidungen mit ihrer Logik zu beeinflussen. Nachhaltigkeit ergeht es in diesem Modus wie Mitarbeitenden, die man aus rechtlichen Gründen nicht entlassen kann und denen man keine Möglichkeit gibt, sinnvolle Beiträge zum Unternehmenserfolg zu leisten. Insbesondere die Definition von Nachhaltigkeit als haushaltsökonomische Rationalität ist eine Begriffsauslegung, die die Aufnahme in das System betrieblicher Entscheidungsprämissen erleichtern soll. Es ist eben ein kluges wirtschaftliches Verhalten, die lebensnotwendigen Ressourcenquellen eines unternehmerischen Systems zu pflegen und ihre Funktionsfähigkeit zu stärken. Wer seine Ressourcenbasis vernichtet, zerstört auch seine eigene Existenz (Müller-Christ 2020). Schon von dieser Logik her hat Nachhaltigkeit ein Recht auf Zugehörigkeit zum System betrieblicher Entscheidungsprämissen.

4.2

Recht auf Anerkennung und Wertschätzung

Für Menschen als Elemente des Systems Unternehmen ist die Korrelation unmittelbar eingängig und fester Bestandteil der verhaltensorientierten Managementlehre: Menschen möchten, dass ihre Beiträge zum Systemerfolg gesehen und gewürdigt werden, damit sie diese konstant wiederholen. Mit dem Bild der inneren Kündigung wird vielfältig die Befindlichkeit der Mitarbeitenden umschrieben, die das System aus materiellen Gründen nicht verlassen, ihre Beiträge aber nicht mehr im vollen Ausmaß leisten. Nicht ausgesprochene Anerkennung und Wertschätzung reduziert die Beitragsbereitschaft der Systemmitglieder. Führungskräfte und Eigentümer/innen können nicht nur für Menschen diese Wertschätzung aussprechen, sie können es auch für Entscheidungsprämissen und zwar für alle. Es gilt eben anzuerkennen, dass Effizienz, dass Funktionalität, dass Legalität genauso wie Nachhaltigkeit und Ethik wertvolle Beiträge zum Unternehmenserfolg leisten und geleistet haben. Echte Anerkennung der Führungskräfte zeigt sich in der inneren Haltung, die aus ihrer Aussage zu lesen ist, und in der Vollständigkeit der Wertschätzung. Geheuchelte Anerkennung wird von den Systemmitgliedern genauso erkannt wie fehlende: Werden immer nur Kosten- und Prozessoptimierung lobend erwähnt, erhalten die anderen Prämissen zu wenig Anerkennung. Ob eine Entscheidungsprämisse die notwendige Anerkennung und Wertschätzung erhält, zeigt sich darin, ob Führungskräfte und Mitarbeitende in Entscheidungsprozesse diese Prämisse erwähnen dürfen und es auch tun. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Vorrangstellung von Funktionalität, Effizienz und Legalität durch die Entscheidungsprämisse infrage gestellt wird.

Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit …

4.3

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Recht auf Gleichgewicht von Geben und Nehmen

Es ist eine der tiefen systemischen Gesetzmäßigkeiten, dass jedes System nach einem Ausgleich von Nehmen und Geben drängt. Während Menschen es sehr genau erspüren können, ob sie für ihr Geben (ihre Beiträge) auch eine entsprechende Gegenleistung nehmen dürfen, klingt dieses Bedürfnis nach Balance für Entscheidungsprämissen vielleicht ungewohnt und allzu menschlich. Gleichwohl können Entscheidungsprämissen überstrapaziert werden, wenn beispielsweise alle Entscheidungen im Unternehmen der Kostenoder der Prozessoptimierung dienen. Häufig sind damit Nebenwirkungen auf Mensch und Natur verbunden und die Entscheidungsprämissen geraten in den Verruf, mit erheblichen Kollateralschäden verbunden zu sein. In Analogie zu menschlichen Beiträgen müssen die Prämissen dann für die Erhaltung des Unternehmens zu viel geben. Tatsächlich ist es denk- und spürbar, dass es Entscheidungsprämissen guttut, wenn sie einmal nicht intensiv verfolgt werden – wenn es also einmal großzügiger und weniger effektiv zugehen darf. Die Prämissen können dann ein wenig Luft holen, sie nehmen sich einen Ausgleich.

4.4

Recht auf Aufrechterhaltung von Polaritäten

Jedes System ist durchzogen von Polaritäten, die teilweise als Kontinuum, teilweise als logische Dilemmata auftreten. Diese Spannungsfelder sind die Energiequelle aller Systeme, weil sie nach einem Ausgleich drängen und das System damit weiterentwickeln. Insbesondere die Prämissen des Entscheidungssystems in Unternehmen stehen in intensiven Spannungsfeldern zueinander. Weil Nachhaltigkeit zumeist Restitutionskosten (Müller-­Christ 2012) erzeugt, steht die Prämisse in Spannung zur Effizienz, da Nachhaltigkeit und Ethik zumeist Veränderungen in den Produkten und Prozessabläufen erfordern, stehen sie in Spannung zur Funktionalität und zur Effizienz. Und selbst Funktionalität steht in Spannung zur Effizienz, weil die Absicherung von Qualität in den Prozessen häufig aufwändigere Verfahrensschritte erfordern. Tatsächlich beobachte ich seit Jahren, dass Unternehmen Nachhaltigkeit und auch Ethik erst dann in ihr Prämissensystem aufnehmen können, wenn sie die Dilemmata zwischen den Prämissen akzeptieren. Die weit verbreitete Ignoranz oder Abstraktion der Dilemmata  – langfristig rechnet sich mehr Nachhaltigkeit und mehr Ethik als Win-Win-­Rhetorik – führt auch zu den Verstößen gegen die ersten beiden Systemgesetze und lässt im Moment der Entscheidung zumeist nur Effizienz oder Funktionalität als oberste Prämisse gelten (Müller-Christ 2020). Auch die Hoffnung auf die Konsumentensouveränität ist ein Fluchtversuch aus den Polaritäten, weil Unternehmen ihr eigenes Entscheidungssystem widerspruchsfrei halten wollen, indem sie von den Konsumenten/innen erwarten, sich ein widerspruchstolerantes Entscheidungssystem aufzubauen. Dann sollen die Konsumenten/innen ihre Souveränität dazu nutzen, Nachhaltigkeit und Ethik höher als Effizienz und Funktionalität zu positionieren, was letztlich bedeutet, höhere Preise für eingeschränkteren Nutzen zu bezahlen.

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Die nächsten fünf Systemgesetzmäßigkeiten beschreiben die Regeln, nach denen in einem System Zeit, Geld und Aufmerksamkeit verteilt werden, wenn nicht alle Elemente gleichermaßen versorgt werden können. Die Beachtung dieser Regeln führt Unternehmen in eine höhere Stufe der Komplexitätsbewältigung, weil jetzt nicht nur das Prämissensystem in sich widersprüchlich ist (SG 4), sondern auch die Vorrangregeln 5–9 zueinander dilemmatisch sind: Sie können nicht gleichermaßen verfolgt werden und produzieren somit Trade-offs, d. h. materielle und/oder immaterielle Preise, weil einzelne Gesetzmäßigkeiten nicht bedient werden können.

4.5

Wer früher da war, hat Vorrang vor dem Späteren

Diejenigen, die schon länger zum System gehören, haben Vorrang vor denen, die danach kamen. Wer länger zum System gehört, hatte auch länger die Chance, wertvolle Beiträge zu leisten. Im Kündigungsschutz wird diese Regel beispielsweise zugrunde gelegt, wenn zumeist den zuletzt Gekommenen zuerst wieder gekündigt werden muss. Und wer in einer Warteschlange schon mehr Zeit investiert hat, hat Vorrang vor denen, die sich hintenanstellen. Wie tief diese Regel von Menschen verinnerlicht ist, zeigt die emotionale Empörung, wenn Menschen sich in Warteschlangen vordrängeln. Diese Regel kann auch auf die Entscheidungsprämissen angewendet werden. Wie weiter vorne schon erwähnt, kann man sich die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre auch als eine Entwicklung der Entscheidungsprämissen denken. Die Industrialisierung war von der Entscheidungsprämisse der Funktionalität getragen – es wurden neue Prozesse für die Massenproduktion entworfen. Die Prämisse der Effizienz stand zwar immer schon beiseite, kam jedoch erst durch den Wechsel vom Verkäufer- zum Käufermarkt zum Tragen, als Unternehmen im selbsterzeugten Wettbewerb nur noch überleben konnten, als sie die Herstellkosten optimierten. Weil sich Funktionalität und Effizienz häufig auf Kosten der Mitarbeiter/innen, der Wettbewerber und der Natur geeinigt haben, hat der Gesetzgeber mit zahlreichen Arbeits-, Wettbewerbs- und Umweltgesetzen reagiert und Unternehmen gezwungen, Legalität im Prämissensystem einen deutlichen Platz zu geben. Heute heißt diese Prämisse auch Compliance, weil sie eine Mischung aus Einhaltung von Gesetzen und von selbst gesetzten Normen ist. Die ethische Debatte ist älter als die Nachhaltigkeitsdiskussion, Ethik versuchte ab den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts über den Verbraucherschutz in das betriebliche Prämissensystem zu gelangen. Ethik trifft immer noch auf die Entscheidungsprämissen der Funktionalität, der Effizienz und der Legalität, die für sich behaupten, das Überleben des Unternehmens alleine sichern zu können. Sie haben auch über die Intelligenz von legalen und hocheffizienten Prozessabläufen Unternehmen im Hyperwettbewerb überleben lassen. In der Logik dieser Gesetzmäßigkeit stellen sich Ethik und Nachhaltigkeit nun hinten im Prämissensystem an und ringen darum, als spätere Prämissen von den früheren wahrgenommen zu werden.

Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit …

4.6

41

 öhere Verantwortung und höherer Einsatz für das System H haben Vorrang

Diese Regel beschreibt, warum es aus systemischen Gründen sinnvoll ist, Führungskräfte besser zu bezahlen als Fachkräfte auf den verschiedenen Stufen. Wer führt, trägt eine höhere Verantwortung für das Überleben des Systems und hat damit einen systemischen Anspruch auf mehr Leistungen. Das gilt auf horizontaler Ebene auch für die Mitarbeitenden, die einen höheren Einsatz zeigen als ihre Kollegen/innen und deshalb höhere Prämien oder höhere Leistungsstufen im Gehalt bekommen. Entscheidungsprämissen eine Verantwortung oder einen Einsatz zuzuschreiben, klingt erst einmal ungewöhnlich. Verantwortung tragen heißt, auf die Wirkungen des Verhaltens oder der Entscheidungen antworten zu können und zu müssen. In der Managementlehre und in vielen Unternehmen werden Nachhaltigkeit und Ethik mit Verantwortung gleichgesetzt. Die beiden Prämissen haben die Aufgaben, Nebenwirkungen des Handelns auf Mensch und Natur in die Entscheidungsprozesse aufzunehmen. Damit müssen sie wesentlich komplexere Abwägungsprozesse gestalten als Effizienz und Funktionalität, sodass von ihrer Natur her Nachhaltigkeit und Effizienz eine höhere Verantwortung tragen. Tatsächlich leisten in vielen Unternehmen Funktionalität und Effizienz zurzeit einen größeren Einsatz. Damit gibt es schon innerhalb dieser Systemgesetzmäßigkeit ein Dilemma zwischen den Entscheidungsprämissen.

4.7

Mehr Kompetenz/mehr Wissen hat Vorrang

Die besondere Spannung dieser Vorrangsregeln kennen die meisten aus den sozialen Systemen, wenn neue und formal besser ausgebildete Mitarbeiter/innen auf diejenigen treffen, die schon länger im Unternehmen sind. Wer eine höhere Kompetenz und mehr Wissen hat, kann komplexere Probleme lösen und damit wichtigere Beiträge für das Überleben leisten. Daraus resultiert eine Vorrangstellung. Entscheidungsprämissen eine Kompetenz oder ein Wissen zuzusprechen, klingt sehr vermenschlichend. Für abstrakte Entitäten sind die beiden systemischen Gesetzmäßigkeiten 6 und 7 eher metaphorisch zu fassen. Gleichwohl ist es denkbar, dass in der Entscheidungsprämisse der Ethik ein altes Menschheitswissen steckt, mehr als in Effizienz und Funktionalität. Und auch die Prämisse der Nachhaltigkeit wurde schon von Aristoteles als Haushaltsökonomik formuliert und trägt das Wissen der Reproduktionsgesetzlichkeiten der Natur in sich. Vielleicht ist es für die einen zu weit hergeholt, vielleicht ist es für die anderen intuitiv erfassbar, dass Nachhaltigkeit und Ethik mit ihren Bezugspunkten von Rücksicht und Reproduktion ein größeres Wissen als Effizienz und Funktionalität hinter sich haben. Vermutlich ist für ein abstraktes System diese Gesetzmäßigkeit nicht allzu informativ.

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4.8

G. Müller-Christ

Neues System hat Vorrang vor altem System

Diese Gesetzmäßigkeit lässt sich hingegen wieder direkt übertragen. Genau genommen müsste sie heißen: Ein neues Element hat Vorrang vor den vorhandenen Elementen. Ein Neugeborenes hat in seinen Bedürfnissen Vorrang vor den älteren Geschwistern oder den Eltern, ein neues Produkt oder eine neue Strategie hat Vorrang vor den bestehenden und zwar so lange, bis das neue Element überlebensfähig ist. Dann greift wieder die Systemgesetzmäßigkeit Nr. 5: Wer früher da war, hat Vorrang. Das Neue fügt sich in die systemische Reihe ein. Damit die Entscheidungsprämissen der Nachhaltigkeit und der Ethik überhaupt handlungsrelevant werden können, brauchen sie in der Einführungszeit mehr Aufmerksamkeit als die vorhandenen Prämissen. Das Unternehmen muss lernen, bei jeder Entscheidung auch Nachhaltigkeitskriterien anzulegen und ethische Reflexionen zuzulassen, was viele Entscheidungen langsamer und schwieriger macht. Ganz konkret kann und muss das auch heißen, dass Nachhaltigkeit und Ethik in der Anfangsphase ihres Wirkens die Kosten erhöhen oder die Funktionalitäten von Produkten oder Prozessen reduzieren dürfen. Wenn das Unternehmen nur Win-Win-Lösungen zulässt, gibt es den Prämissen von Nachhaltigkeit und Ethik keinen Vorrang: Win-Win-Lösungen sind zumeist effizienzgesteuerte Lösungen. Wenn das Unternehmen gelernt hat, die Entscheidungsprämissen der Nachhaltigkeit und der Ethik umzusetzen, sie in Entscheidungsprozessen gewollt und erlaubt sind, kommt es auch wieder darauf an, Kosten und Prozesse zu optimieren. Damit lässt sich auch von außen feststellen, ob Nachhaltigkeit und Ethik im System handlungsrelevant sind. Die Testfrage lautet: Dürfen Nachhaltigkeit und Ethik etwas kosten?

4.9

Gesamtsystem hat Vorrang vor Einzelperson oder Untersystem

Wenn die Bedürfnisse einzelner Menschen in Organisationen und Familien zu lange und zu intensiv im Vordergrund stehen, leidet das gesamte System. Die Überlebenslogik des Gesamtsystems erfordert es, dass alle Elemente und Untersysteme ihre Beiträge leisten können und entsprechend ausgeglichen werden. Werden zu viele Ressourcen zu lange auf ein Produkt, eine Strategie oder ein Familienmitglied verteilt, schränken die anderen ihre Beiträge ein oder verlassen das System. Letztlich wird damit ausgedrückt, was die moderne Managementlehre schon länger versucht, den Unternehmen beizubringen: Wenn heutzutage nur Effizienz und vielleicht auch Funktionalität die leitenden Entscheidungsprämissen sind, um den Geldzufluss zu maximieren, dann erzeugt das System in seinem Umfeld erhebliche Widerstände und es kommt zu Kooperationsverweigerungen. Alle Entscheidungsprämissen müssen auf Dauer berücksichtigt werden und ihre Beiträge leisten können, damit das System robust bleibt und seine Zwecke verträglich mit den Umwelten erfüllt.

Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit …

43

Die nachfolgenden drei Systemgesetzmäßigkeiten verweisen auf die Richtung der Ausbalancierung eines Systems in seinen grundlegenden Spannungsräumen, also aus der Gesundheitsperspektive auf die Voraussetzungen eines Heilungsprozesses.

4.10

Aussprechen/anerkennen, was ist als Grundlage jeder Lösung

Wenn die vorangegangenen Systemgesetzmäßigkeiten nicht ausreichend beachtet werden, kommt es zu Schieflagen und diffusen Stimmungen in den Systemen. Menschen in Organisationen können teilweise sehr genau beschreiben, worüber nicht gesprochen und welche Vorrangstellung niemand infrage stellen darf. Häufig werden diese Themen als Tabu umschrieben. Um die Vorrangsbeziehungen im System verändern zu können, um das System an seine Umwelten besser anpassen zu können, muss das Unantastbare, das Geronnene oder auch das Unsagbare zunächst deutlich ausgesprochen werden. Damit werden die Kräfte frei, diesem eine andere, gleichwohl immer noch wertschätzende Bedeutung geben zu können. Für viele Unternehmen könnte diese Systemgesetzmäßigkeit bedeuten, offen darüber zu sprechen, dass es nicht erlaubt ist, anders als kostenminimierend zu arbeiten, egal welche Nebenwirkungen auf Mensch und Natur dabei erzeugt werden. Es fällt vielen Unternehmen sehr schwer, anzuerkennen, dass Effizienzsteigerungen und Prozessoptimierungen jahrelang für die dadurch erzeugten Externalitäten blind gemacht haben. Die Summe dieser Externalitäten könnte man auch als systemische Schulden bezeichnen.

4.11

Ausgleich schaffen ist der Inhalt jeder Gesundung

Die anerkannten systemischen Schulden drängen nach einem Ausgleich, wenn sie einmal ausgesprochen und anerkannt sind. Für das System der Entscheidungsprämissen bedeutet dies, wenn wir es einmal wörtlich nehmen, dass die Prämissen der Effizienz und der Funktionalität Schulden gegenüber den Prämissen der Nachhaltigkeit und der Ethik haben. Was könnte das für betriebliche Entscheidungen bedeuten? Nachhaltigkeit und Ethik mussten jahrelang akzeptieren, dass das Entscheidungssystem unterkomplexe Auswahlprozesse durchgeführt hat, die diese beiden Prämissen nicht zugelassen hätten. Sie haben dadurch einen erheblichen Imageverlust erfahren, den es nun gilt, wieder auszugleichen. Ein Imagegewinn drückt sich darin aus, dass die Entscheidungsträger/innen sehr wertschätzend zulassen, dass mehr Nachhaltigkeit und Ethik zu höheren Kosten und geringeren Funktionalitäten führen. Es ist bei abstrakten Entitäten sehr schwer festzustellen, wann der Ausgleich erfolgt ist und in welcher Währung er letztlich erfolgen soll. Die Regeln für einen gesunden Ausgleich setzen fast vollständig voraus, dass die am Ausgleichsprozess Beteiligten miteinander das Verfahren kommunikativ aushandeln können (zu den Regeln

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G. Müller-Christ

für einen gesunden Ausgleich vgl. Daimler et  al. 2011, S.  211  ff.; Müller-Christ und ­Pijetlovic 2018, S. 90 ff.). Da die Entscheidungsprämissen nicht direkt miteinander reden können, braucht es einen Dialog im Unternehmen oder eine systemische Aufstellung.

4.12

 usgleiche müssen sich über einen längeren Zeitraum A hinweg ausgleichen

Diese Regel fordert die meisten Unternehmen heutzutage erheblich heraus. Ihre Anwendung setzt voraus, dass das System der Entscheidungsprämissen über eine gewisse Zeit hinweg beobachtet und dokumentiert wird, welche Prämisse welche Entscheidungen leiten darf. Hierbei handelt es sich um eine Art systemisches Monitoring, ein noch zu entwickelndes Verfahren, welches die Beobachtung oder Messung von Trade-offs zulässt. In der gleichmäßigen Austarierung des Prämissensystems werden auch die Preise, die gezahlt werden müssen, immer wieder neu verteilt und das System bleibt gesund – so die systemische Hypothese, wenn die Preise, die auch als Trade-offs bezeichnet werden, im Rahmen ihrer Möglichkeiten von den Prämissen gezahlt werden. Im Wertehintergrund des Unternehmens, seinem Trade-off-Stil, ist angelegt, wie offen, ehrlich und rücksichtsvoll mit Trade-offs umgegangen wird.

4.13

Erzählen und Visualisieren als Integrationsermöglicher

Was verändert sich im Kopf der Leser/innen, wenn sie diese Erzählung über das scheinbar vermenschlichte Prämissensystem im Unternehmen lesen? Die konkrete Veränderung kann nur jeder für sich selbst beobachten und ich lade die Leser/innen ein, das innere Bild zu beobachten, wenn sie sich nun das Wirken der Entscheidungsprämissen visualisieren. Tatsächlich war es auch das Ziel der Erzählung, die Selbsterzählung des Nachhaltigkeitsthemas in den Köpfen der Leser/innen zu irritieren. Irritation ist der Beginn jeden Lernprozesses. Erst wenn wir feststellen, dass unsere mentale Karte eines Systems nicht mehr geeignet ist, ein Problem zu lösen oder einen Prozess zu verstehen, kann die Bereitschaft entstehen, zu lernen. Diese setzt aber voraus, dass wir die Irritation aufrechterhalten und sie nicht zu schnell verdrängen und dem Bedürfnis folgen, mithilfe der eigenen mentalen Karte die Kontrolle zu behalten. Irritationen sind nämlich immer auch eine Art Kontrollverlust, den Menschen nicht gerne aushalten und mithilfe von (vor-)schnellen Interpretationen wieder Erklärungen schaffen, die der vorhandenen mentalen Karte gerecht werden. Ich lade die Leser/innen ein, die Irritationen durch die systemische Erzählung noch eine Weile aufrecht zu erhalten und sie vielleicht sogar durch eine Visualisierung zu verstärken. Meiner Beobachtung nach müssen die inneren Karten des Systems der Entscheidungsprämissen von vielen Führungskräften erheblich irritiert werden, damit Nachhaltigkeit und Ethik darauf Platz haben können.

Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit …

45

Diese Erkenntnis ist nicht einmal sehr komplex. Gleichwohl wird sie im Alltag nur selten engagiert verfolgt. Dies liegt auch daran, dass viele Entscheidungsträger/innen noch nicht genügend Bilder im Kopf entwickelt haben, wie eine nachhaltigere Wirtschaftsweise aussehen kann. Genauer genommen müsste man sagen, dass neben die alten und sehr fest verankerten Bilder von der Formel „Überleben durch Gewinn“ noch keine neuen Bilder getreten sind. Dabei weisen die Neurologen vermehrt darauf hin, dass Bildungsfähigkeit davon abhängt, welche inneren Bilder erzeugt werden können. Innere Bilder steuern das Verhalten sehr unbewusst, sie können realitätskonform oder realitätsfremd sein. Insbesondere in der systemischen Organisationsentwicklung wird zunehmend mit Methoden gearbeitet, die die inneren Bilder der Menschen herausholen und für alle sichtbar machen (Müller 2017). Abstrakte Sachverhalte wie eine ressourcenorientierte Nachhaltigkeit werden in Lehrbüchern kognitiv vermittelt. Texte sollen effektiv und eindeutig informieren und als Wissenszuwachs der Lesenden abgespeichert werden. Autor/innen tauchen nicht wirklich auf, sie verstecken sich hinter einer wissenschaftlichen Sprache, die das Wissen als allgemeingültig darstellen will – eine innere Beteiligung der Autor/innen, ihre persönlichen Verhältnisse zur Nachhaltigkeit dürfen keine große Rolle spielen: Es wäre ja auch zu subjektiv. Es muss dann am Ende offenbleiben, ob und welche inneren Bilder die Leser/innen neu entwickelt haben. Die akademische Wissensvermittlung arbeitet zwar auch zunehmend mit Bildern als didaktischen Elementen, um komplexe Sachverhalte zu verdeutlichen. Die Wirkungen der äußeren Bilder auf die inneren Bilder der Lernenden bleiben dabei aber unklar. Der Nachteil der Verwendung von Bildern (zumeist Fotos in Präsentationen) ist, dass sie Abbilder sind, schnell gewählte Demonstrationen zur Verdichtung von Vermittlungsinhalten, ganz im Sinne von: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Innere Bilder werden jedoch eher dann erreicht und verändert, wenn das äußere Bild sich langsam aufbaut und die Elemente des Bildes einen höheren Sinnzusammenhang adressieren. Erst dann ist es möglich, dass die Zuschauer/innen mit ihrem ganzen inneren Wesen sich ansprechen lassen und sich an der Sinnzuweisung des Bildes beteiligen. Es geht folglich um noch nicht fertige Bilder, mithin Bilder, die den Betrachter und die Betrachterin dazu anregen, das Bild mit eigenen Assoziationen gedanklich fertig zu stellen. In diesem Prozess des Fertigstellens können die Betrachter/innen Anschluss an die vorhandenen eigenen inneren Bilder finden. Die Herausforderung für den Einzelnen liegt eben darin, dass die vorhandenen inneren Bilder die Fertigstellung des neuen Bildes steuern. Didaktisch stellt sich dabei die Frage, wie es gelingen kann, die Betrachter/innen zu irritieren, um das eigene vorhandene Bild zu erkennen und auf seinen Realitätsbezug hin zu reflektieren. Welche didaktischen Möglichkeiten gibt es, ein Bild so aufzubauen, dass die Zuschauer/ innen angeregt werden, eigene Assoziationen zu entwickeln und in diesem Entwickeln eine Ahnung von den eigenen inneren Bildern zu bekommen. Systemisches Visualisieren ermöglicht einen solchen Prozess: Menschen werden als Elemente eines Systems im Raum aufgestellt und erzeugen so ein dreidimensionales Bild in hoher Raum-Zeit-­Verdichtung.

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G. Müller-Christ

Abb. 5  Integrationsaufgabe im Prämissensystem

Elemente, die in der Realität weder im Zeitverlauf noch im Raum zusammen auftreten, können in der systemischen Visualisierung gleichzeitig auf engem Raum in Beziehung gesetzt werden. Diese Raum-Zeit-Verdichtung löst Assoziationen aus, die durch andere zweidimensionale Bilder selten entstehen (Müller-Christ und Pijetlovic 2018). In der Abb. 5 ist noch einmal eine systemische Visualisierung des Prämissensystems dargestellt, um auch zu verdeutlichen, welche Rolle ein Sustainable Leadership haben könnte.

4.14

 ustainable Leadership: Integrationsaufgabe S im Prämissengerangel

Es gibt inzwischen zahlreiche Konzepte, eine Art Sustainable Leadership, in Kompetenzen zu übersetzen. Die Inhalte dieser Kompetenzen hängen immer davon ob, wie Nachhaltigkeit verstanden wird (eine Übersicht findet sich in Kopp 2013). Wenn ich ganz bei dem Verständnis bleibe, dass es die Aufgabe von Manager/innen ist, Entscheidungsprozesse in Unternehmen zu gestalten und was in der Erzählung dieses Beitrags eben auch heißt, Entscheidungen über Entscheidungsprämissen zu treffen, dann ist es – wie in Abb. 6 dargestellt – die Aufgabe eines Sustainable Leaderships, das Prämissensystem mithilfe der systemischen Gesetze auf eine neue Art zu gestalten. Ganz in diesem Sinne habe ich Sustainable Leadership an anderer Stelle folgendermaßen definiert (Müller-Christ 2020): cc Sustainable Leadership hat die Aufgabe, das Kräftespiel von herkömmlichen und nachhaltigkeitsbezogenen Entscheidungsprämissen nach neuen Regeln zu gestalten und damit Entscheidungsprozessen eine Struktur zu geben, die intelligente Abwägungsverfahren zwischen kurz- und langfristigem Erfolg dauerhaft ermöglicht.

Eine systemische Erzählung über die Integration von Nachhaltigkeit …

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Abb. 6  Beidhändigkeit eines Sustainable Leaderships (Bildquelle: Antonia Wetzel)

Da es in diesem Beitrag um Erzählungen und Bilder für die Integration von Nachhaltigkeit in betriebliche Entscheidungsprozesse geht, möchte ich auch mit einem Bild den Beitrag beenden, welches die Aufgabe des Sustainable Leaderships wunderbar visualisiert: Es geht bei Ambidexterie, um Beidhändigkeit, um in einer komplexen Welt zwei Erfolgsgeschichten gleichzeitig schreiben zu können. Mit der einen Hand gilt es, die Geschichte des herkömmlichen Markterfolgs zu schreiben, der durch die Entscheidungsprämissen Effizienz, Funktionalität und Legalität gesteuert wird. Mit der anderen Hand gilt es, die Geschichte der Ressourcenregeneration und der Nebenwirkungsarmut zu schreiben. Nachhaltigkeit und Ethik sind die entscheidenden Prämissen hierfür. Die Integrationsleitung ist in meinem Bild eines nachhaltigen Managements vor allem die Bewältigung dieses Dilemmas.

Literatur Aristoteles (1958) Politik. Meiner, Hamburg Beck U (1988) Gegengifte: Die organisierte Unverantwortlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main Bischop D (2010) Coachen und führen mit System. Ludwig, Kiel Brunnhuber S (2016) Die Kunst der Transformation: Wie wir lernen, die Welt zu verändern. Herder, Freiburg/Basel/Wien Daimler R, Sparrer I, Varga von Kibed M (2011) Das unsichtbare Netz: Erfolg im Beruf durch systemisches Wissen. Carl-Auer, Heidelberg Grober U (2013) Von Freiberg nach Rio – Carlowith und die Bildung des Begriffs Nachhaltigkeit. In: Sächsische Hans-Carl-von-Carlowitz-Gesellschaft (Hrsg) Die Erfindung der Nachhaltigkeit: Leben, Werk und Wirkung des Hans Carl von Carlowitz. Oekom, München, S 13–30 Gutenberg E (1967) Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft, 3. Aufl. Scherpe, Krefeld Kopp U (2013) Systemische Nachhaltigkeitskompetenzen für Führungskräfte  – Erfahrungen mit Aufstellungsarbeit in der Managementaus- und weiterbildung. Unternehm Managementkompetenzen Nachhalt 67(2):126–151 Luhmann N (2000) Organisation und Entscheidung. Westdeutscher, Opladen

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G. Müller-Christ

Müller M (2017) Einführung in die narrative Methode der Organisationsberatung. Carl-Auer, Heidelberg Müller-Christ G (2012) Nachhaltiges Management aus der Entscheidungsperspektive: Restitutionskosten, Jetzt-für-dann-Entscheidungen und Trade-Offs. In: Corsten H, Roth S (Hrsg) Nachhaltigkeit. Springer Gabler, Wiesbaden, S 51–66 Müller-Christ G (2013) Wo stehen Nachhaltigkeit und Ressourcenorientierung im Unternehmen? Ordnungsangebote im Prämissengerangel durch Systemaufstellungen. In: Klinke S, Rohn H (Hrsg) RessourcenKultur: Vertrauenskulturen und Innovationen für Ressourceneffizienz im Spannungsfeld normativer Orientierung und betrieblicher Praxis. Nomos, Baden Baden, S 383–392 Müller-Christ G (2020) Nachhaltiges Management: Einführung in die Ressourcenorientierung und widersprüchliche Managementrationalitäten. Nomos, Baden-Baden Müller-Christ G, Arndt L (2011) Nachhaltigkeit als Brücke zwischen ökonomischer Rationalität und ethischer Vernunft. In: Nguyen T (Hrsg) Mensch und Markt  – Beiträge zur Wirtschaftsethik: Festschrift für Volker Arnold. Gabler, Wiesbaden, S 189–225 Müller-Christ G, Pijetlovic D (2018) Komplexe Systeme lesen: Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis. Springer, Berlin Myrdal G (1958) Das Zweck-Mittel-Denken in der Nationalökonomie. In: Myrdal G (Hrsg) Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft. Verlag für Literatur und Zeitgeschehen, Hannover Pufé I (2017) Nachhaltigkeit, 3. Aufl. UVK Verlagsgesellschaft mbH mit UVK/Lucius, Kon­ stanz/München Varga von Kíbed M, Sparrer I (2009) Ganz im Gegenteil: Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen  – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Carl-Auer, Heidelberg

Prof. Dr. Georg Müller-Christ  ist Professor für Nachhaltiges Management an der Universität Bremen. Er verwendet moderne Theorien und Tools wie Spiral Dynamics, Theorie U oder Systemaufstellungen, um die Anschlussfähigkeit von Nachhaltigkeit an vorherrschendes Entscheidungsverhalten von Unternehmen und Personen verstehen und erklären zu können. Sein Ziel ist es, mithilfe von Systemaufstellungen eine transdisziplinäre Sprache zu entwickeln, um co-kreative Prozess für eine nachhaltigere Gesellschaft zu entwickeln.

Unternehmensethik als Basis einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung Elisabeth Göbel

1

Vorüberlegungen zu den ethischen Grundlagen

1.1

Was ist Ethik?

Die Ethik gilt seit Aristoteles als Teil der praktischen Philosophie. Nicht das Erkennen des Seins steht im Vordergrund, sondern die Verbesserung der menschlichen Praxis. Als allgemeinstes Prinzip ethischer Praxis fordert Thomas von Aquin: Tue das Gute und meide das Böse. Was zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gesellschaft für das Gute und das Böse gehalten wird, nennt man zusammenfassend Moral und Sitte. Moral und Sitte bestimmen als geschichtlich gewachsene Lebensform das gruppen- und kulturspezifische Richtmaß für das gute und richtige Handeln. Als Komplex von Handlungsnormen, Wertmaßstäben und Sinnvorstellungen bilden Moral und Sitte den normativen Grundrahmen für das Verhalten zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst. Wie die deskriptive Ethik zeigt, können Moral und Sitte im Laufe der Zeit und zwischen unterschiedlichen Kulturen stark variieren. Während in Deutschland bspw. eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft den gleichen Status wie eine Ehe genießt, ist Homosexualität in manchen Ländern noch mit der Todesstrafe bedroht. Ist Moral deshalb nur eine „Geschmacksfrage“ und lässt sich nichts Sinnvolles und Verbindliches über das Gute und das Böse sagen? Die normative Ethik verneint diese Frage und sucht jenseits der bloßen Beschreibung moralischer Praxis nach allgemeingültigen Aussagen über das gute und richtige Handeln. Sie ist ihrem eigenen Anspruch nach Wissenschaft von Moral und Sitte und will auf methodischem Wege, vernunftbestimmt und reflektierend zu begründeten allgemeingültigen Aussagen über das Gute und Böse vorstoßen. Umstritten ist allerdings E. Göbel (*) Universität Trier, Trier, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_4

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schon, was überhaupt zur Grundlage einer moralischen Bewertung gemacht werden soll: Die Gesinnung des Handelnden, seine einzelnen Handlungen oder die Folgen, welche sein Handeln hat?

1.2

 esinnung, Handlung oder Folgen als Grundlage G moralischer Bewertung?

1.2.1 Gesinnung: Der Wille zum Guten Ein erster Ansatzpunkt für die moralische Bewertung von Menschen ist das subjektive Wollen eines Individuums, seine Gesinnung. Moralisch ist, das Gute zu wollen. „Der gute Wille ist […] allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut …“ heißt es bspw. bei Immanuel Kant (1965, S. 10). Was gut ist, erkennt die praktische Vernunft in der Gestalt des Gewissens. Wenn jemand nach seinem Gewissen gut handelt, ist das Handeln moralisch. Aber, so fragt man sich sogleich, wird mit einer solchen Gesinnungsethik die Bestimmung des Guten und des Schlechten nicht dem Belieben des Individuums überlassen? Was ist bspw. mit einem islamistischen Terroristen, der aus innerer Überzeugung von der Richtigkeit seines Handelns bei einem Bombenanschlag Unschuldige tötet und verletzt? Muss das subjektive Meinen nicht aufgeklärt und korrigiert werden durch „objektiv“ richtige Urteile über das Gute? Auch Immanuel Kant greift diese Problematik auf. Er sieht es als Aufgabe der praktischen Philosophie an, den Menschen bei ihren moralischen Urteilen zu helfen und durch systematische, wissenschaftliche Zergliederung von Beispielen der moralisch urteilenden Vernunft schließlich zu moralischen Gesetzen und allgemein gültigen Prinzipien zu kommen und so eine feste Basis für gutes Handeln zu schaffen. 1.2.2 Handlung: Die Erfüllung der Pflicht Aufgrund einer solchen festen Basis von moralischen Gesetzen sind bestimmte Handlungen „Pflicht“. Es gibt sozusagen einen Katalog von Handlungsregeln, welche konkret vorschreiben, welches Tun richtig und welches falsch ist. Moralisch ist, das Gute zu tun. Richtig ist bspw., die Würde der Mitmenschen zu achten, ihnen Wohltaten zu erweisen und ihnen in der Not beizustehen. Falsch ist es z. B., zu lügen, zu betrügen, zu foltern. Eine Ethik, welche verbindliche Pflichten entwickelt, nennt man auch eine deontologische Ethik. Ihr Vorteil liegt darin, dass klare und eindeutige Handlungsanweisungen vorliegen. Zu beurteilen, was gut ist, wird nicht der Beliebigkeit subjektiven Wollens und Meinens überlassen. Aber auch bei einer solchen Pflichtenethik fallen Probleme ins Auge. Wer kann aufgrund welcher Autorität solche Normen vorgeben? Wie können in einer veränderlichen Welt die Normen geändert und weiterentwickelt werden? Wird das moralische Subjekt nicht entmündigt durch strikte Vorschriften? Wie soll ich handeln, wenn mein Gewissen mir rät, gegen die Regeln zu handeln? Und vor allem: Ist das pflichtgemäße Handeln tatsächlich immer und überall geboten, ohne auf die Folgen zu achten?

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1.2.3 Folgen: Auf das Handlungsergebnis schauen Es gibt viele Beispiele für ein pflichtgemäßes Handeln, welches üble Folgen hat. Ein absolutes Tötungsverbot kann bspw. dazu führen, dass bei einer schwierigen Schwangerschaft schließlich Mutter und Kind sterben, weil eine Abtreibung nicht in Frage kommt. Oder das absolute Verbot zu lügen, zwingt jemand dazu, das Versteck eines unschuldig Verfolgten preiszugeben. Eine Handlung ruft oft gleichzeitig gute und schlechte Wirkungen hervor. Ist es für die moralische Bewertung nicht vor allem wichtig, welche situativen Folgen ein Handeln hat? Man könnte also auch sagen: Moralisch ist, das Gute zu erreichen. Ein prominenter Verfechter dieser Folgenethik – auch teleologische Ethik genannt – ist Max Weber. Vor allem die Entscheidungsträger in Staat und Gesellschaft dürften doch nicht einfach sagen: „Ich tue, was recht ist, und stelle den Erfolg Gott anheim“ kritisiert er sowohl die „Flamme der reinen Gesinnung“ als auch die „absolute Ethik“ deontologischer Handlungsnormen (1988, S. 501 f.). Stattdessen sind nach seiner Auffassung immer wieder situativ die Folgen des Handelns zu bedenken und zu bewerten. Gegenüber einer deontologischen Normenethik scheint die Folgenethik humaner und flexibler. Sie kennt generelle Normen, lässt aber auch Ausnahmen zu, wenn die Befolgung der Norm zu einem größeren Übel als die Übertretung führt. Der Mensch als moralisches Subjekt darf und muss sich ein eigenes Urteil bilden, was situativ moralisch geboten ist und wahrt damit seine moralische Autonomie. Eine Weiterentwicklung der Moral im Kontakt mit einer sich verändernden Wirklichkeit ist leichter möglich. Aber natürlich stellen sich auch bei einer solchen Ethik wieder kritische Fragen. Ob ein Handeln gute oder schlechte Folgen hat, ist oft beim besten Willen nicht genau vorherzusehen. Ist jemand unmoralisch, der nach bestem Wissen und Gewissen handelt und durch Zufall trotzdem üble Folgen hervorruft? Und umgekehrt: Handelt jemand wirklich moralisch, der nur durch Zufall Gutes bewirkt? Auf welcher Basis wird entschieden, ob Folgen gut oder schlecht sind? Was ist bei gleichzeitig guten Folgen für eine Gruppe Menschen und schlechten Folgen für eine andere Gruppe zu tun? Ist nach dem Motto „der Zweck heiligt die Mittel“ alles erlaubt, was mehr Menschen nützt als es anderen schadet? 1.2.4 Verantwortung als integrativer Begriff Offenbar führt jede der drei Bewertungsgrundlagen zu gewissen Lücken, weshalb es naheliegt, eine Integration der unterschiedlichen Ansätze zu versuchen. Der Begriff der Verantwortung bietet wie kaum ein anderer ethischer Begriff Anknüpfungspunkte für die unterschiedlichen Typen ethischer Argumentation. Überdies ist „Verantwortung“ ein Kernbegriff der Unternehmensethik. Das kommt vor allem in den heute gebräuchlichen englischsprachigen Begriffen „Corporate Responsibility“ (CR) bzw. „Corporate Social Responsibility“ (CSR) zum Ausdruck. Unternehmensethik bedeutet demnach in einer ersten Annäherung, Unternehmen sollen Verantwortung für ihr Tun und Lassen übernehmen. Was das bedeutet, soll nun genauer betrachtet werden.

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1.3

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Was bedeutet „Verantwortung“?

Was die Bewertungsgrundlage betrifft, so stehen zunächst einmal die Folgen des Handelns im Vordergrund einer Verantwortungsethik. Das ist auch die Intention von Max Weber, der den Begriff der Verantwortungsethik prägte (1988, S. 551). Gerade die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft, die Politiker, Unternehmer und Manager, müssen die Folgen ihrer Entscheidungen bedenken, weil oft sehr viele andere Menschen von diesen Folgen betroffen sind. In der Unternehmensethik spricht man bei diesen Betroffenen von den „Stakeholdern“ des Unternehmens. Eine zentrale moralische Aufgabe besteht also darin, die Folgen des Handelns für diese Stakeholder abzuschätzen: Wer ist in welcher Weise von einer Entscheidung im Guten wie im Schlechten betroffen? Welche Folgen sind kurz- und langfristig zu erwarten? Sind die Folgen reversibel? Zugleich braucht man für die Bewertung der Folgen ein festes deontologisches Fundament von anzustrebenden Werten und Gütern sowie einzuhaltenden Prinzipien und Pflichten, um nicht in subjektive Beliebigkeit zu verfallen und alles für gut zu erklären, was gerade aus Sicht einer Gruppe nützlich erscheint. Auf dem Fundament verbindlicher sittlicher Grundsätze (deontologisches Moment) werden die Folgen des Handelns in Bezug auf bestimmte Lebensbereiche und konkrete Lebenssituationen situativ bewertet (teleologisches Moment). Indem das Subjekt, bspw. der einzelne Manager oder Politiker, die Verantwortung für sein Tun und Lassen übernimmt und nach bestem Wissen und Gewissen moralisch richtig entscheiden will, tritt ein gesinnungsethisches Moment hinzu. Ohne die Selbstverpflichtung des Subjektes zum verantwortungsvollen Handeln könnten durchaus zufällig auch einmal gute Folgen auftreten. Es wäre aber jederzeit auch mit üblen Folgen zu rechnen, wenn es bspw. dem Subjekt im Hinblick auf seinen eigenen Nutzen gerade opportun erscheint, auf die Folgen für andere keine Rücksicht zu nehmen. Erst die durchgängige Ausrichtung des Willens auf verantwortungsbewusstes Handeln erzeugt die notwendige Verlässlichkeit im Guten. Zugleich ist durch den guten Willen das Subjekt moralisch entlastet, wenn der Zufall trotz bester Absichten schlechte Folgen verursacht. Bei vielen Entscheidungen in Wirtschaft und Gesellschaft gibt es zahlreiche Betroffene und fast immer kommt es zu Interessenkonflikten, also zu guten und schlechten Folgen gleichzeitig. Manchmal sind die Folgen für bestimmte Gruppen nützlich und für andere schädlich oder sie sind kurzfristig nützlich und langfristig schädlich oder umgekehrt. Es ist auch nicht immer klar, welche Handlung gerade Pflicht ist, denn Pflichten können kollidieren, d. h. sich für den Moment der Handlung gegenseitig ausschließen. In fast allen Fällen ist bei weitreichenden Entscheidungen mit vielen Betroffenen eine Abwägung konfligierender ethischer Ansprüche nötig. Man muss ein sittliches Urteil fällen. Aber wie geht das?

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1.4

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Wie kommt man zu sittlichen Urteilen?

Verantwortung zu übernehmen, heißt in der Praxis sehr oft, gute und schlechte Folgen, Güter und Übel gegeneinander abzuwägen. Dann braucht man eine Anleitung, wie man zu gültigen sittlichen Urteilen kommt. Eine solche formale oder prozedurale Ethik leitet den Entscheider an, wie er den „moral point of view“, den moralischen Standpunkt, einnimmt. Dieser moralische Standpunkt transzendiert vor allem das Eigeninteresse und nimmt das allgemeine Interesse in den Blick. Man sucht nach den Ergebnissen, die alle vernünftigen Wesen wollen können. Der moralische Standpunkt ist unparteilich. Bei Immanuel Kant gibt der kategorische Imperativ vor, wie man zu solchen moralischen Urteilen kommt, nämlich indem man sich fragt, ob man wollen kann, dass die Maxime des Handelns zu einem allgemeinen Gesetz werde (1965, S. 42). Wer bspw. die Maxime hat, immer zu lügen, wenn es ihm Vorteile bringt, kann nicht wollen, dass alle nach dieser Maxime handeln, denn dann würde er selbst auch belogen und das allgemeine Misstrauen wäre so groß, dass das Zusammenleben sehr schwierig würde. Auch der Lügner braucht das allgemeine Vertrauen in die Wahrheit, um mit seiner Lüge erfolgreich zu sein. Das führt zu der Erkenntnis, dass das Lügen Unrecht ist. Dieses Prüfverfahren wird oft auch vereinfachend mit der sogenannten „goldenen Regel“ umschrieben welche besagt: Was du nicht willst, was man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu. In der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls wird der unparteiliche moralische Standpunkt durch den „Schleier des Nichtwissens“ garantiert (1979, S. 159 f.). Die Menschen sollen sich bei ihren sittlichen Urteilen in einen fiktiven Urzustand versetzen, in welchem sie ihre persönliche Situation nicht kennen. Sie kennen weder ihre Begabungen, noch ihren Platz in der Gesellschaft, ja, nicht einmal die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation ist ihnen bekannt. Jeder ist so gezwungen, sich in jede mögliche Rolle hineinzuversetzen und von dieser unparteilichen Warte aus zu beurteilen, ob er ein bestimmtes Handeln wollen kann. In der Diskursethik dürfen schließlich nur solche Normen Geltung beanspruchen, welche die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten (Habermas 1991, S. 12). An den praktischen Diskurs werden verschiedene Bedingungen geknüpft. Alle Betroffenen werden zugelassen, es wird keine Macht ausgeübt, die Diskursteilnehmer sind frei und gleich, sie sind aufrichtig und an der kooperativen Wahrheitssuche interessiert. Im idealen Diskurs kann man sowohl sittliche Normen begründen als auch ihre Anwendung im Konfliktfall entscheiden. Bei allen diesen Verfahren geht es um die Universalisierbarkeit: Was können im Prinzip alle Menschen wollen? Die Vorgabe eines solchen formalen Moralprinzips alleine reicht aber nicht, um – wie Kant es ausdrückt – den Menschen „den Weg zur Weisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen“ und der „Verirrung einer noch rohen ungeübten Beurteilung vorzubeugen“ (1974, S. 302). Man braucht neben den formalen Moralprinzipien auch inhaltliche Konkretisierungen des Guten. Was sind denn gute Maximen, von denen man wünschen könnte, dass sie ein allgemeines Gesetz werden? Was können grundsätzlich alle wollen, ohne Ansehen der individuellen Stellung in der Welt? Worauf würden sich die

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Betroffenen in einem idealen Diskurs vermutlich einigen? Was also sind die konkreten verbindlichen sittlichen Pflichten, Güter und Werte, die als gute Gründe in die Folgenabwägung Eingang finden sollten?

1.5

Was ist prinzipiell für alle wünschenswert?

Jenseits aller Kontroversen in den Details moralischer Praxis gibt es eine Reihe fundamentaler Auffassungen vom prinzipiell Wünschenswerten, über die ein (nahezu) weltweiter Konsens besteht: Die Würde des Menschen ist zu achten, was sich in einem Katalog von Menschenrechten konkretisiert, wie Recht auf Leben, Sicherheit und Gesundheitsfürsorge, Recht auf Eigentum, Recht auf Freiheit und Gerechtigkeit, Frieden und Bildung, um nur einige der zentralen Menschenrechte zu nennen. Die Menschenrechte werden flankiert von Menschenpflichten. Hierzu gehört an oberster Stelle die Pflicht zur Brüderlichkeit bzw. Solidarität, d. h. jeder Mensch hat die Pflicht, das Gemeinwohl anzustreben. Das Wohl der Allgemeinheit kann mit dem Einzelwohl und den Rechten des Einzelnen in Konflikt geraten. Das Recht auf Freiheit wird bspw. einem Verbrecher verwehrt, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Im öffentlichen Interesse sind auch Enteignungen von Privateigentum möglich. Das fundamentalste öffentliche Interesse besteht darin, die natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde zu erhalten. Vor allen Einzelrechten und Einzelinteressen bestimmter Menschen gibt es ein Recht der Menschheit an sich, weiterhin auf dem Planeten Erde leben zu können. Alle Prinzipien formaler Ethik führen zur Maxime „Erhalte die natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde“ als zu einem Grundsatz, den alle wollen können. Die Sorge für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen wird heute meist mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit bezeichnet. Nachhaltigkeit ist ein Recht der Menschheit und prinzipiell für alle wünschenswert.

1.6

Was bedeutet Nachhaltigkeit als ethisches Prinzip?

Wie Hans Jonas (1979, S. 186 f.) postuliert, ist es das erste Gebot der Verantwortung, die Existenz der Menschheit zu sichern. Dass dieses selbstverständlich erscheinende „Urgebot“ ausdrücklich genannt werden muss, ist dem Umstand geschuldet, dass den Menschen in den letzten Jahrzehnten zu Bewusstsein gekommen ist, wie sehr der Planet Erde durch ihr Handeln bedroht ist. In ökonomischen Kategorien gesprochen geht das Angebot an natürlichen Ressourcen und „Dienstleistungen“ des Ökosystems zurück, während zugleich die Nachfrage nach diesen Ressourcen und Dienstleistungen durch die zunehmende Weltbevölkerung und einen verschwenderischen Lebensstil steigt. Die Erkenntnis, dass sich die Menschen durch eine ungehemmte Ausbeutung natürlicher Ressourcen letztlich selbst schaden, ist nicht neu. Schon im 18. Jahrhundert wurde die nachhaltige Waldbewirtschaftung propagiert (vgl. Pufé 2012, S. 28 f.). Nachdem für den Häuser- und Schiffsbau, Kochen und Heizen sowie vor allem für die Erzeugung von

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Holzkohle zur Eisenerzverhüttung die Wälder weitgehend abgeholzt waren, wurde eine Forstreform mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Wälder durch Aufforstung dauerhaft zu erhalten. Nachhaltigkeit ist seinem Ursprung nach also ein (ressourcen-)ökonomisches Prinzip. Es ging darum, bestimmte natürliche Ressourcen dauerhaft Ertrag bringend zu nutzen. Heute wird Nachhaltigkeit eher als Prinzip der Ökologie verstanden. Ökonomie und Ökologie befassen sich beide mit dem Oikos, dem Haushalt. Der Fokus der Ökonomie richtet sich jedoch eher auf den menschengemachten Haushalt, den Betrieb, und kreist um das Ziel der bestmöglichen Versorgung der Menschen mit Gütern. Die Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Untersuchungsgegenstand der Ökologie ist dagegen der Haushalt der Natur. Ökologie ist als Teildisziplin der Biologie Naturwissenschaft. Von speziellem Interesse sind für die Ökologie die Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt. Es wurde erkannt, dass Lebewesen und Umwelt in komplexen Wechselbeziehungen stehen und ein sogenanntes Ökosystem bilden, welches auf Dauer nur existieren kann, wenn es sich in einem gewissen Gleichgewicht befindet. Auch der Mensch ist auf die natürliche Umwelt angewiesen. Nachhaltigkeit im ökologischen Sinne bedeutet nicht nur Ressourcenökonomie, sondern Erhaltung gesunder Ökosysteme. Den Unterschied kann man z. B. an den Konzepten der Waldbewirtschaftung erkennen. Geht es nur um die Möglichkeit, den Wald auch weiterhin wirtschaftlich nutzen zu können, dann wird man ihn mit schnell wachsenden Nadelbäumen in Reih und Glied systematisch aufforsten, unerwünschten Wildwuchs und Totholz entfernen, Schädlinge mit Pestiziden bekämpfen. Genau das wurde auch gemacht. Erst in jüngerer Zeit wurde die Bedeutung des Ökosystems „Wald“ entdeckt. Das gesunde Ökosystem besteht aus einer Mischung verschiedener Laub- und Nadelbäume, es gibt „Wildwuchs“ am Boden und Totholz, Feuchtbiotope, vielerlei Insekten und andere Tiere. Auf den ersten Blick widersprechen sich Ökonomie und Ökologie. Bei umfassenderer und längerfristiger Betrachtung lösen sich die Widersprüche allerdings zum großen Teil auf. Ein gesundes Ökosystem Wald kommt bspw. viel besser mit dem Klimawandel zurecht und widersteht Orkanen. Die Erhaltung der Biodiversität als Teilziel der ökologischen Nachhaltigkeit dient dazu, die Möglichkeit zukünftiger noch unbekannter wirtschaftlicher Nutzungen natürlicher Ressourcen zu ermöglichen. Werden neben den materiellen Ressourcen auch die „Dienstleistungen“ der Natur in den Blick genommen, wie etwa die Bereitstellung von Sauerstoff oder die Kühlung des Klimas durch Wälder oder auch ihr Erholungswert für die Menschen, dann schneiden die ökologisch gesünderen Wälder auch ökonomisch besser ab. Zu einer nachhaltigen Entwicklung werden schließlich heute neben Ökonomie und Ökologie auch soziale Ziele wie Frieden, Sicherheit und Wohlstand, Demokratie, Gesundheit und Bildung gezählt. „Nachhaltigkeit“ ist damit zu einem Überbegriff für beinahe alles geworden, was ein „gutes Leben“ ermöglicht und damit prinzipiell für alle wünschenswert ist, auch für künftige Generationen. Diese Erweiterung kommt im sog. „Nachhaltigkeitsdreieck“ von Ökonomie, Ökologie und Sozialem zum Ausdruck (vgl. Pufé 2012, S. 112 f.). Die Idee dahinter: Ökonomie, Ökologie und Soziales sind gleichermaßen wichtig für ein lebenswertes Leben und bilden nur gemeinsam ein ganzheitliches und

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nachhaltiges Zukunftskonzept. Nachhaltigkeit kann nicht einseitig als „Maximierung des Umweltschutzes“ aufgefasst werden. Denn die wachsende Weltbevölkerung braucht bspw. zur Erzeugung von ausreichenden Nahrungsmitteln auch umfangreiche bewirtschaftete und kultivierte Ackerflächen. Es muss wirtschaftlicher Wohlstand erarbeitet werden, um ein gutes Bildungs- und Gesundheitssystem finanzieren zu können. Gute wirtschaftliche Verhältnisse tragen wiederum zu Sicherheit und Frieden bei. Zugleich darf die wirtschaftliche Entwicklung nicht länger mit der Zerstörung der Umwelt einhergehen, denn die Erhaltung eines gesunden Ökosystems Erde ist die Grundvoraussetzung dafür, dass auch in der Zukunft menschliches Leben möglich bleibt. Eine solche nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen, liegt auch in der Verantwortung der Wirtschaft bzw. der Wirtschaftsakteure. Doch wo setzt man an, um unsere Wirtschaft nachhaltiger zu machen? Bei der Wirtschaftsordnung, also dem Markt und dessen politischer Reglementierung? Bei den einzelnen Wirtschaftsakteuren, bspw. den Konsumenten? Bei den Unternehmen als den zentralen Institutionen unserer Wirtschaft? Diese Frage wird unterschiedlich beantwortet, wie jetzt zum Thema wird.

2

Wirtschaftsordnungsethik, Konsumentenethik und Unternehmensethik

2.1

Der Ordnungsrahmen der Marktwirtschaft

Seit Adam Smith ist eine zentrale Idee der Marktwirtschaft, dass die Eigenliebe der Akteure innerhalb eines Marktes von selbst das Gemeinwohl erzeugt (vgl. 1993, S. 17). In einer perfekt funktionierenden Marktwirtschaft darf, ja, soll der einzelne Unternehmer sein Eigeninteresse in Form einer Maximierung des Gewinns verfolgen. Als Nebeneffekt des Gewinnstrebens findet eine optimale Güterversorgung bei gleichzeitig sparsamer Ressourcenverwendung statt. Wirtschaftsethik spielt sich nur auf der Makroebene der Wirtschaftsordnung ab. Auf eine moralische Gesinnung der Unternehmen (Mesoebene) kann man völlig verzichten. Das gilt allerdings nur unter zahlreichen realitätsfernen Prämissen: Für alle Ressourcen lassen sich Eigentumsrechte definieren und kostenlos durchsetzen, es gibt keine sog. externen Effekte und keine Kosten der Markbenutzung (Transaktionskosten). Die Unternehmen gehen im Eigeninteresse sparsam mit Ressourcen um. Die Käufer sind über alle Bedingungen der Transaktion vollkommen informiert (vollkommene Transparenz) und es herrscht vollkommene Konkurrenz. Das heißt, die Käufer können schnell und kostenlos auf alternative Anbieter ausweichen und so das Angebot lenken. Der Preis spiegelt den Nutzen eines Angebotes wider. In der Realität stimmt keine dieser Voraussetzungen. Für zahlreiche Ressourcen lassen sich gar nicht oder nur unter exorbitanten Kosten Eigentumsrechte definieren. Gerade die Umwelt galt lange Zeit als freies und damit kostenloses Gut. Umweltschäden konnten „externalisiert“, d. h. aus den betrieblichen Rechnungen weggelassen werden. Auch wenn

Unternehmensethik als Basis einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung

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man heute versucht, der Umwelt einen Preis zu geben, bspw. indem Unternehmen „Verschmutzungsrechte“ kaufen müssen, gelingt diese „Einpreisung“ der Umwelt nur marginal. Die Abholzung des brasilianischen Urwaldes zur Gewinnung von Weideflächen beeinträchtigt bspw. über die Klimafolgen und die Reduktion der Biodiversität praktisch alle Menschen auf der Welt. Aber diese Wirkung ist sehr schwer zu messen, langfristige Folgen sind schwer absehbar, teilweise auch noch umstritten. Die Frage bleibt: Wer soll dafür einen Preis bestimmen und durchsetzen? Der vom deutschen „Klimakabinett“ jüngst beschlossene Preis für den Ausstoß einer Tonne CO2 ist jedenfalls hoch umstritten und gilt vielen Experten als zu niedrig. Und selbst wenn es Preise für Ressourcen gibt, ist es nicht unbedingt im Eigeninteresse der Unternehmen, sparsam damit umzugehen. Solange die Käufer bereit sind, dafür zu zahlen, ergibt durchaus eine gewisse „Ressourcenverschwendung“ Sinn. Man denke etwa an den Siegeszug der besonders schweren und spritfressenden SUVs im Automarkt. Die Nachfrager ermutigen mit ihren Entscheidungen für solche Autos die Hersteller, weiter auf diese wenig nachhaltigen Produkte zu setzen, ja, das Angebot noch auszuweiten. Die Marktbenutzung ist auch nicht kostenlos, erzeugt vielmehr sog. Transaktionskosten, bspw. Such- und Verhandlungskosten. In vielen Märkten beherrschen überdies nur wenige große Anbieter das Geschehen (Oligopol) oder es gibt sogar nur einen Anbieter (Monopol). Vollkommene Konkurrenz in Reinform gibt es praktisch überhaupt nicht, denn fast immer haben die verschiedenen Angebote aus Sicht der Kunden eine gewisse Spezifität und sind damit nicht beliebig austauschbar. Das erzeugt eine Machtasymmetrie zwischen den Wirtschaftsakteuren, die ausgenutzt wird. In der Regel ist der Nachfrager in der schwächeren Position, weil er nicht ohne weiteres auf andere Anbieter ausweichen kann. Asymmetrisch verteilt sind in der Regel auch die Marktinformationen. Von Markttransparenz kann oft keine Rede sein. Auch in dieser Hinsicht befinden sich die Kunden meist im Nachteil. Und nicht die objektive Nützlichkeit eines Produktes bestimmt über den Preis das Angebot, sondern die hinter dem Bedürfnis nach diesem Produkt stehende Kaufkraft ist das entscheidende Marktsignal. So kann es passieren, dass in den reichen Ländern die Haustiere sehr viel besser ernährt und medizinisch versorgt sind als viele Kinder in den armen Ländern. Die Erfüllung der objektiv dringlichsten Bedürfnisse ist eben nicht das oberste Ziel eines Unternehmens in der Marktwirtschaft, sondern die Gewinnerzielung. Die Politik versucht mithilfe verschiedener Steuerungsinstrumente (Gesetzgebung, finanzielle Anreize, Steuern, öffentliche Unternehmen usw.) bessere Marktergebnisse zu erzeugen. „Moralökonomen“ sehen in einer solchen Änderung der politischen Rahmenbedingungen den einzig sinnvollen Ansatzpunkt, um die Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit zu bewegen. Appelle an die Moral der Wirtschaftsakteure seien dagegen sinnlos. Aber, so ist dagegen einzuwenden, die Rahmenordnung ist zu keinem Zeitpunkt so vollkommen und eindeutig, dass es nicht zahlreiche Schlupflöcher für weniger moralische Akteure geben würde. Und natürlich ist auch zu fragen, wie es mit der Individualmoral der politisch Verantwortlichen aussieht. Was passiert, wenn mühsam erarbeitete Maßnahmen zum ­Klimaschutz von Politikern torpediert werden, weil es ihnen um die Stimmenmaximierung und nicht um das Gemeinwohl geht?

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E. Göbel

Der Ordnungsrahmen der Marktwirtschaft kann alleine nicht dafür sorgen, dass nachhaltig gewirtschaftet wird, auch nicht, wenn er politisch korrigiert und ergänzt wird. Außerhalb der Modellwelt des perfekten Marktes sind vielmehr moralische Entscheidungen von den Marktakteuren gefragt.

2.2

Verantwortung der Individuen: Konsumentenethik

Häufig wird die entscheidende individuelle moralische Verantwortung für die Marktergebnisse vorrangig oder sogar ausschließlich den Konsumenten zugewiesen (Mikroebene der Wirtschaftsethik). Sie bestimmten schließlich – so die Argumentation – über ihre Kaufentscheidungen, was und wie produziert werde. Der souveräne Konsument sei allein verantwortlich für die Marktergebnisse. Diese These gilt allerdings wiederum nur unter den Bedingungen des idealen Marktes. Sind die Käufer über alle Aspekte eines Angebotes vollkommen informiert und können problemlos und kostenlos auf alternative Angebote ausweichen, dann tragen sie tatsächlich über ihr Kaufverhalten die Hauptverantwortung für die Marktergebnisse. Diese Bedingungen sind, wie oben bereits dargestellt, in der Realität aber nicht annähernd erfüllt. Die Käufer sind häufig nicht ausreichend über die Produkte und vor allem über die Produktionsbedingungen informiert. Bei komplexen mehrstufigen Lieferketten ist es äußerst schwierig, sich ein realistisches Bild von den ökologischen und sozialen Folgen des Konsums bestimmter Produkte und Dienstleistungen zu machen. Selbst Experten sind oft uneins über die sog. Ökobilanz bestimmter Produkte. Wie der institutionenökonomische Ansatz der Principal-Agent-Theorie lehrt, besteht überdies für die Anbieter im Markt (Agenten), die Verlockung, die Konsumenten (Principal), vorsätzlich zu belügen und zu täuschen. Einem Hühnerei sieht man bspw. nicht an, ob es tatsächlich aus biologischer Haltung stammt. Da für Bioeier ein höherer Preis verlangt werden kann, ist die Versuchung groß, Eier aus konventioneller Haltung einfach als Bio-Ware zu deklarieren und so einen hohen Gewinn einzustreichen. Recherchen haben ergeben, dass das tatsächlich millionenfach geschieht. Solche Täuschungen der Verbraucher sind zu einem guten Teil nicht einmal illegal. So dürfen Produkte als „regional“ vermarktet werden, auch wenn nur die Verarbeitung in der Region stattfindet, die Rohstoffe aber aus der ganzen Welt stammen. Wie viele Kilometer Transportwege tatsächlich in einem regionalen Produkt stecken, ist für die Käufer nicht ersichtlich. Legal ist es auch, Produkte bewusst so zu gestalten, dass sie nach kurzer Zeit kaputtgehen und ersetzt werden müssen. Oft könnten technische Geräte mit sehr wenig Aufwand und zu marginalen Kosten deutlich langlebiger gemacht werden, was aber nicht im Interesse der Anbieter liegt. Neben dem Informationsproblem hat der Kunde auch noch oft das Problem, dass er nicht ohne weiteres auf alternative Angebote ausweichen kann. Da ist zum einen die Einschränkung durch ein begrenztes Budget. Ökologisch erzeugte und/oder langlebigere Produkte sind oft teurer und nicht für jeden Konsumenten erschwinglich. Zum anderen gibt es oft gar kein Angebot für nachhaltige Waren oder Dienstleistungen. Der öffentliche Nahverkehr kommt so bspw. für

Unternehmensethik als Basis einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung

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viele Menschen, die auf dem Land leben, gar nicht ernsthaft als Alternative in Frage, weil Bus und Bahn gar nicht oder selten fahren und deutlich teurer als der private PKW sind. In der Welt des idealen Marktes kommen auch keine Monopole vor, welche in der Realität ein Ausweichen auf Alternativen verhindern. Trotz all dieser Hindernisse kann man die Konsumenten natürlich nicht von jeglicher Verantwortung freisprechen. In der Rolle als Käufer sind wir alle und alltäglich Akteure im Wirtschaftssystem und insofern auch mitverantwortlich für die Marktergebnisse. Nicht von ungefähr beginnt der erste Band des vierbändigen „Handbuchs der Wirtschaftsethik“ mit einer kritischen Reflexion der Bedürfnisse sowie der Mahnung an die Konsumenten, ihre Mündigkeit und Freiheit gegenüber einer verlockenden und verführenden Außenlenkung durch die Warenwelt zu behaupten und ihren Konsum nachhaltiger zu gestalten (vgl. Korff 1999). Ob das gelingt, hängt aber auch von Maßnahmen ab, die von anderen Akteuren auf anderen Ebenen der Wirtschaftsethik ergriffen werden, allen voran von den Unternehmen.

2.3

Unternehmensethik: Sind Unternehmen moralfähig?

In der Modellwelt des vollkommenen Marktes sind die Unternehmen reine Anpasser an die von anderen diktierten Bedingungen und deshalb auch nicht für die Marktergebnisse verantwortlich zu machen. Wir alle wissen, dass die Unternehmen in der Realität große Spielräume für eigene Entscheidungen haben. Das Fach Betriebswirtschaftslehre (BWL) mit seinen Empfehlungen für Produktstrategien, Marketinginstrumente, Beschaffungspolitik, Standortwahl, Rechtsformgestaltung usw. wäre vollkommen überflüssig, wenn es keine freien Entscheidungen in den Unternehmen gäbe, die so oder auch anders getroffen werden können. Das heute vorherrschende Wissenschaftsprogramm der entscheidungsorientierten BWL zielt darauf ab „zur Verbesserung der Entscheidungen in der Betriebswirtschaft“ beizutragen (Heinen 1969, S. 209). Ob eine Entscheidung „besser“ als eine andere ist, kann natürlich nur im Hinblick auf bestimmte Ziele beurteilt werden. Wird das Ziel der Gewinnmaximierung vorausgesetzt, dann ist eine Entscheidung „gut“, welche Kosten senkt oder höhere Einnahmen beschert. Dann erscheint bspw. die Entscheidung „rational“ bzw. „gut“, den Urwald in Brasilien weiter abzuholzen, um Flächen für die gewinnbringende Rinderzucht urbar zu machen. Um eine ethisch-normative Diskussion im Rahmen der BWL auszuschließen, wurde das Ziel der Gewinnmaximierung als „gegeben“ hingenommen und nur die „praktische Rationalität“ bestimmter Entscheidungen bewertet (Heinen 1969, S. 209). Man spricht auch von praktisch-normativen Empfehlungen im Gegensatz zu evaluativ-normativen Empfehlungen und reklamiert für sich, wertfreie Wissenschaft zu betreiben. Aber natürlich ergreift die BWL damit Partei für bestimmte Interessen und gegen andere. Das Ziel der Nachhaltigkeit vorausgesetzt ist die Entscheidung zur weiteren Abholzung des b­ rasilianischen Regenwaldes ein katastrophaler Fehler, der sehr vielen Menschen massiv schadet. Es ist reine Ideologie so zu tun, als ob sich Unternehmen quasi in einem moralfreien Raum bei ihren

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E. Göbel

Entscheidungen bewegen würden. Der Anspruch „das Gute zu tun und das Böse zu lassen“ trifft sie genauso wie alle anderen Wirtschaftsakteure. Aber, so könnte man einwenden, trifft dieser moralische Anspruch nicht ausschließlich die Entscheider in den Unternehmen, also die einzelnen Führungskräfte? Inwiefern ist die Rede von der „Unternehmens­ ethik“ überhaupt zulässig? Sind Unternehmen moralfähig? Auch jenseits der Wirtschaftsethik gibt es zahlreiche „Personifizierungen“ der Unternehmen. Rechtlich gesehen sind sie juristische Personen mit einem Eigennamen (Firma), Unternehmen können wie eine Person Verträge schließen, Aufträge erteilen, Einkommen erzielen usw.. Unternehmen haben ein eigenes Image, eine Reputation, sie können gerichtlich belangt werden, sie wenden sich als Unternehmen mit Verlautbarungen an die Öffentlichkeit und werden auch von der Öffentlichkeit als Akteure wahrgenommen. Unternehmen sind also in gewisser Weise als Subjekte identifizierbar, die eine stabile Identität aufweisen. Ein Unternehmen existiert unabhängig von bestimmten Personen, welche gerade für das Unternehmen arbeiten. Es ist insofern zulässig zu sagen, dass das Unternehmen Entscheidungen trifft. Bei diesen Unternehmensentscheidungen gibt es Freiräume, sie sind nicht extern determiniert. Die einzelnen Entscheidungen werden zwar faktisch immer von Personen getroffen, aber man kann vor allem bei den Entscheidungen im laufenden Geschäft mit Fug und Recht von „Unternehmensentscheidungen“ sprechen. Das Unternehmen hat eine innere Struktur, welche die Entscheidungen der Individuen im Unternehmen stark beeinflusst und kanalisiert. Zu dieser inneren Struktur gehören strategische Pfade, die eingeschlagen wurden, Maschinen, Gebäude, Mitarbeiter, Technologien, Informationssysteme, Verfahrensweisen, Anreizsysteme, Verträge, Partnerschaften, kulturelle Werte und Normen usw. Es ist auch durchaus üblich davon sprechen, dass das Unternehmen „intentional“ handelt und bspw. Märkte erobert oder verlässt, Mitarbeiter einstellt oder entlässt, die Umwelt schützt oder verschmutzt. Der einzelne Manager kann sich genötigt sehen, im Namen der Unternehmung Entscheidungen zu treffen, die er als Privatmensch bedauert. Diese innere Struktur ist wiederum intentional veränderbar. Man spricht auch vom „organisationalen Lernen“. Sind Entscheidungen des Unternehmens unbefriedigend, sei es nun ökonomisch oder moralisch, dann fragt man sich, welche Rahmenbedingungen zu diesen Entscheidungen geführt haben und versucht, diese entsprechend zu korrigieren, um in Zukunft bessere Entscheidungen zu treffen. Das Unternehmen agiert also quasi intentional und frei und ist dabei einsichts- und lernfähig. Außerdem haben Unternehmen die Macht, mit ihren Entscheidungen Wirkungen in Bezug auf zahlreiche andere Menschen zu erzeugen, die diesen nutzen aber auch schaden können. Und darum haben sie auch Verantwortung und sind verpflichtet, sich über die Folgen ihrer Entscheidungen Gedanken zu machen. Um in Zukunft bessere, bspw. ökologisch nachhaltigere Entscheidungen zu treffen, reicht es nicht, dass einzelne Personen im Unternehmen mehr Umweltbewusstsein entwickeln. Das Unternehmen selbst muss seine Moralfähigkeit verbessern und ein ökologisches Gewissen bekommen. Dazu muss das Unternehmen die innere Struktur verändern und eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung auf allen Ebenen des Unternehmens verankern (Göbel 2017, S. 205–268). Dazu gehört die vertikale Integration über die

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verschiedenen Ebenen der Unternehmensplanung ebenso wie die horizontale Integration der einzelnen Schritte im Leistungsprozess und die Abstimmung aller Führungssubsysteme auf das Ziel der Nachhaltigkeit.

3

 ertikale Integration – von der normativen zur V operativen Ebene

3.1

Unternehmensleitbild

An der Spitze der Zielhierarchie in den Unternehmen steht in der Regel eine allgemein und grundsätzlich gehaltene Vorstellung von der künftigen Rolle des Unternehmens (vgl. Bea und Haas 2017, S. 74). In einem sog. Unternehmensleitbild, auch Unternehmensphilosophie oder Vision genannt, legen die Unternehmen die langfristigen Ziele, die grundlegenden Werte und Verhaltensgrundsätze fest, welche der Unternehmenspolitik die Richtung weisen. Es ist so etwas wie ein normativer Grundrahmen. Praktisch alle großen Unternehmen haben sich mittlerweile in ihren Leitbildern zu Corporate Social Responsibility verpflichtet und nennen Nachhaltigkeit als Ziel. Es besteht der Verdacht, dass mit solchen Worten nur eine Imageverbesserung angestrebt wird, weil man heute um Begriffe wie „Nachhaltigkeit“ kaum noch herumkommt. Trotzdem ist es natürlich richtig, schon auf der Ebene der obersten Grundsätze und Leitlinien, die Verpflichtung zur Nachhaltigkeit anzusprechen. Dass es sich nicht nur um ein Lippenbekenntnis handelt, wird überzeugender, wenn das Ziel im Leitbild weiter konkretisiert wird. Beim Hersteller von Reinigungsmitteln der Marke „Frosch“, der Firma Werner & Mertz, wird das Nachhaltigkeitsziel bspw. so konkretisiert, dass man den „Schutz von Gewässern“, die „Schonung von Ressourcen“ und die Entwicklung einer „intelligenten Verpackung“ anstrebt. Auch die Zusammenarbeit mit wichtigen Stakeholdern, wie bspw. dem Naturschutzbund, und die ständige Kontrolle durch verschiedene Zertifizierungsstellen macht die Verpflichtung glaubwürdiger.

3.2

Strategien

Die langfristigen Ziele müssen auf der nächsten Ebene in Strategien umgesetzt werden. Als Strategien bezeichnet man die fundamentalen Entscheidungen darüber, in welchen Bereichen und mit welchen Mitteln ein Unternehmen seine Ziele erreichen und seinen langfristigen Erfolg sichern will. Strategische Entscheidungen betreffen bspw. die Wahl von Produkt-Markt-Kombinationen, die Entscheidung über organisationale Grenzen und Partnerschaften, über Lieferketten, Produktionsverfahren und Standorte. Im Rahmen der Wettbewerbsstrategie wird auch festgelegt, wie man Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz erreichen will. Vereinfacht gesagt kann ein Unternehmen eine Leistung billiger (Kostenführerstrategie) oder besser (Differenzierungsstrategie) anbieten als die

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E. Göbel

Wettbewerber. Und es kann versuchen, den Massenmarkt zu bedienen oder sich auf eine bestimmte Käufergruppe zu konzentrieren (Nischenstrategie). Die Firma Werner & Mertz konzentriert sich mit der Marke „Frosch“ nach eigenen Angaben auf Marktnischen, spricht konkret die besonders umweltbewussten Verbraucher an, die bereit sind, auch etwas mehr Geld für umweltverträglichere Reinigungsmittel auszugeben. Das Ziel „Schonung von Ressourcen“ wird unter anderem in der Strategie konkretisiert, nach Alternativen zum tropischen Palmkernöl zu suchen und Tenside aus europäischen Ölpflanzen wie Raps oder Flachs zu gewinnen. Das erfordert eine entsprechende Forschungs- und Entwicklungsstrategie sowie den Aufbau neuer Lieferketten. Weitere Strategien betreffen bspw. die Energieeinsparung bei der Produktion oder die Herstellung der Kunststoffflaschen aus Recyclingmaterial. Dazu sind wiederum strategische Partnerschaften nötig, bspw. mit Firmen, die zur besseren Sortierung von Plastikmüll beitragen oder mit Herstellern von Verpackungen aus Recyclingkunststoff.

3.3

Operative Ebene

Die Strategien als richtungsweisende und langfristige Handlungsmuster müssen schließlich noch auf die operative Ebene heruntergebrochen werden. Die Mitarbeiter müssen wissen, was sie konkret heute und morgen tun sollen, um die Strategien tatsächlich umzusetzen. Die strategische Entscheidung, vom tropischen Palmkernöl als Rohstoff wegzukommen, erfordert bspw. im Einzelnen die Vergabe von Forschungsaufträgen zur Erkundung der Eigenschaften europäischer Ersatzöle, die Entwicklung und Erprobung von neuen Produkten auf Basis dieser Öle, die Verhandlung mit Lieferanten der alternativen Rohstoffe, Entscheidungen über die Logistik der Zulieferung, Verhandlungen mit dem Einzelhandel über die Präsentation der neuen Produkte usw. Erst wenn die Vision auf der operativen Ebene Tag für Tag umgesetzt wird, gewinnt sie konkrete Gestalt und wird mehr als eine wohlfeile Absichtserklärung.

4

Horizontale Integration – der strategische Fit

4.1

Der Leistungsprozess

Wenn die Ökologie etwas lehrt, dann dass in funktionierenden Ökosystemen alles mit allem zusammenhängt. Veränderungen an einem Teil des Gesamtsystems bleiben in der Regel nicht isoliert, stoßen vielmehr vielfältige Veränderungen auch in anderen Teilsystemen an. Eine kleine Veränderung kann sich so fortpflanzen und verstärken, dass am Ende das alte System überhaupt nicht mehr lebensfähig ist. Diese Erkenntnis findet im strategischen Management ihren Niederschlag, im sog. „Fit“-Gedanken, nämlich dass alle ­Führungssubsysteme aufeinander abgestimmt werden müssen. Alle Teilsysteme müssen zueinander passen. Dieses integrativ-systemische Denken dominiert im Konzept des

Unternehmensethik als Basis einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung

63

strategischen Managements (vgl. Bea und Haas 2017, S. 17 f.). Die Abstimmung ist zunächst zwischen den Einzelschritten des Leistungsprozesses erforderlich, weiterhin aber auch zwischen dem Leistungsprozess im engeren Sinne und den weiteren Führungssubsystemen, wie der Organisationsstruktur, der Unternehmenskultur, dem Personalmanagement und den Informations- und Kontrollsystemen. Als Erstes wird die Abstimmung im Leistungsprozess zum Thema. Das Ziel, ein nachhaltiges Produkt, bspw. ein Reinigungsmittel, herzustellen, macht es erforderlich, die eigene Wertschöpfungskette ganzheitlich zu betrachten. Es beginnt zum Beispiel mit der Umstellung auf neue Rohstoffe und neue Lieferanten im Rahmen der Beschaffung und geht über nachhaltigere Produktionsverfahren bis hin zu umweltfreundlicheren Verpackungen und Vertriebswegen. Das integrativ-systemische Denken erfordert eigentlich, die Grenzen des eigenen Unternehmens zu überschreiten und auch noch die Lieferanten der Lieferanten sowie die Endverbraucher und die Entsorgung in den Blick zu nehmen. Um bspw. eine Baumwollbluse als „nachhaltig“ auszuzeichnen, müssten neben dem Zuschneiden und Nähen der Bluse auch schon der Baumwollanbau sowie alle Veredelungsschritte (Weben, Bleichen, Färben) betrachtet werden sowie die Wiederverwendung nach der Entsorgung. Das gesamte Liefernetzwerk bis zum Ursprung der Rohstoffe zu durchdringen, ist eine äußerst komplexe Angelegenheit und führt immer wieder zu Überraschungen. Ein Baumwollbeutel als Einkaufstasche ist aufgrund der hohen Emissionswerte beim Baumwollanbau bspw. erst dann wirklich umweltfreundlicher als eine Papiertasche oder ein Plastikbeutel, wenn er mindestens dreißig Mal benutzt wird. Bei der Herstellung von sog. Bioplastik wird Mais verwendet. Werden die Folgen dieses Anbaus (Düngerherstellung, weniger Biodiversität auf den Feldern, Lieferwege usw.) einbezogen, dann ist Bioplastik gar nicht nachhaltig. Das Denken in ganzheitlichen Prozessen ist aufwendig, aber unumgänglich, wenn die Nachhaltigkeit wirklich ernsthaft verbessert werden soll.

4.2

Die Organisationsstruktur

Die Organisationsstruktur eines Unternehmens legt längerfristig fest, wer welche Teilaufgaben zu erfüllen hat, wer wem über- oder untergeordnet ist, wer sich mit wem abstimmen muss, wer wen über was informieren muss. Es geht um die generellen und relativ stabilen Normen zur Arbeitsteilung und Koordination. Das Ziel einer nachhaltigeren Unternehmenspolitik kann sich in zweierlei Hinsicht in der Struktur niederschlagen. Zum ersten muss untersucht werden, ob die vorhandene Struktur eine nachhaltige Unternehmensführung behindert. Eine strikte und kleinteilige Arbeitsteilung behindert bspw. das oben geforderte ganzheitliche Denken in Prozessen. Es lädt auch dazu ein, Verant­ wortung auf andere abzuschieben. Eine steile Hierarchie lässt nur wenig kritische In­ forma­tionen von der Basis bis zur Führungsetage durchdringen. Mitarbeiter, die nur ­Befehlsempfänger sind, werden auch kaum aktiv Verbesserungsvorschläge machen. Die Mitarbeiter werden entmutigt, sich selbst Gedanken zu machen, möglicherweise sogar zu

64

E. Göbel

Handlungen genötigt, die sie als Privatmenschen ablehnen würden. Ein Abbau solcher Verantwortungsbarrieren ist also ein erster Schritt zu mehr Nachhaltigkeit. Zum zweiten können aktiv Organisationsstrukturen zur Umsetzung des Nachhaltigkeitsziels aufgebaut werden. Viele Unternehmen haben inzwischen eigene Beauftragte oder ganze Abteilungen eingesetzt, welche sich mit der ganzen Bandbreite der Unternehmensverantwortung oder auch mit speziellen Themen befassen. Teilweise sind solche Stellen sogar gesetzlich vorgeschrieben, wie bspw. ein Gewässerschutzbeauftragter für alle Unternehmen, die eine bestimmte Mindestmenge Abwasser in Gewässer einleiten. Letztlich ist zwar gewünscht, dass sich alle Mitarbeiter für die Nachhaltigkeit einsetzen und nicht nur einzelne Beauftragte, aber es ist auch sinnvoll, ausdrücklich Verantwortliche für bestimmte Teilaufgaben zu benennen, damit Nachhaltigkeitsziele auch tatsächlich umgesetzt werden.

4.3

Die Unternehmenskultur

Eine Orientierung am Ziel der Nachhaltigkeit kann leicht ein rein oberflächliches Lippenbekenntnis bleiben, welches nur mögliche Kritiker beruhigen und das Image des Unternehmens verbessern soll. Soll Nachhaltigkeit im Unternehmen gelebter Alltag werden, dann muss die Kultur des Unternehmens entsprechend ausgerichtet werden. Man sagt auch: Es muss sich in den Köpfen etwas verändern. Als Unternehmenskultur bezeichnet man die tatsächlich gelebten Werte, Normen und Grundannahmen in einem Unternehmen, die teilweise erheblich von den offiziellen Bekenntnissen abweichen können. Auch bei der Unternehmenskultur kann gefragt werden: Behindert die bestehende Kultur eine Umsetzung des Nachhaltigkeitsziels? Der Dieselskandal bei VW wurde nach Meinung der Mitarbeiter bspw. durch eine „Kultur der Angst“ vor den obersten Managern befördert. Es war klar, dass aus Sicht des obersten Managements der ökonomische Erfolg die Richtschnur für die Beurteilung ihrer Mitarbeiter war und nicht die Nachhaltigkeit, und keiner hatte den Mut, auf die Diskrepanz zwischen den offiziell vertretenen Werten und den ökonomischen Zielen hinzuweisen. Stattdessen wurde eben „geschummelt“, um zumindest nach außen hin dem Umweltschutzziel gerecht zu werden und gleichzeitig hohe Umsatzzahlen zu generieren. Passt die bestehende Kultur nicht zum Nachhaltigkeitsziel, dann muss sie verändert werden. Es ist nicht einfach, eine bestehende Kultur gezielt zu ändern. Was möglicherweise seit Jahrzehnten in einem Unternehmen gilt und durch die Führungskräfte vorgelebt wird, ist tief verwurzelt und entsprechend hartnäckig. Ein glaubwürdiger Neuanfang ist oft nur durch ein neues Topmanagement möglich. Dieses muss zum einen Nachhaltigkeit offiziell zum zentralen Unternehmensziel erklären, bspw. im Unternehmensleitbild. Zum anderen müssen dieser Deklaration dann in allen Subsystemen des Unternehmens K ­ onsequenzen folgen, bspw. in der Struktur, im Personalmanagement und in den Kontrollsystemen. Und vor allem müssen die Manager vorleben, dass sie es ernst meinen.

Unternehmensethik als Basis einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung

4.4

65

Das Personalmanagement

Ein wichtiger Ansatzpunkt zur Überzeugung der Mitarbeiter von der Ernsthaftigkeit des Engagements für mehr Nachhaltigkeit ist das Motivations- und Anreizsystem. Mitarbeiter registrieren sehr genau, wer für was gelobt, belohnt und befördert wird. Wenn bspw. immer diejenigen im Unternehmen reüssieren, die am meisten Kosten einsparen, und sei es zum Preis von mehr Umweltverschmutzung, dann werden sich die wenigsten Mitarbeiter selbst schaden wollen, indem sie Mehrkosten verursachen, um die ökologische Nachhaltigkeit zu verbessern. Schon bei der Rekrutierung der Mitarbeiter sollte es überdies eine Rolle spielen, ob Nachhaltigkeit im Wertesystem des Bewerbers einen wichtigen Platz einnimmt, sodass er sich mit der entsprechenden Unternehmenspolitik identifizieren kann. Zum sozialen Aspekt der Nachhaltigkeit passt weiterhin nur eine Personalpolitik, die in sich gerecht ist, bspw. gleichen Lohn für gleiche Arbeit bietet, niemanden ausbeutet und die Vielfalt der Gesellschaft ohne Diskriminierungen widerspiegelt.

4.5

Das Informations- und Kontrollsystem

Wer nach innen und außen kontrollieren und kommunizieren will, inwieweit Nachhaltigkeitsziele umgesetzt wurden, braucht entsprechende Kontroll- und Informationssysteme. Je konkreter die Ziele, desto klarer ist auch, was kontrolliert und gemessen werden muss. Wenn es bspw. heißt: „Wir wollen 10 % Energie bei der Produktion einsparen oder unseren Fuhrpark innerhalb von drei Jahren auf Elektromobilität umstellen“, dann ist die Zielerreichung relativ leicht und eindeutig zu messen. Die Definition von Umweltkennzahlen strukturiert die Informationserhebung und erleichtert die Kontrolle. Je schwammiger die Ziele, desto schwieriger die Kontrolle. Man braucht die Messung der Zielerreichung als Basis für die Mitarbeiterbeurteilung nach innen und zur Information der Öffentlichkeit nach außen. Oft ist auch erst nach einer umfangreichen Informationserhebung klar, welche Alternative bei Produkten und Produktionsverfahren tatsächlich nachhaltiger ist. Zur Erstellung einer sog. Ökobilanz bedarf es sehr umfangreicher Recherchen. Vor allem vor den weichenstellenden strategischen Entscheidungen sind solche aufwendigen Recherchen sinnvoll, damit man sich nicht in eine Sackgasse manövriert. Die Güte des Nachhaltigkeitsmanagements hängt entscheidend von der Güte der verwendeten Informationen ab. Eine Kontrolle der Zielerreichung, insbesondere durch neutrale Prüfinstitutionen, kann die Glaubwürdigkeit der Bemühungen erhöhen.

5

Integration der drei Ebenen der Wirtschaftsethik

Weiter oben wurde bereits dargestellt, dass neben den Unternehmen (Mesoebene) weitere Akteure Verantwortung für die Marktergebnisse haben, insbesondere die Politiker als Gestalter der Rahmenordnung (Makroebene) sowie die Konsumenten als Nachfrager

66

E. Göbel

(Mikroebene). Auch zwischen diesen drei Ebenen der Wirtschaftsethik muss es eine Abstimmung geben. Die Unternehmensethik muss in eine unterstützende Rahmenordnung eingebettet werden, welche durch die Politik maßgeblich gestaltet wird. Soll bspw. eine echte Verkehrswende gelingen, dann können die Autohersteller das nicht alleine leisten. Es braucht unter anderem eine veränderte Infrastruktur mit mehr Ladestationen für Elektroautos, mehr und bessere Fahrradwege, einen deutlich erweiterten und verbilligten ÖPNV, gezielte steuerliche Anreize zum Umstieg auf nachhaltigere Mobilität, Ausbau der Stromerzeugung aus regenerativen Quellen, Grundlagenforschung zu alternativen Antrieben, Aufklärung der Verbraucher. Auf der politischen Ebene muss überdies die Balance zwischen ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit besonders beachtet werden. Fallen durch die Umstellung auf nachhaltigere Energien bspw. viele Arbeitsplätze weg, muss die Politik darüber nachdenken, wie durch einen wirtschaftlichen Strukturwandel die sozialen Nachteile für die Betroffenen beseitigt werden können. Auch von Seiten der einzelnen Wirtschaftsakteure, insbesondere der Konsumenten, müssen die Unternehmen bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung unterstützt werden. Sie bestimmen durch ihr Kaufverhalten maßgeblich mit, welche Produkte am Markt erfolgreich sind. Die Flut von Plastiktüten in den Weltmeeren kann bspw. nicht alleine dem Einzelhandel angelastet werden. Die Kunden hätten schon immer die Alternative gehabt, zum Einkauf eigene Taschen mitzubringen, haben das aus Nachlässigkeit und Bequemlichkeit aber nicht getan. Erst nachdem der Einzelhandel auf freiwilliger Basis ein Entgelt für die Tüten verlangt hat, ging der Verbrauch erheblich zurück. Damit der Plastikmüll noch weiter reduziert wird, sind auf nationaler und internationaler Ebene gesetzliche Verbote in Vorbereitung. Damit Nachhaltigkeit gelingt, ist ein enges Zusammenwirken zwischen Politik, Unternehmen und Konsumenten unerlässlich. Und der systemisch-integrative Gedanke führt noch weiter: In Zeiten einer globalisierten Wirtschaft kann die Integration sich nicht mehr auf die Akteure einer Nation beschränken. Vielmehr sind internationale Zusammenarbeit und globale Suprainstitutionen gefragt, um die Nachhaltigkeit voranzubringen. Der Klimawandel als zentrale Herausforderung der nächsten Jahrzehnte fordert ein global abgestimmtes Agieren. Zwar muss jeder bei sich selbst im Kleinen beginnen und nach seiner individuellen Verantwortung handeln. Die Größe der Herausforderung und die Schwere der Bedrohung machen aber letztlich ein integriertes Handeln der Menschheit nötig.

Literatur Bea FX, Haas J (2017) Strategisches Management, 9. Aufl. UVK, Konstanz/München Göbel E (2017) Unternehmensethik, 5. Aufl. UVK, Konstanz und München Habermas J (1991) Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp, Frankfurt am Main Heinen E (1969) Zum Wissenschaftsprogramm der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre. Z Betriebswirtsch 39:207–220 Jonas H (1979) Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Insel, Frankfurt am Main

Unternehmensethik als Basis einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung

67

Kant I (1965) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: v. Vorländer K (Hrsg) Philosophische Bibliothek, Bd 41. Felix Meiner, Hamburg Kant I (1974) Kritik der praktischen Vernunft, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hrsg v Weischedel W, Werkausgabe Bd VII. Suhrkamp, Frankfurt am Main Korff W (1999) Neue Dimensionen der bedürfnisethischen Frage. In: Korff W (Hrsg) Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd 1. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, S 31–50 Pufé I (2012) Nachhaltigkeit. UVK, Konstanz/München Rawls J (1979) Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main Smith A (1993) Der Wohlstand der Nationen, Hrsg v Recktenwald HC. DTB, München Weber M (1988) Politik als Beruf. In: Winckelmann J (Hrsg) Gesammelte Politische Schriften, 5. Aufl. Mohr, Tübingen, S 505–560

Prof. Dr. Elisabeth Göbel  ist apl. Professorin an der Universität Trier im Bereich Management, Organisation, Personal. Nach dem Grundstudium der Wirtschaftswissenschaften an der RWTH Aachen, studierte sie Betriebswirtschaftslehre in Tübingen, wo sie auch promovierte und die venia legendi in BWL erwarb. Schon in der Doktorarbeit beschäftigte sie sich mit dem „Management der sozialen Verantwortung“, also der Unternehmensethik. 2006 erschien bei UTB das Lehrbuch „Unternehmensethik“, welches mittlerweile in der 5. Auflage gedruckt wurde. In zahlreichen weiteren Veröffentlichungen und Lehrveranstaltungen hat sie das Thema der moralischen Verpflichtungen der Wirtschaftsakteure thematisiert. Ein Kerninhalt dieser moralischen Verpflichtung von Unternehmen ist heute, durch ein Nachhaltigkeitsmanagement die Lebensgrundlagen für die kommenden Generationen zu erhalten.

Gelebte Nachhaltigkeitskultur durch integrale Unternehmensführung Anja Grothe und Matthias Teller

1

Einführung – über die Polaritäten hinaus

Die Grundlagen für eine gelebte Nachhaltigkeitskultur legt die Unternehmensleitung durch eine integrale nachhaltige Führung. Die Beziehungsqualität einer solchen Führung zu der Organisation zeichnet sich dadurch aus, dass sie (siehe Abb. 1) • • • •

die Organisation in ihrer Identität als ein lebendiges System wahrnimmt, ein ganzheitliches Managementmodell für seine Aktivitäten in der Organisation nutzt, sich als Mensch mehrdimensional in der Organisation orientiert und der Organisationskultur eine herausragende Bedeutung einräumt.

Dadurch und indem eine solche Führung bewusst über das Rationale hinausgeht, unterscheidet sie sich durch ein erweitertes Bewusstsein gegenüber den herkömmlichen Managementmethoden. Diese These beschreibt den Fokus dieses Beitrags. Nachhaltigkeit ist eine Unternehmensaufgabe, die bereichsübergreifend in die Vision und das Leitbild, die Strategie und in das tägliche Geschäft zu verankern und in der Kultur spürbar zu fördern ist. Eine gelebte Nachhaltigkeitskultur bedeutet, dass jede/r Einzelne im Unternehmen weiß, dass Nachhaltigkeit ein integraler Bestandteil der Unternehmenstätigkeit als auch des eigenen Handelns ist. Diese beruht letztendlich darauf, dass sich die Unternehmensleitung der Verantwortung stellt, auf das Unternehmen mit einem A. Grothe (*) Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Teller SUSTAINUM Consulting, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_5

69

70

A. Grothe und M. Teller

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Abb. 1  Beziehungsqualitäten der Führung zur Organisation

­ ewandelten Bewusstsein zu schauen. Dieses Bewusstsein geht von einem erweiterten g Menschenbild aus und begreift ein Unternehmen als Systemelement in einem sehr viel größeren System, das wir im Folgenden als Mensch-Natur-System bezeichnen werden. Als die Prinzipien, Stile und Methoden des Managements entwickelt wurden, die heute Standard sind, gab es nicht die Welt der exponentiellen Entwicklungen (siehe Abb. 2) und die globalen Herausforderungen des Klimawandels, der Ressourcenverknappung, des ­Bevölkerungswachstums, der Digitalisierung und des Komplexitätsbooms, in der wir heute leben.

Abb. 2  Globale exponentielle Entwicklung. (Quelle: In Anlehnung an Veuve 2015)

Gelebte Nachhaltigkeitskultur durch integrale Unternehmensführung

71

Besonders der Klimawandel, die Ressourcenverknappung sowie die fairen Arbeitsbedingungen, denen mit dem Leitbild der Nachhaltigkeit Rechnung getragen wird, haben die Autonomie der Unternehmen, die im vergangenen Jahrhundert noch sehr das Denken der Führungskräfte bestimmt hatte, erheblich eingeschränkt. Ein Unternehmen, das sich heutzutage nicht als „Element“ des globalen Systems versteht, hat die Zeichen der Zeit (noch) nicht erkannt. Schneidewind spricht in dem Zusammenhang von „Beharrungsvermögen“, denn nachhaltige Entwicklung erfordert im Kern eine „kulturelle Revolution“ (2019, S. 25). Auch die inzwischen große Anzahl von veröffentlichten Nachhaltigkeitsberichten ändert nichts daran, dass das Thema Nachhaltigkeit – was die Implementierung nach innen anbelangt  – in vielen Unternehmen nach wie vor noch kein Selbstverständnis darstellt. Gemäß einer Studie von KPMG zur Nachhaltigkeitsberichterstattung publizieren inzwischen durchschnittlich rund 71 % der 100 größten Unternehmen in 41 untersuchten Ländern Nachhaltigkeitsberichte (2017, S. 3). Eine Analyse dieser macht deutlich, dass die heute dominierende Form des Nachhaltigkeitsmanagements auf den Prüfstand zu stellen ist, da sich am bewertbaren Grad der Nachhaltigkeit der Unternehmen in der Summe nicht wirklich viel verändert hat. So ist gemäß den Berechnungen des International Footprint Network1 der ökologische Fußabdruck der Menschheit so groß, dass wir flächenmäßig 1,5 Erden benötigten. Der Weckruf für Wirtschaft und Managementlehre ist nach Dyllick (2015) bei den Akteuren noch nicht wirklich angekommen. Nachhaltigkeit wird als Begriff weiter „sperrig“ empfunden und erscheint selten als Teil einer gelebten Kultur des Unternehmens. Es läuft diesbezüglich in vielen Unternehmen „etwas schief“, was die Nachhaltigkeitskultur betrifft, denn es gibt zu viele Widersprüche und zu wenig Kommunikation darüber. Oft hören wir bei unseren Unternehmensbesuchen in Gesprächen mit Führungskräften: „wir machen schon viel in Bezug auf Nachhaltigkeit, aber welche Wirkung das hat, das weiß ich nicht“, oder auch, „viele im Unternehmen machen etwas, aber das wird nicht wirklich als Ergebnis eines Nachhaltigkeitsgesamtkonzept kommuniziert“.2 Nachhaltigkeit wird nach innen oft nicht als ganzheitlicher oder gar als integraler Ankerpunkt wahrgenommen, sondern eher als „Stückwerk“ von umweltorientierten Einzelmaßnahmen, die die Mitarbeitenden nicht unmittelbar in Verbindung mit dem Thema sehen. Die Managementforscher Dyllick und Muff (2016, S. 156 ff.) bezeichnen die heute in der Mehrzahl beobachtbaren Nachhaltigkeitsstrategien in Unternehmen als „Business Sustainability 1.0“. Damit ist gemeint, dass sich unternehmerische Nachhaltigkeit überwiegend auf die mit ökonomischen Vorteilen verbundenen Maßnahmen konzentrieren. Beide machen deutlich, dass diese Strategien oft von einer „Inside-Out-Perspektive“ ­getroffen werden und die bestehende Geschäftstätigkeit als Ausgangspunkt nehmen, ohne einen Änderungswillen daran erkennen zu lassen. Die Frage, die sich die Unternehmen  https://www.footprintnetwork.org/our-work/.  Mit den Studierenden des Master Nachhaltigkeits- und Qualitätsmanagement der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin besuchen wir mit jedem Intake mindestens 6 Unternehmen und führen mit den Geschäftsführern diverse Gespräche über den Grad „gelebter Nachhaltigkeit“.

1 2

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A. Grothe und M. Teller

heute stellen sollten, müsste lauten, welche Chancen und Möglichkeiten sich daraus ergeben, einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Nachhaltigkeits-Herausforderungen zu leisten. „Echtes Nachhaltigkeits-Management ist nicht an der Verminderung negativer Auswirkungen der eigenen Tätigkeiten ausgerichtet, sondern an der Schaffung positiver Lösungsbeiträge für gesellschaftliche Nachhaltigkeits-Probleme“ (Dyllick 2015, S. 156 ff.). Hier ist also von einem Bewusstseinswandel die Rede. Denn die Perspektive hin zu Business Sustainability 3.0 beinhaltet, dass Unternehmen sich ihrer Rolle nach innen und nach außen bewusster werden und sich deutlicher damit beschäftigen, wie sie sich wirklich neu aufstellen können, um die „Zukunftskunst“ (Schneidewind 2019, S. 41) der Nachhaltigkeit mit Leben zu füllen. Bei Zukunftskunst geht es auch um das Verständnis, dass es bei komplexen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, wie wir sie gerade erleben, nicht nur um einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn oder um ökologische Verbesserungsinnovationen geht. Zukunftskunst erfordert eine Bewusstseinsveränderung bei den Führungskräften, die mit der institutionellen Verankerung eines neuen Wertegefüges einhergeht. Dieser notwendige Perspektivwechsel wird Auswirkungen darauf haben, wie sich Unternehmen technologisch, institutionell, aber auch kulturell aufstellen. Mit diesen Ausführungen wird auch deutlich: Das alte Pyramidenmodell der hierarchischen Struktur und die Werte des Miteinander, der Achtsamkeit sowie der Genügsamkeit, die in der Nachhaltigkeit enthalten sind, passen oft nicht zusammen. Da, wo das Leistungsprinzip alles bestimmt und ein Unternehmen nach wie vor als Maschine verstanden wird, sind Menschen wie Rohstoffe, die als Ressourcen zum bestmöglichen Output beitragen müssen. So entstehen ein permanenter Widerspruch zu dem postulierten Nachhaltigkeitsleitbild und eine gespürte Unaufrichtigkeit nach innen. Das Dilemma, in dem Unternehmen scheinbar verfangen sind, lässt sich durch die in Abb. 3 dargestellten Polaritäten charakterisieren. Häufig wird versucht, durch Nachbessern, mehr Innovationen und ein besseres Management der Polaritäten mit dem Dilemma zurecht zu kommen. Jedoch führt der Weg heraus aus diesen Polaritäten über ein erweitertes und damit auch gewandeltes Bewusstsein. Denn Abb. 3  Polaritäten zwischen klassischer und nachhaltigkeitsorientierter Unternehmensführung

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Gelebte Nachhaltigkeitskultur durch integrale Unternehmensführung Abb. 4  Schritte der Transzendierung eines klassischen Interessenskonflikts

73



füreinander



miteinander QHEHQHLQDQGHU JHJHQHLQDQGHU

es ist das Bewusstsein, das die Wirklichkeit schafft, in der wir leben. Es ist die Kraft des Bewusstseins, die es uns ermöglicht, bestehende Polaritäten auf eine Ebene zu transzendieren, wo sie aufgehoben werden. Jeder kennt dieses Prinzip der Transzendierung aus dem Konfliktmanagement. Abb. 4 zeigt die Schritte der Transzendierung eines klassischen Polaritätskonflikts. Damit verbunden ist ein Paradigmenwechsel, den Otto Scharmer folgendermaßen charakterisiert: Wir leben in einer Zeit, die vom Verschwinden einer alten Mentalität und Organisationslogik geprägt ist. „Was gerade stirbt und zerfällt, ist eine Welt des Mich-zuerst, des Je-größer-desto-besser und der von Sonderinteressen gesteuerten Entscheidungsfindung, die uns in einen Zustand der organisierten Verantwortungslosigkeit geführt hat. Was gegenwärtig entsteht, lässt sich weniger deutlich umreißen. Es hat zu tun mit der Verschiebung vom Egosystem-Bewusstsein zum Ökosystem-Bewusstsein […]“ (Scharmer 2019, S. 20). Nachhaltigkeit ist per se ein ganzheitlicher und damit systemischer Ansatz, weil das Konzept darauf abzielt, ökonomische, soziale und ökologische Anforderungen in einen möglichst ausbalancierten Zusammenhang zu bringen. Dies ist gleichbedeutend damit, dass gelebte Nachhaltigkeit den Anspruch erfordert, das System Mensch-Natur in eine Stimmigkeit zu führen. Stimmigkeit meint in dem Zusammenhang einen Zustand, indem wir Menschen uns wieder als Teil der Natur begreifen und uns dementsprechend verhalten. Indem wir als Teil des Systems den anderen Systemelementen die gleichen Rechte zubilligen wie uns selbst und indem wir die Werte, die wir im Leben miteinander pflegen auch auf die Natur beziehen. Indem wir der Natur ein Eigenrecht zugestehen, für die uns Menschen aufgrund unserer Handlungsfähigkeit eine besondere Verantwortung zukommt (Jonas 1979, S.  29). Eine Orientierung in Richtung und ein Bemühen um „nachhaltig“ ist zuvorderst eine Frage der inneren Haltung und des Bewusstseins. Vom Egosystem-Bewusstsein zum Ökosystem-Bewusstsein oder vom Ich- zum Wir-Bewusstsein, umfasst ein anderes mentales Modell, das unser „neues“ oder nachhaltigeres Handeln erst ermöglicht. Wir benötigen dazu „nichts weniger“ als eine verbesserte Beziehung zum gesamten System (Scharmer und Käufer 2017, S. 30).

74

A. Grothe und M. Teller

2

 ystemische Sichtweise und Unternehmenskultur als S notwendige Implikationen gelebter Nachhaltigkeit

2.1

Das Unternehmen als System

Der geforderte Bewusstseinswandel beginnt bei der Perspektive, die in Bezug auf das „Wesen“ einer Organisation eingenommen wird. Unsere Erfahrungen von der Begleitung von Unternehmen deuten unmissverständlich darauf hin, dass eine Organisation als System erfasst werden muss und keinesfalls als eine Art mechanistischer Apparat, der eindeutig definiert und entsprechend geführt werden kann. Unabhängig davon macht jede Führungskraft mit einem Unternehmen, das mehr als 200 bis 300 Mitarbeitende hat, die Erfahrung, dass eine Organisation dieser Größe nicht mehr im klassischen Sinne des hie­ rarchischen Managements geführt werden kann. Das Problem von Führung besteht oft darin, dass die meisten Menschen denken, Führung funktioniere mit einer Person an der Spitze. Damit kann die Organisation aber nur verwaltet werden. Ein zielgerichtetes Miteinander erfordert dagegen eine systemische Perspektive, denn wenn wir Führung als eine Fähigkeit des Systems betrachten, dann wird deutlich, dass Führung immer auf viele Menschen verteilt sein muss (Scharmer 2019, S. 12). Die „seelenlos“ erscheinende Maschinen-­ Metapher wird von uns daher durch die Sichtweise auf eine Organisation als lebender Organismus oder lebendes System ersetzt. Ohne hier auf einzelne Systemtheorien näher eingehen zu wollen, sollen Haupterkenntnisse der Systemtheorien, die dem systemischen Arbeiten zugrunde liegen, kurz skizziert werden: Seit den 40er-Jahren des 20. Jahrhundert mehren sich – wie eingangs mit der Darstellung der Polaritäten verdeutlicht – in unterschiedlichen Bereichen die Zweifel an der Leistungsfähigkeit linearer Erklärungsmodelle. Das führte zur Entwicklung von Systemmodellen. Grundlage des systemischen Managements ist für Malik, „dass Unternehmungen – wie auch andere Organisationen und Institutionen – weitgehend selbständernde, selbstevolvierende und selbstorganisierende Systeme sind, die in wesentlich geringerem Ausmaß, als gemeinhin angenommen, beherrschbar sind“ (Malik 2000, S. 176). In Systemtheorien werden Organisationen als „offene Systeme“ definiert. Dies beinhaltet die Sichtweise, dass die Organisation aus direkt und indirekt miteinander verbundenen Elementen mit multiplen Eigenschaften ausgestattet ist, die gegenüber der Umwelt eine abgegrenzte Gesamtheit bilden. Durch die direkten und indirekten Verbindungen ist das Wesen der Elemente nicht objektiv statisch, sondern relativ beweglich. Die Anordnung der Elemente, ihrer Beziehungsstrukturen und -qualitäten entscheiden über den Charakter des Ganzen. Eine systemische Betrachtung der Organisation bringt es mit sich, sämtliche Elemente unter dem Aspekt ihrer Verbindungen zueinander, zur Organisation selbst und zum Umfeld der Organisation zu verstehen. Dadurch ergibt sich erst ein besserer Zugang zur Organisation und zu der relativen Qualität und Bedeutung einzelner Elemente der Organisation. Ein offenes System stellt demzufolge eine Gesamtheit von Elementen dar, die aufeinander bezogen und miteinander verbunden sind. Offen meint dabei, dass das System auf den Austausch mit seinem Umfeld angewiesen ist. In dem System selbst findet dabei

Gelebte Nachhaltigkeitskultur durch integrale Unternehmensführung

75

eine permanente Entwicklung statt, starre Strukturen existieren nicht. Die Strukturen setzen sich einerseits aus getroffenen Entscheidungsprämissen (Entscheidungsprogrammen, Kommunikationswegen und Personaleinsatz) zusammen. Andererseits gehören hierzu die nicht getroffenen Entscheidungsprämissen, deren Wirkung oft unterschätzt wird, z. B. in der Organisationskultur mit ihrer informellen Kommunikation, ihren Einstellungen, Werten usw. (Näheres dazu, siehe die Ausführungen weiter unten). Hierzu gehört auch die Dynamik in sozialen Systemen (Kühl 2017, S. 3). Insofern wird beim systemischen Arbeiten ein besonderes Augenmerk auf das „soziale System“ gelegt, das aus den darin handelnden Personen und ihrem Bild, das sie sich von der Wirklichkeit gemacht haben, resultiert (König und Volmer 2014, S.  51  ff.). Soziale Systeme sind zudem von sozialen Regeln bestimmt, von Vorschriften darüber, was einzelne Personen in diesem sozialen System tun dürfen und was nicht. Zugleich aber besitzen soziale Systeme eine Eigendynamik, die sich in Regelkreisen widerspiegelt, die über die Gedanken und Absichten der handelnden Personen hinausführen. Die Unternehmenskultur ist geprägt durch eine Vielzahl von sozialen Situationen mit unterschiedlichen expliziten und impliziten Regeln. Zusätzlich definieren wechselseitige Deutungen der handelnden Menschen die jeweiligen Beziehungen. Aufgrund von Erfahrungen und Deutungen (implizites Wissen) denkt der Mensch zu wissen, was man in einem sozialen System tun darf, tun soll oder nicht tun darf. Diese Regeln mögen in der Eingebung des Augenblicks für eine bestimmte Situation geschaffen worden sein oder sie können das Ergebnis von jahrhundertealten Traditionen sein. „Die Bedeutung von Regeln, Regulationen und Gesetzen ist am besten zu verstehen, wenn man an ein Kartenspiel denkt, an dem mehrere Personen beteiligt sind. Die Kommunikationskanäle sind vorgeschrieben, die Abfolge der Botschaften ist reguliert und ihre Wirkungen überprüfbar. Die Regeln erklären auch, dass bestimmte Botschaften zu bestimmten Zeiten an bestimmte Leute nicht erlaubt sind und dass denen, welche die Regeln brechen, bekannte Strafen auferlegt werden. Darüber hinaus gibt es immer Vorschriften über den Beginn des Spiels, die Aufteilung von Funktionen auf Rollen und die Beendigung des Spiels“ (Ruesch und Bateson 1995, S. 39 f.). Soziale Systeme sind folglich durch bestimmte Merkmale bestimmt: • Personen des sozialen Systems, • soziale Regeln, Regulationen und „Gesetze“, die das Handeln in einem sozialen System leiten (Unternehmenskultur), • Regelkreise, d. h. wiederkehrende Verhaltensmuster (z. B. Führungssystem), • Deutungen und Glaubenssätze: z. B. „Macht euch die Erde untertan“.3 Besonders erklärungsbedürftig ist in dieser Merkmalsübersicht der Begriff der Glaubenssätze, denn auch hier spielt wieder das Thema der Bewusstseinsveränderung hinein. Beim Handeln in sozialen Systemen ist es von besonderer Relevanz, sich darüber bewusst 3

 Ein sehr häufig zu Ungunsten des Systems Mensch-Natur falsch ausgelegtes Bibelzitat.

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A. Grothe und M. Teller

zu sein, dass niemand von fixen Denkmustern bzw. Vorstellungen frei ist. Im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung produzieren unterschiedliche Erfahrungen in uns Vorstellungen davon, wie wir anscheinend zu sein haben. Obendrein gibt es wirkungsmächtige kulturelle und oft auch religiöse Prägungen, die wir uns teilweise unreflektiert zu eigen machen und die unsere Werthaltung gegenüber der Natur oft geprägt haben. Erst, wenn wir die Organisation und damit auch die Kultur der Organisation systemisch betrachten, dann eröffnen sich neue Deutungsmöglichkeiten und diese erweitern damit zugleich den Rahmen der Handlungsoptionen (Referenzrahmentransformationen). Die Deutung der Mitarbeitenden, dass Nachhaltigkeit nicht wirklich von der Geschäftsführung ein ernst zu nehmendes Ziel ist, kann eine so starke Wirkung entfalten, dass eine gelebte Nachhaltigkeitskultur nicht realisiert werden kann. Besondere Relevanz hat dabei auch das Auftreten der Führungskräfte. Signalisieren diese, dass Nachhaltigkeit in Wirklichkeit für das Unternehmen „nichts bringt“, gilt das nach innen als „Regel“, sich damit nicht weiter oder nicht ernsthaft zu beschäftigen. Man könnte sich mit dem Thema eher „unbeliebt machen“ als Erfolg haben, wäre eine weitere mögliche Deutung. Ein – nach unserer Erfahrung – besonders den Wahrnehmungshorizont öffnender Zugang zur Transparenz vorhandener Deutungen und Regeln ist die Organisationsaufstellung. Die Erfahrung zeigt, dass Organisationsaufstellungen erstaunlich schnell zur Dia­ gnose komplexer Sachverhalte führen (Rosselet 2013, S.  5). Wenden wir uns nun dem zweiten Aspekt zu, der mit einer integralen und nachhaltigen Unternehmensführung verbunden ist: der Unternehmenskultur.

2.2

Bedeutung der Unternehmenskultur

Wieder bewusst als Systemelement im Gesamtsystem Natur zu sein und zu handeln, ermöglicht einen Wandel in der Unternehmenskultur, denn diese stellt die von den Organisationsmitgliedern unbewusst geteilten Grundannahmen, Werte und Glaubenssätze und Deutungen dar, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben und auf deren Grundlage in einem Unternehmen gedacht, gefühlt und gehandelt wird. Daraus entstehen Muster gemeinsamer Grundprämissen, die die Gruppe von Mitarbeitenden und Führungskräften bei der Bewältigung ihrer Probleme erlernen, die sich intern bewährt haben und somit als bindend – auch für neue Mitglieder der Organisation – gelten. Schein spricht davon, dass die verschiedenen Komponenten des Gelernten zu einem Muster von Glauben und Werten werden, die den Alltag bestimmen und in entsprechenden Verhaltensformen ihren Ausdruck bekommen (Schein 1985, S. 10). Diese Erkenntnis haben wir schon aus der systemischen Betrachtung im obigen Abschnitt gewonnen, nur wird sie von Schein noch bildhafter dargestellt. Um eine gelebte nachhaltige Unternehmenskultur aufzubauen und zu fördern, müssen die prägenden Faktoren der Unternehmenskultur verstanden und systemisch analysiert werden (siehe Abschn. 2.1). Gut geeignet zur Darstellung von den Grundfesten der Unternehmenskultur ist dafür das Drei-Ebenen-Modell von Edgar Schein. Wie

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Symbolsystem

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Sichtbar, aber interpretationsbedürftig

Sprache, Rituale, Kleidung, Umgangsformen

Normen/Standards

Teils sichtbar, teils unbewusst

Maxime, Richtlinien, Verbote

Basisannahmen

Über: Umwelbezug, WahrHeit, Zeit, Menschen, Handein, soziale Beziehungen

Unsichtbar,

meist unbewusst

Abb. 5  Drei-Ebenen-Modell der Unternehmenskultur. (Quelle: Eberl et al. 2012)

in Abb.  5 erkennbar, umfasst das Modell drei miteinander verbundene und möglichst kohärente Ebenen, die sich nach ihrer Sichtbarkeit unterscheiden: Die Hauptkenntnis aus der Betrachtung der drei Ebenen ist die, dass sich die Unternehmenskultur größtenteils in den unsichtbaren Tiefenstrukturen der Organisation abbildet. Die oberste und beobachtbare Ebene, die sich durch kulturelle Symbole und Artefakte, wie Unternehmensleitbilder oder die Büroausstattung, die Umgangsformen und z. B. auch die Kleidung etc., auszeichnet, macht nur einen kleinen Teil der „gefühlten“ Kultur aus. Die zweite Ebene umfasst die im Unternehmen geltenden sozialen Werte und Normen, Verhaltensstandards und soziale Erwartungsstrukturen zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden bzw. zwischen Mitarbeitenden untereinander. Auch „Verbote“ oder sog. „no gos“ gehören dazu. Diese Ebene ist nur sichtbar, wenn es dazu schriftliche Richtlinien gibt (z. B. ethische Arbeitsverträge oder auch Betriebsvereinbarungen mit dem Betriebsrat); der weitaus größere Teil dieser Ebene ist aber nicht sichtbar – eher gefühlt und „informell“ vorhanden und nur in einem systemischen Verständnis erkundbar. Die dritte Ebene ist gänzlich unsichtbar und kann nur für den einzelnen Menschen als individuell „wahrgenommen“ bezeichnet werden. Hier handelt es sich um Basisannahmen bezüglich der wahren Wertigkeit von Umwelt, Vertrauen, Verlässlichkeit usw. (Schein 1985, S. 15). Im vorherigen Unterkapitel haben wir hier von subjektiven Deutungen und Glaubenssätzen gesprochen. Bezogen auf den Titel dieses Beitrags wird durch die Ausführungen bis hierhin deutlich, was die notwendige Basis für eine gelebte Nachhaltigkeitskultur darstellt: Es ist der „turn around“ in Bezug auf die Überzeugung, dass gesellschaftliche Nachhaltigkeits-­ Herausforderungen allein schon mit der Veränderung der Logofarbe (beispielsweise von rot zu grün, wie es ein bekannter Burger-Anbieter getan hat) oder anderer Artefakte zu bewältigen wäre. Artefakte sind mehrdeutig, sie können zueinander im Widerspruch

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s­ tehen und müssen mit Bedeutung ausgestattet werden. Deshalb bewirkt der – vielleicht sehr gut gestaltete – Nachhaltigkeitsbericht nach innen wenig an Nachhaltigkeitskultur, wenn dieser im Widerspruch zu den Wahrnehmungen im Unternehmen steht. Besonders deutlich wird dieser Widerspruch, wenn der Bericht durch eine externe PR-Agentur erstellt wird und keinen Bezug zu den Mitarbeitenden hat. Hier entsteht dann eher eine Reaktanz auf das Thema Nachhaltigkeit. Die öffentlich propagierten Werte, Strategien und Ziele, die das Verhalten der Mitarbeitenden bestimmen sollten, stehen häufig in deutlichem Widerspruch zur erlebten unternehmerischen Praxis. Ein großes Telekommunikationsunternehmen warb einmal in seinem Nachhaltigkeitsbericht damit, dass jede mitarbeitende Person ein „Botschafter der Nachhaltigkeit“ des Unternehmens sei. Eigentlich ist das eine wunderbare Metapher und Sinnstiftung für die Mitglieder dieser Organisation. Leider hatte das Unternehmen aber versäumt, diese Werteveränderung auch in der zweiten und dritten Ebene ihrer Unternehmenskultur zu verankern. Und so verfestigte sich diese Metapher nicht, sondern war nur ein flüchtiger Slogan. Die dritte Ebene weist das Problem auf, dass die Grundannahmen in der Organisation wenig hinterfragt oder diskutiert werden. Sie sind so tief im Denken verwurzelt, dass sie von Mitgliedern der Organisation nicht bewusst wahrgenommen werden. Sie bilden die Essenz oder die Tiefenstruktur der Organisationskultur. Deshalb müssen die zugrunde liegenden Annahmen der Mitarbeitenden und der Führungskräfte bei der Betrachtung oder Veränderung von Organisationskultur überhaupt erst einmal erschlossen und dem Bewusstsein der Mitglieder zugänglich gemacht werden. Unsere eingangs eingeführten These: „Die Grundlagen für eine gelebte Nachhaltigkeitskultur legt die Unternehmensführung durch eine integrale nachhaltige Unternehmensführung“, präzisieren wir hier folgendermaßen: Zwischenfazit: Die Grundlagen für eine gelebte Nachhaltigkeitskultur legt die Unternehmensführung durch eine bewusste Stimmigkeit der drei Ebenen nach Schein. Ausgehend von der zweiten Ebene und der Erkenntnis, dass die Organisation ein lebendes System ist, können behutsam die Basisannahmen der dritten Ebene durch systemisches Arbeiten verdeutlicht und damit auch verändert werden. Erst dann kann die Veränderung durch Artefakte auch nach außen verfestigt werden. Der Grundstein für eine „gelebte Nachhaltigkeitskultur“ wird auf den beiden unteren Ebenen gelegt. Die Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit aller drei Ebenen gemeinsam ist die Basis für einen wirklichen Kulturwandel im Sinne eines Bewusstseinswandels. Das stellt eine notwendige Voraussetzung dafür dar, dass Zukunftskunst gestaltet werden kann. Dabei muss die Gestaltung als eine Interaktion mit dem Unternehmen als System verstanden werden. Die Führung muss sich fragen, wie sie in eine wirkungsvolle Resonanz zum System treten kann, d. h., welche Impulse sie  – wie  – in das System geben kann, um eine gelebte Nachhaltigkeitskultur zu ermöglichen bzw. zu stärken. Und die Führung muss in der Lage sein, die Resonanz des Systems auf diese Impulse wahrzunehmen, um daraus angemessene Interaktionen zu erlernen.

Gelebte Nachhaltigkeitskultur durch integrale Unternehmensführung

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I ntegrale Unternehmensführung als Führung im System Mensch-Natur

Schon lange werden für das systematische Vorgehen im normativen, strategischen und operativen Management verschiedene Managementsysteme implementiert, die sich auf spezifische Aspekte der unternehmerischen Tätigkeit in Organisationen beziehen, wie z. B. • • • •

das Arbeitssicherheitsmanagement, das Innovationsmanagement, das Qualitätsmanagement, das Umweltmanagement und Energiemanagement etc.

Oder es kommen, wenn eine umfänglichere Wirklichkeit abgebildet wird, komplexere Managementmodelle zum Einsatz, wie z. B. • • • •

das European Foundation for Quality Management-Managementmodell (EFQM), das Total Quality Managementmodell (TQM), das St. Galler Managementmodell (SGMM), das integrale Managementmodell.

Auf Letzteres soll hier etwas näher eingegangen werden, da es, ähnlich wie das St. Galler Managementmodell, den Anspruch erhebt, die Komplexität der Wirklichkeit umfassender abzubilden.

3.1

Integrales Management

Das integrale Management geht hauptsächlich auf Wilber (1996, S. 92) zurück. Sein Modell der integralen Unternehmensführung geht von der Erkenntnis aus, dass man sich bei einer entsprechenden, ganzheitlich wahrgenommenen Verantwortung des Managements nicht auf einen isolierten Ausschnitt der Wirklichkeit beziehen kann, sondern immer auch bei allen Entscheidungen das System Mensch-Natur als Ganzes im Blick haben muss. Eine weitere Annahme ist, dass die Wirklichkeit von Menschen kulturübergreifend in vier Dimensionen (vier Quadranten) wahrgenommen wird. Als Versuch, verschiedene natur-, human- und geisteswissenschaftliche Ansichten zusammenzuführen, ist die integrale Theorie ein systemisches Modell für eine holistische, kosmisch-evolutionäre Weltsicht. Indem sie das Geistige mit einbezieht, geht sie über die materialistische Reduktion vieler anderer Managementmodelle hinaus. Es wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die Wirklichkeitsbereiche von Natur, Mensch, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur in der Realität vielfältig verflochten sind. Als ein sehr einfaches Ordnungsmodell für diese verflochtene Re-

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Abb. 6  Einordnung eines Leitbildes

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alität wird von Wilber das Modell der vier Quadranten vorgeschlagen (Wilber 1996, S. 34). Es stellt (siehe Abb. 6) vier Perspektiven dar, die für eine Fragestellung oder einen Veränderungswunsch zugrunde gelegt werden können. Die klassische Unternehmensführung neigt zu einer Überbetonung der Quadranten auf der rechten Seite. Die linksseitigen Quadranten werden in Bezug auf die Wertschöpfung als weniger relevant eingestuft. Nach Wilber sind aber alle Quadranten in einer permanenten Interaktion und entwickeln sich miteinander („Tetra-Evolution“) (Wilber 1996, S. 618). Hinzu kommt, dass jeder Quadrant Ebenen beinhaltet, die als Stufen eines Entwicklungsprozesses anzusehen sind. Das bedeutet, innerhalb eines jeden Quadranten gibt es Entwicklungsebenen (Wilber 2001, S. 118). Zum Beispiel entwickelt sich eine Organisation von einem Stammesverhalten über mehrere Ebenen hin zu einem Netzwerk. Dies hier ausführlich zu behandeln, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Das integrale Management ist sich aber der Existenz dieser Entwicklungsebenen bewusst und operiert im Alltagsgeschäft mit Blick auf diese. Die Kombination der Quadranten mit den Entwicklungsebenen führt zu dem Ansatz des integralen Managements. Basierend auf diesem Quadrantenmodell initiiert und unterstützt integrales Management Entwicklungsprozesse mit Blick auf den einzelnen Menschen, die Teams und die Gesamtorganisation. Zum Inneren des Systems gehört die weiter oben schon ausführlich behandelte Unternehmenskultur, die informellen Regeln des Kollegenteams sowie das Innere des Individuums mit seinen mentalen Modellen, Glaubenssätzen, Loyalitäten oder Blockaden (siehe das folgende Kapitel). Das Besondere an dem Modell ist, dass es veranschaulicht, welche Aspekte ein Managementmodell berücksichtigen, sichtbar machen und

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leben muss, will es sich vom Egosystem-Bewusstsein zum Ökosystem-Bewusstsein verändern. Diese Veränderung muss nach dem Modell immer alle vier Quadranten für einen weiteren Entwicklungsschritt beachten. In der Abb. 6 ist im Quadranten unten rechts mit „Gesamtsystem“ nicht nur die Organisation als Ganzes, sondern auch das Umfeld (lokal, regional, national, global) gemeint, in welches die Organisation eingebettet ist. Das bedeutet, dass integrales Management auch immer die Verantwortung für Entwicklungsprozesse der Organisation mit den Entwicklungen des Umfelds in eine Verbindung bringt. Das Äußere spielt im Inneren eine Rolle. Zum Äußeren des Systems gehören auch die formalen Strukturen, die Organisationsstrukturen, aber auch die physischen und organisatorischen Arbeitsbedingungen. Sie sind vom Individuum aus gesehen „äußerlich“ bzw. strukturgebend, haben aber oft nichts mit der Erfüllung einer inneren Bedürftigkeit zu tun. Eine Integrale Unternehmensführung ist – nach den bisherigen Ausführungen – eine wichtige Voraussetzung, um eine gelebte Nachhaltigkeitskultur zu ermöglichen. Die Bedingungen und Veränderungen in unserer äußeren Umwelt, wie auch in unserem gesellschaftlichen Miteinander, bedürfen eine entsprechende Wahrnehmung und Entwicklung nach Innen. Diese Aussage betrifft die Organisation – das Wir – wie auch das Individuum selbst – das Ich. Die vier Quadranten sind in ihrer Bewegung wie ein Mobilie zu verstehen. Soll Nachhaltigkeit spürbar sein, macht das Quadrantenmodell sichtbar, dass so eine Entwicklung in der Unternehmenskultur durchaus von außen angestoßen werden kann, es aber innen Verantwortungsübernahme, mehr Vertrauen und die Stärkung des Wir-Gefühls notwendig sind, um eine erfolgreiche Veränderung im Innern auch im AUSSEN entsprechend glaubwürdig darstellen zu können. Gleichzeitig soll das Modell verdeutlichen, dass eine Veränderung im WIR erst durch eine entsprechende Bewegung im Quadranten des ICH möglich ist.

3.2

Die Bedeutung des normativen Managements

Das Gemeinsame aller Managementsysteme und -modelle ist ihr rational deskriptiver Ansatz. Sie beschreiben unterschiedlich große Ausschnitte der Wirklichkeit aus einer mentalen Perspektive. Der Verstand als kennzeichnende, einordnende, bewertende und auswählende Instanz ist maßgebend. Was aber fehlt, ist das „Herz“. Wir wählen diesen vielleicht etwas untypischen Begriff in einem Beitrag zu einem wirtschaftswissenschaftlichen Buch, um unmissverständlich deutlich zu machen, dass jedes rein rationale Management „herzlos“ erscheint. Aus unserer Sicht entscheidet über die Qualität eines Managements weniger die Güte des rationalen Managementsystems oder -modells, das sicherlich notwendig ist, aber keinesfalls hinreichend. Wir bezeichnen das als typisches Vorgehen als „Häkchen-­ Management“  – alle relevanten Managementsysteme sind implementiert aber keiner „lebt“ oder schätzt diese wirklich. Erst ein emotionaler Bezug oder ein durch Wertschätzung, Annahmen, Mitgefühl und Vertrauen geprägtes Management kann dem Menschen

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und dem System Mensch-Natur gerecht werden und Referenzrahmentransformationen ermöglichen. Von der Deutung: „Nachhaltigkeit will eigentlich keiner ernsthaft umsetzen“, zu, „es ist unsere Herzensangelegenheit, dass jetzt richtig zu machen“. Deshalb ist die normative Dimension des Managements von besonderer Bedeutung für die Implementierung von Nachhaltigkeit. Diese prägt die grundlegende Orientierung einer Unternehmung. Werte, Prinzipien, und Normen vermitteln die relevante Handlungsorientierung, stellen Verhaltensmaßstäbe und Entscheidungsgrundlagen dar und haben – wie oben dargestellt  – entscheidenden Einfluss auf die Unternehmenskultur. Deshalb ist in dieser Managementdimension auch die Unternehmenspolitik verankert. Diese sollte sich in einem Leitbild niederschlagen, das den Mitgliedern eines Unternehmens in Form einer realistischen Idealvorstellung Orientierungspunkte für ihre Haltungen, Handlungen und die zukünftige Entwicklung bietet. Ein wirkungsvolles Leitbild ist stets wertebasiert, macht folglich implizit oder explizit Aussagen darüber, für welche Werte das Unternehmen im Besonderen steht (siehe Abb. 7). Neben der Werteorientierung beinhaltet ein Leitbild zwei weitere Perspektiven: Es trifft Aussagen über den eigentlichen Auftrag des Unternehmens (Mission – Was genau machen wir? Warum gibt es uns?). Außerdem zeigt es auf, wohin sich das Unternehmen entwickeln will (Vision – Was wollen wir werden?). Dieser Orientierungsansatz ist der Grund dafür, warum Leitbilder für Unternehmungen in einem wirtschaftlichen und politischen Umfeld heutzutage bedeutender denn je sind und weshalb die Beteiligung der Mitarbeitenden an der Leitbildentwicklung eine Voraussetzung für ganzheitlich gelebte Nachhaltigkeit innerhalb des Unternehmens darstellt. Es ist besonders für die Mitglieder eines Unternehmens wichtig, die zukünftigen Ziele, die Werte, die Normen und die Richtungsweisung eines Leitbilds entwickeln und verstehen zu können, um sie für die eigene Arbeit zu verinnerlichen.

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Abb. 7  Quadranten der integralen Theorie, bezogen auf eine Organisation. (Quelle: In Anlehnung an Wilber)

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Weiteres Zwischenfazit: Das Führen einer Organisation kann nur dann deren Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit unterstützen, wenn als Managementmodell ein integraler Ansatz zugrunde gelegt wird, der sowohl ganzheitlich als auch normativ ist. Darüber hinaus braucht das Unternehmen ein Leitbild, das hinsichtlich Wertorientierung und Vision die vier Quadranten abbildet. Aber auch bezüglich des normativen Managements ist zu beachten, dass es auf eine rationale Ebene reduziert und verflacht werden kann. Aus unserer Sicht liegt das wesentliche Defizit in den benannten Modellen darin, dass sie von ihrer verstandesmäßigen Ausrichtung, ihren Begriffen und Perspektiven zu sehr in der Rationalität verhaftet sind. Wie wir im folgenden Kapitel verdeutlichen werden, ist der Mensch als ganzes Wesen weitaus mehr und erst in dieser Ganzheit in der Lage, seiner Rolle im System Mensch-Natur gerecht zu werden.

4

 erspektivwechsel als Grundlage einer integralen P nachhaltigen Führung

Wir fassen die bis hierhin gewonnenen Erkenntnisse bezüglich eines erweiterten und damit auch gewandelten Führungsbewusstseins noch einmal kurz zusammen. Ein solches Bewusstsein zeichnet sich durch die folgenden Maxime aus: • Die Trennung zwischen Mensch und Natur wird aufgehoben. • In diesem Sinne wird eine Organisation als System im größeren System Mensch-Natur begriffen. • Die Führung ist bereit, aus seinen Resonanzprozessen mit dem System von diesem zu lernen. • Auf der Basis dieses Lernprozesses gestaltet die Führung die drei Ebenen der Unternehmenskultur zueinander stimmig mit. • Als Managementmodell nutzt sie eine Synthese aus integralem und normativem Management. • Im normativen Management lebt sie aktiv Werte vor, die den vorgenannten Maximen entsprechen. Gute Führung, wie wir sie definieren, geht über diese Merkmale noch hinaus. Sie erkennt an, dass im klassischen Management die Denkfunktion überbetont ist und es einer Ausbalancierung zu den anderen menschlichen Orientierungsfunktionen bedarf, um eine mehrdimensionale Orientierung im Unternehmen zu ermöglichen (siehe die Eingangsthese). Wir beziehen uns hierbei auf die zuerst von Carl Gustav Jung postulierte Systematik, nach der das Ich über vier Orientierungsfunktionen verfügt (Jung 1971, S.  561) (siehe Abb.  8). In seinen Ausführungen spricht Jung diesbezüglich auch von B ­ ewusstseinsfunktionen. Das Denken, welches mit dem Wachbewusstsein gekoppelt ist und im Allgemeinen vom Aufwachen bis zum Einschlafen präsent und dominant ist, wird hinsichtlich seiner

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Abb. 8  Die vier Orientierungsfunktionen des Ich

Entscheidungs „gewalt“ überschätzt. Wie neuere neurologische Forschungen belegen (Hüther 2010, S.  86), reagieren wir sehr oft primär auf der Ebene von „mag ich“ oder „mag ich nicht“, also auf der Ebene der Fühlfunktion. Und diese primäre Reaktion beeinflusst im hohen Maße unser Denken. Eine auf der Ebene der Fühlfunktion als angenehm empfundene Situation wird im Wachbewusstsein positiver und konstruktiver be-/gedacht. Die Fühlfunktion ist im Unterbewusstsein angesiedelt. Dieses hat wesentlich mehr Informationen, Wissen und auch Weisheit gespeichert als das Wachbewusstsein (Storch und Krause 2017, S. 64). Die Fühlfunktion ist ein Zugang zu diesem inneren Reichtum, weshalb in diesem Zusammenhang auch von der emotionalen Intelligenz gesprochen wird (Schulze et al. 2006, S. 257). Die Intuition, als Quelle originärer, überraschender und kreativer Ideen, ist ein weiterer Zugang. Durch sie ist „ein ganzheitliches Erfassen von Sachverhalten und Szenarien möglich. Die Intuition hat auch eine ‚Spürnase‘ für Zukünftiges, für keimhaft in der Gegenwart liegende Chancen“ (Adam 2010, S. 56). Eine gute Führung ist sich der Überbetonung der Denkfunktion bewusst und achtet darauf, dass der ganze Mensch in den Systemprozessen bewusst involviert ist. Nicht selten kann noch die Position angetroffen werden, dass Fühlen stört und wer Visionen hat, zum Arzt gehen sollte. Das Gegenteil ist aber der Fall. Ein Mensch, der die Orientierungsfunktionen in sich gut ausbalanciert hat, ist im besonderen Maße in der Lage, ein System wahrzunehmen bzw. zu führen. Schließlich lebt eine gute Führung in dem Bewusstsein, dass ihre eigenen Grundannahmen der Organisation in der Tiefe wirken und ein Hinterfragen der Wirkung und Gültigkeit bzw. Zweckdienlichkeit dieser Annahmen notwendig ist. Andernfalls können eigene überholte Vorstellungen oder egoistische Verirrungen, wie z. B. Machtgier, Eitelkeit oder Ängstlichkeit, das System negativ beeinflussen. Für eine Unternehmensführung, die eine gelebte Nachhaltigkeit fördern will, ist deshalb die Erkenntnis unerlässlich, dass gute Füh-

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rung bei einer Selbstführung beginnt. Selbstführung ist ein Akt der Bewusstseinserweiterung. Es bedeutet, sich aktiv mit dem eigenen Selbstbild und dem eigenen Ego auseinander zu setzen. Deshalb ist Coaching für eine gute Führung eine Selbstverständlichkeit, denn es bedarf oft eines Gegenübers, um sich selbst in der Komplexität und Tiefe des eigenen Bewusstseins begegnen zu können.

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Schlussfolgerungen

Die Grundlagen für eine gelebte Nachhaltigkeitskultur legt die Unternehmensführung durch ein zielgerichtetes Miteinander und die Integration einer systemischen Perspektive und einer bewussten Stimmigkeit der drei Ebenen von Schein. Ausgehend von der zweiten Ebene und der Erkenntnis, dass die Organisation ein lebendes System ist, können behutsam die Basisannahmen der dritten Ebene durch systemisches Arbeiten verdeutlicht und damit auch verändert werden. Sie bildet die Essenz oder die Tiefenstruktur der Organisationskultur. Deshalb müssen die zugrunde liegenden Annahmen der Mitarbeitenden und der Führungskräfte bei der Betrachtung oder Veränderung von Organisationskultur überhaupt erst einmal erschlossen und dem Bewusstsein der Mitglieder zugänglich gemacht werden. Die Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit aller drei Ebenen ist die Basis zu einem wirklichen Kulturwandel im Sinne eines Bewusstseinswandels für eine „gelebte Nachhaltigkeitskultur“. Die Führung spielt dabei eine entscheidende Rolle. Sie muss sich fragen, wie sie in eine wirkungsvolle Resonanz zum System treten kann, d. h., welche Impulse sie – wie – in das System geben kann, um eine gelebte Nachhaltigkeitskultur zu ermöglichen bzw. zu stärken. Und die Führung muss in der Lage sein, die Resonanz des Systems auf diese Impulse wahrzunehmen, um daraus angemessene Interaktionen zu erlernen. Das Führen einer Organisation kann überwiegend dann deren Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit unterstützen, wenn als Managementmodell ein integraler Ansatz zugrunde gelegt wird, der sowohl ganzheitlich als auch normativ ist. Darüber hinaus braucht das Unternehmen ein Leitbild, das hinsichtlich Wertorientierung und Vision die vier Quadranten der integralen Theorie abbildet. Gelebte Nachhaltigkeitskultur benötigt unabdingbar eine gute Führung. Diese ist sich der Überbetonung der Denkfunktion bewusst und achtet darauf, dass der ganze Mensch in den Systemprozessen bewusst involviert ist. So kann das Beharrungsvermögen vermindert werden und Zukunftskunst gelingen.

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Prof. Dr. Anja Grothe  ist Professorin für Nachhaltigkeitsmanagement an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin und Mitgründerin des Instituts für Nachhaltigkeit (INa) in der HWR als auch Mitgründerin und Partnerin von SUSTAINUM Consulting (www.sustainum-consulting.de). Sie arbeitet wissenschaftlich als auch unternehmerisch im Bereich von Nachhaltigkeits- und Change Management. Ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit als auch ihre Beratertätigkeit ist seit über 25 Jahren fokussiert auf die Themen der Bewertung von Nachhaltigkeit und der Begleitung von Verände­ rungsprozessen, sowie der Entwicklung von Zukunftsthemen und Strategieberatungen. Als ­ Organisationsberaterin und systemischer Coach begleitet sie bei SUSTAINUM Consulting Menschen, Teams und Organisationen in Veränderungsprozessen und fokussiert sich in ihrem Methodenspektrum insbesondere auf den Umgang mit Widerständen in Veränderungsprojekten.

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Dr.-Ing. Matthias Teller,  Studium der Verfahrenstechnik an der RWTH Aachen, Promotion auf dem Gebiet der Thermodynamik an der TU Berlin Seit 1977 Forschungstätigkeiten und Projektmanagement im Bereich regenerativer Energietechnik und danach der Aufbau und die Leitung einer Abteilung für Planung und Bau umwelttechnischer Industrieanlagen bei einem international tätigen Generalunternehmen. Seit 1995 Unternehmensberatungen, vor allem in den Bereichen Energietechnik, Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Im Zuge dessen Mitarbeit bei Forschungsvorhaben, Netzwerkprojekten mit mittelständischen Unternehmen, Beratung von KMUs, IHKs, Kommunen und Stadtwerken. Methodisch liegt mein Schwerpunkt dabei auf innovativen Konsultationsprozessen (Zukunftswerkstätten, Management Retreats, Sommerakademien, Systemaufstellungen u.a.).

Was zählt in der Krise? Werteorientierte Unternehmensführung aus der Perspektive christlicher Sozialethik Markus Vogt und Rana Matthias Bose

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Einleitung: Was zählt in der Krise?

Angesichts der gegenwärtigen ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisenphänomene müssen Unternehmensführer∗innen in schwer überschaubaren Dilemmasituationen agieren, die sich nicht hinreichend allein durch faktenbasierte Analysen oder standardisierte Entscheidungsheuristiken einschätzen und bewältigen lassen. Beispielsweise lässt sich der Eintrittszeitpunkt von Wirtschaftskrisen und ihr genauer Verlauf nicht sicher prognostizieren, da beides maßgeblich vom Verhalten der sich gegenseitig beeinflussenden, zahlreichen wirtschaftlichen und politischen Akteure abhängig ist. In instabilen Regionen können sich die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln rapide ändern, was in einer global vernetzten Welt wiederum auch auf scheinbar stabile Gegenden ausstrahlt. Der Modus und Ausgang dieser vielfältigen Konflikte auf globaler und lokaler Ebene ist offen – nicht zuletzt deshalb, weil die Parteien keineswegs immer rational interessegesteuert handeln. Auch das Ausmaß und die Folgen des Klimawandels lassen sich nicht sicher vorherbestimmen: Die Steuerungsfähigkeit und -bereitschaft der auf globaler wie nationaler Ebene äußerst heterogenen Gesellschaften ist kaum vorhersehbar. Dadurch stellt sich die Frage der Reichweite und Grenzen von Verantwortung unter Bedingungen von systematischem Nichtwissen hinsichtlich der Folgen und Erfolgschancen des unternehmerischen Handelns in neuer Weise (Renn 2014; Vogt 2018a, S. 5–8). Doch nicht nur schwer einzuschätzende Rahmenbedingungen setzen Unternehmen dem Druck der Ungewissheit aus – sie müssen sich auch mit ihrer eigenen Verantwortung für den Klimawandel auseinandersetzen und sich der drängenden Anfrage stellen, wie sie M. Vogt (*) · R. M. Bose Lehrstuhl für Christliche Sozialethik, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_6

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M. Vogt und R. M. Bose

sich an der Bewältigung dieser gesamtgesellschaftlichen Herausforderung beteiligen. In Wirtschaftsbereichen mit einem hohen Ressourcenverbrauch mag die vermeintlich einfache Antwort auf der Hand liegen. Klar ist, dass bloßes „Greenwashing“ (wie die Umdeutung von BP in „beyond petroleum“) hier nicht ausreicht. Welchen Beitrag können die Unternehmen aber unter Berücksichtigung der Tatsache leisten, dass sie in unserem eng verflochtenen Wirtschaftssystem in komplexe Handlungszusammenhänge eingebunden sind und sich auf Märkten bewähren müssen? Lässt sich der Komplexität und Kontingenz der gegenwärtigen Krisen mit einer Strategie begegnen, die nicht selber ihrem analytischen Gegenstand erliegt – d. h. entweder zu naiv-idealistisch oder zu angepasst ausfällt, um reale Veränderungen zu bewirken? Mit anderen Worten: Wie ist eine werteorientierte Unternehmensführung unter den komplexen Handlungsbedingungen des gegenwärtigen globalen Wandels möglich? Vor diesem Hintergrund analysiert der vorliegende Beitrag zunächst den Begriff des Wertes, der ursprünglich aus der Ökonomie kommt und im 20. Jahrhundert eine erhebliche Ausweitung erfahren hat und gegenwärtig möglicherweise gerade wegen seiner schillernden Vieldeutigkeit und damit auch Unverbindlichkeit beliebt ist. Den zweiten Schritt bildet eine Reflexion zu Wert- und Entscheidungskonflikten am Beispiel von Nachhaltigkeit im Horizont christlicher Sozialethik. Im dritten Abschnitt werden diese Überlegungen schließlich in das Konzept des Integrierten Managements als Kompass für ein wertegeleitetes Changemanagement eingebettet.

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 kologie, Ethik und Management – ein Ö spannungsreiches Verhältnis

Werte sind ideale Formen, in denen wir die Welt als sinnvoll begreifen und uns so in ihr orientieren. Als gesellschaftlich erzeugte Geltungskonstanten ermöglichen sie es uns, unsere Handlungen zu steuern und aufeinander abzustimmen. Ökonomische, moralische, religiöse, kulturelle, ökologische und ästhetische Werte sind oftmals tiefer und fester in unserem Denken sowie in kulturellen Produkten abgelagert, als uns bewusst ist und stabilisieren dadurch das gesellschaftliche Leben (Joas 1997; Vogt 2014; Sommer 2016). Auch Wirtschaften heißt Werte schaffen. Dabei beziehen sich ökonomische Werte als Tausch- und Gebrauchswerte auf das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Die methodische Prämisse dafür ist die Vergleichbarkeit und Ersetzbarkeit der jeweils betrachteten Gegenstände. Gerade im personalen, sozialen Bereich ist diese Tauschbarkeit aber oft nicht angemessen. Nach Kant besteht die Eigenart unseres personalen Daseins gerade darin, dass der Mensch ein „Zweck an sich selbst“ ist, eine absolut geltende Würde besitzt und nicht bloß einen verhandelbaren Preis. Wenn der Mensch also zur bloßen Ware gemacht wird, wird seine Würde verletzt. Somit zeigt sich zwischen dem ökonomischen und sozialen Feld ein grundsätzliches Spannungsverhältnis: Einerseits stoßen die verschiedenen Wertesysteme die beiden Felder voneinander ab – andererseits sind sie aber doch aufeinander verwiesen und ziehen sich

Was zählt in der Krise?

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an, schließlich bedarf jede Gesellschaft einer produktiven Wirtschaft und jedes Unternehmen tragfähiger sozialer Beziehungsnetze. An vielen Stellen äußert sich diese thematische Spannung zwischen absoluter Würde und relativem Preis ganz konkret. Beispielsweise müssen die Arbeitsbedingungen einerseits das physische und psychische Wohlergehen der Mitarbeiter gewährleisten, ihre Arbeitskraft andererseits aber auch bestmöglich „verwerten“ (vgl. Ulrich 2009, S. 233–235). Am Markt sind Unternehmen und Mitarbeiter dem Konkurrenzdruck ausgesetzt, können diesem aber nur standhalten, wenn sie nicht bloß als „Einzelkämpfer“ agieren, sondern zugleich Partnerschaften oder Hierarchien mit der entgegengesetzten Handlungslogik der Kooperation etablieren (Suchanek 2015; Vogt 2017). Subtiler und noch schwerer einzuschätzen ist diese Spannung, wenn ethische gesellschaftliche Wertungen das Kaufverhalten der Kunden beeinflussen und damit bei der Produktions- und Produktgestaltung berücksichtigt werden müssen. Erweitert wird das ökonomisch-soziale Spannungsverhältnis zukünftig wohl in zunehmend restriktiver Weise durch unsere Beziehung zur natürlichen Umwelt. Diese stellt der Wirtschaft handelbare endliche und erneuerbare Ressourcen zur Verfügung. Es ist absehbar, dass die Knappheit einiger Ressourcen die Preise in die Höhe treiben und einen sparsameren und effizienteren Umgang mit ihnen als elementaren Grundsatz zukunftsfähigen Wirtschaftens etablieren wird. Aufgrund der komplexen, oft erheblich verzögert sichtbaren und kaum einfach zurechenbaren ökologischen Wirkungsketten ist es jedoch nicht sinnvoll, den Umgang mit diesen Knappheiten allein den marktlichen Steuerungsmechanismen zu überlassen (einen sehr guten Überblick über die unterschiedlichen Lösungsmodelle des Spannungsverhältnisses zwischen Markt und Moral bieten: Aaken und Schreck 2015). Als Ganze stellt die Umwelt die Lebensgrundlage des Menschen dar und ist unentbehrlich. Insofern bedarf es hier auch kategorischer, nicht verhandelbarer Regeln zum Schutz der ökologischen Grundfunktionen. Auch hier zeichnen sich also wieder Konfliktlinien zwischen dem wirtschaftlichen Kosten- und Gewinnmaximierungsdruck sowie den nötigen Schutzmaßnahmen auf volkswirtschaftlicher sowie gesamtgesellschaftlicher Ebene ab. Auch innerhalb der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) ist der Konflikt zwischen den ökologischen und den sozialen Zielen nicht hinreichend gelöst (ICSU 2017). Angesichts der komplexen Wechselbeziehungen zwischen den ökologischen, sozialen und ökonomischen Zielen lassen sich diese nicht unabhängig voneinander gleichzeitig optimieren (Vogt 2013, S. 143), sodass Ethik und unternehmerischer Erfolg sich problemlos miteinander verbinden könnten (Ruh 2004). Der Zusammenhang ist kontingent: Ethik kann sich lohnen, muss es aber nicht. Wer Ethik nur als Mittel zum Zweck für Erfolg anstrebt, verfehlt ihren Kern. Wer das Streben danach, beide zusammenzubringen, von vorneherein ausschließt, verfolgt jedoch ebenso ein verkürztes Verständnis von Ethik. Zwar lohnt sich „gierige Skrupellosigkeit“ eher kurz- als mittel- und langfristig, doch korrelieren Ethikmanagement und unternehmerischer Erfolg, Moral und Gewinn eben nicht zwangsläufig miteinander (Schramm 2006). Moral und Werte müssen daher grundsätzlich auch um ihrer selbst willen praktiziert werden und sind letztlich auch nur dann in der Lage, Vertrauen und Orientierung zu stiften. In christlicher Perspektive setzt moralische

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Kommunikation nicht beim Erfolgsversprechen an, sondern bei den verletzten Rechten, den Solidaritätsansprüchen und den Lebensentwürfen der vielen, insbesondere der Schwachen (Option für die Armen). Das schließt freilich keineswegs aus, dass der Wirtschaft aufs Ganze gesehen die Per­ spektive ermöglicht werden darf, dass sich Moral auch ökonomisch lohnt (vgl. Küpper 2006, S. 63–141). Dies ist jedoch nur eine erwünschte mögliche Nebenwirkung der Moral und weder ihr Geltungsgrund noch ihre zentrale Motivationsquelle (vgl. Aaken und Schreck 2015). Die entscheidende Konsequenz des nicht auflösbaren Spannungsverhältnisses zwischen legitimem Gewinninteresse und gebotener sozialer Verantwortung ist die Erweiterung der Ethik über eine tugendethische Konzeption hinaus auf die Gestaltung der Rahmenordnung: Das humane Gesicht einer auf Gewinn ausgerichteten Wirtschaft kann nur gewahrt werden, wenn die Würde des Menschen und die Umwelt durch starke gesellschaftliche Rahmenbedingungen geschützt werden. Dabei kommt Personenwerten eine Vorrangstellung vor Sachwerten zu und entsprechend der Arbeit eine Vorrangstellung vor dem Kapital (Johannes Paul II 1981, Nr. 12). Werden ökonomische Werte hingegen zur gesellschaftlichen Sinnstiftung verabsolutiert, gerät die Gesellschaft in eine gravierende Schieflage.

3

 erte in der Krise – Was leistet das Prinzip W der Nachhaltigkeit?

„Nachhaltigkeit“ ist ein aus der ökologischen und sozialen Krise geborenes normatives Konzept, das der Entkoppelung von Wirtschaft und Ethik entgegentritt. Es fordert einen neuen Gesellschaftsvertrag, der in seinem revolutionären Anspruch mit der Erklärung der Menschenrechte verglichen werden kann und auch für die Wirtschaft substanziell neue Handlungsbedingen schafft (WBGU 2011; Vogt 2013). Von der weiten Debatte um eine Ethik der Nachhaltigkeit sollen im Folgenden zwei Aspekte vertieft werden: zum einen der Hintergrund der Krise, zum anderen das normative Denken in systemischen Vernetzungszusammenhängen.

3.1

Die Krise als Anlass zur Neujustierung von Werten

Das Wort Krise leitet sich vom griechischen κρίνειν (krinein) her, was unter- bzw. entscheiden bedeutet. Krisen sind Umbruchssituationen, die uns mit Neuem konfrontieren, die eine Entscheidung bringen oder erfordern. Wir werden aus der gewohnten Bahn geworfen und sind gezwungen, unsere Ziele, Prioritäten, Grenzen und Hoffnungen grundsätzlich zu überprüfen und neu zu bewerten. Wird die Krisensituation verkannt oder die geistige Auseinandersetzung mit ihr verdrängt, enden Krisen meist in Katastrophen. Umgekehrt können sie aber auch Chancen in Arbeitskleidern darstellen: Ohne Krisen, Risiken und Gefahren würde der Mensch seine Fähigkeiten nicht voll entfalten, seine Kräfte und

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Grenzen nicht kennenlernen, sich des Fundaments seines Lebens nicht bewusst werden. Nehmen wir diese Herausforderung mit Demut und Tatkraft an, können somit auch krisenhafte Fehlschläge zu neuer Orientierung und zielgerichteter Handlungskompetenz verhelfen (vgl. Krystek und Lentz 2014, S. 44–47; Vogt 2018b, bes. S. 29–52). Kennzeichnend für eine Krise ist, dass sich ein Problem nicht mehr allein auf der Ebene bekannter Lösungsmodelle wie z.  B. mithilfe von technischem Know-How lösen lässt, sondern Grundsatzfragen stellt und zur Auseinandersetzung mit den im Alltag oftmals im Unterbewusstsein abgelagerten Bewertungsmaßstäben und Handlungsmustern auffordert (vgl. Kuss 2014, S. 26). Die bisher geltenden Wertesysteme und Handlungsmaximen sind solange zu hinterfragen und neu zu justieren, bis sich die praktischen Probleme mit ihnen wieder bewältigen lassen. Nicht kraftraubend energisches Handeln und verzweifelt utopische Targets lotsen also aus der Krise – vielmehr ist die ungeschminkte Wahrnehmung und Tiefenanalyse des Problems zugleich der Weg zu dessen Lösung. In diesem Prozess werden Denk- und Handlungsmuster benannt, die zuvor übersehen oder verdrängt wurden, als „ungesund“ erkannt und durch sachlich und personal angemessene ersetzt  – an dieser Stelle muss der Hebel angesetzt, die Umkehr eingeleitet werden. Insofern wird eine Krise, die nicht in der Katastrophe endet, zum Ausgangspunkt für einen regen Austauschprozess zwischen der praktischen Handlungsebene und dem tragenden Wertefundament werden (vgl. dazu unter den Leitbegriffen „Resilienz“ sowie „Transformationskompetenz“: Vogt 2018b, S. 53–64 und 76–80). Wer jedoch keinen Halt in einem persönlichen Wertefundament hat und nicht in guten Zeiten in Vertrauensbeziehungen investiert hat, der wird in der Krise nicht fähig sein, offen und vorbehaltlos nach internen Ursachen zu fragen, seine bisherigen Strategien infrage zu stellen, Ratschläge anzunehmen und sich auf den Weg einer radikalen Neuorientierung einzulassen (Suchanek 2015). In Krisenzeiten zeigt sich, ob die proklamierten Werte Substanz haben oder bloße Fassade sind, ob sie Orientierungskraft in einem offenen Suchprozess entfalten, in der Mitte des Selbstverständnisses verankert sind und gelebt werden oder ob dies nicht der Fall ist. Erst in Krisenzeiten zeigt die Wertekommunikation ihr wahres Gesicht. Der Klimawandel stellt in der bisherigen Geschichte der Menschheit eine der komplexesten Krisen dar: Wir sind dabei, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören, die Existenzrechte, den Lebensraum, die Lebensmittelsicherheit und den Zugang zu Wasser für mehrere hundert Millionen Menschen zu untergraben. Die Ernährungskrise – derzeit hungern nach Schätzung der Vereinten Nationen über 820 Millionen Menschen, obwohl die „Sustainable Development Goals“ der UN bis 2030 die vollständige Abschaffung des Hungers anstreben (FAO, IFAD, UNICEF, WFP, WHO 2019, S. 3) – wird dadurch wesentlich verschärft (FAO, IFAD, UNICEF, WFP, WHO 2018, S. 37–113). Zu ihrer Lösung braucht es sowohl landwirtschaftliche Innovationen als auch einen Strukturwandel hin zur Stärkung kleinbäuerlicher Strukturen. Vor diesem Hintergrund wird das gegenwärtige Modell der Globalisierung grundlegend kritisch angefragt. So haben wir nach dem Urteil von Alois Glück das Modell der Sozialen Marktwirtschaft in der Praxis bereits teilweise aufgegeben und durch das

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eines entfesselten Kapitalismus ersetzt. Die Soziale Marktwirtschaft dürfe jedoch nicht als mildere Variante des Kapitalismus verstanden werden, sie sei grundsätzlich anderer Natur (Glück 2010, S.  92). Ihr liegt eine Werteordnung zugrunde, in deren Mittelpunkt der Mensch steht. Sie beruht auf den Grundwerten und Grundrechten unserer Verfassung, nämlich Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit. „Eine primär nach der inneren Logik des Kapitalismus ausgerichtete Wirtschaftsordnung degradiert den Staat mit seinem gesellschaftlichen Auftrag zum sozialen Ausgleich zur Sanitätsabteilung und zum Reparaturbetrieb eines insgesamt florierenden Unternehmens.“ (Glück 2010, S. 89–90) Doch auch die Unternehmen selbst werden in einer Krise mit schwierigen Dilemmasituationen konfrontiert: Wird der Druck zu groß, fehlen ihnen die Handlungsspielräume für moralische wie qualitative Standards, Investitionen in neue Wirtschaftsfelder sowie in Mitarbeiter/innen – in der Konsequenz rutschen sie immer tiefer in die Krise hinein. Entscheidend für die praktische Durchsetzung des Nachhaltigkeitsmanagements dürfte die Frage sein, ob dieses Konzept als Luxus für (spätere) bessere Zeiten gilt oder als dauerhafter Leitwert der (gegenwärtigen) wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, der auch bei der Bewältigung der aktuellen Krisen maßgeblich helfen kann. Wenn Nachhaltigkeit als Luxus verstanden wird, werden die sozialen und ökologischen Rücksichten zugunsten von kurzfristigeren, ökonomisch definierten Zielen oder (vermeintlichen) Handlungszwängen auf die ferne Zukunft verschoben. In den Wirtschaftswissenschaften wird hierfür der Begriff „trickle down“ verwendet: erst sollen Überschüsse erwirtschaftet werden, dann sickern diese irgendwann auch zu den Armen durch und ermöglichen soziale und ökologische Investitionen. Dieses Konzept, das auch in vielen Dokumenten der UN seinen Platz gefunden hat, ist einer der Gründe dafür, dass Nachhaltigkeit in der politischen Praxis häufig zu einer ideologischen Fassade für die Rechtfertigung bisheriger Wachstums- und Verteilungsmodelle verflacht ist (Vogt 2013, S.  110–179). So dient Nachhaltigkeit teilweise als Neuauflage eines Utopieversprechens für globalen Wohlstand, diesmal in ökologischem Gewand. Notwendig ist jedoch eine Umkehr im Denken: Das bisherige Wohlstandsmodell ist nicht globalisierungsfähig. Es ist notwendig, die geistig-moralischen und strukturellen Zusammenhänge und Hintergründe der vielschichtigen Krisen zu erkennen und darauf mit gewandelten Wirtschaftsmodellen, Managementstrategien und Lebensstilen zu antworten. Nur dann kann Nachhaltigkeit zur ethischen Basis erfolgreicher Wirtschaft im 21. Jahrhundert werden. Nachhaltigkeit ist nicht ein grünes Mäntelchen für die Fortschrittsmodelle von gestern, sondern ein Kursbuch für den Wertewandel zu einem neuen Verständnis von Wohlstand, Wirtschaft und Arbeit. Statt der in der politischen Rhetorik üblich gewordenen Utopie einer Harmonie von ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen sollte Nachhaltigkeit als Programm für ein Krisen- und Change-Management verstanden werden. Als Leitbegriff für das veränderte Verständnis von Fortschritt hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend das Konzept der Resilienz etabliert (vgl. Böschen et al. 2017).

Was zählt in der Krise?

3.2

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Was leistet das Nachhaltigkeitsprinzip?

Obwohl die Wirtschaftswissenschaften frühe und teilweise fundierte Beiträge zur Etablierung des Nachhaltigkeitskonzeptes geleistet haben, stehen sie bei vielen unter dem Verdacht, im Wesentlichen zu einem Ausverkauf des Konzeptes als unverbindlichem Alleskleber und als rhetorische Fassade für die alten Fortschrittskonzepte beigetragen zu haben. Die berechtigte Einsicht, dass die Härte ökologischer Grenzen bei Weitem unterschätzt wurde, birgt jedoch die Gefahr, dass man in alte Feindbilder zwischen Ökologie und Ökonomie zurückfällt, deren Überwindung gerade den normativen und strategischen Kerngehalt des Nachhaltigkeitskonzeptes ausmachte (Vogt 2013, S. 134–179). Was aber sind die normativen Eckpunkte des Nachhaltigkeitsprogramms und wie kann das tagespolitisch moderne Allerweltswort „Nachhaltigkeit“ zu einem systemverändernden Konzept geschärft werden? Zu kurz greifen die häufig vertretenen einfachen ökologischen Gleichgewichtsmodelle, die zukünftigen Generationen die gleiche Ressourcenausstattung wie heutigen zusichern und darum nur so viele Ressourcen zum Verbrauch freigeben wollen, wie „nachwachsen“. Zur Umsetzung eines solchen engen Begrenzungsprinzips fehlt nicht nur die (globale) politische Durchsetzungskraft, sodass es trotz seines ansprechenden Idealismus wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft kaum Wirkung entfalten dürfte. Darüber hinaus ist auch der konkrete Bedarf künftiger Generationen von vielfältigen Faktoren und technischen Entwicklungen abhängig, sodass sich keine einfache Gleichung für den gegenwärtigen und zukünftigen Bedarf aufstellen lässt. Sicherlich ist der immer frühere Eintritt des jährlichen „Earth Overshoot Day“ (2019 überstieg der globale Verbrauch die für ein Jahr zur Verfügung gestellten Ressourcen bereits am 29. Juli) ein alarmierendes, ernst zu nehmendes Krisensymptom, doch reichen Sparsamkeit und Effizienzstrategien allein nicht als Lösungsmodell. Genauso wichtig sind Innovationen, die sozial- und umweltverträgliche Entscheidungen ermöglichen. Nachhaltigkeit braucht eine Ethik der Innovation, die nicht gegen Elemente der Daseinsvorsorge ausgespielt werden darf. Die notwendige neue Richtungsangabe für Innovationen und die gesellschaftliche Entwicklung kann nur in Auseinandersetzung mit den tieferen, fundamentalen Schichten unserer Wertesysteme und Handlungsmaximen gefunden werden. Dort zeigen sich mehrere Ansätze, um die notwendige Umkehr und Transformation einzuleiten. Auf den ersten Blick mögen diese vielleicht enttäuschend allgemein und „wenig konkret“ wirken, doch können sie durch die Korrektur unserer Denkvoraussetzungen enorme Wirkung auf der praktischen Ebene entfalten. Bei diesem analytischen Unterfangen greift christliche Sozialethik auch auf den jahrtausendealten Erfahrungs- und Reflexionsspeicher der Bibel zurück. Der Herrschaftsauftrag des Menschen über die Lebewesen der Erde in Genesis 1,28–29 lenkt den Blick auf die asymmetrische Beziehung des Menschen zur Natur. Während diese dem Menschen zunächst als Gefahr zu begegnen scheint, die es zur Sicherung des Überlebens zu beherrschen gilt, stellt sich spätestens heutzutage aufgrund des technischen Fort-

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schritts gerade umgekehrt die Fähigkeit zur Naturbeherrschung als lebensbedrohliche ­Gefahr für den Menschen dar. Nicht die ungebändigte Natur, sondern der ungebändigte Expansionsdrang des Menschen ist das primäre Risiko der gegenwärtigen Zivilisation. Aus der modernen Fähigkeit des Menschen zu einer scheinbar grenzenlosen technischen Steigerung seiner Macht folgt eine neue Qualität der Verantwortung und ein Gestaltungsauftrag des Menschen für die Natur, die über das Beachten von Ressourcengrenzen hi­ nausgeht: Umweltschutz kann nicht mehr nur im Sinne eines „schützenden“, passiven Begrenzungsprinzips für unsere Handlungsfreiheit verstanden werden und bloß zum „Nichtstun“ auffordern, sondern muss vielmehr zum bewusst und aktiv verfolgten normativen Ziel unseres Handelns erhoben werden: Der Herrschaftsauftrag des Menschen ist ein Gestaltungsauftrag (z. B. zur Entwicklung innovativer Energiesysteme), dessen Vernachlässigung sein Überleben gefährdet. In diesem Sinn ist Nachhaltigkeit eine Suchanweisung für Gerechtigkeit in Gesellschaft und Umwelt und nicht bloß ein zentral gesteuertes Programm mit detaillierten (immer wieder aufs Neue verfehlten) Zielvorgaben. Sie erfordert Kreativität, Innovation und eine Vielfalt regionalspezifischer Lösungen. Getreu dem Sozialprinzip der Subsidiarität muss jeder Akteur in seinem Bereich schauen, wie er einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit und Umweltschutz zu leisten vermag. Logische Voraussetzung für die Umsetzung von Lösungen ist, dass für deren Suche erst einmal (zeitliche/personelle/geistige) Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Nachhaltigkeit ist mehr als ein Begrenzungsprinzip. Es ist im Kern ein Wertewandel als neue Richtungsangabe und Horizonterweiterung für die Suche nach Wohlstand, Lebensqualität und politischer Steuerung. Die sich an die biblische Schöpfungserzählung unmittelbar anschließenden Krisen­ narrative vom Fall des Menschen (Genesis 3), Kain und Abel (Genesis 4), der überraschend aktuell anmutenden Sintflut (Genesis 6–9) sowie dem Turmbau zu Babel (­Genesis 11) zeigen prägnant auf, dass die größte Gefahr für den Menschen nicht von der Natur, sondern von ihm selbst ausgeht. Sein Wohlergehen hängt von seinen Beziehungen ab, die latent durch Vertrauensverlust (Sündenfall), neidisches Konkurrenzverhalten (Kain und Abel), Bosheit (Sintflut) und Überheblichkeit (Babel) bedroht sind. Ist das soziale Beziehungsgefüge gestört, so ist der Mensch den Naturgewalten hilflos ausgeliefert, die ihn letztlich durch seinen moralischen Verfall entfesselt treffen. Diese biblische Beobachtung vertieft den Nachhaltigkeitsdiskurs insofern, als sie den Schwerpunkt vom ökologischen auf das soziale Klima verlagert: diese beiden aktuellen Klimakrisen lassen sich nicht getrennt voneinander erörtern und lösen. Folglich muss sich die Nachhaltigkeitsanalyse auf die sozialen Beziehungsmuster und die Vernetzung der – systemtheoretisch formuliert – ausdifferenzierten modernen Teilsysteme richten (vgl. Rüegg-Stürm und Grand 2019, S.  128–138). Aus dieser Perspektive wird eine Krise gegebenenfalls überhaupt erst sichtbar, wenn sich die Verbindungen als schwach oder beschädigt he­rausstellen und die gesellschaftlichen Subsysteme womöglich sogar völlig voneinander entkoppelt sind.

Was zählt in der Krise?

3.3

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Retinität als logischer Kern einer Ethik der Nachhaltigkeit

Der von Wilhelm Korff mit der Nachhaltigkeitsdebatte verknüpfte Begriff der „Retinität“ (Korff 1989, S. 253–265) ist als eine solche Interpretationsperspektive auf unsere Welt zu verstehen, die Netzwerke (lat. rete = Netz) als Schlüssel zur Deutung unseres Lebens begreift (vgl. Vogt 2013, S. 347–357). Wir verstehen unsere Welt nicht allein durch das Ansammeln von Fakten und Daten, sondern durch deren sinnvolle Verknüpfung, durch das Nachvollziehen von Zusammenhängen, das Erkennen von Beziehungsmustern. Das Konzept der Retinität leitet die Suche nach nachhaltigen Lösungen, indem es den analytischen Blick auf die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen lenkt. Jedes System hat seine eigene Logik, in die es das Verhalten, die Anforderungen und Werte der mit ihm vernetzten übrigen Systeme „übersetzt“. Beispielsweise müssen staatliche Arbeitsund Umweltgesetze mit so kostenintensiven Sanktionsmaßnahmen bewehrt sein, dass sich ein Verstoß dagegen aus der Perspektive einer ökonomischen Logik im unternehmerischen System nicht lohnt. An diesen Schnittstellen zwischen den Systemen lassen sich u.  U. „blinde Flecken“ ausfindig machen, wenn die „Übersetzungsleistung“ entweder nicht gelingt oder gar nicht erst stattfindet. Eine effektive Nachhaltigkeitsstrategie besteht dann darin, neue umweltschutzfördernde Netzwerke zu knüpfen und bei der Kommunikation in bereits bestehenden Netzwerken Umweltschutz so zu übersetzen, dass er innerhalb der eigenen Systemlogik sinnvoll erscheint. Die Krisenanalyse erlaubt es den Teilsystemen also nicht mehr, in der Binnenperspektive zu verharren, sondern ruft sie zum „Beziehungscheck“ mit den übrigen Systemen auf. Dabei fallen zwei kritische Verhaltensmuster zur Vermeidung der anstrengenden Übersetzungsleistung auf: Entweder stellen die Systeme die Kommunikation vollständig ein und schotten sich voneinander ab oder sie versuchen sich zu erobern und zu vereinigen, einander die eigene Sprache aufzuzwingen (Dörner 2003; Vogt 2018a). Dieses Vereinigungsbestreben lässt sich durchaus als Versuch nachvollziehen, der scheinbar unüberschaubaren modernen Komplexität (autoritär) Herr zu werden (Renn 2014). Dabei besteht das primäre Anpassungsproblem nicht in der Abgegrenztheit und Vielfalt der Systeme, sondern vielmehr in ihrer mangelhaften Kommunikation untereinander. Selbstverständlich wird die Kommunikationsstörung durch eine „Vereinigung“ keineswegs beseitigt, sondern setzt sich innerhalb des neuen Konglomerats nahtlos fort und lässt – mangels Einsicht – weitere und engere Vereinigungen mit den übrigen Subsystemen umso nötiger erscheinen: ein sich selbst beschleunigender Teufelskreis. Gleiches gilt für die Abschottungsstrategie: Auch das Einstellen der Kommunikation löst nicht das Problem der mangelhaft fortbestehenden Kommunikationsfähigkeit, die bei fehlender Einsicht folglich eine immer radikalere Isolation erforderlich erscheinen lässt. Beide Fehlhaltungen führen zwangsläufig zur „Vereinsamung“, Einsamkeit aber nicht selten zu unrealistischer Selbstüberschätzung (weil das kritische Gegenüber als Korrektiv zu den eigenen Wahrnehmungen und Überzeugungen fehlt): Systeme und Akteure (seien es nun Einzelpersonen, Unternehmen oder Staaten) überschätzen ihre eigene Position, Fähigkeit und Kompetenz und verpassen in der Folge den Anschluss an die unterschätzte Konkurrenz und an gesellschaftliche Trends.

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Die aus der Krisenperspektive geforderte „Umkehr“ setzt also der zu beobachtenden völligen Abschottung oder der umgekehrten Durchmischung von Systemlogiken und der Verschmelzung von gesellschaftlichen Subsystemen (z. B. von Politik und Wirtschaft) mit dem Konzept der Retinität deren Aufrechterhaltung und Trennung bei gebotener Kommunikation entgegen (vgl. Bose 2015, S. 25–31). Voraussetzung für das Gelingen von Kommunikation ist nicht die strukturelle Verschmelzung von Teilsystemen, sondern vielmehr das Anerkennen des gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins und das Bemühen, sich deshalb gegenseitig zu stärken. Folglich sollte ein legitimes Ziel der Wirtschaftslobby paradoxerweise gerade darin bestehen, Staaten so zu stärken, dass sie (global) verbindliche ethische Rahmenbedingungen für alle Akteure durchsetzen können  – und einzelne Unternehmen somit nicht durch ihr ethisches Verhalten auf dem Markt benachteiligt werden. Die Eigenständigkeit und Eigenlogik von Staat, Gesellschaft und Umwelt ist also keine Wirtschaftsbremse, sondern gerade umgekehrt die Voraussetzung für den Schutz eines gewinnorientierten Unternehmertums vor der Selbstzerstörung. Grenzen sind innerhalb des ökonomischen Systems auch zwischen Markt und Unternehmen aufrechtzuerhalten. Ist insbesondere auf dem globalen Markt der streng auf den eigenen Vorteil bedachte „homo oeconomicus“ unter Umständen eine notwendige Denkannahme, so sind allein nach dieser Handlungsmaxime agierende Mitarbeiter doch nicht kooperationsfähig (vgl. Vogt 2017, S. 172–176). Das ungefilterte – „schlecht übersetzte“ – Eindringen der Marktlogik in die Unternehmenskultur im Sinne einer Dominanz von Anreiz- und Konkurrenzlogiken steigert womöglich kurzfristig die individuelle Arbeitsleistung, verdrängt langfristig aber die Tugenden und Werte, die für ein auf gemeinsame Ziele ausgerichtetes Handeln zwingend erforderlich sind (Vogt 2017). In diesem Zusammenhang ist stets das allem strategischen Handeln zugrunde liegende Menschenbild kritisch zu überprüfen: Der wirtschaftliche Erfolg des Westens beruht historisch gesehen wohl nicht allein auf der „rationalen“ Modellannahme vom „homo oeconomicus“, sondern ist vor allem dem Konzept der Menschenwürde als Basis des Gesellschaftsvertrages zu verdanken (vgl. Pirson 2017, S. 296–304; vgl. Yunus 2009, S. 8–10)

3.4

Rhythmisierung der Zeit statt „rasender Stillstand“

Eine weitere wesentliche Kategorie zur Analyse von Beziehungsnetzwerken ist das Vertrauensverhältnis zwischen und in den Systemen. Die letzte Finanzkrise hat deutlich gezeigt, dass Vertrauen unsere wichtigste Währung ist. Voraussetzung dafür wiederum sind gemeinsame ethische und kulturelle Wertvorstellungen, die somit auch für die Ökonomie eine Schlüsselbedeutung einnehmen und einen unverzichtbaren „Kapitalstock“ darstellen. Ohne sie wären viele Kooperationen nicht möglich: Je niedriger die moralischen Standards, desto höher der Kontrollaufwand (Suchanek 2015) und damit auch die Transaktionskosten (diese werden schon heute in der modernen westlichen Wirtschaft auf ca. 70 % geschätzt (Richter 1994, S. 5–6; zur genaueren Analyse der Transaktionskosten vgl. Williamson und Streissler 1990, S. 17–48)).

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Schließlich impliziert bereits das Wort „Nachhaltigkeit“, dass es wesentlich auf die zeitliche Dimension abstellt. Aus dem Abstand einer langfristigen Perspektive lassen sich Zusammenhänge und Beziehungsmuster überhaupt erst wahrnehmen. Zwar ist nur die Gegenwart und unmittelbare Zukunft konkret sichtbar, doch lässt sie sich erst im größeren Zusammenhang richtig bewerten. So kann sich ein kurzfristig lohnendes Verhalten langfristig durchaus als Verlust entpuppen (z. B. Abgasmanipulationen der Automobilindustrie). Wie bei dem Handlungsmuster des Abschottens oder Vereinigens kann auch hier die Komplexität und Unübersichtlichkeit der modernen Welt dazu verleiten, den Blick auf immer kurzfristigere und darum scheinbar „klarere“ Zeitabschnitte zu lenken. Hierdurch wird aber ein Teufelskreis in Gang gesetzt: Fehlentscheidungen durch unkoordiniertes, planloses Handeln müssen zeitintensiv korrigiert werden (vgl. BER) und im Stress der dafür notwendigen Beschleunigung fehlen schlichtweg Zeit und Ressourcen für langfristiges Analysieren und Planen (Hartmut Rosa charakterisiert die paradoxe Zeiterfahrung, dass die ständige Beschleunigung trotz bzw. gerade wegen aller Erfolge immer mehr Zeitknappheit erzeugt und letztlich an den eigenen Versprechen scheitert, als „rasenden Stillstand“; vgl. Rosa 2016, S. 213–236). Auch das bedächtige Abwägen von Werten beim Übersetzen der umgebenden Systemlogiken fällt dann leicht einem schnellen mechanischen, standardisierten Übersetzungsalgorithmus zum Opfer, der den eigentlichen Sinn verfehlt. Anstatt unternehmerisches Handeln auf immer kurzfristigere und immer schneller zu erreichende konkrete Ziele zu trimmen, muss das Bestreben daher auf einen Planungshorizont ausgerichtet werden, der so langfristig ist wie eben noch (aus unternehmerischer Sicht) vertretbar. Ein Beispiel hierfür könnte die Entwicklung von langlebigen oder forschungsintensiven Produkten sein, anstatt bloß für den schnellen Konsum verwertbare Güter herzustellen (bzw. sich aus solchen Marktsegmenten strategisch so gut wie möglich zurückzuziehen). Optimierungen in der Zeit sind also zu einseitig gedacht, wenn sie nur als Erhöhung der messbaren linearen Geschwindigkeit verstanden werden. Neben dem skizzierten Streben nach Langfristigkeit besteht eine zeitliche Optimierung auch in einer mathematisch nicht messbaren Verbesserung des Rhythmus, der bei Mensch und Natur (anders als bei den meisten Maschinen) das Zeitempfinden steuert (vgl. Fuchs 2018).

4

 ühren durch Werte – Nachhaltigkeit als Chance im F Integrierten Management

4.1

Ein Frühwarnsystem für wertebasierte Beziehungen

Der vorangegangene theoretische Abschnitt hat gezeigt, dass „Nachhaltigkeit“ sich keineswegs bloß auf ökologische Schutzmaßnahmen erstrecken darf, sondern in einem erweiterten Sinn vielmehr als vernetzende Interpretationsperspektive und werteorientierte Handlungsmaxime zu verstehen ist. Um tatsächlich praktikabel zu sein, darf ein solches Konzept nicht selber der modernen „Temporalisierung von Komplexität“ (Rosa 2016, S. 295–310), also dem Aufschieben von Entscheidungen durch Sequenzierung, erliegen, der es ja gerade Herr zu werden versucht.

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Vor dem Hintergrund der Krise als analytischem Schwerpunkt wurde daher zu einem Austauschprozess zwischen der praktischen Problemebene und deren Wurzeln im Werteund Beziehungsfundament von Gesellschaften und Organisationen angeregt. Zur Veranschaulichung wurden bereits einige Beispiele angeführt, doch bedarf es im Sinne der notwendigen Übersetzungsleistung zwischen den Systemen auch einer Einbettung in den Wirtschaftsdiskurs. Hierzu eignet sich das „Sankt Galler Integrierte Management Modell“ in mehrfacher Hinsicht: Es nimmt eine systemorientierte Perspektive ein und versteht „Umweltsphären“ als miteinander und untereinander interagierende Diskurse (Rüegg-­ Stürm und Grand 2017, S. 89–96), es weiß um die Bedeutung von tief in unserem (Unter-) Bewusstsein eingebetteten Praktiken und Routinen, den dynamischen Prozesscharakter von Kommunikation und Sprache (Rüegg-Stürm und Grand 2017, S. 52–61) in der modernen komplexen Welt. Auch Nachhaltigkeit wird mittlerweile bereits von vielen Vertretern der Wissenschaft wie auch der Wirtschaft aus der ökologischen Nische geholt und verschiedenen Umweltsphären der Ökonomie, Technologie und Ethik zugeordnet (Rüegg-­ Stürm und Grand 2017, S. 98). Diesen Querschnittsansatz kann das vorgestellte Nachhaltigkeitskonzept aufgreifen und durch seine Erweiterung vertiefen. Durch die Koppelung mit der Krisenanalyse entgeht der Nachhaltigkeitsbegriff der Gefahr, als für weite Teile der Wirtschaft und Gesellschaft belangloses Allerweltswort praktisch bedeutungslos zu sein  – er legt den Finger gewissermaßen in die Wunde und antizipiert bereits im Vorfeld eine irritierende Entscheidungsnotwendigkeit für die unternehmerische Agenda (vgl. Rüegg-Stürm und Grand 2017, S.  166–170). Im betriebswirtschaftlichen Feld wird eine Krise üblicherweise als Existenzgefährdung des Unternehmens durch die Gefährdung seiner Ziele, als bedrohliche Einschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten und als Prozess beschrieben, der sich oft überraschend in Gang setzt (Krystek und Lentz 2014, S. 33–34). Die Nachhaltigkeitsperspektive dient an dieser Stelle gewissermaßen als Frühwarnsystem, das durch die Kontrolle der wertebasierten Beziehungsgefüge schon anschlagen kann, wenn die Datenlage noch gar keine Bedrohung erkennen lässt. Darüber hinaus warnt es vor vereinfachenden Modellannahmen wie dem „homo oecomomicus“, der die Handlungsmotivation des Menschen nicht adäquat einzufangen vermag – der Mensch verhält sich nicht konsequent rational und lässt sich auch nicht dazu zwingen (bzw. sollte sich nicht dazu zwingen lassen). Zu einem realistischen Menschenbild gehört aus christlicher Perspektive darüber hinaus auch die Erfahrung der alttestamentarischen Propheten, dass wir zum Verdrängen von Kritik und Krisenwarnungen neigen. Entscheidend für die Umsetzung eines effektiven Nachhaltigkeitskonzepts ist daher, dass es nicht in theoretischen Lehrgängen abstrakt vermittelbar ist – vielmehr muss es bei unternehmensinternen Schulungen an konkret anliegenden, „unbequemen“ Fällen erarbeitet werden. Das Ziel bestünde dann sowohl in deren Lösung als auch in der Etablierung einer kritikfreudigen Kultur. Wesentlich verantwortlich für diesen und andere Werte dürfte das Management sein, das mit gutem Beispiel vorangehen, konstruktive Kritik und Dissens von „Untergebenen“ wertschätzen und willkommen heißen muss – dies ist gewissermaßen die Bewährungsprobe kluger Menschenführung. Wertorientierung und Tugenden

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werden im gelebten Alltag durch das Vorbild von Menschen vermittelt, nur so kann man Werte erfahren, sich erschließen und selber aneignen (Wolf und Rosanna 2008, S. 57). Daher lohnt es, das Nachhaltigkeitskonzept insbesondere in die unternehmerische Beziehungs- und Führungskultur zu übersetzen (vgl. Rüegg-Stürm und Grand 2019, S. 179–182). Gerade die Wertschätzung eigenständig denkender und handelnder Mitarbeiter setzt moralisch starke Führungspersönlichkeiten voraus – eine Einsicht, die sich auch mit qualitativen Studien deckt. So zählen Führungsmängel, wie charakterliche Schwächen, persönliche Konflikte und Uneinigkeit, mit 27,5 % zu den am häufigsten genannten Ursachen für Unternehmenskrisen (Hauschildt et al. 2005, S. 12–14).

4.2

 ie Benediktregel: der älteste Leitfaden D für Unternehmensführung

Eine seit 1500 Jahren in der europäischen Kultur bewährte Grundlage wertorientierter Menschenführung ist die Regel des Heiligen Benedikt. Ihr Erfolgsgeheimnis ist das christliche Menschenbild, das sich vor allem deshalb so gut als Wertegrundlage der Führung eignet, weil es den Menschen in seiner ganzen Bandbreite von unbedingter Würde und anfälliger Schwachheit begreift (Wolf und Rosanna 2008, S. 13). Dies befähigt, zugleich nachsichtig und hellhörig zu sein. Benedikt rechnet mit der Unzulänglichkeit des Menschen, ohne ihn deshalb zu verurteilen. Die persönliche Kompetenz einer zugleich kritischen und gütigen Menschenkenntnis ist nach der bewährten Ordensregel die entscheidende Qualifikation zur Menschenführung. Als Beziehungswesen kann man Menschen nicht wie Sachen managen, sodass fachliche Expertise allein noch keineswegs zur Menschenführung qualifiziert (Wolf und Rosanna 2008, S. 16). Gute Unternehmensführung muss vielmehr die Freiheit der Mitarbeiter achten und sie durch Werte und personale Führungskompetenz zu gewinnen suchen. Sicherlich sollte ein Vorgesetzter Zielvorgaben machen, den Rahmen festlegen und nötige Informationen liefern, Anstöße geben – andererseits aber auch nicht alles vorwegnehmen und ständig eingreifen. Wenn Mitarbeiter gute Arbeit leisten und in ihrem Spezialgebiet schnell und souverän agieren können sollen, brauchen sie ein bestimmtes Maß an Freiheit und die Möglichkeit zur Eigeninitiative: „Den Weg zu finden, das überlasse man dem Mitarbeiter, weil Entdeckungen ein entscheidendes Element der Befriedigung durch Arbeit darstellen.“ (Wolf und Rosanna 2008, S. 47). Wer führt, muss zuhören können, dem Gegenüber Raum geben und Zeit schenken, sich zurücknehmen und den anderen zur Geltung kommen lassen. Dadurch weckt er oft mehr gemeinschaftliches Verantwortungsgefühl als durch eigenes Reden und dominierendes Auftreten. Weitere wesentliche Führungsqualitäten sind Aufrichtigkeit, Durchhaltevermögen, Gelassenheit. Wertorientierte Führung ist zugleich Sinnstiftung, was die bekannte Unternehmensberaterin Gertrud Höhler unter dem Titel „Die Sinnmacher. Wer siegen will, muss führen“ in den Mittelpunkt ihres Ratgebers für Manager stellt (Höhler 2002). Die Führungsqualität von Unternehmern zeige sich vor allem darin, dass sie Sinnmuster vorgeben. Dabei gehe es

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nicht nur um Wachstum und Gewinnmaximierung, sondern ebenso um die Qualität guter Arbeit und personale Wertschätzung. Auch dies wird schon in der Benediktsregel betont. Viele Topmanager im Dauerstress sind zugleich Jäger und Gejagte, Herren und Knechte ihrer eigenen Erfolgsversprechen und Risikostrategien (Höhler 2002, S. 69–111). Zu einer Unternehmenskultur gehört aber auch die Fähigkeit zum Maßhalten. Die vergleichsweise große Resilienz von Familienunternehmen sowie von Genossenschaften in der globalen Finanzkrise 2009 liegt wesentlich darin, dass sie, anstatt jede kurzfristige Effizienzreserve zu mobilisieren, langfristig denken und sich für ihre Mitarbeiter wie auch ihre Kunden und Mitglieder verantwortlich fühlen.

4.3

Resümee

Die Konfliktanalyse hat gezeigt, dass es sich bei „Nachhaltigkeit“ nur auf den ersten Blick um rein ökologische Themen handelt. Im Kern geht es um die Frage, welchen Stellenwert und welche Handlungsrelevanz Werte im Kontext von Wirtschaft, Politik und Konsum überhaupt haben. Zweifellos sollten ökologische Werte, wie Sparsamkeit und Effizienz im Umgang mit den natürlichen Ressourcen, Eingang in jede Unternehmenskultur finden. Fest steht allerdings auch, dass sich Betriebe überfordern und damit über kurz oder lang in den Ruin treiben würden, wenn sie die „Rettung der Welt“ zu ihrem Hauptziel erklärten. Angesichts der Komplexität der ökologischen Krise kann Transformation nur gelingen, wenn sich unternehmerische Pioniere, gesetzliche Rahmenänderungen und verantwortungsbereite Konsumenten wechselseitig stützen (Vogt 2018b, S. 79–81). Die Nachhaltigkeitsperspektive offenbart eine kollektive Handlungskrise, die sich nur lösen lässt, indem die einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme ihre je spezifische Rolle wahrnehmen, zugleich aber auch ihr komplexes Zusammenspiel in neue „vernetzte“ Bahnen gelenkt wird. Wirtschaft und Technik sollen nicht primär begrenzt, sondern vor allem in ihrer Dynamik neu ausgerichtet werden, um aus ihrer Mitte heraus kreative Potenziale für einen sparsamen und effizienten Umgang mit den natürlichen und sozialen Ressourcen zu entfalten. Dies wird nur auf der Basis eines grundlegenden Wertewandels gelingen. Das Nachhaltigkeitskonzept bietet hierbei nur dann eine hilfreiche Suchanweisung, wenn es nicht als Versprechen, alle Ziele gleichzeitig erreichen zu können, für eine Art rhetorische Selbsttäuschung verwendet wird (Win-win-Modelle). Es geht vielmehr darum, Nachhaltigkeit als ein krisengeborenes Chance-Management-Konzept zu verstehen. Wenn Krisen in einem ersten Schritt konstatiert und eingestanden werden, können sie zum Anlass werden, die gegenwärtigen Leitwerte und Handlungsmuster der verschiedenen Systeme und Akteure kritisch zu hinterfragen (Vogt 2018b, S. 29–52). Diese zeigen sich durch eine Analyse der Beziehungen, die sowohl innerhalb der einzelnen Systeme als auch zwischen diesen bzw. zwischen den Systemen und ihrer Umwelt gepflegt werden.

Was zählt in der Krise?

103

Hier können sich mehrere Fehlhaltungen einstellen. So dienen Systemgrenzen stets als „themenspezifische Aufmerksamkeitsfilter“ (Rüegg-Stürm und Grand 2019, S. 151) zur Bewältigung der Komplexität der Umwelt – können aber u. U. zu selektiv eingestellt sein und tatsächlich relevante Themen (wie die Umweltkrise) ausblenden. Im Extremfall drohen sie, Teilsysteme völlig abzuschließen (vgl. Rüegg-Stürm und Grand 2019, S. 153), sodass diese für ihre Umwelt nicht mehr ansprechbar sind. Im umgekehrten Fall einer zu hohen Durchlässigkeit vermischen sich die Handlungslogiken verschiedener Systeme so stark, dass diese sich ebenfalls nicht mehr ergänzen und nicht mehr steuerbar sind. In beiden Fällen besteht die Gefahr, dass die „Blasen“ einer selbstfixierten Hybris unvermittelt platzen. Erforderlich ist es stattdessen, dass Systeme die Anforderungen der Umwelt stimmig und frühzeitig in die jeweils eigene Handlungslogik übersetzen. Für diese permanent zu erbringende, sinnstiftende Transferleistung sind die aus langen Erfahrungshorizonten gewonnenen Werte unabdinglich. Retinität als der epistemische Schlüssel des ethischen Prinzips der Nachhaltigkeit zielt genau auf eine solche differenzierte Kommunikationsund Vernetzungskompetenz. Wie eingangs gezeigt, besteht zwischen Ethik und Ökonomie eine solche Systemgrenze. Aufgabe von Politik und Gesellschaft ist es, harte kategorische Regeln zum Schutz der Natur aufzustellen, die sich in der instrumentellen Handlungslogik der Ökonomie bei Verstößen als hohe Kosten und bei Beachtung als Innovationsanreize und Gewinnaussichten übersetzen lassen. Ebenfalls wäre es die Aufgabe politischer Akteure, den entfesselten globalen Kapitalismus in die Bahnen einer sozialen Marktwirtschaft zu lenken. Kommen Politik und Gesellschaft dieser ihrer Rollenpflicht nicht nach, kann die Wirtschaft allenfalls indirekt mittels Lobbyismus und Investitionsentscheidungen stabile, nachhaltigkeitsorientierte Staaten zu stärken versuchen. Nicht zu unterschätzen ist jedoch der gesellschaftliche Beitrag, den Unternehmen durch die Förderung eines internen gesunden Betriebsklimas und solides Wirtschaften leisten können. In das Managementsystem übersetzt bedeutet „Nachhaltigkeit“ dann beispielsweise, langfristigen Investitionen in innovative Produkte den Vorzug gegenüber kurzfristigen Gewinnerwartungen von Investoren zu geben. Aufgabe des „Unternehmenssystems“ ist es, den auf dem freien Markt herrschenden Konkurrenzdruck nicht ungefiltert in die interne Unternehmenskultur eindringen zu lassen, sondern dieser vielmehr nach der Logik „gemeinsam sind wir stark“ verlässliche Kooperationsbeziehungen entgegenzusetzen. Ein nachhaltiger Führungsstil unterwirft sich daher nicht der Logik kurzfristiger Gewinnmaximierung. Er beutet weder die Persönlichkeit der Mitarbeiter noch die natürlichen Ressourcen bis an die Grenzen aus. Zur Vermeidung eines Burn-out von Mensch und Erde geht er vielmehr von einer Maximierungslogik zu mittel- und langfristigen Optimierungen nach Maßgabe des Resilienzprinzips über (Böschen et  al. 2017; vgl. auch Vogt 2013, S. 369–372). In der Krise zählt nicht maximaler Gewinn, sondern ein Kompass von Werten, der Orientierung, Vertrauen und sozialen Zusammenhalt im Unternehmen wie in der Gesellschaft stiftet.

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M. Vogt und R. M. Bose

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Was zählt in der Krise?

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Prof. Dr. Markus Vogt,  geb. 1962  in Freiburg, studierte Theologie und Philosophie in München, Jerusalem und Luzern. Seit 2007 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Darüber hinaus ist er vielfältig in der Politikberatung tätig (z. B. Mitglied im Sachverständigenrat Bioökonomie der Bayerischen Staatsregierung sowie der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030). Seine Forschungsschwerpunkte sind sozialphilosophische und theologische Grundlagen der Ethik moderner Gesellschaft, Mensch-Umwelt-Beziehungen, Nachhaltigkeitstheorie, Gerechtigkeitstheorien, Friedensethik. 2017 erhielt er für die Weiterentwicklung der Katholischen Soziallehre den Economy and Society Award der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus, 2018 die Bayerische Staatsmedaille für herausragende Verdienste um die Umwelt. Seit 2019 ist er Mitglied in der Europäischen Akademie der Wissenschaften.

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M. Vogt und R. M. Bose Rana Matthias Bose  studierte Sozialwissenschaften (B.A.), Religion und Kultur (M.A.) an der Humboldt-Universität zu Berlin, University of Sussex (UK) und Brown University (USA). Zurzeit studiert er Katholische Theologie an der Ludwig-­ Maximilians-Universität und arbeitet als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Christliche Sozialethik (LMU) sowie am Lehrstuhl für Religionspädagogik und Pastoralpsychologie (Sankt Georgen) mit. Er interessiert sich besonders für die religiöse Dimension gesellschaftlicher Krisen.

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung von Familienunternehmen Reinhard Altenburger und Christine Bachner

1

Einleitung

Der Ansatz der integrierten Unternehmensführung (vgl. z. B. Bleicher und Abegglen 2017; Eggers und Steinle 2011; Steinle 2005) bietet ein konsistentes Rahmenwerk, welche von der normativen über die strategische bis hin zur operativ-taktischen Ebene reicht. Eine mögliche Weiterentwicklung stellt die integrierte nachhaltige Steuerung von Unternehmen dar, welche die Auseinandersetzung mit den Nachhaltigkeitsherausforderungen berücksichtigt, denn die aktuelle Diskussion, beispielsweise zu den Themen Klimawandel und Ressourcenmangel und -effizienz, fordert die Unternehmensführung zunehmend he­ raus, hier Lösungsansätze zu entwickeln. Als Leitlinien für die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit können die Globalziele einer nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development Goals/SDGs) herangezogen werden (United Nations 2019). Unternehmen stehen vor einer Vielzahl an unterschiedlichsten Herausforderungen, wie die Auseinandersetzung mit neuen Geschäftsmodellen und disruptiven Ansätzen sowie einer zunehmenden globalen Verflechtung in der Wertschöpfungskette und damit einhergehende steigende Risiken und Abhängigkeiten. Um die Chancen, welche mit einer zunehmenden Digitalisierung und insbesondere Lösungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz verbunden sind, nutzen zu können, bedarf es des Aufbaus eines „Innovation Ecosystems“, in welche beispielsweise Lieferanten, Universitäten, Softwareanbieter, aber auch Mitbewerber eingebunden sind (Autio und Thomas 2014). Auch soziale Spannungsfelder in vielen Regionen weltweit und die daraus resultierende Ungleichheit (Stiglitz 2013) sowie Herausforderungen des Gesundheitssystems bedingt durch eine immer älter werdende Bevölkerung in zahlreichen westlichen Gesellschaften (Weltwirtschaftsforum R. Altenburger (*) · C. Bachner IMC Fachhochschule Krems, Krems, Österreich E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_7

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R. Altenburger und C. Bachner

2019) stellen Herausforderungen dar, aus denen Chancen, aber auch Bedrohungen resultieren können. Familienunternehmen sind aufgrund einer, in ihrer DNA verankerten, generationenübergreifenden, nachhaltigen Denkhaltung oftmals Vorreiter, wenn es um die Entwicklung nachhaltiger Lösungen für diese aufgezeigten Spannungsfelder geht. Familienunternehmen kommt in den meisten europäischen und außereuropäischen Ländern eine große volkswirtschaftliche Bedeutung zu. In der Wissenschaft kann in den letzten Jahren eine zunehmend intensive Auseinandersetzung mit den Besonderheiten dieses Unternehmenstypus oftmals im Vergleich zu Nicht-Familienunternehmen festgestellt werden, was durch eine zunehmende Anzahl an Publikationen, Konferenzen und spezifischen Journals (vgl. Family Business Review, Journal of Family Business Strategy) festgemacht werden kann. Familienunternehmen befinden sich oftmals im Spannungsfeld Tradition vs. Innovation (De Massis et al. 2016), was eine Herausforderung insbesondere in Phasen der Unternehmensnachfolge darstellt. Das Finden einer Balance zwischen Kontinuität und erforderlichem Wandel bindet häufig zahlreiche Ressourcen des Unternehmens, aber auch der Unternehmerfamilie, ist aber für die Bewahrung der Identität als Familienunternehmen oftmals erforderlich. Zu den besonderen Charakteristika von Familienunternehmen gehören langjährige Beziehungen zu einem umfassenden Stakeholdernetzwerk, Reputation sowie das Verständnis von Unternehmen als Teil der Gesellschaft und den damit verbundenen Herausforderungen einer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Darüber hi­ naus sind generationenübergreifendes Denken (Le Breton-Miller und Miller 2006) bzw. Sozialkapital aus einer „familiness“ (Habbershon et  al. 2003) spezifische Faktoren von Familienunternehmen (vgl. Kap. „Integrierte Unternehmensführung und Nachhaltige Unternehmensführung: Synergetisches Potenzial einer Konzeptzusammenführung“). Charakteristisch für Familienunternehmen ist die enge Verbindung von Familie und Un­ ternehmen, wobei erhebliche Unterschiede in der Intensität der Einbindung der Unternehmerfamilie in das Familienunternehmen bestehen können. Der Familieneinfluss, welcher zu einem spezifischen unternehmerischen Verhalten führt, wird von Chua, Chrisman und Sharma (1999) als essenzielles Merkmal eines Familienunternehmens gesehen. Die Verbindung der Logiken von Unternehmerfamilie und Unternehmen stellt eine wesentliche Herausforderung für die integrierte nachhaltige Unternehmensführung dar, da Entscheidungen manchmal nach familiären oder überwiegend nach ökonomischen Kriterien getroffen werden (Heider 2017). Das Oszillieren zwischen rationalen und emotionalen Entscheidungen resultiert aus der Grundlogik der beiden Systeme Unternehmen und Familie.

2

Familienunternehmen

Während sich die betriebswirtschaftliche Forschung lange Zeit an Großunternehmen orientiert hatte, hat sich dieses Bild in den letzten zwei Jahrzehnten verändert. Familienunternehmen werden im Forschungszweig „family business research“ zusammengefasst und

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung von Familienunternehmen

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zunehmend Thema in wissenschaftlichen, aber auch politischen Debatten (Heider 2017). Zurecht, denn neun von zehn der privaten Unternehmen in Deutschland sind Familienunternehmen. Sie stellen knapp 60  % der Arbeits- und Ausbildungsplätze zur Verfügung, tätigen den überwiegenden Anteil der Investitionen und erarbeiten den Löwenanteil der Wertschöpfung aller deutschen Unternehmen. Somit prägen Familienunternehmen ganz wesentlich den Wirtschaftsstandort Deutschland (Stiftung Familienunternehmen 2019). In Österreich sind rund 88  % der Unternehmen laut EU-Definition Familienunternehmen. Sie beschäftigen 1,8 Millionen Personen, dies entspricht 69 % aller selbstständig und unselbstständig Beschäftigten, und sind für 61  % der Umsätze der heimischen Wirtschaft verantwortlich. Ohne Ein-Personen-Unternehmen beträgt der Anteil der Familienunternehmen mit 51  % immer noch mehr als die Hälfte der österreichischen Unternehmen (KMU Forschung Austria 2018). Was aber genau sind Familienunternehmen? Während in der Literatur mehr als 30 verschiedene Definitionen von Familienunternehmen aktiv benutzt werden (O’Boyle et  al. 2012), wird im Rahmen dieses Kapitels die weitestmögliche Definition von Familienunternehmen verwendet: Eine Organisation ist dann ein Familienunternehmen, wenn das Unternehmen fundamental durch eine oder mehrere Familien beeinflusst wird – egal ob durch die Eigentums- und Stimmrechte, Engagement im Aufsichtsrat bzw. Beirat, operative Führungspositionen im Unternehmen oder aber durch bestimmte Werte, welche die Familie im Unternehmen verankert (König et al. 2013). Das Spektrum an möglichen Konstellationen reicht damit vom gewerblichen Kleinbetrieb, in dem nur Familienmitglieder mitarbeiten, über das mittelständische Unternehmen, das im Top-Management von einem oder mehreren Eigentümern geführt wird, bis hin zu einer Unternehmenskonstellation, in der sich die Familie auf die Rolle eines Mehrheitseigentümers beschränkt und die Unternehmensführung im engeren Sinne vollständig einem professionellen Fremdmanagement übertragen hat (Wimmer et al. 2018). Um Familienunternehmen von Nicht-Familienunternehmen zu unterscheiden, ist weder Größe noch Rechtsform ein geeignetes Unterscheidungsmerkmal, sondern es sind vielmehr weichere Faktoren, die Familien- von Nicht-Familienunternehmen differenzieren. Die Besonderheit von Familienunternehmen liegt vor allem im Zusammenwirken der beiden Systeme Familie und Unternehmen. Während im Familiensystem das soziale System der Familie existiert, in dem Entscheidungen nach persönlichen Kriterien getroffen werden, sind im System Unternehmen ökonomische Kalkulationen sowie Fragen der Rentabilität für die Entscheidungsfindung relevant (Simon 2012a). Entwicklungen und Handlungsorientierungen klaffen zwischen beiden Systemen häufig auseinander, beeinflussen sich aber wechselseitig. Der Familieneinfluss auf das Unternehmen kann die nachhaltige Entwicklung von Wettbewerbsvorteilen und in weiterer Folge den Erfolg eines Familienunternehmens positiv oder negativ beeinflussen („familiness“ des Unternehmens, vgl. Habbershon et al. 2003). So profitieren Familienunternehmen oft von einer exzellenten Reputation und der Unterstützung durch Familienmitglieder. Andererseits reduzieren der Einfluss der Familie und insbesondere der Wunsch nach Kontrolle häufig den Zugang zu externem Kapital (z.  B.  Eigenkapital von Familienexternen oder durch Schulden)

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R. Altenburger und C. Bachner

(­ Kammerlander und Prügl 2016). Ebenso wirkt das Unternehmen positiv oder negativ auf die Unternehmerfamilie und auf deren metaökonomischen und ökonomischen Ziele und Erwartungen und prägen zugleich das Selbstverständnis der Unternehmerfamilie (Frank et al. 2012). Paradoxien, die als Zusammenwirken systemverschiedener Erwartungen und Ansprüche verstanden werden können, sind das organisationale Kernstück von Familienunternehmen (Neuvians 2011). Damit Familienunternehmen langfristig überleben können, müssen sie es schaffen, die Paradoxien aufrechtzuerhalten und den Konflikt nicht zugunsten der einen oder anderen Seite zu entscheiden, indem Familie und Unternehmen eine gemeinsame Überlebenseinheit bilden (Simon 2012a). Tagiuri und Davis (1996) erweitern die Vorstellung vom Familienunternehmen als duales System um die Perspektive des Eigentums (vgl. Abb. 1). Das Drei-Kreis-Modell hilft, die komplexen und heterogenen Interessenlagen, die zwischen Managern, Eigentümern und Familienmitgliedern entstehen, besser nachzuvollziehen (Heider 2017). Die Vielzahl möglicher Konstellationen der Beziehungsgestaltung in Familienunternehmen macht es damit aber auch unmöglich, Familienunternehmen als einen homogenen Typus zu behandeln (Frank et al. 2012). Der Familieneinfluss, welcher zu einem spezifischen unternehmerischen Verhalten führt, wird von Chua, Chrisman und Sharma (1999) als essenzielles Merkmal eines Familienunternehmens gesehen. Zur Bestimmung der Intensität des Einflusses der Familie lassen sich der Essence- und Components-of-Involvement-Ansatz voneinander unterscheiden. Der Essence-Ansatz geht davon aus, dass die Einbindung der Unternehmerfamilie in das Unternehmen zu einem spezifischen Organisationsverhalten führt, woraus sich Leistungsunterschiede erklären lassen (Chrisman et  al. 2005), während im Zentrum des Components-­of-Involvement-Ansatz der Grad und die Art der Einbindung der Unternehmerfamilie in das Unternehmen steht (z. B. Hack 2009).

Abb. 1 Drei-Kreis-Modells eines Familienunternehmens (Gersick 1997, S. 6)

Familie

Eigentum

Unternehmen

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung von Familienunternehmen

3

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 ie Bedeutung von integrierter nachhaltiger D Unternehmensführung in Familienunternehmen

Maßgebliche Beiträge für das Fundament eines integrierten Managements wurden durch Forschungen an der Universität St. Gallen bereits in den 1980er-Jahren gelegt, aus dem sich das St. Galler Management Modell, welches Management als reflexive Gestaltungspraxis versteht, entwickelt hat (Rüegg-Stürm und Grand 2017). Das St. Galler Management Modell wurde laufend weiterentwickelt und das Zusammenspiel Umwelt und Organisation immer weiter ausdifferenziert, wobei die Neuere Systemtheorie als theoretischer Rahmen eine zentrale Rolle spielt. Die Themen Kultur, Sinn und Ethik, aber auch Corporate Governance wurden immer weiter vertieft und Entwicklungen im Management-­ Umfeld und aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen im Modell integriert. Ab der dritten Generation wurde verstärkt ein Fokus auf prozessorientierte Organisationsformen gelegt (Rüegg-Stürm und Grand 2017). Unter integriertem Management wird eine ganzheitliche Konzeption der Unternehmungsführung verstanden, die „inhaltlich aufeinander abgestimmt, die betrieblichen Funktionsbereiche, zentrale Unternehmungsebenen (einschließlich der Umwelt) und die Kernaktivitäten im Rahmen des Managementprozesses sowie einen übergeordneten Bereich des Entwurfs, der Implementation und der Entwicklung von Grundkonzepten und der Unternehmungsstrategie umfasst“ (Steinle 2005, S.  4). Ganzheitlichkeit umschreibt dabei „den Versuch, dem integrierten Gesamtgefüge und den vernetzten Teilen von Unternehmungen gerecht zu werden (also selektive Perspektiven und Positionen zu überwinden)“ (Steinle 2005, S. 5). Ulrich und Probst (1995) verstehen Unternehmensführung als Bewältigung von Komplexität, wobei ein Wechselspiel von Komplexitätsreduktion und -erhöhung durch Lenkungseingriffe zu realisieren ist. Unternehmensführung kann danach entlang zweier Denkachsen verstanden werden, einerseits als Gestalten, Lenken und Entwickeln eines sozialen Systems oder andererseits auf operativer, strategischer und normativer Ebene (Ulrich und Probst 1995). Eine integrierte Management-Betrachtung geht von der gegenseitigen Beeinflussung der Dimensionen aus. Während es Aufgabe des operativen Managements ist, lenkend in die Unternehmungsentwicklung und im „day to day business“ einzugreifen, kommt dem Normativen und Strategischen eher eine Gestaltungsfunktion der Rahmenbedingungen zu. Das normative Management beschäftigt sich mit den generellen Zielen der Unternehmung, den Prinzipien, Normen und Spielregeln des Unternehmens, welche die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit der Unternehmung grundlegend gestalten. Das normative Management wirkt konstitutiv für alle strategischen und operativen Handlungen der Unternehmung (Bleicher und Abegglen 2017). Da sich vor allem die Werte und Ziele von Familienunternehmen und Nicht-­ Familienunternehmen unterscheiden (z.  B.  Langfristorientierung, Umgang mit Risiken, Zugang zu Innovation vgl. Calabrò et al. 2019), wird im Folgenden die normative Ebene einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung betrachtet. Im Vordergrund stehen

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dabei die Wechselwirkungen, die gegenseitige Beeinflussung und Irritationen der Systeme Familie und Unternehmen, die sowohl verstärkend wirkend, aber auch Quellen von Konflikten und Irritationen darstellen können. Der Einfachheit halber wird davon ausgegangen, dass die Kreise Familie und Eigentum ident sind (vgl. Kap. „Integrierte Unternehmensführung und Nachhaltige Unternehmensführung: Synergetisches Potenzial einer Konzeptzusammenführung“). Der Umgang mit und die kommunikative Bewältigung von Irritationen stellt auch eine zentrale Herausforderung im St. Galler Management Modell dar (Rüegg-Stürm und Grand 2017). Im Rahmen dieses Kapitels konzentrieren sich die Autoren auf Philosophie und Vision, Kultur und Verfassung als zentrale Elemente der normativen Dimension, da diese für die Herausforderungen von Familienunternehmen zentrale Elemente darstellen.

4

Die zentrale Rolle von Familien- und Unternehmenswerten

Überlegungen zur Unternehmungsphilosophie orientieren sich an dem geschaffenen Wertegerüst der Unternehmung. Die Unternehmungsphilosophie ist zu beschreiben als das unternehmungsinterne Abbild einer Troika aus dem Menschenbild, der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und schließlich dem Leitbild der Unternehmung. Sie beschreibt damit einen wertebezogenen Sollzustand, der den Unternehmungsmitgliedern als Orientierungspunkt bzw. Maßstab für das eigene Handeln dient (Böttcher 2002). Philosophie und Vision bilden das Wertefundament in Unternehmen und Familie und sind Ausdruck eines normativen Grundverständnisses (Böttcher 2011). Unter Unternehmungsphilosophie kann „die ganzheitliche Interpretation der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Funktion und Stellung der Unternehmung und der daraus abzuleitenden Sinnzusammenhänge und Wertbezüge des Managements“ (Ulrich und Fluri 1995, S.  53) verstanden werden. Sie dient den Unternehmungsmitgliedern als Orientierungspunkt und Maßstab für das eigene Handeln (Steinle 2005). Die Familienphilosophie dient als Reflexionsbasis des familien bezogenen Werteverständnisses. Philosophie und Vision bilden das Wertefundament in Unternehmen und Familie und sind Ausdruck eines normativen Grundverständnisses (Böttcher 2011). Für Dyllick (1989) sind Werte relative dauerhafte, anerkannte Ordnungsmaßstäbe für soziales Handeln. Sie stellen ein Sinngebungs- und Bewertungsmuster für soziale Realität dar und sind für das Handeln von Personen verhaltensbestimmend. Aktuell wird die Sinnfindung von Organisationen angesichts einer Vielzahl an Umbrüchen im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem wieder diskutiert (vgl. Purpose Driven Organizations; Fink und Moeller 2018). Werte sind das unsichtbare Band zwischen Unternehmen, Familie und Stakeholdern. Diese stellen die dauerhaft handlungsleitende Maxime dar, welche Orientierung geben, was als angemessen und wertvoll empfunden wird und was nicht (Müller-Stewens und Lechner 2016). Glauner (2016a) betrachtet Unternehmen als Werteräume, welche durch folgende systemische Dimensionen gekennzeichnet sind: das substanzielles ­Nutzenversprechen, die

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung von Familienunternehmen

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Unternehmenskultur, insbesondere der Umgang mit Stakeholdern sowie die Organisationsform (Glauner 2016b). Die Werte einer Unternehmerfamilie dienen als Orientierungshilfe der Familienmitglieder, da sie die Entwicklung der sozialen Identität der Familie mitbestimmen (Verplanken und Holland 2002). In den Unternehmenswerten spiegelt sich auch die Identität als Familienunternehmen wider. Das Unternehmen ist wiederum für die Identität der Familie maßgeblich. Der Werteraum von Familienunternehmen bezieht darüber hinaus die Unternehmerfamilie mit ein und gestaltet sich wie in Abb. 2 ersichtlich. Für die Weiterentwicklung der Organisation ist die Auseinandersetzung mit Familien-, Unternehmens- und Stakeholder-­ Werten erforderlich, sowie der Umgang mit Widersprüchen, aber auch positive Verstärkungen durch gesellschaftliche Werte (Dillerup und Stoi 2016). Wie jeder andere Werteraum unterliegt auch der des Familienunternehmens einer grundlegenden Dynamik (Glauner 2016a). Werte sind nicht beständig, sondern können sich im Zeitablauf durch Änderungen in der Familienstruktur, den Einfluss verschiedener Stämme, die Generationenfolge, das Hinzukommen neuer Eigentümer oder durch den Börsengang eines Familienunternehmens verändern (Chirico und Nordqvist 2010). Eine Herausforderung im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Unternehmensführung stellt für Familienunternehmen auch die Veränderung vom Inside-Out zum Outside-In Thinking, d. h. ausgehend von der gesellschaftlichen Herausforderung und den dominierenden Werten in der Gesellschaft Lösungsansätze zu entwickeln (Dyllick 1989), dar. Um Spannungsfelder oder die Veränderung von Werten aufzuarbeiten bzw. strategische Chancen wahrzunehmen, sind Ressourcen und Reflexionsräume für diese Form der Lösungsentwicklung notwendig.

Unternehmenswerte

Familienwerte

Stakeholder-Werte

Gesellschaftliche Werte Abb. 2  Werteraum. (Quelle: In Anlehnung an Glauner 2016a)

114

R. Altenburger und C. Bachner

Tab. 1  Werte im Familienunternehmen Henkel. (Quelle: Henkel 2016) Beispiel Henkel Unsere Werte leiten uns in unserem Handeln, bei Entscheidungen und in unserem Verhalten. Wir treffen täglich zahlreiche Entscheidungen in einem sehr volatilen Umfeld. Als Unternehmen sind wir sehr vielfältig: Wir kommen aus vielen Kulturen, verfügen über unterschiedliche Erfahrungen und sind in verschiedenen Märkten und Branchen tätig. Deshalb sind klare Werte, die von jedem bei Henkel geteilt, verstanden und gelebt werden, so wichtig für unseren zukünftigen Erfolg. Wert: Nachhaltigkeit Wert: Familienunternehmen Wir streben an, unsere führende Rolle im Bereich Wir gestalten unsere Zukunft mit ausgeprägtem Unternehmergeist auf der Nachhaltigkeit stetig auszubauen Grundlage unserer Tradition als Wir wollen mit unserem Handeln nachhaltig Familienunternehmen Werte schaffen – gemeinsam mit unseren Wir sind stolz auf unsere Tradition als Mitarbeitern, Partnern und Anspruchsgruppen. Wir übernehmen Verantwortung für die Sicherheit Familienunternehmen mit dem Ziel, und Gesundheit unserer Mitarbeiter, Kunden und nachhaltig Werte zu schaffen. Wir verfolgen eine langfristige Vision für unser Konsumenten sowie den Umweltschutz und die Unternehmen – geleitet von unseren Werten. Lebensqualität in unserem Umfeld. Zusammen mit einer soliden Finanzierung Henkel strebt eine Balance zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft, der Verantwortung schaffen wir damit die Grundlage für eine erfolgreiche Zukunft. für die Umwelt und wirtschaftlichem Erfolg an. Seit der Gründung der Firma im Jahr 1876 Unser ausdrückliches Bekenntnis zur steht die Familie Henkel zum Unternehmen Nachhaltigkeit war schon immer ein wichtiger und ermöglicht es uns, mit einer langfristigen Faktor unserer erfolgreichen Entwicklung. Wir verfolgen alle Aspekte nachhaltigen Handelns mit Perspektive zu agieren. Unsere gemeinsamen Werte und das gegenseitige Vertrauen einem langfristigen und unternehmerischen verbinden uns im Streben nach einem Ansatz. Dabei wollen wir nicht nur bestehende gemeinsamen Ziel: nachhaltig Werte für Standards einhalten, sondern auch neue setzen. zukünftige Generationen zu schaffen.

Werte sind nicht nur für die normative Ebene von zentraler Bedeutung, sondern beeinflussen auch die strategische Ebene und das operative Handeln (Bleicher und Abegglen 2017). Prägende Familienunternehmenswerte, die sich auf das Unternehmen auswirken, werden beispielhaft nachfolgend in Tab.  1 dargestellt. Das börsennotierte Familienunternehmen Henkel hat als zentrale Werte unter anderem auch (1) Nachhaltigkeit und die (2) Identität als Familienunternehmen formuliert, welches auch in der aktuellen Strategie ersichtlich ist und in der Kommunikation bewusst verwendet wird (Henkel 2016). In der Auseinandersetzung mit den Sustainable Development Goals stehen auch Familienunternehmen vor der Frage, wie diese am besten zu den Unternehmens- und Familienwerten passen, was einerseits zur Glaubwürdigkeit und andererseits zur Fokussierung der Aktivitäten und Ressourcen beiträgt. Anhand des österreichischen Familienunternehmens Palfinger wird in der nachfolgenden Abb.  3 aufgezeigt, wie Schwerpunkte der sozialen, ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit bei Palfinger mit ausgewählten Sustainable Development Goals in Verbindung stehen (Palfinger 2018).

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung von Familienunternehmen

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Abb. 3  Verbindung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Schwerpunkte mit den SDGS bei Palfinger. (Quelle: Palfinger 2018)

4.1

Vision

Für Bleicher und Abegglen (2017) ist die Vision Ursprung unternehmerischer Tätigkeit als generelle Leitidee, die wiederum in den Dimensionen des Normativen, Strategischen und Operativen zu konkretisieren ist. Visionen verfügen über vier Eigenschaften: Sie sind (1) sinnstiftend und reduzieren damit Komplexität und schaffen Orientierung. Eine Vision wirkt zudem (2) motivierend, stimulierend und weckt Energie, ohne dabei utopisch zu sein. Darüber hinaus sollen Visionen auch (3) handlungsanleitend wirken, um eine unternehmerische Einheit als Ganzes handlungsfähig zu machen. Letztlich hat eine Vision auch die Aufgabe, (4) interagierend auf das Handeln der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu wirken, deren Kräfte zu bündeln und damit die Realisierung der angestrebten Ziele sicherzustellen (Müller-Stewens und Lechner 2016). Visionen haben eine Reihe von Wirkungen, neben Sinnvermittlung und Faszinationskraft, Identifikations- und Erinnerungsfähigkeit sowie Kreativitäts- und Innovationsförderung (Mann 1990). Aufgabe der Vision ist es, den Unternehmungsmitgliedern Orientierung zu geben und Werte zu vermitteln. Daraus folgt, dass die Vision auch ein Instrument ist, um neue Werte in der Unternehmungspolitik und -kultur zu verankern oder gegenwärtige Vorstellungen zu beeinflussen. Vor allem die Vertrauenskultur gewinnt in diesem Verständnis den Stellenwert einer Grundvoraussetzung für nachhaltige sowie erfolgreiche Unternehmungsführung (Böttcher 2011).

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Ein Unternehmen verfügt über eine Vision, wenn es eine auf die Zukunft gerichtete Leitidee über die eigene Entwicklung hat und auch seine Handlungen konsequent auf diese Ziele ausrichtet. Eine Vision ist demnach ein „Abbild einer zukünftigen Wirklichkeit, die durch ein Unternehmen angestrebt wird“ (Bleicher und Abegglen 2017, S. 221). Die Unternehmensvision und die -philosophie des Managements stellen das Wertefundament dar und sind Ausdruck eines unternehmerischen, normativen Grundverständnisses, das in weiterer Folge eine Fokussierung sowie Konkretisierung in der Unternehmungspolitik, dem Leitbild, sowie insbesondere in der Unternehmungskultur findet (Böttcher 2002). Während die Vision als angestrebter zukünftiger Zustand und somit als Legitimation für den Fortbestand des Unternehmens zu betrachten ist, geht es bei der Mission darum, wie ausgehend vom Istzustand des Unternehmens, welche Aktivitäten zu ergreifen sind, um den künftigen Zustand bestmöglich zu erreichen. Sie ist sozusagen als globale Abfassung der unternehmerischen Grundstrategie zu verstehen (Steinle 2005). Visionen erbringen darüber hinaus eine wesentliche Selektionsleistung bei der Entscheidung für normative Konzepte und strategische Programme (Bleicher und Abegglen 2017). Bei Familienunternehmen sind unternehmerische Visionen häufig von einzelnen Personen geprägt, insbesondere vom Gründer bzw. der Gründerin (Bleicher und Abegglen 2017). Sein bzw. ihr persönliches Vorbild und Vorleben sorgen für eine konsequente Umsetzung der Vision (Kammerlander u. a. 2015). Im Laufe der Unternehmungsentwicklung kann die Vision des Gründers zunehmend verloren gehen oder durch Veränderungen im Unternehmen eine Rückbesinnung auf die Gründervision und ihre Bedeutung für die Unternehmenszukunft erfolgen, da sie eine stark stabilisierende Wirkung angesichts zunehmender Umweltdynamik und Komplexität hat. Die Entwicklung einer generationenübergreifenden Vision für Familie und Unternehmen wirkt sinnstiftend für beide System eund sollte den Bedürfnissen aller involvierten Generationen gerecht werden (Cohen und Sharma 2016). Ein integraler Bestandteil einer solchen Vision ist die Formulierung eines Daseinszwecks für die Familie, der über den reinen Besitz des Unternehmens hinausgeht. In vielen Fällen umfasst dieser ganz generell den langfristigen Familienzusammenhalt oder den Wunsch, den wirtschaftlichen Erfolg für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung zu nutzen, z. B. Engagement in Bildungsinstitutionen, Förderung der Region oder philanthropische Tätigkeiten. Dies fördert die Verbundenheit innerhalb der Familie, aber auch die Identifikation mit dem Unternehmen. Das Unternehmen dient dabei als Vehikel, um diese nicht-finanziellen Ziele zu erreichen (Altenburger et al. 2018). Dies zeigt sich auch am Beispiel Miele (vgl. Tab. 2).

4.2

Unternehmens- und Familienkultur

Die Unternehmenskultur spricht die Verhaltensdimension des normativen Managements an. Während in der Unternehmensverfassung Werte und Normen explizit zum Ausdruck kommen, prägt die Unternehmungskultur implizit das Verhalten der Mitglieder (Bleicher und Abegglen 2017). Die Unternehmenskultur wächst über Jahre heran und spiegelt meist die Visionen, Werte und Normen des Gründers wider, die dadurch auch nach seinem Ausscheiden

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Tab. 2  Vision des Familienunternehmens Miele (2019) Beispiel: Miele Familienunternehmen in vierter Generation zu 100 % im Eigentum der beiden Gründerfamilien Miele und Zinkann. Vision: Miele ist das nachhaltigste Unternehmen der Branche – und wird auch so wahrgenommen! Als einer der größten Arbeitgeber vor Ort ist Miele traditionell eng mit der Stadt Gütersloh und der Heimatregion Ostwestfalen-Lippe verbunden. Schon die Unternehmensgründer sahen sich für das Wohlergehen ihrer Beschäftigten und deren Familien in der Verantwortung. Aus dieser Fürsorge ist über die Jahrzehnte ein breites gesellschaftliches Engagement erwachsen, das sich daher vor allem auf die Regionen rund um die Unternehmensstandorte konzentriert. So leistet Miele einen Beitrag zu einem intakten und attraktiven Umfeld, wie es auch die Miele Nachhaltigkeitsstrategie vorsieht.

weiterleben können. In Familienunternehmen spielen zudem eine ausgeprägte religiöse Verankerung, aber auch soziales und regionales Engagement oft eine große Rolle und beeinflussen die Beziehung zu den Stakeholdern nachhaltig (Felden et al. 2019). Die Unternehmenskultur verleiht dem Unternehmen eine eigene, unverkennbare Systemidentität, die nach innen und nach außen durch Symbole, Mythen, Zeremonien und Rituale sichtbar und durch Erzählungen kommuniziert wird (Bleicher und Abegglen 2017), und dient damit als stabiler Orientierungsrahmen auch in unsicheren Zeiten (Homma und Bauschke 2015). Das Entstehen einer Unternehmenskultur ist besonders intensiv, wenn es durch große Homogenität und Dauer der Gruppenzugehörigkeit gekennzeichnet ist (Schein 1984). Die Unternehmenskultur kommt in gemeinschaftlich gepflegten Verhaltensweisen, Sitten und Gebräuchen zum Ausdruck, die sich in Artefakten, wie der Architektur der Gebäude, der Formalität im Umgang mit Mitarbeitern, Bekleidungsgewohnheiten oder in einem von Fairness oder Wertschätzung geprägten Umgang mit Stakeholdern niederschlagen und über Generationen die Einstellungen und Erfahrungen der Menschen beeinflussen (Bleicher und Abegglen 2017). In Familienunternehmen existiert neben der Unternehmenskultur, aber auch eine Familienkultur, deren Ausmaß Astrachan et al. (2002) daran messen, inwieweit sich Familienwerte und Unternehmenswerte gleichen und inwieweit sich die Familie zum Unternehmen bekennt. So können Familienwerte, wie Sparsamkeit und Geiz, sich auch vorteilhaft auf die Unternehmenswerte und operative Entscheidungen auswirken. Dass diese aber nicht immer nur positive Folgen hat, zeigt die von Eigennutz geprägte Familienkultur der Drogeriekette Schlecker, die sich auf das Vertrauen und den Respekt gegenüber den Mitarbeitern auswirkte (Stehr und Hartmann 2018).

4.3

Unternehmens- und Familienverfassung

Verfassungen verfolgen fünf wesentliche Ziele, die (1) Ordnungsfunktion, die (2) Sicherung der Handlungsfähigkeit, die (3) Integrationsfunktion, die (4) wechselseitige Kon­ trolle und Gleichgewicht der Machtträger sowie (5) Lösungswege zur Bewältigung von Krisen und Problemfällen (Kormann 2017).

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In der Unternehmensverfassung kommt der Umgang mit Macht in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck, in dem die über die geltenden Rechtsvorschriften hinausgehenden Verhaltenskodizes in unterschiedlicher Form fixiert werden (Bleicher und Abegglen 2009). Ziel ist die Schaffung einer Machtordnung im Sinne einer Machtstruktur, die Zuordnung von Machtpotenzialen sowie die Motivation zum Machtgebrauch (Bleicher und Abegglen 2009; Steinle 2005). Unter formellen Gesichtspunkten ist die Verfassung die Summe der relevanten – von der jeweiligen Gesellschaftsform abhängigen – Rechtsnormen, die in der relevanten Gesetzgebung schriftlich verankert sind. Diese Rahmenordnung kann durch weitere, nicht gesetzlich bedingte Regelungen, die im Autonomieraum der Unternehmung liegen, konkretisiert werden (z. B. Statuten, Geschäftsordnung und andere Dokumente) (Bleicher und Abegglen 2017). Die Unternehmensverfassung hat jeweils unterschiedliche Inhalte, Zielsetzungen, Verbindlichkeitsmuster und Auswirkungen, woraus eine Vielzahl an möglichen Verfassungsarten resultiert (Wunderer und Klimecki 1990). Sie stellt ganz allgemein ein Regelwerk dar, die die Gründung und Beendigung einer Unternehmung, ihr Außenverhältnis, die Verteilung ihres ökonomischen Erfolges (Gewinn, Wertschöpfung), die Grundrechte der Unternehmungsmitglieder allgemein sowie speziell ihre Organe (z. B. Beirat, Familienrat), insbesondere deren Beziehung, ihr Zustandekommen, ihre Zusammensetzung, ihr Zusammenwirken und ihre Kompetenzverteilung betreffen (Brose 1984). Die Unternehmensverfassung setzt einen strukturellen Rahmen sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis. Im Innenverhältnis regelt sie ein Grundverständnis zu Kompetenzverteilung, im Außenverhältnis die Berücksichtigung der Interessen von Stakeholdern. Besonders im Rahmen einer gesellschaftlich verantwortlichen Unternehmensführung müssen die Stakeholderbeziehungen in der Normvorgabe der Unternehmensverfassung gebührend berücksichtigt werden (Bleicher und Abegglen 2017). Die Family Governance steht der Business Governance gegenüber und hat das Ziel, das komplexe Verhältnis zwischen Familie und Unternehmen in Familienunternehmen zu steuern (Richter et al. 2019). Die Familienverfassung gehört zusammen mit Familienaktivitäten, Family Education, Family Philanthropie und Konfliktmanagement zu den wichtigsten Instrumenten der Family Governance (Felden et al. 2019). Diese Instrumente helfen, die Familie zu einer Einheit mit gemeinsam geteilten Visionen, Zielen und Werten zu formen (Habbershon und Astrachan 1997). Eine Familienverfassung ist im Gegensatz zur Unternehmensverfassung ein juristisch nicht bindendes Schriftstück einer Unternehmerfamilie, in dem die fundamentalen Grundsätze des familialen und unternehmerischen Denkens vereint werden. Neben ­Wertehaltungen sind darin oft auch konkrete Definitionen, Anforderungen, Erwartungshaltungen, Vorgehensweisen und Prozessbeschreibungen einer Unternehmerfamilie enthalten. Um die Verbindlichkeit an die Inhalte zu erhöhen, wird diese von den Mitgliedern einer Unternehmerfamilie oftmals gemeinsam unterzeichnet (Richter

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung von Familienunternehmen

119

et al. 2019). Die in der Familienverfassung festgelegten Regelungen sollten in einem weiteren Schritt in den einzelnen rechtlich bindenden Verträgen, wie Ehe- oder Erbverträge, berücksichtigt werden (Felden et al. 2019). In der Praxis wird die Familienverfassung auch als Familiencharta, -kodex, -statut, -leitbild, -strategie usw. bezeichnet (Kormann 2017). Zu den wesentlichen Umsetzungselementen einer Familienverfassung zählen: • • • • •

Familiäre Mission Mitgliedschaft (Inhaberfamilie, Organisation, Rollen im Unternehmen) Selbstverständnis der Familie Family Governance Corporate Governance (Felden et al. 2019).

Während die Unternehmensverfassung mit der Gründung des Unternehmens begonnen und laufend weiterentwickelt wird, entsteht die Notwendigkeit einer Familienverfassung meist erst mit zunehmender Komplexität in der Familienkonstellation, wie z. B. der Nachfolge. Denn die Vermittlung der unternehmerischen Denkweisen und Werte an neue oder passive Familienmitglieder sowie die Heranführung des Nachwuchses an das Unternehmen und die unternehmerischen Herausforderungen sind wichtige Aufgaben zur langfristigen Existenzsicherung des Familienunternehmens. Der Bestand des Unternehmens kann nur gesichert werden, wenn die unternehmerische Kraft und das Wissen über die Besonderheit des eigenen Unternehmens in der Familie erhalten bleiben (Felden et al. 2019). In diesem Zusammenhang reflektiert die Unternehmerfamilie ihr Selbstverständnis als Familie und ihr Verhältnis zum Unternehmen (Richter et  al. 2019). Diese Aufgaben sind so komplex und bedeutsam, dass sie nicht sporadisch und ungeplant, sondern fortwährend, idealerweise in der Familienverfassung verankert, bearbeitet werden müssen (Felden et al. 2019). Die Familienverfassung verfolgt damit eine ganzheitliche Betrachtungsweise und versucht alle drei Ebenen des Familienunternehmens (Unternehmen, Familie, Eigentum) in Einklang zu bringen, um so die Bindung der Familienmitglieder untereinander und an das Unternehmen zu erhöhen. Auch Verhaltensregeln für viele denkbare und unter Umständen sogar die Familie belastende Situationen können Berücksichtigung finden, um klare Rahmenbedingungen für alle Bereiche des Familienunternehmens sowie für zukünftige Handlungen und notwendige Veränderungen in der Organisation und Struktur zu schaffen. Dabei muss auf die individuellen Charakteristika der jeweiligen Familie und des jeweiligen Familienunternehmens Rücksicht genommen werden (Ward 2005). Die hohe Bedeutung der Familienverfassung als Governance Instrument zeigt eine, vom Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) 2018 bei 214 Familienunternehmen durchgeführte Untersuchung (Richter et al. 2019), wie in Abb. 4 ersichtlich.

120

R. Altenburger und C. Bachner

Familienverfassung/-kodex

78%

Explizite Familienstrategie

75%

Gesellschaftsvertrag mit Wohlverhalten

74%

Familienakademie

72%

Familienintranet/sonstige Kommunikationskanäle

69%

Family Office

67%

Familiengremium/"Kümmerer"

59%

Familientage

57%

Nachfolgeplanung

54%

NextGen-Formate

47%

Konfliktmanagementsystem

30% 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

Abb. 4  Bedeutung der verschiedenen Family-Governance-Instrumente (Richter et al. 2019)

5

Ausblick

Obwohl Familienunternehmen in vielen Bereichen der Nachhaltigkeit zu den Pionieren zählen, ist es dennoch erforderlich, sich auch mit deren Schattenseiten auseinanderzusetzen. Dazu zählen unter anderem Nepotismus, die Überlagerung von rationalen Entscheidungen durch emotionale Einflüsse, aber auch die Konflikte von unterschiedlichen Familienstämmen in Mehr-Generationen-Familienunternehmen mit möglicherweise kontroversen Zielen, was den Fortbestand bzw. die Ausrichtung des Unternehmens betreffen. Im Bereich der Forschung besteht zunehmender Bedarf an qualitativen und quanti­ tativen Untersuchungen im Bereich der integrierten nachhaltigen Unternehmensführung. Im Bereich der quantitativen Forschung sollte der Zusammenhang zwischen integrierter nachhaltiger Unternehmensführung und finanzieller Performance in unterschiedlichen Branchen und unterschiedlichen Generationen untersucht werden. Im Bereich der qualitativen Forschung wäre ein möglicher Schwerpunkt, sich mit den Zielen und Motiven von Unternehmerfamilien bei der Einführung einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung verstärkt auseinandersetzen. Eine besondere Chance besteht darin, Erkenntnisse aus der Familienunternehmensforschung auf Herausforderungen von Nicht-Familienunternehmen zu übertragen, da Familienunternehmen oftmals seit Generationen sowohl finanziell als auch im Bereich der Nachhaltigkeit erfolgreich agieren. Interessante Erkenntnisse sind auch davon zu erwarten, wenn untersucht wird, woran Familienunternehmen scheitern, und dabei insbesondere die normative Dimension betrachtet. Dabei von beson-

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung von Familienunternehmen

121

derer Bedeutung sind strukturelle Schwächen, nicht konstruktiv bewältigte ­Paradoxien oder auch nicht aufgearbeitete Widersprüche in den Familien- und Unternehmenswerten. Auch in der Hochschullehre verdienen Familienunternehmen eine größere Aufmerksamkeit, da viele von ihnen zu den Weltmarktführern zählen (Simon 2012a) und attraktive Arbeitgeber für Absolventinnen und Absolventen sind. In der Hochschullehre werden oftmals Fallstudien zu Konzernen, wie Google, Facebook, Amazon und Co., eingesetzt, dies führt zu einer Engführung, da hier volkswirtschaftlich wichtige Player und deren Besonderheiten ausgeklammert werden. Familienunternehmen haben nicht nur hohe regionale volkswirtschaftliche und soziale Bedeutung (vgl. Abschn. 2), sondern sind auch Innovationsvorreiterin vielen Bereichen (vgl. Trumpf, Würth, Stihl). Durch den Mut zu eigenständigen Entscheidungen, die nicht primär von Investoreninteressen abhängig sind, können Familienunternehmen als Pioniere einer langlebigen, integrierten und nachhaltigen Unternehmensführungen betrachtet werden.

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Ulrich H, Probst GJB (1995) Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln: ein Brevier für Führungskräfte, 4., unveränd. Aufl. Haupt, Bern Ulrich P, Fluri E (1995) Management: eine konzentrierte Einführung, 7., verb. Aufl. UTB für Wissenschaft Uni-Taschenbücher Betriebswirtschaft 375, Haupt, Bern United Nations (2019) Sustainable development goals. https://sustainabledevelopment.un.org/?menu=1300 Verplanken B, Holland RW (2002) Motivated decision making: effects of activation and self-­ centrality of values on choices and behavior. J Pers Soc Psychol 82(3):434–447. https://doi. org/10.1037/0022-3514.82.3.434 Ward JL (2005) Unconventional strategy: why family firms outperform. In: Ward JL (Hrsg) Unconventional wisdom. Wiley, Hoboken, S 13–33 Weltwirtschaftsforum (2019) Global Risks 2019: Insight Report. http://www3.weforum.org/docs/ WEF_Global_Risks_Report_2019.pdf. Zugegriffen am 12.12.2019 Wimmer R, Domayer E, Oswald M, Vater G (2018) Familienunternehmen – Auslaufmodell oder Erfolgstyp? 3., überarb. Aufl. Springer Gabler, Wiesbaden Wunderer R, Klimecki RG (1990) Führungsleitbilder: Grundsätze für Führung und Zusammenarbeit in deutschen Unternehmen. C. E. Poeschel, Stuttgart

Prof. Dr. Reinhard Altenburger  Professor für Strategisches Management, Nachhaltiges Management/CSR und Innovation im Department Business der IMC Fachhochschule Krems. Der Fokus seiner Forschung liegt in den Themenfeldern CSR und Innovation, Innovation in Familienunternehmen sowie nachhaltige Geschäftsmodelle und der Verbindung von gesellschaftlicher Verantwortung und Unternehmensstrategie. Studium der Betriebswirtschaft und Wirtschafts-pädagogik sowie Doktoratsstudium der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien; Langjährige Tätigkeit als Projektleiter und Fachexperte in den Bereichen Vertriebsstrategie, Unternehmensplanung, Con­trolling und Innovationsmanagement und als Unternehmensberater; Fachbuchautor; zahlreiche Vorträge bei internationalen Konferenzen. Er ist im Scientific Panel internationaler Konferenzen und Reviewer zahlreicher internationaler Journale. Bei Springer Gabler erscheinen von ihm zuletzt CSR und Familienunternehmen und Innovation Management and Corporate Social Responsibility. Christine Bachner,  Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrende im Department Business der IMC Fachhochschule Krems. Sie hat Internationale Wirtschaft an der FH Kufstein, Soziologie an der Johannes-Kepler-Universität Linz und Wirtschaftspädagogik an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert und macht seit 2016 ihr Doktorat am Forschungsinstitut für Familienunternehmen der WU Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf Familienunternehmen, CSR/Nachhaltigkeit und Innovation, ihre Kernkompetenzen umfassen qualitative Forschungsmethoden.

Menschenrechtskonforme Unternehmensführung mithilfe des Risikomanagements? Jutta Knopf, Remo Klinger und Karina Hildebrandt

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Hintergrund

Das Bild des wie ein Kartenhaus zusammen gestürzten Fabrikgebäudes von Rana Plaza in Bangladesch geht als Symbol für die Notwendigkeit unternehmerischer Sorgfaltspflichten in der Lieferkette in die Geschichte ein. Spätestens seit diesem 24. April 2013, dem Tag des Einsturzes, rückte die Frage, ob man als westliches Unternehmen neben der Produktion auch jede Verantwortung in den globalen Süden auslagern kann, in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten. Denn Rana Plaza war nur die Spitze des Eisbergs. Ähnliche Vorfälle ziehen sich in der südostasiatischen Bekleidungsindustrie wie eine Perlenkette durch die Jahre, die wir als die der Globalisierung verstehen. In anderen Branchen sieht es oft nicht viel besser aus. Mit vielen, teilweise abscheulichen Menschenrechtsverbrechen werden auch westliche Unternehmen in Verbindung gebracht. Die Frage, welche Verantwortung ein in Deutschland oder Europa ansässiges Unternehmen trifft, um dafür zu sorgen, dass sich grundlegende Menschenrechtsverletzungen in seiner Wertschöpfungskette nicht ereignen, ist seither nicht nur eine Rechtsfrage, sondern auch eine Frage des Risikomanagements. Der Beitrag soll erörtern, ob und mit welchen Risikomanagementmaßnahmen entsprechende Vorsorge oder Abhilfe getroffen werden kann.

J. Knopf (*) · K. Hildebrandt Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, Eberswalde, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] R. Klinger GEULEN & KLINGER Rechtsanwälte, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_8

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 enschenrechtliche Sorgfaltspflicht und M Risikomanagement: Ein Überblick

In den vergangenen Jahren haben staatliche Akteure als auch der Privatsektor menschenrechtliche Anforderungen definiert und zahlreiche Instrumente entwickelt, die helfen sollen, diese zu erfüllen. Ein wesentlicher Impuls geht dabei von den Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen (nachfolgend VN-Leitprinzipien) aus, welche im Jahr 2011 verabschiedet wurden. Diese machen deutlich, dass den Unternehmen von politischer Ebene ausdrücklich eine Verantwortung zur Respektierung der Menschenrechte zugesprochen wird. Heute haben 23 Länder Aktionspläne zum Thema Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedet, mit deren Hilfe die VN-Leitprinzipien auf nationaler Ebene umgesetzt werden sollen (vgl. The Danish Institute for Human Rights 2019). Auf internationaler und nationaler Ebene wurden und werden von Regierungen zudem zahlreiche Vorschriften mit Menschenrechtsbezug diskutiert und teilweise verabschiedet. In diesem Zuge ist der regulatorische Druck auf Unternehmen, Menschenrechte stärker in der Geschäftstätigkeit zu berücksichtigen, deutlich gestiegen. Grundsätzliches Ansinnen der VN-Leitprinzipien und anderer menschenrechtlicher Vorgaben für Unternehmen ist dabei, den Unternehmen nicht nur Verantwortung zuzuweisen, sondern ihnen gleichzeitig auch wirksame Gestaltungsmöglichkeiten mit an die Hand zu geben. Unternehmen sollen dabei unterstützt werden, ihre Menschenrechtsverantwortung individuell und praxistauglich zu adressieren – um damit zu einer stetigen Verbesserung für betroffene Beschäftigte, Gemeinden und Verbraucher beizutragen. Die Verbreitung von Beschäftigungsverhältnissen, welche bspw. von Diskriminierung, Niedriglöhnen oder Verstößen gegen die Vereinigungsfreiheit gekennzeichnet sind, wirft jedoch unweigerlich die Frage nach der Effektivität der gegenwärtig etablierten Unternehmenspraxis in Menschenrechtsfragen auf. Im Kern ihrer internationalen Handlungsanleitung für die Umsetzung der menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung formulieren die VN-Leitprinzipien Prinzipien der menschenrechtlichen Sorgfalt. In diesen heißt es, Unternehmen sollen Prozesse und Maßnahmen umsetzen, mit welchen sie es vermeiden, sich im In- als auch Ausland an Menschenrechtsverletzungen zu beteiligen oder dazu beizutragen. Bei den hier konstituierten qualitativen und prozessualen Anforderungen an die menschenrechtliche Unternehmensverantwortung handelt es sich nicht um Regelungen, welche unmittelbare rechtliche Verpflichtungen begründen. Vielmehr handelt es sich um völkerrechtliche Leitlinien, welche von der Wirtschaft anerkannt und den Staaten durchgesetzt werden sollen; sie können auf das Privatrecht ausstrahlen. Die Leitprinzipien bestehen im Einzelnen aus 31 Leitsätzen, welche auf Basis des sogenannten Drei-Säulen-Modells1 in drei Abschnitte gegliedert und jeweils mit einer  Grundlegende Gliederung des menschenrechtlichen Handlungsrahmens in die Pflicht des Staates, Menschenrechte zu schützen, die Verantwortung von Unternehmen, diese Rechte zu achten sowie die staatliche Sicherstellung des Zugangs zu gerichtlicher und außergerichtlicher Abhilfe gegen Menschenrechtsverletzungen.

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Menschenrechtskonforme Unternehmensführung mithilfe des Risikomanagements?

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­ ommentierung versehen sind. Mit Blick auf die Frage, wie sich die Verantwortung zur K Achtung der Menschenrechte operationalisieren und in die Unternehmenspraxis übertragen lässt, formulieren die Leitprinzipien mit den Prinzipien 11–14 zunächst allgemeine Anforderungen an den unternehmerischen Umgang mit Menschenrechten. Hier wird unter anderem bestimmt, dass die Menschenrechtsverantwortung grundsätzlich für alle Unternehmen besteht, unabhängig von deren Größe oder Branche. Mit Prinzip 15 werden schließlich drei konkrete Anforderungen an die Gestaltung der menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung gestellt: 1. Das Unternehmen muss sich zu den Menschenrechten in einer Grundsatzerklärung bekennen und diese unternehmensintern und -extern kommunizieren; 2. es muss proaktiv entsprechende Verfahren zur Erfüllung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht im Rahmen der Geschäftsaktivität durchführen und es 3. sollte für rechtmäßige Verfahren sorgen, welche die Wiedergutmachung etwaiger nachteiliger menschenrechtlicher Auswirkungen ermöglichen, oder dabei kooperieren (vgl. DGCN 2014, S. 18). Hier wird deutlich, dass die Achtung der Menschenrechte keine passive Verantwortung darstellt. Vielmehr sollen Unternehmen aktiv entsprechende Maßnahmen, Richtlinien und Prozesse einführen, um ihre menschenrechtliche Unternehmensverantwortung umzusetzen – mit einem Verfahren der menschenrechtlichen Sorgfalt im Zentrum. Prinzip 17 nimmt eine Konkretisierung genau dieses Verfahrens vor, indem es die wesentlichen Elemente der menschenrechtlichen Sorgfalt aufführt. Demnach besteht die Pflicht zur menschenrechtlichen Sorgfalt darin, „tatsächliche und potenzielle menschenrechtliche Auswirkungen zu ermitteln, die sich daraus ergebenden Erkenntnisse zu berücksichtigen und Folgemaßnahmen zu ergreifen, die ergriffenen Maßnahmen nachzuhalten sowie Angaben dazu zu machen, wie den Auswirkungen begegnet wird“ (DGCN 2014, S.  20). Die hierin enthaltenen Verfahrenselemente der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht sind in Abb. 1 dargestellt. Die in Prinzip 17 aufgeführten zentralen menschenrechtlichen Auswirkungen liegen vor, wenn eine Handlung oder Maßnahme einen Menschen oder eine Gruppe in der Ausübung seiner/ihrer Menschenrechte beeinträchtigt. Tatsächliche menschenrechtliche ­Auswirkungen sind bereits eingetreten oder finden derzeit statt. Potenzielle menschenrechtliche Auswirkungen  – auch als menschenrechtliche Risiken bezeichnet  – können zwar eintreten, sind es aber noch nicht (DGCN 2019). Auffällig an der Systematik der menschenrechtlichen Sorgfalt, wie sie durch die VN-Leitprinzipien definiert wird, ist die Betonung der Managementperspektive in Abgrenzung zur Perspektive der Inhaber und Inhaberinnen der Menschenrechte: Denn die offeneren, prozessorientierten Fragen nach den menschenrechtlichen Auswirkungen von Unternehmensaktivitäten und deren Management stehen nun im Fokus, während die Feststellung einer Rechtsverletzung, die angeklagt und sanktioniert wird, eher in den Hintergrund gerät (vgl. Grabosch und Scheper 2015, S. 13). John Gerard Ruggie, ehemaliger

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Abb. 1 Kernelemente menschenrechtlicher Sorgfalt nach den VN-Leitprinzipien, Prinzip 17

Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte und federführend in der Ausarbeitung der VN-Leitprinzipien, wird in diesem Punkt deutlich, wenn er erklärt, dass hier kein theoretisches Konstrukt der Unternehmenshaftung, sondern vielmehr ein praxisnaher Weg zur Integration von Menschenrechtsaspekten in unternehmerische Risikomanagementsysteme konzipiert werden sollte (vgl. Ruggie 2014, S. 14). Daher geben die VN-Leitprinzipien in der Kommentierung zu Prinzip 17 auch explizit vor, dass die menschenrechtliche Sorgfalt in allgemeinere Risikomanagementsysteme der Unternehmen integriert werden kann (DGCN 2014, S. 21).

3

Das unternehmensweite Risikomanagement

Risikomanagement und Menschenrechtsschutz  – hier eröffnet sich ein umfangreiches Querschnittsthema an der Schnittstelle politischer, betriebswissenschaftlicher und ethischer Fragestellungen. Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich dabei auf mögliche Konflikte zwischen den Anforderungen des Menschenrechtsschutzes einerseits und ökonomisch-orientierten Risikomanagementansätzen andererseits. Einen verbreiteten Risikomanagementansatz stellt das unternehmensweite Risikomanagement (ERM)2 dar, worunter ein unternehmensweit abgestimmter Prozess verstanden wird, mit dem Unternehmen alle Schlüsselrisiken identifizieren, bewerten und aktiv steuern, um Unternehmenswerte für alle Anspruchsgruppen zu generieren (vgl. Hunziker 2018, S. 1).  Die Bezeichnungen „unternehmensweites Risikomanagement“ und „ERM“ werden in diesen Ausführungen analog verwendet.

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Menschenrechtskonforme Unternehmensführung mithilfe des Risikomanagements?

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Die bisher bekanntesten und weltweit am meisten angewandten freiwilligen, branchenübergreifenden ERM-Rahmenwerke, an welchen sich Unternehmen bei der Umsetzung eines unternehmensweiten Risikomanagements orientieren können, sind das COSO II Enterprise Risk Management Framework (von „Committee of Sponsoring Organizations of the Treadway Commission“) sowie die DIN-Norm ISO 31000:2009 (vgl. Hunziker 2018, S. 4; Sagmanli und Ersen Cömert 2017, S. 16). Als internationaler Standard für ein unternehmensweites Risikomanagement kam COSO in der Vergangenheit vor allem in den USA zum Einsatz und wurde aufgrund der komplexen Vorgaben in der Regel eher von großen Konzernen genutzt (vgl. Romeike 2018, S. 21). Im September 2017 hat COSO sein aktualisiertes Modell „Enterprise Risk Management – Integrating with Strategy and Performance“ veröffentlicht, welches die Bedeutsamkeit der Verzahnung zwischen Strategie, Risikomanagement und Unternehmenserfolg hervorhebt (vgl. Deloitte 2017). Ebenso wurden im Jahr 2018 die „ISO Risk Management – Guidelines“ in Form der neuen ISO 31000:2018 aktualisiert. Diese Leitlinien bieten ein Rahmenwerk mit Prinzipien eines sogenannten „guten Risikomanagements“ sowie Informationen zu entsprechenden Prozessen. Die ISO 31000:2018 soll mehr strategische Leitlinien als die Vorgänger-Version bieten und legt mehr Gewicht auf die Einbeziehung des Senior Managements. Das übergeordnete Ziel ist die Entwicklung einer Risikomanagementkultur, in der sich die Beschäftigten und Stakeholder bewusst sind, wie wichtig es ist, Risiken zu überwachen und zu steuern (vgl. ISO 2018a, b). Beide Normen orientieren sich an den Unternehmenszielen und sollen die Zielerreichung positiv unterstützen. Dementsprechend erfolgt die Risikobeurteilung im Rahmen des ERM sowohl nach COSO als auch nach ISO immer in Orientierung an die gesetzten Unternehmensziele. Die Empfehlungen zum Umgang mit Risiken gelten hier grundsätzlich für alle Organisationen und Branchen, jedoch verweisen beide Normen auf die Notwendigkeit der unternehmensindividuellen Anpassung bei der Umsetzung. Entscheidend für den Erfolg eines unternehmensweiten Risikomanagements ist gemäß COSO und ISO die Unterstützung sowie Legitimierung durch die Unternehmensleitung und die damit verbundene Schaffung einer unternehmensweiten Risikokultur (vgl. Hunziker 2018, S. 4 f.). Des Weiteren postulieren beide Normen eine Umsetzung des ERM über alle Hierarchiestufen. Das heißt, dass eine Sensibilisierung unternehmensweit geschehen muss, da alle Beschäftigten, inkl. der Führungsebene, Teil des Risikomanagements sind. Für die Risikoanalyse werden von COSO und ISO verschiedene Methoden empfohlen. Die Risikoanalyse kann dabei, je nach Risiko, Zweck der Risikoanalyse und den verfügbaren Informationen, Daten und Ressourcen, mit unterschiedlicher Untersuchungstiefe durchgeführt werden. Dafür stehen Methoden quantitativer, halb-quantitativer oder qualitativer Natur bzw. eine Kombination dieser zur Verfügung (vgl. Romeike 2018, S.  36). Beide Normen weisen darauf hin, dass der gesamte Risikomanagementprozess regelmäßig überwacht werden soll (vgl. Hunziker 2018, S. 5). Unternehmen mit einem unternehmensweiten Risikomanagement zielen darauf ab, Unternehmensrisiken aller Art integriert zu managen, um mithilfe effizienter Prozesse Kosten zu sparen. Zudem birgt der ganzheitliche Blick auf die mit den Unternehmensaktivitäten

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verbundenen Risiken das Potenzial, einen vollständigen Überblick über diese zu erlangen und deren Wechselbeziehungen besser zu verstehen. Insofern müsste also grundsätzlich auch die Behandlung menschenrechtlicher Risiken möglich sein. In der Finanzwirtschaft blickt das Risikomanagement nun mittlerweile auf eine Entwicklung von einigen Jahrzehnten zurück, in der produzierenden Wirtschaft dagegen ist es erst seit der Jahrtausendwende ernsthaft auf dem Vormarsch. Hinsichtlich dieser jungen Entwicklung kann also davon ausgegangen werden, dass die meisten unternehmerischen R ­ isikomanagementsysteme noch verhältnismäßig neu sind und damit nicht komplett ausgereift sein dürften. Damit liegt eine gute Basis vor, um die Systeme um menschenrechtliche Risiken zu erweitern.

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 ie Behandlung von Menschenrechtsrisiken innerhalb des D unternehmensweiten Risikomanagements

Die oben dargestellten Parallelen zwischen dem Prozess der menschenrechtlichen Sorgfalt und dem unternehmensweiten Risikomanagement sind insbesondere hinsichtlich der Ablauforganisation kein Zufall, sondern waren ein erklärtes Ziel bei der Entwicklung der VN-Leitprinzipien. Denn die Verfahren und Methoden des Risikomanagements sind da­ rauf ausgelegt, das Wissen über Risiken zu steigern, sodass das Management auf Basis dieses Wissens fundierte Entscheidungen auf dem Weg zur Erreichung der Unternehmensziele treffen kann. Genauso ist der Prozess der menschenrechtlichen Sorgfalt nach den VN-Leitprinzipien darauf ausgelegt, das Wissen über mit den Unternehmensaktivitäten verbundenen Menschenrechtsauswirkungen zu steigern, damit diese von dem Management auf Basis dieses Wissens vermieden und verringert werden können und die Wahrung der Menschenrechte sichergestellt wird (vgl. Fasterling 2017, S. 228). Abb. 2 dient der Visualisierung der Konzeptparallelen zwischen der Menschenrechtsverantwortung nach den VN-Leitprinzipien sowie dem unternehmensweiten Risikomanagement gemäß ISO 31000 und COSO. So sind die Elemente des Risikomanagementprozesses aller drei Normen vollständig dem Risikomanagementregelkreis mit den entsprechenden Kernthemen der Risikoanalyse, -bewältigung, -überwachung und -kommunikation zuzuordnen. Ebenso postulieren alle drei Normen die vorgelagerte Rahmen- und Strategiebestimmung. Lediglich das Element der Wiedergutmachung ist eine gesonderte Anforderung der VN-Leitprinzipien. Soll also nun die Erweiterung um Menschenrechtsrisiken und das damit verbundene konzeptionelle Konfliktpotenzial diskutiert werden, ist es zunächst hilfreich, sich hier mit den grundlegenden Herausforderungen bei dem Einbezug verschiedenartiger Unternehmensbereiche und Risikokategorien in unternehmensweite Risikomanagementsysteme zu befassen. Verständnisbildend zum Thema Risikokategorien ein kurzer Exkurs: Risiken lassen sich nach verschiedenen Kriterien systematisieren und jeweils in unterschiedliche Risikoarten untergliedern. So können in Abhängigkeit von der Entscheidungsebene strategische oder operative Risiken existieren, wobei strategische Risiken die Realisierung von

Menschenrechtskonforme Unternehmensführung mithilfe des Risikomanagements?

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Grundsatzerklärung Establishing the context

Governance & Culture / Strategy & Objective-Setting

4

Risikokommunikation

Risikoanalyse

• Berichterstattung • Communication and Consultation • Information, Communication & Reporting

• Identifikation und Bewertung menschenrechtlicher Risiken • Risk Assessment • Performance

Risiko-

Risikobewältigung

3 überwachung • Wirksamkeitskontrolle • Monitoring and Review • Review & Revision

Legende

1

• Maßnahmen zur Verhütung und Minderung menschenrechtlicher Auswirkungen • Risk Treatment • Performance

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UN Leitprinzipien ISO 31000 COSO

Wiedergutmachung

Abb. 2  Menschenrechtliche Sorgfalt, COSO und ISO 31000 Kernelemente im Regelkreis des Risikomanagements

langfristigen, globalen Zielen beeinträchtigen und in der Regel eine Gefahr für das Unternehmen als Ganzes darstellen. Operative Risiken beziehen sich eher auf mittel- bis kurzfristige Ziele in einzelnen Teilbereichen des Unternehmens. Sie treten bspw. in Form von täglichen Unsicherheiten innerhalb eines Projekts auf, die kurzfristig beherrscht werden müssen, um das Projekt erfolgreich abzuschließen (vgl. Mikus 2001, S. 7 f.). Strategische als auch operative Ziele unterliegen einem starken Wandel  – sie sind oft durch starke Wechselwirkungen mit sich neu entwickelnden Risiken charakterisiert, wie etwa ­Umweltrisiken, Lieferkettenrisiken, Cyber-Risiken und damit häufig einhergehenden Reputationsrisiken (vgl. Oppl und Lorenz 2017, S. 177). Unter einem Reputationsrisiko versteht man im Allgemeinen die Gefahr von Geschäftsverlusten aufgrund einer geänderten Reputation des Unternehmens, also bspw. eine Beschädigung des Rufes des Unterneh-

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J. Knopf et al.

mens infolge einer negativen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit (vgl. Haas 2007, S. 18; Brunner-­Kirchmair und Pernsteiner 2017, S. 74). Während die o. g. Unterscheidungsmerkmale nach dem kurzen Exkurs recht klar erscheinen, besteht mit Blick auf menschenrechtliche Risiken noch kein einheitliches Verständnis bezüglich der Risikoeinordnung. Die grundlegenden Entscheidungen, ob Menschenrechtsrisiken als operative oder strategische Risiken eingestuft werden, ob sie separat behandelt oder bestimmten Risikokategorien zugeordnet werden, sind jedoch bereits richtungsweisend, bestimmen sie doch spätere Zuständigkeiten, Bewertungsmethoden und Bewältigungsmaßnahmen. Fasterling merkt hierzu an, dass, wenn menschenrechtliche Risiken nicht als strategische Risiken eingeordnet werden, ihre Berücksichtigung lediglich als sogenanntes „soziales Risiko“ möglich ist, „a term that herein will refer to the actual and potential leverage that people or groups of people with a negative perception of corporate activity have on the business’s (financial) value“ (Fasterling 2017, S. 226). Das Ziel des Managements von Sozialrisiken ist hier die Sicherung der sogenannten social license to operate, also die Legitimierung bzw. Akzeptanz der Unternehmensaktivitäten durch die Stakeholder des Unternehmens (vgl. ebd., 230 f.). Es stellt sich hierbei die Frage, wie sich der Einbezug von Menschenrechtsrisiken einerseits als strategische Risiken oder andererseits als operative Risiken in Form der Sozialrisiken auf die Wahrung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht auswirkt. Grundlegend wird es bei dem Einbezug verschiedener Risikoarten in unternehmensweite Risikomanagementsysteme oft als schwierig erachtet, strategische und operative Risiken in Form von nichtfinanziellen Indikatoren quantitativ zu bewerten, das heißt, in Zahlen auszudrücken. Da sich die Modelle und Methoden des finanziellen Risikomanagements nicht direkt auf andere Risikobereiche übertragen lassen, fehlt es oft an Methoden-­Know-­ How für die Bewertung nicht-finanzieller Risiken. Ansätze, wie bspw. Szenarioanalysen, die oft auf Intuition und Erfahrung von Menschen basieren, sind hier teilweise zu wenig bekannt. Auch fehlende historische Daten, die schwierige Abbildung komplexer Ursache-Wirkungsketten und die fehlenden Anwendungsmöglichkeiten stochastischer Modelle sind häufig angeführte Argumente gegen die Behandlung nicht-finanzieller Risiken. Zudem sind die Aus- und Weiterbildungen bzw. die berufliche Erfahrung vieler Risikomanagerinnen und -manager anzuführen, denn in der Regel sind die angewandten Methoden und der Fokus auf bestimmte Risikokategorien wesentlich durch den Risikomanager geprägt. Häufig sind es Sachverständige mit einem finanziellen Hintergrund oder Erfahrungen in der Finanzbranche, mit Aus- und Weiterbildung in Mathematik, Physik, Statistik und quantitativer Risikomodellierung. Es ist daher nicht erstaunlich, dass das unternehmensweite Risikomanagement aktuell vor allem noch auf Finanzrisiken ausgerichtet ist (vgl. Hunziker 2018, S. 3 f.). Genau diese vorherrschende Finanzausrichtung stellt die angestrebte Integration der menschenrechtlichen Sorgfalt nach den VN-Leitprinzipien in das unternehmensweite Risikomanagement jedoch vor große Herausforderungen. Es ist sogar festzustellen, dass sich beide Ansätze an bestimmten Punkten in solchem Maße konfliktär gegenüberstehen, dass

Menschenrechtskonforme Unternehmensführung mithilfe des Risikomanagements?

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eine einfache Integration der Behandlung von menschenrechtlichen Risiken in das unternehmensweite Risikomanagement ohne Modifikationen eine Verletzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht durch das jeweilige Unternehmen nach sich ziehen würde. Nachfolgend sollen jene Ansatz- und Konfliktpunkte diskutiert werden, welche ein besonders hohes Konflikt- als auch Konfliktlösungspotenzial aufweisen.

4.1

Risikostrategie

Sowohl die VN-Leitprinzipien als auch die Rahmenwerke ISO und COSO erwarten vor dem kontinuierlichen Risikomanagementprozess eine Festsetzung der jeweiligen Erwartungen, Ziele und organisatorischen Rahmenbedingungen. Fasterling hält hierzu fest, dass unternehmensweite Risikomanagementsysteme grundsätzlich auch die Verabschiedung einer spezifischen Menschenrechtsstrategie mit einbeziehen können, vorausgesetzt, dass solch eine Menschenrechtsstrategie in den obersten Unternehmenszielen verankert wird (vgl. Fasterling 2017, S. 231 f.). Eine solche Verankerung in den Unternehmenszielen würde damit die Grundlage für ein Risikomanagement schaffen, welches die Vermeidung von Menschenrechtsrisiken nicht nur als operative, sondern als strategische Angelegenheit behandelt. Wie zentral dieser Schritt ist, wird deutlich, wenn man sich die Zielhierarchie zwischen operativen und strategischen Zielen vor Augen hält, wonach die operativen Ziele der Realisierung der strategischen Ziele dienen. Würde nun das Ziel der Menschenrechtsverantwortung verfolgt (operatives Ziel), würde sich das Ziel der Wertemaximierung (strategisches Ziel) diesem in bestimmten Situationen unterordnen müssen. Während es zwar keine Vorgaben der ERM-Rahmenwerke gibt, die unterbinden, dass operative Ziele verfolgt werden, die in einer Zielkonkurrenz zu strategischen Zielen stehen, erscheint diese Schwerpunktsetzung doch eher unwahrscheinlich. In der Praxis kann es aktuell zu solch einer Situation kommen, wenn Menschenrechtsrisiken als Compliance-Risiken behandelt werden, derzeit allerdings mit der Folge, dass der unternehmerische Menschenrechtsschutz aufgrund seiner Stützung auf Soft Law hinter zahlreichen Compliance-Themen zurücktreten müsste. Das folgende Beispiel verdeutlicht die unterschiedliche Wirkung der strategischen oder operativen Risikoeinordnung: Ein Bauunternehmen expandiert im Zuge einer neuen Niederlassung und mit hohem Gewinnpotenzial in ein Land, in welchem die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften eine Unterdrückung der Vereinigungsfreiheit zur Folge hätte. Eine alleinige Behandlung der unternehmerischen Menschenrechtsverantwortung als operatives Risiko hätte zur Folge, dass dieses adressiert würde, wenn die neue Niederlassung im Betrieb ist und die Widersprüche zwischen nationalen Regelungen und ­Menschenrechtsschutz in der Unternehmenspraxis zum Vorschein kommen. Eine ausschließliche Einordnung als Sozialrisiko würde demgegenüber darin resultieren, dass das Bauunternehmen seine Investitionsentscheidung nicht überdenkt, solange keine Schädigung der Reputation droht. Würde der Menschenrechtsverantwortung hier allerdings stra-

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J. Knopf et al.

tegische Bedeutung zugesprochen, würde dies in einer Betrachtung der Menschenrechtssituation vor der Investmententscheidung resultieren und könnte der unternehmerischen Abwägung zugunsten des ansonsten lukrativen Investments schließlich entgegenstehen (vgl. ebd., S. 232). Die Frage, ob die Menschenrechtsverantwortung für Unternehmen ein strategischer Faktor werden sollte, wird oft mittels der verbreiteten Auffassung umgangen, es gäbe ohnehin einen Business Case for Respecting Human Rights. Dieser beinhaltet, dass das Management von Menschenrechtsrisiken in einem besseren Management von Sozialrisiken resultiert. In diesem Fall bedürfte es keiner strategischen Anerkennung der Menschenrechtsverantwortung, da die Wahrung der Menschenrechtsverantwortung ja bereits die unternehmerische Wertemaximierung unterstützen würde. Fasterling führt hierzu aus, dass eine negative Wirkung nachteiliger Menschenrechtsauswirkungen auf den Unternehmenswert noch nicht ausreichend belegt ist (vgl. ebd., S. 234). Darüber hinaus ist zu beachten, dass dieser Argumentation stets entgegnet werden kann, dass lukrative Geschäftsmöglichkeiten oder die wirksame Prävention von Geschäftsschädigungen damit einhergehen können, Menschenrechtsverletzungen zu tolerieren oder dazu beizutragen. Daher kann die Vermeidung potenzieller Kosten aus Menschenrechtsverletzungen oder die Reduzierung operativer Risiken in einigen Fällen ein unterstützendes Argument sein, um das Management zur Einrichtung entsprechender Praktiken der menschenrechtlichen Sorgfalt zu bewegen. Eine empirische Grundlage ist dafür aktuell jedoch nicht gegeben. Eher neige diese pragmatische Argumentation dazu, die potenziellen Konflikte zwischen den finanziellen Unternehmenszielen und der Menschenrechtsverantwortung zu umgehen. Es bedarf also einer Entscheidung auf höchster strategischer Unternehmensebene, damit diesen Konflikten innerhalb unternehmensweiter Risikomanagementsysteme adäquat begegnet werden kann. Ansonsten, so folgert Fasterling, können unternehmensweite Risikomanagementsysteme, insbesondere mit Blick auf die Risikoanalyse und -bewältigung, kaum die Behandlung von menschenrechtlichen Risiken für die Rechteinhaberinnen und -inhabern in einem einheitlichen System mit Sozialrisiken einbeziehen (vgl. ebd.).

4.2

Risikoanalyse

Die VN-Leitprinzipien als auch die Rahmenwerke ISO und COSO verlangen zur Schaffung einer Informationsbasis für die Risikobewältigung die vorherige Risikoanalyse mit Risikoidentifikation, -bewertung und -priorisierung. Wie oben dargelegt, orientiert sich die initiale Definition der maßgeblichen Unternehmensrisiken an den Unternehmenszielen. Die Integration der menschenrechtlichen R ­ isikoanalyse in ein Risikomanagementsystem, welches finanzielle, wertmaximierende Unternehmensziele anstrebt, würde also unter der Annahme vorgenommen werden, dass nachteilige menschenrechtliche Auswirkungen in irgendeiner Weise mit finanziellen Schäden korrelieren.

Menschenrechtskonforme Unternehmensführung mithilfe des Risikomanagements?

135

Dies ist in zweierlei Hinsicht problematisch: So wird der Fokus einer Risikoanalyse hier auf potenziellen Ursachen für finanzielle Schäden liegen, also bspw. eher auf die Gefährdung durch Gerichtsverfahren als auf den Menschenrechtsverstößen selbst. Zudem wird das Risikomanagement seine Bemühungen darauf konzentrieren, Wissensdefizite über Personen zu beseitigen, von welchen der Geschäftserfolg direkt abhängt, sogenannte Stakeholder. Je einflussreicher der Stakeholder hierbei ist, desto höher wird das Risikomanagement seinen Einbezug priorisieren. Rechteinhaberinnen und -inhaber, welche potenzielle Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmensaktivitäten sind oder werden können, müssen dagegen nicht zwangsläufig von Unternehmen in ihre Risikoanalysen einbezogen werden. Ihre Interessen würden eventuell ausreichend berücksichtigt werden, wenn sie effektiven Zugang zu Rechtsmitteln haben oder organisiert öffentlichen Druck ausüben. Das heißt im Umkehrschluss, dass Unternehmen keine Informationen über gefährdete und unterrepräsentierte Personen ohne Einfluss auf das Unternehmen erheben, also solche, welche Menschenrechtsschutz möglicherweise am dringendsten benötigen. Solch ein Vorgehen würde dem Bestreben der VN-Leitprinzipien entgegenstehen, nach welchen Stakeholder unabhängig von potenziellen Geschäftserfolgen oder -schäden in die Verfahren menschenrechtlicher Sorgfalt einbezogen werden sollen. Würde hier eine Risikobehandlung entsprechend der VN-Leitprinzipien vorgenommen werden, würde die potenziellen Geschäftsschäden nicht als finanzielle Wertverluste, sondern als nachteilige menschenrechtliche Auswirkungen definiert werden. Zudem würde die Risikopriorisierung nicht von der möglichen Fähigkeit zur Einflussnahme auf das Unternehmen durch die Stakeholder bestimmt werden, sondern von der Schwere der potenziellen Menschenrechtsauswirkungen auf die Rechteinhaberinnen und -inhaber. Es ist also zusammenzufassen, dass sich die benötigten Informationen für die Analyse von Menschenrechtsrisiken in Art und Inhalt von Informationen unterscheiden, welche für die Analyse von anderen Risikokategorien benötigt werden (vgl. ebd., S. 234 ff.). Risikoanalysen innerhalb unternehmensweiter Risikomanagementsysteme sind des Weiteren darauf ausgelegt, Risiken messbar zu machen, um dem Management eine rationale Entscheidungsfindung zu ermöglichen. Das heißt nicht, dass hier qualitative Bewertungen keine Rolle spielen, es wird jedoch vorausgesetzt, dass diese quantifiziert werden, sodass Handlungsalternativen anhand eines einzelnen Maßstabes beurteilt werden können. Die VN-Leitprinzipien implizieren mit ihrer Risikoorientierung eine solche Quantifizierbarkeit von Menschenrechtsrisiken. Dies ist herausfordernd, da überzeugende Methoden, um nachteilige menschenrechtliche Auswirkungen zu messen, weitestgehend noch entwickelt bzw. veröffentlicht werden müssen. Messbare Indikatoren sind hierbei nicht mit Benchmarks zu verwechseln, welche versuchen eine sogenannte Human Rights Performance herauszustellen. Diese wurden geschaffen, um dritte Parteien, bspw. Investoren, dabei zu unterstützen, die menschenrechtliche Leistungen eines Unternehmens zu evaluieren – wie zum Beispiel

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J. Knopf et al.

auch der sogenannte „Corporate Human Rights Benchmark“.3 Solche Benchmarks könnten eine zusätzliche Motivation für Unternehmen darstellen, um ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht umzusetzen, sie geben allerdings keine Hilfestellung bei der Bewertung von Menschenrechtsrisiken (vgl. ebd., S. 237). Neben Art, Wirkung und Schwere sollen zur Bewertung der menschenrechtlichen Risiken nach dem Interpretationsleitfaden der VN-Leitprinzipien ebenso deren Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit untersucht werden. Leitprinzip 19 (b) differenziert hier in die Verursachung, den Beitrag oder die unmittelbare Verbindung mit der eigenen Geschäftstätigkeit bzw. Produkten und Dienstleistungen (vgl. DGCN 2014, S. 24). Die Interpretation und Übertragung dieser Größen zu quantifizierbaren Parametern, welche innerhalb des Risikomanagements genutzt werden können, ist die implizierte Aufgabe, die die VN-Leitprinzipien der Wissenschaft stellen. Auch wenn Unternehmen die Verankerung ihrer Menschenrechtsverantwortung in die Unternehmensziele vornehmen, würde ein nächstes Messproblem auftreten. Die bestehenden ERM-Rahmenwerke geben nämlich keinerlei Anleitung, wie Risiken behandelt werden sollen, welche sich auf Basis unterschiedlicher Indikatoren auf unterschiedliche Ziele beziehen. Es würde hier der Ergänzung einer normativen Grundlage für die Entscheidungsfindung bedürfen, welche eine Priorisierung ermöglicht, wenn sich die Unternehmensziele konfliktär gegenüberstehen  – bspw. in Form einer Handlungsanleitung oder spezifischen internen Richtlinien. Denn anstelle der einfachen Über- oder Unterordnung der Risiken anhand quantitativer Größen, würde das Management in der Lage sein müssen, innerhalb der jeweiligen Situation beide Ziele so effektiv wie möglich und im Einklang mit den VN-Leitprinzipien abzuwägen und zu verfolgen (vgl. Fasterling 2017, S. 236 ff.). Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte (nachfolgend DIM) hat sich in diesem Zusammenhang mit der Risikobewertung beschäftigt und die betriebswirtschaftlichen Abwägungen innerhalb der finanziellen Risikobewertung den menschenrechtlichen Anforderungen der VN-Leitprinzipien gegenübergestellt (Utlu und Niebank 2017). Um die betriebswirtwirtschaftlichen Abwägungen nachzuvollziehen, zieht das DIM die Portfoliotheorie von Harry M.  Markowitz heran. Hier werden Unternehmensentscheidungen unter Unsicherheit als sogenannte Lotterien definiert: Eine Lotterie verknüpft die möglichen Resultate einer Handlungsalternative mit deren Eintrittswahrscheinlichkeiten. Das heißt, es gibt verschiedene Handlungsalternativen, von denen jede zu unterschiedlichen Gewinnen in der Zukunft führt – die Entscheidung fällt dabei stets auf diejenige Lotterie, bei der der erwartete Nutzen der Entscheidungsträgerinnen und -träger am ­höchsten ist. Dass es hierbei unterschiedliche Grade der sognannte Risikoaversion gibt, veranschaulicht, dass sich ein Unternehmen nicht zwangsläufig für diejenige Handlungsalternative

 Der Corporate Human Rights Benchmark ist eine von Investoren und zivilgesellschaftlichen Organisationen geleitete Kooperation, die sich für die Erstellung von öffentlichen Benchmarks für unternehmerische Bemühungen im Bereich Menschenrechte einsetzt. Seit dem Jahr 2017 wird jährlich ein Bericht veröffentlicht, welcher die Anwendung und Einhaltung der Menschenrechte bei den größten börsennotierten Unternehmen der Welt untersucht (vgl. CHRB 2019).

3

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mit dem geringsten Risiko entscheiden muss, sondern dass es eben genau das nutzenmaximalste Risiko zulassen wird (vgl. ebd., S. 13 f.). Mithilfe des Fallbeispiels zu einem Bergbauprojekt in Kolumbien zeigt das DIM in diesem Rahmen, dass sich unternehmerische und menschenrechtliche Rationalität hinsichtlich des Umgangs mit Risiken unterscheiden. So äußerte sich das exemplarische Berg­bauunternehmen Cerrejón zu der Gefahr, dass sich aufgrund der Ausweitung seiner Bergbauaktivitäten die Verfügbarkeit von Wasser für viele Gemeinschaften verschlechtern würde, mit der Erklärung, dass ihm die Auswirkungen der Flussumleitung auf das Recht des Wassers bekannt seien, es dennoch am Projektvorhaben festhalten werde, da es den Auswirkungen adäquat begegnen könne. Das zeigt, dass das Unternehmen die nachteilige menschenrechtliche Auswirkung in seine Operationen mit einkalkuliert. Die Folgekosten dieser Auswirkung, wie etwa Entschädigungszahlungen, sind Teil der Lotterie im Sinne der Portfoliotheorie. Damit ist das Unternehmen bereit, die Vermeidungsebene zu überspringen und setzt direkt auf der Milderungsebene an. Dies entspricht der finanztheoretischen Argumentation, der zufolge ein Risiko nicht per se vermieden werden muss, sondern entsprechend der Risikoeinstellung des Entscheidungsträgers mit einem Abschlag auf erwartete Rückflüsse mit einkalkuliert werden kann. Aus Menschenrechtssicht sollten negative Auswirkungen auf die Menschenrechte hingegen gänzlich vermieden werden. Nur wenn dies nicht möglich ist, sollten die Auswirkungen verringert oder der alte Zustand wiederhergestellt werden. Für das menschenrechtliche Risikokonzept ist dabei die Risikoeinstellung der Entscheidungsträgerin bzw. des -trägers irrelevant. Allein die potenzielle Gefährdung der Betroffenen stellt für die Wahl der Handlungsalternativen ein Kriterium dar, wobei der angemessene Handlungsumfang von der Schwere der Risiken und dem Einflussvermögen des Unternehmens bestimmt wird. Eine Vermeidung könnte dagegen für Cerrejón unter gegebenem Risiko nutzenoptimal sein, wenn das Unternehmen bspw. ein entsprechendes Sicherheitsäquivalent bekommt. Das würde bedeuten, dass der Staat dem Unternehmen die Bergbaulizenz zu einem Preis abkauft, der der Höhe der erwarteten Rückflüsse entspricht. Außerdem würde das Unternehmen auf der Vermeidungsebene bleiben, wenn sich der erwartete Nutzen deutlich verringert, bspw. aufgrund von menschenrechtlichen Konsequenzen in Form sehr hoher erwarteter finanzieller Kosten. Das DIM betont in diesem Zusammenhang, dass die staatliche Schutzpflicht hier fordert, dass das Recht auf Wasser nachhaltig, also auch für spätere Generationen, geschützt wird. Dafür müssten der Staat, aber auch Unternehmen und Menschenrechtsfachleute ein besseres Verständnis darüber erlangen, auf welche Weise Menschenrechtsrisiken in das Unternehmenskalkül überführt werden können, sodass irreparable Schäden vermieden werden können (vgl. ebd., S. 12 ff.). In Bezug auf die Priorisierung von Menschenrechtsrisiken wird in der Literatur vielfach darauf hingewiesen, dass ein weiteres Problem mit stark unternehmensgesteuerten Ansätzen im Bereich des Menschenrechtsschutzes darin besteht, dass eine gewisse Priorisierung von Rechten nach öffentlichem Interesse und Reputationsrisiko stattfindet. Dies führe zu einer stärkeren Vermeidung bestimmter Risiken, die im Eigeninteresse des Unternehmens liegen, bspw. im Zuge der reputationswirksamen Minimierung von Kinder- oder

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Zwangsarbeit in den oberen Gliedern der Lieferkette. Dagegen würden andere menschenrechtliche Risiken weniger beachtet werden, wie bspw. Gewerkschaftsfreiheiten oder Arbeitssicherheit im Produktionsbetrieb (vgl. Grabosch und Scheper 2015, S. 16; Fasterling 2017, S. 244 f.). Dieses Vorgehen ist nicht im Sinne der VN-Leitprinzipien, nach welchen sich die menschenrechtliche Unternehmensverantwortung auf die Gesamtheit der Menschenrechte bezieht (vgl. DGCN 2014, S. 16). Abschließend soll hier eine Einschätzung von John Gerard Ruggie herangezogen werden, welcher noch einmal abgrenzend zu anderen Risikomanagementansätzen die Bedeutung des Perspektivwechsels hin zu Auswirkungen auf Rechteinhaberinnen und -inhabern sowie die Notwendigkeit von Engagement und Kommunikation innerhalb der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht betont: „Human rights risk management differs from commercial, technical and even political risk management in that it involves rightsholders. Therefore, it is an inherently dialogical process that involves engagement and communication, not simply calculating probabilities“ (Ruggie 2010, S. 17, Nr. 85).

4.3

Risikobewältigung

Auf Grundlage der in der Risikoanalyse ermittelten Informationen soll nach den VN-­ Leitprinzipien als auch nach den Rahmenwerken ISO und COSO die Bewältigung der identifizierten, bewerteten und priorisierten Risiken folgen. Sind Unternehmensaktivitäten ursächlich für potenzielle und tatsächliche Menschenrechtsverletzungen, so geschieht dies nicht zufällig, sondern ist die Konsequenz von Unternehmensentscheidungen und informellen Unternehmenspolitiken – diese gilt es zu korrigieren. Innerhalb des unternehmensweiten Risikomanagements hat die Risikobewältigung dabei grundsätzlich den Anspruch, die Auswirkungen der jeweiligen Unsicherheit auf die Unternehmensziele zu reduzieren bzw. zu eliminieren. Das Management kann hier verschiedene Ansätze verfolgen, beispielsweise auch die bewusste Risikoübernahme (siehe Romeike 2018, S. 45 f.; Mauch 2001, S. 343). Für die Begegnung menschenrechtlicher Risiken sind allerdings nur Maßnahmen zur Risikovermeidung, -reduktion und -kompensation geeignet, wobei die strikte menschenrechtliche Handlungshierarchie Vermeiden – Verringern – Wiederherstellen – Entschädigen von den Unternehmen zu befolgen ist (vgl. Utlu und Niebank 2017, S. 10). Sollte eine Priorisierung der Maßnahmen notwendig sein, sollten Unternehmen bemüht sein, die schwerwiegendsten beziehungsweise diejenigen Auswirkungen zu verhüten und zu mildern, die bei verzögerten Gegenmaßnahmen nicht wieder gut zu machen wären (DGCN 2014, S. 30). So wäre die strategische Risikoübernahme aufgrund ökonomischer Abwägungen oder aufgrund der Auswahl von reputationswirksamen Maßnahmen nicht entsprechend der Vorgaben und Zielen der VN-­Leitprinzipien. Zur Verdeutlichung der Diskrepanz von adäquaten Maßnahmen zur Begegnung von Menschenrechts- und Sozialrisiken führt Fasterling das Beispiel eines Unternehmens an, bei dem bekannt ist, dass eine systematische Diskriminierung weiblicher Beschäftigte besteht. Das soziale Risiko des Unternehmens bezieht sich hierbei nicht auf die

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Diskriminierung selbst, sondern auf potenzielle finanzielle Schäden durch Schadensersatzzahlungen oder Umsatzeinbußen aufgrund negativer Medienberichterstattung. Das Management von Sozialrisiken bietet hier verschiedene Optionen, um der Diskriminierung zu begegnen: Es könnte diese natürlich beenden, was das damit verbundene Risiko vermeiden würde. Das Unternehmen könnte allerdings auch Handlungsalternativen in Erwägung ziehen, wie etwa Diskriminierung nur in Ländern zuzulassen, in welchen keine Antidiskriminierungsgesetze in Kraft sind oder wo diese nicht rechtmäßig durchgesetzt werden. Oder es könnte in Antidiskriminierungsmaßnahmen investieren, sobald die damit verbundene Medienpräsenz mit Blick auf die potenziellen finanziellen Schäden nicht mehr tragbar ist. Im Rahmen des Managements von Sozialrisiken hätte das Unternehmen hier kein Interesse daran, eine tiefere Untersuchung der menschenrechtlichen Situation vorzunehmen, sondern würde bei fehlendem Zugang der betroffenen Rechteinhaberinnen und -inhaber zu Rechtsmitteln vielmehr die Wahrnehmung der Stakeholder beeinflussen wollen, welche das Unternehmen effektiv außergerichtlich ahnden können. So würde es zur Schaffung einer besseren Wahrnehmung des Unternehmens bspw. Entschädigungen für Menschenrechtsverletzungen mit einflussreichen NGOs verhandeln und nicht mit den Opfern selbst. Alternativ könnte das Unternehmen in Betracht ziehen, einflussreichen Gruppen innerhalb lokaler Gemeinschaften Unterstützung anzubieten, bspw. zur Medizinversorgung oder Bildung, um so ebenso der negativen Wahrnehmung zu begegnen. Diese Maßnahmen eignen sich zur Reduzierung von Sozialrisiken, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass sie vielleicht Menschenrechte stärken und Rechteinhaberinnen und -inhabern helfen. Dennoch können diese Maßnahmen umgesetzt werden, ohne dass Menschenrechtsrisiken vermieden bzw. gemindert werden oder im Falle tatsächlicher menschenrechtliche Auswirkungen eine Wiederherstellung oder Entschädigung erfolgt (vgl. Fasterling 2017, S.  240  ff.). Die erläuternden Kommentare der VN-Leitprinzipien halten hierzu ausdrücklich fest: „Wirtschaftsunternehmen können durch andere Selbstverpflichtungen oder Tätigkeiten die Menschenrechte unterstützen und fördern, was zur Wahrnehmung von Rechten beitragen kann. Dies ist jedoch kein Ausgleich für ein Versäumnis, die Menschenrechte bei ihrer gesamten Geschäftstätigkeit zu achten“ (DGCN 2014, S. 15).

4.4

Wiedergutmachung

Die VN-Leitprinzipien fordern abschließend, dass Unternehmen Verfahren einrichten sollen, die die Wiedergutmachung etwaiger nachteiliger menschenrechtlicher Auswirkungen ermöglichen, die sie verursachen oder zu denen sie beitragen (DGCN 2014, S. 18). Prinzip 22 hält hierzu fest, dass im Falle der Feststellung tatsächlicher nachteiliger menschenrechtlichen Auswirkungen, die Unternehmensverantwortung zur Achtung der Menschenrechte aktive Bemühungen um Wiedergutmachung gebietet, entweder allein oder in ­Zusammenarbeit mit anderen Akteuren. Beschwerdemechanismen auf operativer Ebene

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sollen hier ein wirksames Mittel sein, um entsprechende Wiedergutmachung zu ermöglichen (ebd., S. 28). Diese Beschwerdemechanismen können zudem die Ermittlung nachteiliger menschenrechtlicher Auswirkungen erheblich unterstützen, da durch die Analyse der bei Beschwerden verzeichneten Trends und Muster die Feststellung systemischer Pro­ bleme ermöglicht wird (ebd., S. 37). Das Element der Wiedergutmachung ist eine gesonderte Anforderung der VN-­ Leitprinzipien, sodass die Gefahr besteht, dass Unternehmen bei einer einfachen Integration von Menschenrechtsrisiken in ihr unternehmensweites Risikomanagement diesen Aspekt übergehen. Mit Blick auf den Risikomanagementregelkreis wird es in der Praxis kein Problem darstellen, adäquate Beschwerdemechanismen systematisch als Instrument zur Informationserhebung und -bewertung in die Risikoanalyse und -bewältigung zu integrieren. Dagegen ist es allerdings fraglich, wie die weiterführende Analyse und Begegnung tatsächlicher nachteiliger Menschenrechtsauswirkungen innerhalb eines Systems mit reiner Risikoausrichtung sichergestellt werden kann, sodass auch Fragen der Wiedergutmachung angemessen Beachtung finden. Insbesondere in Bezug auf die Anforderungen des Prinzips 22 sollte ein Unternehmen also Menschenrechtsexpertise miteinbeziehen, um diese nicht zu missachten und adäquat in ihr unternehmensweites Risikomanagement zu integrieren.

5

 elbstregulative Unternehmensmaßnahmen zur Wahrung S der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht

Zur Verminderung oder Vermeidung des beschriebenen Konfliktpotenzials zwischen den Menschenrechts- und Risikomanagementanforderungen kann neben der staatlichen Regulierung auch die unternehmerische Selbstregulation dienen. Daher sollen nun auf Grundlage der vorangegangen Ausführungen einige Ansätze zu möglichen selbstregulativen Maßnahmen herausgestellt werden, mit welchen das Potenzial von ERM auch über die Kategorie der Menschenrechtsrisiken hinweg ausgeschöpft werden könnte.

5.1

Strategische Verankerung der menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung

Die Strategie des unternehmensweiten Risikomanagements muss eine direkte Verbindung zur definierten Unternehmensstrategie herstellen, das heißt, die relevanten Risiken sollten aus den strategischen Unternehmenszielen abgeleitet werden. Damit nun Menschenrechtsrisiken so effektiv analysiert, gesteuert und kontrolliert werden, wie Risiken, welche die Verfolgung finanzieller Unternehmensziele unterstützen, sollten Unternehmen die Wahrung ihrer menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung in die obersten Unternehmensziele verankern. Dies ermöglicht im nächsten Schritt den Einbezug einer m ­ enschenrechtlichen Risikostrategie in das unternehmensweite Risikomanagement und schließlich die Veranke-

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rung in den entsprechenden Prozessen und Maßnahmen. Die Anforderungen der menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung nach den VN-Leitprinzipien werden damit zur zusätzlichen Grundlage für alle unternehmerischen Tätigkeiten und Entscheidungen der Unternehmensführung, womit einem strukturellen Missmanagement innerhalb des Unternehmens in den nachgelagerten Prozessen und Maßnahmen entgegengewirkt wird. Zur Veranschaulichung dieser Systematik dient hier das Unternehmensbeispiel des im Jahr 2007 in Köln gegründeten Modelabels Armedangels. Dieses hat sich folgendes ehrgeiziges Unternehmensziel gesetzt: „Unser Ziel ist es, das fairste Modelabel der Welt zu werden“ (ARMEDANGELS 2017). Damit wird Nachhaltigkeit nicht nur strategisch verankert, sondern vielmehr zu einem unternehmerischen Kernprozess und Differenzierungsmerkmal gemacht. Armedangels ist ein Pionier-Unternehmen im Bereich der fairen Textilindustrie, weshalb davon auszugehen ist, dass die sozialen Implikationen dieser Zieldefinition auch die Wahrung der Menschenrechte umfassen. Die klassischen transnationalen, kapitalmarktorientierten Unternehmen sollten jedoch eine explizite Aufnahme ihrer menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung in die Unternehmensziele wagen, um so eine klare Managementlinie vorzugeben.

5.2

 rgänzung der internen Risikomanagement-Richtlinien um E menschenrechtliche Handlungsanweisungen und Entscheidungshilfen

Werden menschenrechtliche Risiken und andere Risikoarten gemeinsam innerhalb des unternehmensweiten Risikomanagements behandelt, basieren diese auf konkurrierenden Unternehmenszielen und heterogenen Indikatoren. Daher muss die operative Abwägung und Verfolgung der Unternehmensziele im Einklang mit den VN-Leitprinzipien ermöglicht werden. Dafür könnten bspw. Entscheidungshilfen zu Zielkonflikten und Dilemmata, Beschreibungen von menschenrechtlichen Indikatoren und Meldegrenzen sowie Kontaktdaten und -anweisungen zu interner und externer Menschenrechtsexpertise in die interne Risikomanagement-Richtlinie, welche grundsätzlich als interne Orientierungshilfe zu Abläufen und Instrumenten des Risikomanagements dient, aufgenommen werden (vgl. Diederichs 2013, S. 212 f.).

5.3

Entkopplung menschenrechtlicher Entscheidungsprozesse

Die Wahrung der menschenrechtlichen Unternehmensverantwortung hängt des Weiteren maßgeblich von der Risikoeinstellung der unternehmerischen Entscheidungsträgerin bzw. des Entscheidungsträgers ab. Eine Grundlage für Neutralität, Unabhängigkeit und maximale menschenrechtliche Risikoaversion der Entscheidungsbefugten könnte bspw. ­geschaffen werden, indem der menschenrechtliche Entscheidungsprozess von dem finanziellen entkoppelt wird.

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Dadurch könnte von einer unabhängigen Stelle zu jeder Investitionsentscheidung eine Menschenrechtsentscheidung gegenübergestellt werden, wobei die Entscheidungsbefugnisse von anderen Stellen im Unternehmen nicht anfechtbar sein dürften. Die Gestaltung einer solchen Prüfstelle könnte auch eine Multi-Stakeholder Dimension beinhalten. Beschwerdemechanismen mit solch einem Ansatz existieren bereits, siehe bspw. das sog. „Independent Expert Panel“ innerhalb des Beschwerdemanagements des Entwicklungsfinanzierers Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft DEG und der niederländischen Entwicklungsbank FMO (vgl. Utlu und Niebank 2017, S. 23).

5.4

Adressierung tatsächlicher nachteiliger Menschenrechtsauswirkungen

In der Natur des unternehmensweiten Risikomanagements liegt dessen Risikoausrichtung. Wird nun die menschenrechtliche Unternehmensverantwortung mit solch einer Risikoausrichtung gesteuert, besteht die Möglichkeit, dass tatsächliche nachteilige Menschenrechtsauswirkungen mit den Methoden des Risikomanagements nicht angemessen identifiziert und wiedergutgemacht werden können. Daher sollte die Unternehmensführung den Anspruch formulieren und entsprechende Methoden vorgeben, welche bei identifizierten hohen Menschenrechtsrisiken eine anschließende, tiefergehende Untersuchung tatsächlicher nachteiliger Menschenrechtsauswirkungen gewährleisten. Anhaltspunkte für eine adäquate Untersuchung und Begegnung tatsächlicher nachteiliger Menschenrechtsauswirkungen können bspw. der Einbezug von dialogorientierten Methoden des Human Rights Impact Assessments, die Durchführung unabhängiger Kon­ trollen oder der Einbezug zusätzlicher Menschenrechtsexpertise aus Kooperationen und Partnerschaften sein.

5.5

Beschwerdemechanismen und Wiedergutmachung

Das Thema der Wiedergutmachung, welches u. a. auch die Einrichtung von Beschwerdemechanismen auf operativer Ebene beinhaltet, wird in den VN-Leitprinzipien außerhalb des Verfahrens der menschenrechtlichen Sorgfalt behandelt und ist gleichzeitig kein Thema des unternehmensweiten Risikomanagements nach den Rahmenwerken COSO und ISO 310000. Bei einer einfachen Integration von Menschenrechtsrisiken in unternehmensweite Risikomanagementsysteme besteht also die Gefahr, dass der Anspruch der VN-Leitprinzipien an ein aktives Bemühen um Wiedergutmachung durch Unternehmen missachtet wird. Daher sollte bei der Erweiterung des unternehmensweiten Risikomanagements um die Kategorie der Menschenrechtsrisiken insbesondere in puncto Beschwerdemechanismen und Wiedergutmachung Menschenrechtsexpertise miteinbezogen sowie eine entsprechende Adressierung und Regelung vorgenommen werden.

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 enschenrechtskonforme Unternehmensführung mithilfe M des Risikomanagements?

Strebt das Management eine Unternehmensführung in Übereinstimmung mit Inhalt und Anforderungen international anerkannter Menschenrechte an und integriert in diesem Zuge den Prozess der menschenrechtlichen Sorgfalt in das eigene unternehmensweite Risikomanagementsystem, können einerseits Synergiepotenziale aufgrund einer ähnlichen Prozessstruktur genutzt werden. Andererseits stehen sich die beiden Ansätze aufgrund der vorherrschenden Finanzausrichtung des Risikomanagements innerhalb bestimmter Prozesselemente in solchem Maße konfliktär gegenüber, dass eine einfache Integration von Menschenrechtsrisiken in das unternehmensweite Risikomanagement eine Verletzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht zur Folge hätte. Da die konzipierten selbstregulativen Maßnahmen teilweise erhebliche Investitionen und Mentalitätswandel der Unternehmen voraussetzen, empfiehlt sich zur effektiven Begegnung und Vermeidung des Konfliktpotenzials vor allem die entsprechende öffentliche oder ergänzende nicht-staatliche Regulierung. In diesem Zusammenhang sei eine Studie des British Institute of International and Comparative Law und der Wirtschaftskanzlei Norton Rose Fulbright erwähnt, welche bestätigt, dass Menschenrechte, welche umfassend reguliert werden, wie bspw. aus dem Arbeits- und Gesundheitsschutz, mit höherer Wahrscheinlichkeit mit in den menschenrechtlichen Sorgfaltspflichtprozess einbezogen werden (vgl. McCorquodale et al. 2017, S. 223). Diesen Mechanismus gilt es zu nutzen, um in der komplexen und facettenreichen Landschaft der menschenrechtlichen Managementanforderungen und -instrumente durch den angemessenen Grad an Verbindlichkeit und die gezielte Präzisierung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht die richtigen Leitplanken für eine menschenrechtskonforme Unternehmensführung zu setzen und so dafür Sorge zu tragen, dass die Menschen und ihre Rechte weltweit wirksam geschützt sind.

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Prof. Dr. Jutta Knopf  ist Professorin für Nachhaltige Unternehmensführung und Studiengangsleiterin des Masters „Nachhaltige Unternehmensführung“ an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Sie hat langjährige Erfahrung in Forschungs- und Beratungsprojekten an der Schnittstelle zwischen Nachhaltigkeit und Wirtschaft. Jutta Knopf leitet Projekte in den Bereichen Corporate Social Responsibility (CSR), Wirtschaft und Menschenrechte, Nachhaltigkeitsstrategien von Unternehmen und Staaten. Zudem arbeitet sie im Kontext systemischer Beratung und Prozessbegleitung sowie zu partizipativen Führungsstrukturen in Unternehmen. Sie hat mehrjährige Erfahrung in der Entwicklung, Umsetzung und Evaluation von Projekten im Themenbereich nachhaltiger (Unternehmens-)Entwicklung für nationale und internationale Auftraggeber. Ihre regionale Expertise erstreckt sich über Indien, die USA und Albanien sowie die EU-Mitgliedsstaaten. Prof. Dr. Remo Klinger  ist Rechtsanwalt der Berliner Kanzlei Geulen & Klinger und Honorarprofessor der Hochschule für nachhaltige Entwicklung, Eberswalde. Den Großteil seiner Arbeitszeit verbringt er mit dem Umweltrecht und vertritt darin Behörden und Umweltschutzverbände. Er ist Mitherausgeber und Mitglied der Redaktion der Zeitschrift für Umweltrecht und des die Gesetzgebung des Bundes beratenden Umweltrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins e.V. (DAV). Da sich das Umweltrecht aber längst nicht mehr von allgemeinen Fragen nachhaltiger Wirtschaft abgrenzen lässt, ist er seit mehreren Jahren verstärkt mit sozialen und rechtlichen Fragen nachhaltiger Unternehmensführung befasst. Er vertrat die Hinterbliebenen eines gravierenden Fabrikbands in Karachi (Pakistan) gegenüber dem deutschen Textilunternehmen KiK vor Gericht und berät Verbände, Ministerien und andere öffentliche Stellen. Er ist Mitglied des Beirats von FIAN Deutschland e.V. Karina Hildebrandt  ist studierte Wirtschaftsrechtlerin und absolvierte zudem den Masterstudiengang „Nachhaltige Unternehmensführung“ an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE). An der HNEE forschte sie intensiv an der unternehmerischen Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht, aktuell ist sie als Nachhaltigkeitsmanagerin in der Wirtschaft tätig.

Teil III Exemplarisch dargestellte Objekt- und Anwendungsfelder

Technologien als Impulsgeber für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung Daniela Beyer, Annette Braun, Meike Schiek und Marion Weissenberger-Eibl

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Einleitung

Die Gesellschaft steht heute vor großen Herausforderungen und sie betreffen alle Akteure weltweit: Themen wie Klimaschutz, Ressourcenknappheit, demografischer Wandel und Umbrüche in der Arbeitswelt erhöhen den Druck, nachhaltig zu agieren. Vor diesem Hintergrund erwarten Politik und Gesellschaft verstärkt, dass Unternehmen Verantwortung für ihr Handeln und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen übernehmen. Das bedeutet, dass Unternehmen auch „über die engen Unternehmensgrenzen hinaus“ und „in überlagernde gesellschaftspolitische Verantwortungsfelder hinein“ verantwortungsvoll und nachhaltig agieren (Eggers et al. 2011, S. 214). Nachhaltiges Wirtschaften verfolgt neben dem ökonomischen Erfolg auch ökologische und soziale Ziele im Unternehmen, in der Unternehmensumwelt sowie in der gesamten Gesellschaft (Thomaschewski und Völker 2016, S. 15). In seinen Ursprüngen geht der Nachhaltigkeitsbegriff auf Überlegungen aus der Forstwirtschaft zurück (Carlowitz 2013/1719) und wurde erst in der Folge auf soziale Aspekte übertragen (United Nations 1987). Kerngedanke dabei ist, dass nachhaltiges Handeln auf den drei Säulen Ökonomie, Ökologie und Soziales beruht (Brüssel 2018, S. 12 f.; Thomaschewski und Völker 2016, S. 15): Es gilt, mit den begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen sorgsam umzugehen und nicht auf Kosten der Menschen in anderen Weltregionen oder zukünftiger Generationen zu leben. Nachhaltigkeit betrifft folglich die Umwelt sowie alle Bereiche des Lebens und Wirtschaftens (BMU o. J. a). Der zurzeit bedeutendste Ansatz, der aufzeigt, wie wir weltweiten wirtschaftlichen Fortschritt im Einklang mit sozialer D. Beyer (*) · A. Braun · M. Schiek · M. Weissenberger-Eibl Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; Meike.schiek@isi. fraunhofer.de; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_9

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D. Beyer et al.

Gerechtigkeit und im Rahmen der ökologischen Grenzen der Erde gestalten können, sind die 17 Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen (United Nations 2018; IASS o. J.). In diesem Sinne führt eine nachhaltige Unternehmensführung wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und soziale Verantwortung so zusammen, dass Entwicklungen im Unternehmen und außerhalb der Unternehmensgrenzen dauerhaft tragfähig sind (BMU o. J. b). In vielen Punkten überschneiden sich die Diskussionen um nachhaltige Unternehmensführung mit unternehmerischer Verantwortungsübernahme bzw. Corporate Social Responsibility (CSR). Ein Unternehmen, das ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig handelt, übernimmt gesellschaftliche Verantwortung. Nachhaltiges Wirtschaften wird daher oft auch mit Verantwortung gleichgesetzt (Brüssel 2018, S. 11, S. 16; Müller-Christ und Giesenbauer 2019, S.  233). Im unternehmerischen Kontext findet der Begriff CSR tatsächlich häufiger Anwendung als nachhaltige Unternehmensführung (Müller-Christ und Giesenbauer 2019, S. 233), da er die Verantwortungsübernahme des Unternehmens operationalisiert: Verantwortung wird definiert als „Verantwortung einer Organisation […] für die Auswirkungen […] ihrer Entscheidungen und Aktivitäten auf die Gesellschaft und die Umwelt […] durch transparentes und ethisches Verhalten […], das zur nachhaltigen Entwicklung […], Gesundheit und Gemeinwohl eingeschlossen, beiträgt; die Erwartungen der Anspruchsgruppen […] berücksichtigt, anwendbares Recht einhält und im Einklang mit internationalen Verhaltensstandards […] steht; und in der gesamten Organisation […] integriert ist und in ihren Beziehungen gelebt wird“ (DIN 2011, S. 17). Eine nachhaltige, verantwortungsvolle Unternehmensführung ist demnach zu verstehen als ein ganzheitlicher, integrierter Ansatz und eine grundlegende Haltung, die sich auf alle Tätigkeiten, Produkte, Dienstleistungen und Prozesse erstreckt, im Management strukturell verankert ist und in den Beziehungen mit den Stakeholdern Berücksichtigung finden (Schiek 2017, S. 22). Dabei liegt eine Aufgabe der nachhaltigen Unternehmensführung darin, eine gesunde Balance zwischen ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Verantwortung herzustellen. Neben der gesellschaftlichen Verantwortung kann die Integration von Nachhaltigkeitszielen in der Unternehmensentwicklung essenzielle Wettbewerbsvorteile für Unternehmen bieten, zum Beispiel im Hinblick auf eine bessere Akzeptanz bei Akteuren aus Staat und Gesellschaft oder die Lösung betrieblicher Alltagsprobleme, wie Produktivität, Zufriedenheit und Loyalität der Angestellten oder Differenzierung am Markt (Brüssel 2018, S. 17; Schiek 2017, S. 19). Innovationen, die der Nachhaltigkeit zuträglich sind, steigern zudem das inhärente Potenzial der Unternehmensentwicklung (Weissenberger-Eibl 2004). Aus dieser Sicht ist Nachhaltigkeit kein Luxus, sondern absolut erforderlich, um als Unternehmen langfristig zu bestehen (Weissenberger-Eibl und Braun 2019, S. 249). Der Einsatz von Technologie wird als eine der zentralen Stellschrauben diskutiert, um zu mehr Nachhaltigkeit zu gelangen (Bundesregierung 2018; BMWI 2017, S.  220). Dieser Ansatz kann auch im Unternehmenskontext umgesetzt werden: So können beispielsweise digitale Assistenzsysteme ältere Arbeitnehmer∗innen unterstützen, intelligente Energie­ management-­Systeme Unternehmen beim Energiesparen helfen und Künstliche Intelligenz

Technologien als Impulsgeber für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung

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(KI) das Unternehmensrisiko senken. Allerdings wirkt der Einsatz von Technologie nicht per se nachhaltig. Je nach Nutzung können Technologien ökonomische, ökologische und/ oder soziale Belange fördern oder ihnen entgegenwirken. Beispielsweise können digitale Technologien sowohl nachhaltigkeitsschädliche wie auch nachhaltigkeitsförderliche Folgewirkungen haben (WBGU 2019, S. 4). Grundsätzlich muss zudem unterstrichen werden, dass eine ausschließliche Fokussierung auf Technologie bei weitem nicht ausreichen wird, um globale Nachhaltigkeitsziele (vgl. SDG) zu erreichen (Walz et al. 2017, S. 23; Kurz et al. 2015, S. 325; Köhler et al. 2019, S. 10–14). Im Vordergrund stehen weniger einzelne technologische Lösungen und isolierte technologiebasierte Produkte, sondern vielmehr umfassende Innovationskonzepte, bei denen Technologien genutzt werden, um ganzheitliche Innovationen in Richtung Nachhaltigkeit voranzubringen. Die Diskussion um neue Businessmodelle zeigt, dass gerade technologiebasierte Dienstleistungsinnovationen bereits häufig soziale und technische Innovationen verbinden. Im Folgenden soll Technologie auch in ihrer ganzen Breite verstanden werden und sowohl die sogenannten Schlüsseltechnologien wie auch digitale Technologien umfassen. Das St. Gallener Konzept der integrierten Unternehmensführung bietet einen geeigneten Rahmen, um Technologien für mehr Nachhaltigkeit in der Unternehmensführung zu berücksichtigen. Im Folgenden soll dargestellt werden, wie sich technologie-induzierte Impulse einfügen in das Rahmenkonzept der nachhaltigen integrierten Unternehmensführung.

2

 ie Rolle von Technologien für eine nachhaltige D integrierte Unternehmensführung

Das integrierte St. Gallener Managementkonzept ist in Theorie und Praxis weithin anerkannt (Ahlers et al. 2011). Besonders vorteilhaft ist sein ganzheitlicher, integrativer Ansatz, wenn Komplexität handhabbar gemacht werden soll. Bedingt durch die Fülle an neuen Technologien einerseits, sowie gestiegenen Erwartungen bezüglich nachhaltigen Handelns andererseits, steigen sowohl Komplexität als auch Veränderungsgeschwindigkeit. Gleichzeitig liegt in Technologie enormes Potenzial, um die unternehmerische Nachhaltigkeit zu erhöhen. Das Konzept des integrierten Managements kann Unternehmen als Instrument dienen, um Technologien für mehr Nachhaltigkeit systematisch in die Unternehmensführung zu integrieren. Dabei besteht die Herausforderung darin, den Nachhaltigkeitsgedanken ganzheitlich umzusetzen. Denn Nachhaltigkeitsbestrebungen in einem Bereich, wie in der Ökologie, können nicht-nachhaltige Folgewirkungen im ökonomischen und/oder sozialen Bereich haben. Zusätzlich erhöhen Wechselbeziehungen zwischen den Nachhaltigkeitsbereichen die Komplexität des unternehmerischen Handelns. Folglich reicht es nicht aus, die Bereiche isoliert zu betrachten, sondern sie müssen in ihrem vielfältigen, wechselseitigen Beziehungssystem analysiert werden (Ahlers et al. 2011, S. 1 f.).

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Integriertes Management ist darauf ausgelegt, eine ganzheitliche Betrachtung der Unternehmensprozesse, unter Berücksichtigung vielfältiger Einflüsse im Beziehungsnetzwerk, zu ermöglichen. Auf diese Weise kann das Unternehmen mit der Komplexität des Systems umgehen und das unternehmerische Handeln daran ausrichten. Entsprechend verbindet das integrierte Management die Gestaltungsaspekte des normativen und strategischen Managements mit den Lenkungsansprüchen des operativen Managements. Technologie kann zur Umsetzung des Nachhaltigkeitsgedankens auf allen drei Ebenen beitragen. Die normative Ebene definiert die generellen Ziele und Grundsätze des Unternehmens und legitimiert damit das Handeln (Bleicher 2011, S. 89). Hier ist also der erste Angriffspunkt, um neue Technologien für eine nachhaltige Ausrichtung des Unternehmens mitzudenken. Dementsprechend setzt sich die normative Ebene mit dem Beitrag des Unternehmens zu einer nachhaltigen Entwicklung und der Rolle von Technologien bei diesem Bestreben auseinander und formuliert daraus abgeleitete Zielvorstellungen (Gandenberger et al. 2017, S. 248). Gerade auch Vision und Mission eines Unternehmens sollten im Sinne der nachhaltigen Unternehmensführung so gestaltet werden, dass Nachhaltigkeitsziele explizit adressiert werden (Thomaschewski und Völker 2016, S. 18). Die strategische Ebene zielt darauf ab, die Weichen für konkrete Aktivitäten zu stellen. Der Fokus liegt hier auf Programmen, auf der Auslegung von Strukturen und Systemen des Managements sowie auf dem Problemlösungsverhalten (Bleicher 2011, S. 90). Einige Unternehmen übersetzen ihre Nachhaltigkeitsziele auf der strategischen Ebene direkt in Initiativen und Leistungsmessgrößen (Thomaschewski und Völker 2016, S.  18). Durch eine nachhaltigkeitsorientierte Unternehmensstrategie werden grundsätzlich Wege zur Erreichung dieser Ziele beschrieben (Gandenberger et al. 2017, S. 248). Insbesondere digitale Tools aus dem Bereich von Data Analytics und Business Intelligence können hier die Umsetzung erleichtern und begleiten. Im operativen Management wird hard- und softwareseitig bereits intensiv mit neuen Technologien gearbeitet. Wenn diese allerdings zu einer Verringerung negativer ökologischer und sozialer Wirkungen führen sollen, müssen hierfür bewusste Managemententscheidungen getroffen werden. Das heißt beispielsweise, dass Beschaffung, Instandhaltung und Organisation fortlaufend eine nachhaltigkeitsorientierte Reflexion erfordern. Insbesondere im operativen Management ist es entscheidend, dass Nachhaltigkeit als zentraler Teil der Unternehmensphilosophie verstanden und als Orientierungskriterium für jede Entscheidung herangezogen wird. Schlussendlich müssen Technologien ebenso wie die Nachhaltigkeit als „guiding principle“ und als Integrationsaspekt im „unternehmungspolitischem Wollen“ sowie in „strategischen Programmen und operativen Aufträgen“ (Bleicher 2011, S. 95) verankert werden. Was bedeutet nun also Nachhaltigkeit als Leitprinzip für „gute“ Unternehmensführung? Nachhaltige Unternehmensführung lässt sich daran bemessen, wie Betriebe adäquate Lösungen entwickeln, um ökonomische, soziale und natürliche Ressourcen zu erhalten (Günther und Schuh 2000). Darunter fallen zum Beispiel auch die Schaffung neuer Arbeitswelten, transparente Berichterstattung und Risikomanagement. Der Anspruch,

Technologien als Impulsgeber für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung

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dass Nachhaltigkeit im ganzen Unternehmen gelebt und strategisch verankert wird, ist dem Konzept inhärent. Jedes Unternehmen muss sich heute wirtschaftliche (Sach- und Finanzkapital), ökologische (Naturkapital) und soziale Ziele (Humankapital) setzen und entsprechende Aspekte in allen Funktionsbereichen des Unternehmens verankern. Beispielsweise können bei der Beschaffung Rohstoffe so ausgewählt werden, dass sie Nachhaltigkeitskriterien entsprechen. Produktionsprozesse können in In- und Outputdimension verbessert werden. So ist beispielsweise der Ansatz der Kreislaufwirtschaft entstanden. In Bezug auf Absatz und Marketing müssen Nachhaltigkeitsaspekte bei der Produkt-, Preis-, Kommunikations- und Distributionspolitik mehr in den Mittelpunkt gerückt werden (Meffert und Kirchgeorg 2000). In Zeiten des Fachkräftemangels kann so ein anerkannter Wertekanon geschaffen werden, der die Reputation des Unternehmens nach innen und außen steigert (Schiek 2017). Instrumente wie der Deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) oder die Richtlinien der Global Reporting Initiative (GRI) bieten einen Rahmen, um Nachhaltigkeitsaspekte systematisch zu erfassen und in Nachhaltigkeitsoder CSR-Berichten zu dokumentierten. Darüber hinaus können Unternehmen Technologien einsetzen, um Ziele in sozialer, ökologischer und ökonomischer Dimension zu erfüllen. Jedoch werden laut dem aktuellen WBGU-Bericht digitale Ressourcen und Projekte „überwiegend für konventionelles Wachstum auf etablierten Märkten im internationalen Wettbewerb eingesetzt“ (WBGU 2019, S.  4). Demnach wird Nachhaltigkeit bisher oft nicht als „Sinn und Zweck des digitalen Fortschritts“ wahrgenommen. Vielmehr befördere die Digitalisierung Aspekte wie Unterhaltung, Bequemlichkeit, Sicherheit sowie kurzfristige Gewinne. Der WBGU stuft die heutigen Digitalisierungsprozesse daher eher als „Brandbeschleuniger bestehender nicht nachhaltiger Trends“ ein, die sich in der Übernutzung natürlicher Ressourcen und wachsender sozialer Ungleichheiten in vielen Ländern äußere. Eine nachhaltige integrierte Unternehmensführung bindet Technologie ein, um ebensolchen Effekten explizit entgegen zu wirken. Dabei steht die integrierte nachhaltige Unternehmensführung vor der Herausforderung, die ökonomischen, ökologischen und sozialen Interessen auszugleichen und das Spannungsfeld zwischen den Dimensionen zu meistern (Binder 2013, S. 23). Eine nachhaltige integrierte Unternehmensführung berücksichtigt alle drei Dimensionen. Der Einsatz von Technologie kann dem Management helfen, nachhaltige Ziele zu erreichen. Ein Unternehmen steht somit vor der komplexen Herausforderung, sowohl die Ebenen des Handelns (normatives, strategisches und operatives Management) als auch die Nachhaltigkeitsdimensionen ganzheitlich zu analysieren und Maßnahmen zu definieren bzw. zu ergreifen. Bei den Maßnahmen gilt es zudem, die unterschiedlichsten Technologien für eine nachhaltige Ausrichtung zu nutzen. Abb. 1 verdeutlicht dieses komplexe Spannungsfeld. Sie stellt alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit dar und setzt sie ins Verhältnis zur Unternehmensführung. Für eine nachhaltige integrierte Unternehmensführung wäre das Ziel, in den Teilwürfel „nachhaltige integrierte Unternehmensführung“ (vorne links, am Punkt 1/1/1) zu gelangen. Dies setzt voraus, dass soziale, ökologische und ökonomische Aspekte im Management ­normativ, strategisch und operativ verankert sind. Nach Günther und Schuh (2000, S. 84)

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sozial & ökon. ausgerichtet

ökonomisch

nachhaltige integrierte Unternehmensführung

ökologisch& ökonomisch ausgerichtete Unternehmensführung

sozial ausgerichtet

ökologisch & sozial ausgerichtete Unternehmensführung

ökonomisch ausgerichtet

wenig normativ/ strategisch

ökologisch ausgerichtete Unternehmensführung

ökologisch

sozial Abb. 1  Anwendung des Konzepts der nachhaltigen integrierten Unternehmensführung auf den Nachhaltigkeitswürfel (nach Günther und Schuh 2000, S. 84)

sprechen wir hier von nachhaltigen Unternehmern mit „sustainable vision“. Ein Unternehmen, das keine Nachhaltigkeitsziele verfolgt, befindet sich beim Nullpunkt; Nachhaltigkeit wäre danach kein Thema im Management. Bei den sogenannten „Durchwurstlern“ (Günther und Schuh 2000, S. 84) spielen dann auch Technologien zur Unterstützung der Umsetzung der integrierten Nachhaltigkeit keine Rolle. Es lassen sich aber auch Beispiele für sämtliche Ausprägungen zwischen diesen beiden Polen finden: Nicht immer verankert ein Unternehmen Nachhaltigkeitsziele in allen Dimensionen, manchmal werden deutliche Prioritäten sichtbar. Mäzene beispielsweise verfolgen ökonomische und soziale Ziele, aber keine ökologischen; soziale, ökologische und totale Utopisten bewegen sich auf der unteren Ebene des Würfels mit Fokus auf soziale und ökologische Ziele, nicht aber die eigene ökonomische Nachhaltigkeit. Hingegen kümmern sich öko-effiziente Rationalisten neben ökonomischen Zielen um ökologische Ziele, während Günther und Schuh (2000, S.  84) ausschließlich ökonomisch denkende Unternehmer als „Geldgeier“ bezeichnen. Technologieeinsatz kann zwar auch bei der Umsetzung einzelner Nachhaltigkeitsziele helfen, am meisten profitieren aber die Unternehmen, die alle Nachhaltigkeitsdimensionen systematisch in den Managementebenen verankert haben. Der Nutzen des Einsatzes von Technologie steigt mit der Komplexität, die allein durch die vielschichtige strategische Ausrichtung mit möglichen Trade-Offs zwischen einzelnen Dimensionen signifikant steigt. Im Folgenden geht es zunächst darum, den grundsätzlichen Einsatz von Technologien zu beleuchten, bevor dann auf die unterschiedlichen Nachhaltigkeitsdimensionen diesbezüglich eingegangen wird.

Technologien als Impulsgeber für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung

3

155

 ie Einbindung von Technologien für eine nachhaltige D integrierte Unternehmensführung

Die vorausgehenden Abschnitte haben die Relevanz von Technologie für eine nachhaltige integrierte Unternehmensführung dargelegt. Vor der Betrachtung von beispielhaften Technologien in den unterschiedlichen Bereichen (Abschn.  4) lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und die folgende Frage zu beantworten: Wie können Unternehmen angesichts begrenzter Ressourcen und einem teilweise wahrgenommenen „Technologie-Überfluss“ die „richtigen“ Technologien zur Förderung ihrer jeweiligen Nachhaltigkeitsstrategie auswählen? Schließlich beginnt die nachhaltige Ausrichtung unternehmerischen Handelns – wenn man dem Ansatz des integrierten Managements folgt – nicht bei der Technologie. Sie ist lediglich Mittel zum Zweck. Sollen Technologien zur nachhaltigen Unternehmensführung beitragen, ist der Fokus zuvor auf die Bedarfsfelder zu richten. Den Annahmen des St. Gallener Managementkonzepts folgend, kann kein Unternehmen losgelöst von seiner Umwelt betrachtet werden. Jedes Unternehmen muss zuerst für sich definieren, welche Aufgaben und welche Rolle es in der Gesellschaft hat, um daraus auch seinen spezifischen Verantwortungsbereich genauer zu definieren. Die jeweilige Nachhaltigkeitswirkung unterscheidet sich grundlegend je nach Branche, Business Case oder Position in der Wertschöpfungskette etc. Grundsätzlich steht also zunächst die Analyse im Vordergrund, wo Nachhaltigkeit – unter Berücksichtigung der drei Dimensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales – im konkreten Unternehmenskontext noch nicht erreicht ist. Die damit einhergehende Bewertung basiert grundlegend auf den Werthaltungen, die auf der normativen Ebene adressiert werden (Becker 2018). Die normative Grundausrichtung orientiert sich im Falle des integriert nachhaltigen Managements natürlich an der Nachhaltigkeit in ihren drei Dimensionen. Die Grundsätze der Nachhaltigkeit, wie sie beispielsweise in den Sustainable Development Goals (SDG) formuliert werden (Abschn. 1), können dabei zwar als grober Orientierungspunkt dienen, sind allerdings auf die jeweilige Geschäftstätigkeit anzupassen. Verschiedene Handreichungen und Bewertungsraster ermöglichen, entsprechende global anwendbare Ziele auf die einzelne Unternehmung herunterzubrechen (Kaminski-Nissen 2018, S. 5; GRI et al. 2016). Denkbar ist auch die Orientierung an international für Unternehmungen gültigen Standards aus den Richtlinien für Nachhaltigkeitszertifizierungen (Kaminski-Nissen 2018, S. 4). In diesem Zuge wäre sogar ein vollständiger Zertifizierungsprozess vorstellbar. Wenn es allerdings darum geht, Bedarfsfelder für technologiebasierte Maßnahmen zur Verbesserung der Nachhaltigkeit zu ermitteln, reichen die genannten Vorlagen als orientierende Anhaltspunkte aus. Denn grundsätzlich geht es vor allem darum, sich die ­eigenen Werthaltungen und Nachhaltigkeitsziele zu vergegenwärtigen, um daraus Handlungsschwerpunkte ableiten zu können. Um die eigene Nachhaltigkeitswirkung zu beeinflussen, kann eine Unternehmung durch technische Maßnahmen die eigene Leistungserstellung verbessern. Darüber hinaus zeigt das unternehmerische Handeln aber auch Wirkung in der vor- wie in der nachgelagerten

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Abb. 2  Beispiel für die Zuordnung von SDGs zu einer unternehmensspezifischen Liefer-/Wertschöpfungskette (aus Kaminski-Nissen 2018, S. 8)

Wertschöpfungskette. In Abb. 2 ist beispielhaft die Wertschöpfungskette für Elektro- und Elektronikprodukte in Bezug auf Nachhaltigkeitsziele dargestellt (Kaminski-­Nissen 2018, S. 8). Zu bedenken sind zunächst die Vorleistungen (Lange und Surdyk 2018). Hier spielt beispielsweise die Erzeugung von Materialien eine entscheidende Rolle. Ebenso sind die Herstellungsbedingungen für Vorprodukte zu berücksichtigen. Allerdings ist zu betonen, dass, selbst wenn Vorprodukte und die Leistungserstellung sich an Nachhaltigkeitskriterien orientieren, die ausschlaggebende Wirkung der Unternehmung auf die Nachhaltigkeit in der nachgelagerten Wertschöpfung liegen kann. Die Wirkung einer unternehmerischen Entscheidung wird sich in besonderem Maße in der Nutzung durch den Kunden und in der finalen Entsorgung entfalten. Und diese Wirkung kann insgesamt deutlich stärker ins Gewicht fallen als die unternehmenseigene Leistungserbringung selbst. Beispielsweise kann die Herstellung eines Fahrzeugs den Kriterien der Nachhaltigkeit vollständig entsprechen, eine entscheidende Nachhaltigkeitswirkung entfaltet das Fahrzeug aber bei der Nutzung. Folglich ist es notwendig, die gesamte Wertschöpfungskette zu betrachten, um die negativen Folgewirkungen der eigenen Unternehmenstätigkeit insgesamt zu erfassen. Gleichzeitig lassen sich mit einer umfassenden Wirkungsanalyse genau die Bereiche im Unternehmen identifizieren, bei denen der Einsatz von Technologie positive Nachhaltigkeitswirkungen verspricht. Beispielsweise können durch technologische Innovationen Produkte und Dienstleistungen deutlich verbessert oder Prozesse optimiert werden. Letztlich stecken in Innovationen erhebliche Entwicklungspotenziale hin zu einer „Green Economy“ (Gandenberger et al. 2017). Obwohl das Potenzial technologischer Entwicklung insbesondere für mehr ökologische Nachhaltigkeit seit langem beschworen wird, nutzt die

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157

Wirtschaft es nur zögerlich: So haben in den Jahren 2013 bis 2017 nicht einmal ein Drittel der Betriebe des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland Produktinnovationen mit einer verbesserten Umweltwirkung eingeführt (Walz et al. 2017, S. 5). Auf strategischer Ebene erscheint eine detaillierte quantitative Analyse der Ausgangssituation entscheidend wichtig, damit Unternehmen ihren Maßnahmenfokus auf das Wesentliche legen können (Becker 2018). Technische Neuerungen im Sinne der Nachhal­ tigkeit einzuführen, ist in den meisten Fällen mit Aufwand verbunden. Bei der Entscheidungsfindung erscheint es daher essenziell, die Wirksamkeit von Maßnahmen auf Basis vorliegender interner und externer Information im Vorfeld zumindest grob abzuschätzen. Wenn es um ökonomische Fragen geht, ist diese Herangehensweise in der Unternehmenspraxis Standard. Beim Thema Nachhaltigkeit hingegen werden Zahlen in vielen Fällen insbesondere erfasst, um gegenüber dem Außenraum die Umweltwirkung der Unternehmung zu kommunizieren und weniger um die Wirksamkeit von Nachhaltigkeitsmaßnahmen zu ermitteln. Im Folgenden wird nun der Fokus darauf gelegt, quantitative Rahmendaten heranzuziehen, um technologische Neuerungen nach ihrem strategischen Potenzial zu bewerten. In diesem Zusammenhang gilt es zunächst, die relevanten Unternehmensbereiche zu ermitteln und den eigenen Status quo festzustellen. Das Hinzuziehen von externen Vergleichsmaßstäben hilft, die Bedarfe und Potenziale von nachhaltigkeitsfördernden Maßnahmen abzuschätzen. Beispielsweise können systematisch ermittelte Daten Auskunft darüber geben, wo die größten Energieeinsparpotenziale für Unternehmungen zu erwarten sind (dena 2015), welche Technologien sich gegebenenfalls besonders eignen (Umweltbundesamt 2018a, S. 80) und welche Erfahrungen Wettbewerber mit bestimmten Technologien gemacht haben. Für die Quantifizierung können allgemeine Unternehmensbilanzen als Ausgangspunkt dienen. Durch Big-Data-Verfahren ist es heute immer besser möglich, verstreut in Datenbanken und Cloudanwendungen abgelegte Daten zusammenzuführen und für Business Intelligence-Vorhaben zu nutzen – wobei die Auswertung sich auf Nachhaltigkeitsfragen fokussieren kann. Sehr anschaulich ist dies im Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit: Unter anderem haben sich hierfür Green Information Systems (Green IS) als Teil der Wirtschaftsinformatik etabliert (vom Brocke et al. 2016). Ebenso kann das Thema Nachhaltigkeit im Controlling Berücksichtigung finden, um quantifizierte Anhaltspunkte für Aktivitätsschwerpunkte abzuleiten. Dies kann bis hin zu professionellen Environmental Management Accounting-Ansätzen reichen, die das Rechnungswesen auf den Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit erweitern (Wei et  al. 2018). Oder es ist, als umfassendste Herangehensweise, ein spezifisches Nachhaltigkeitscontrolling denkbar (Colsman 2016). Um zu illustrieren, wie sich Schwerpunkte für die nachhaltigkeitsorientierte Technologieauswahl aus quantitativen Analysen ableiten lassen, wird im Folgenden zunächst aus ­statistischen Quellen die vielversprechendsten Bedarfsfelder selektiert. Für diese werden dann exemplarisch Technologieansätze beschrieben, die die Nachhaltigkeit der Unternehmungen unterstützen.

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4

D. Beyer et al.

Beispiele

Bei unternehmerischen Entscheidungen geht es also zunächst darum, die Implikationen des unternehmerischen Handelns in den drei Dimensionen der Nachhaltigkeit zu antizipieren. Die integrierte nachhaltige Unternehmensführung intendiert dann, die drei Dimensionen in einer Gesamtbetrachtung zu verbinden und auf normativer Ebene zu Zielformulierungen zu kommen. Durch diese normative Klammer wird es möglich, auch auf strategischer und operativer Ebene ein ganzheitliches nachhaltiges Vorgehen sicher zu stellen. In den folgenden Abschnitten geht es nun darum, Beispiele aufzuzeigen, wie Technologien in den jeweiligen Dimensionen der Nachhaltigkeit einen Beitrag leisten können. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere die strategische und die operative Ebene. Die ökologische Nachhaltigkeit wird aus der Perspektive von Einspar- und Effizienzpotenzialen heraus betrachtet. Die ökonomische Nachhaltigkeit fokussiert auf Chancen und Risiken, die den Fortbestand der Unternehmung betreffen. Und die soziale Nachhaltigkeit befasst sich mit der Perspektive des arbeitenden Menschen. Die Beispiele erheben nicht den Anspruch einer wirklich umfassenden Betrachtung, vielmehr möchten sie anregen, sich mit dem Thema auseinander zu setzen und beispielhafte Impulse zu liefern.

4.1

 echnologische Potenziale für mehr ökologische Nachhaltigkeit T im Unternehmen

Zwar wird ökologisch nachhaltiges Wirtschaften schon seit Jahrzehnten beschworen und rückt in letzter Zeit auch verstärkt in den Fokus öffentlicher Debatten. Dabei geht es um eine saubere, gesunde und vielfältige Umwelt sowie den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (BMU o. J. b). Die aktuellen Zahlen deuten aber darauf hin, dass der Weg hin zu einer ökologisch arbeitenden Wirtschaft noch lang ist. So stiegen in Deutschland beispielsweise die Emissionen von Treibhausgasen im Bereich der Industrie in den Jahren zwischen 2013 bis 2017 weiter an (Umweltbundesamt 2019a). Folglich würde es sich in besonderem Maße lohnen, technologiebasierte Maßnahmen der ökologischen Nachhaltigkeit in der Wirtschaft voranzutreiben. Wenn man beispielsweise den Energieverbrauch, als einen Faktor mit erheblichen Folgewirkungen für die ökologische Nachhaltigkeit, heranzieht, dann liegt davon in Deutschland 73 Prozent im Bereich der Wirtschaft (Umweltbundesamt 2018b). Das heißt, dass hier im Vergleich zu Privathaushalten Effizienzsteigerungen durch technische Neuerungen eine deutlich größere Hebelwirkung haben. Der Themenkomplex „Wirtschaft und Nachhaltigkeit“ ist allerdings nicht nur darauf beschränkt, welchen Einfluss die Unternehmungen auf die Umwelt haben. Zunehmend spielt auch eine Rolle, dass Fragen von Umwelt und Klimawandel einen negativen Einfluss auf die wirtschaftliche Tätigkeit haben: In einer KPMG-Studie nennen CEOs „Umweltrisiken und Klimawandel“ am häufigsten als Bedrohung für das Wachstum des Unternehmens (KPMG 2019, S. 8). Die Bedeutung und die Folgen ressourcenschonenden Handelns betreffen also zunehmend alle gesellschaftlichen Bereiche und insbesondere auch die Wirtschaft.

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Dabei sind die Bedarfe (Rohde 2018) ebenso wie die technologischen Potenziale für eine nachhaltige Unternehmensausrichtung sehr stark branchenabhängig. Gerade in den rohstoff- und energieintensiven Sektoren wird seit Jahren intensiv an technologischen Entwicklungen geforscht, um die Leistungserbringung ökologisch nachhaltiger zu gestalten. Die strategische Herangehensweise, die die Prioritäten aus quantitativen Analysen ableitet, soll im Folgenden auf ausgewählte Beispiele angewendet werden: Der Fokus liegt zunächst auf Sektoren, die durch besondere Umweltwirkung gekennzeichnet sind und bei denen von technologische Neuerungen besonderes Wirkpotenzial zu erwarten ist. Die Chemieindustrie benötigt 13,8 Prozent der Primärenergie aller Produktionsbereiche in Deutschland (Umweltbundesamt 2018b). Die Energieeffizienz durch technologische Innovationen zu steigern, lässt daher ein hohes Einsparpotenzial erwarten. Dementsprechend wird beispielsweise intensiv im Bereich der Industriellen Biotechnologie geforscht, um mithilfe von Biokatalysatoren die Prozessenergie zu senken und so Einspar­ effekte zu erzielen. So kann der in der besonders energieintensiven Grundstoffindustrie der verbreitete Ausgangsstoff 1,4-Butanediol (BDO) durch biotechnologische Verfahren mit einem um 60–87 Prozent geringeren fossilen Energiebedarf erzeugt werden (E4tech et al. 2015, S. 45). Technologische Neuerungen in der Chemieindustrie sollen in Zukunft sogar dazu beitragen, das Klimagas CO2 zu verwerten. Durch chemische Umwandlung mithilfe regenerativ erzeugter Energie soll eine stoffliche Nutzung in Kunststoffen oder gar eine Produktion von Kraftstoffen möglich werden. Bis 2030 wird hier mit den ersten konkreten Produkten gerechnet (Krämer und Bazzanella 2017, S. 17). Mit 12,2 Prozent des Primärenergiebedarfs aller Produktionsbereiche spielt auch die Logistik in Deutschland eine erhebliche Rolle bei der Bildung von Klimagasen (Umweltbundesamt 2018b). Hier ergeben sich interessante Einsparpotenziale für Emissionen zum Beispiel durch Verfahren der KI. Mit Methoden von Predictive Analytics sind beispielsweise Vorhersagen zu zukünftigen Transportbedarfen möglich, die eine optimierte Routenplanung von Logistikfahrzeugen erlauben (Gesing et al. 2018, S. 25). Grundsätzlich können mit KI Transportnetzwerke analysiert, designt und optimiert werden. Als dritte sehr energieintensive Branche ist die Metallherstellung zu nennen. Auf sie entfallen 6,8 Prozent des Primärenergiebedarfs der Wirtschaft (Umweltbundesamt 2018b). In der Stahlindustrie in Deutschland ist beispielsweise durch Abwärmenutzung ein signifikanter Einspareffekt von mehr als 2,6 Milliarden Kilowattstunden zu erwarten (Umweltbundesamt 2019b). Das entspricht dem jährlichen Energieverbrauch einer Großstadt wie Mannheim (AGEB 2018). Die klassischen Schlüsseltechnologien (European Commission o. J.) bieten eine Vielzahl von Ansätzen, um die ökologische Nachhaltigkeit zu steigern. Insbesondere bei Produktionstechnologien wurden durch intensive Forschungsarbeiten zahlreiche technologische Neuerungen auf den Weg gebracht, die das Ziel haben, die Umweltwirkung zu verbessern. Beispielsweise wurden die Ergebnisse der BMBF-Fördermaßnahme r2 im Kompendium „Innovative Technologien für Ressourceneffizienz in rohstoffintensiven Produktionsprozessen“ zusammengefasst (Woidasky et al. 2013). Im konkreten Herstel-

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Abb. 3  Nutzung von Energieeffizienzlösungen im verarbeitenden Gewerbe (Mattes et al. 2017)

lungsprozess werden Energieeffizienztechnologien allerdings nur zögerlich eingesetzt. Gerade bei kleineren Betrieben und nicht energieintensiven Branchen könnten Technologien hier dazu beitragen, die Umweltwirkung zu verbessern (Mattes et al. 2017) (siehe Abb. 3). In ähnlicher Weise wie die Produktionstechnik bietet die Materialforschung ein breites Spektrum an Möglichkeiten und Maßnahmen, um eine positive Umweltwirkung zu erzielen und die Nachhaltigkeit zu verbessern. Aktuell wird beispielsweise intensiv an Polymeren geforscht, die einerseits aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden und gleichzeitig biologisch abbaubar sind, um der Verschmutzung der Meere entgegenzuwirken (Ifeu o. J.). Die genannten Beispiele illustrieren, wie in spezifischen Branchen mit Technologien erhebliche Umweltwirkungen zu erzielen sind. Parallel dazu können technologische Innovationen dazu beitragen, in der Breite die wirtschaftliche Tätigkeit ökologisch nachhaltiger zu gestalten. Wiederum soll für die strategische Schwerpunktsetzung die quantitative Analyse Ausgangspunkt der Überlegung sein. Der Verkehr ist in Deutschland mit etwa 30 Prozent ein entscheidender Faktor beim Energieverbrauch, wobei auch hier der Verbrauch in den Jahren 2013 bis 2017 anstieg (BMWI 2017, S. 122). Insbesondere, wenn es darum geht, neue Technologiekonzepte im Verkehrssektor voranzubringen, kommt dem Wirtschaftsverkehr eine zentrale Rolle zu: 2016 wurden zwei Drittel der neuen Personenkraftwagen von gewerblichen Haltern zugelassen (Kraftfahrt-Bundesamt o. J.). Der anstehende technologische Wandel im Verkehrssektor in Richtung Elektromobilität wird somit in entscheidender Weise davon abhängen, ob wirtschaftliche Nutzer bei Neuanschaffungen in der Fahrzeugflotte auf Elektronantriebe setzen. Dabei hängt Wirtschaftlichkeit und das empfohlene Technologiekonzept allerdings wiederum stark von dem Nutzungsbedarf und der Branche ab (Plötz et al. 2014).

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Auf operativer Ebene erlauben dann aber digitale Technologien, beispielsweise durch prädiktive Analytik und digitale Zwillinge die Lebensdauer und Zuverlässigkeit von Batteriesystemen so weit zu steigern, dass Elektrofahrzeuge in professionelles Flottenmanagement integriert werden können (TWAICE o. J.). Bei unternehmensbezogener Nachhaltigkeit spielt insbesondere auch der Flugverkehr eine entscheidende Rolle. Hier fällt besonders ins Gewicht, dass die Steigerungsrate im Luftverkehr in Deutschland zwischen 2005 und 2017 bei über 23 Prozent lag (BMWI 2017, S. 122). Es bleibt zu erwarten, dass dieser Trend vor dem Hintergrund der starken Export­ orientierung Deutschlands weiter anhält. Anders als im Automobilbereich steht in der Luftfahrt allerdings – auch auf Weiteres – kein technologisches Alternativkonzept zur Verfügung, das in relevantem Maßstab regenerative Energie nutzt (ACARE 2017, S. 64–65). Im Sinne einer nachhaltigen Unternehmensführung sollte es also strategisch darum gehen, die Zahl der Dienstreisen zu reduzieren. Um auf operativer Ebene den erforderlichen Austausch dennoch sicher zu stellen, stehen die verschiedensten technischen Kommunikationstools zur Verfügung (Abschn. 4.3). Videokonferenzsysteme werden zunehmend in ihrer Funktionalität zu cloudbasierten Kollaborations-Plattformen erweitert, die neben den typischen audiovisuellen Lösungen, beispielsweise digitale Whiteboards oder interaktive Displays bieten. Telemanipulation wird es erlauben, mithilfe von Robotern sogar ortsübergreifend physische Aktionen auszuführen (DFKI o. J.). Und durch Telepräsenztools wird es in Zukunft gegebenenfalls sogar möglich sein, die – für die Kooperation so wichtige (Fuhrmann 2017) – informelle Kommunikation in globalen Projektteams zu fördern. Aus den Statistiken lässt sich ableiten, dass Gebäude ein weiteres relevantes Querschnittsthema sind (siehe Abb. 4), wenn es darum geht, im Unternehmenskontext ökologische Nachhaltigkeit voranzubringen. Allein Raumwärme und Raumkühlung in gewerblich genutzten Gebäuden machen einen Anteil von fast 10 Prozent des gesamten Energieverbrauchs in Deutschland aus (BMWI 2017). Leistungsstarke Gebäudehüllen bieten beispielsweise hohe Potenziale, die Umweltwirkung zu verbessern (Chalmers 2014, S.  7). Verschiedene technische Ansätze zielen darauf ab, Nachhaltigkeitsstandards durch Renovierung zu verbessern (Salvesen 2015). Auch können bei der Sanierung speziell vorgefertigte Fassadenmodule Dämmung, Heizung, Lüftung, Strom sowie Kommunikationsinfrastruktur integrieren (Fraunhofer ISE o. J.), was die Kosten für entsprechende Maßnahmen deutlich senkt.

4.2

Mit Technologien die ökonomische Nachhaltigkeit verbessern

Grundsätzlich zielt die ökonomische Nachhaltigkeit auf den Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab (BMU o. J. b). Aus Sicht der normativen Unternehmensführung adressiert die Dimension in besonderem Maße den langfristigen Bestandserhalt einer Unternehmung (Weissenberger-Eibl und Braun 2019, S. 258). Um die ökonomische Nachhaltigkeit eines Unternehmens auf strategischer Ebene zu fördern, erscheint es zunächst entscheidend, relevante Risiken zu analysieren. Neben Business Intelligence wird in Zu-

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Abb. 4  Anteil des gebäuderelevanten Energieverbrauchs am gesamten Energieverbrauch 2017 in Deutschland (AG Energiebilanzen 2018)

kunft vor allem Künstliche Intelligenz dazu beitragen, dass für Entscheider spezifische Risiken systematisch aufbereitet und nach Relevanz strukturiert werden. KPMG hat für Deutschland erfasst, worin CEOs in Deutschland die größten Risiken für das Wachstum des Unternehmens sehen (KPMG 2019). Danach werden zunächst insbesondere Risiken adressiert, die ein globales Ausmaß haben, wie beispielsweise Umweltrisiken, der Klimawandel sowie die Rückkehr zum Territorialismus und Protektionismus. Ab Platz drei werden dann Risiken genannt, auf die die Unternehmensführung durch ihre Entscheidungen Einfluss nehmen kann: Disruptionsrisiken und Risiken durch neue Technologien sowie Risiken für die Cybersicherheit. In all diesen Fällen können Daten dazu beitragen, das Risiko zu senken und die Effizienz von Maßnahmen zu steigern und somit den langfristigen Erhalt einer Unternehmung zu sichern. Mit zunehmender Digitalisierung werden Unternehmungen hinsichtlich Spionage und Konkurrenzausspähung verletzbarer. Illegaler Abfluss von Wissen, Daten und Informationen war immerhin bei über 20 Prozent der Firmen in Deutschland ein Thema (Abb. 5). Dabei ist zunächst festzustellen, dass beim Informationsabfluss weniger Hackerangriffe im Zentrum stehen als vielmehr die Informationsweitergabe durch physische Spionage (Bollhöfer und Jäger 2018, S. 50; Corporate Trust 2007, S. 18). Entsprechend sollten technische Maßnahmen auch in besonderem Maße diese Form der Gefährdung berücksichtigen. Im Sinne der strategischen Nachhaltigkeit stellt sich nun die Frage, inwieweit der Fortbestand der Unternehmung durch Cyberangriffe gefährdet ist. Bei der Risikoabschätzung spielt weiterhin eine Rolle, dass die auftretenden finanziellen Schäden im Allgemei-

Technologien als Impulsgeber für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung

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Illegaler Abfluss von Wissen, Daten und/oder Informationen MEHRMALIGER VORFALL

9%

EINMALIGER VORFALL

13%

VERMUTUNG EINES VORFALLS

22%

KEIN VORFALL KEINE ANGABEN

54% 1%

Abb. 5  Illegaler Abfluss von Wissen, Daten und/oder Informationen. Dunkelfeldbefragung bei KMU in Deutschland, n = 583 (Bollhöfer und Jäger 2018, S. 34)

nen zwar überschaubar sind, im Worst-Case-Szenario aber die komplette Unternehmung gefährdet sein kann (Bollhöfer und Jäger 2018, S. 42; Corporate Trust 2007, S. 17). Zudem ist ein deutlicher Unterschied zwischen verschiedenen Branchen zu erkennen. Heute sind weniger die Branchen betroffen, die auf technische Innovationen setzen als vielmehr Bau, Handel und Dienstleistungen (Bollhöfer und Jäger 2018, S. 34). Aus dem sehr heterogenen Bild der Gefährdungslage hinsichtlich Spionage und Konkurrenzausspähung zeigt sich, dass eine auf den konkreten Fall bezogene Anpassung der Maßnahmen sinnvoll ist. Insbesondere im operativen Bereich gibt es heute eine Vielzahl an technologischen und nicht-technologischen Präventionsmaßnahmen (Bollhöfer und Jäger 2018, S. 46). Um den unerlaubten Abfluss wichtiger Leistungsparameter zu verhindern, werden beispielsweise Private-Cloud-Konzepte diskutiert. Dabei werden sensible Produktionsdaten unmittelbar in der Produktionsumgebung belassen und nicht in der Public Cloud abgelegt. So kann ein unberechtigter Zugriff verhindert werden (Luber und Karlstetter 2017). Ein weiterer Faktor, der für den langfristigen Bestand einer Unternehmung und damit für die Nachhaltigkeit entscheidend ist, ist die Akzeptanz am Markt. Operative Risiken ergeben sich dabei sicherlich zunächst aus den konkreten Business Cases und der Rolle der Unternehmung im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Grundsätzlich spielt aber bei fast allen Unternehmungen eine entscheidende Rolle, ob das Angebot kundenzentriert ist. Verschiedene technologische Ansätze bieten in Kombination mit Business-Modellen vielfältige Möglichkeiten, die Orientierung des Angebots am Kundennutzen zu verbessern. So erlauben Sharing-Ansätze eine Vielzahl an Daten darüber zu generieren, wie die Kunden das eigene Angebot nutzen. Auf dieser Basis können Unternehmen ihr Angebot fortlaufend verbessern, den Kundennutzen optimieren und den Kunden langfristig binden.

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Die Sharing Economy, die mit Car-Sharing-Modellen oder Übernachtungsplattformen im Consumer-Bereich bereits eine gewisse Verbreitung erfahren hat, steht in der Business-­ to-­Business-Wirtschaft noch relativ am Anfang. Sie verspricht aber durchaus auch im B-to-B-Bereich interessante Optionen für langfristig angelegte Geschäftsmodelle (Gotsch et al. 2018). Gerade bei Investitionsgütern ist es denkbar, durch Sharing-Konzepte eine hohe Auslastung zu erreichen. Im operativen Bereich erlauben dann beispielsweise cyberphysikalische Systeme, Betriebsparameter fortlaufend zu erfassen. Dies ermöglicht es, individuelle Benutzerprofile umzusetzen. Ebenso macht es eine prädiktive Instandhaltung möglich (Lucke et al. 2015). Auf diese Weise können bei gleicher Funktionalität und gegebenenfalls sogar besserem Bedienkomfort Investitionskosten reduziert und die Nachhaltigkeit gesteigert werden. Zentraler Faktor für den Fortbestand der meisten Unternehmungen sind heute die Kompetenzen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dem Kompetenzmanagement kommt entsprechend eine wichtige Funktion bei der langfristigen Sicherung des Unternehmenserfolgs zu. In diesem Zuge gilt es zum einen, Kompetenzträger möglichst langfristig zu halten. Hier können Technologien auf den verschiedensten Ebenen eine unterstützende Rolle spielen (Abschn. 4.3). Parallel dazu müssen Unternehmungen neue Kräfte im Außenraum akquirieren. Nicht nur aufgrund des vielbeklagten Mangels an Fachkräften, sondern auch wegen zunehmender Spezialisierung der Geschäftstätigkeit, wird diese Aufgabe immer anspruchsvoller. In Zukunft werden Tools mit KI dazu beitragen, den Angebotsmarkt nach passenden Kompetenzen zu durchforsten (Leukert et al. 2019). Dabei wird es nicht nur darum gehen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezielt abzuwerben, sondern auch darum, Kompetenzen im Rahmen von Projekten fallspezifisch zu finden und einzubinden. Beispielsweise stellt die Motius GmbH, ein Unternehmen aus dem Bereich „Research and Development“, je nach Projektbedarf Teams von Kompetenzträgern im Bereich neuer Technologien zusammen (Motius o. J.). Dabei nutzt das Unternehmen KI, um aus einem umfassenden Kompetenzpool passende Beteiligte auszuwählen.

4.3

 echnologieimpulse für mehr soziale Nachhaltigkeit T im Unternehmen

Generationengerechtigkeit, sozialer Zusammenhalt, Lebensqualität und Wahrnehmung internationaler Verantwortung sind Ziele der sozialen Nachhaltigkeit (BMU o. J. b). Auch im Unternehmenskontext betrifft sie Fragen von Arbeit und Leben. Themen, wie ­Arbeitsbedingungen, Gesundheit, Work-Life-Balance, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und Bildung, stehen im Fokus und sie spielen eine wichtige Rolle für Zufriedenheit, Motivation und Produktivität der Mitarbeitenden. Neue Technologien wie die Digitalisierung und ihre Schlüsseltechnologie KI verändern die Arbeitssysteme und stellen Unternehmen und die arbeitenden Menschen vor große Herausforderungen. Gleichzeitig liegen in Technologien enorme Potenziale, um Arbeit und Leben nachhaltig zu gestalten. Dahingehende Aufgabe der normativen Unternehmensführung kann sein, das Thema der sozia-

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len Nachhaltigkeit im Unternehmen zu erschließen und zu präzisieren, wie Technologie die Wahrnehmung sozialer Verantwortung unterstützen kann. Dieser Prozess kann nicht losgelöst von den Interessen der Mitarbeitenden erfolgen. Eine nachhaltige Unternehmensführung erkennt, dass die zukünftigen Anforderungen an ihre Belegschaft nur dann erfüllbar sind, wenn die Mitarbeitenden sich mit den Zielen des Unternehmens identifizieren und wenn sie motiviert sind, sich von Technologie unterstützen zu lassen. Die strategische Ebene kann dann konkrete Ziele, Programme und Maßnahmen bestimmen, welche die soziale Nachhaltigkeit im Unternehmen erhöhen. Eine Analyse der Ausgangssituation erscheint auch hier zielführend, um den Fokus auf das Wesentliche zu legen und die Strategie insbesondere auf die Bedarfe der arbeitenden Menschen abstimmen zu können. Schließlich ist auf operativer Ebene zu definieren, wie und wo Technik beispielsweise organisatorische, körperliche und soziale Aspekte der Arbeitsgestaltung fördern kann. Vor dem Hintergrund, dass die Ausgangslagen und Bedarfe in den Unternehmen unterschiedlich sind, kann nicht pauschal gesagt werden, welche Technologien die soziale Nachhaltigkeit verbessern. Jedes Unternehmen ist selbst gefordert, die Bedarfe zu ermitteln und technologische Lösungen zu erarbeiten, mit denen es die soziale Nachhaltigkeit steigern möchte. Nachstehend werden Beispiele aufgezeigt, bei denen Technologie als Impuls für mehr soziale Nachhaltigkeit im Unternehmen dient. Vorweg sei betont, dass Konzepte zur Technologieimplementierung in Unternehmen nur dann erfolgreich und nachhaltig sein können, wenn sie den Menschen und die Mitarbeitenden mit ihren individuellen Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen. Grundsätzlich ist die Gesundheit der Mitarbeitenden ein wichtiges Thema der Unternehmensverantwortung, welches vom Technikeinsatz profitieren kann. Hier geht es darum, die Arbeit und das Arbeitsumfeld so zu gestalten, dass es der Gesundheit der Mit­ arbeitenden zuträglich ist. Aus gesellschaftlicher Perspektive zielt die betriebliche Gesundheitsförderung auch auf die Gesunderhaltung der Erwerbsbevölkerung ab. Geringere physische Anforderungen und gesundheitliche Risiken steigern die Attraktivität von Berufen mit (schweren) körperlichen Aufgaben und können beispielsweise auch der Integration und Weiterbeschäftigung von Älteren dienen. Körperliche Erkrankungen verursachen in Deutschland die meisten Arbeitsunfähigkeitstage (Jürgens et al. 2017, S. 145). Dabei sind mit rund einem Viertel die meisten Fehlstunden auf Muskel-Skeletterkrankungen zurückzuführen (BAUA 2015, S. 41). In Berufen, die sich durch körperliche Belastung auszeichnen, wie zum Beispiel (Innen-) Ausbau, Hoch- und Tiefbau und Altenpflege, schieden im Jahr 2012 überdurchschnittlich häufig Ruheständler∗innen aufgrund von Gesundheitsproblemen aus dem Erwerbsleben aus (Statista 2014). Bei körperlichen Tätigkeiten (Produktion, Logistik, Baugewerbe) können Roboter entlasten, indem sie physisch anstrengende und monotone Aufgaben reduzieren. Ständig wachsende Fähigkeiten von Robotern ermöglichen auch in Pflege und Rehabilitation, medizinisches Personal zu entlasten und Patienten intensiver und individueller zu betreuen. Innovative Technologie und neuartige Maschinen, die autonom und sicher arbeiten, entlasten nicht nur, sondern ermöglichen zudem die Integration von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen.

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Mensch-Maschine-Systeme wie das Exoskelett Robo-Mate (accelopment AG 2019) bieten eine mechanische Unterstützung für den menschlichen Körper, indem sie anstrengende körperliche Tätigkeiten wie das wiederholte Heben schwerer Lasten oder Überkopf­ arbeiten in der Montage erleichtern. Sie beugen Haltungsschäden vor und ermöglichen eine effizientere, sichere Erfüllung der Aufgaben. In der Fertigungsindustrie oder der rehabilitativen Medizin finden Exoskelette bereits Anwendung (Fraunhofer IUK-­ Technologie 2016). Gesundheitsschutz ist eng verbunden mit dem Thema Sicherheit. Auch hier kann Technik ihren Beitrag leisten. Moderne Sensortechnik ermöglicht eine enge und sichere Zusammenarbeit mit Robotern, die sofort und effektiv auf gefährliche Situationen reagieren und so Unfälle vermeiden können. Neue Kommunikationsfähigkeiten der Roboter steigern die Sicherheit zunehmend (Peissner et al. 2018, S. 41). In Zukunft werden Roboter nicht nur für die Massenproduktion großer Betriebe, sondern auch für kleine Unternehmen und weniger strukturierte Umgebungen interessant (Peissner et al. 2018, S. 40). In extremen Umgebungen wie unwegsamem Gelände, chemisch verseuchten Arealen oder kerntechnischen Anlagen sind Arbeitskräfte erheblichen Risiken ausgesetzt. (Teil-) Autonome Robotersysteme können hier Arbeiten weitgehend selbstständig durchführend, während Menschen von einem sicheren Leitstand koordinieren, überwachen und bei schwierigen Aufgaben ferngesteuert eingreifen. Hier helfen unter anderem Augmented und Virtual-Reality-Systeme (Fraunhofer IOSB o. J.; FZI o. J.) Wenngleich die Gesamtzahl der Krankschreibungen aufgrund physischer Beschwerden höher sind als aufgrund psychischer Erschöpfung, so ist laut BKK Gesundheitsreport 2015 der Anteil von psychischen Erkrankungen in den vergangenen 40 Jahren von 2 Prozent auf 15 Prozent gestiegen (Jürgens et al. 2017, S. 145). Einer Studie zufolge spüren ca. vier von fünf Arbeitnehmern (82 Prozent) die Folgen von Stress am Arbeitsplatz (Schareika 2019). Viele Erwerbstätige führen ihre Überlastung auf erhöhten Arbeitsdruck und verdichtete Abläufe zurück (Jürgens et al. 2017, S. 115). Die Beschleunigung der Arbeitsprozesse durch Automatisierung und den verstärkten Einsatz von Kommunikationsund Informationstechnologien verstärkt unter Umständen Stress und die Arbeitsbelastung noch. Dennoch bietet Technologie auch Möglichkeiten, beispielsweise Prozesse zu optimieren, von zeitintensiven Aufgaben zu entlasten und zur verbesserten Arbeitszeitgestaltung beizutragen. Dies dient auch dem Interesse des Unternehmens. Im stationären Bereich, im Krankenhaus oder in einem Pflegeheim wendet eine Pflegeperson allein 13 Prozent ihrer Arbeitszeit für die Dokumentation auf. IT ermöglicht auch hier die weitgehend automatisierte Planung, Dokumentation und Bewertung pflegerischer und rehabilitativer Leistungen. Damit kann die Arbeitsbelastung sinken und es bleibt mehr verfügbare Zeit für die wichtigen Aufgaben im direkten Patientenkontakt (Peissner et al. 2018, S. 52 f.) Der „Digital Workplace“-Studie von Adobe (2018) zufolge wünscht sich die Hälfte der darin befragten Angestellten, Anwendungen mit KI nutzen zu können. Dabei erwarten sie vor allem eine Entlastung bei wiederkehrenden Aufgaben oder der Vorbereitung von bestimmten Aufgaben. Für die digitale Bearbeitung bieten sich Aufgaben wie Zeiterfassung,

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Kalender führen, Archivierung, Formulare ausfüllen und Urlaubsverwaltung an. Zukünftig könnten Chat Bots mit KI als persönlichen Assistenten lästige Routinearbeiten sogar eigenständig erledigen und beispielsweise Termine planen oder auf Verkehrsstaus aufmerksam machen. Durch verringerte Arbeitslast bleibt mehr Zeit für beispielsweise die kreativen Arbeiten. Apps als smarte Erinnerungsstützen können auf den Terminkalender zugreifen und wissen, wann der/die Mitarbeitende einen Computer, Tablet oder Smartphone benutzt und für welche Zwecke. So können Algorithmen ermitteln, wann sie welche Aufgaben sinnvollerweise erledigen sollten. Technische Unterstützung bei der Arbeitsorganisation entlastet und reduziert Stress. Sogar eine Steigerung des Wohlbefindens ist künftig durch Assistenzsysteme denkbar, die sich auf individuelle Gewohnheiten einstellen und zur personalisierten Assistenz werden. KI-Technik kann mit Gesichts- und Spracherkennungssoftware oder Brain-­Computer-­ Interfaces beispielsweise Aufmerksamkeit, Belastung und Stimmung des menschlichen Partners erkennen. Wenn wir Energie verlieren oder im Meeting abdriften, können sie an eine Pause erinnern oder daran zu essen und zu trinken (Steelcase 2018). Auch für die Produktionsarbeit der Zukunft gelten smarte Assistenzsysteme als unersetzlich. Sie fügen sich optimal in die eigentliche Arbeitsaufgabe ein, analysieren den bisherigen Arbeitsfortschritt und leiten zum nächsten Arbeitsschritt. Nahezu alle Berufsgruppen können in Zukunft mit KI-Systemen, die menschliches Entscheiden und Handeln unterstützen, zusammenarbeiten. Sie recherchieren riesige Datenbestände, stellen relevante Informationen bereit und helfen so, in kürzester Zeit komplexe Entscheidungen zu treffen. In einer immer vielschichtigeren Arbeitswelt bietet die informationstechnische Unterstützung Orientierung für die Menschen: Sie machen komplexe Arbeitsprozesse einfacher und helfen, Fehler zu vermeiden, was sich positiv auf Arbeitsbelastung und Wohlbefinden auswirken kann (Peissner et al. 2018, S. 32 f.). Ein seit Jahren viel diskutiertes Thema ist die ständige Erreichbarkeit dank moderner Kommunikation. Erreichbarkeit ist ein zweischneidiges Schwert. Zwar ermöglicht sie flexibles Arbeiten, was im Interesse vieler Beschäftigter ist. Doch leidet mitunter die Gesundheit. Fast jeder zweite Erwerbstätige in Deutschland checkt nach Feierabend berufliche E-Mails und auch im letzten Urlaub hat jeder Dritte in die Dienst-E-Mails geschaut. Dabei wird die ständige Erreichbarkeit auch nach Feierabend von etwa jedem Dritten als „eher“ oder „sehr belastend“ empfunden (Der Tagesspiegel 2016). Mittlerweile wird das Recht auf Nichterreichbarkeit oder das Recht auf Ruhe nicht nur auf Seiten der Arbeitnehmervertretungen, sondern auch auf Seiten vor allem der großen Konzerne diskutiert (­Hoffmann 2014; Xing New Work Experience 2017). Neben dem Austausch über ver­ antwortungsvolle Kommunikation innerhalb des Unternehmens ist ein Ansatz, mit Technik die ständige Erreichbarkeit durch moderne Kommunikationsmittel wieder einzuschränken. So sorgen E-Mail-Blocker dafür, dass Mitarbeitende außerhalb der Arbeitszeiten E-Mails weder empfangen noch senden können. Auch können Abwesenheitsagenten E-Mails während des Feierabends, am Wochenende und im Urlaub löschen und eine Abwesenheitsnotiz an den Sender schicken. Daneben gibt es Abwesenheitsagenten und Filter für Telefonanrufe.

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Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist für viele Menschen wichtig ebenso wie der Wunsch, Zeit selbstbestimmter einteilen zu können. Nicht nur der Wunsch nach flexibler Arbeitszeiteinteilung wird größer, sondern auch den Arbeitsort flexibel wählen zu können. Mehr Selbstbestimmung geht oftmals mit einer höheren Zufriedenheit im Beruf einher. 39 Prozent der Arbeitnehmer∗innen, denen momentan nicht die Möglichkeit des mobilen Arbeitens offensteht, würden ein solches Angebot zumindest gelegentlich gerne nutzen (BMAS 2015). Laut einer aktuellen ZEW-Studie nimmt bei Eltern im Homeoffice die vertragliche Arbeitszeit zu (Arntz et al. 2019). Insgesamt könne Arbeiten von zu Hause aus insbesondere Müttern dabei helfen, den Anschluss an den Arbeitsmarkt zu halten. Homeoffice ist kein neues Phänomen, doch ermöglichen neue digitale Technologien, andernorts arbeitenden Teammitglieder schnell, einfach und flexibel einzubinden. Cloudlösungen beispielsweise ermöglichen, dass Teams gemeinsam an Texten arbeiten und auf Dokumente zugreifen. Durch Ende-zu-Ende-Verschlüsselung können Cloud-­Computing-­ Technologien die Sicherheit der Daten ebenso gewährleisten wie konventionelle Server. Neue Formen der mobilen Zusammenarbeit bieten auch virtuelle Whiteboards, die die Koordination der (täglichen) Aufgaben unterstützen: Ideen sammeln, Aufgaben verteilen, Fortschritt erfassen und Probleme formulieren können Mitarbeitende über das Internet von jedem Ort. Durch Videokonferenzen und virtuelle Kollaborationsräume können auch Teambesprechungen ortsunabhängig abgehalten werden. Selbst die Überwachung und Steuerung einer Produktionsanlage kann aus dem Homeoffice erfolgen. In Zeiten des digitalen Wandels ändern sich die Kompetenzanforderungen schnell und grundlegend, sodass Mitarbeitende beständig gefordert sind, dazuzulernen, um neue Aufgaben oder Technologien zu beherrschen. Die Einschätzung teilen auch die Teilnehmenden eine Fraunhofer-Studie. Insgesamt 66 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass der Weiterbildungsbedarf in ihrem Beruf im Jahr 2030 „viel höher“ oder „etwas höher“ ausfallen wird (Peissner et  al. 2018, S.  17). Gleichzeitig wird der individuelle Wunsch nach lebensbegleitenden Bildungsmaßnahmen wahrscheinlich weiter steigen. Andere Formen von flexibler, beruflicher Aus- und Weiterbildung für die Massen werden zunehmend nachgefragt, was auch das Beispiel der Massive Open Online Courses (MOOCs) zeigt. Die zunehmend eigenverantwortlich und autonom ausgeführten Tätigkeiten verändern auch die Ansprüche der Menschen an die Organisation ihrer Arbeit (Peissner et al. 2018, S. 11). Neue Lernformate und selbstgesteuertes Lernen mit digitalen Medien erscheinen als geeignete Antwort auf die Weiterbildungsanforderungen der neuen Arbeitswelten. Neben klassischem Präsenzunterricht und schriftlichen Unterlagen, Handouts oder ­Fachbüchern können Unternehmen mittlerweile auf verschiedene digitale Lernformate (­E-­Learning) für die betriebliche Weiterbildung zurückgreifen: • Computerbasierte Selbstlernprogramme und Apps, wie beispielsweise Sprachlernsoftware. • Lernvideos, die darauf ausgelegt sind, komplizierte Sachverhalte visuell und didaktisch für die Zielgruppe aufzubereiten.

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• Interaktive Formen webbasierten Lernens, in denen Lehrende und Lernende miteinander kommunizieren. Hierzu zählen Webinare oder Live Online Trainings, sprich Seminare, die live über das Internet abgehalten werden (KOFA o. J.). Die Teilnahme oder Nutzung ist nicht an einen festen Ort gebunden, setzt aber häufig einen Internetzugang voraus. Solche Medien ermöglichen zudem auch nicht-mobilen Menschen, sich neue Wege des digitalen Lernens zu erschließen und von den Weiterbildungsangeboten zu profitieren. Auch ist es viel einfacher möglich, den individuellen Weiterbildungsbedarf flexibel zu organisieren. In der praktischen Weiterbildung bieten virtuelle Realitäten (VR) ganz neue Möglichkeiten, um Aufgaben praxisnah zu vermitteln und zu üben. Mit VR-Brillen beispielsweise können sich Menschen in die virtuelle Welt begeben und dort lernen. In der Fertigungsindustrie oder in anderen Umgebungen mit Maschinen kann eine VR-Brille die Einarbeitung neuer Kollegen∗innen oder die Schulung an neuen Maschinen unterstützen. Ohne dass die Personen die Maschine gesehen haben muss, kann sie Grundlagen der Bedienung und technische Daten kennenlernen und erste Versuche unternehmen, an der Maschine zu arbeiten (Schuster 2017). Die virtuelle Lernsimulation findet beispielsweise auch Anwendung im Aufgaben- und Arbeitsumfeld der Ersten Hilfe (Deutsches Rotes Kreuz o. J.). Ein weiteres Thema der sozialen Nachhaltigkeit sind soziale Standards und Arbeitsbedingungen entlang der Lieferkette, die sich heute aufgrund der komplexen und globalen Strukturen nur schwer rückverfolgen lassen. Die Blockchain-Technologie kann dafür genutzt werden, die Lieferkette transparent und eindeutig zu dokumentieren. Generell geht es bei einer Blockchain darum, Daten oder Transaktionsinformationen zu verwalten. Eine Blockchain ist ein digitaler Datensatz und eine Transaktionsdatenbank, der/die wächst, indem sich ein digitaler Block an den anderen hängt. Ein wesentliches Hauptmerkmal ist, dass die Blockchain unveränderlich ist. Der Datensatz ist zudem strikt additiv – nichts kann rückwirkend verändert oder entfernt werden, wodurch die Technologie beispielsweise Nachprüfbarkeit und Transparenz gewährleisten kann. Im Gegensatz zu herkömmlichen Systemen handelt es sich bei der Blockchain um eine dezentral verwaltete Organisation. Insgesamt wird eine Transparenz erreicht, die keine Manipulation der Daten zulässt. Einige vielversprechende Projekte machen sich den Blockchain-Mechanismus bereits zunutze, um verantwortungsvoll gewonne Materialien und Produkte vom Ursprungsort aus entlang der gesamten Lieferkette zu verfolgen (Galán Herranz 2018a, b; Furtkamp 2017). Einen besonderen Mehrwert verspricht dieses Lieferketten-Tracking bei ­Rohstoffen, deren Herkunft oft schwierig festzustellen ist, wie Kaffee oder Fisch, und/oder die im Zusammenhang mit der Verletzung von Menschenrechten stehen, wie Konfliktrohstoffen. In der Blockchain können neben Informationen zu Herkunft und Qualität auch Informationen über die Arbeitsbedingungen hinterlegt werden. Andere Projekte verwenden die Blockchain, um Sicherheitsinformationen chemischer Gefahrenstoffe zugänglicher zu machen. Personen, die mit dem Gefahrengut arbeiten, bekommen so Zugang zu allen nötigen Sicherheitsinformationen (CircularTree 2018).

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Ausblick

Die Vielfalt der Beispiele zum Einsatz von Technologien, die nachhaltige integrierte Unternehmensführung in allen Dimensionen fördern können, zeigt vor allem zweierlei: Zum einen, welch große Potenziale in neuen Technologien stecken, die es aber bewusst einzusetzen und im Kontext des jeweiligen Unternehmens zu nutzen gilt. Zum anderen, dass die Komplexität so zwar schlussendlich handhabbarer gemacht werden kann, zuerst aber wichtige normative und strategische Entscheidungen zu treffen sind. Zur integrierten nachhaltigen Unternehmensführung gehört, den richtigen Weg für das individuelle Unternehmen zu finden und zu gestalten. Die systemischen Besonderheiten des Unternehmens müssen mitgedacht werden. Es wird nicht möglich sein, ein „one size fits all“-Konzept zu entwickeln. Nichtsdestotrotz ist der vielschichtige Ansatz der Nachhaltigkeit für alle Unternehmen gleichermaßen relevant und sie stehen klar in der Verantwortung und Pflicht, ihren eigenen Weg der Umsetzung zu finden. Dafür liefert dieser Beitrag Ansatzpunkte und Good-Practice-Beispiele.

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Technologien als Impulsgeber für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung

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Dr. Daniela Beyer  ist wissenschaftliche Referentin am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe und Lehrbeauftragte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit Innovationsforschung, Digitali­ sierung sowie der Zukunft von Forschung und Lehre. Nach einem quantitativen Politikwissenschaftsstudium in Mannheim und interdisziplinären Master am SAIS Bologna Center der Johns Hopkins University arbeitete Daniela Beyer als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz und promovierte parallel an der Graduate School of Decision Sciences. Der Fokus lag dabei auf Entscheidungsfindungs- und Agenda-Setzungsprozessen. Dr. Annette Braun  begleitet das Thema Nachhaltigkeit seit ihrem Studium der Forstwissenschaften an der Universität Freiburg – wo sie 1999 auch promovierte. Als Leiterin der Servicegruppe „Neue Technologien und Patente“ am Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM beschäftigte sie unter anderem das Marktpotenzial von Umwelttechnologien. Die Abteilungsleitung für „International Business Development“ in der Zentrale der Fraunhofer-Gesellschaft in München erweiterte das Spektrum dann um die internationale Per­ spektive. 2010 wechselte sie als Referentin für Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Nach einigen Jahren der Projektleitung beim Fraunhofer-­Institut für System- und Innovationsforschung ISI zu Industrie- und Technologiethemen ist Dr. Annette Braun heute im wissenschaftlichen Stab der Institutsleiterin tätig.

176

D. Beyer et al. Dr. Meike Schiek  ist als wissenschaftliche Referentin am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen auf den Themen Innovation, Zukunft der Arbeit, Digitalisierung und Nachhaltigkeit sowie Mobilität. Meike Schiek promovierte zum Thema Corporate Regional Responsibility am Geographischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Dort war sie von 2009 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin, zuletzt in der Arbeitsgruppe Stadt- und Regionalökonomie. Danach leitete sie die Geschäftsstelle der Gesellschaftsinitiative Zukunft durch Industrie e.V. in Düsseldorf. Univ.-Prof. Dr. Marion Weissenberger-Eibl  leitet das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe und ist ­Inhaberin des Lehrstuhls für Innovations- und TechnologieManagement am Institut für Entrepreneurship, Technologie-Management und Innovation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Sie arbeitet zu Entstehungsbedingungen von Innovationen und deren Auswirkungen. Schwerpunkte ihrer Forschung bilden dabei das Management von Innovationen und Technologien, Roadmapping, die strategische Vorausschau und -Planung, Unternehmensnetzwerke sowie Wissensmanagement. Die studierte Bekleidungstechnikerin sowie Betriebswirtschaftlerin promovierte und habilitierte sich an der Technischen Universität München. In Wirtschaft und Politik ist sie eine geschätzte Expertin in den Fokusthemen Digitalisierung, Innovation und Zukunftsforschung.

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate Governance Stefan Vieweg

1

Beschleunigung durch Digitalisierung

1.1

Anforderungen an die zukunftsfähige Corporate Governance

Zwischenzeitlich findet das vielbemühte Wort „Digitalisierung“ dermaßen inflationär verwendet, dass so mancher es nicht mehr hören kann. Allein in der letzten Dekade hat sich die deutschsprachige wissenschaftliche Literatur dazu mehr als versiebenfacht, wie der Abb. 1 entnommen werden kann. Dabei wird so manches unter diesem Sammelbegriff subsummiert. Letztendlich spielt die nahezu allgegenwärtige Verfügbarkeit von Informationen die entscheidende Rolle, um Wertschöpfung im Sinne unternehmerischen Handelns durch Automation zu beschleunigen. Sie legen damit auch die Grundlage für neue Angebote, die nur durch die schnelle Verfügbarkeit der Informationen möglich sind. Hierzu sei auf die vielfältigen Plattformen im Web verwiesen, bei denen in Maklerfunktionen Angebot und Nachfrage zusammengeführt werden. Es ist unbenommen, dass diese aus kurzfristiger Perspektive sicherlich nutzenstiftend für alle Beteiligte sein können: erstens, dem ein vermeidlich attraktives Angebot findenden Konsumenten; zweitens, dem seine Reichweite deutlich erhöhenden Produzenten und – nicht zu vergessen – drittens, dem an der Transaktion partizipierenden Plattformanbieter. Allerdings werden dabei gesellschaftliche Langzeitfolgen zumeist ignoriert, so dass die Politik sich gezwungen sieht, wenn das gesellschaftliche Gefüge allzu arg beansprucht scheint. Man denke beispielsweise an Kurzzeitvermietungen von Wohnraum in Ballungszentren, die die Knappheit an bezahlbarem Wohnraum massiv verschärft oder das Verbot privater Fahrdienste, da sie das Gefüge der hiesigen Taxibranche störe. S. Vieweg (*) Rheinische Fachhochschule Köln gGmbH, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_10

177

178

S. Vieweg

Abb. 1 Wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema Digitalisierung, eigene Untersuchung im EBSCO Discovery Service unter Stichwort „Digitalisierung“, eigene Darstellung

+767%

+458%

90.816

+333% 2.421

10.475

1990 bis 1999

2000 bis 2009

16.277 2010 bis 2014

2015 bis 2020

Durch die Digitalisierung werden zunehmend gesellschaftliche Strukturen in Frage gestellt und neu definiert – aufzuhalten ist der Trend jedoch nicht. Vor diesem Hintergrund schnellen Wandels, der mit dem „Buzzword VUCA“ (V-­ Volatility, U-Uncertainty, C-Complexity, A-Ambiguity) gerne umschrieben wird, braucht es für ein nachhaltiges Wirtschaften andere Herangehensweisen und Qualitäten. Ignorieren dieser Dynamik führt nicht selten zum Zusammenbruch oder zumindest zur essenziellen Schräglage von einstigen Unternehmensikonen ihrer jeweiligen Branche. Es sei an Beispiele der jüngeren Vergangenheit erinnert, welche die Chancen der Digitalisierung nicht rechtzeitig für sich haben nutzen können (in alphabetischer Reihung): CocaCola, Commerzbank (Abstieg aus DAX 30), Kodak (Insolvenz), McDonalds, Media Markt / Saturn (mittlerweile Teil der Ceconomy AG), Loewe (Insolvenz 2019), Thomas Cook (Insolvenz 2019), Voswinkel (Sportartikel, Insolvenz 2019) … Die Gründe hierfür liegen(Vieweg 2018a) in • Nicht rechtzeitiges Erkennen von veränderten Kundenpräferenzen und Megatrends wie bspw. –– verändertes Kommunikationsverhalten (besonders befördert durch jüngere, vermeidlich digitalisierungsaffine Generationen), –– veränderte Ernährungspräferenzen (bspw. weniger Zucker, vegan, „Bio“-Lebensmittel) –– verändertes Umweltbewusstsein • Zu späte Nutzung neuer Chancen und damit kein „First Mover Advantage“ • Konvergenzen wie privater Konsument und Geschäftskunde, Kunde und Erzeuger („Prosumer“) • Technologische Substitute

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate …

179

-3% -32% -25%

100 100 100

100 98 98 90

95 95

88 89

97

96

95 81

76

75 68

2013

2014

Mc Donalds Basis 2013: $28 Mrd

2015

2016

Coca-Cola Basis 2013: $47 Mrd

2017

2018

PepsiCo Basis 2013: $ 66 Mrd

Abb. 2  Weltweite Umsatzentwicklung [%], eigene Darstellung. (Quelle: Coca-Cola Company, PepsiCo 2019; McDonald’s 2019)

Es zeigt sich, dass der unternehmerische Darwinismus sich zu bewahrheiten scheint, wenn nicht „Big is beautiful“ sondern „Speed is beautiful“ gilt. Dies sieht man bspw. in Abb. 2 an der Umsatzentwicklung von Unternehmensikonen McDonalds und CocaCola, die offensichtlich mit den o.g. Veränderungen hadern. Interessanterweise gibt es andere Unternehmen wie PepsiCo, die durch rechtzeitige Diversifizierung bisher den Abwärtstrend leidlich kompensieren konnten. Damit ergibt sich in der digitalen und beschleunigten Welt die Situation, dass die bekannten fünf Kräfte (Porter 2008) sich neu verteilen: Zunehmende Dynamik und Komplexität („Dynexity“) führt zur Kräfteverschiebung, es reicht nicht mehr aus, sich nur auf den eigenen Wettbewerb zu konzentrieren, sondern vielmehr erfolgsentscheidend ist, frühzeitig die neue Kräfte zu erkennen (Abb. 3).

1.2

 rweiterung der „strategischen Lücke“ durch E die Digitalisierung

Das frühzeitige Erkennen von Veränderungen und Entscheidungen rechtzeitig zu treffen und exzellent umzusetzen sind für den nachhaltigen Unternehmenserfolg entscheidend. Hier zeigt sich die große Herausforderung der „strategischen Lücke“: diese wird in der Digitalisierung durch die damit einhergehende Beschleunigung signifikant vergrößert gegenüber der pre-digitalen Welt, s. Abb. 4 Durch die Schnelllebigkeit werden Entscheidungen auch schneller notwendig, da sonst Opportunitäten nicht rechtzeitig erkannt und Risiken unterschätzt werden. Entsprechend

180

S. Vieweg Applied in the digital world

Good old Porter 5 Forces …

Suppliers

Own Industry Substitutes

New Entrants

Dynamic

New Entrants

Own Indu -stry

Suppliers

Custome rs

Substitu-tes

Custo mers

New Entrants

Suppliers

Own Industry

Custo mers

Substitutes

VUCA – Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity

Complexity

Abb. 3  Verschiebung von Porters „Five Forces“ (Porter 2008) in der Digitalisierung, eigene Darstellung

Decision Dimensions

verengt sich der Entscheidungsspielraum auf einen kürzeren Zeitraum. Diese Lücke kann dadurch eingedämmt werden, dass die Wahrnehmungsschwelle gesenkt wird. Dazu müssen die Potenziale in einer Organisation gezielt angesprochen und konsequent genutzt werden. Zur Verdeutlichung kann das anhand des einfachen Models der Organisationskulturen nach Trompenaars (Trompenaars und Woolliam 2002) verdeutlicht werden, siehe auch Abb. 5.

Pressure To Decide Decision Making Leeway Analog Age Recognition Threshold Decision Making Leeway Digital Age

Strategic Gap Analog Age Strategic Gap Digital Age Recognition Threshold

Increased strategic gap

Time Abb. 4  Strategische Lücke in der Digitalisierung weitet sich

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate …

181

Egalitarian/ Decentral

Guided Missile project-oriented

Incubator idea-oriented Target Culture ?

Person / Informal Stype

Family power-oriented

Task / Formal Stype

Eiffel Tower structure-oriented

Hierarchical Central

Abb. 5  Model der Organisationskulturen, eigene Darstellung nach Trompenaars (Trompenaars und Woolliam 2002)

In zentral geführten Organisationen mit traditionell hierarchischen Strukturen oder einer finalen Entscheidungsinstanz sind die mehrschichtigen Entscheidungsstrukturen schlichtweg zu langsam (Family – „Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing!“ bzw. Eiffel Tower – „Dienstweg einhalten!“). Andererseits ist aber auch eine ad hoc agierende Organisation (Incubator – „Genial aber arm!“) ähnlich wenig nachhaltig wie eine rücksichtslos auf einzelne Bereichsergebnisse fokussierte Organisation (Guided Missile  – „Koste es, was es wolle!“) geeignet, kontinuierlich und langfristig orientiert die Chancen der Digitalisierung im Sinne der „Triple Bottom Line“ der CSR (Corporate Social Responsibility) (Vieweg 2018a) in nachhaltigen Unternehmenserfolg umzusetzen. Damit ist nicht nur der ökonomische, sondern auch der ökologische und soziale Erfolg zu berücksichtigen. Dabei sind alle drei Komponenten eng, aber nicht unbedingt in gleicher Wirkrichtung miteinander verknüpft: So stellt z. B. in der Automobilindustrie das langjährige Herauszögern der Einführung alternativer Antriebe (z. B. Elektro, Brennstoffzelle) eine kurzfristig ökonomisch und sozial nachvollziehbare Entscheidung dar (Ausnutzung bisheriger Investitionen ohne Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt) – allerdings unter Hinnahme hoher Schadstoffund Klimabelastungen. Mittel- bis langfristig ist diese Entscheidung extrem kontraproduktiv: Offensichtlich war die Wahrnehmungsschwelle zu hoch, so dass nunmehr mit ­erheblichem Anstrengungen die langjährige Ignoranz in kürzester Zeit durch Restrukturierung des gesamten Automotive-Industrie hierzulande auszugleichen versucht wird – diese

182

S. Vieweg

Beispiele Automotive

Wirkungshorizont Festhalten an problematischer Verbrennungstechnologie

Ernährung

Verweigerung eines Kennzeichnungssystems für Lebensmittel FinanzFesthalten am bestehenden dienstleistungen Geschäftsmodell

Anbieter-/Herstellerperspektive Ökonomisch Ökologisch Sozial kurzfristig langfristig kurzfristig langfristig kurzfristig langfristig





































Abb. 6  Kurz- und langfristige Effekte am Festhalten alter Geschäftsmodelle/Gewohnheiten

geht mit erheblichen Verwerfungen im ökonomischen (Investitionen, Wertschöpfungstiefe) und sozialen (massiver Arbeitsplatzabbau, Neuaufbau in voraussichtlich geringerem Maße) einher. In dieser Logik reihen sich zahllose andere Beispiele ein, wie in Abb.  6 ersichtlich: dabei wird deutlich, dass ein kurzfristiger Fokus aus ökonomischer und sozialer Überlegung die ökologische Dimension zumeist komplett ausblendet.

1.3

Moralischer Kompass

Ethisch korrektes, nachhaltig unternehmerisches Handeln wird zudem erschwert, da durch die Digitalisierung der Wettbewerbsdruck verschärft und legitim-legal kongruentes Verhalten zunehmend erschwert wird: so ist nicht verwunderlich, dass zur Ausnutzung von Wettbewerbsvorteilen oder zumindest zum Halten der eigenen Marktposition allgemein zugängliche Ressourcen stärker denn je strapaziert werden. „The Tragedy of Commons“ (Hardin 1968) ist auch 50 Jahre später aktueller denn je, wenn bspw. mit kurzfristiger ökonomischer Optimierung billigend erhöhter CO2-Ausstoss in Kauf genommen wird. Zudem zeigt sich ein weiteres Phänomen, welches in einer zunehmend „ent-­ sozialisierten“ Welt des Digitalen zu berücksichtigen gilt (also eine abnehmende Verbindlichkeit der Menschen gegenüber, Wertschätzung): Technologie kann leicht zu Entfremdung führen, der eigene „moralische Kompass“ wird abgelenkt (Ariely 2012) und nicht-rationale Entscheidungen sind die Folge, da die persönliche Betroffenheit fehlt. Es ist naheliegend, dass der durch die Digitalisierung erhöhte Wettbewerbsdruck sich verstärkend auf dieses Phänomen auswirkt. Umfangreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass insbesondere die Vielzahl der kleinen Vergehen gesamtwirtschaftlich gesehen einen deutlich größeren Schaden verursachen als die wenigen schwerwiegenden Vergehen, s. Abb. 7.

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate …

1.4

183

Compliance

Die Vermutung liegt nahe, dass im Zeitalter der Digitalisierung und Omnipräsenz der vielzitierten „Big Data“ Transparenz gegeben und Verfehlungen ausgeschlossen sind. Es zeigt sich jedoch, dass genau das nicht der Fall ist und Organisationen jeglicher Größenordnung und Struktur davon betroffen sind. So ist in dem vom Institut für Compliance und Corporate Governance jährlich herausgegebenen „Compliance on Board Index“ (Vieweg 2018b) sehr deutlich, dass auch die großen DAX-Unternehmen in Deutschland erheblichen Nachholbedarf in Sachen Transparenz haben  – insbesondere bei der Verankerung einer Compliance-­Kultur, siehe Abb. 8. Während es den meisten Unternehmen gelingt – wenn auch auf ausbaufähig niedrigem Niveau  – entsprechende Strukturen aufzubauen

Häufigkeit Gesamtschaden

Ca. 5%-20% des Fraud-Potenzials wird bei psychologischer Nähe ausgeschöpft Ariely D. (2012: The honest truth about Dishonesty)

Fraud-Verlust 5% p.a.  pot. Global Fraud Verlust

> $3.5 Billionen p.a.

(Association of Certified Fraud Examiners, 2012)

Individuelle Schadenshöhe

Bewusstsein über inkorrektes Verhalten

Abb. 7  „Kleinvieh macht auch Mist“ – Gesamtwirtschaftlicher Schaden in Abhängigkeit vom Unrechtsbewußtsein („Fudge Factor“ Schummelfaktor nach (Ariely 2012)) Abb. 8  Compliance on Board Index – Beispiel – Nachholbedarf insbesondere in Bezug auf die Unternehmenskultur

184

S. Vieweg

Compliance RADAR

Steuerhinterziehung

Marktmanipulation

Bestechung 25% 20%

Betrug

15% 10%

Datenmissbrauch

5% 0%

Geldwäsche

Korruption

Kartellverstoss

Insiderhandel

ICC©, Vieweg 2019

Abb. 9  Compliance-RADAR: Häufigkeit der in der Wirtschaftspresse diskutierten Verstöße (Zeitraum 01/2018-09/2019, kein Anspruch auf Vollständigkeit, keine Vorverurteilung). (Quelle: Eigene Darstellung)

(­ „Strukturierungsgrad“), die die Regelkonformität befördern, so ist es um die tatsächlich geübte Praxis („Operationalisierungsgrad“) deutlich schlechter bestellt. Insofern verwundert es auch kaum, wenn wiederholt Verfehlungen in der Wirtschaftspresse diskutiert werden. Der „Compliance-Radar“ Abb. 9 zeigt eine Zusammenfassung der wesentlichen Vorhaltungen mit Betrug, Korruption und Steuerhinterziehung als den drei am häufigsten genannten Vergehen (keine Mehrfachnennungen, so dass bspw. ein wesentlicher und sich über einen längeren Zeitraum ziehender Geldwäscheskandal hier nur einmal aufgeführt ist).

1.5

Candorship

Anderseits zeigt sich, dass (zumindest ein statistischer) Zusammenhang zu bestehen scheint zwischen Transparenz, Offenheit und Authentizität und nachhaltigem (­ökonomischem) Unternehmenserfolg: Hierzu sei auf den „Candorship“-Ansatz verwiesen (Vieweg 2018d):

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate …

Share Price Development CAGR% (2010-2015) 22,5

-67%

-40%

185

Share Price Development CAGR% (2015-2017) 24,1

-57%

-30%

15,0

12,5 10,5

7,5

Top Quartile

Bottom Quartile

S&P 500

Candorship Source: primary data based on Ritthouse Rankings: Introduction to Candor Analytics, Feb 2016

Top Quartile

Bottom Quartile

DAX 30

Compliance on Board Index Veränderung © Vieweg, ICC, 2018

Korrelation vs. Kausalität Abb. 10  Candorship – Unternehmensperformance (Aktienkurs) in Abhängigkeit geübten Candorships (Vieweg 2018d)

Der aus dem Lateinischen (candele) abgeleitete Begriff steht für „erhellen“. Im hier relevanten Kontext nachhaltiger Unternehmensführung ist also das Erhellen unternehmerischer Aktivitäten und deren Ergebnisse gemeint. Durch geübte Candorship-Praxis erhalten die Stakeholder von dem Unternehmen aussagekräftige, relevante und authentische Informationen. Diese Transparenz fördert das Vertrauen und wirkt sich – so die ersten empirischen Untersuchungsergebnisse – positiv auf den Unternehmenserfolg aus. Allerdings ist sorgfältig zwischen guter Intention und oberflächlicher, vollmundiger Veröffentlichungen zu differenzieren, um nicht gar kontraproduktiv Vertrauen zu zerstören. Abb. 10 stellt im Vergleich für US-amerikanische Unternehmen (links) dar, die durch geübte Transparenz eine überdurchschnittliche Entwicklung des Aktienkurses zeigen. Sehr ähnlich ist auch die Situation bei den deutschen DAX 30-Unternehmen, bei denen der Indexierung im Compliance on Board Index (CoBI) als Candorship-Maß herangezogen wurde(Vieweg 2018d). In beiden Untersuchungen zeigt sich eine deutliche Abgrenzung zwischen dem jeweiligen Top und Bottom Quartil. (Es sein nochmals auf den statistischen Charakter der Untersuchungen hingewiesen, so dass hier Korrelationen gezeigt werden, Kausalitäten allerdings auch komplexerer Natur sein können.) Festzuhalten bleibt also: Die Digitalisierung stellt enorme Herausforderung für eine zukunftsfähige, nachhaltige Corporate Governance dar. Also gilt es, im Rahmen einer nachhaltigen Unternehmensführung die Bemühungen zu intensivieren, um 1. die Wahrnehmungsschwelle der Handlungsnotwendigkeit zu senken, um die strategische Lücke (siehe Abb. 4) zu minimieren und damit in der beschleunigten digitalen Zeit nachhaltige Entscheidungen treffen zu können;

186

S. Vieweg

2. einer Entfremdung durch die Digitalisierung konsequent gegenzusteuern, um Ablenkung des „moralischen Kompasses“ zu vermeiden, Sicherstellung legitim und legal kongruenten Handelns und damit im CSR-Sinne rationale und nachhaltige Entscheidungen zu ermöglichen. Beide Forderungen können mit einer zielgerichteten Organisationsgestaltung begünstigt werden. Diese muss die Vorteile der jeweiligen Organisationskulturen (s. Abb. 5) so miteinander vereinen, dass ihre jeweiligen Nachteile kompensiert werden. Hierbei empfiehlt sich, bei der Implementierung auf die bekannten „Best Practices“ der systemischen Organisationsentwicklung zurückzugreifen (Vieweg 2018c): Dreh- und Angelpunkt ist die Entwicklung eines gemeinsamen „Existenzgrundes“ der Organisation, der für alle Beteiligten sinnstiftend und zu erreichen erfüllend ist. (Nur) so kann die Grundlage gelegt werden für ein zeitgemäßes Führungskonzept der operativen Dezentralisierung, lokale Verantwortungsübernahme dort, wo Entscheidungen ihre unmittelbare Auswirkung entfalten, bei gleichzeitiger Orchestrierung einer strategisch abgestimmten Ausrichtung der Gesamtorganisation unter Gesichtspunkten von Kooperation und Wertschätzung. Entsprechend sollte der Führungsschwerpunkt  – passend zur Digitalisierung  – in folgender Reihung „IOT“ erfolgen (Vieweg 2018c): I – Individuen (Human) VOR O– Organisation VOR T – Technologien.

2

 achhaltige Digitalisierung durch Leadership in einer N lean-agilen Organisation

Wie kann nachhaltige Unternehmensführung im Sinne guter Corporate Governance verankert werden und der Forderung nach Verringerung der strategischen Lücke, Wertorientierung und „Candorship“ nachgegangen werden, die die Vorzüge gut abgestimmter Organisationskulturen miteinander vereint? Ein vielversprechender Ansatz ist die lean-agile Organisationsausrichtung, auf die später noch ausführlicher eingegangen wird (siehe Abschn.  2.2). Jedoch soll zunächst die Verbindung zwischen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Agilität kurz reflektiert werden.

2.1

Nachhaltige Digitalisierung und Agilität

Vielfach wird Agilität mit Schnelligkeit gleichgesetzt. Doch auch wenn eine agile Organisation schneller inkrementellen Mehrwert für ihre Stakeholder durch agile Vorgehensweise liefert, so ist dies nur ein Aspekt. Es gibt eine Vielzahl weiterer Gründe für die Einführung von agilen Methoden, wie in Abb. 11 gezeigt.

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate …

187

69

Accelerate product delivery

61

Enhance ability to manage changing priorities

53

Increase productivity Improve project visibility

43

Business Needs

Enhance software quality

43

Efficiency

42

Improve business/IT alignment

37

Reduce project risk

31

Improve team morale

Better manage distributed teams

QA

30

Enhance delivery predictability Improve engineering discipline

Leadership

21 20

Reduce project cost

18

Increase software maintainability

18

Quelle: 11th State of Agile™ Report, Versionone 2017, S. 8 :https://explore.versionone.com/state-of-agile/versionone11th-annual-state-of-agile-report-2

Abb. 11  Gründe für die Einführung agiler Methoden – eigene Darstellung nach (http://stateofagile. versionone.com/?utm_campaign=soa&utm_source=pressrelease&utm_medium=social)

Dies sind genau die bereits zuvor erläuterten, veränderten Erwartungen, die in der durch die Digitalisierung beschleunigten Welt anzutreffen sind. Neben der Notwendigkeit nach kürzeren Lieferzeiten und Anpassung an Prioritätenänderungen sind es auch Gründe der Effizienzsteigerung, verbesserter Qualität und angepasster Führung. Es bedarf folglich „Leadership statt Management“. Insbesondere das Greenleaf’s Konzept des „Servant Leadership“ (Greenleaf 1991), also die „dienende Führung“, ist hier herauszustellen. Ein Servant Leader unterstützt die Geführten (Mitarbeiter), einen nachhaltigen Mehrwert in der kürzesten Zeit zu liefern. Dies gelingt durch ambitionierte aber realistische Herausforderungen („Challenging“) und gleichzeitigem Coaching.

2.2

Servant Leadership in der lean-agilen Organisation

Eine Lean-Agile Organisation zeigt die wesentlichen Elemente Transparenz, Offenheit und Fehlerkultur. Diese sind erfolgsentscheidend für Schnelligkeit, Nachhaltigkeit und Candorship (Vieweg 2018d). Gründe hierfür liegen in den grundlegenden Werten Abgestimmtheit, „built-in Quality“, Umsetzung, und Transparenz ­(www.scaledagileframework. com) von selbstorganisierten, dezentralen operativen Teams, die synchronisiert und zusammen mit den Entscheidungsträgern ihre Schwerpunkte planen und reviewen. Das Ergebnis ist im Sinne der Gesamtorganisation auf die Strategie abgestimmt (bzw. unterzieht diese bereits einen Realitätscheck), Transparenz zeigt Probleme frühzeitig auf und die kontinuierliche Re-Priorisierung liefert die beste Voraussetzung dafür, dass notwendige Programmanpassungen an verändernde Anforderungen zum Beispiel der Kunden schnell erkannt und umgesetzt werden.

188

S. Vieweg

Dabei wird die Organisation in erster Linie im Sinne einer Produktionsstraße den Schwerpunkt auf einen ungestörten Ablauf („Flow“) fokussieren, der wiederum nur mit den schon erwähnten Grundwerten der „built-in Quality“ und Transparenz überhaupt erst möglich wird. So wird mit dem primären Kriterium „Flow“ die kontinuierliche Produktion von Mehrwert (sowohl in Form von Produkten, Services oder Innovationen) hervorgehoben: Typische Verzögerungen von Start-Stopp-Situationen werden dadurch gezielt vermieden. Diese sind im klassischen Projektmanagement üblich und führen z. B. bei hierarchisch geprägten „Eiffel Tower“-Organisationen nicht selten zu Wartezeitenanteile um die 90 %. Dieser „Flow“ kann wiederum am besten dann sichergestellt werden, wenn die Prozesse schlank („lean“) gehalten sind und damit geringes Unterbrechungsrisiko darstellen. Einher geht Transparenz zum Beispiel durch ein Kanban-System, welches den Fortschritt und potenzielle kritische Prozessschritte für alle Beteiligten sichtbar macht. Durch selbstorganisierte, dezentrale Teams kann die operative Umsetzung mit dem „Pull-Prinzip“ optimiert werden, da potenzielle Störungen im Prozessablauf (siehe Flow-Prinzip) vermieden bzw. korrigiert werden, wenn dezentral und eigenverantwortlich vor Ort unmittelbar Entscheidungen gefällt und Anpassungen durchgeführt werden. Die Kombination agiler Methodiken mit Lean Management ermöglicht es Unternehmen, einen kontinuierlichen Output zu generieren, basierend auf dezentralen Entscheidungen eigenverantwortlicher, kleiner Teams, die von Führungskräften im Sinne „Servant Leadership“ zielführend unterstützt werden. Dieses Vorgehen bietet mehrere entscheidende Vorteile(Vieweg 2018d) 1. Bessere Motivation durch gemeinsamen Existenzgrund, Sinnhaftigkeit und Empowerment 2. Schnellere Lieferung („Time to Market“) 3. Bessere Qualität durch Verantwortung im Team 4. Frühe Adressierung tatsächlicher Probleme, und damit „Kalibrierung des moralischen Kompasses“ 5. Minimaler Overhead Voraussetzung für den Erfolg ist, dass Führungskräfte sich ganz im Sinne des Servant Leadership – der „dienende Führung“ – als Unterstützer Ihrer Teams verstehen. Dazu bedarf es sowohl der entsprechenden Einstellung als auch kongruenten Handelns, welches auf Respekt und Wertschätzung den Teams gegenüber und ihren nachhaltigen, un­ ternehmerischen Erfolgen abzielt. Insbesondere sind Vertrauen in die Teams, ihr Empowerment und Unterstützung im Sinne von Challenging und Coaching wesentlich. Konkret bedeutet dies für die Führungskräfte, sich deutlich von anderen Managementpraktiken wie bspw. das „Management by Objectives“ (welches sich in der Trompenaar’schen Organisationskultur der „Guided Missile“, s. Abb. 5 wiederfindet) abzuheben(Vieweg 2018d): 1. Mitarbeiter bei der Identifikation der tatsächlichen Probleme zu leiten und bei Entscheidungen zu unterstützen (diese aber nicht als Führungskraft selbst treffen), 2. ein Umfeld gegenseitiger Wertschätzung und Einflussnahme schaffen,

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate …

189

. ehrliches Verständnis und Empathie zeigen, 3 4. zur persönlichen Weiterentwicklung der Teams und ihrer Mitglieder ermutigen, 5. durch Authentizität und Argumente überzeugen, 6. eine systemische Sichtweise anwenden, das Ganze sehen, sich nicht im Tagesgeschäft verlieren 7. die Entscheidungen der Teams akzeptieren und unterstützen 8. die Zusammenarbeit zwischen Teams und anderen Stakeholdern fördern 9. eine unermüdliche Verbesserung fördern und fordern Somit ist ein erfolgreicher lean-agiler Ansatz ganzheitlich und durchdacht zu sehen und zu implementieren. Größere Organisationseinheiten, die die typische Größe eines agilen Teams überschreiten (typischerweise max. 11 Personen) ist eine gezielte Koordination der Gruppen essenziell. Allzu schnell laufen die Teams parallel ohne Abstimmung – sowohl inhaltlich (was wird geliefert, welche Abhängigkeiten gibt es?) als auch asynchron. Letzteres ist wiederum ein großes Hindernis bzgl. des zuvor erläuterten Grundprinzips „Flow“.

3

Lean-agiler Ansatz nach der SAFe®

Das Scaled Agile Framework (SAFe®) (www.scaledagileframework.com) ist mit deutlichem Abstand die weltweit führende Methode zur Skalierung von agilen und schlanken („lean“) Management-Praktiken (siehe Abb.  12) und es wurden weltweit über 450.000 SAFe®-Zertifizierungen in 110 Ländern vergeben (www.scaledagileframework.com). SAFe® ist eine frei verfügbar Wissensbasis und bietet einen erprobten, ganzheitlichen Rahmen für die agile Unternehmensausrichtung. Ursprünglich aus der Softwareentwicklung hervorgegangen wird die Methode jedoch auch darüber hinaus eingesetzt, wenngleich die Initiatoren aufgrund der großen Herausforderungen, die die Digitalisierung für die Softwareentwicklung und -betrieb mit sich bringt, den Software-Fokus vorerst unverändert sehen (Vieweg 2018d). SAFe® wird von der Scaled Agile Inc. (die sich sämtliche 13%

49%

0% 3% 2% 0% 6% 13% 6% 1% 0% 7% 2015

17% 34%

37%

37%

33%

24%

20%

44%

10% 0% 4% 2% 6% 6% 6% 1% 0% 6% 2016

1% 16% 0% 0% 4% 1% 5% 5% 0% 1% 2017

13% 0% 6% 1% 6% 0% 4% 4% 0% 4%

2018

10% 9% 6% 4% 4% 1% 4% 2% 4% 0%

Scaled Agile Framework ® (SAFe®) Scrum of Scrums Internally Created Methods Disciplined Agile Delivery (DAD) Spotify Model Large Scale Scrum (LESS) Enterprise Scrum Lean Management Agile Portfolio Management (APM) Nexus Recipies for Agile Governance in the Enterprise (RAGE) Enterprise Agile Quelle: Own analysis based on „State of Agile“ Reports [19]

2019

Abb. 12  Marktanteil skalierender agiler Methoden, eigene Analyse basierend auf „State of Agile Reports“

190

S. Vieweg

Schutzrechte vorbehält) als freies Rahmenwerk mit einem Umfang von mehreren Hundert Websites verfügbar gemacht. De facto basiert SAFe® auf einer Zusammenstellung sowohl anerkannter Management-­ Ansätze als auch von lean-agilen Best Practices und stützt sich damit auf bewährte Methoden wie Scrum, XP, Behaviour Driven Development, Test Driven Development oder Kanban. Jedoch geht SAFe® deutlich darüber hinaus, da der Ansatz die Koordination und Abstimmung in größeren Einheiten mit einer Vielzahl einzelner agiler Teams beinhaltet. Ausgangspunkt ist die Entwicklung eines big pictures für den Wertefluss vom Auftraggeber über Produktmanagement, Produktentwicklung bis hin zum „Kunden“, und dabei werden die Elemente der Governance und Skalierung in einem lean-agilen Ansatz ebenso berücksichtigt. Das Framework wird seit seiner Erstauflage 2011 kontinuierlich weiterentwickelt und der Inhalt in zielgerichteten Zertifikatslehrgängen vermittelt. Nach Aussagen von ScaledAgile (www.scaledagileframework.com) wenden zum Zeitpunkt der Drucklegung (2020) 70 % der Fortune 100 Unternehmen SAFe® an. Dabei wurden erhebliche Verbesserungen in der nachhaltigen Unternehmensperformance erzielt: • • • •

20–50 % verbesserte Produktivität 25–75 % Qualitätsverbesserung 30–75 % schnellere Markteinführung 10–50 % verbessertes Mitarbeiter-Engagement und -Zufriedenheit

Das SAFe® Framework nach Abb. 13 ist in vier Konfigurationen aufgebaut, um unterschiedlicher Komplexität und notwendigen Skalierungen gerecht zu werden. Nachfolgende Elemente sind wesentliche Grundlage (www.scaledagileframework.com) • Core Values: Transparency, Alignment, Build-in Quality, Program Execution. Sie bestimmen die generelle Ausrichtung • Lean-agile Mindset („House of Lean“): auf dem Fundament Lean-agile Leadership (Servant Leadership) wird auf Respekt, Flow, Innovation und „unnachgiebige“ Verbesserung fokussiert, um als oberstes Ziel Wertschöpfung in kürzest vertretbarer Zeit zu erreichen • Lean-agile Principles: derzeit neun Prinzipien, die i.W. auf eine ganzheitlich ökonomische Betrachtung, schlanken, transparenten und synchronisierten Prozessen mit schnellen Feedbacks auf realisierten Ergebnissen, sowie Erschließen intrinsischer Motivation und dezentraler Entscheidung abzielen • Lean Enterprise Competencies: sieben holistische Kernkompetenzen der Lean-agile Leadership, Team and Technical Agility, Agile Product Delivery, Enterprise Solution Delivery, Lean Portfolio Management, Organizational Agility sowie Continuous Learning Culture.

191

Abb. 13  SAFe® for Lean Enterprises

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate …

192

S. Vieweg

Zentraler Dreh- und Angelpunkt bei SAFe® ist das gemeinsame PI-Planning (Program Increment), bei dem alle agilen Teams einer größeren Einheit (sogenannten ART – Agile Release Trains mit max. 125 Mitgliedern) alle 10 Wochen abgestimmt Produktinkremente für das kommende Quartal verbindlich planen und Abhängigkeiten klären. Ggf. wird diese Planung über Synchronisationspunkte mit anderen ARTs in einer sogenannten Solution zusammengefasst. ARTs. SAFe® jetzt auf die langfristige Ausrichtung der Organisation auf sogenannte Value Streams mit Ressourcen ausgestattet werden, deren einzelne Zuordnung auf bestimmt Produkte/Aktivitäten schnell und dezentral bedarfsgerecht erfolgen kann. Die Implementierung von SAFe® ist in der Praxis sehr individuell, nicht alle Elemente, die im Framework vorgesehen werden, sind in der Praxis überall umgesetzt. Ebenso wird dem Pragmatismus durchaus Rechnung getragen: Bspw. dadurch, dass die Events „PI-Planning“, die eigentlich zur Förderung des direkten Dialogs als Präsenttreffen an ­einem Ort vorgesehen sind, ggf. als Live-Session über mehrere Hubs abgebildet werden. Hierdurch können die Logistikkosten (Reise, Räume etc.) besser gemanagt werden. SAFe® sieht unter Berücksichtigung bewährter Change-Methoden (siehe Kotter und Cohen 2002) die lean-agile Transformation als Evolution vor. Entsprechend ist zunächst ein dringender Bedarf zur Veränderung („burning platform“) zu identifizieren, Mitstreiter für den Veränderungsprozess zu gewinnen, zielgerichtet an einem Bereich zu starten („Quick Wins“), einen „Pull“-Effekt auf- und auszubauen und schließlich die neuen Handlungsweisen aufrecht zu halten. Erst dann wird sich allmählich der Kulturwandel zu Transparenz, ganzheitlicher Verantwortung bei dezentralen Entscheidungen unter von Servant Leadership einstellen. Dieses sind die besten Voraussetzungen für Candorship.

4

Herausforderungen bei der agilen Transformation

Eine signifikante Anzahl von Unternehmen berichtet von Problemen bei der agilen Transformation. So haben laut IT-Trendstudie (o.V 2018a) knapp die Hälfte der befragten Unternehmen Probleme beim Einsatz agiler Methoden. Die Herausforderungen liegen dominant in der anderen agilen Denkweise, mangelnder Erfahrung und Know-how, siehe Abb. 14. Diese Probleme lassen sich zumeist auf einige wenige, aber umso wirksamere Schwachstellen bei der Implementierung agiler Methoden zurückführen: 1. Es fehlt schlichtweg daran, dass das Management nicht vom gewählten agilen Ansatz überzeugt ist. Dies ist häufig darin begründet, dass Kontrollverlust bei dezentralen Entscheidungen befürchtet wird, einer kritischen Auseinandersetzung mit den bisherigen Ansätzen ausgewichen wird und/oder sie dem subjektiv empfundenen höheren Risiko des Unbekannten unterliegen. Doch Führungskräfte, die nicht hinter Entscheidungen stehen und sie gegenüber den Mitarbeitern und anderen Stakeholdern vertreten, vermögen kaum authentisch und integer die neue Richtung „zu verkaufen“

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate …

193

Abb. 14  Probleme und Herausforderung mit der agilen Transformation, vereinfachte Darstellung nach (o.V 2018a)

2. Die Schnittstellen bei der Transformation eines Teils der Organisation nicht klargestellt werden oder zu kurz greifen, so dass der agil transformierte Teil nicht seine Wirkkraft entfalten kann. Typisch sind klassische Zwänge wie lange Wartezeiten auf Test- oder Release-Kapazitäten, die außerhalb des agilen Teams angesiedelt sind. Dann kann es schnell dazu kommen, dass agile Methoden nicht bisherige Vorgehensweisen ersetzen, sondern „on top“ gemacht werden, und alte Entscheidungsstrukturen aber faktische weiter bestehen. 3. Mangelnde Koordination bei der Umsetzung: hier sei nur auf die acht Phasen von Kotter’s Leading Change Ansatz verwiesen (Kotter und Cohen 2002). Fehlt es bspw. an der „Leading Coalition“ und stürzt man sich unmittelbar in die Umsetzung, dann ist Boykott bis Sabotage der Betroffenen (und keineswegs Beteiligten) fast zwangsläufig die Folge, und damit der Veränderungserfolg äußerst schwierig. Insofern sollte die Implementierung konstruktiv-kritisch von erfahrenen Change Managern unterstützt werden, da ein anfänglicher mangelnder Erfolg nicht in notwendigerweise in der Ungeeignetheit der Methodik begründet, sondern ggf. in der Implementierungsart zu finden ist. Es sei hierzu auch auf den I-O-T Ansatz Abschn. 1.5 verwiesen. cc

„In a change effort, culture comes last, not first.“ (Kotter und Cohen 2002)

Das Potenzial agiler Management-Methoden hingegen – sofern denn richtig umgesetzt – ist enorm, denn es ermöglicht Unternehmen, besser mit schnell verändernden Marktgegebenheiten umzugehen und Opportunitäten bei kontrolliertem Risiko zu ergreifen. Grundpfeiler agiler Methoden sind indes Transparenz, (Fehler-)Offenheit, Reflektiertheit und damit schichtweg Vertrauen. In so einer Vertrauenskultur, die sich in einem Unternehmen im Rahmen der Transformation über längere Zeit erst entwickelt, wird dann auch Candorship – die gelebte Transparenz, sich konsistent etablieren können.

194

S. Vieweg

Diese Authentizität und Offenheit schafft Vertrauen und bietet Orientierung, so dass die beiden wesentlichen Herausforderungen für nachhaltige Corporate Governance in der Digitalisierung – Senken der Wahrnehmungsschwelle und damit Schließen der strategischen Lücke einerseits, Ausrichtung des „moralischen Kompasses“ andererseits  – erreichbar scheinen (siehe Abschn. 1.5).

5

Zusammenfassung und Ausblick

Die Digitalisierung bedeutet für eine nachhaltige Unternehmensführung, dass grundsätzlich eine Beschleunigung der Entscheidungsprozesse vonstattengeht. Entsprechend ist Schnelligkeit eine wichtige Kompetenz in der nachhaltigen Unternehmensführung, um die sich erweiternde „strategische Lücke“ zu reduzieren und Handlungsoptionen zu generieren. Ferner führt die Digitalisierung – u. a. durch Automatisierung – zu einer Entfremdung der unternehmerischen Akteure von dem Objekt ihrer Geschäftstätigkeit. Nicht nachhaltige Entscheidungen sind dann schnell die Folge, da der „moralische Kompass“ verstellt ist, das Bewusstsein über illegitimes Verhalten weiter auf ein legales Mindestmaß zurückgeht bzw. bereits in den illegalen Bereich reicht, wie beispielsweise das Compliance-­Radar anzeigt. Hier kann Candorship als Grundverständnis nachhaltiger Unternehmensführung verstanden werden: durch Transparenz, Fehlerkultur und Offenheit manifestiert sich eine Kultur, die zu nachhaltigen Erfolgen führen kann. Erste empirische Untersuchungen unterstützen diese These, dass bereits der betriebswirtschaftliche Erfolg spürbar größer ist als bei Unternehmen, die Candorship nicht praktizieren. Diese Ehrlichkeit und Fehlerkultur, schnelles Lernen und Anpassen ist im digitalen Zeitalter essenziell. Sie kann durch lean-agile Ansätze erreicht werden, wenn in einer gut umgesetzten Implementierung dezentrale, operative Entscheidungskompetenz und Verantwortung in lean-agile Teams ­gelenkt wird, begleitet von einer auf Unterstützung dieser wertschöpfenden Teams ausgerichtete Führung („Servant Leadership“). Die gute Nachricht ist zweierlei: 1. Diese Überlegungen sind keineswegs neu, ganz im Gegenteil sind sie bereits umfassend – teilweise seit Jahrzehnten – bekannt und stellen damit nicht einen kurzlebigen Hype dar, sondern deuten auf Substanz, selbst im vielzitierten disruptiven digitalen Zeitalter. 2. Zur zielführenden und erfolgreichen Transformation braucht es ein holistisches („ganzheitliches“) und pragmatisches Umsetzungskonzept mit konkreten Praktiken, die sich im operativen Tagesgeschäft widerspiegeln. Hierzu gibt es Erfolgsmodelle, z. B. das weltweit marktführende Scaled Agile Framework (SAFe®), eine offene Wissensbasis mit abgestimmten Prinzipien, Prozessen und konkreten Werkzeugen, die eine lean-agile Organisationsausrichtung ermöglicht.

Nachhaltige Unternehmensführung im Zeitalter der Digitalisierung – neue Corporate …

195

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S. Vieweg Prof. Dr.-Ing. Dr. rer. oec. Stefan Vieweg,  CFA, PSM, SAFe® Program Consultant (SPC) und Release Train Engineer (RTE) hat eine Professur für internationale Unternehmensführung und ist Studiengangsleiter MBA International Business sowie Direktor des Instituts für Compliance und Corporate Governance (ICC) der Rheinischen Fachhochschule Köln. Er hat mehr als 20 Jahre Führungserfahrung u.  a. als CFO, Vorstand und Aufsichtsrat hauptsächlich im agilen ICT-Umfeld und produzierenden Industrien. Sein Beratungsschwerpunkt liegt als zertifizierter Systemischer Change Manager, SAFe® SPC und RTE Trainer und Scrum Master in der nachhaltigen und agilen Organisations- und Kulturveränderung, Compliance und operativen Transformationen u. a. im Finanzbereich. Er ist als Chartered Financial Analyst (CFA) dem weltweit höchsten Compliance Standard der Finanzwelt verpflichtet, ist Initiator des Compliance on Board Index und ist Ethics und & Compliance Leader im compliancechannel. tv. Prof. Vieweg hat mehr als 100 Veröffentlichungen und Herausgeber u.  a. im Bereich Agile, Business Transformation, Compliance, Con­trolling, Digitalisierung, Leadership und Nachhaltigkeit.

Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen Deane L. Harder, Jan T. Frecè und Marie Brechbühler Pešková

1

Einleitung

Von Vertretern einer nachhaltigen Entwicklung wird immer wieder die geplante Obsoleszenz von Produkten kritisiert. So sehr dieser Gedanke auf Produktebene nachvollziehbar ist, bietet er auf Ebene der Geschäftsmodelle interessante Ansätze für eine nachhaltige Entwicklung. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung mit Konzepten zu sozialen Innovationen umgesetzt werden kann und welche transformativen Treiber es dabei zu berücksichtigen gilt. Die durchschnittliche Existenzdauer von Unternehmen nimmt ab. Zahlreiche Studien aus dem Bereich Unternehmensentwicklung belegen diesen Trend (Foster und Kaplan 2001; Anthony et al. 2018). Die Gründe hierfür sind vielfältig, dürften jedoch in den meisten Fällen auf eine zu geringe Anpassungsfähigkeit der Unternehmen bzw. auf schnelle, tiefgreifende und unvorhersehbare Veränderungen in der unternehmerischen Umwelt zurückzuführen sein. Diese Treiber werden häufig mit dem Konzept der VUCA-Welt zusammengefasst (V = volatile, U = uncertain, C = complex, A = ambiguous) (Bennett und Lemoine 2014). Eine Möglichkeit, mit den Herausforderungen einer VUCA-Welt umzugehen, ist eine systemische Organisationsentwicklung, die versucht, das „Problemlösungspotenzial […] und [die] Selbsterneuerungsfähigkeit der Organisation“ zu erhöhen (Glasl und Kalcher 2014, S. 51). Eine andere Möglichkeit ist es, die Lebensdauer eines U ­ nternehmens D. L. Harder (*) Institut Innovation and Strategic Entrepreneurship, Wirtschaft, Berner Fachhochschule, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected] J. T. Frecè · M. Brechbühler Pešková Institut Sustainable Business, Wirtschaft, Berner Fachhochschule, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_11

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D. L. Harder et al.

bereits zu Beginn als begrenzt zu definieren und so der Selbsterhaltungstendenz sozialer Systeme entgegenzuwirken (Simon 2004b). Dieses Vorgehen einer geplanten Obsoleszenz im Geschäftsmodell ist zwar unorthodox, bietet jedoch zahlreiche Ansatzpunkte dafür, wie eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung in einer VUCA-Welt agieren und einen sozioökonomischen Wandel gezielt fördern kann.

2

Systemdenken

Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 150 Jahren wird in zahlreichen Büchern und Studien in vier „industrielle Revolutionen“ gegliedert (Sendler 2016). Diese umfassen typischerweise die (1) Mechanisierung, (2) Elektrifizierung, (3) Automatisierung und (4) Digitalisierung. Auffallend bei dieser Art der Betrachtung ist der Fokus auf die Produktion und die Maschine als zentraler Treiber des wirtschaftlichen Erfolgs. Einer der Schlüsselfaktoren war in der Vergangenheit oft die „Beherrschung der Maschine“. Dieser Schlüsselfaktor wurde in den Wirtschaftswissenschaften abstrahiert und modelliert und kann etwas generalisierend als „Maschinendenke“ zusammengefasst werden. Darunter soll ein mentales Modell der Wirklichkeit verstanden werden, dass Organisationen als komplizierte Maschinen repräsentiert. Diese Art zu denken ist insgesamt sehr weit verbreitet und hat einen erheblichen Beitrag zur Wertgenerierung der globalen Wirtschaft geleistet (Simon 2004a, b). So wie Automotoren ständig weiterentwickelt und verbessert werden, so steigert sich die Produktivität von Unternehmen. Mit der vierten industriellen Revolution, der Digitalisierung, eröffnen sich weitere Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung, allerdings umfasst Digitalisierung alle sozioökonomischen Ebenen und man sollte deshalb eher von einer digitalen Transformation sprechen. Die digitale Transformation ist jedoch nicht einfach eine Fortsetzung der bisherigen Entwicklung, sondern steht für einen radikalen Wandel im Denken, der die weit verbreitete „Maschinendenke“ mit einer „Systemdenke“ ersetzen kann. Das Denken im System ist für die meisten Menschen eine Alltagserfahrung. Bei Gesprächen mit Freunden oder Familie, genauso wie bei Diskussionen über verschiedene Fußballmannschaften erkennt man leicht ein zutiefst verankertes systemisches Verständnis der jeweiligen Situation. Bei Betrachtungen von Organisationen und deren Aktivitäten fehlt dieses Verständnis häufig (Sterman 2000, S. 5–9, 597–629). Der Mensch hat keine evolutionäre Ausstattung, die sich spezifisch für wirtschaftliche Zusammenhänge entwickelt hätte. Unser Wissen und unsere Fähigkeiten in diesem Bereich sind immer erlernt und damit dominiert von der noch vorherrschenden „Maschinendenke“. Mittlerweile erkennen jedoch immer mehr Entscheidungstragende, dass diese Art des linear-kausalen Denkens in simplen Ursache-und-Wirkung-Zusammenhängen zu kurz greift. Insbesondere die Herausforderungen einer VUCA-Welt lassen sich mit einer solchen Vereinfachung nicht sinnvoll angehen; das Risiko des Scheiterns wächst. Das Denken in Systemen verspricht dagegen einen nachhaltigeren Umgang mit typischen Situationen einer VUCA-­ Welt, genauso wie mit den veränderten Bedingungen im Zuge der digital-­gesellschaftlichen

Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen

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Transformation. Der Schlüsselfaktor für Unternehmen der Zukunft ist deshalb vielleicht ein mentales Modell der Wirklichkeit, das Organisation als lebende, dynamische Systeme versteht. Eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung sollte dieses mentale Modell in der Unternehmensrealität operationalisieren. Eine Diskussion über nachhaltige Entwicklung ist meist nur aus systemischer Sicht sinnvoll. Das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit ist deshalb beispielsweise nur begrenzt geeignet, solchen Diskussionen einen Rahmen zu geben (Frecè und Harder 2018). Eine isolierte Betrachtung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen vernachlässigt typische Phänomene dynamischer Systeme wie indirekte Rückkopplungsschleifen, nicht-lineare Wechselwirkungen, die erst im Laufe der Zeit sichtbar werden, oder unerwünschte, nicht intendierte Nebenwirkungen. Eine geeignetere Darstellung ist als Modell der starken Nachhaltigkeit bekannt (Giddings et  al. 2002; Neumayer 2003, S. 22–29), bei der eine Zwiebelstruktur andeutet, dass die wirtschaftliche Sphäre ein Untersystem der gesellschaftlichen Sphäre ist, die wiederum ein Untersystem der natürlichen Sphäre darstellt. Aktivitäten in einer Sphäre können deutliche Aus- und Wechselwirkungen in den anderen Unter- und Übersystemen haben. Eine integrierte Nachhaltigkeitsbetrachtung sollte also besonders die zeitlichen Zusammenhänge und nicht-linearen Abhängigkeiten berücksichtigen. Dieselbe Forderung gilt entsprechend für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung. Aus systemischer Sicht ist ein Unternehmen vor allem ein soziales System. Es wird über eine Grenze, Elemente und Strukturen charakterisiert. Die Grenze ist normalerweise das rechtlich definierte Unternehmen (auch wenn sich diese Grenze zunehmend auflöst). Die Elemente sind entweder die Personen im Unternehmen oder deren kommunikativen Verbindungen untereinander (im Luhmann’schen Sinne). Die Strukturen sind die vorherrschenden Muster, also die Verbindungen oder Kopplungen zwischen den Elementen. Soziale Systeme sind veränderungsträge und selbsterhaltend. Eine Veränderung erfolgt einerseits stetig über einen langsamen, evolutionären Wandel in kleinen und kleinsten Schritten, andererseits über deutliche Impulse, die vom System aufgenommen werden. Diese Veränderungsimpulse sind besonders dann wirksam, wenn vorher die Kopplungen zwischen den Elementen etwas gelockert wurden. Wenn also die Anpassungsgeschwindigkeit von Unternehmen zu gering ist, kann es daran liegen, dass der Impuls vom System nicht aufgenommen wird, der Impuls zu schwach ist oder die Kopplungen zwischen den Elementen zu stark (Harder und Tokarski 2018). Es liegt dabei oft nicht am „guten Willen“ der Beteiligten, sich zu ändern. Vielmehr ist eine der Schlussfolgerungen des systemischen Denkens, das Verhalten stark kontextabhängig ist und von den vorhandenen Strukturen maßgeblich beeinflusst wird. Systemisches Denken ist demnach eine Herangehensweise, die das Sowohl-als-auch fördert und nicht auf der Suche nach „dem Richtigen“ oder „dem Schuldigen“ das soziale System „Unternehmen“ unzulässig vereinfacht. Organisationsentwicklung ist also die bewusste und gezielte Veränderung eines sozialen Systems „Unternehmen“. Daraus kann weiter abgeleitet werden, dass in Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung versuchen sollte, die besonderen Strukturen und Kopplungen im System zu nutzen, um innerhalb der

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Organisation eine kongruente Ausrichtung aller Mitarbeitenden auf den Unternehmenszweck zu erreichen und nach außen eine Wirkung zu entfalten, um den sozioökonomischen Wandel in Richtung nachhaltiger Entwicklung voranzutreiben.

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Nachhaltige Entwicklung

Es gibt viele Definitionen für nachhaltige Entwicklung, aber die über die Jahrzehnte ­wahrscheinlich am häufigsten verwendete, dürfte diejenige des ersten Abschnitts des Brundtland-­Report-Fazits (World Commission on Environment and Development 1987, Kap. IV.1) sein: „Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die den Bedürfnissen der Gegenwart entspricht, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Es beinhaltet zwei Schlüsselkonzepte: 1. das Konzept der ‚Bedürfnisse‘, insbesondere der grundlegenden Bedürfnisse der Armen in der Welt, dem oberste Priorität eingeräumt werden sollte; sowie 2. die Idee von Beschränkungen, die der Stand der Technik und der sozialen Organisation für die Fähigkeit der Umwelt, gegenwärtige und zukünftige Bedürfnisse zu erfüllen, auferlegt.“

Auch wenn viele Definitionen um Anerkennung ringen, ist vor allem die kategorielle Unterteilung aller Ansätze in schwache und starke Nachhaltigkeitsansätze (Neumayer 2003) interessant für das Geschäftsmodell der geplanten Obsoleszenz. Diese beiden Per­ spektiven auf Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung unterscheiden sich diametral im Punkt der Substituierbarkeit von Kapital. Während bezüglich der Kapitalarten vielfach auf Bourdieus klassische Aufteilung in soziales, ökonomisches, kulturelles und symbolisches Kapital zurückgegriffen wird (Bourdieu 2011), sind auch andere Kategorisierungen von Kapital denkbar, solange sie von einem breiten Verständnis unter den betroffenen Stakeholdern begleitet sind (Kleineberg und Helbing 2016). Der Standpunkt der schwachen Nachhaltigkeit betrachtet lediglich die Gesamtsumme allen Kapitals, unabhängig von dessen Zusammensetzung. Dies bedeutet, dass die verschiedenen Kapitalformen als zu 100 % austausch- bzw. verrechenbar betrachtet werden. Für Bestrebungen, gleichgültig ob auf politischer oder auf wirtschaftlicher Ebene, die sich einem oder mehreren konkreten Zielen verschrieben haben, kann daher nur eine starke Nachhaltigkeitsperspektive in Frage kommen. Die Ziele eines Unternehmens mit geplanter Obsoleszenz sind per definitionem nicht austauschbar, das gesamte Unternehmen ist schließlich mit seiner Existenz auf die Erreichung eben dieser Ziele ausgerichtet. Diese einfach durch andere, völlig kontextfremde Ziele gleichwertig ersetzen zu können, würde die Existenz des Unternehmens konterkarieren, die konstituierenden Werte verraten und deren Ernst- und Glaubhaftigkeit in Zweifel ziehen. Dementsprechend wird im Folgenden von einer starken Nachhaltigkeitsperspektive ausgegangen, wenn von nachhaltiger Entwicklung oder integrierter nachhaltige Unternehmensführung die Rede ist.

Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen

201

Die UN-Mitgliedstaaten haben 2012 auf der Rio+20-Konferenz beschlossen, globale Ziele für eine nachhaltige Entwicklung zu formulieren. Im Nachgang wurden 17 Ziele und 169 Unterziele formuliert, die am 1. Januar 2016 in Kraft traten, für 15 Jahre gelten und als Agenda 2030 (Sustainable Development Goals, SDG) bekannt ist (United Nations 2016). Die Ziele sind für alle Staaten gesetzt, es gibt aber natürlich Abstufungen und unterschiedliche Schwerpunkte für die einzelnen Länder. Insgesamt werden in SDG verschiedene soziale, ökologische und ökonomische Aspekte sowie deren Wechselwirkungen berücksichtigt. Für eine umfassende Umsetzung der SDG auf nationaler Ebene bedarf es einen geeigneten regulatorischen Rahmen, ergänzende Anreize sowie geeignete Modelle und Vorbilder. Dies gilt besonders bei neueren konzeptionellen Entwicklungen, die sich von konventionellen ökonomischen Modellen abheben. Die meisten dieser konventionellen Wirtschafts- bzw. Geschäftsmodelle wiederum bauen direkt oder indirekt auf neoklassischen Wirtschaftstheorien auf. Obwohl solche Modelle zunehmend kritisch hinterfragt werden, gibt es nach wie vor einen Mangel an anschlussfähigen, erfolgreichen und übertragbaren Alternativen (Paech 2012, S. 68–84; Raworth 2017, S. 176–178). Modelle aus dem Bereich der sozialen Innovationen können hier nützliche Anregungen liefern. Die nachfolgenden Betrachtungen sollen nur für Unternehmen gelten, die aus diesen Bereichen kommen und eine geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell beinhalten.

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Social Entrepreneurship und Innovation

Unternehmensführung ist untrennbar mit Unternehmertum verknüpft. Zur Vermeidung konzeptioneller Mehrdeutigkeiten werden hier die englischen Begriffe Entrepreneur und Social Entrepreneurship verwendet. Der Begriff Entrepreneurship wird nach der Definition von Fritsch (2019, S. 17) verwendet: „Entrepreneurship bezeichnet Unternehmertum im Sinne der Gründung und Leitung eines Unternehmens. Erfolgreiches Entrepreneurship erfordert das Erkennen von unternehmerischen Gelegenheiten, Kreativität, Initiative, Gestaltungswillen, Eigenverantwortung, Durchsetzungsfähigkeit sowie die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Tragen von Risiko.“ Der Begriff Social Entrepreneurship ist dagegen definitorisch schwieriger zu fassen. So zählen Dacin et al. (2010) insgesamt 37 Definitionen im Bereich Social Entrepreneurship/Social Entrepreneur. Um die Diskussion möglichst praxisnah zu halten, wird hier die Definition von Social Entrepreneur im Sinne von Dees (2001, 2018) und eine ergänzende Definition von Austin et  al. (2012) für Social Entrepreneurship übernommen: „Ein Social Entrepreneur übernimmt die Rolle eines Change Agents in gesellschaftlichen Bereichen, indem er oder sie eine unternehmerische Vision und Mission verantwortet, die gesellschaftlichen Mehrwert generiert und erhält; unablässig neue Chancen zur Umsetzung dieser Vision und Mission erkennt und verfolgt; sich zu einem fortlaufenden Prozess der Innovation, Anpassung und Lernens verpflichtet; mutig agiert, ohne sich durch aktuell verfügbare Ressourcen einschränken zu lassen und einen gesteigerten Sinn für Verantwortung für die Zielgruppen und den Auswirkungen seines oder ihres Handelns

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zeigt“ (Dees 2001, 2018). Eine Social Entrepreneurship soll entsprechend als „innovative, gesellschaftlichen Mehrwert schaffende Aktivität, die innerhalb oder zwischen nicht-­ gewinnorientierten, unternehmerischen oder behördlichen Bereichen stattfinden“ (Austin et al. 2012). Zur besseren Abgrenzung soll noch erwähnt werden, dass Social Entrepreneurship keinen eigenen Sektor darstellt, nicht synonym mit Social Business verstanden werde sollte und im Gegensatz zu CSR die Elemente Entrepreneurship und Innovation immer beinhaltet. Eine Innovation kann definiert werden als eine Neuerung, die einen wirtschaftlichen Vorteil vermittelt (Gassmann und Sutter 2013, S.  6–8). Damit ist klar, dass nicht jedes neue Produkt oder jede neue Dienstleistung auf dem Markt automatisch eine Innovation darstellt. Gleichzeitig deckt diese Definition auch Innovationen im Bereich Organisation, Prozesse oder Geschäftsmodell ab. Als soziale Innovation soll hier verstanden werden, wie eine Neuerung ein konkretes und als solches erkannte Problem in der Gesellschaft wahrnehmbar verbessert (Huybrechts und Nicholls 2012). Es geht also weniger um den wirtschaftlichen Nutzen als um die gesellschaftliche Wirkung. Ein marktbasierter Ansatz wird entsprechend nicht vorausgesetzt, ist aber möglich. Solche sozialen Innovationen können sich unterschiedlich manifestieren, z. B. als Grassroots-Bewegung, Verein, Bürgerinitiative oder soziales Unternehmen. Da hier der Fokus auf integrierte nachhaltige Unternehmensführung liegen soll, werden im Folgenden die sozialen Innovationen in Unternehmensform weiter diskutiert, als Schnittfläche zwischen sozialer Innovation und marktbasierter Social Entrepreneurship.

5

Integrierte nachhaltige Unternehmensführung

Eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung basiert auf einem entsprechenden normativen Management. Unter normativem Management versteht man meist die Auseinandersetzung mit dem Grund für die Existenz eines Unternehmens und die Ableitung bestimmter Leitprinzipien dafür (Capaul und Steingruber 2016, S. 46–47). Neben ethischen Fragestellungen gehört dazu auch die Festlegung von Vision, Mission und Werten. Aus systemischer Sicht sollen nachfolgend Vision und Mission näher untersucht werden. Bei der Diskussion der Werte gilt es zwischen den seitens des Unternehmens festgelegten Unternehmenswerten und den emergent aus einer gelebten Unternehmenskultur entstehenden Werten zu unterscheiden. Unternehmenswerte sollten auf ein bestimmtes Verständnis von Nachhaltigkeit ausgerichtet sein. Kulturwerte dagegen entstehen spontan und sind daher weder plan- noch kontrollierbar (aber beeinflussbar). Eine Deckungsgleichheit mag wünschenswert, jedoch oft nicht realistisch oder realisierbar sein. Für die integrierte nachhaltige Unternehmensführung sind deshalb in erster Näherung die Unternehmenswerte relevanter. Diese sollten direkt mit der Vision und Mission wechselwirken, weshalb deren Definition vorangestellt wird.

Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen

5.1

203

Vision & Mission

Die Vision und Mission lassen sich für soziale Innovationen einfach aus dem Modell der starken Nachhaltigkeit ableiten (vgl. Abb. 1 links). Die Vision sollte ein konkretes Bedürfnis in der Gesellschaft adressieren, für dessen Befriedigung das Unternehmen Verantwortung übernehmen will und kann. Ein Beispiel könnte sein: „Mobilität für Behinderte“. Die Umkehrung, also die 100 %ige Erfüllung dieses Bedürfnisses, stellt dann die Vision dar, z. B. „Barrierefreie Mobilität für alle“. Die Mission repräsentiert die Art und Weise, wie das Unternehmen Verantwortung für die Erfüllung dieser Vision übernimmt, z. B. „Wir stellen Software zur Verfügung, die hilft, Barrieren zu erkennen und zu überwinden“. Damit werden in erster Näherung die Bewertungskriterien des Hauptwertschöpfungsprozesses des Unternehmens beschrieben, in dem Beispiel also das Kriterium, ob die hergestellte Software in der Lage ist, die Aspekte der Umgebung erkennen und, davon abgeleitet, Handlungsempfehlungen für Behinderte geben kann. Die Mission und ihre praktische Umsetzung entscheiden darüber, ob das gesellschaftliche Übersystem dem wirtschaftlichen Untersystem „Unternehmen“ die Existenzberechtigung zubilligt, ihm demnach eine „Licence to Operate“ ausstellt. Mit diesem einfachen Modell können demzufolge der Grund und Zweck einer sozialen Innovation leicht hergeleitet werden (vgl. Abb. 1 rechts). Bei Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz sind diese Einfachheit und Klarheit in der Vision und Mission von besonderer Bedeutung, um den temporären Charakter gesellschaftlich zu rechtfertigen; entsprechend gilt es in einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung diese Aspekte transparent als Arbeitsgrundlage darzustellen.

Abb. 1  Modell der starken Nachhaltigkeit (links) und Ableitung von Unternehmenszweck, Vision und Mission (rechts) als Basis einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung. (Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Giddings et al. 2002)

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5.2

D. L. Harder et al.

Werte

Für jedes Unternehmen sind deklarierte und implementierte Unternehmenswerte von zentraler Bedeutung für Entscheidungsfindung und -kommunikation sowohl nach innen wie nach außen (Thomsen 2004; Wenstøp und Myrmel 2006). Dies gilt umso mehr für Unternehmen, die sich nicht schwergewichtig dem herkömmlich dominanten Unternehmenswert der Profitmaximierung verpflichtet sehen möchten. Diese Entscheidung erhöht die Anzahl der Bewertungsdimensionen, die das Unternehmen bei einer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen hat, von einer (Gewinn) auf potenziell beliebig viele. Die Erweiterung der „Single Bottom Line“ durch die „Triple Bottom Line“ im Fahrwasser der unternehmerischen Nachhaltigkeit (Elkington 1998, S. 69–96, 2018) ist ein gutes Beispiel einer solchen Erweiterung der Bewertungsdimensionen. Es zeigt aber auch, wie die Bedeutung der Unternehmenswerte steigt, wenn eine Mehrzahl an Dimensionen Bewertungen immer seltener klar, eindeutig und direkt vergleichbar ausfallen lässt. Im traditionellen Unternehmensverständnis, wonach jedes Unternehmen die intrinsische Verpflichtung hat, seine Profite zu maximieren (Friedman 1970), ist die Entscheidung, Mitarbeitende zu entlassen und ihre Arbeitsplätze ins billigere Ausland zu verschieben, klar bewertbar. Da das neue Modell nachvollziehbar höhere Gewinne verspricht, ist es dem bisherigen überlegen. Wenn jedoch Bewertungsdimensionen hinzukommen und beispielsweise neben ökonomischen auch soziale und ökologische Überlegungen hinzugezogen werden, stellt sich eine ähnlich eindeutige Bewertung als ungleich komplexer heraus. Wie ist die Tatsache zu bewerten, dass die Mitarbeitenden am bisherigen Standort zwar ihre Stelle verlieren, am neuen Standort aber mehr Menschen zu relativ besseren Löhnen ihr Auskommen finden? Sind die laxeren Umweltvorschriften am neuen Standort ein untragbares ökologisches Risiko oder werden sie durch die Verbesserung der Luft- und Wasserqualität am bisherigen Standort und die kürzeren Transportwege zu den Absatzmärkten und den damit geringeren Emissionen wettgemacht? Wiegen die großzügigen Freistellungssummen und Pensionspläne für die bisherigen Mitarbeiter die nur rudimentären Gesundheits-, Sicherheits- und Sozialstandards für die neuen Mitarbeiter auf? Fragen dieser Art sind ohne gemeinsamen Bewertungsrahmen kaum objektiv eindeutig zu bewerten, da sie auf individuellen Abwägungen beruhen (Kluckhohn Rockwood et al. 1961; Rokeach 1968). Die Bedeutung funktional formulierter und breit kommunizierter Werte ist im Fall von Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz umso zentraler, denn diese erklären die Selbstauflösung zum Teil ihrer Daseinsberechtigung und stehen damit diametral zum traditionell unternehmerischen Streben nach unendlichem Wachstum und Expansion. Um Entscheide sowohl internen wie externen Stakeholdern gegenüber glaubwürdig vertreten zu können, müssen sie sich auf einen Korpus an Unternehmenswerten berufen können, die nachvollziehbar darlegen, wie diese Entscheide zustande kommen.

Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen

5.3

205

Strategie

Die klassische Bedeutung von Strategie kann vereinfacht als Plan für die unternehmerische Zukunft und deren Umsetzung zusammengefasst werden. Moderne Formulierungen berücksichtigen, dass die Planbarkeit oft (bzw. in einer VUCA-Welt prinzipiell) nicht gegeben ist und andererseits häufig strategische Aktivitäten spontan und emergent entstehen (Mintzberg et al. 2000). Hier ist Strategie deshalb weniger ein festgelegter Plan als vielmehr ein absichtsvolles Entscheidungsmuster, das auf eine klare Idee oder Vision ausgerichtet ist. So ist ein flexibles Agieren möglich, ohne dass der unternehmerische Daseinszweck aus den Augen verloren wird. Gleichzeitig bedarf es darauf abgestimmte Unternehmenswerte, um eine – auch externen Stakeholdern – Handlungsorientierung zu geben und ein Abdriften in die Beliebigkeit zu verhindern. Eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung braucht entsprechend Klarheit in der Vision und Mission sowie den Unternehmenswerten als Leitplanken unternehmerischen Handelns. Strategie wird dann zur systemischen Reaktion auf externe und interne Impulse mit einer bevorzugten Entwicklungsrichtung. Für Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz ergibt sich ein besonderes strategisches Szenario. Das erklärte übergeordnete Ziel ist es, sich als Unternehmen überflüssig zu machen (vgl. Abb. 2). Aus sozioökonomischer Sicht ergibt sich daraus, dass es neben der eigentlichen Wertschöpfung noch einen gewünschten gesellschaftlichen Impact gibt. Ein Beispiel hierfür sind die sogenannten Unverpackt-Läden, die Waren ohne Verpackung anbieten. Deren Vision ist es, nicht mehr Waren zu verkaufen, sondern die großen Player dazu zu bewegen, ebenfalls auf Verpackungen – soweit möglich – zu verzichten. Ist dies erreicht, gibt es keinen Grund für die Existenz von Unverpackt-Läden mehr. Das Ziel des

Abb. 2  Einfaches Wirkungsgefüge, wie Geschäftsmodelle mit geplanter Obsoleszenz als Veränderungshebel für den systemischen Wandel in Richtung nachhaltiger Entwicklung genutzt werden können (eigene Darstellung)

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D. L. Harder et al.

gesellschaftlichen Wandels ist erreicht und der Daseinszweck des Unternehmens damit nicht mehr vorhanden. Die geplante Obsoleszenz kann demnach greifen und die inte­ grierte nachhaltige Unternehmensführung steht in der Verantwortung, das eigene Unternehmen abzuwickeln.

6

Geplante Obsoleszenz als Instrument des Wandels

Aus der Werteperspektive betrachtet unterscheiden sich For-Profit- und Non-Profit-­ Unternehmen nur unwesentlich. Der auffallendste Unterschied ist die explizit deklarierte Daseinsberechtigung des Non-Profit-Unternehmens. Ein For-Profit-Unternehmen rechtfertigt die eigene Existenz und das eigene Wachstum, indem es darauf hinweist, dass es auf diese Art und Weise seiner Arete, nämlich der Profitmaximierung, noch besser entsprechen kann. Ein Non-Profit-Unternehmen argumentiert entsprechend mit seiner jeweiligen Arete, wobei dieses entlang eines breiteren Spektrums variiert und daher häufig weniger geschlossene Zustimmung in der breiten Bevölkerung findet, als die reine Profitorientierung, die bereits vor Jahrzehnten auf breiter Front in das akzeptierte Bild eines Unternehmens integriert wurde (Frecè 2019). Ein Unternehmen, das die eigene Obsoleszenz zum Ziel hat, sieht sich hingegen einer qualitativ unterschiedlichen Wertestruktur gegenüber. Die Stärkung des Instruments (nämlich des Unternehmens), das die angestrebte Wirkung ausüben soll, verhindert in letzter Konsequenz deren Erreichung. Wird dieses Paradoxon nicht durch sorgfältig gewählte, funktionale und miteinander in Verbindung stehende Unternehmenswerte aufgefangen und operationalisiert, riskiert das Unternehmen individuelle Eigeninterpretationen der Unternehmenswerte und damit die Entstehung falscher Erwartungen, die zu Enttäuschung und Entfremdung seitens der Stakeholder führen. Doch gerade ein Unternehmen, das mit den konventionellen Erwartungen an ein Unternehmen bricht, ist auf Unterstützung durch dessen Stakeholder besonders angewiesen. Fehlende funktionale Unternehmenswerte ziehen allerdings nicht immer dasselbe Risiko nach sich. In einem ideologisch motivierten Unternehmen (z. B. einer NGO, die sich für den Erhalt historischer Bausubstanz einsetzt) kann die fehlende Werteorientierung des Unternehmens durch eine mehrheitlich kongruente Werteorientierung der Stakeholder ersetzt werden. Im Gegensatz zu Unternehmenswerten haben Stakeholder allerdings eine relativ geringe Halbwertszeit, d. h. sich auf Wertekongruenz der Stakeholder zu verlassen, ist meistens eine Wette auf Zeit. Dieses Phänomen zeigt sich an Wertediskussionen, die selbst gestandene NPOs immer wieder führen müssen, um die eigenen Unternehmenswerte zu klären und damit die ethische Bewertung von Handlungen aus Sicht des Unternehmens. In der Anfangsphase eines Unternehmens, in der häufig noch die Unternehmensgründer am Ruder oder wenigstens präsent sind, werden vor allem Stakeholder angezogen, deren individuelles Wertesystem ähnlich ausgestaltet ist, wie dasjenige der Gründergeneration. Hier können Geschäftsmodelle mit geplanter Obsoleszenz sich als besonders dynamisch erweisen, da diese keine Diversifikation anstreben und so ihren

Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen

207

Startup-­Charakter länger halten und gleichzeitig eine offensichtliche Ausrichtung von Werten und Handeln demonstrieren können. Grundlage dafür sind jedoch funktionale Unternehmenswerte. Je mehr Zeit vergeht, desto breiter wird die Palette an Motivationen, sich in dem Unternehmen zu engagieren und desto wichtiger werden explizit deklarierte, funktional formulierte Unternehmenswerte, um ein gemeinsames Verständnis von der Arete des Unternehmens zu erhalten. Dies gilt insbesondere für Unternehmen, welche die eigene Obsoleszenz anstreben, denn ihnen fehlt die implizite Annahme, die For-Profit- und den meisten Non-Profit-Unternehmen teilen: das Unternehmen muss gedeihen, damit es seinen Zweck erfüllen kann, d. h. alles was dem Unternehmen nützt, nützt im übertragenen Sinn auch dem Unternehmenszweck. Durch das Fehlen dieser wohlwollenden Perspektive auf die eigene Existenz und die Richtigkeit eigenen Handelns wird der Dialog mit sämtlichen Stakeholdern ein funktional formulierter Wertekanon und regelmäßige Standortbestimmungen zu zentralen Werkzeugen einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung. Das hier dargestellte Geschäftsmodell mit geplanter Obsoleszenz verfolgt einen eindeutigen Daseinszweck. Es geht darum, die Gesellschaft und den ökonomischen Wettbewerb zu ändern. Eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung sollte sich dies stets als Prämisse ihres Handelns vergegenwärtigen (Schaltegger et al. 2012). Es geht im unternehmerischen Alltag also darum, ein Entscheidungsmuster zu entwickeln, dass einerseits den gewünschten Impact erreicht und gleichzeitig dem Unternehmen zumindest ein temporäres Bestehen im wirtschaftlichen Wettbewerb ermöglicht. Das Ziel ist dann erreicht, wenn sich die gesellschaftlichen Strukturen bzw. Ansprüche und Form der Bedürfnisbefriedigung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung geändert haben. Damit sollte auch gewährleistet sein, dass sich der wirtschaftliche Wettbewerb entsprechend umgestaltet. Mit dieser Umgestaltung verliert das Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz seine Daseinsberechtigung. Die organisatorische Form eines Unternehmens ist demnach reines Mittel zum Zweck. Es stellt somit eine Form der systemischen Modellinnovation dar, die zahlreiche positive Auswirkungen im Betrieb und auf Stakeholder nach sich ziehen kann.

7

Auswirkungen im Betrieb und bei Stakeholdern

Eine geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell hat verschiedene Auswirkungen auf die beteiligten und betroffenen Stakeholder. Nachfolgend wird kurz die Situation für Mitarbeitende, Lieferanten, Kunden, Mitbewerbern und anderen Stakeholdern skizziert.

7.1

Mitarbeitende

Bei den Mitarbeitern ist es wichtig, dass es eine klare Vorstellung von der Vision und Mission des Unternehmens gibt. Darüber hinaus sollte es eine größtmögliche Identifikation mit den Unternehmenswerten geben. Des Weiteren darf bei aller gewünschter Loyalität dem Unter-

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nehmen gegenüber nicht vergessen werden, dass eine Anstellung naturgemäß nur temporär sein kann. Dennoch kann gesagt werden, dass die intrinsische Motivation von interessierten potenziellen Mitarbeitenden durch die Sinnhaftigkeit des Vorhabens und der Werte dahinter stark angesprochen wird (Deci und Ryan 2000), es gleichzeitig jedoch eine auf die besondere Form des Unternehmens angepasste Vorstellung von Arbeit und Karriere braucht, um besonders wirksame Mitarbeitende rekrutieren zu können. Für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung gilt es deshalb, bereits in der Rekrutierung besonders auf eine Passung zwischen Bewerbenden und normativen Unternehmensvorgaben zu achten.

7.2

Lieferanten

Lieferanten sollten sich im Klaren sein, dass es besonders hohe Ansprüche an deren Unternehmenswerte und ihrem unternehmerischen Verhalten aus Sicht der Nachhaltigkeit geben wird. Der Ansatz einer Organisation in wirtschaftlichen Ökosystemen sollte hier verstärkt Beachtung finden, um die Transparenz der gesamten Wertschöpfung gewährleisten zu können. Regional koordinierte Liefernetzwerke sind jedoch nicht nur aus Sicht einer nachhaltigen Entwicklung relevant, sondern vereinfachen auch die Stärkung von Vertrauen in den Handelsbeziehungen durch direkten Kontakt. Gleichzeitig ist der Aufbau eines dauerhaften Vertrauensverhältnisses zwischen Lieferanten und Unternehmen aufgrund der begrenzten Lebensspanne eventuell schwieriger als in konventionellen Settings. Aus Sicht einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung gilt es demnach, eine Balance zu finden zwischen langfristiger vertrauensvoller Verbindlichkeit und kostenoptimierter, aber oft anonymer Supply Chain.

7.3

Kunden

In erster Näherung sollte es für die Kunden keine Rolle spielen, ob ein Unternehmen eine geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell enthält. Vielmehr sollte es den Kunden darum gehen, aus Perspektive ihrer persönlichen Werte, aber auch aus wirtschaftlicher Sicht, ihre Bedürfnisse zu einem angemessenen Preis und in gewünschter Qualität befriedigen zu können. Diese Anforderungen müssen natürlich auch Unternehmen mit einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung und geplanten Obsoleszenz erfüllen. Eine erzieherische Funktion von Unternehmen oder deren Marktauftritt im Bereich Nachhaltigkeit hat sich als insgesamt sehr schwierig erwiesen. Als Sekundäreffekt kann sie doch sehr wohl gewünscht und möglich sein, indem sich beispielsweise Kunden zunehmend mit der Wertediskussion in Unternehmen, der Bedeutung von Nachhaltigkeit im Allgemeinen und den Möglichkeiten von Geschäftsmodellen von sozialen Innovationen auseinandersetzen.

Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen

7.4

209

Mitbewerber

Für Mitbewerber ergibt sich eine besondere Situation hinsichtlich des zeitlichen Horizonts der Wirkung der hier beschriebenen Geschäftsmodelle. Kurzfristig wird es in den meisten Fällen wahrscheinlich keine wahrnehmbare Veränderung in der Marktstellung von etablierten Playern durch soziale Innovationen mit geplanter Obsoleszenz geben. Im Sinne einer disruptiven Innovation kann es jedoch dazu kommen, dass diese anfänglich kleinen Unternehmen aus ihrer Nische in den Mainstream hineinwachsen können (Christensen et  al. 2006). Solche Entwicklungen sind im Zuge der digitalen Transformation immer wahrscheinlicher, da es allgemein zu einer Entmaterialisierung in der Wertschöpfung kommt und Angebote wie „Light As A Service“ zeigen, wie eine Wertschöpfungskette anders aufgebaut werden kann, wodurch sich die gesamten Marktdynamiken dauerhaft ändern können (Stahel 2016). Wenn es Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz gelingt, einen gesellschaftlichen Impact zu bewirken, dann werden auch die Mitbewerber gezwungen sein, entsprechend zu reagieren. Ob es jeweils im Sinne einer zunehmenden nachhaltigen Entwicklung geschieht, kann allerdings im Vorfeld nicht immer gesagt werden und es gehört zu den Aufgaben einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung, dies in der Praxis regelmäßig zu überprüfen.

7.5

Andere Stakeholder

Für Unternehmen im Sinne von sozialen Innovationen gibt es zahlreiche weitere beteiligte oder betroffene Stakeholder. Hier sollen exemplarisch nur kurz die Behörden, Verbände und Medien betrachtet werden. Bei den Behörden ist es wichtig, dass durch das Aufzeigen von Alternativen am Markt die entsprechenden Weichen gestellt werden, sodass es überzeugende Anreize bzw. regulatorische Maßnahmen gibt, die solche Geschäftsmodelle bzw. darin realisierte Wertschöpfungsprozesse unterstützen. Dies kann in Form von Steuererleichterungen oder aber auch durch erhöhte Abgaben von unnötig verschwendeten Ressourcen erfolgen. Bei den Verbänden liegt das Augenmerk natürlich vor allem auf solchen, die sich in der Thematik einer nachhaltigen Entwicklung engagieren. Hier geht es darum, Partnerschaften aufzubauen und die Verbände als Lobby und Multiplikatoren zu nutzen. Die (sozialen) Medien spielen mittlerweile eine zentrale Rolle in der Geschwindigkeit und der Ausbreitung von Innovationen. Hier gilt es, für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung einerseits ein gewisses Maß an Marketing von relevanten Aktivitäten aufzubauen und andererseits gezielt Influencer einzubinden, um eine möglichst große gesellschaftliche Reichweite und Durchdringung zu erreichen, um die Innovationsdiffusion zu begünstigen und so letztlich den sozioökonomischen Wandel zu beschleunigen.

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Diskussion

Im Rahmen dieser Erörterung lag der Fokus auf Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz aus dem Bereich der sozialen Innovationen. Unternehmen in diesem engen Betrachtungsfeld können nur wirklich Wirkung entfalten, wenn sie sowohl von der Vision als auch der Mission und den Werten eine vollständige Integration erreichen. Jegliches unternehmerische Handeln sollte Ausdruck davon sein. Gleichzeitig gilt es natürlich, die besonderen Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs anzuerkennen und in aller Deutlichkeit zu vermitteln, dass auch solche Unternehmen mit einer geplanten Obsoleszenz zumindest eine schwarze Null erwirtschaften müssen. Gelingt dies nicht, wird die Breite der sozioökonomischen Wirkung stark eingeschränkt sein, da die Vorbildwirkung fehlt. Neben der vollständigen vertikalen Integration ist auch eine horizontale Integration von Vision, Mission und Werten essenziell. Dafür braucht es eine Akzeptanz bzw. Abstimmung der Unternehmenswerte und der Wertschöpfung mit dem Kunden am Markt, genauso wie mit den Lieferanten. Da es sich um soziale Innovationen handelt, können Unternehmen mit einer geplanten Obsoleszenz dies relativ offensiv vermarkten und gleichzeitig sowohl upstream wie auch downstream der eigenen Wertschöpfung eine überzeugende Realisierung der Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung aufzeigen. Durch den bewusst gewählten temporären Charakter des Unternehmens mit geplanter Obsoleszenz wird außerdem deutlich, dass es keine versteckte Agenda gibt und es wirklich darum geht, Wirkung zu erzielen, die nicht nur auf eine Verbesserung des Status quo, sondern auf eine sozioökonomische Transformation ausgerichtet ist. Der gesellschaftliche Wandel, der zurzeit zu beobachten ist, führt zu unterschiedlichen Extremen. Einerseits wird die Bedeutung des Konsums immer stärker und in globalen Netzwerken ausgelebt, andererseits ist es Menschen zunehmend wichtiger, eine Sinnhaftigkeit in dem zu sehen, was sie kaufen, besitzen und konsumieren oder auch für welche Unternehmen sie arbeiten möchten. An dieser, im Moment vielleicht häufig noch als Generation Y oder Z deklarierten, aber tatsächlich wahrscheinlich gesamtgesellschaftlichen, Entwicklung lässt sich zeigen, wie die Sinnhaftigkeit der Arbeit immer wichtiger und dies ist im Zuge der digitalen Transformation vermutlich noch an Bedeutung gewinnen wird. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass stark manuell orientierte Branchen oder Wirtschaftssysteme noch nicht in diesem Bereich vorgedrungen sind und entsprechend eine differenzierte Betrachtung der jeweiligen Situation notwendig macht. Es bleibt zumindest festzuhalten, dass Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz, die dies in einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung auch in den jeweiligen unternehmerischen Aktivitäten und strategischen Entscheidungen deutlich machen, eine besondere Attraktivität für Menschen ausüben können, für die Sinnhaftigkeit in der Arbeit zunehmend zum Motivator für die Wahl eines Arbeitgebers wird. Die digitale Transformation ist ein häufig bemühtes Buzzword in der Unternehmenswelt. Verschiedene Autoren und – aus Praxiserfahrungen – auch Entscheidungstragende verstehen jedoch eine Vielzahl an Konzepten darunter. Für eine differenzierte Diskussion

Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen

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soll dieser Begriff genauer definiert werden, um anschließend die Bedeutung dieser Transformation im Kontext sozialer Innovationen zu beleuchten. Im Angelsächsischen wird oft zwischen drei Stufen des digitalen Wandels unterschieden. Die erste Stufe ist die Digitization, in der analoge Prozesse digitalisiert werden. Vereinfacht gesagt, wird statt Papier und Bleistift ein Computer genutzt, um Aufgaben zu erledigen. Der Umfang und die Art der Aufgabe bleiben jedoch bestehen. Die zweite Stufe umfasst die Digitalization im engeren Sinne, bei der Prozesse mit digitalen Möglichkeiten unterstützt werden und so häufig eine vielfache Steigerung der Produktivität, Effizienz, Prozessstabilität oder Geschwindigkeit ermöglichen. Die Wertschöpfung erfolgt dabei immer noch entlang der bereits definierten Prozesse, allerdings können diese teilweise ex­ trem skaliert werden. Die dritte Stufe beinhaltet dann die Veränderung und Neudefinition von Geschäftsmodellen, Prozessen und anderen Systemelementen bis hin zur Kultur der Beteiligten. Erst dieser umfassende Wandel entspricht dann der digitalen Transformation. Die wirkenden Treiber der Transformation sind somit bekannt, die Ansatzpunkte und Auswirkungen allerdings nicht. Deshalb ist eine Vorbereitung im simplen Schema von Ursache-­Wirkung nicht möglich. Vielmehr bedarf es ein grundsätzliches und systemisches Umdenken im Umgang mit unternehmerischen Wirklichkeiten. Eine der wichtigsten Auswirkungen der digitalen Transformation ist vermutlich, dass die Instrumente zum Aufbau von sozialen Innovationen und zur Adressierung von gesellschaftlichen Problemen einfach und günstig verfügbar sind und die Gründung von Unternehmen wesentlich vereinfacht wird. Ähnlich wie die rechtliche Innovation der Trennung der Haftung von Personen und Unternehmen zur Steigerung der Entrepreneurship beigetragen hat, kann die digitale Transformation über die Entmaterialisierung von Unternehmensassets zu einen deutlichen Schub bei Unternehmensgründungen führen. Im Zuge der Menschwerdung spielt das Erzählen von Geschichten, das Storytelling, eine besondere Rolle. Mithilfe von Geschichten konnten schnell Koalitionen zwischen sonst Unbekannten gebildet werden, die über dieselben Geschichten emotionalisiert und motiviert wurden (Harari 2014, Kap. 12, 16). Waren es früher vor allem Geschichten bezüglich Übernatürlichem oder Identifikation einzelner Gruppen, so sind es in den letzten Jahrhunderten zunehmend Geschichten mit wirtschaftlichem Hintergrund. Die Identifikation mit einem Unternehmen funktioniert zu großen Teilen über die Akzeptanz der Geschichte, die es erzählt. Als Abstraktum sind Unternehmen zunächst nur eine „soziale Fiktion“ und entstehen erst in den Köpfen der Beteiligten und benötigt Sichtbarmachungen, wie Einträge in einem Handelsregister, Aktien oder Firmengebäude. Als treibende Kraft für ihre sozioökonomische Wirkung dienen jedoch immer noch Geschichten. So gesehen ist Entrepreneurship und Leadership nicht einfach nur gutes Managen, sondern vor allem gutes Storytelling. Aus den Biografien vieler erfolgreicher Entrepreneure ergibt sich allerdings auch, dass dieses Storytelling in den meisten Fällen gelernt und geübt werden musste. In einer VUCA-Welt kann es deshalb empfehlenswert sein, Unternehmertum zu üben, z. B. anhand von konkreten gesellschaftlichen Bedürfnissen in Form von sozialen Experimenten und Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz. Für eine integrierte n­ achhaltige Unternehmensführung ergibt sich da-

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D. L. Harder et al.

mit nicht nur eine klare Ausrichtung, sondern es erleichtert auch ein überzeugendes und emotionalisierendes Storytelling. Das Brechen mit bestehenden, etablierten Mustern führt zu unplanbaren Folgen. Deshalb ist es wichtig, solche Übergänge von alten zu neuen Mustern in kleinen Schritten durchzuführen, um die involvierten Risiken klein zu halten. Wenn demnach soziale Innovationen sinnvolle Modelle für eine nachhaltige Entwicklung darstellen, dann können Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz ein geeigneter systemischer Veränderungshebel sein, diesen Wandel im Sinne der Vision von sozialen Innovationen zu instrumentalisieren und voranzutreiben. Entweder der anvisierte Beitrag zum Wandel gelingt, dann verliert das Unternehmen seine Existenzberechtigung, oder er misslingt, dann kann das Unternehmen aufgelöst werden, ohne größere unerwünschte soziale oder wirtschaftliche Nebenoder Schadwirkungen nach sich zu ziehen. Zentral ist die Feststellung, dass das Unternehmen kein Selbstzweck und temporärer Natur ist. Es sollte in diesem Zusammenhang auch besonders betont werden, dass das Ende eines Unternehmens nicht als Versagen oder Scheitern wahrgenommen wird, sondern als Lernerfahrung, die sinnvoll und häufig auch notwendig ist, um eine gesamtgesellschaftliche Transformation in Richtung nachhaltiger Entwicklung zu ermöglichen. Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz können entsprechend als innovative sozioökonomische Experimente aufgefasst werden. Die Einstellung gegenüber Lernerfahrungen aus solchen Experimenten lässt sich gut mit dem Konzept des lernoffenen Growth Mindset versus eines konventionellen erfolgsorientierten Fixed Mindset beschreiben (Dweck 2017, S. 6–12). Für die Unternehmen der Zukunft wird es deshalb nicht nur wichtig sein, unterschiedliche wirtschaftliche Modelle zur Basis ihrer unternehmerischen Aktivitäten zu machen, sondern auch sicherzustellen, dass in einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung die Offenheit im Sinne eines Growth Mindset fest verankert ist. Aus Sicht einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung geht es darum, im Vergleich zu konventionellen, linear-ökonomischen Unternehmen eine andere Art von Geschichten überzeugend zu erzählen, also das Storytelling mit einem Growth Mindset neu zu gestalten, um eine transformative Sogwirkung zu entfalten.

9

Schlussfolgerung

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Bedeutung von geplanter Obsoleszenz von Geschäftsmodellen im Zusammenhang mit einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung. Es wurde gezeigt, dass es besonders für Unternehmen aus dem Bereich der sozialen Innovationen ein erhebliches Potenzial gibt, mit dieser bewussten Einschränkung einen zielgerichteten Beitrag zum sozioökonomischen Wandel zu leisten. Dabei sind die auf Nachhaltigkeit ausgerichteten, funktionalen Unternehmenswerte und die damit wechselwirkende Vision und Mission des Unternehmens von besonderer Bedeutung. Für eine Integration in der Unternehmensführung ist es deshalb essenziell, diese transparent und offensiv zu vermarkten. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, die Ansprüche an Unternehmen in einer VUCA-Welt gerecht zu werden, agil am Markt zu handeln und die ­Veränderungen in der Gesellschaft und im Zuge der digitalen Transformation proaktiv aufzunehmen. Es bie-

Geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell sozialer Innovationen

213

ten sich außerdem zahlreiche Möglichkeiten für Innovationen in den Bereichen Organisation, Prozesse oder Supply Chain sowie für gesamte Geschäftsmodelle. Diese im überschaubaren Rahmen zu testen, wird immer wichtiger, um die Gesamtrisiken möglichst gering zu halten. Gerade wenn es um größere Umwälzungen wie im Zuge der digitalen Transformation geht, wird diese Herangehensweise an Bedeutung gewinnen. Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz können somit ein geeignetes Vehikel für Menschen darstellen, die ein Interesse an einer nachhaltigen Entwicklung mitbringen, aber sich im konventionellen Umfeld entweder nicht engagieren wollen oder die Schwelle für unternehmerisches Handeln als zu groß ansehen. So kann eine geplante Obsoleszenz im Geschäftsmodell als sozioökonomisches Experiment sowohl Entrepreneurship wie auch Innovationskraft fördern. Gleichzeitig bieten solche Unternehmen eine offensichtlich demonstrierte Sinnhaftigkeit in ihren unternehmerischen Aktivitäten und ihrer Wertschöpfung. Eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung bedeutet in diesem Sinne mit einem fokussierten Blick über einen begrenzten Zeitraum hinweg zu versuchen, den Zustand des Gesamtsystems zu verbessern. Natürlich muss es prinzipiell erlaubt sein, dass aus Unternehmen mit geplanter Obsoleszenz im Zuge der gemachten Erfahrungen sich ein Unternehmen mit unbegrenzter Lebensdauer entwickelt kann. Die sollte allerdings entsprechend von der Unternehmensführung den Stakeholdern kommuniziert werden. Alternativ ergibt sich aus solchen Vorhaben die Perspektive, dass Nachfolgeunternehmen gegründet werden, die dann bereits die gemachten Lernerfahrungen nutzen und Innovationen für eine nächste Phase des Wandels marktfähig machen können. Insgesamt bietet das Instrument der geplanten Obsoleszenz von Geschäftsmodellen also interessante Möglichkeiten das konventionelle Wirtschaftssystem zu erneuern und sowohl im sozialen als auch ökonomischen Feld als Veränderungshebel zu wirken und neue Impulse für eine nachhaltige Entwicklung zu setzen – zum Wohle der zukünftigen und nachfolgenden Generationen.

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Prof. Dr. Deane L. Harder  ist Professor an der Berner Fachhochschule, am Departement Wirtschaft. Seine Schwerpunkte am Institut Innovation and Strategic Entrepreneurship sind Innovation, Verhaltensökonomie und Systemik. Vorher war er 10 Jahre in der freien Wirtschaft unterwegs, u. a. in verschiedenen Beratungsunternehmen in den Bereichen Strategie, Innovation, Nachhaltigkeit und Prozessoptimierung, und war mehrere Jahre als Consultant selbständig. Er hat Neurobiologie und Biomechanik an der Universität Freiburg i. Br. (Deutschland) studiert und an der Otago University (Neuseeland) promoviert. Dr. Jan T. Frecè  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Sustainable Business an der Fachhochschule Bern, Departement Wirtschaft. Er hat Soziologie, den Vorläufers der späteren Nachhaltigkeitswissenschaften MGU und russischer Philologie studiert. Diese Grundlagen verbindet er mit über einem Jahrzehnt Praxiserfahrung in der freien Wirtschaft und einer anschließenden Dissertation in Nachhaltigkeitswissenschaften an der Universität Basel. Seine akademischen Aktivitäten liegen vor allem im Bereich unternehmerischer Nachhaltigkeit mit Schwerpunkt auf wertebasierter Unternehmensführung und Nachhaltigkeit in der digitalen Sphäre. Prof. Dr. Marie Brechbühler Pešková  ist Professorin an der Berner Fachhochschule, Departement Wirtschaft. Sie unterrichtet insbesondere Module in den Bereichen nachhaltige Wirtschaft, Strategie und Innovation und International Business. In ihrer angewandten und praxisorientierten Forschungstätigkeit widmet sie sich am Institut ­ Sustainable Business den Themen Transformation zur nachhaltigen Gesellschaft und Wirtschaft, nachhaltige Kreisläufe: Sustainable Consumption, Circular Economy, nachhaltige Geschäftsmodelle,

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D. L. Harder et al. Recycling sowie Corporate Sustainability/CSR/Social Entrepreneurship. Sie hat ihren Masterabschluss in Ökonomie und Management an der Tschechischen Agraruniversität Prag (Tschechische Republik) gemacht und anschließend an der Universität Freiburg (Schweiz) promoviert.

Integriertes nachhaltiges Personalmanagement Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann

1

 inführung: Personalmanagement vor E neuen Herausforderungen

Die nachhaltige Unternehmensführung ist zuallererst kein abstraktes sachlich-­technisch-­ planerisches Managementkonzept, sondern eine von den Unternehmensmitgliedern möglichst intensiv und authentisch mitgetragene, normativ geprägte Steuerungsvorstellung eines Unternehmens in Anerkennung seiner auch gesellschaftlichen Verantwortung. Entsprechend ist die Erkenntnis banal wie fundamental zugleich, wonach die „… Mitarbeiter die treibende Kraft für die Implementierung von Nachhaltigkeit in Unternehmen“ (Pampel 2010 nach Nitz 2016, S. 21) sind. Entsprechend gilt, dass „… Nachhaltigkeit nur durch entsprechend handelnde Menschen umgesetzt werden kann …“ (Bernatzky 2016, S. 52). Damit wird auch das Personalmanagement von Unternehmen in zweifacher Weise herausgefordert: Zum einen als personalzentrierter Förderer, Entwickler und Wegbegleiter einer nachhaltigen Unternehmensführung, zum anderen als Gestalter nachhaltiger Personalmanagementsysteme selbst. Die omnipräsente Dynamik in der betrieblichen Um- und Inwelt, getrieben von neuer Technologie und markanten marktlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, trifft die Unternehmen als Ganzes und alle ihre Subsysteme. Das Personalmanagement ist als trägerbezogenes System davon in besonderer Weise betroffen, weil hier viele Einflüsse auf der Makro-, Meso- und Mikro-Ebene zusammentreffen. „Ein zukunftsweisendes Personalmanagement hat heute vielfältigen Ansprüchen Rechnung zu tragen, die sich insbesondere aus der strategischen Ausrichtung des Unternehmens, internen Effizienzerfordernissen,

F. Ahlers (*) · K. Butzer-Strothmann Leibniz-Fachhochschule, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_12

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F. Ahlers und K. Butzer-Strothmann

den Interessenlagen der Mitarbeiter und gesellschaftlichen Ansprüchen ergeben. Einfach gestrickte und isoliert gehandhabte personalwirtschaftliche Einzelkonzepte können diesen miteinander vernetzten Ansprüchen nicht mehr hinreichend Rechnung tragen. Vor diesem Hintergrund rückt mehr und mehr ein integriertes Personalmanagement in den Vordergrund“ (Walther 2011, S. 161), was in gleichem Maße auch für das nachhaltige Personalmanagement gilt. Die von Bihl schon 1995 aufgestellte Forderung, wonach „… wir bei den langfristigen Gestaltungsfragen unserer Personalpolitik die Wertvorstellungen unserer Gesellschaft und damit unserer Mitarbeiter stärker als bisher einbeziehen“ (Bihl 1995, S. 40) müssen, stellt einen guten „Brückenschlag“ zu einem notwendigen nachhaltigen Personalmanagement her. Das von ihm benannte Konzept einer „werteorientierten Personalpolitik“ ist daher auch gut zwei Dekaden später noch richtungsweisend und auf veränderte Verhältnisse adaptierbar. Das Personalmanagement muss sich aber in vielen Unternehmen erst den eigentlich angemessenen Gestaltungs- und Entscheidungsrahmen „erkämpfen“, um Attribute wie „werteorientiert“ und „nachhaltig“ voll zur Geltung bringen zu können. „Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, reicht die lange Zeit existente und auch heute noch nicht immer ganz abgestreifte Rolle als weitgehend isoliert agierender administrativer Dienstleister […] mit ausschließlich operativer Funktionsausrichtung bei weitem nicht mehr aus“ (Ahlers et al. 2017, S. 1). Die Personalfunktion muss insofern in nicht wenigen Unternehmen sich erst neue Horizonte für sich erschließen, die im strategisch-integrativen Handlungsbereich mit echten Gestaltungsoptionen liegen.

2

I mpulsgeber und Zielsystem eines integrierten nachhaltigen Personalmanagements

2.1

 usgangsansätze: Integriertes und A nachhaltiges Personalmanagement

Das Themenfeld „integriertes nachhaltiges Personalmanagement“ lässt sich systematisch über die beiden schon in der Literatur hinreichend beschriebenen Einzelansätze „Integriertes Personalmanagement“ und „Nachhaltiges Personalmanagement“ erschließen. Wobei beide Ansätze – im Anklang an die Argumentation zur integrierten und nachhaltigen Unternehmensführung – aufgrund der Methodik- bzw. Inhaltszentriertheit deutliche Kompatibilitätspotenziale aufweisen. Zum integrierten Personalmanagement liegen einige konzeptionelle Ansätze vor, z. B. von Hilb (2017). Aufgrund von identifizierten vertikalen und horizontalen Integrationsdefiziten entwickelt er ein Konzept eines visionsorientierten integrierten Personalmanagements vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Managementkonzeptes und füllt es funktionsbezogen aus. Als Anspruch des Konzeptes formuliert Hilb (2017, S. 9): „Die wichtigsten Personalmanagementinstrumente sind miteinander zu integrieren, auf

Integriertes nachhaltiges Personalmanagement

219

eine ganzheitliche Unternehmensvision auszurichten und sollen durch die partizipative ­Entwicklung, Umsetzung und Evaluation des Konzepts möglichst auf alle Anspruchsgruppen des Unternehmens stimulierend wirken.“ Die integrative Leistung des Ansatzes besteht in der im „Personalmanagement-Würfel“ abgebildeten integrativen Betrachtung von Managementdimensionen, Personalfunktionen und Anspruchsgruppen (Hilb 2017, S. 16). Den Kern beim integrierten Personalmanagementansatz von Holtbrügge (2018, S. 37 ff.) bildet ein Regelkreis, bei dem die Systemparameter Akteure, Bedingungen, Instrumente und Effizienz zueinander in Beziehung stehen. Die DGFP (2012, S. 37) stellt folgende Definition vor: „Ein integriertes Personalmanagement bezeichnet ein ganzheitliches Personalmanagementkonzept, das auf einem wechselseitigen Zusammenspiel der einzelnen Aktivitäten des Personalmanagements (horizontaler Fit) sowie der Personalmanagementaktivitäten und der unternehmensinternen und -externen Kontextbedingungen (vertikaler Fit) beruht.“ Die Überlegungen münden ein in ein Modell eines integrierten, prozessorientierten Personalmanagements (DGFP e. V. 2012, S. 34). Diesen beispielhaft angeführten Ansätzen eines integrierten Personalmanagements sind wichtige nachhaltige Elemente inhärent, z. B. die systemische und vernetzte Orientierung personalwirtschaftlicher Handlungen vor dem Hintergrund einer expliziten Wertebasis. Vorliegende Ansätze zum nachhaltigen Personalmanagement bedienen sich z. T. unterschiedlicher Zugangswege und Interpretationsmuster zur Themenerschließung und -konkretisierung und zeichnen insofern nur bedingt ein einheitliches Bild (dazu Kirschten 2016, S. 190 f.), was insbesondere der Interpretationsbreite des Begriffes Nachhaltigkeit geschuldet ist. Eine recht treffende Kennzeichnung des nachhaltigen Personalmanagements findet sich bei Ehnert (hier aus App 2015, S. 19): „Sustainable HRM is the pattern of planned or emerging human resource strategies and practices intended to enable organizational goal achievement while simultaneously reproducing the HR base over a long-lasting calendar time“. Für Kosel und Weißenrieder (2010, S. 11) bedeutet – weitgehend in Einklang stehend mit der Definition von Ehnert – nachhaltiges Personalmanagement die Ausrichtung der Personalarbeit an langfristigen Zielen mit Fokus Entwicklung und Ausschöpfung von Potenzialen. Für sie stellt nachhaltiges Personalmanagement ein integriertes Gesamtkonzept dar (Kosel und Weißenrieder 2010, S. 12). Auch die integrative Gestaltungsperspektive berücksichtigt Kirschten (2017) in ihrem umfassenden ausgearbeiteten Ansatz eines nachhaltigen und zukunftsfähigen Personalmanagements. Ein zentraler idealtypischer Anspruch des nachhaltigen Personalmanagements ist eine zielorientierte Vereinbarkeitsstrategie, die die harmonisierende und ausgleichsorientierte Abstimmung von individuellen, organisatorischen und gesellschaftlichen Zielen umfasst (Blumenstock 2013, S. 87). Solche Zielharmonien sind allerdings in reiner Form oft nur schwer zu verwirklichen. Zum Beispiel impliziert der ökonomisch begründbare Aspekt der „Nachhaltigkeit wertvoller Humanressourcen“ (Ringlstetter und Kaiser 2008, S. 46) mit Betonung auf „wertvoll“ und einer entsprechenden engen Begriffsauslegung, eine Identifizierung und Priorisierung von besonders wertvoll gehaltenen Mitarbeitergruppen

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F. Ahlers und K. Butzer-Strothmann

und ihrer zielgruppenspezifischen Behandlung, z.  B. bei Personalbindungsmaßnahmen, was mit dem ethisch-sozialen Wert- und Werteverständnis schwieriger in Einklang zu bringen ist.

2.2

Ansatzzusammenführung und Zielsystembestimmung

Führt man die im vorigen Abschnitt beschriebenen beiden Einzelsätze zusammen, lässt sich auf die Grundintention und -struktur eines „integrierten nachhaltigen Personalmanagements“ schließen. Wobei schon Ansatzpunkte zu einem substanziellen integrierten nachhaltigen Personalmanagement vorliegen. Zum Beispiel hat Kirschten (2016, S. 193) ein integratives Konzept eines nachhaltigen und zukunftsfähigen Personalmanagements entwickelt, dass neben den originären Personalfunktionen mit ihren Verknüpfungen auch themenaffine Bereiche, wie z.  B.  Wissensmanagement und Veränderungsmanagement, umfasst. Sie sieht den Ansatz selbst unter dem Vorzeichen des „work in progress“ als nicht abschließend an (Kirschten 2016, S.  202). Auch der schon angeführte Ansatz von Hilb lässt sich hier als integrierter Ansatz mit Nachhaltigkeitselementen einordnen. Bei einem integrierten nachhaltigen Personalmanagement fungiert die Funktion HRM als kompetenzzentrierter „Befähiger“ und „Unterstützer“ der anderen Organisationseinheiten in ihren Bemühungen zu verstärkten Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsanforderungen (Fischer et al. 2019, S. 56). Ein integriertes nachhaltiges Personalmanagement kann besser als durch eine nahezu zwangsläufig zu kurz greifende Kompaktdefinition möglich anhand von konstitutiven Elementen definitorisch charakterisiert werden. Danach ist ein integratives nachhaltiges Personalmanagement gekennzeichnet durch • ein von der normativen Leitidee der Nachhaltigkeit geprägtes Personalmanagement, • das durch die horizontale und vertikale Integration personalwirtschaftlicher Handlungsvollzüge, bzw. die Verknüpfung von normativen, strategischen und operativen Personalaspekten, einen expliziten integrativen Charakter hat, • dabei nachhaltigkeitsaffine personalwirtschaftliche Felder, wie z. B. die Potenzialidentifikation und -förderung bei Mitarbeitern, besonders fokussiert und • sich als proaktives Gestaltungshandeln mit dem bewussten Aufgreifen zukünftiger Herausforderungen versteht, um personalseitig die Unternehmenszukunft abzusichern. Diese  – sicherlich noch nicht abschließende  – elementbezogene Definition enthält schon einige Ansatzpunkte für die Ziele eines integrierten nachhaltigen Personalmanagements. In Anklang an den „resource based view“, kann die Substanzerhaltung bzw. der Substanzzuwachs des gegenwärtigen und zukünftigen Humanressourcenpools als Ziel identifiziert werden. Darüber hinaus hat eine ausgeprägte nachhaltige und verantwortungsbewusste Unternehmens- und Personalpolitik grundsätzlich positive Auswirkungen auf die Mitarbeitermotivation, wonach „… employees are more motivated to work hard

Integriertes nachhaltiges Personalmanagement

221

for companies that they believe are responsible corporate citizens“ (Bhattacharya et  al. 2012, S. 252). Gleiches darf für die Personalbindung angenommen werden. Damit eng verbunden ist der Auf- und Ausbau einer betrieblichen Sinnbasis, die den Unternehmensmitgliedern als Orientierungspunkt dient. Eine integrierte nachhaltige Unternehmens- und Personalführung, die aus einer entsprechenden Unternehmensphilosophie hervorgeht, bietet eine substanzielle Grundlage zur Bereitstellung von „… Möglichkeiten einer Sinnfindung von Menschen in der Unternehmung“ (Bleicher und Abegglen 2017, S. 165). Im Umkehrschluss gilt es, reales oder wahrgenommenes unethisches Verhalten im Kontext des Human Resource Management zu verhindern, weil ein solches Verhalten in einer medialen transparenten Welt Image- und Reputationsschäden nach sich ziehen würde (dazu Den Nieuwenboer und Trevino 2019, S. 508), die auch den Personalbereich in Form von Fluktuation bzw. begrenzteren Rekrutierungsmöglichkeiten treffen würde.

3

 benenbezogene Ausprägungsformen eines integrierten E nachhaltigen Personalmanagements

Im Folgenden wird anhand der bekannten St. Galler Managementebenen-Triade „normativ“, „strategisch“ und „operativ“ thematisiert, welche (exemplarischen) Inhaltsfelder ein integriertes nachhaltiges Personalmanagement ausmachen (können).

3.1

 ormative Ebene: Werteorientiertes Personalmanagement als N Integrations- und Nachhaltigkeitsobjekt

Als normativ prägendes Element eines nachhaltigen, aber auch integrierten Personalmanagements kann die Werteorientierung identifiziert werden. Bezogen auf das nachhaltige Personalmanagement gilt dieses explizit, da als konstitutive Elemente dieses Ansatzes z. B. ein positives Menschenbild und eine Vertrauenskultur angeführt werden (Blumenstock 2013, S. 86). Aber auch das integrierte Management St. Galler Prägung à la Bleicher betont mit der Fokussierung des humanistischen Managementparadigmas diesen Aspekt (Bleicher 2011, S. 558 f.). Letztlich geht es um den „verantwortungsvollen Umgang mit Humanvermögen“ (dazu ausführlich Müller 2011) im Unternehmen, wobei der Begriff „verantwortungsvoll“ viel Interpretationsspielraum zulässt und gleichzeitig Konkretisierungsbedarf einfordert. Die damit verbundenen Hintergrundphilosophien müssen nicht zwangsläufig einer nachhaltigen Denkweise entspringen, sie können z. B. auch auf einer christlich-ethischen Grundeinstellung beruhen. Ein solcher postulierter verantwortungsvoller Umgang mit den im Unternehmen tätigen Menschen (um den nicht ganz unproblematischen Begriff der Humanressoucen von oben zu vermeiden) lässt sich auf der normativen Ebene in dem Bereich der Personalethik verorten.

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F. Ahlers und K. Butzer-Strothmann

Weitgehende Forderungen sehen im Kontext des nachhaltigen Personalmanagements „… den Mitarbeiter als gleichberechtigten, sich auf Augenhöhe befindlichen Partner im Unternehmen an“ (Blumenstock 2013, S.  86). Begriffe wie „gleichberechtigt“ bzw. „Partner“ können natürlich sehr schnell Kritik auf sich derart ziehen, dass hier eine realaverse Wunschsituation gekennzeichnet wird. Zumindest wird die Eigenverantwortung der Mitarbeiter gegenüber der Fremdbestimmung in personellen Angelegenheiten stärker in den Vordergrund treten: „By allowing personnel to take part in decision making, it turns from an object into a self-responsible subject of personnel management“ (Müller-Christ 2011, S. 182). Eine zentrale Herausforderung und ein verbindendes Element der Organisationseinheiten wäre die Entwicklung einer gemeinsamen Nachhaltigkeitskultur (Fischer et al. 2019, S. 57) als originäre Aufgabe auf der normativen Ebene. Allerdings setzen solche Kulturänderungen in Richtung CSR/Nachhaltigkeit, neben den notwendigen Interventionen bezüglich der Kultur selbst, einen entsprechenden Reflexionsprozess bei den Führungskräften und Mitarbeitern mit dem Ziel von oft grundlegenden Einstellungsänderungen voraus (Bruton 2017, S. 108). Dieses ist i. d. R. ein längerfristiger Prozess mit vielfältigen He­ rausforderungen für die kulturänderungsinitiierenden Systemeinheiten.

3.2

 trategische Ebene: Ausprägungsmuster S integrativ-­nachhaltiger HR-Strategien

Dem integrierten Verständnis folgend sollte sich die auf der normativen Ebene festgelegte Werteorientierung dem Realisierungsanspruch entsprechend dann in den HR-Strategien wiederfinden. Dieses Postulat gilt generell für das Thema Nachhaltigkeit: „Um Nachhaltigkeit in das alltägliche Handeln der Unternehmen erfolgreich zu integrieren, ist es wichtig, dass sie als Wert Teil der definierten und gelebten Strategie eines Unternehmens wird“ (Günther und Stechemesser 2016, S. 206). Dabei stellt personalethisches Handeln als zentrale Wertegrundlage eines nachhaltigen Personalmanagements auf langfristige Wirkungshorizonte ab (Berthel und Becker 2017, S. 817), hat also auch von der Zeitperspektive her strategischen Charakter. Nachhaltigkeit kann sowohl in die gesamtunternehmensbezogene Personalstrategie, als auch in die Strategien der personalfunktionalen Teilpolitiken integriert werden, bzw. dort eigene Maßstäbe setzen. Gesamtunternehmensbezogen wären z. B. langfristige Akzentsetzungen, wie ein aktives Diversity-Management, in Unternehmen denkbar, die mehr oder weniger auf alle Personalfunktionen abstrahlen. Bezogen auf die personalwirtschaftlichen Teilfunktionen sind vielfältige strategische Akzentsetzungen denkbar, von denen hier im Folgenden nur einige exemplarisch thematisiert werden. Einen grundsätzlichen und damit strategischen Charakter hat z.  B. die Frage, ob und wie nachhaltigkeitsorientierte Anreizsysteme (dazu z. B. Brühl 2018, S. 170 ff.) in Unternehmen gestaltet werden sollen, damit das nachhaltigkeitsgeprägte Langfrist-

Integriertes nachhaltiges Personalmanagement

223

denken von Managern gegenüber der kurzfristigen Zielorientierung stärker honoriert wird. Entsprechende Managementinstrumente, wie z. B. eine Balanced Scorecard mit entsprechenden Zielkategorien, sind von Nöten, um gerade für die Nachhaltigkeit dysfunktionalen Wirkeffekten aufgrund der Überbetonung kurzfristiger Zielerreichung vorzubeugen. Auch in diesem Subsystemkontext kann „… die integrale Meta-Steuerung Grundlage für eine ausgewogene, nachhaltige Unternehmenssteuerung sein …“ (Julmi und Zuraw 2019, S. 23). Primär strategischen Charakter hat z. B. auch die Entwicklung von integrierten Karrieresystemen in Unternehmen (dazu ausführlich Wagner und Ahlers 2017). Einen mitarbeiterorientierten Aspekt der Nachhaltigkeit decken sie durch die Betrachtung lebensphasenorientierter Karrieremuster ab. Eine spezielle Komponente stellen in diesem Kontext Karrieren für Erfahrungsträger in Unternehmen dar, also Karrieremuster für Mitarbeiter über 50 Jahren (dazu näher Ahlers und Gülke 2013). Diese Karrieremuster haben insofern personalbezogen nachhaltigkeitsorientierte Züge, da die in der Nachhaltigkeitsdebatte thematisierte Generationengerechtigkeit hier dahingehend gedeutet werden kann, dass auch in Betrieben allen Generationen im Prinzip die gleichen Chancen auch des Aufstiegs zuteil werden sollten.

3.3

 perative Ebene: Integrierte Nachhaltigkeit O in basisnahen Personalprozessen

Damit das integrierte nachhaltige Personalmanagement für die einzelnen Unternehmensmitglieder „erfahrbar“ und zugleich auch konkret wertschöpfend wird, muss es über die Strategien in die operativen Personalprozesse einfließen. Dabei kommen dafür grundsätzlich alle Personalprozesse in Frage: „Der Ansatz eines ganzheitlichen und nachhaltigen HRM muss stets den gesamten Personalzyklus umfassen: Von der Personalbeschaffung über die Entwicklung und Förderung der Mitarbeiter bis zu ihrer Freisetzung …“ (Ziesmer 2014, S. 533). Gerade die Adressierung nicht nur einzelner, sondern aller relevanten Personalprozesse und ihre gegenseitige synergetische Abstimmung sind für ein integriertes nachhaltiges Personalmanagement fundamental. Insofern gilt es, „… die Kernprozesse der Personalarbeit bzw. des Personalmanagements danach zu durchleuchten, ob und inwieweit sie wertekonform (hier mit Blick auf Nachhaltigkeit, Anm. der Verfasser) ausgestaltet sind …“ (Löhr 2016, S. 156). Mit Blick auf die normative Ebene gilt es, eine tragfähige Verbindung zwischen der nachhaltigen betrieblichen Wertebasis und den einzelnen HR-Prozessen im Rahmen eines integrierten HRM-Systems herzustellen (Maak und Ulrich 2007, S. 437). Der gesamte Personalzyklus, beginnend mit der Personalplanung und -beschaffung über die Personalführung bis hin zur -freisetzung, ist insofern nachhaltig aufzustellen. Dabei sollen die einzelnen Personalfunktionen horizontal untereinander integriert sein: „Jede und jeder Mitarbeitende soll die Personalarbeit über die Personalfunktionen ‚inte­ griert‘ erleben  – vom ersten Kontakt als Bewerberin und Bewerber bis weit über das

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­ eschäftigungsverhältnis hinaus als Mitglied im Alumni-Netz“ (Fraunhofer 2015, S. 9). B Im Folgenden werden exemplarisch einige markante Ansatzpunkte herausgegriffen; einen umfassenden und systematischen Überblick über die nachhaltige Ausgestaltung der einzelnen personalwirtschaftlichen Funktionsbereiche liefert z.  B.  Kirschten (2017, ­ S. 100 ff.). Bezogen auf die Personalbeschaffung/-auswahl könnte das z. B. bedeuten, „… Personen mit einer gewissen Moralität als Mitarbeiter auszuwählen …“ (Göbel 2017, S. 221), die ein umfassendes ethisch-nachhaltiges Unternehmensverständnis mittragen. Dies stellt aber hohe Anforderungen an die Personalauswahl und speziell an die verwandte Fragetechnik und die anschließende Antwortinterpretation. Ein weiterer exemplarischer Themenkreis ist die Schaffung neuer Arbeitswelten für bestehende und potenzielle Mitarbeiter (Günther und Stechemesser 2016, S.  207  f.). Einer von vielen möglichen Ansätzen, die sich mit der Kardinalfrage „Was ist gute Arbeit“ (Treier 2009, S. 31) beschäftigen, ist dabei die „Sinnstiftende Arbeit“. Sie stärkt vom Prinzip her „… die Selbstachtung und trägt damit zum Eindruck bei, ein gelingendes Leben zu führen“ (Huppenbauer 2017, S. 233). Sie spiegelt damit auf der betrieblichen Mikroebene, den Mitarbeitern eines Unternehmens, ein gewichtiges Stück Nachhaltigkeit wider. Ein besonders originärer Ansatzpunkt eines nachhaltigen Personalmanagements ist die betriebliche Gesundheitsförderung (näher z. B. Sonntag et al. 2016; auch Englert 2019). Hiermit wird aus Unternehmenssicht die Erhaltung des Personalvermögens in Unternehmen adressiert, aus Mitarbeitersicht das in ihrem originären Eigeninteresse liegende Gut Gesundheit. Hierin spiegelt sich das ethisch-nachhaltig geprägte betriebliche Ziel, auch das Wohlergehen seiner Mitarbeiter im Auge zu haben (Berthel und Becker 2017, S. 816) bzw. das vorhandene Humanressourcenreservoir „pfleglich“ zu behandeln (Elias-Linde 2013, S. 242), in besonders erfahrbarer Weise wider. Gerade auch bei besonders konfliktär erscheinenden Personalaufgaben, wie der Personalfreisetzung, hat Nachhaltigkeit ihren Platz. Wobei hier weniger an personenbedingt veranlasste Personalfreisetzungen gedacht wird als an betriebsbedingte Personalanpassungsmaßnahmen, z. B. aufgrund von Betriebsstillegungen, die ohne Zutun und Verschulden der Mitarbeiter erfolgen. Gerade den betroffenen langjährigen Führungskräften kann hier ein Outplacement angeboten werden, das neben wirtschaftlichen Kalkülen, wie der Verringerung von Abfindungen, auch explizit eine Verantwortung des Unternehmens gegenüber den betroffenen Mitarbeitern symbolisiert bzw. symbolisieren kann. Auch bei der Analyse einzelner Personalprozesse und -funktionen auf Sub- und Sub-Sub-Systemebene darf aber nicht der übergeordnete Blickwinkel außer Betracht gelassen werden: „Die elementare Sichtweise auf ein Einzelproblem muss also immer durch eine ganzheitliche und zugleich integrative Sichtweise auf mindestens den gesamten Personalbereich, wenn nicht sogar die gesamte Unternehmung ergänzt werden“ (Drumm 2008, S. 579).

Integriertes nachhaltiges Personalmanagement

3.4

225

Ebenen übergreifende Abstimmung und Verzahnung

Die in den Vorkapiteln angeführten Aspekte sind oft nicht eindeutig der normativen, strategischen und operativen Ebene zuzuordnen. Dieses deutet schon auf die enge Verzahnung der drei Ebenen hin, was letztlich den Grundstein für eine integrierte Betrachtungsweise legt. Idealtypisch sollten damit im Rahmen eines integrierten nachhaltigen Personalmanagements normative nachhaltige Akzentsetzungen z. B. in Richtung eines verantwortungsvollen Umgangs mit seinen Mitarbeitern in die Klaviatur an Personalstrategien einfließen, die wiederum in konkrete und erfahrbare nachhaltige Handlungsmuster für die Mitarbeiter münden, etwa in Form von Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung. Diese ebenenübergreifende vertikale Integration hat aber einen ideal- und damit nicht immer einen realtypischen Charakter. Denn die wichtigen Schnittstellenfunktionen zwischen diesen Ebenen müssen von unterschiedlichen Verantwortungsträgern des Personalmanagements ausgeübt werden, die insbesondere von einer nach­ haltigen Ausrichtung der Personalarbeit überzeugt sein müssen, sollen sie ihrer Konkretisierungsaufgabe in den basisnäheren Personalfunktionen voll nachkommen. Auch ist die vertikale Integration der Personalebenen nicht als „Einbahnstraße“ zu verstehen. Impulse können auch von der operativen Ebene kommen und sich dann ihren Weg in die strategische und normative Ebene bahnen. Gerade dieses ist Ausdruck eines integrierten nachhaltigen Personalmanagements derart, dass sich die Adressaten von Maßnahmen zugleich als auch deren aktive Mitgestalter verstehen, sie also nicht nur in der Empfängerrolle sind.

4

 ersonifizierbare Komponente eines integrierten P nachhaltigen Personalmanagements

„Ganzheitlichkeit ist über die Leitidee einer integrierten Unternehmensführung hi­ naus auch ‚personifizierbar‘ als eine spezielle Denk- und Handlungsweise, die den Menschen als Problemlöser in den Fokus rückt“ (Steinle et al. 2008, S. 91). Dies gilt unisono auch für die nachhaltige Unternehmensführung bzw. das nachhaltige Personalmanagement, denn nachhaltig verhalten sich neben dem Systemsubstrat (Unternehmen) auch die Systemmitglieder (Mitarbeiter). Besonders gefordert, gewissermaßen als personalisierte Nachhaltigkeit, ist zunächst das Top-Management in seiner Funktion als Richtungsgeber der Unternehmensführung. Aber auch die Leitungskräfte der nachfolgenden Ebenen sind hier gleichermaßen als Initiator und Impulsgeber für Nachhaltigkeit/Corporate Responsibility gefordert: „Other executives (CR managers, functional heads, heads of business units, regional managers) may not want to wait for top-management initiatives and begin change in their own area of responsibility“ (Hansen 2010, S. 257).

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Für Mitarbeiter sind Führungskräfte die am stärksten direkt wahrnehmbare Verkörperung der Führung in ihrem Unternehmen im operativen Tagesgeschäft und Mittler (oder Nicht-Mittler) nachhaltigen Denkens und Handelns. Entsprechend sollten sie im Idealfall nachhaltig-ethische Aspekte verkörpern und diese an ihre Mitarbeiter weitervermitteln: „As a moral manager, managers must be aware of ethical issues, encourage others at work to behave ethically, and hold employees accountable for ethical behavior“ (Collins 2019, S. 239 f.). Die Führungskräfte sollen im Idealfall ein hohes Maß an Integrität verkörpern, was durch ihre konstitutiven Elemente Ganzheit, Authentizität, Moralität, Entsprechung von Worten und Taten und Standhaftigkeit im Angesicht von Widerständen (Weibler 2016, S.  652  f.) enge Verknüpfungen zu einem integrierten nachhaltigen Personalmanagement mit Fokus Führung aufweist. In diesem Zusammenhang rückt z. B. die Diskussion um einen „Ethical Leadership“ in den Vordergrund (dazu z. B. Huppenbauer 2017, S. 228 ff.; Collins 2019, S. 239 ff.). Mit Bezug zum Integrationskontext wird von den Führungskräften ein „Holistic Leadership“ (dazu z.  B.  Dhiman 2017) eingefordert. Operativ werden zur Umsetzung z. B. Ethik-Trainings empfohlen (z. B. Berthel und Becker 2017, S. 818; Collins 2019, S. 147 ff.), wobei diskussionsfähig bleibt, ob Ethik ein klassischer Schulungsgegenstand ist. Unbeschadet der besonderen Rolle der Führungskräfte als Mittler der Werte-­ grundlagen ist aber die Erkenntnis, das Ethik und Nachhaltigkeit eine Herausforderung für alle Mitarbeiter des Unternehmens sind (Löhr 2016, S. 140). Nicht nur Ethik-­Trainings, sondern auch die Potenzial- und Persönlichkeitsentfaltung sind Ausdruck der Personalentwicklung als Teil eines verantwortlichen Personalmanagements (Göbel 2017, S. 240). Die Führungskräfte haben auch eine verhaltensbezogene Vorbildfunktion gegenüber ihren Mitarbeitern: „Die Führungskraft selber muss ein (nachhaltiges, Einschub durch Verfasser) ganzheitliches Denken und Handeln nicht nur zu besonderen Problemlösungsanlässen, sondern auch im täglichen Handeln praktizieren und damit vorleben, ansonsten kann dies auch nicht von Mitarbeitern erwartet werden“ (Ahlers und Gülke 2017, S. 16). Es ist damit ein Zeichen gelungener Integration, wenn auch zum Tagesgeschäft gehörende Entscheidungen, wie z.  B.  Bestellvorgänge, auch unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten getroffen werden. Die personifizierbare Komponente einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung muss auch über die einzelne Führungskraft als singulären Entscheider hinausreichen. „Gerade das Themenfeld Nachhaltigkeit ist durch einen Multi-Perspektivismus“ gekennzeichnet und fordert daher auch eine multipersonale Perspektive ein. Gerade bei einer intendierten „… möglichst ganzheitlichen Erfassung komplexer interessengeleiteter Ausgangslagen vor dem Hintergrund der involvierten Anspruchsgruppen“ (Ahlers und Gülke 2017, S. 20), wie es bei nachhaltigen Entscheidungsfragen in hohem Maße gegeben ist, sind kollektive Entscheidungsgremien mit in- und evtl. externer Expertise nahezu vorgezeichnet. Sie repräsentieren – im Idealfall – eine „gebündelte Intelligenz“ in Sachen der Entwicklung und Umsetzung eines integrierten nachhaltigen Unternehmenskonzeptes. Die Teams selbst stellen gerade bei einem interessengeleiteten und damit per se konfliktären Thema wie Nachhaltigkeit aber hohe Ansprüche an die Diskursfähigkeit der Teilnehmer (dazu näher z. B. Eggers und Ahlers 2011).

Integriertes nachhaltiges Personalmanagement

227

Die Personalführung hat eine besondere „Strahlkraft“ für die Realisierung eines nachhaltigen Personalmanagements. Lässt sie doch  – bei einer zukunftsorientierten Ausprägung – den Mitarbeitern Handlungsspielräume mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung. Ein übergeordneter zentraler Fokuspunkt ist dabei die Sinnstiftung und -vermittlung. Darunter soll „… die Genese und Weitergabe unternehmungsindividueller Orientierungsund Wertmuster durch und an alle Mitarbeiter verstanden werden“ (Ahlers 1996, S. 78). Gerade Nachhaltigkeit kann dabei einen hohen Sinnwert für Unternehmen und Mitarbeiter entfalten. Unternehmen können damit, wenn sie ausgesprochen nachhaltig agieren, gerade nachhaltigkeitsaffinen Mitarbeitern „… gemeinschaftliche Wege zur individuellen Sinnfindung“ (Sander 1995, S. 40) anbieten. Die Sinn-Thematik hat in vielerlei Hinsicht an Bedeutung für Unternehmen gewonnen. So weisen gerade hoch qualifizierte Arbeitskräfte der jüngeren Generationen Y und Z hohe Erwartungen und Anforderungen an die gesellschaftliche Sinnhaftigkeit ihrer eigenen Tätigkeiten in Unternehmen auf (Weissenberger-­ Eibl und Braun 2019, S.  262) und machen diese mit zu entscheidenden Eintritts- bzw. Austrittskriterien.

5

„ Neu-Justierung“ und „Stimmigkeit“ der integriert-­nachhaltigen Personalsysteme vor dem Hintergrund veränderter Herausforderungen

Wenn auch die Kerndimensionen „Integration“ und „Nachhaltigkeit“ des integrierten nachhaltigen Personalmanagements von ihrer jeweiligen Grundintention her nicht der Gefahr der eigentlichen Obsoleszenz unterliegen, so sind die darunter subsumierbaren personalwirtschaftlichen Prozessinhalte aber periodisch vor dem Hintergrund veränderter He­ rausforderungen neu zu justieren. Die „Stimmigkeit“ der integriert-nachhaltigen Personalsysteme ist wieder aufs Neue herzustellen, wenn sich einzelne Personalfunktionen substanziell verändern. Das Handlungsfeld der zukünftigen Personalwirtschaft, und speziell Personalführung, wird „bunter“ und differenzierter werden, denkt man z. B. an Tendenzen der Internationalisierung, Individualisierung, Digitalisierung etc. Diese Tendenzen prägen maßgeblich mit auch die Art der Umsetzung eines nachhaltigen Personalmanagements. Die zunehmende Internationalisierung eröffnet z. B. mehr Potenzial für das Diversity Management kultureller Prägung und die Digitalisierung sieht die Führungskräfte verstärkt in der Rolle als „Enabler für digitales Mindset“ (Weisbender 2019, S. 14). Ein integriertes nachhaltiges Personalmanagement mit expliziter Grundwerteorientierung kann gerade in den an Fahrt aufnehmenden Digitalisierungsprozessen, die vermehrt mit Unsicherheiten auf Mitarbeiterseite verbunden sind, einen wichtigen Orientierungspunkt darstellen, der gerade in turbulenten Zeiten ein gewisses Maß an Halt vermitteln könnte. In Anlehnung an die Leerstellengerüst-Metapher des integrierten Managements sollte ein integriertes nachhaltiges Personalmanagement den Rahmen bieten, um unter Heranzug geeigneter konzeptioneller Ansätze, wie der „Differentiellen Personalwirtschaft“

228

F. Ahlers und K. Butzer-Strothmann

(dazu näher Morick 2002), Antworten auf Fragen, wie z. B. der gleichzeitigen Führung verschiedener Generationen (dazu z. B. Klaus und Schneider 2016, S. 195 f.), zu geben. Die integrierte nachhaltige Personalwirtschaft bewegt sich damit in permanenten Spannungsbereichen, wie z. B. der Einheitlichkeit und Differenzierung/Individualisierung von Personalsystemen. Die mit Nachhaltigkeit mittelbar mitschwingende Facette der langfristigen werteorientierten Grundorientierung darf ihr insofern ein vitales Handeln entsprechend neuer Herausforderungen nicht beschneiden. Ein nachhaltiges Humanressourcenmanagement muss sich verstärkt auch der Situation stellen, dass Unternehmensgrenzen durch Netzwerke etc. fließender werden und die langfristige personalzentrierte Potenzial- und Ressourcenbetrachtung über Systemgrenzen hinaus an Bedeutung gewinnen (Elias-Linde 2013, S. 170 f.). In einer zunehmend vernetzten Arbeitswelt, die sich um Wissenserwerb und -austausch rankt, gewinnt ein kollaboratives Personalmanagement an Bedeutung, wo die Personalfunktion zu einem wichtigen Knotenpunkt in einem Unternehmensnetzwerk avanciert (Weilbacher 2017, S. 33). Die Netzwerkmitglieder müssen damit nicht mehr klassische Vertragsangestellte des Unternehmens sein, sondern könnten z. B. als Freelancer fungieren. Neben der originären personalbezogenen Verantwortung für die eigenen Mitarbeiter stellt sich dann die Frage des Grades der Ausdehnung dieser Verantwortung auch auf freie Mitarbeiter.

6

 azit: Integrierte nachhaltige Personalkonzepte als zentraler F Beitrag zur Zukunftsfähigkeit von Unternehmen

Die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen abzusichern erweist sich in einem marktwirtschaftlichen System immer wieder aufs Neue als Herausforderung. Dem Personal kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu, denn die viel geforderte Vitalität von Unternehmen beginnt bei ihren Mitarbeitern: „Ein System ist nur so vital wie es seine Mitglieder sind“ (Steinle et al. 2001, S. 127). Ob sich aber trotz der originären Erfolgsfaktors Personal das Personalmanagement in Zukunft „… zum bedeutendsten Bereich des Managements entwickeln wird“ (Nicolai 2018, S. 433), bleibt abzuwarten. Unbestritten ist aber, dass das Personalmanagement ein zentraler Wegbereiter der Zukunftsfähigkeit von Unternehmen ist. Insofern gilt: „Im Unternehmen der Zukunft kommt der Ressource Personal eine Schlüsselrolle zu“ (Nicolai 2018, S. 439). Die Arbeits- und Führungswelt 4.0 wird vieles „durcheinanderwirbeln“ und mit neuen Konzepten, wie z. B. der „postheroischen Führung“ (Müller-Wiegand 2018, S. 117), verbunden sein, die den Positions- gegenüber dem Funktionsfokus nicht mehr so stark in den Vordergrund stellt. Umso mehr und dringender braucht es bei diesen sich abzeichnenden Veränderungen eines nachhaltigen Personalmanagements mit zeitbeständigen Werteelementen, die eine Grundorientierung in dynamischen Zeiten geben. Mit neuen Organisationsformen und Netzwerkstrukturen im Kontext der digitalen Entwicklung kann  – wie

Integriertes nachhaltiges Personalmanagement

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schon angedeutet  – auch dringlicher die Frage der Verantwortung des HRM für nicht ­direkt anstellungsmäßig beschäftigte Personengruppen wie den sogenannten „Freelancern“ aufkommen (Olbert-Bock und Levy-Tödter 2019, S. 352). Insgesamt wird heute und in der Zukunft vom integrierten nachhaltigen Personalmanagement ein Balanceakt im latenten Spannungsverhältnis zwischen den ökonomischen Belangen des Unternehmens und den subjektgeprägten Interessenlagen der Mitarbeiter vor dem Hintergrund immer neuer Anforderungen abverlangt werden. Dabei sind die Ziele der personalrelevanten Akteure „… nicht prinzipiell konfliktär, aber eben auch nicht prinzipiell und automatisch in Harmonie“ (Wittmann 1998, S. 173). Die Austarierung dieser Zielsysteme unter Berücksichtigung eines hohen Verantwortungsbewusstseins den Mitarbeitern gegenüber, auch im digitalen Zeitalter und darüber hinaus, ist eine permanente Herausforderung für eine zukunftszugewandte nachhaltige Personalpolitik. Wenn auch vieles unsicher ist, so ist doch ziemlich sicher, das „good HRM practices“ (McLaughlin 2019, S. 282), wie sie ein integriertes nachhaltiges Personalmanagement mit entsprechenden Inhalten repräsentiert, ein wichtiges Element eines zukunftsfähig aufgestellten Unternehmens in dynamischen Zeiten sein wird.

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232

F. Ahlers und K. Butzer-Strothmann Prof. Dr. Friedel Ahlers  ist seit 2011 Professor für ABWL mit Schwerpunkten Unternehmensführung und Personalwirtschaft an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover. Zuvor war er Dozent an der Leibniz-Akademie, davor einige Jahre Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Die Jahre zuvor arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Leibniz Universität Hannover (Institut für Unternehmensführung und Organisation). Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 1993. Das wirtschaftswissenschaftliche Studium wurde in Hamburg und Oldenburg absolviert.

Prof. Dr. Kristin Butzer-­Strothmann  Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing und Empirische Sozialforschung an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover seit 2011. Zuvor war sie ab 2009 Dozentin an der Leibniz-Akademie und bis 2018 Vizepräsidentin für Lehre und Forschung. Sie leitet den Masterstudiengang „Integrierte Unternehmensführung (digital/nachhaltig)“. Nach einer Lehre zur Werbekauffrau und dem Studium der BWL in Lüneburg promovierte sie zum Thema „Krisen in Geschäftsbeziehungen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 1998 bis 2009 arbeitete sie als Marktforscherin und Marketing-Consultant im Business- und Non-Business-Bereich. Darüber hinaus war sie für verschiedene Hochschulen und Bildungsinstitutionen als externe Dozentin für Marketing, Marktforschung sowie Industriebetriebslehre tätig.

#nachhaltig #digital #führen CSR, CDR und SDGs in Führung und Weiterbildung Michael Barsakidis und Wolfgang Keck

1

 SR managen heißt Führen mit (mehr) C Nachhaltigkeitskompetenz

Corporate Social Responsibility (CSR) muss ein neues Qualitätsniveau erreichen, damit Unternehmen im Wandel von Markt, Gesellschaft und Umweltbedingungen ihre volle Zukunftsfähigkeit entfalten können. Warum? In vielen mittelständischen und großen Unternehmen führen CSR-Manager und Nachhaltigkeitsbeauftragte das noch relativ junge Thema in die Sackgasse: Gesellschaftliche Unternehmensverantwortung wurde und wird weiterhin als „Management neben dem Management“ betrieben. Es entwickelt sich eine eigene CSR-Welt im Unternehmen, die sich mit immer höherem Insiderwissen verbunden weiter von der Basis abkoppelt und an externe Consultants andockt, um möglichst viele Kennzahlen zu CSR für eine verschwindend kleine, kritische Fachöffentlichkeit auf­ zubereiten. Neu hinzugekommene Berichtspflichten wie etwa das CSR-Richtlinie-­ Umsetzungsgesetz, stärken bislang eher die oben beschriebene Tendenz, anstatt CSR und Nachhaltigkeit im Unternehmen auf breitere Füße zu stellen. Das frustriert nicht nur CSR-Manager und Nachhaltigkeitsbeauftragte, sondern auch deren Controller. Doch die Situation muss nicht ausweglos bleiben. Denn effektiver und effizienter als eine CSR- und Nachhaltigkeitsstrategie ist eine nachhaltige Unternehmensstrategie. Kurzum: Nachhaltiges Management ist das bessere Nachhaltigkeitsmanagement!

M. Barsakidis · W. Keck (*) CSR Arena Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_13

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M. Barsakidis und W. Keck

CSR und Nachhaltigkeit sind Querschnittsthemen, ganz ähnlich wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Ihr Querschnittscharakter erfordert im Unternehmen eine sinnhafte Integration in Prozesse, Produkte, Dienstleistungen und Strukturen und somit insgesamt in das Geschäftsmodell. CSR-Manager und Nachhaltigkeitsbeauftragte müssen also an ihre Grenzen stoßen (genau genommen stoßen sie auf die ausschlaggebenden internen Schnittstellen), denn die Verantwortung für ein neues Qualitätsniveau von CSR liegt in allen Unternehmensbereichen beim mittleren Management und der Unternehmensführung. Bereichsübergreifend muss die vorhandene Nachhaltigkeitskompetenz erkannt, weiterentwickelt und in eine strukturierte Zusammenarbeit überführt werden. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit einem der möglichen Wege, die Unternehmen (ob mithilfe interner CSR-Manager und Nachhaltigkeitsbeauftragter oder ohne sie) in eine nachhaltigere Entwicklung führen können – und das im Sinne von „Shared Value“ auch in gesamtgesellschaftlicher Sicht: CSR- und Nachhaltigkeitskompetenz wird zum immer mehr erforderlichen Bestandteil heutiger Führungskompetenz und lebenslangen Lernens von Verantwortungsträgern.

2

 ernelemente der unternehmerischen K Nachhaltigkeitskompetenz

Drei Konzepte zu gesellschaftlicher Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeitsorientierung im Unternehmen bilden sich seit einigen Jahren als Kernelemente unternehmerischer Nachhaltigkeitskompetenz heraus: 1. CSR, 2. CDR und 3. SDGs. Die Konzepte werden im Folgenden kurz dargestellt und miteinander in Verbindung gesetzt.

2.1

Corporate Social Responsibility (CSR)

Mit CSR wird eine am Kerngeschäft ausgerichtete Unternehmensverantwortung für soziale, ökologische und ökonomische Auswirkungen wirtschaftlichen Handelns beschrieben. Die Unternehmensverantwortung erstreckt sich dabei auf die CSR-Handlungsfelder Arbeitsplatz, Markt, Umwelt und Gemeinwesen. Die Bezeichnung CSR und ihre inhaltliche Ausrichtung haben sich im europäischen Sprachgebrauch hauptsächlich ab 2001 über ein Grünbuch der Europäischen Kommission verbreitet. In Theorie und Praxis treten neben CSR auch oft synonym verwendet Begriffe und Konzepte auf, wie Corporate Responsibility (CR), Nachhaltigkeit, Gemeinwohlorientierung oder werteorientiertes Management. Der Begriff Corporate Citizenship hingegen umfasst lediglich solches Unternehmensengagement, das nicht innerhalb sondern neben der eigentlichen Geschäftstätigkeit eines Unternehmens stattfindet, beispielsweise in Form von Spenden, Sponsoring und Stiftungsaktivitäten. Zusammengefasst kann CSR auch als Auswirkung der Unternehmen auf eine gesamtgesellschaftliche nachhaltige Entwicklung beschrieben werden.

#nachhaltig #digital #führen

2.2

235

Corporate Digital Responsibility (CDR)

Der Begriff Corporate Digital Responsibility leitet sich in seiner Wortbildung von Corporate (Social) Responsibility ab und tritt mit zunehmender Diskussion über Digitalisierung in der Wirtschaft seit etwa 2016 häufiger in Erscheinung. In Theorie und Praxis wird mit CDR meistens derjenige Teilaspekt von CSR beschrieben, der auf Ursachen und Folgen des unternehmerischen Handelns in einer digitalen Welt abzielt.

2.3

Sustainable Development Goals (SDGs)

Am 01.01.2016 traten unter der Bezeichnung Sustainable Development Goals (SDGs) mit einer Laufzeit bis zum Jahr 2030 insgesamt 17 globale Nachhaltigkeitsziele in allen Ländern der Vereinten Nationen in Kraft. Die SDGs haben mit den Staats- und Regierungschefs der Vereinten Nationen einen politischen Absender, wenden sich jedoch auch explizit an Unternehmen. So beschreibt SDG 17 die globalen Partnerschaften auch mit der Wirtschaft, die zur Erreichung aller SDGs und damit der „Agenda 2030“ der Vereinten Nationen in der Unternehmenspraxis notwendig sind (Abb. 1).

Abb. 1  Sustainable Development Goals (SDGs). (Quelle: UNSDG)

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M. Barsakidis und W. Keck

Abb. 2  Deutscher Nachhaltigkeitskodex (DNK). (Quelle: Eigene Darstellung.jpg)

Das nachhaltige Management von Unternehmen jeglicher Größenordnung lässt sich strukturiert über den Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) abbilden. Dieser Kodex ­eignet sich auch für solche Unternehmen, für die seit 01.01.2017 gesetzlich die Pflicht zur Nachhaltigkeitsberichterstattung im Sinne des CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetzes gilt. Entlang von 20 Nachhaltigkeitskriterien und diesen zugeordneten Indikatoren beleuchtet der DNK die vier Bereiche Strategie, Prozessmanagement, Umwelt und Gesellschaft. Der DNK bietet damit für CSR den Rahmen eines Managementsystems für Nachhaltigkeit und Unternehmensverantwortung (Abb. 2).

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Innerbetrieblicher Zustand von CSR und Nachhaltigkeit

Der Querschnittscharakter der Themen und Prozesse, die sich aus CSR und Nachhaltigkeit für Unternehmen ableiten lassen und der dafür erforderliche bereichsübergreifende Managementansatz, der zudem auch die Beziehungen des Unternehmens mit seinen externen Stakeholdern umfasst, führt bis zu einem Maximum an Komplexität. Deshalb gehen Studien, Befragungen und Fallbeispiele über CSR und Nachhaltigkeit oft eher auf einzelne Teilaspekte ein, die sich entlang der Handlungsfelder Arbeitsplatz, Markt, Umwelt und Gemeinwesen ergeben. Das kann zur Folge haben, dass im Innen- und Außenverhältnis

#nachhaltig #digital #führen

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von Unternehmen weder Synergien und Innovationspotenziale, noch Zielkonflikte von CSR und Nachhaltigkeit, ausreichend erkannt und bearbeitet werden. Hier mag auch einer der wesentlichen Gründe liegen, weshalb sich die Fachwelt bei CSR immer noch schwertut, die einfache und ökonomisch grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Aufwand, Kosten und Nutzen im Bereich CSR und Nachhaltigkeit hinreichend überzeugend zu behandeln. Doch in den Unternehmen selbst liegt eine umsetzbare Praxis für mehr Nachhaltigkeitskompetenz auf der Hand: Führungskräfte im oberen und im mittleren Management müssen für jeweils für ihren eigenen Verantwortungsbereich die „Nachhaltigkeitsbrille“ aufsetzen. Der Vergleich mit einer 3-D-Brille im Kino liegt nahe. Doch im Unternehmen heißt Dreidimensionalität erstens Ökonomie, zweitens Soziales und drittens Ökologie. Gelingt im Unternehmen, dass seine Führungskräfte in ihren Kompetenz- und Verantwortungsbereichen neben den ökonomischen Aspekten auch soziale und ökologische Folgen ihrer fachlichen Entscheidungen ins Blickfeld rücken  – und daran auch gemessen werden – dann spricht nichts dagegen, dass die üblichen Instrumente und Prozesse der bereichsübergreifenden Unternehmenssteuerung dazu ausreichen, auch dem hohen Grad an Komplexität im Bereich von CSR und Nachhaltigkeit vollständig gerecht zu werden. Selbstverständlich ist damit nicht ein „Zustand von Nachhaltigkeit“ gemeint, sondern ein dauerhafter Prozess, der sich fortlaufend und zielgerichtet an CSR und Nachhaltigkeit ausrichtet. Es geht im Kern um integrierte nachhaltige Unternehmensführung, die der Gegenstand sämtlicher Fachbeiträge in diesem Buch ist. Als Zwischenfazit ergibt sich die Frage: Wie kommen die oberen und mittleren Führungskräfte im Unternehmen überhaupt zu Nachhaltigkeitskompetenz? Diese Frage sollte vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass CSR und Nachhaltigkeit im Studium der Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft noch bis vor wenigen Jahren und oft auch bis heute nahezu keine Rolle spielen. Unternehmen jeglicher Größenordnung, deren Zukunftsfähigkeit in den Köpfen von Führungskräften aus unterschiedlichen Generationen liegt, können ihre jeweilige Kluft im Bereich CSR und Nachhaltigkeit durch ein gezieltes Führungskräftetraining überwinden. Dies sollte dann auch sicherstellen, dass alle mit ihrer „3-D-­ Nachhaltigkeitsbrille“ auch im selben Film sitzen.

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Konkurrenten Nachhaltigkeit und Digitalisierung?

Digitalisierung und Klimawandel, aber auch die steigende Überlastung der natürlichen Ressourcen der Erde sind Herausforderungen, die immer intensiver, jedoch nur selten im Kontext miteinander diskutiert werden. Unter den genannten Gesichtspunkten von CSR und Nachhaltigkeit setzt eine unternehmerisch oder politisch formulierte „Digitalisierung first“ falsche Prioritäten. Die digitale Transformation in der bisher betriebenen Form ist mehr vom selben auf höherem Niveau – mit allen Risiken des weiteren Wachstums. Sie führt unter Beibehaltung einer bestehenden rein finanziellen Logik des Wirtschaftens zur

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weiteren Übernutzung der Ressourcen der Erde und verschärft damit nicht nur die Ursachen des Klimawandels sondern auch einer Vielzahl sich verschärfender sozialer Ungleichheiten und Menschenrechtsverletzungen. Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU), Dirk Messner, konstatiert im April 2019 in einem Interview mit der ZEIT: „Bisher dient die Digitalisierung vor allem der Unterhaltung, der Bequemlichkeit, sie soll auf etablierten Märkten kurzfristig finanzielle Gewinne einbringen. Sie ist ein Treiber jenes Modells, das unser Erdsystem zerstört.“ Die Digitalisierung stellt innerhalb der Sustainable Development Goals (SDGs) kein eigenes Ziel dar. Digitale Techniken, Prozesse, Verfahren und Produkte beeinflussen allerdings jedes einzelne der SDGs – ob die Wirkung positiv oder negativ ist, ist eine unternehmerische und gleichzeitig gesellschaftliche und politische Entscheidung. Dies ver­ ändert die Perspektive: Digitalisierung kann (und muss) auch ein „Enabler“ für die nachhaltige Transformation sein. Es gibt bereits einige Ansätze, Digitalisierung in den Dienst einer nachhaltigen Entwicklung zu stellen. Unternehmen haben hierzu im Sinne von CSR eine Verantwortung für sämtliche ökonomischen, sozialen und ökologischen Aspekte entlang ihrer Handlungsfelder Arbeitsplatz, Markt, Umwelt und Gemeinwesen. Die zunehmende Digitalisierung rückt die Verantwortung von Unternehmen in der digitalen Transformation immer stärker in den Vordergrund, ob diese nun als Teilaspekt von CSR mit CDR beschrieben wird oder nicht. Denn auch mittelständische bis kleinste Unternehmen werden im Zuge weiterer Digitalisierung auch mit steigenden Ansprüchen der Gesellschaft konfrontiert und müssen gegenüber ihren zahlreichen Stakeholdern verantwortungsvoll und nachhaltig erfolgreich handeln. Das bedeutet für obere und mittlere Führungskräfte im Unternehmen, CSR und Digitalisierung als integrale Bestandteile ihrer Unternehmensstrategie kohärent zu nutzen. Digitalisierung erfordert verantwortliches Handeln. Digitalisierung und Verantwortung sind nicht als Gegensatzpaar zu betrachten, sondern stellen zwei integrale Bestandteile erfolgreichen unternehmerischen Handelns dar.

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 achhaltigkeit und Digitalisierung im praktischen N Perspektivwechsel

Ein mittelständisches Familienunternehmen im ländlichen Raum soll für einige praktische Perspektivwechsel in den Bereichen Nachhaltigkeit und Digitalisierung als gedanklicher Übungsgegenstand dienen. Leserinnen und Leser sind dabei aufgefordert, jeweils die „Digitalisierungsbrille“ aufzusetzen, wenn es in den folgenden Fällen um ein Nachhaltigkeitsthema geht sowie die „Nachhaltigkeitsbrille“, wenn es sich um ein Digitalisierungsthema handelt. Fällen, in denen eine eindeutige Zuordnung eher schwer erscheint, sollten gleichberechtigt aus einer Nachhaltigkeits- wie auch aus einer Digitalisierungsperspektive betrachtet werden. Drei Fragestellungen sollen einer strukturierten Herangehensweise dienen:

#nachhaltig #digital #führen

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• Welche drei Kernaspekte stellen sich für Sie heraus, nachdem Sie die „Nachhaltigkeitsbrille“ aufgesetzt haben? • Welche drei Kernaspekte stellen sich für Sie heraus, nachdem Sie die „Digitalisierungsbrille“ aufgesetzt haben? • Welche Unternehmensbereiche betreffen Ihre Kernaspekte und mit welchen möglichen Synergien und Zielkonflikten ist dies verbunden?

5.1

Ein neues Verwaltungsgebäude ist in Planung

Durch weiteren Mitarbeiterzuwachs bedingt, benötigt das Unternehmen ein neues Verwaltungsgebäude. Das Gebäude soll als Vorzeigebeispiel für Energieeffizienz und Umweltbewusstsein eine hohe Strahlkraft gegenüber Mitarbeitern, Kunden und Anwohnern vor Ort ausüben. Gleichzeitig besteht durch den Neubau die Möglichkeit, den lang gehegten Wunsch von Mitarbeitern und Inhaberfamilie nach einem eigenen Betriebsrestaurant zu verwirklichen.

5.2

 er Kundenservice soll mittels neuester KI-Lösungen D verbessert werden

Das Unternehmen will seine Qualitätsführerschaft im Business-to-Business-Bereich festigen und investiert dafür massiv in digitale Technologien. Mittelfristig ist in Planung, die eingekaufte Technologie auch im Bereich der Personalentwicklung zum Einsatz zu bringen.

5.3

 essere Work-Life-Balance durch Teilzeit und B Home-­Office-Angebote

Das Unternehmen will seine Arbeitgeberattraktivität und gleichermaßen Flexibilität erhöhen. Es schreibt seine Stellen nur noch mit 75 Prozent aus, verbunden mit Home-­Office-­ Angeboten und Co-Leadership bei Führungspositionen.

5.4

Nachhaltige Beschaffung soll professionalisiert werden

Das Unternehmen bezieht als Großhandelsunternehmen sein Sortiment zu 20 Prozent aus dem Inland, 40 Prozent aus der Europäischen Union und 40 Prozent aus Fernost. Nachdem bereits mehrere CSR-berichtspflichtige Industriekunden das Thema Nachhaltigkeit entlang ihrer Wertschöpfungskette ins Gespräch gebracht haben, entschließt sich das Unternehmen, eine nachhaltige Beschaffungsstrategie zu entwickeln und umzusetzen.

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Führungskräfteprogramm für nachhaltiges Management

Um einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung gerecht zu werden, dürfen Führungskräfte die Digitalisierung und Nachhaltigkeitsorientierung in Sinne von CSR nicht länger getrennt voneinander oder als Gegensatzpaar betrachten. Vielmehr lassen sich beide Entwicklungen als integrale Bestandteile einer umfassenden Zukunftsausrichtung und Resilienz für das eigene Unternehmen nutzen. Digitalisierung und Verantwortung greifen über sämtliche Hierarchien und Bereiche im Unternehmen und außerhalb des Unternehmens in Prozesse, Produkte, Dienstleistungen, Strukturen und somit insgesamt in das Geschäftsmodell ein. Führung im heutigen Zeitgeist heißt zudem die Werte-­ Verschiebungen berücksichtigen, die Unternehmen in sämtlichen Generationen an gleichzeitig im Unternehmen beschäftigten Mitarbeitern, Führungskräften und Nachwuchs­ kräften feststellen können. Schließlich werden die Werte-Haltungen der Beschäftigten naturgemäß auch aus gesellschaftlichen Entwicklungen heraus geprägt und daher in zunehmendem Ausmaß auch mit sozialen und ökologischen Erwartungen verbunden. Die im Verhältnis zur Gesamtzahl mittelständischer Unternehmen noch äußerst kleine Teilgruppe der in Unternehmen tätigen CSR-Manager und Nachhaltigkeitsbeauftragten sind in der Regel mit den unterschiedlichen Interessen der internen und externen Stakeholder ihres Unternehmens vertraut. Doch in den seltensten Fällen sind die wenigen Unternehmensvertreter der CSR-Fachwelt auch selbst Führungskräfte. Viel häufiger bestehen ganze CSR- oder CR-Abteilungen lediglich aus einer einzigen Person. Sie ist es, die den Führungskräften sämtlicher Bereiche und Abteilungen im Unternehmen teilweise bis ins Detail gehende Key-Performance-Indikatoren für den jährlichen Nachhaltigkeitsbericht abverlangt – häufig ohne die ausreichende Möglichkeit zu haben, bereichsspezifisch und somit fachlich fundiert überhaupt erst einmal Zielsetzungen für die zu messenden Nachhaltigkeitsfortschritte auszuhandeln. Im besten Fall gelingt es den CSR-Managern und Nachhaltigkeitsbeauftragten noch, jährlich oder halbjährlich ein CSR-Board mit ausgewählten Unternehmensvertretern zusammen zu rufen. Doch am Ende des Tages entsteht zumeist ein Nachhaltigkeitsmanagement neben dem eigentlichen Management. Im Sinne integrierter nachhaltiger Unternehmensführung benötigt ein Unternehmen also sämtliche Führungskräfte, um das Qualitätsniveau eines nachhaltigen Managements zu erreichen. Ein Führungskräfteprogramm für nachhaltiges Management kann den Anforderungen des Führungsalltags, der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit und insbesondere der zeitgemäßen Themenstellungen von Digitalisierung, CSR und Nachhaltigkeit besonders durch den Ansatz des Blended Learning gerecht werden. Blended Learning arbeitet mit einer Mischung an digitalen und analogen Vermittlungs- und Kommunikationsformate, um Präsenztraining und Peer-to-Peer-Consulting zu ergänzen oder auch weiter zu entwickeln. Einen Überblick zum Blended Learning ermöglichen die nachfolgenden (Abb. 3).

#nachhaltig #digital #führen

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Abb. 3  Blended-Learning-Format. (Quelle: Eigene Darstellung)

7

Nachhaltiges Management als Kommunikationsaufgabe

Ein neues Qualitätsniveau von CSR, das in Richtung nachhaltiges Management geht, anstatt wie bislang Gefahr weiterhin zu laufen, als Nachhaltigkeitsmanagement nebenher zum eigentlichen Geschäftsmodell betrieben zu werden, kann mittels Führungskräftetrainings aufgebaut und untermauert werden. Diesbezüglich hat der vorliegende Artikel einige Zusammenhänge näher beleuchtet. Abschließend soll als verbindende Klammer von Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Führung auf die Rolle der internen und externen Unternehmenskommunikation eingegangen werden. Ein deutlicher Grund liegt für die Autoren auch darin, dass in der derzeit vorherrschenden CSR-Debatte die Kommunikation von CSR und Nachhaltigkeit oft noch recht einseitig mit Nachhaltigkeitsberichterstattung gleichgesetzt wird. Sicherlich liegt einem Nachhaltigkeitsbericht  – sofern er mit Standards der CSR-Berichterstattung beispielsweise dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex oder den GRI Sustainability Reporting Standards unterlegt ist – eine gewisse inhaltliche Expertise zugrunde, die in vielerlei Hinsicht eine hohe Berechtigung haben kann. Allerdings fehlt es den meisten Nachhaltigkeitsberichten an kommunikativer Professionalität in Sinne leicht verständlicher und zielgrup-

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pengerecht aufgearbeiteter Vermittlung der komplexen Inhalte. In den vergangenen Jahren sind zudem nicht annähernd ähnlich große Bemühungen gemacht geworden, neben der externen Berichterstattung zu CSR auch eine integrierte interne und externe Kommunikation von CSR in Unternehmen zu bestärken. Die Wurzel solcher Versäumnisse liegt bereits in der Bezeichnung CSR. Der Begriff ist als Kürzel genauso wie in seiner Langform Corporate Social Responsibility zwar für die Verständigung innerhalb einer globalen Fach-Community nützlich, aber vermittelt weder Mitarbeitern, noch Führungskräften, Kunden oder Entscheidungsträgern in jeglichen anderen Bereichen der unternehmerischen Wertschöpfungskette eine auf Anhieb nachvollziehbare Vorstellung über seinen Sachverhalt. Wenig verwunderlich scheint es, dass sich in der Unternehmenspraxis der Begriff CSR fast überall durch den Begriff Nachhaltigkeit ersetzt wird, der zwar anschaulicher wirkt, allerdings andere Auslegungen möglich macht, als die im Kern mit CSR verbundene Verantwortungsdebatte. Mit diesen begrifflichen Herausforderungen verbunden, zu denen Unternehmen in der Praxis häufig eigene und im besten Fall auf die Unternehmenskultur abgestimmte Lösungen entwickeln, treten häufig blinde Flecken vor allem in der internen Kommunikation von CSR und Nachhaltigkeit auf. Entsprechend schwer wird es, von Mitarbeitern und Führungskräften zu erwarten, dass diese sich mit CSR und Nachhaltigkeit in einer praktischen Verbindung sehen und durch eigenes Engagement mit zum Erfolg der Nachhaltigkeitsausrichtung beitragen. Eine professionell umgesetzte CSR- und Nachhaltigkeitskommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass sie sämtliche für das Unternehmen und seine Produkte und Dienstleistungen relevanten Stakeholder entlang der gesamten Wertschöpfungskette in einen gut strukturierten Dialog einbindet. Das bedeutet nicht nur, die Unternehmensinhalte entsprechend zielgruppengerecht aufzuarbeiten, sondern vor allem auch, die jeweiligen Interessen und Ansprüche der Stakeholder anzuerkennen und im kommunikativen Austausch genauso wie im nachhaltigen Management zu berücksichtigen. Die zunehmende Digitalisierung mit ihren unterschiedlichen Szenarien, die sich positiv, neutral oder negativ auf die CSR-Handlungsfelder Arbeitsplatz und Beschäftigung, Branche und Markt, Umwelt und Klimawandel sowie lokale und globale Gesellschaften auszuwirken, stellt ein sich entsprechend umfassend weiterführendes Thema von CSR-Kommunikation dar. Denn Vertrauen und Akzeptanz vor allem von Kunden und Geschäftspartnern für die eigenen neuen digitalen Geschäftsmodelle, Dienstleistungen und Produkte auch von mittelständischen und kleineren Unternehmen lassen sich ohne kommunikativen Dialog und ein hohes Ausmaß an Transparenz langfristig nicht sicherstellen.

8

Eine gemeinsame Sprache sprechen

Wem und was nutzen Nachhaltigkeit und Digitalisierung im unternehmerischen Sinn eigentlich, wenn sie nicht mit Zielen verbunden sind? Ziele, die sich das Unternehmen selbst setzt, die andererseits aber auch mit gesellschaftlich und ökologisch erwünschten Zielen

#nachhaltig #digital #führen

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verbunden sind. Schließlich handeln Unternehmen nicht einem resonanzfreien Raum und hängen zumindest mittelfristig von gesellschaftlicher und in Folge auch rechtlicher Existenzberechtigung innerhalb ihres Resonanzraumes ab. Unternehmen geben sowohl der nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft, als auch der Digitalisierung eine Richtung, ob sie dies nun mit oder auch ohne entsprechender Absicht tun. Zukunftsfähiger und ökonomisch vernünftiger scheint es daher, im eigenen Handlungsrahmen gezielt Signale in eine nachhaltige Richtung zu setzen. Spezifische Ziele für nachhaltiges Management im jeweiligen Unternehmen und allgemeingültige Ziele für eine nachhaltige gesamtgesellschaftliche Entwicklung lassen sich aufeinander abstimmen, wie unter anderem die folgende Abbildung zeigt (Abb. 4) Auf einzelwirtschaftlicher Ebene handelt es sich dabei um individuelle Ziele nachhaltigen Managements, die sich mithilfe der bekannten CSR-Instrumente und des weiter oben geschilderten Ansatzes bereichsübergreifender Zusammenarbeit auf mittlerer und oberer Führungsebene festlegen, umsetzen, messen und kommunizieren lassen. In Resonanz auf volkswirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher globaler Ebene handelt es sich um die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals/SDGs), auf welche Staaten, Menschen und vor allem auch Unternehmen jeglicher Art und Größe unmittelbar einen positiven, negativen oder gegebenenfalls eher neutralen Einfluss nehmen.

Abb. 4  Die SDGs als einheitliches Sprachrohr. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Die SDGs bilden damit eine Weltsprache für nachhaltige Entwicklung – und hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten von nicht nachwachsenden Ressourcen sind vor allem Deutschland, die USA und viele weitere Industrienationen die tatsächlichen Entwicklungsländer. In der Sprache der SDGs ausgedrückt, können wir CSR auf das für eine Überlebensfähigkeit der Menschen auf der Erde notwendige Maß eines neuen globalen Qualitätsniveaus heben.

Michael Barsakidis,  geb. 1968 in Neustadt am Rübenberge, ist Inhaber der CSR Arena Hannover, einer Agentur für nachhaltiges Wirtschaften. Er ist branchenunabhängiger Experte für Nachhaltigkeitsmanagement, Nachhaltige Bildung (BNE) sowie für multimediales Lernen in Organisationen. In praxisorientierten Prozessbegleitungen, Trainings mit Gamification-Ansätzen und Vorträgen gibt er mit seinen Netzwerkpartnern landesweit wichtige Impulse zu den vielfältigen Themen aus den Bereichen CSR, dem DNK (offizieller Schulungspartner seit 2015) und der SDGs der Vereinten Nationen. Dabei setzt er sich gemeinsam mit seinen Kooperationspartnern stets für ein Nachhaltigkeitsmanagement ein, das an Wahrhaftigkeit und Langfristigkeit orientiert ist, um die Glaubwürdigkeit zu erhalten. Mit dem Thema Nachhaltigkeitsmanagement ist Michael Barsakidis auch seit 2016 als Lehrbeauftragter an der Leibniz-Fachhochschule tätig. An bundesweiten CSR-Initiativen ist er ebenfalls immer wieder aktiv beteiligt, so hat er zum Beispiel 2013 ein erfolgreiches ESF-Programm des  Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zu einer Nachhaltigkeitssoftware bereits in der Testphase unterstützt und damit als landesweiter Vorreiter einen Nachhaltigkeitsbericht erstellt. Seit 1996 ist er im Bereich der Kommunikation beruflich engagiert und war 15 Jahre Inhaber einer Kommunikationsagentur. Wolfgang Keck  kam nach seiner kaufmännischen Ausbildung und Mitarbeit im Familienbetrieb ab 2004 als Leiter eines EU-Pilotprojekts in Wien zum Thema CSR im Mittelstand. Mit dem „CSR Trainingshandbuch“ legte er 2006 eine Pionierarbeit in der Fachliteratur zur beruflichen Qualifizierung in CSR und Nachhaltigkeit vor. In Folge entwickelte Keck als Projektleiter bei der GILDE-Wirtschaftsförderung der Stadt Detmold zusammen mit einem internationalen Partnerkonsortium die Wissensplattform „www.csr-training.eu“. Anschließend unterstützte er mit der GILDE an zehn Standorten bundesweit im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales kleine und mittlere Unternehmen bei der Erarbeitung eigener CSR-Strategien. Seit 2015 ist er bei der GILDE im regionalen „CSR-Kompetenzzentrum OWL“ aktiv. Dort setzt er sich seit 2020 mit dem neuen Arbeitsschwerpunkt „CSR_4.0“ im Auftrag des NRW-­ Wirtschaftsministeriums mit Unternehmensverantwortung in Digitalisierungsprozessen auseinander.

#nachhaltig #digital #führen

245 Den Deutschen Industrie- und Handelskammertag begleitete er bei der Konzeption des Lehrgangs „CSR-Manager/in (IHK)“ und unterstützt regionale Industrie- und Handelskammern als Dozent und Prüfer. Aktuell ist er von der DIHK-Bildungs-GmbH mit der Co-Entwicklung des IHK-Management-Trainings „Nachhaltig Erfolgreich Führen“ für obere und mittlere Führungskräfte in Unternehmen beauftragt. Er veröffentlicht Fachbeiträge, Leitfäden, Broschüren und Bücher zu CSR in kleinsten, kleinen und mittleren Unternehmen. Mehr als 20 Unternehmensfilme über gesellschaftliches Engagement ergänzen sein Portfolio an praxisnahen Medien zu CSR-Management und Nachhaltigkeitsorientierung im Mittelstand.

Integriertes nachhaltiges Change Management Uta Kirschten

1

 ktuelle Herausforderungen eines integrierten nachhaltigen A Change Managements

Zu den gravierenden Herausforderungen, denen Unternehmen heute gegenüberstehen, gehören die digitale Transformation der Wirtschaft und Arbeitswelt, die Entwicklung neuer Organisations- und Arbeitsstrukturen, der demografische Wandel, der u. a. zu steigenden Fachkräfteengpässen und alternden Belegschaften führt, die Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft, die Forderung vor allem jüngerer Generationen nach neuen flexiblen Arbeitsmodellen sowie die Notwendigkeit eines nachhaltigen Unternehmenshandelns. Exemplarisch werden einige besonders wichtige Herausforderungen näher erläutert.

1.1

Digitale Transformation

Die digitale Transformation ist aktuell der wesentliche Treiber technologischer Entwicklungen und bewirkt, dass wir uns zu einer digital und global vernetzten Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln. Neue digitale Technologien, verbunden mit der weltweiten Nutzung des Internets, eröffnen vielfältige Möglichkeiten zur Echtzeitvernetzung, Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen, Maschinen und Objekten. So entstehen beispielsweise cyber-physische Produktionssysteme (CPS) in der Industrie, neue Geschäftsund Arbeitsmodelle auf digitalen Märkten und expandierende digitale Informations- und Kommunikationssysteme, (vgl. Ternés 2018, S. 3 ff.; Creusen et al. 2017). Für die Unternehmen bedeutet die Digitalisierung eine Potenzierung der Komplexität, Vielfalt, U. Kirschten (*) Westsächsische Hochschule Zwickau, Zwickau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_14

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­ chnelligkeit an Veränderungen und ganz unterschiedlichen Einflussfaktoren, die auf die S Märkte und Unternehmen wirken. Andererseits versprechen sich die Unternehmen Effizienz- und Effektivitätssteigerungen durch die digitale Transformation und den Einsatz digitaler Technologien im Unternehmen, die u. a. aus den folgenden Entwicklungen resultieren können: • Digitale Technologien verkürzen Entwicklungszyklen für Innovationen. • Digitale Technologien verringern Fehlerquoten durch Echtzeitüberwachung. • Digitale Technologien ermöglichen eine schnellere Fehlererkennung und Reparatur von Störungen. • Digitale Technologien steigern die Produktivität durch den Einsatz von cyber-­ physischen Produktionssystemen und eine höhere Automatisierung. • Digitale Technologien ermöglichen neue Geschäftsfelder und neue Märkte. • Digitale Technologien ermöglichen neue Formen der Zusammenarbeit und Vernetzung. Unternehmen und Organisationen können in dieser sich immer schneller entwickelnden digital vernetzten, hoch komplexen und vielfältigen Umwelt (VUCA-Umwelt) nur überleben, wenn sie sich selbst und ihre Mitarbeiter weiterentwickeln. Hierfür ist ein integriertes Change Management unerlässlich.

1.2

Veränderung der Organisations- und Arbeitsstrukturen

Seit der Jahrtausendwende ist eine verstärkte Veränderung von Organisations- und Arbeitsstrukturen, aber auch von Arbeitsmodellen festzustellen. Mit ausgelöst durch die vielfältigen Möglichkeiten der digitalen und weltweiten Vernetzung über elektronische Informations- und Kommunikationssysteme, bzw. durch die Entwicklung neuer digitaler Technologien verändern sich die Organisationsstrukturen in den Unternehmen erheblich. Sie entwickeln sich weg von starren Top-Down-Organisationsstrukturen und hin zu stark vernetzten, hierarchiearmen und projektgeprägten Organisationsstrukturen. Damit reagieren die Unternehmen auf die steigende Dynamik und Komplexität der Veränderungen in ihren Märkten und erhöhen ihre eigene Flexibilität. Diese Entwicklung hin zu Netzwerkstrukturen und Netzwerkorganisationen ist nur mit einem umfassenden Change-­ Management-­Prozess zu bewältigen.

1.3

Forderung neuer Arbeitsmodelle

Vor allem von den jüngeren Generationen der Arbeitswelt werden zunehmend flexiblere und teils neue Arbeitsmodelle und Arbeitsstrukturen gefordert, um die verschiedenen Lebenswelten möglichst stressfrei miteinander verbinden zu können. Unter dem Begriff „New Work“ oder „Remote Work“ werden ganz unterschiedliche, teils auch schon län-

Integriertes nachhaltiges Change Management

249

ger bekannte, aber vor allem flexiblere Arbeitsmodelle diskutiert. Dazu gehören u. a. die alt bekannte Teilzeitarbeit, Job-Sharing und die Vertrauensarbeitszeit, aber auch neue Ansätze, wie z. B. das örtlich und zeitlich mobile Arbeiten, das Click-Working, bei dem Freelancer auf Internetplattformen Aufträge von Unternehmen bzw. Auftraggebern gegen Bezahlung übernehmen, das Crowd-Working, bei dem Freiberufliche oder auch fest Angestellte in sogenannten Coworking Spaces sich einen Arbeitsplatz mit Bürotechnikausstattung mieten können, um nur einige zu nennen. Wesentliche Aspekte dieser neuen Arbeitsformen sind sowohl die örtliche als auch die zeitliche Flexibilität der Arbeit, die die Gestaltungsspielräume für die Vereinbarkeit der verschiedenen Lebenswelten deutlich erhöht, gleichzeitig jedoch auch zu einer steigenden Entgrenzung zwischen Arbeitszeit und Privatzeit führt. Aufgrund der steigenden Fachkräfteengpässe sind die Unternehmen gezwungen, sich verstärkt mit den Wünschen der jüngeren Mitarbeiter nach flexiblen Arbeitsmodellen auseinanderzusetzen und diese entsprechend im Unternehmen einzuführen bzw. umzusetzen. Damit verbunden sind ebenfalls umfangreiche Veränderungsprozesse im Unternehmen, die es zu bewältigen gilt, (vgl. z. B. Bartscher und Nissen 2019, S. 31 ff.).

1.4

Notwendigkeit einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung

Angesichts der vielfältigen und weltweiten Umweltbelastungen, des Ressourcenabbaus, des Klimawandels und der gravierenden Beeinflussung der Ökosysteme ist unsere Gesellschaft, aber auch unsere Wirtschaft gezwungen, die Auswirkungen unserer Lebensweisen, die Leistungserstellungsprozesse sowie die angebotenen Produkte und Dienstleistungen ökologisch verträglicher und ressourcenschonender zu gestalten. Zusätzlich herrschen in vielen Ländern große soziale Ungleichheiten im Hinblick auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen. Deutlich wird dies u.  a. an den sehr ungleich verteilten Bildungs- und Entwicklungschancen von Männern und Frauen, an großen Einkommensunterschieden, dem Anwachsen der weltweiten Slums sowie der Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen und Glaubensrichtungen. Auch die internationalen Arbeitsbedingungen sind oft menschenverachtend und entsprechen nicht den Mindeststandards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Eine große gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderung dieses Jahrhunderts besteht in der Entwicklung eines nachhaltigen Wirtschaftens, das ökologisch verträglich, sozial gerecht und trotzdem wirtschaftlich leistungsfähig ist. Neben notwendigen gesellschaftlichen und politischen Weiterentwicklungen sind vor allem die Wirtschaft und die Unternehmen zentrale Akteure für die Entwicklung eines ökologisch verträglichen, sozial gerechten und wirtschaftlich leistungsfähigen Wirtschafts- und Unternehmenshandelns, da sie über vielfältige Einflussmöglichkeiten verfügen. So entscheiden die Unternehmen durch die Wahl ihrer Produktions- und Leistungserstellungsstandorte und -verfahren über die ökologische, ökonomische und soziale Verträglichkeit ihres Ressourceneinsatzes und ihrer Ressourcennutzung (Stoffe, und

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Energien, Vorprodukte, Technologien, Arbeitskräfte), aber auch über die Arbeitsbedingungen, Umweltbelastungen und Emissionen ihrer Leistungserstellung. Darüber hinaus bestimmen und beeinflussen die Unternehmen die Inhaltsstoffe, den Gebrauchsnutzen, die Lebensdauer und die Recyclingfähigkeit der von ihnen hergestellten Produkte und Dienstleistungen und damit die ökologischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen der hergestellten Produkte und Dienstleistungen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass viele Unternehmen auch ihre gesamte oder weite Teile ihrer Wertschöpfungs- und Lieferkette beeinflussen und mitgestalten können, beispielsweise durch die Art der Zusammenarbeit mit Lieferanten, die Forderung der Einhaltung von ökologischen und sozialen Mindeststandards sowie die Gestaltung der Lieferverträge, (vgl. Kirschten 2017). In den Unternehmen sind es wiederum immer die Menschen, die in ihren jeweiligen Aufgabengebieten Strategien entwickeln, Entscheidungen treffen und für die Umsetzung ihrer Entscheidungen verantwortlich sind. Die Menschen, d. h., die Mitarbeiter, sind also die handelnden Akteure im Unternehmen, die damit auch über das ökologische, ökonomische und soziale Handeln und Verhalten des Unternehmens insgesamt wesentlich mitbestimmen, (vgl. Kirschten 2017). Streben Unternehmen nach einer Weiterentwicklung hin zu einem nachhaltigen Unternehmenshandeln und damit hin zu einer ökologisch verträglichen, sozial gerechten und ökonomisch leistungsfähigen Unternehmenstätigkeit, so bedarf dies eines integrierten und umfassenden Change Managements als längerfristigen und systematischen Organisationsentwicklungs- und Veränderungsprozess, der das gesamte Unternehmen umfasst und auch die Mitarbeiter mitnimmt. Die Grundzüge eines solchen integrierten nachhaltigen Change Managements werden im folgenden Kapitel erläutert.

2

 rundzüge des integrierten nachhaltigen G Change Managements

2.1

Zum Begriff

In den 1970er-Jahren entwickelten sich Ansätze zur Organisationsentwicklung in Deutschland, die nicht nur die betriebswirtschaftlichen und strukturellen Fragen im Prozess einer Organisations- und Unternehmensentwicklung berücksichtigten, sondern darüber hinaus auch die Bedürfnisse der betroffenen Mitarbeiter (vgl. Doppler und Lauterburg 2014, S.  89). Die Gesellschaft für Organisationsentwicklung e.V. definiert die Organisationsentwicklung als „längerfristig angelegter organisationsumfassender Entwicklungs- und Veränderungsprozess von Organisationen und der in ihr tätigen Menschen. Der Prozess beruht auf Lernen aller Betroffenen und direkte Mitwirkung und praktische Erfahrung. Sein Ziel besteht in einer gleichzeitigen Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Organisation (Effektivität) und der Qualität des Arbeitslebens (Humanität)“, (GOE 1980).

Integriertes nachhaltiges Change Management

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Auch wenn sich im Zeitverlauf in Theorie und Praxis verschiedene Ansätze der Organisationsentwicklung herausgebildet haben, können drei Kernelemente der Organisationsentwicklung festgehalten werden (vgl. Doppler und Lauterburg 2014, S. 89): • Die Organisationsentwicklung ist ein längerfristig angelegter und ganzheitlicher Ansatz, • der auch die betroffenen Akteure (i.  d.  R. die Mitarbeiter) am Entwicklungsprozess beteiligt • und der auf Hilfe zur Selbsthilfe setzt. In den folgenden Jahrzehnten veränderten sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Unternehmen erheblich. Seit der Jahrtausendwende stehen die Unternehmen mehrheitlich in einem globalen Wettbewerb, der durch eine hohe Dynamik und stark gestiegene Komplexität bei zunehmender Unsicherheit geprägt ist. So mussten die Unternehmen ihre Fähigkeit zum schnelleren Wandel an sich dynamisch verändernden Rahmen- und Marktbedingungen anpassen und sich weiterentwickeln. Dabei entstanden weitere Ansätze zur Gestaltung von unternehmerischen Wandelprozessen, die nun nicht mehr als Organisationsentwicklung, sondern immer öfter als Change Management oder Veränderungsmanagement bezeichnet wurden. Mit der Begrifflichkeit hat sich auch die inhaltliche Ausrichtung der Ansätze weiterentwickelt. So verstehen Vahs und Weiand (2013, S. 7) unter Change Management folgendes: „Change Management ist die Vorbereitung, Analyse, Planung, Realisierung, Evaluierung und laufende Weiterentwicklung von ganzheitlichen Veränderungsmaßnahmen mit dem Ziel, ein Unternehmen von einem bestimmten Ist-Zustand zu einem erwünschten Soll-Zustand weiterzuentwickeln und so die Effizienz und Effektivität aller Unternehmensaktivitäten nachhaltig zu steigern.“ Um die Besonderheiten einer nachhaltigen Entwicklung von Unternehmen zu berücksichtigen, wird die Definition von Vahs und Weiand hier entsprechend erweitert und folgendes Verständnis eines integrierten nachhaltigen Change Managements zugrunde gelegt: Ein integriertes nachhaltiges Change Management umfasst die Vorbereitung, Analyse, Planung, und Realisierung von ganzheitlichen und integrierten Veränderungsmaßnahmen mit dem Ziel, ein Unternehmen zu einem nachhaltig handelnden Unternehmen weiterzuentwickeln. Nachhaltiges Unternehmenshandeln bedeutet, dass das Unternehmen bei der Strategieentwicklung und Umsetzung sowie bei seinen Entscheidungen und Handlungen sowohl die ökologische Verträglichkeit, die soziale Gerechtigkeit als auch die ökonomische Leistungsfähigkeit seines Handelns berücksichtigt und in seinem Unternehmenshandeln umsetzt. Diese Entwicklung zu einem nachhaltigen Unternehmenshandeln muss prozessbegleitend evaluiert und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Ziel des integrierten nachhaltigen Change Managements ist die Weiterentwicklung zu einem nachhaltigen Unternehmen, dem es gelingt, ressourcenschonend und emissionsarm, mit sozial gerechten Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten, wirtschaftlich leistungsfähig und langfristig erfolgreich zu arbeiten. In den Prozess des nachhaltigen Change Managements

252

U. Kirschten

müssen alle Strategiebereiche und Handlungsebenen des Unternehmens einbezogen ­werden sowie die Mitarbeiter als zentrale handelnde Akteure von Anfang an mit eingebunden und beteiligt werden.

2.2

Konzept eines integrierten nachhaltigen Change Managements

Wesentliche Inhalte eines integrierten nachhaltigen Change Managements werden in dem folgenden Konzept vorgestellt, das in Abb. 1 dargestellt ist.

2.2.1 Anstoß zum Wandel Je nach Ausgangssituation kann der Gegenstand des integrierten nachhaltigen Change Managements die Weiterentwicklung hin zu einem nachhaltig handelnden Unternehmen sein oder aber auch dessen radikale Veränderung bis hin zur nachhaltigen Neugestaltung des Unternehmens, mit all seinen Strategien, Strukturen, Prozessen, seiner Unternehmenskultur sowie den eingesetzten Verfahren und Methoden. Unternehmen, die bisher schon Teilaspekte einer nachhaltigen Unternehmenstätigkeit berücksichtigt haben, z.  B. die soziale Verträglichkeit und Chancengleichheit, können durch ein nachhaltiges Change Management ihre Unternehmensstrategien und deren Umsetzung auch für Fragestellungen der ökologischen Verträglichkeit des Unternehmenshandelns konsequent weiterentwickeln. Dies wäre ein Beispiel für einen Wandel 1. Ordnung nach Vahs (2019). Demgegenüber stehen Unternehmen, die bisher weder auf die ökologische Verträglichkeit noch auf die soziale Gerechtigkeit ihres Handelns geachtet haben, und sich nun entschließen, ihre strategische und operative Ausrichtung ökologisch und sozial

Integriertes nachhaltiges Change Management Konzept Ökologisch verträglich

Initiierung

Ist-Analyse

Akteure Anstoß zum Wandel

Vision

Planung / Konzepterarbeitung

Change Agents Ziele

Analyse der aktuellen Situation

sozial gerecht

Strategien

wirtschaftlich leistungsfähig

Implementierung

Evaluation

Stabilisierung / Erhalt der Veränderungsfähigkeit

Mitarbeiter  Veränderungsbereitschaft fördern  Qualifikations- und Kompetenzentwicklung

Konkrete Veränderungsprojekte Maßnahmen

Information und Kommunikation Veränderungskultur entwickeln Umgang und Überwindung von Widerständen

Abb. 1  Integriertes nachhaltiges Change-Management-Konzept

ControllingInstrumente

• Erfahrungen sammeln • „Normalbetrieb“ • Weiterentwicklungen • Offenheit für zukünftige Veränderungen

Integriertes nachhaltiges Change Management

253

umzugestalten, eher vor einem radikalen und grundlegendem Wandel, da sie alle Unternehmensbereiche, Organisationsstrukturen, Strategieausrichtungen und deren Umsetzung auf die Berücksichtigung ökologischer, sozialer und ökonomischer Ziele neu ausrichten müssen. Vahs (2019) bezeichnet dies als Wandel 2. Ordnung.

2.2.2 Vision des nachhaltigen Wandels Jeder Wandel braucht eine inspirierende Vision. Die Vision muss als übergeordnetes erstrebenswertes Ziel eindeutig und begeisternd formuliert werden. Sie dient dazu, die am Wandel beteiligten Akteure und Mitarbeiter für die Veränderungsprozesse zu motivieren und sie gleichzeitig auf die übergeordnete Zielrichtung hin auszurichten. Bei einem inte­ grierten nachhaltigen Change Management besteht das übergeordnete Ziel in der Neuausrichtung bzw. Weiterentwicklung des Unternehmens hin zu einem nachhaltig, d. h., ökologisch verträglichen, sozial gerechten und wirtschaftlich leistungsfähigen Unternehmen, das in einer mitreißenden Vision formuliert wird. Aus dieser übergeordneten Zielstellung müssen im Prozessverlauf konkrete nachhaltigkeitsorientierte Teilziele abgeleitet werden, die sich beispielsweise auf die Weiterentwicklung der Unternehmenskultur, die Umgestaltung konkreter Produktions- bzw. Leistungserstellungsprozesse, die Entwicklung der Organisationsstrukturen und Organisationsabläufe, die Mitarbeiter oder auch die unternehmensübergreifende Wertschöpfungskette erstrecken können. 2.2.3 U  mfassende Ist-Analyse der aktuellen Situation und Herausforderungen Voraussetzung für die Planung und Gestaltung der späteren konkreten nachhaltigen Veränderungsziele und -strategien ist eine umfassende Ist-Analyse der wesentlichen Handlungsbereiche sowie der aktuellen Situation und Herausforderungen des Unternehmens. Hierbei gilt es auch, aktuelle unternehmensinterne und -externe Schwachstellen und Risiken, aber auch zukünftige Chancen und Stärken sowie die eigene Wettbewerbssituation und unternehmensspezifische Handlungsspielräume zu identifizieren. Zusätzlich ist es wichtig, die unternehmensspezifische Veränderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit detailliert zu untersuchen, um darauf aufbauend geeignete Ziele und Strategien für die Weiterentwicklung und Förderung der Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft zu entwickeln. 2.2.4 I ntegriertes nachhaltiges Change Management als zielgerichtete Managementaufgabe Das integrierte nachhaltige Change Management ist eine wichtige Managementaufgabe, die die zielgerichtete Analyse, Planung, Umsetzung und Evaluation der Veränderungen im Unternehmen umfasst. Im Anschluss an die detaillierte Analyse der Ist-Situation müssen klare Ziele für die zu erreichenden Veränderungen formuliert sowie konkrete Strategien und Maßnahmen zur Umsetzung der Veränderungen entwickelt werden.

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U. Kirschten

Die Zielgerichtetheit bedeutet, dass die Veränderungen zu tatsächlichen ökologischen und sozialen Verbesserungen des Unternehmenshandelns beitragen, aber auch eine dauerhafte Steigerung der Effizienz und der Effektivität des Unternehmens erreichen sollen. Die Effizienz betrifft die Dauer der Veränderungsprojekte von der Analyse und Planung bis zur Umsetzung und Erfolgskontrolle sowie die dazugehörigen Kosten (vgl. Rank und Scheinpflug 2010, S. 18). Mit der Effektivität der Veränderungen ist das Erreichen der zuvor definierten nachhaltigen Ziele (z. B. Einsatz von regenerativen Ressourcen, Umstellung auf ressourcensparende und emissionsarme Produktionstechnologien) sowie die Identifikation der Mitarbeiter und Führungskräfte als Beteiligte und Betroffene der Veränderungen gemeint, (Rank und Scheinpflug 2010, S. 18).

2.2.5 Prozess des integrierten nachhaltigen Change Managements Die Umsetzung eines integrierten nachhaltigen Change Managements erfolgt als Prozess, der in mehrere Prozessphasen strukturiert wird und dadurch erst von den Akteuren des Change Managements umgesetzt werden kann. Als wesentliche Prozessphasen lassen sich die Initiierung des Wandels, die detaillierte Ist-Analyse, die Planung der Ziele, Strategien und Maßnahmen, die Implementierung konkreter Strategien und Maßnahmen durch spezifische Veränderungsprojekte, die Evaluation des Veränderungsprozesses und der erreichten Veränderungen sowie deren Stabilisierung unterscheiden. Mit der Stabilisierung des Veränderungsprozesses ist keine Erstarrung der erreichten Veränderungen auf einem neuen Niveau gemeint, sondern eher die Normalisierung und Routinisierung der neuen Verhaltensweisen, Prozesse und Abläufe im Arbeitsalltag. Dadurch kommen die Mitarbeiter und das Unternehmen nach dem Veränderungsprozess etwas „zur Ruhe“ und die neuen Abläufe und Verhaltensweisen werden „normal“ und selbstverständlich. Dennoch muss im Unternehmen eine latente Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft erhalten bleiben, um schnell und flexibel auf neue unternehmensinterne und -externe Veränderungen reagieren zu können. 2.2.6 Change Agents unterstützen den Wandelprozess Die Change-Management-Prozesse werden meist durch kompetente interne oder externe Berater und Change Agents unterstützt, die die Veränderungsprozesse begleiten und in konkreten Change-Management-Projekten umsetzen. Die Berater und die Projektleitung des Wandelprozesses sowie der konkreten Wandelprojekte sind dafür verantwortlich, dass der Veränderungsprozess ziel- und ergebnisorientiert gestaltet und umgesetzt wird. 2.2.7 U  msetzung des nachhaltige Change Managements in spezifischen Veränderungsprojekten Die Umsetzung des nachhaltigen Change Managements erfolgt meist in mehreren konkreten Veränderungsprojekten, um die Komplexität des Wandelprozesses zu reduzieren. Die einzelnen Veränderungsprojekte konzentrieren sich auf bestimmte Geschäfts-, Funktionsoder Aufgabenbereiche und umfassen jeweils konkrete ökologische, soziale und ökonomische Ziele, klar abgegrenzte Aufgaben, sind ergebnisorientiert und zeitlich begrenzt.

Integriertes nachhaltiges Change Management

255

Durch die Abgrenzung konkreter und inhaltlich abgegrenzter Veränderungsprojekte können inhaltliche, zeitliche, aufgabenbezogene sowie mitarbeiterorientierte Besonderheiten gezielt berücksichtigt werden.

2.2.8 C  ommitment to Change: Veränderungsbereitschaft der beteiligten Akteure entwickeln Für den Erfolg des integrierten nachhaltigen Change Managements und dessen Change-­ Management-­Prozess ist die Entwicklung der Veränderungsbereitschaft der beteiligten Akteure, das sogenannte Commitment to Change, außerordentlich wichtig. Das Commitment of Change umfasst das affektive, normative und kalkulatorische Commitment, die Identifikation der Akteure mit dem Wandel und ihre Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen zur Wandelbereitschaft (vgl. Herscovitch und Meyer 2002). Um das Commitment of Change zu erreichen, ist eine uneingeschränkte Akzeptanz der und positive Einstellung zu den Veränderungen durch die beteiligten und betroffenen Akteure notwendig. Zu den beteiligten und betroffenen Akteuren gehören die Geschäftsleitung, das Management, die Führungskräfte, die Mitarbeiter, der Betriebsrat, mögliche Berater sowie die Change Agents. 2.2.9 Kompetenzentwicklung der Akteure und Mitarbeiter Um den nachhaltigen Change-Management-Prozess erfolgreich bewältigen zu können, müssen nicht nur die Veränderungsbereitschaft gefördert und das Commitment of Change der beteiligten Akteure erreicht werden, sondern die beteiligten und betroffenen Akteure müssen auch über die notwendigen fachlichen, methodischen und sozialen Kompetenzen verfügen, um die Ziele des Veränderungsprozesses und konkreter Veränderungsprojekte erreichen zu können. Eine hierfür notwendige Kompetenzentwicklung der Akteure, die dafür nötigen Trainingsmaßnahmen sowie ausreichend Zeit zur Weiterentwicklung sollten schon bei der Planung des Change-Management-Prozesses mitberücksichtigt und in den Veränderungsprozess integriert werden. Für die Umsetzung des nachhaltigen Change-­ Management-­ Prozesses und der konkreten Veränderungsprojekte können ganz unterschiedliche Instrumente und Methoden eingesetzt werden. 2.2.10 Information und Kommunikation des Wandels Eine umfassende Information und Kommunikation der Notwendigkeit, der Vision und der Teilschritte des Veränderungsprozesses von Beginn der Entscheidung zum Wandel an ist außerordentlich wichtig für das Gelingen des Wandels. Darüber hinaus müssen die Betroffenen frühzeitig mit in die Planung des Veränderungsprozesses einbezogen und beteiligt werden, um sicherzustellen, dass alle relevanten Veränderungsanforderungen und Veränderungsbereiche mitberücksichtigt werden. Zusätzlich eröffnet die frühzeitige Beteiligung den Betroffenen auch die Möglichkeit, die Veränderungen ihrer Aufgabengebiete mitzugestalten. Auch während des gesamten Veränderungsprozesses bedarf es einer kontinuierlichen Information und Kommunikation. Diese sollte nicht nur top-down Informationen weitergeben, sondern genauso bottom-up und zwischen den verschiedenen Hierarchie- und Aufgabenebenen vernetzt die wichtigen Informationen austauschen und dadurch auch eine kontinuierliche prozessbegleitende Kommunikation sicherstellen.

256

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2.2.11 Überwindung von Widerständen Entscheidend für einen erfolgreichen nachhaltigen Veränderungsprozess ist die Überwindung von Widerständen gegen den Wandel. Auch hierfür ist die frühzeitige Kommunikation mit und Beteiligung der Betroffenen am Wandel sehr wichtig. Je größer die Gestaltungsspielräume und Mitwirkungsmöglichkeiten der betroffenen Mitarbeiter in der Planung und Umsetzung der Veränderungsprojekte ist, desto eher können anfängliche Ängste und Unsicherheiten über die Auswirkungen des Wandels auf das eigene Arbeitsfeld abgebaut werden. Auch eine zu Beginn des Wandels vielleicht ­bestehende mangelnde Veränderungsbereitschaft kann durch das Aufzeigen der Notwendigkeit der Veränderungen, der neuen anzustrebenden Vision und durch die Beteiligung der Betroffenen an der Gestaltung des Wandels überwunden werden. Selbst­ verständlich sollte auch der Betriebsrat frühzeitig in die Planung und Umsetzung des nachhaltigen Wandelprozesses mit eingebunden werden. Nur so kann unternehmensweit das Commitment to Change erreicht werden, um den Wandelprozess erfolgreich umzusetzen.

2.3

Prozess des integrierten nachhaltigen Change Managements

Wie bereits erläutert, ist das integrierte nachhaltige Change Management ein geplanter Veränderungsprozess mit konkret festgelegten nachhaltigkeitsorientierten Zielen, der Abgrenzung konkreter Aufgaben und einer klaren Ergebnisorientierung. Die Umsetzung von nachhaltigen Change-Management-Vorhaben erfolgt meist in konkreten und zeitlich überschaubaren Veränderungsprojekten. Hierbei ist die Prozessperspektive wichtig, um zu analysieren, welche grundlegenden Phasen mit welchen konkreten Inhalten ein integrierter nachhaltiger Change-Management-Prozess durchlaufen sollte, damit der nachhaltige Unternehmenswandel gelingt. Die Prozessbetrachtung in diesem Kapitel baut auf dem integrierten Phasenmodell des Change Management-Prozesses von Vahs (2012) und Vahs und Weiand (2013) auf, wurde jedoch teils weiterentwickelt bzw. verändert. In seiner Grundstruktur bildet es sowohl die inhaltlichen als auch die psychologischen Phasen des Veränderungsprozesses ab und unterstützt so das Verständnis auch des nachhaltigen Veränderungsprozesses. Das Phasenmodell des integrierten nachhaltigen Change-Management-Prozesses wird Abb. 2 dargestellt.

2.4

Die psychologische Ebene des integrierten Phasenmodells

Die psychologische Ebene des integrierten Phasenmodells beinhaltet die drei Phasen des Veränderungsmodells bzw. der Feldtheorie von Lewin (1947). In seiner Feldtheorie (Lewin 1947) hat Lewin die Kräfte beschrieben, die einen Wandelprozess prägen. So gibt es Kräfte, die den Wandel vorantreiben (driving forces), aber auch Kräfte, die den Wandel behindern (restraining forces). Diese beiden

Integriertes nachhaltiges Change Management

257

Prozessphasen des integrierten nachhaltigen Change Managements Psychologische Ebene Inhaltliche Ebene Initiierung

• Anstoß zum Wandel • Entwicklung einer Vision des Wandels

Auftauen(unfreezing)

Ist-Analyse Umfassende IstAnalyse: • Herausforderungen + Rahmenbedingungen • Chancen + Risiken • Stärken + Schwächen • Organisations -strukturen + -abläufe

Planung / Konzepterarbeitung • Konkrete Ziele + Strategien entwickeln • Akteure • Change Agents • Veränderungsprojekte planen • Veränderungslandkarte

Veränderungskultur entwickeln

Verändern (changing)

Implementierung

• Veränderungsprojekte starten • Strategien umsetzen • Konkrete Maßnahmen • Beteiligung der Betroffenen • Training und Kompetenzentwicklung • Umgang mit Widerständen

Stabilisieren (refreezing)

Evaluation

• Begleitendes Veränderungs controlling • Erfahrungen auswerten + dokumentieren

Stabilisierung / Erhalt der Veränderungsfähigkeit • „Normalbetrieb“ • Erhalt der Veränderungsfähigkeit • Förderung der Veränderungsbereitschaft

Instrumente des Change Managements

Abb. 2  Phasenmodell des integrierten nachhaltigen Change-Management-Prozesses (eigene Darstellung, erweitert und teils verändert aus Vahs 2012, S. 410; Vahs und Weiand 2013, S. 12, 14).

widerstreitenden Kräfte prägen das Kräftefeld, in dem der Wandel stattfindet. Das Kräftefeld ist dabei das Unternehmen, in dem einige Akteure den Wandel vorantreiben, andere Akteure jedoch den Wandel behindern oder vermeiden möchten. Die verschiedenen Kräfte bauen sich unterschiedlich auf und ab. Zugrunde liegt diesen Kräften das Verhalten der Akteure des Wandels, d. h. der Mitarbeiter, der Teams und der Change Agents, die die Veränderungsprojekte begleiten und umsetzen. Die Herausforderung besteht darin, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Kräften, der durch den Wandel resultierenden Instabilität, aber auch der beharrenden Kräfte zu finden, (vgl. Rank und Scheinpflug 2010, S. 26). Der Veränderungsprozess nach Lewin umfasst drei Phasen: Die erste Phase ist die des Auftauens (unfreezing), in der die Bereitschaft für den Wandel gefördert wird und bestehende Strukturen und Abläufe aufgetaut, d. h., in Frage gestellt werden. Wichtig ist es hier, die Kräfte zu fördern, die den Wandel unterstützen. Die zweite Phase ist die der Veränderung (changing), in der neue Vorgehensweisen, Abläufe oder andere Veränderungen eingeführt und erlernt werden. Um mögliche Widerstände gegen den Wandel abzubauen, müssen die betroffenen Mitarbeiter am Veränderungsprozess beteiligt werden. Sie sollten in den konkreten Veränderungsprojekten mitarbeiten, sich mit eigenen Vorschlägen und Wünschen einbringen und die Veränderungskonzepte mitgestalten können. Durch diese aktive Mitarbeit am Wandel können sich die Mitarbeiter viel besser mit den Veränderungen identifizieren und sie auch besser im Arbeitsalltag umsetzen. Die dritte Phase ist die Stabilisierung (refreezing) der Veränderungen und neu gelernten Prozesse und Strukturen im Unternehmen. Hier sollen die neuen Handlungs- und Verhaltensweisen zum Standard im Arbeitsalltag werden und der Veränderungsprozess abgeschlossen werden. Zu

258

U. Kirschten

vermeiden ist jedoch ein Erstarren der Veränderungsbereitschaft, da sich die Unternehmen und ihre Mitarbeiter kontinuierlich mit neuen Anforderungen und sich verändernden Märkten auseinandersetzen müssen und hierfür eine kontinuierliche Veränderungsfähigkeit entwickeln müssen.

2.5

Die inhaltliche Ebene des integrierten Phasenmodells

Die inhaltliche Ebene strukturiert den Veränderungsprozess in die Phasen der Initiierung des Wandels, der Ist-Analyse, der Planung und Konzepterarbeitung, der Implementierung, der Evaluation und der Stabilisierung mit Erhalt der Veränderungsfähigkeit, die nun kurz erläutert werden. Die erste Phase der Initiierung des Veränderungsprozesses wird meist durch einen unternehmensexternen oder -internen Anstoß ausgelöst. Dies kann eine gravierende Marktveränderung, neue Kundenwünsche oder aber eine kritische unternehmensinterne Entwicklung sein, die das Bewusstsein der Veränderungsnotwendigkeit erzeugen. Hier ist es wichtig, die Richtung und das Ziel des Wandels zu bestimmen. Mit der Erarbeitung und Formulierung einer inspirierenden Vision kann das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung des Unternehmens einprägsam und motivierend formuliert werden. In der zweiten Phase erfolgt eine umfassende Ist-Analyse der aktuellen Rahmenbedingungen und Herausforderungen, denen das Unternehmen gegenübersteht. Hier werden die bisherigen Unternehmensstrategien, die Organisationsabläufe sowie die unternehmensweiten technisch-organisatorischen Teilsysteme analysiert. Ziel dieser Phase ist eine SWOT-Analyse, in der die wesentlichen Chancen und Risiken, aber auch die Stärken und Schwächen des Unternehmens im Hinblick auf den angestrebten ökologischen, ökonomischen und sozialen Wandel des Unternehmens differenziert untersucht werden und so der Veränderungsbedarf ermittelt wird. Die Phase der Planung und Konzepterarbeitung umfasst die Konkretisierung der Ziele des Wandels sowie die personelle Zusammensetzung der am Wandel beteiligten Akteure, Projektgruppen und die Beteiligung von unternehmensexternen und -internen Change Agents. Weiter müssen konkrete Veränderungsprojekte und Interventionen geplant werden, um die Komplexität des Wandelprozesses zu reduzieren. Auch unternehmensweite Kommunikationsstrategien müssen für den Veränderungsprozess erarbeitet werden. Alle geplanten Veränderungen können in einer Veränderungslandkarte erfasst und visualisiert werden. In der Phase der Implementierung erfolgt nun die tatsächliche Umsetzung der geplanten Veränderungen. Hierfür werden konkrete Maßnahmen zur Einführung der ­ ­Veränderungen in den verschiedenen Unternehmens- und Aufgabenbereichen umgesetzt. Wichtig ist hier eine Beteiligung der betroffenen Mitarbeiter in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen sowie zielgerichtete Trainingsmaßnahmen, um die neuen Aufgaben, Verfahren oder Abläufe üben zu können. Ebenfalls sehr wichtig ist die Umsetzung einer ­umfassenden und unternehmensweiten Informations- und Kommunikationspolitik, die die

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259

Mitarbeiter über die Veränderungsprojekte, die umzusetzenden Maßnahmen sowie auch über die Fortschritte der umgesetzten Veränderungen kontinuierlich informiert. Gleichzeitig müssen konkrete Zielsetzungen und Zeitvorgaben für die Zielerreichung festgelegt und kommuniziert werden. Die besondere Herausforderung dieser Phase besteht in der Motivation der Veränderungsbereitschaft der Mitarbeiter und in der Erreichung des Commitments der Mitarbeiter für den Wandel und die konkreten Veränderungsmaßnahmen. Mögliche Widerstände und Opponenten müssen frühzeitig identifiziert und, sofern möglich, überwunden werden. Die Phase der Evaluation umfasst eine prozessbegleitende Evaluation des Veränderungsprozesses, um erreichte Erfolge, aber auch mögliche Schwierigkeiten und Hindernisse möglichst frühzeitig zu identifizieren und entsprechend gegensteuern zu können. Hier werden auch die Erfahrungen des Veränderungsprozesses ausgewertet und dokumentiert. Auch wenn die Evaluation in diesem Prozessschema als eine eigene späte Phase dargestellt wird, sollte sie doch möglichst frühzeitig den Veränderungsprozess begleiten, um bei Zielabweichungen schnell steuernd eingreifen zu können. In der letzten Phase der Stabilisierung haben sich die neu eingeführten nachhaltigen Veränderungen schon ein bisschen zur Routine entwickelt und werden als Standardprozesse und normale Handlungsweisen im Unternehmen betrachtet. Stabilisierung bedeutet nicht Erstarrung, sondern eher „zur Ruhe kommen“, um sich auch wieder auf andere Aufgaben und Projekte sowie das Tagesgeschäft konzentrieren zu können. Allerdings muss das Unternehmen und seine Akteure eine latente Veränderungsfähigkeit entwickeln und erhalten, um kurzfristig auf neue unternehmensexterne oder -interne Herausforderungen reagieren und sich auch zukünftig entsprechend weiterentwickeln zu können.

3

 edeutung des Personalmanagements im integrierten B nachhaltigen Change Management

Die Bedeutung des Personalmanagements für ein integriertes nachhaltiges Change Management wird bislang in der Literatur kaum thematisiert. Allenfalls wird die Personalentwicklung berücksichtigt, wenn es um die Qualifikation und Entwicklung der Mitarbeiter in Veränderungsprozessen geht. Da das Personalmanagement über das fachliche Expertenwissen im Hinblick auf alle personalrelevanten Themenbereiche sowie insbesondere die mitarbeiterbezogenen Anforderungen in Organisationsentwicklungsprozessen verfügt, sollte es auch in Wandelprozessen viel stärker und systematisch integriert werden. So könnten die Erfahrungen und die Expertise des Personalmanagements auch gut für inte­ grierte nachhaltige Wandelprozesse des Change Management genutzt und, wenn nötig, weiter entwickelt werden. Als weiterer Grund für die Beteiligung des Personalmanagements an Wandelprozessen ist die Betroffenheit der Mitarbeiter von Veränderungsprozessen zu nennen, die durch das Personalmanagement kompetent und umfassend vorbereitet, begleitet und am Wandelprozess beteiligt werden können.

260

U. Kirschten

Auch sollte das Personalmanagement ein stärkeres Selbstverständnis als aktiver Begleiter von nachhaltigen Change-Management-Prozessen entwickeln. Wichtig wäre ­beispielsweise, dass das Personalmanagement als strategischer Berater der Geschäftsleitung in das nachhaltige Change Management von vornherein einbezogen wird. Aber auch als integriertes Projektmitglied sollte das Personalmanagement an nachhaltigen Wandelprozessen im Unternehmen beteiligt werden. Welche Ziele, Aufgaben und Rollen das Personalmanagement in nachhaltigen Veränderungsprozessen verfolgen bzw. übernehmen kann, wird in den folgenden Unterkapiteln vorgestellt.

3.1

 iele des Personalmanagements im integrierten nachhaltigen Z Change Management

Manche Unternehmen werden schon mit der Intention gegründet, nicht nur wirtschaftlich leistungsfähig zu sein, sondern auch ökologisch verträglich und sozial gerecht zu arbeiten. Diese Unternehmen konzentrieren sich bewusst auf die Herstellung ökologischer und gesundheitsverträglicher Produkte oder Dienstleistungen. Beispiele hierfür sind u. a. der in den 1970er-Jahren gegründete Textilhersteller und Versandhandel „Hess Natur“, „The Body Shop“ oder der Büroartikelhersteller „Memo“. Andere Unternehmen entscheiden sich aufgrund von unternehmensspezifischen Ereignissen, Unfällen, Forderungen von Kunden oder veränderten internen oder externen Rahmenbedingungen im Laufe ihres „Unternehmenslebens“ zu einem nachhaltigen Veränderungsprozess, um ihre Unternehmenstätigkeit und ihre Leistungserstellungsprozesse ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich leistungsfähig auszurichten und entsprechend weiterzuentwickeln. Entscheidet sich ein Unternehmen für einen nachhaltigen Veränderungsprozess, so sollte das Personalmanagement von Anfang an in den nachhaltigen Change-­Management-­ Prozess mit eingebunden werden und dabei folgende Ziele verfolgen:

3.1.1 B  eteiligung als Business Partner an der Gestaltung des nachhaltigen Wandels Ziel des Personalmanagements sollte es sein, als Business Partner an der Gestaltung des nachhaltigen Wandels im Unternehmen beteiligt zu werden. Dazu sollte das Personalmanagement möglichst frühzeitig nach der Veränderungsentscheidung der Geschäftsleitung mit in den Gestaltungsprozess des Change Managements einbezogen werden. Ideal wäre die Integration des Personalmanagements in das übergeordnete Projektteam, das über die Ziele, die Richtung, mögliche Berater, die Gestaltung und Kommunikation des Wandelprozesses sowie die am Wandelprozess beteiligten Akteure berät und entscheidet.

Integriertes nachhaltiges Change Management

261

3.1.2 Mitarbeit in konkreten Wandelprozessen und Wandelprojekten Das Personalmanagement sollte danach streben, aktiv im Change Management, im Wandelprozess sowie in konkreten Veränderungsprojekten mitzuarbeiten. Erst als aktiver Partner im Veränderungsprozess und in konkreten Veränderungsprojekten kann das ­Personalmanagement seine personalspezifischen Kompetenzen mit in das Veränderungsprojekt einbringen. 3.1.3 I ntegration der Personalbelange in den Wandel und Wandelprozess Ein weiteres wichtiges Ziel des Personalmanagements besteht in der Integration der Anforderungen an und Belange der Mitarbeiter in den Wandelprozess. Aufgrund seines Aufgabenbereichs und seiner Kompetenzen kann das Personalmanagement die Anforderungen, aber auch die Gestaltungsmöglichkeiten und vor allem die Auswirkungen des nachhaltigen Wandels auf die Mitarbeiter beurteilen. Ziel ist es hierbei, den Wandel effizient und effektiv zu gestalten, dabei jedoch auch verantwortungsvoll die aus dem Wandel resultierenden Belastungen, Veränderungen, Ängste und Auswirkungen auf die Mitarbeiter sowie die personalbezogenen Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Hierbei können auch die ökologischen und sozialen Anforderungen, Belastungen und Auswirkungen auf die Mitarbeiter von vorherein mitberücksichtigt und abgeschätzt werden. 3.1.4 E  inbringen personalspezifischer Qualifikationen und Kompetenzen in den Wandel Die Einbindung des Personalmanagements in den Wandelprozess zielt auch darauf ab, die spezifischen Qualifikationen und Kompetenzen des Personalmanagements umfassend in die Gestaltung und die Umsetzung des nachhaltigen Wandels zu integrieren. Dies ist besonders wichtig, um die Gestaltungsspielräume für die Veränderungen auszuschöpfen, Widerstände gegen den Wandel zu minimieren und die Mitarbeiter umfassend am Wandel zu beteiligen, zu begleiten und auch bei den Veränderungen zu unterstützen.

3.2

 ufgaben des Personalmanagements im integrierten A nachhaltigen Change Management

Die Ziele der Integration des Personalmanagements in den nachhaltigen Wandel können dadurch erreicht werden, dass das Personalmanagement im Veränderungsprozess die folgenden Aufgaben übernimmt:

3.2.1 A  nalyse der Ist-Situation, des Veränderungsbedarfs durch den Wandel und der Betroffenheit der Mitarbeiter vom Wandel Aufgrund seiner umfassenden personalspezifischen Kenntnisse und Kompetenzen sollte das Personalmanagement die personalbezogene Analyse der Ist-Situation als Ausgangspunkt für den Wandel übernehmen. Dazu gehört auch die Analyse des personalrelevanten

262

U. Kirschten

Veränderungsbedarfs für die betroffenen Aufgabenbereiche. Aus der Ermittlung des Veränderungsbedarfs kann die Betroffenheit konkreter Mitarbeiter abgeschätzt werden, die wiederum die Voraussetzung für die Entwicklung geeigneter und sozial verträglicher Strategien und Maßnahmen zur Umsetzung des Wandels ist.

3.2.2 E  ntwicklung personalbezogener Strategien und Projekte zur Umsetzung des Wandels Im Anschluss an die o. g. Analyse der Ist-Situation, des Veränderungsbedarfs und der Betroffenheit der Mitarbeiter vom Wandel besteht eine weitere sehr wichtige Aufgabe des Personalmanagements darin, personalbezogene Strategien zur Gestaltung und Umsetzung des nachhaltigen Wandels in den betroffenen Aufgabenbereichen zu entwickeln. Für die Umsetzung der entwickelten Strategien müssen später konkrete Veränderungsprojekte geplant werden, in denen die Veränderungen tatsächlich umgesetzt werden. Je nach Umfang des Wandelprozesses bietet sich auch die Konzeption von Teilprojekten an, die jeweils klar abgegrenzte Veränderungsvorhaben umsetzen. 3.2.3 Mitarbeit und Begleitung der Mitarbeiter im Wandel Die konkrete Mitarbeit des Personalmanagements im Wandelprozess ist eine besonders wichtige Aufgabe. So ist das Personalmanagement dafür prädestiniert, die Mitarbeiter bei der Umsetzung der Veränderungen zu begleiten, sie durch geeignete Maßnahmen zu unterstützen und sie für die Veränderungen zu qualifizieren und weiterzuentwickeln. Für diese aktive Mitarbeit im konkreten Wandelprozess kann das Personalmanagement auf ein breites Instrumentarium zurückgreifen, das auch geeignet ist, ökologische und soziale Qualifikationen und Kompetenzen zu vermitteln. 3.2.4 E  valuation des personalbezogenen Erfolgs konkreter Wandelprojekte Auch für die Evaluation des personalbezogenen Erfolges konkreter nachhaltiger Wandelprojekte ist das Personalmanagement sehr gut geeignet. Durch die intensive Begleitung, Unterstützung und Qualifikation der Mitarbeiter im Wandel kann das Personalmanagement kompetent beurteilen, welche Veränderungen wie weitreichend bereits umgesetzt und von den Mitarbeitern angewendet werden und in welchen Bereichen noch weitere Maßnahmen erforderlich sind. Zur Evaluation des personalbezogenen Erfolgs stehen dem Personalmanagement die Kompetenz und das Instrumentarium des Personalcontrollings zur Verfügung.

3.3

 ollen des Personalmanagements im integrierten nachhaltigen R Change Management

Das Personalmanagement verfügt über umfangreiches personalbezogenes Wissen und auch Erfahrungen bei der Planung und Umsetzung nachhaltiger Veränderungsprozesse. Dabei können insbesondere die personalbezogenen sozialen Anforderungen und Veränderungen kompetent berücksichtigt werden. Zur Beurteilung der ökologischen Anforderun-

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263

Rollen des Personalmanagement im Change Management Prozess Prozessphasen des integrierten nachhaltigen Change Managements Psychologische Ebene Inhaltliche Ebene Initiierung

Auftauen(unfreezing) Ist-Analyse

Planung / Konzepterarbeitung

Verändern (changing) Implementierung

Stabilisieren (refreezing) Evaluation

Stabilisierung / Erhalt der Veränderungsfähigkeit

Rollen des Personalmanagements im Change Management Prozess • Interner • Interner Fachberater Fachberater PersonalPersonalmanagement management

• Interner Fachberater Personalmanagement • Prozessberater • Personalentwickler

• Interner Fachberater • Interner Fachberater Personalmanagement Personal• Prozessberater management • Personalentwickler • Personalcontroller • Kommunikator • Moderator • Konfliktmanager

• Interner Fachberater Personalmanagement • Personalentwickler • Change Management Berater

Abb. 3  Rollen des Personalmanagements im Change-Management-Prozess

gen und notwendigen Veränderungen kann das Personalmanagement entweder auf eigene Kompetenzen (z. B. in den Bereichen der Arbeitsplatzbeurteilung, Gefährdungsanalysen, betriebliches Gesundheitsmanagement) zurückgreifen, seine eigenen Kompetenzen weiterentwickeln, zusätzliche unternehmensinterne Kompetenzen hinzuziehen oder, wenn nötig, den Sachverstand einkaufen. Bei umfangreichen Veränderungsprozessen werden häufig entweder unternehmensexterne und oder unternehmensinterne Berater (auch Change Agents genannt) vom Auftraggeber des Veränderungsprozesses mit in den Veränderungsprozess eingebunden. Das Personalmanagement ist fachlich prädestiniert, um in dem gesamten nachhaltigen Veränderungsprozess organisatorisch und inhaltlich als Business Partner mit an der Planung und Umsetzung des Wandelprozesses beteiligt zu werden und dauerhaft daran mitzuarbeiten. Dabei kann das Personalmanagement verschiedene Rollen in den einzelnen Phasen des Veränderungsprozesses ausfüllen. Die Rollen bilden jeweils spezifische Kompetenzbereiche des Personalmanagements ab, die sich auch gegenseitig ergänzen können. Abb.  3 zeigt, welche Rollen das Personalmanagement in den jeweiligen Phasen des Veränderungsprozesses besonders kompetent übernehmen kann. Im Folgenden werden die verschiedenen Rollen, die das Personalmanagement in den einzelnen Phasen des integrierten nachhaltigen Veränderungsprozesses übernehmen kann, genauer vorgestellt. Dabei bietet der Phasenablauf des nachhaltigen Change-­Management-­ Prozesses die Orientierung.

3.4

Initiierung des Veränderungsprozesses

In der Phase der Initiierung des nachhaltigen Veränderungsprozesses erfolgen der unternehmensextern oder -intern ausgelöste Anstoß zum Veränderungsprozess sowie die Entwicklung der Richtung und des übergeordneten Ziels des Wandels. Meist ist es die Ge-

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schäftsleitung oder eine Bereichsleitung, die die grundsätzliche Entscheidung zum Wandel trifft und damit den Veränderungsprozess startet. Bei der Abschätzung der grundlegenden Entwicklungsrichtung und der wesentlichen Ziele des zukünftigen Wandels kann das Personalmanagement in der Rolle des internen Fachberaters Personalmanagement wichtige personalbezogene Anforderungen, Rahmenbedingungen und Zielsetzungen für die Ausrichtung des nachhaltigen Wandelprozesses mit in die Entscheidungsvorbereitung einbringen.

3.4.1 Ist-Analyse Die Ist-Analyse in der zweiten Phase des Veränderungsprozesses dient der Erarbeitung einer umfassenden SWOT-Analyse des Unternehmens hinsichtlich der aktuellen Situation und der angestrebten ökologischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen. Auch hier sollte das Personalmanagement als interner Fachberater Personalmanagement an der Erarbeitung der SWOT-Analyse beteiligt werden, um alle aktuellen personalbezogenen Chancen und Risiken, aber auch Stärken und Schwächen mit zu identifizieren und im Hinblick auf den nachhaltigen Wandel mit zu bewerten. Gerade für die Analyse der aktuellen Unternehmenssituation und der internen und externen personalbezogenen und sozialen Rahmenbedingungen ist die Expertise des Personalmanagements außerordentlich wichtig. So kann das Personalmanagement wichtige Informationen über bisherige Arbeitsstrukturen und -abläufe, die Kommunikationsstrukturen innerhalb und zwischen verschiedenen Hierarchieebenen, die bestehenden Anreizsysteme sowie die vorhandenen fachlichen, methodischen und sozialen Qualifikationen und Kompetenzen der Mitarbeiter erarbeiten und in die Analyse einbringen. 3.4.2 Planung und Konzepterarbeitung In dieser Phase der Planung und Konzepterarbeitung müssen die Ziele des Wandels, die beteiligten Akteure, Projektgruppen und Change Agents sowie die konkreten Veränderungsprojekte und -maßnahmen, aber auch die Informations- und Kommunikationsstrategien im Veränderungsprozess geplant und entwickelt werden. Das Personalmanagement sollte in dieser Phase in drei verschiedenen Rollen mitarbeiten: in der Rolle als interner Fachberater Personalmanagement, in der Rolle des Prozessberaters und in der Rolle des Personalentwicklers. Die Rolle des internen Fachberaters Personalmanagement stellt sicher, dass alle personalbezogenen Anforderungen, Aufgaben und Maßnahmen bei der Planung und Konzepterarbeitung berücksichtigt werden. Da Veränderungsprozesse immer auch die Mitarbeiter betreffen, wird dadurch gewährleistet, dass das detaillierte Wissen des Personalmanagements über alle bestehenden personalbezogenen Aufgabenbereiche, Regelungen, Abläufe und vorhandenen Qualifikationen von Anfang an für die Planung und Gestaltung des nachhaltigen Veränderungsprozesses genutzt wird. Zusätzlich kann das Personalmanagement das Ausmaß der personalbezogenen Veränderungen und die sozialen Auswirkungen des geplanten nachhaltigen Veränderungsprozesses auf die Mitarbeiter, ihre Aufgabenbereiche und zu entwickelnden Qualifikationen kompetent abschätzen. Wichtige Beträge zur organisatorischen Integration des Veränderungsprozesses in die Unternehmensstrukturen ­sowie zur Bildung und personellen Besetzung der Teilprojektteams können auch vom Personalmanagement geleistet werden.

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Als Prozessberater kann das Personalmanagement kompetent an der Prozessplanung und an der Gestaltung der verschiedenen Prozessschritte des nachhaltigen Veränderungsprozesses sowie der konkreten Veränderungsprojekte mitarbeiten und sein spezifisches Wissen, aber auch sein vielfältiges Instrumentarium zur Analyse und Umsetzung notwendiger Veränderungen in den Teilprozessschritten einbringen. Bei der Planung der einzelnen Prozessphasen sollte hier gezielt die Betroffenheit und notwendigen Veränderungen der Mitarbeiter (z.  B.  Integration ökologischer und sozialer Aufgaben in die Stellenbeschreibungen, ökologisch und soziale Erweiterung der Aufgabenbereiche) analysiert und entsprechende Maßnahmen in die Planung und detaillierte Konzepterarbeitung inte­ griert werden. Für die Rolle des Personalentwicklers ist das Personalmanagement bestens geeignet, da die Personalentwicklung und die Qualifizierung zu den fachspezifischen Aufgaben des Personalmanagements gehören. So kann das Personalmanagement den notwendigen ökologischen, ökonomischen oder sozialen Qualifikationsbedarf in den jeweiligen konkreten Veränderungsprojekten kompetent abschätzen und für die jeweiligen Teilprozessphasen und Teilprojekte gezielte Qualifikationsmaßnahmen für die betroffenen Mitarbeiter und Abteilungen planen und konzipieren.

3.4.3 Phase der Implementierung In der Phase der Implementierung erfolgt nun die tatsächliche Umsetzung der geplanten Veränderungen in den jeweiligen Veränderungsprojekten durch konkrete Maßnahmen. Die betroffenen Mitarbeiter müssen hierbei in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen aktiv an der Gestaltung und Umsetzung der Veränderungen beteiligt werden und durch zielgerichtete Trainingsmaßnahmen die neuen Aufgaben, Verfahren und Abläufe einüben können. In dieser Phase der tatsächlichen Implementierung und Umsetzung der nachhaltigen Veränderungsmaßnahmen sollte das Personalmanagement seine Rollen als interner Fachberater Personalmanagement und als Prozessberater beibehalten. Zusätzlich werden in dieser Prozessphase jedoch noch weitere Rollen des Personalmanagements wichtig. So sollte das Personalmanagement unbedingt die Rolle des Personalentwicklers übernehmen, der die Mitarbeiter bei den nun umzusetzenden nachhaltigen Veränderungen unterstützt, begleitet und vor allem für die neuen Anforderungen und Aufgaben qualifiziert. Auch die Führungskräfte müssen bei der Umsetzung der Veränderungen intensiv betreut und begleitet werden, da sie doppelt belastet sind. Einerseits sind auch die Führungskräfte von den Veränderungen direkt betroffen (z. B. durch neue Aufgabenbereiche, andere Abläufe oder Zuständigkeiten). Andererseits müssen die Führungskräfte die ihnen unterstellten Mitarbeiter bei der Umsetzung der Veränderung unterstützen und begleiten, mögliche Widerstände bewältigen und die Mitarbeiter insgesamt für den Veränderungsprozess motivieren und sie anleiten. Aufgrund dieser Schlüsselfunktion der Führungskräfte im nachhaltigen Veränderungsprozess besteht hier ein intensiver Personalentwicklungs- und Coachingbedarf. In der Rolle des Personalentwicklers analysiert das Personalmanagement den erforderlichen Personalentwicklungs- und Coachingbedarf

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und kann geeignete E ­ ntwicklungsmaßnahmen konkret in den verschiedenen Veränderungsprojekten einplanen und auch die Umsetzung der entsprechenden Personalentwicklungsmaßnahmen selbst übernehmen oder delegieren. Auch die Rolle des Kommunikators sollte das Personalmanagement mitgestalten. Gerade bei der Umsetzung der Veränderungen in die betrieblichen Strukturen und Abläufe ist es wichtig, sowohl die Erwartungen im Hinblick auf die nachhaltigen Veränderungen als auch die Inhalte und zeitlichen Vorgaben der sich verändernden Aufgaben, Strukturen oder Abläufe eindeutig und regelmäßig zu kommunizieren. Diese Kommunikation schafft Klarheit für die Mitarbeiter, was sich nun alles ändert und wann die Neuerungen umgesetzt werden sollen. Sie dient aber auch der Vermeidung von Gerüchten und Unsicherheiten. Zusätzlich ist es wichtig, erste Erfolge der Veränderungen zu kommunizieren, um die Motivation der Mitarbeiter im Veränderungsprozess zu erhalten und zu stärken. Das Personalmanagement kann in der Rolle des Kommunikators auf die bereits bestehenden Kommunikationswege, -kanäle und Kommunikationsmedien zurückgreifen, die es auch bei seinen normalen personalbezogenen Aufgaben nutzt. Wesentliche Kommunikationswege sind hierbei nicht nur die Informationsweitergabe der umzusetzenden Veränderungen von der Geschäftsleitung bzw. den Auftraggebern des Wandels an die Mitarbeiter in den einzelnen Aufgabenbereichen und Abteilungen (top down), sondern auch die Kommunikation der Fortschritte, aber auch möglicher Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Veränderungen vor Ort und in den einzelnen Projekten (bottom up und vernetzt). Dabei können als Kommunikationskanäle und -medien sowohl schriftliche (detailliertere Informationen in der Unternehmenszeitschrift, Rundschreiben), mündliche (z.  B. direkte Anweisungen umzusetzender Neuheiten), aber auch elektronische Kommunikationsmedien und -instrumente (z. B. E-Mail, Newsletter, Intranet) genutzt werden. Eine intensive Kommunikation wird hierbei durch das breite, bereits verfügbare Kommunikationsinstrumentarium unterstützt, das dem Personalmanagement zur Verfügung steht (z.  B.  Newsletter, Mitarbeiterbefragung, Anweisungen, Artikel in der Unternehmenszeitschrift). In der Rolle des Moderators geht es darum, sowohl inhaltlich als auch prozessbezogen, neue Anforderungen, Aufgaben und Abläufe zwischen den verschiedenen Akteuren, die am Veränderungsprozess beteiligt sind, zu vermitteln und abzustimmen. Dabei gilt es auch, Interessensgegensätze offenzulegen und eine konstruktive Einigung zu erreichen. Das Personalmanagement kann als neutrale Instanz die Rolle des Moderators kompetent übernehmen und dabei auf seine vielfältigen fachlichen Kenntnisse und Instrumente, z. B. in den Bereichen der Moderation, Gesprächsführung, Gestaltung von Arbeitskreisen oder Teamarbeit und Teamentwicklung, zurückgreifen. Gleiches gilt für die Rolle des Konfliktmanagers. Auch hierfür ist das Personalmanagement gut geeignet und verfügt über ein vielfältiges Instrumentarium, das für die Bearbeitung und Lösung auftretender Konflikte im Veränderungsprozess kompetent genutzt werden kann. Häufig lösen Veränderungsprozesse Ängste vor den ökonomischen, ökologischen und sozialen Veränderungen und Unsicherheit hinsichtlich der Auswirkungen der Veränderungen auf die Aufgabenbereiche oder Arbeitsplatzsicherheit der betroffenen Mitarbeiter aus. Daraus können sich erhebliche Widerstände gegen die Umsetzung der Verän-

Integriertes nachhaltiges Change Management

267

derungen entwickeln. Hier gilt es, durch eindeutige und verbindliche Informationen, ­Anweisungen, aber auch durch unterstützende Maßnahmen Unsicherheiten abzubauen und mithilfe von Konfliktbearbeitungsstrategien Widerstände zu reduzieren.

3.4.4 Phase der Evaluation Eine prozessbegleitende Evaluation des Veränderungsprozesses erfolgt in dieser Phase der Evaluation. So können die bisherigen Erfahrungen ausgewertet und die Veränderungserfolge gewürdigt werden, gleichzeitig aber auch mögliche Schwierigkeiten oder Zielabweichungen frühzeitig registriert und entsprechend gegensteuernde Maßnahmen ergriffen werden. In der Prozessphase der Evaluation sollte das Personalmanagement neben seinen bisherigen Rollen als neue Rolle die des Personalcontrollers übernehmen, die im Folgenden näher erläutert wird. Da das Personalcontrolling auch ein Teilbereich des Personalmanagements ist, kann das Personalmanagement hier ebenfalls seine Fachkompetenz in dieser Rolle nutzen und in den Veränderungsprozess einbringen. Für die prozessbegleitende Evaluation des nachhaltigen Veränderungsprozesses können spezifische quantitative und qualitative Controllinginstrumente genutzt werden, wie z. B. Kennzahlen, die den Umsetzungsgrad der nachhaltigen Veränderungen, Fehlerquoten oder Produktionsdaten messen, Berichtspflichten zur Dokumentation des jeweiligen Ist-Zustandes, Schwachstellenanalysen o. ä. Besonders stark ist das Personalmanagement in der Erhebung und Nutzung personalbezogener Kennzahlen und Instrumente, die ja gerade im Veränderungsprozess, wo es um die Bewältigung der Veränderungen durch die Mitarbeiter geht, besonders wichtig sind. Beispielsweise wäre hier die Erarbeitung einer Balanced Scorecard für den nachhaltigen personalbezogenen Veränderungsprozess zu empfehlen (vgl. Kirschten 2017, S. 351). 3.4.5 Phase der Stabilisierung und Erhalt der Veränderungsfähigkeit In der letzten Phase der Stabilisierung etablieren sich die neu eingeführten nachhaltigen Veränderungen als neue Standardprozesse und -abläufe im Unternehmen. Die anfänglichen Unsicherheiten sind weitgehend überwunden und alle Akteure des nachhaltigen Wandels „kommen etwas zur Ruhe“. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Unternehmen und die Mitarbeiter in und mit den neuen Standardprozessen „erstarren“. Vielmehr ist der dauerhafte Erhalt einer Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft sehr wichtig, um auch kurzfristig auf neue unternehmensinterne oder -externe Herausforderungen reagieren zu können. Für die Verankerung einer dauerhaften Veränderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit sollte das Personalmanagement die Rolle des Personalentwicklers nutzen, um mit geeigneten Instrumenten die Veränderungsfähigkeit, aber auch die Veränderungsbereitschaft der Mitarbeiter zu fördern und weiterzuentwickeln. Aufgrund seiner Erfahrungen mit der Organisationsentwicklung und dem Change-­ Management-­Prozess kann das Personalmanagement zum Erhalt der mitarbeiterbezogenen Veränderungsfähigkeit, aber auch für zukünftige nachhaltige Veränderungsprozesse seine Kompetenzen für die Rolle des Change-Management-Beraters weiterentwickeln. Diese Rolle ist als Meta-Rolle zu verstehen, in der die anderen Rollen des Personalmanagements integriert werden können.

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4

U. Kirschten

Fazit

Ein integriertes nachhaltiges Change Management unterstützt Unternehmen und Organisationen bei der schwierigen Aufgabe, kontinuierlich wandelbereit und auch veränderungsfähig zu sein, um auf die immer kurzfristiger sich verändernden Herausforderungen durch Marktveränderungen, Globalisierung, die digitale Transformation, aber auch die sich wandelnde Gesellschaft und Umwelt nicht nur zu reagieren, sondern Wandelprozesse auch selbst zu initiieren. Die Entwicklung von Unternehmen hin zu nachhaltigen Unternehmen, die ökologisch verträglich, sozial gerecht und ökonomisch leistungsfähig handeln, ist hierfür ein gutes und wichtiges Beispiel. Gerade im Change Management werden bislang die Bedeutung und die Kompetenzen des Personalmanagements unterschätzt. So kann das Personalmanagement wertvolle und kompetente Beiträge zum und im Change Management von Unternehmen leisten, die hier in den letzten Kapiteln detailliert vorgestellt wurden. Insgesamt wäre es wünschenswert, dass das Personalmanagement gerade im Change Management als kompetenter Business Partner stärker in die herausfordernden nachhaltigen Wandelprozesse eingebunden wird  und auch ein eigenes Selbstverständnis  als Change Management Agent und Berater weiterentwickelt.

Literatur Bartscher T, Nissen R (2019) Change Management für Personaler. Haufe, Freiburg Creusen U, Gall B, Hackl O (2017) Digital Leadership: Führen in Zeiten des digitalen Wandels. Springer, Berlin Doppler K, Lauterburg C (2014) Change Management: Den Unternehmenswandel gestalten, 13., Ak. u. erw. Aufl. Campus, Frankfurt am Main./New York GOE, Gesellschaft für Organisationsentwicklung e.V (1980) Leitbild und Grundsätze für Organisationsentwicklung. Langenfeld Herscovitch L, Meyer JP (2002) Commitment to organizational change: Extension of a three component model. J Appl Psychol 87:474–487 Kirschten U (2017) Nachhaltiges Personalmanagement: Aktuelle Konzepte, Innovationen und Unternehmensentwicklung. utb, Konstanz/München Lewin K (1947) Frontiers in group dynamics I: concept, method and reality in social science, social equilibria and social change. Hum Relat I(1):5–41 Rank S, Scheinpflug R(Hrsg) (2010) Einführung in das Change Management. In: Rank S, Scheinpflug R (Hrsg) Change Management in der Praxis. Beispiele, Methoden, Instrumente. Erich Schmidt, Berlin, S 15–35 Ternés A (2018) Digitale Transformation. HR vor enormen Herausforderungen. In: Ternés A, Wilke CD (Hrsg) Agenda HR. Digitalisierung, Arbeit 4.0, New Leadership. Springer, Berlin, S 3–12 Vahs D (2012) Organisation: Ein Lehr- und Managementbuch, 8. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart Vahs D (2019) Organisation. Ein Lehr- und Managementbuch, 10. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart Vahs D, Weiand A (2013) Workbook Change Management: Methoden und Techniken, 2. Aufl. Schäffer-Poeschel, Stuttgart

Integriertes nachhaltiges Change Management

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Dr. Uta Kirschten  ist seit 2013 Professorin für Personalmanagement an der Westsächsischen Hochschule in Zwickau. Von 2007 bis 2013 war Frau Kirschten Professorin für Human Resources Management an der privaten AKAD Hochschule Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Arbeit 4.0, Nachhaltiges Personalmanagement, Innovation und Arbeit, Frauen in Führungspositionen, Change Management und Wissensmanagement. Seit 2007 leitet sie das Hallesche Institut für nachhaltiges Management (HANAMA) in Halle und verfügt über eine langjährige Berufspraxis in Forschung, Beratung und Lehre.

Integrated Reporting Bedeutung und Nutzenpotenziale einer nachhaltigen, wertschöpfungsbezogenen Berichterstattung im Rahmen eines integrierten Unternehmensführungskonzepts Marcel Mock 1

I ntegrated Reporting: Nachhaltige und wertschöpfungsbezogene Berichterstattung im Kontext eines integrierten Unternehmensführungskonzepts

1.1

 edeutungszuwachs und Notwendigkeit einer B ganzheitlichen Berichterstattung

Die Finanzkommunikation stellt die „Grundlage der Beurteilung der Unternehmensführung durch die Finanzöffentlichkeit“ (Vater et al. 2008, S. 2610) dar und soll maßgeblich dazu beitragen, die strategische Motivation von unternehmerischen Entscheidungen sowie deren Erfordernis zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund ist der Finanzkommunikation, in Bezug auf die Vermittlung und Darstellung von Informationen, eine besondere Bedeutung zuzuschreiben (Center for Research in Financial Communication 2019, S. 3). Nicht zuletzt aufgrund des fortschreitenden gesellschaftlichen Interesses und Wandels erfahren eine nachhaltige Unternehmensführung und -steuerung sowie eine darauf basierende Unternehmens(-finanz-)kommunikation und -berichterstattung zunehmende Priorität und eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Anspruchsgruppen einer Organisation (Arbeitskreis Integrated Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft

M. Mock, M.Sc., CIIA, CEFA (*) Doktorand an der UCAM Universidad Católica San Antonio de Murcia, Guadalupe (Murcia), Spanien Institute for Strategic Finance (isf), FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_15

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e.V. 2018, S. 337). Hierbei ist die Entwicklung hin zum intergierten Berichtswesen, vor dem Hintergrund sich verstärkender Tendenzen und Zusammenführungsgedanken der wertorientierten Finanzberichterstattung sowie der Nachhaltigkeitsberichterstattung, als unerlässlich zu erachten (Günther et al. 2016, S. 3 ff. einschließlich der dort angegebenen Literatur; Haller 2017, S. 442). Nicht zuletzt die zunehmende Komplexität von Informationen sowie umzusetzende Berichtsstandards, aufgrund steigender rechtlicher Anforderungen, münden in der Notwendigkeit einer wertschöpfungs- und wesentlichkeitsorientierten Unternehmensberichterstattung (Kajüter 2013, S.  125–126). Eine sowohl nachhaltige und intergierte als auch eine auf die Erwartungen aller relevanten ­Anspruchsgruppen eines Unternehmens abgestimmte Berichterstattung erhöht nicht ausschließlich die Transparenz und Qualität der offengelegten Inhalte, sondern trägt zudem auch einen maßgeblichen Beitrag zur zukunftsorientierten Ausrichtung der Unternehmensführung und -überwachung bei (Haller 2017, S.  442). Dies ist insbesondere dadurch begründet, dass eine ganzheitlich integrierte Berichterstattung darauf ausgelegt ist, zentrale Wertschaffungsfaktoren eines Unternehmens aufzudecken und den Stakeholdern entscheidungsrelevante Informationen bereitzustellen, damit diese ihre Entscheidungen effizient treffen können. Allerdings ist diese Art der Berichterstattung nicht lediglich ein Mehrwert für den externen Adressatenkreis, sondern ermöglicht es dem Management darüber hinaus, die Unternehmensführung mehrdimensional auszurichten. Diese mehrdimensionale Interdisziplinarität drückt sich besonders im ganzheitlichen und übergreifenden Denken, ergo in der Berücksichtigung sich beeinflussender Interdependenzen, Trade-offs oder der Wesentlichkeitsbeurteilung bestimmter Informationen aus (Haller 2017, S. 443). Demnach legt die integrierte Berichterstattung einen Grundstein für ein adäquates Informations- und Kontrollsystem, das wiederum ein unabdingbarer Erfolgsfaktor eines erfolgreichen Unternehmens darstellt und somit als ein notwendiges Unternehmensführungskonzept zu identifizieren ist. Dies vorangestellt, gilt es in diesem Beitrag, die intergierte Berichterstattung näher zu beleuchten.

1.2

I ntegrated Reporting gemäß dem Rahmenwerk des International Integrated Reporting Council

1.2.1 Grundlegende Darstellung In erster Linie verfolgt Integrated Reporting () gemäß dem Rahmenwerk des International Integrated Reporting Councils (IIRC) das Ziel, einen ganzheitlichen sowie effizienten Unternehmensberichterstattungsansatz zu implementieren. In diesem Zusammenhang soll den Kapitalgebern, durch eine erhöhte Transparenz sowie einer damit einhergehenden verbesserten Qualität der veröffentlichten Informationen, eine adäquate Allokation ihres zu investierenden Kapitals ermöglicht werden. Die langfristige Vision des IIRC, I­ ntegrated

Integrated Reporting Bedeutung und Nutzenpotenziale einer nachhaltigen, …

273

Fundamental Concepts

Guiding Principles

Content Elements

1. Value creation for the organization and others 2. The capitals 3. The value creation process

1. Strategic focus and future orientation 2. Connectivity of information 3. Stakeholder relationships 4. Materiality 5. Conciseness 6. Reliability and completeness 7. Consistency and comparability

1. Organizational overview and external environment 2. Governance 3. Business model 4. Risk and opportunities 5. Strategy and resource allocation 6. Performance 7. Outlook 8. Basis of preparation and presentation

Vgl. International Integrated Reporting Council (2013), S. 10-14

Vgl. International Integrated Reporting Council (2013), S. 16-23.

Vgl. International Integrated Reporting Council (2013), S. 24-32.

Abb. 1  Wesentliche Komponenten des Rahmenwerks des IIRC. (Quelle: eigene Darstellung)

Thinking1 und somit auch die bereits beschriebene Mehrdimensionalität der Unternehmensführung in das unternehmerische Handeln aufzunehmen sowie als die Unternehmensberichterstattungsnorm zu manifestieren, bildet den konzeptionellen Unterbau des Rahmenwerks (International Integrated Reporting Council 2013, S. 4). Gemäß dem IIRC wird ein integrierter Bericht wie folgt definiert: „An integrated report is a concise communication about how an organization’s strategy, governance, performance and prospects, in the context of its external environment, lead to the creation of value over the short, medium and long term.“ (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 1.1, S. 7)

Um den Anspruch einer ganzheitlichen und wertschöpfungsbasierten Kommunikation gerecht zu werden, deckt das Rahmenwerk drei Fundamental Concepts, sieben Guiding Principles sowie acht Content Elements ab. Die drei genannten Komponenten sind in Abb. 1 zusammenfassend dargestellt. Um die in Abb. 1 genannten Merkmale in ihrer Bedeutung für die Berichtserstattung vollumfänglich einzuordnen, ist anzumerken, dass das Rahmenwerk prinzipienbasiert ausgelegt ist. Es werden also keine verpflichtenden Angaben, wie beispielsweise bestimmte Key Performance Indicators oder spezifische Messmethoden oktroyiert. Dennoch sind vereinzelt kleine Anforderungen definiert, die zu erfüllen sind, bevor ein integrierter

 Integrated Thinking wird im Rahmenwerk des IIRC wie folgt definiert: „The active consideration by an organization of the relationships between its various operating and functional units and the capitals that the organization uses or affects. Integrated thinking leads to integrated decision-making and actions that consider the creation of value over the short, medium and long term.“ International Integrated Reporting Council 2013, S. 33.

1

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Bericht als rahmenwerkskonform bezeichnet werden kann (International Integrated Reporting Council 2013, S. 4 sowie Abs. 1D, S. 7). Im Allgemeinen ist damit gewährleistet, dass eine ausreichende Balance zwischen Flexibilität und Verpflichtung der Offenlegung eingehalten wird (Busco et al. 2013, S. 12–13; International Integrated Reporting Council 2013, S. 4 sowie Abs. 1D, S. 7). Zudem sind Unternehmen somit frei in den für sie als wesentlich kategorisierten Informationen und entscheiden eigenverantwortlich, was dem Berichtsadressaten dargelegt und kommuniziert wird (International Integrated Reporting Council 2013, S. 4 sowie Abs. 1C und 1D, S. 7; Sofian und Dumitru 2017, S. 3).

1.2.2 Fundamental Concepts Rekurrierend auf Abb. 1 existieren im Kontext des Rahmenwerks drei fundamentale Konzepte, die sowohl die Leitlinien als auch die Anforderungen einer integrierten Berichterstattung manifestieren. Die zentrale Zielsetzung eines integrierten Berichts ist – wie in der vorangegangenen Definition ersichtlich – die Darstellung der Wertschöpfung eines Unternehmens. Diese Wertschöpfung wird jedoch nicht ausschließlich durch die Unternehmen selbst generiert, sondern wird ebenso maßgeblich durch externe Einflüsse, Ausnutzung beziehungsweise Existenz entsprechender Ressourcen sowie durch die verschiedenartigen Beziehungen zu Stakeholdern determiniert. Vor diesem Hintergrund schaffen Unternehmen somit nicht ausschließlich Werte für sich als Organisation selbst, sondern auch für weitere Stakeholder (Value creation for the organization and others). Gemäß dem Rahmenwerk wird Wertschöpfung als Veränderung der Kapitalien (Erhöhung, Reduktion oder Transformation) durch unternehmerische Aktivitäten sowie entsprechendem Output definiert. Nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass Unternehmen diversen Stakeholderansprüchen gerecht werden müssen, gehen mit der Transformation der unterschiedlichen Kapitalien sowohl Zielharmonien als auch Zielkonflikte einher, die es gegeneinander abzuwägen gilt (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 2B, S. 10–11). Die bereits erwähnten Kapitalien (The capitals), die für den Erfolg eines Unternehmens verantwortlich sind, bilden das zweite fundamentale Konzept. Die verschiedenartigen Kapitalien erweitern insbesondere die finanzielle Definition von Kapital. Im Rahmen des Frameworks wird in Financial, Manufactured, Intellectual, Human, Social and Relationship sowie Natural Capital unterschieden. In Anlehnung an den prinzipienorientierten Ansatz des Rahmenwerks, sind die Kapitalien nicht verpflichtend in dieser Kategorisierung zu übernehmen und anzuwenden. Sie stellen vielmehr eine Guideline zur Gewährleistung der Beachtung aller Komponenten dar (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 2.18, S. 12). Das dritte zugrunde liegende Konzept umfasst den Wertschöpfungsprozess (Value creation process), innerhalb dessen die beschriebenen Kapitalien vergrößert, verkleinert oder transformiert werden. Der Wertschöpfungsprozess ist in der folgenden Abbildung dargestellt (Abb. 2). Die Kapitalien werden hierbei als Inputgrößen verstanden, die durch das Business Model eines Unternehmens und den damit einhergehenden Business Activities in Outputs konvertiert werden. Diese wiederum führen zu sogenannten Outcomes, die als interne und externe Konsequenzen der Kapitalien zu verstehen sind. Der Wertschöpfungsprozess wird

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Abb. 2  The value creation process. (Quelle: Integrated International Reporting Council 2013, S. 13 with permission from the International Integrated Reporting Council ©)

zudem maßgeblich einerseits von exogenen Umwelteinflüssen und andererseits von der Mission und Vision einer Organisation bestimmt (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 2D, S. 13–14).

1.2.3 Guiding Principles Die drei beschriebenen Konzepte unterstreichen die genannte Definition eines integrierten Berichts, der Stakeholder nicht ausschließlich über die finanzielle Perspektive eines Unternehmens aufklären, sondern vielmehr eine ganzheitliche, holistische Darstellung des rekursiven Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung gewährleisten soll (International Integrated Reporting Council 2013, S. 2). Vor dem Hintergrund des hohen Komplexitäts- und Abstraktionsgrades des Ansatzes ist es notwendig, eine Operationalisierung der bis hierher erläuterten Konzeption zu ermöglichen (Arbeitskreis Integrated Reporting der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft e.V. 2018, S. 338). Zu diesem Zweck wurden sieben Leitsätze (Guiding Principles) sowie acht Inhaltselemente (Content Elements) seitens des IIRC definiert. Die Guiding Principles bilden im Wesentlichen die Grundlage und geben Aufschluss über die Art und Weise, wie Informationen zum einen aufgearbeitet und zum anderen präsentiert werden sollen und schließlich ebenso über die Erstellung eines integrierten Berichts. Hierbei ist zu beachten, dass das Framework wiederum eine gewisse Flexibilität bei der Anwendung dieser Prinzipien walten lässt: Die Leitsätze können gemeinsam, aber auch separat voneinander betrachtet und angewendet werden. Es bedarf somit der Sensibilität und des Wissens über interne Betriebsabläufe und

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Wesentlichkeiten, wie diese Leitsätze institutsspezifisch einzusetzen sind. Es entstehen insbesondere dann Herausforderungen, wenn die einzelnen Leitgedanken konträr zueinander scheinen (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 3.2, S. 16). Folgende Guiding Principles existieren gemäß dem Rahmenwerk des IIRC: • • • • • • •

„Strategic focus and future orientation Connectivity of information Stakeholder relationships Materiality Conciseness Reliability and completeness Consistency and comparability“ (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 3.1, S. 16)

Das Prinzip Strategic focus and future orientation stellt die Darstellung eines Unternehmens in seiner Fähigkeit, kurz-, mittel- und langfristig Werte zu schaffen in den Mittelpunkt. Ferner ist diesbezüglich aufzuzeigen, inwiefern die einzelnen Kapitalien genutzt und deren Auswirkungen gesteuert und verstanden werden. Vor diesem Hintergrund wird auch die Beurteilung und Evaluation von Chancen und Risiken mit aufgenommen, die in Verbindung mit dem Business Model und der Wettbewerbsposition des Unternehmens stehen (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 3A, S. 16). Die Connectivity of information stellt einen weiteren wesentlichen Leitsatz dar. Hierbei sind die Zusammenhänge und Interdependenzen zwischen den wertschaffenden Faktoren darzustellen. In diesem Fall spielt das bereits erläuterte Integrated Thinking eine tragende Rolle. Die Intensität der Ausgestaltung des Integrated-Thinking-Ansatzes korreliert positiv mit dem Selbstverständnis der Konnektivität der Informationen. Der Aspekt der Konnektivität umfasst beispielsweise im Wesentlichen die Content Elements,2 die Darstellung finanzieller und nicht finanzieller Informationen sowie deren zeitliche Konsistenz etc. (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 3B, S. 16–17). Darüber hinaus sind Organisationen dazu angehalten, offenzulegen, wie qualitativ ausgeprägt ihre Beziehungen zu den relevanten Stakeholdern sind (Stakeholder relationship). Der Schwerpunkt dieser Betrachtungsweise liegt auf der Berücksichtigung der Interessen aller Anspruchsgruppen. Der beschriebene Leitsatz ist insbesondere auch in Bezug auf das Konzept Value creation for the organization and others auszulegen und umzusetzen (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 3C, S. 17–18). Ein weiteres essenzielles Guiding Principle lautet Materiality. Während sich das Framework hierüber im Allgemeinen relativ simplifiziert ausdrückt,3 sind im Spezifischen verschiedene Ausgestaltungen zu beachten. Der  Siehe hierzu Erläuterungen in Abschn. 1.2.4.  „An integrated report should disclose information about matters that substantively affect the organization’s ability to create value over the short, medium and long term.“ International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 3.17, S. 18.

2 3

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Materialitätsbestimmungsprozess umfasst vier Teilprozessschritte. Zunächst gilt es, relevante Sachverhalte, die zum genannten Wertschöpfungsprozess beitragen, zu identifizieren. Anschließend sind die festgestellten Merkmale hinsichtlich ihrer bereits nachweisbaren oder potenziell erwarteten Auswirkung auf die Wertschöpfung zu evaluieren und zu reflektieren. Auf dieser Grundlage hat eine Priorisierung gemessen an der relativen Bedeutung der einzelnen Sachverhalte zu erfolgen. Darauf basierend entscheidet sich, welche Informationen das Unternehmen letztlich in ihrem Integrated Report offenlegt (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 3D, S. 18–20). Ferner zählt es zu den Leitsätzen, dass integrierte Berichte einerseits kurz und prägnant (Conciseness) darzustellen sind und andererseits jedoch alle wesentlichen Punkte, unabhängig davon, ob ihre Auswirkungen negativer oder positiver Natur sind, ausgewogen und ohne wesentliche Fehler enthalten sollen (Reliability and completeness) (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 3E sowie Abs. 3F, S. 21–22). Im Rahmen dieser konträren Zielbeziehung wird einmal mehr der prinzipienorientierte Ansatz des Rahmenwerks betont, der den Unternehmen größtmögliche Flexibilität und Individualisierungsmöglichkeiten zugesteht. Die Leitsätze werden durch das Begriffspaar Consistency and comparability abgerundet. Hierunter ist die konsistente Darstellung der Informationen im Zeitverlauf sowie die Möglichkeit der Vergleichbarkeit mit anderen Unternehmen zu verstehen. Gerade dieser Aspekt ist herausfordernd: Neben den gemäß Rahmenwerk eingeräumten Freiheiten existiert zudem der oben genannte unternehmensspezifisch anzuwendende Materialitätsbestimmungsprozess. Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz wurden die Content Elements sowie die dazu korrespondierenden Fragen formuliert, um ein angemessenes Maß an Vergleichbarkeit zwischen den Unternehmen zu gewährleisten und die Guiding Principles fortzuführen (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 3.56 sowie Abs. 4.3, S. 23, 24).

1.2.4 Content Elements Der Inhalt eines integrierten Berichts schlägt sich in den acht Inhaltselementen (Content Elements) nieder (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4.1, S. 20). Diese sind gemäß dem Rahmenwerk des IIRC: • • • • • • • • •

„Organizational overview and external environment Governance Business model Risks and opportunities Strategy and ressource allocation Performance Outlook Basis of preparation and presentation and in doing so, takes account of: General reporting guidance“ (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4.1, S. 20)

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Die Content Elements stellen den höchsten Operationalisierungsgrad der -Konzeption dar und sind grundlegend miteinander verknüpft. In Analogie zum prinzipienorientierten Ansatz des Rahmenwerks ist auch bei den Inhaltselementen zu konstatieren, dass diese in ihrer Anwendung nicht verpflichtend sind. Vielmehr gilt es auch hierbei darauf zu achten, wesentliche Aspekte darzustellen und diese für den Adressatenkreis adäquat aufzubereiten. Der Maxime der Flexibilität wird insofern entsprochen, als der Inhalt des integrierten Berichts von den Spezifika eines jeden einzelnen Unternehmens abhängig ist. Daher, um diese individuellen Eigenschaften zu unterstreichen, ist ein wesentliches Charakteristikum der Content Elements, dass diese in Form von Fragen dargestellt werden. Somit wird einmal mehr deutlich, dass insbesondere die Wesentlichkeitsüberlegung der Unternehmen im Rahmen der Veröffentlichung von Informationen fokussiert wird (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4.3, S. 24). Schließlich werden diese Fragen wiederum durch verschiedene konkrete Informationsbeispiele erläutert und in ihrer Bedeutung unterstrichen. Zunächst gilt es, sich die Frage zu stellen, was ein Unternehmen im Wesentlichen auszeichnet, welche wirtschaftliche Aufgaben es erfüllt und unter welchen Umständen es agiert (Organizational overview and external environment). In diesem Zusammenhang steht die Identifikation der Vision und Mission im Vordergrund sowie die diesbezügliche Kontextualisierung der exogenen Umwelteinflüsse (International Integrated Reporting Council 2013, Abs.  4A, S.  24–25). Darüber hinaus ist darzulegen, inwiefern die Governance-­Struktur eines Unternehmens seine Fähigkeiten unterstützt, kurz-, mittelund langfristig Werte zu schaffen (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4B, S. 25). Ein zentrales Inhaltselement stellt das Business Model und die damit zusammenhängende Frage, was das originäre Geschäftsmodell des Unternehmens ist, dar. Gemäß Rahmenwerk existieren vier Elemente, die es in Bezug auf das Geschäftsmodell zu erläutern gilt: Inputs, Business Activities, Outputs sowie Outcomes. Die vier genannten Parameter stehen insofern in unmittelbarer Interdependenz zueinander, als die Transformation der Inputs im Rahmen der Business Activities Outputs und Outcomes generiert, die wiederum der Erfüllung des Unternehmenszweckes und damit der Befriedigung der Bedürfnisse der Stakeholder dienen, und somit einen signifikanten Beitrag zur Wertschöpfung leisten (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4.11–4.13, S. 25–26). Als Input gelten Kapitalien, Ressourcen und Beziehungen, auf die während der Geschäftsaktivitäten zurückgegriffen wird und einen elementaren Bestandteil der Transformation repräsentieren. Während unter Output Produkte, Dienstleistungen, aber auch Nebenprodukte und Abfälle zu verstehen sind, werden Outcomes als positive oder negative Auswirkungen auf die eingangs genutzten Kapitalien definiert (International Integrated Reporting Council 2013, S. 33). Über das Geschäftsmodell hinausgehend, ist zudem über Risiken und Chancen (Risks and opportunities) zu berichten. Hierbei steht nicht ausschließlich die Überlegung im Zentrum, welche Risiken und Chancen das Unternehmen in seinem Wertschöpfungsprozess beeinflussen, sondern insbesondere auch, wie das Unternehmen mit den jeweiligen identifizierten Faktoren agiert. Zur Vollständigkeit ist darauf hinzuweisen,

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dass dieses Content Element auf das Guiding Principle Materiality rekurriert. Dementsprechend werden alle Risiken, die die Existenz des Unternehmens bedrohen könnten, mit in den integrierten Bericht aufgenommen, auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit als gering definiert wird (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4.26, S. 27). Daran anknüpfend sollte ein integrierter Bericht die Frage beantworten, welche strategische Positionierung das Unternehmen einnimmt und wie der Weg zur Erreichung des Ambitionsniveaus und diesbezügliche Wettbewerbsvorteile gestaltet werden (Strategy and ressource allocation) (International Integrated Reporting Council 2013, Abs.  4E, S. 27–28). Ferner ist darzustellen, bis zu welchem Grad das Unternehmen seine strategischen Ziele erreicht hat und welche Auswirkungen sich auf die Kapitalien ergeben (Performance) haben. Neben messbaren, quantitativen Kennzahlen sind ebenfalls qualitative Informationen zu berücksichtigen, die effektiv miteinander verknüpft sein sollen, um möglichst transparent und holistisch zu berichten. Über die Kombination quantitativer und qualitativer Informationen hinaus, ist obendrein sicherzustellen, dass die offengelegten Informationen im Zeitablauf konsistent sind und ein Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hergestellt wird (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4F, S. 28). Das Content Element Outlook soll die Frage beantworten, welchen Herausforderungen und Ungewissheiten sich dem Unternehmen bei der Umsetzung der Strategie stellen und welche Auswirkungen sich hieraus auf das Geschäftsmodell sowie auf das vorab genannte Content Element Performance ergeben. Hierbei ist es unumgänglich, dass der Ausblick auf den Fähigkeiten des jeweiligen Unternehmens sowie einer realistischen Einschätzung der wertschöpfungsinduzierten Faktoren beruht (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4G, S. 28–29). Ferner stellt sich die Frage, welche Inhalte konkret in einen integrierten Bericht mitaufgenommen sowie quantifiziert werden sollen (Basis of preparation and presentation). Diesbezüglich stehen im Wesentlichen drei Kernaspekte im Vordergrund. Zum einen ist ein Überblick darüber zu schaffen, wie der Materialitätsbestimmungsprozess ausgestaltet ist. Zum anderen sind zudem die Grenzen des Berichts aufzuzeigen beziehungsweise wie mit diesen umgegangen wird. Darüber hinaus sind die wesentlichen Rahmenwerke und Methoden zur Ermittlung sowohl finanzieller als auch nicht-finanzieller Kennzahlen hervorzuheben (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4H, S. 29–30). Schließlich werden im letztgenannten Content Element General reporting guidance allgemein auf die Inhaltselemente anzuwendende Hinweise gegeben. Dementsprechend sind bei der Darstellung alle wesentlichen Sachverhalte und ihre Auswirkungen auf die Kapitalien offenzulegen. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, dass insbesondere sowohl endogene sowie exogene Interdependenzen als auch Trade-offs zwischen den Kapitalien transparent berichtet werden. Es ist zudem sicherzustellen, dass sich der Zeitrahmen des intergierten Berichts auf die kurz-, mittel- und langfristige Perspektive der Wertschöpfung bezieht. Zuletzt wird dem Unternehmen, unter Berücksichtigung möglicher negativer Aspekte, freigestellt, auf welchem Aggregationslevel zu reporten ist (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4I, S. 30–32).

280

1.3

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 utzenpotenziale aus unternehmensinterner sowie -externer N Perspektive und Implementierungshindernisse des Integrated Reporting

Aus der bereits an anderer Stelle beschriebenen Bedeutung einer ganzheitlichen sowie integrierten Berichterstattung lassen sich im Wesentlichen die Zunahme der Informationsrelevanz von Werttreibern und der Anstieg der Informationskomplexität als essenzielle Rahmenparameter des Reportings identifizieren (Krzus 2011, S. 274–275). Mit der Anwendung des -Rahmenwerks gehen erhebliche Nutzenpotenziale einher, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Diese werden  im Folgenden kurz dargestellt. Der Übersicht halber ist hierbei eine Einteilung in unternehmensinterne sowie -externe Benefits sinnvoll. Bezogen auf die internen Nutzenpotenziale kann unter Anwendung des -Konzepts zum einen der Reporting Prozess sowie das Verständnis des Wertschöpfungsbeitrages des Unternehmens deutlicher herausgearbeitet werden, was wiederum maßgeblich dazu führt, dass Unternehmen ihre Entscheidungen wesentlich prägnanter treffen können. Zum anderen ist dem Ansatz ein tiefgehender Einblick in das Risikomanagement des Unternehmens inhärent. So ist es durch ein effizienter gestaltetes Risikomanagement möglich, die Kosten für das Kapital zu senken, da den Unternehmen nunmehr eine geringere Risikoprämie zugerechnet wird (Roth 2014, S. 65). Im Endeffekt geht es im Rahmen der integrierten Berichtserstattung eben jedoch nicht ausschließlich darum, die Qualität und Transparenz der Berichte für externe Stakeholder zu erhöhen oder intern ein effizienteres und zielgerichtetes Risikomanagement zu betreiben. Vielmehr gilt es, das Denken innerhalb der Organisation zu verändern. Dieses Umdenken ist sowohl auf die Unternehmensführung als auch auf die damit einhergehende Strategie sowie der zukunftsorientierten Ausrichtung zu projizieren (Paschke 2019, S. 39). Die damit implizierte Art der Auseinandersetzung wird als Integrated Thinking bezeichnet. Dieser Denkansatz fokussiert die Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Interdependenzen zwischen den einzelnen Kapitalien, Inhaltselementen sowie das Interagieren der Organisation im Kontext ihrer extern determinierenden Rahmenbedingungen (Paschke 2019, S. 40). Darüber hinaus wird, auf Grundlage dessen und basierend auf der Maxime des Integrated Thinkings, die organisationsinterne Zusammenarbeit gestärkt, indem Silowissen und Bereichsdenken aufgelöst und interdisziplinäre Arbeitsbedingungen geschaffen werden (International Integrated Reporting Council 2011, S. 7; International Federation of Accountants 2015, S. 12; Association of Chartered Certified Accountants 2013, S. 9; Haller 2017, S. 445). Neben den genannten internen existieren zudem externe Potenziale, die im Zusammenhang mit der Implementierung von identifiziert werden können. Velte und Stawinoga (2017) zeigen in ihrer Studie auf, dass sowohl integriertes Denken als auch integriertes Berichten zunehmend entscheidungsrelevante Daten für die Anspruchsgruppen von Organisationen aufweisen. Daher sei der auf Ganzheitlichkeit fokussierte intergierte Ansatz als eine Schlüsselrolle in der Unternehmenssteuerung und im Management mit Stakeholderbeziehungen zu betrachten (Velte und Stawinoga 2017, S. 275). Es ist davon auszugehen,

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dass sich der Dialog mit den Stakeholdern verbessert, da durch eine integrierte Berichterstattung die Transparenz der unternehmerischen Tätigkeit sowie der vorausgeschalteten Ziele maßgeblich erhöht wird. Nicht zuletzt wird hierdurch das Vertrauensverhältnis zwischen der Organisation und den entsprechenden Anspruchsgruppen nachhaltig gestärkt und ausgebaut. Dies wird insbesondere dadurch unterstrichen, dass nicht lediglich Informationen zu finanziellen Aspekten im Fokus der Berichterstattung stehen, sondern darüber hinaus auch andere Kapitalarten Einzug in die Betrachtung halten und der holistische Blick auf das Unternehmen geschärft wird (Haller 2017, S. 446). Trotz der ausführlich dargestellten Nutzenpotenziale sind ebenfalls die Kritikpunkte zum zu würdigen. Diesbezüglich haben beispielsweise Günther et al. (2017) Experteninterviews durchgeführt, um zu eruieren, vor welchem Hintergrund, trotz der zunehmenden Relevanz und Notwendigkeit von derartigen Informationen, Unternehmen eine integrierte Berichterstattung lediglich verzögern, einschränken oder gar nicht implementieren. Die Experten der Studie stammen aus der Wissenschaft, von DAX30-Unternehmen sowie von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften (Günther et  al. 2017, S.  132). Zum einen stellt ein grundlegendes Hindernis dar, dass die Unternehmensleitungen weiterhin nicht die Notwendigkeit sehen, integriert zu berichten und das Thema als Nischenthema definieren, das nahezu ausschließlich auf kapitalmarktorientierte Unternehmen zugeschnitten ist (Günther et al. 2017, S. 133). Hiermit verbunden ist die Tatsache, dass viele Unternehmen die Berichterstattung außerdem nicht als Chance begreifen, sich positiv gegenüber den Stakeholdern zu präsentieren, sondern vielmehr eine unumgängliche und notwendige Compliance-Pflicht hierin sehen (Günther et  al. 2017, S.  132–133; Haller 2017, S. 446). Zum anderen wird seitens der Experten generelle Kritik am Konzept der intergierten Berichterstattung als solches geübt. So ist es aufgrund von fehlenden Soll-Normen sowie der damit einhergehenden fehlenden Standardisierung und der hohen Komplexität und Abstraktion der Konzeption schwer, die Anforderungen des Rahmenwerks in der Praxis umzusetzen (Günther et al. 2017, S. 134–135; Haller 2017, S. 446). Ferner spielt die Datenerfassung, -qualität und -prüfung eine gesonderte Rolle. Insbesondere im Hinblick auf die Auditierung der Daten bestehen erhebliche Bedenken ob der Umsetzbarkeit, da die Angaben in integrierten Berichten dem Ermessen der Unternehmen obliegen (Günther et al. 2017, S. 136). Schließlich bedarf es zur Implementierung einer integrierten Berichterstattung tiefgreifende und weitreichende Veränderungsprozesse, die in vielen Unternehmen noch nicht ausgereift sind. Hierbei äußern die Experten die Meinung, dass der Nutzen einer integrierten Berichterstattung die Implementierungsund Durchführungskosten nicht kompensiert. Nicht zuletzt wird das Aufbrechen organisatorischer Barrieren, so zum Beispiel das Silodenken, als diffizil empfunden (Günther et al. 2017, S. 135–136; Haller 2017, S. 446). Nichtsdestotrotz wird der intergierten Berichterstattung seitens der Experten ein hohes Potenzial zugeschrieben (Günther et  al. 2017, S. 136). Zusammenfassend ist entgegen der genannten Kritikpunkte jedoch zu konstatieren, dass sich die Nutzenpotenziale aus interner sowie externer Perspektive in einer Kombination und Interaktion von Kommunikations-, Risikomanagements- und Kostenvorteilen

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subsumieren lassen, die wiederum das Unternehmensmanagement sowie die -steuerung positiv beeinflussen (Roth 2014, S. 65 nach Eccles und Krzus 2010, S. 141–161; International Integrated Reporting Council 2011, S. 21). So ist das Framework zum insgesamt betrachtet nicht ausschließlich als Guideline einer integrierten Berichterstattung, sondern vielmehr als ein ganzheitlicher Managementansatz zu begreifen, der sich als ein nachhaltiges Unternehmensführungskonzept und als Basis der Unternehmenssteuerung einordnen lässt. Somit werden anhand strategischer Entscheidungen Zielsetzungen und die damit einhergehenden Maßnahmen definiert. Ein Berichtswesen, das in diesem Kontext einen integrativen Zusammenhang zwischen diesen Komponenten herstellt und Kausalbeziehungen offenlegt, schafft Transparenz sowie Klarheit sowohl für interne als auch für externe Anspruchsgruppen (Internationaler Controller Verein 2017, S. 11).

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 raxisbezogener Durchdringungsgrad sowie initiative P Impulse zur Implementierung des Integrated Reporting-Ansatzes

Die wissenschaftliche Literatur sowie die damit verbundene Forschung zum Thema ist weiterhin in einer frühen Phase. Jedoch geben beispielsweise Velte und Stawinoga (2017) sowie Dumay et al. (2016) einen umfassenden Überblick über die derzeitige Literatur. In diesem Kontext gilt es, zu evaluieren, wie hoch der praktische Durchdringungsgrad des -Ansatzes ist. Unter Berücksichtigung der möglichen Nutzenpotenziale sowie unter Einbezug der eruierten Kritikpunkte einer integrierten Berichterstattung sollen sodann initiative Impulse zur Implementierung des Integrated-Reporting-Ansatzes dargelegt werden. Die Association of Chartered Certified Accountants (ACCA) beispielsweise identifiziert, auf Basis der in ihrer Studie (Association of Chartered Certified Accountants 2019) untersuchten Unternehmen, verschiedene Ideen, die dazu beitragen sollen, die integrierte Berichterstattung weiterzuentwickeln sowie den Durchdringungsgrad des Ansatzes voranzutreiben. Die Impulse zur Implementierung werden hierbei in die Kategorien Bericht, Interne Prozesse sowie Menschen eingeteilt. Nicht zuletzt aufgrund des prinzipienorientierten Ansatzes, stehen diese drei Einordnungen unter der Maxime der Authentizität. Diese wird als conditio sine qua non definiert, um den integrierten Bericht als glaubwürdiges Medium zu präsentieren, um alle Nutzenpotenziale des Reportingansatzes vollumfänglich auszuschöpfen (Association of Chartered Certified Accountants 2019, S.  51). Insbesondere auf den Bericht als solchen bezogen, gilt es, nicht ausschließlich darzulegen, was dem Unternehmen als relevant erscheint, sondern darüber hinausgehend explizit zu erläutern, wieso diese Themen von besonderer Bedeutung sind. Daher ist einerseits ausdrücklich darauf zu achten, die Einzigartigkeit sowie die langfristigen Zielsetzungen und deren konsequente Verfolgung im integrierten Bericht transparent darzulegen. Andererseits sind aber auch die mit den unternehmerischen Entscheidungen einhergehenden

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Zielkonflikte offenzulegen. Hinsichtlich der internen Prozesse ist darauf zu achten, dass die internen Informationen konsistent mit den extern veröffentlichten Aussagen übereinstimmen. Der Berichtsprozess ist hierbei als Möglichkeit der unternehmenseigenen Reflexion zu verstehen, da fokussiert evaluiert werden kann, wie Risiken effizienter erfasst, gemessen und gemanagt werden können. Somit dient der Bericht aufgrund seiner Transparenz nicht zuletzt als Grundlage für zukünftige prozessuale Verbesserungen. Ferner sind Menschen als ein wesentlicher Bestandteil zur vollumfänglichen Ausschöpfung der Nutzenpotenziale des unerlässlich. Im Sinne des Integrated Thinking-Ansatzes, bereichsübergreifende Kooperation sowie agile Arbeitsmethoden zu etablieren, sind Mitarbeitende aus verschiedenen Bereichen in den Berichts- und Kontrollprozess zu inte­ grieren. Darüber hinaus ist es Aufgabe der Organisation, zum einen eine förderliche Kultur zu schaffen und andererseits eine gewisse Fehlerakzeptanz zuzulassen. So ist gewährleistet, dass der Fokus zunehmend auf dem Positiven liegt und weniger stark Negatives ins Zentrum weiterführender Überlegungen gerät. Des Weiteren sind externe Berater und Wirtschaftsprüfer in den Prozess mit einzubinden, um organisationalen Bias möglichst gering zu halten (Association of Chartered Certified Accountants 2019, S. 51). Es ist zu konstatieren, dass die ACCA mithilfe dieser praktischen Anwendungshilfen versucht, Anregungen und Impulse zur Qualitätsverbesserung des integrierten Berichtswesens zu geben, um schließlich die auf Vertrauen basierende Stakeholder-Beziehungen aufzubauen respektive zu intensivieren (Association of Chartered Certified Accountants 2019, S. 7, 50).

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Fazit und Ausblick

Es ist zu subsumieren, dass eine an das Rahmenwerk des IIRC angelehnte integrierte Berichterstattung als ein holistisches und integriertes Unternehmensführungskonzept, beziehungsweise als ein unerlässlicher Management Approach, zu verstehen ist (International Integrated Reporting Council 2013, Abs. 4.29, S. 27–29). Insbesondere aus den Guiding Principles geht die unabdingbare Zielsetzung hervor, die Unternehmensstrategie sowie deren Implementierung und Umsetzung, durch die explizite Fokussierung auf wertschaffungsbezogene Faktoren, an den Anforderungen der relevanten Anspruchsgruppen auszurichten, um eine effiziente Allokation der eingesetzten Ressourcen gewährleisten zu können (Haller 2017, S. 443). Die darauf rekurrierende Wesentlichkeitsbeurteilung dieser Determinanten stellt wiederum eine der zentralen Aufgaben sowie damit verbunden ein wesentliches Charakteristikum der Unternehmensführung dar (Haller 2017, S. 444 nach EU-Kommission 2017, Abs. 3.1, S. 5–6). Somit leistet die intergierte Berichterstattung als ein Unternehmensführungskonzept einen maßgeblichen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit von Unternehmen, da unternehmerische Entscheidungen bewusster, nachhaltiger sowie ganzheitlicher getroffen und die Anforderungen und Bedürfnisse der relevanten Stakeholder somit akzentuierter befriedigt werden können. Schließlich wird

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damit eine effizientere Allokation der Kapitalien zur Wertschaffung gewährleistet. Der Bedeutungszuwachs einer integrierten Berichterstattung spiegelt sich einerseits in der zunehmenden Anzahl an ­Unternehmen wider, die einen ganzheitlichen Reportingansatz wählen. Andererseits ist darüber hinaus zukünftig auch mit mehr integrierten Berichten zu rechnen, da gemäß dem Framework des IIRC eine nicht zu vernachlässigende Konvergenz mit dem Grundverständnis anderer Standardsetter aufweist (Haller 2017, S. 444 nach Haller und Oeffner 2017). Dieses Faktum wiederum ermöglicht per se einen höheren organisatorischen Durchdringungsgrad, da somit die Störfaktoren und Hindernisse zur Implementierung von relativiert beziehungsweise reduziert werden können. Nicht zuletzt weisen die „Leitlinien für die Berichterstattung von nichtfinanziellen Informationen“ der Europäischen Kommission eine hohe Deckung sowie maßgebliche Gemeinsamkeiten mit den Wesensmerkmalen des auf (EU-Kommission 2017, Abs. 3.1–3.6, S. 5–9). Es ist zu konstatieren, dass sich die unternehmensspezifische Anwendung integrierter Berichtsformate bisweilen noch in einer frühen Phase befindet. Allerdings dürften zum einen die zunehmende Fokussierung supranationaler Institutionen, nationaler Regierungen sowie Aufsichtsbehörden auf das Thema einer integrierten Berichterstattung dazu führen, dass die Implementierung des Reportingansatzes verstärkt vorangebracht wird. Zum anderen wird die Digitalisierung ihren Teil dazu beitragen, dass sich der Integrated Thinking-­Ansatz, und damit einhergehend das Konzept des Integrated Reporting, durchsetzt, da mit ihr die Voraussetzungen geschaffen werden, vernetztes sowie integriertes Denken und Handeln technisch abzubilden (Haller 2017, S.  446). Somit ist die Maxime einer nachhaltigen, wertschöpfungsbezogenen und integrierten Berichterstattung nicht als ein starres Konzept zu verstehen, sondern als eine Art der Berichterstattung, die sich in einem fortwährenden Entwicklungsprozess befindet. Mit dem Anspruch, einerseits das Verhalten der unternehmensintern handelnden Akteure im Sinne einer akzentuierten Wesentlichkeitsbeurteilung und -evaluation von Wertschaffungsfaktoren zu beeinflussen und andererseits für extern agierende Marktteilnehmer ein ganzheitliches Unternehmensbild abzubilden, um die Entscheidungsdienlichkeit von Informationen zu erhöhen, trägt gemäß dem Rahmenwerk des IIRC bedeutsam zu einer effizienteren Allokation der verschiedenen Kapitalarten bei. Die Interdependenz und Wechselwirkung zwischen Integrated Thinking und Integrated Reporting sowie der damit einhergehenden effizienteren Kapitalallokation sind es schließlich, die als treibende Kraft sowohl die Finanzstabilität als auch die nachhaltige Entwicklung eines Unternehmens und dessen Umfeld positiv beeinflussen (Haller 2017, S. 447; International Integrated Reporting Council 2013, S. 2). Vor diesem Hintergrund sind die beiden holistischen Ansätze als unerlässlich und als ein unabdingbarer Bestandteil eines integrierten Unternehmensführungskonzepts zu erachten und zu berücksichtigen.

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Marcel Mock M.Sc., CIIA, CEFA,  erlangte 2015 im Rahmen seines berufsbegleitenden Studiums den akademischen Grad Master of Science in Finance & Accounting. Im Anschluss hieran absolvierte er die postgradualen Fortbildungen zum Certified European Financial Analyst (CEFA) sowie zum Certified International Investment Analyst (CIIA). Marcel Mock, M.Sc., CIIA, CEFA ist als Senior Investor Relations Manager bei der Norddeutschen Landesbank (NORD/LB) tätig. Zuvor war er mehrere Jahre im Bereich Finanzen für die hauseigenen Abschlüsse der Bank nach HGB und IFRS mitverantwortlich. Ferner ist er seit 2017 als nebenberuflicher Dozent sowohl an der Leibniz FH als auch an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management aktiv. Im Oktober 2018 hat er darüber hinaus ein berufsbegleitendes Promotionsprogramm an der spanischen Universidad Católica San Antonio de Murcia (UCAM) begonnen. In diesem Zusammenhang forscht er zudem als Research Fellow am Institute for Strategic Finance (isf) an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den Nutzenpotenzialen einer integrierten ­Finanzberichterstattung.

Nachhaltige Firmenveranstaltungen als Treiber einer nachhaltigen Unternehmensführung Susanne Steimer und Clemens Arnold

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Nachhaltigkeit ist mehr als ein Trendthema

Spätestens seit Greta Thunberg und den Friday-for-Futures-Demonstrationen ist in Deutschland das Thema Nachhaltigkeit in allen Gesellschaftsschichten angekommen. Insbesondere junge Menschen zeigen ein besonderes Bewusstsein für nachhaltiges und umweltbewusstes Handeln. Die Reduzierung von Plastikmüll und des Energieverbrauchs, der Verzicht auf Flugreisen und Autofahrten, der Trend zu fleischloser Ernährung oder fair gehandelter Kleidung sind Aspekte einer nachhaltigen Lebensweise, die den ökologischen Fußabdruck beeinflussen. Auch die Veranstaltungs- und Messebranche setzt sich seit einigen Jahren mit dem Thema der Nachhaltigkeit auseinander. Ein Schwerpunkt ist hierbei die ökologische Nachhaltigkeit von Events, wie bspw. durch die Reduzierung der CO2-Belastung. So entstehen durch die An- und Abreise der Teilnehmer zwischen 40 bis 70 Prozent aller CO2-Emissionen einer Veranstaltung, 15 Prozent fallen bei der Unterkunft und 10 Prozent für das Catering an. Nur knapp 5 Prozent der Emissionen verursachen der Energiebedarf für Strom, Heizung und Wasser (Zanger 2012, S. 5; atmosfair 2019). Neben der CO2-Belastung ist auch die Vermeidung von Müll ein wichtiges Thema, denn Jahr für Jahr fallen Tonnen von Müll bei Messen und Events an. Ein Teil davon entsteht im Zusammenhang mit dem Messestand, der rund 30 Prozent der Messekosten verursacht (vgl. UmweltDialog 2018). Werden hierfür günstige Materialien eingesetzt, die nicht oder nur S. Steimer (*) Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) Mannheim, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Arnold 2bdifferent – Büro Heidelberg, Sandhausen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_16

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schlecht recycelt werden können, ist das wenig nachhaltig. Die Einrichtung eines Nachhaltigkeitsmanagementsystems für Veranstaltungsstätten ist daher ein wichtiger Schritt zu mehr umwelt- und sozialverträglichem Verhalten. So haben im Jahr 2013 bereits 40 Prozent aller Veranstaltungsstätten in Deutschland ein Nachhaltigkeitsmanagementsystem als Reaktion auf die verstärkte Forderung nach mehr Nachhaltigkeit implementiert (vgl. EITW 2019). Veranstaltungen nachhaltig zu organisieren wird damit zu einem wichtigen Qualitätsmerkmal in der Event- und Messebranche (BMUB und UBA 2015, S.) Mit dem Kriterium der Nachhaltigkeit von Messen und Events beschäftigt sich nicht nur die Veranstaltungsbranche, sondern auch die beteiligten Unternehmen. Corporate-­Social-Respon­ sibility-Abteilungen (CSR) werden in vielen Unternehmen auf- bzw. ausgebaut, um den aktuellen Anforderungen unabhängig vom Veranstaltungsmanagement Rechnung zu tragen. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, dass die entwickelten Maßnahmen dem sog. „Green Washing“ dienen, ist die Integration des Nachhaltigkeitsgedankens in die gesamte Wertschöpfungskette des Unternehmens bzw. in die „DNA“ des Unternehmens empfehlenswert. In diesem Beitrag wird aufgezeigt, auf welche Weise Firmenveranstaltungen den Aspekt der Nachhaltigkeit berücksichtigen können, welche Handlungsfelder im Rahmen einer Veranstaltung die Nachhaltigkeit beeinflussen und welche Chancen und Herausforderungen sich dadurch ergeben.

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Nachhaltige Firmenveranstaltungen

Firmenveranstaltungen, wie Messen, Events, Kundentage, aber auch Jahreshauptversammlungen oder Pressekonferenzen sind Instrumente der Live-Kommunikation zwischen Unternehmen und ihren unterschiedlichen Anspruchsgruppen (Zanger 2014, S. 15). Im Mittelpunkt steht die direkte Kommunikation mit den Stakeholdern wie Kunden, Mitarbeitern oder Aktionären. Durch seine Einzigartigkeit und das positive Erlebnis für die Teilnehmer hebt sich ein Event von anderen Veranstaltungsformaten ab (Holzbaur 2016, S. 15). So können bspw. Produktvorstellungen als besonderes Event durch die Einbindung von Ton, Licht oder Showelementen inszeniert werden.

Beispiele für Firmenveranstaltungen

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Kundentagungen und -veranstaltungen Messen, extern und intern (z. B. Hausmessen) Kunden- und Mitarbeiterschulungen Pressekonferenzen Jahreshauptversammlungen Lieferantentage Roadshows (z. B. Produktneuvorstellungen) Kongresse

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Idealerweise können alle diese genannten Veranstaltungen die nachhaltige Entwicklung von Unternehmen unterstützen. Glaubwürdigkeit, Authentizität und Transparenz sind vor allem da wichtig, wo Unternehmen und Marken ihre Meinungsbildner persönlich treffen – nämlich bei Firmenveranstaltungen! Gerade hier kann die Philosophie eines Unternehmens in puncto Nachhaltigkeit erfahrbar gemacht werden. Aus diesem Grund suchen immer mehr Unternehmen mit ihren Marketingabteilungen nach Möglichkeiten, ihre unternehmensinterne Nachhaltigkeitsstrategie auch bei der Planung und Umsetzung dieser Veranstaltungen fortzuführen. Veranstalter integrieren zunehmend authentisch und transparent Themen der Nachhaltigkeit in ihre Event-Konzepte und steigern damit Glaubwürdigkeit und Akzeptanz.

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Was bedeutet es, nachhaltig zu veranstalten?

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Nachhaltig veranstalten

„Nachhaltig veranstalten“ bedeutet, Umweltbelastungen, finanzielle und soziale Auswirkungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette bereits im Vorfeld zu analysieren und zu optimieren. Eine nachhaltige Veranstaltung basiert auf drei Säulen: Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft. Dies minimiert Umwelteinflüsse, berücksichtigt gesellschaftliche Bedürfnisse und fördert die ökonomische Nachhaltigkeit, etwa in der Region, in der die Veranstaltung stattfindet. Events, Messen, Kongresse und Tagungen beeinflussen in sehr unterschiedlicher Weise die Umwelt. Ein nachhaltiges Konzept muss deshalb vom ersten Gedanken an alle ökologischen, sozialen und ökonomischen Potenziale einbeziehen. Häufig stehen die dadurch hervorgerufene Reisetätigkeit und ihr Einfluss auf das Klima im Vordergrund. Jedoch auch der verursachte Materialeinsatz, wie bspw. beim Messe- und Bühnenbau, der Verbrauch von Papier, Wasser und Strom sowie das Abfallaufkommen und die Herkunft und Zutaten der Produkte beim Catering, sind im Hinblick auf eine umwelt- und sozialgerechte Durchführung von Veranstaltungen relevante Themen. Nachhaltiges Management von Firmenveranstaltungen zeichnet sich dadurch aus, dass (u. a. Große-Ophoff 2016, S. 13). • alle Aktivitäten im Vorfeld, während und nach der Veranstaltung im Hinblick auf ihre ökologischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen untersucht und daraus Optimierungsansätze erarbeitet werden. • Zulieferer und Dienstleister in die Konzeption und Umsetzung der Nachhaltigkeitsmaßnahmen einbezogen werden. • Mitarbeiter informiert und im besten Falle in die Konzeption und Umsetzung einbezogen werden, die Mitarbeiter somit als Botschafter der eigenen Nachhaltigkeitsstrategie agieren. • die Teilnehmer über die Nachhaltigkeitsmaßnahmen informiert und zum nachhaltigen Handeln angeregt werden. • die Maßnahmen überprüft und bei Folgeveranstaltungen weiter optimiert werden.

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Handlungsfelder

Auf Basis der zuvor genannten Überlegungen und des Veranstaltungstyps werden die Handlungsfelder definiert. Sie bilden die Grundlage für alle weiteren Schritte und Maßnahmen der nachhaltigen Umsetzung einer Firmenveranstaltung. Das Bundesumweltamt und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit hat folgende Bereiche als relevante Handlungsfelder für die nachhaltige Gestaltung von Veranstaltungen identifiziert (BMUB und UBA 2015, S. 5): • • • • • • • • • •

Mobilität Veranstaltungsort und Unterbringung der Teilnehmer*innen Energie und Klima Beschaffung von Produkten und Dienstleistungen Catering Abfallmanagement Umgang mit Wasser Gastgeschenke Kommunikation Soziale Aspekte

Dieser Beitrag postuliert darüber hinaus noch weitere Handlungsfelder, die in zwei Kategorien unterteilt werden: zum einen in die operativen Handlungsfelder, die eine Art „roten Leitfaden“ für die einzelnen Gewerke einer Veranstaltung bilden, und zum anderen die übergeordneten Handlungsfelder, die je nach Art der Veranstaltung in die verschiedenen operativen Handlungsfelder eingreifen, wie z.  B.  Energie und Klima auf Mobilität, Unterbringung, Catering und die Location.

Übergeordnete Handlungsfelder: • Energie und Klima • Beschaffung/Einkauf von Produkten und Dienstleistungen • Abfallmanagement • Umgang mit Wasser • Marketing • Kommunikation (intern/extern) • Wirtschaftlichkeit • Soziale Aspekte/Inklusion/Barrierefreiheit • Sponsoring

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Operative Handlungsfelder: • Mobilität • Unterbringung • Verpflegung/Catering • Location/Veranstaltungsort • Teilnehmermanagement • Gastgeschenke/Merchandising • Druckerzeugnisse

Darauf basierend erfolgt die Festlegung von nachhaltigen Zielsetzungen für die Veranstaltung. Das heißt, welche quantitativen und/oder qualitativen nachhaltigen Ziele möchte ich als Unternehmen mit der Veranstaltung erreichen. Auf Basis dieser Ziele werden Umsetzungsmaßnahmen erarbeitet und festgelegt. Am Beispiel dreier Handlungsfelder werden mögliche Ziele und Maßnahmen exemplarisch vorgestellt. Im operativen Handlungsfeld Mobilität können dies zum Beispiel folgende Ziele und Maßnahmen sein (u. a. BMUB und UBA 2015, S. 8): Ziele: • Reduzierung der verkehrsinduzierten Umweltbelastungen • Klimaneutralstellung der veranstaltungsbedingten Reisetätigkeiten Wesentliche Maßnahmen: • Schaffen von Anreizen für die Nutzung öffentlicher und/oder umweltfreundlicher Verkehrsmittel, z. B. durch das Anbieten von Kombitickets, die im Eintrittspreis die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zur An- und Abreise bereits enthalten, Vereinbarungen mit der Deutschen Bahn für das Angebot CO2-neutraler Bahntickets oder Nutzungsmöglichkeit von Fahrrädern vor Ort. • Information zur Benutzung umweltfreundlicher Verkehrsmittel in den Einladungen oder am Veranstaltungsort, z.  B.  Hinweise auf Fahrplanauskünfte der Bahn oder des ÖPNV. • Wahl von Veranstaltungszeiten, die den Teilnehmern eine problemlose An- und Abreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln möglich machen. • Einsatz emissionsarmer Fahrzeuge für den Shuttle-Service, z. B. Elektroautos für den Hol- und Bringservice der Teilnehmer oder VIP-Gäste. • Wahl von Veranstaltungsorten, die gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind und bei denen in der Regel das Prinzip der „kurzen Wege“ verwirklicht werden kann. • Prüfung von Alternativen zu Treffen vor Ort, z. B. durch den Einsatz von Videokonferenzen oder Online-Meetings. • Berechnung und Ausgleich der nicht vermeidbaren verkehrsbedingten Treibhausgasemissionen durch den Veranstalter oder die Teilnehmer.

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Das Handlungsfeld Abfallmanagement zielt vor allem darauf ab, die anfallenden Abfallmengen zu reduzieren. Hierzu können folgende Ziele und Maßnahmen entwickelt werden (u. a. BMUB und UBA 2015, S. 15): Ziele: • Abfallvermeidung bzw. Reduktion des Abfallaufkommens • Einsatz ökologisch vorteilhafter Verpackungen, z. B. Mehrweg • Eindämmung der speziell bei Konferenzen entstehenden „Papierflut“ Maßnahmen: • Aufstellen von Abfallinseln für die getrennte Abfallsammlung • Einsatz ökologisch vorteilhafter Mehrwegverpackungen, Papier- anstelle von Plas­ tikverpackungen • Verwendung von Mehrweggeschirr, -besteck und Gläsern, Glas anstelle von Plastik • Sammeln von Pfandflaschen für den guten Zweck (z. B. Viva con Agua Sammelaktionen bei Festivals) • Verzicht auf Papierausdrucke bei Konferenzen und Messen, stattdessen Download-­ Bereich oder Messe-App für Unterlagen und Materialien • Papierloses Einladungs- und Anmeldesystem für die Veranstaltung, Einladungen werden per E-Mail verschickt, Anmeldungen sind online möglich • Wiederverwendung von Standbaumaterialien Im Handlungsfeld Soziales/Inklusion/Barrierefreiheit geht es um Fragen der behindertengerechten und geschlechtergerechten Durchführung von Veranstaltungen. Zielsetzung ist die Teilhabe aller an der Veranstaltung, mögliche Ziele und Maßnahmen können sein (u. a. BMUB und UBA 2015, S. 18): Ziele: • Berücksichtigung der Bedürfnisse behinderter Menschen • Berücksichtigung der Grundsätze von Gender Mainstreaming • Berücksichtigung sozialer Mindeststandards (über gesetzliche Mindestanforderungen hinaus) Maßnahmen: • Einrichtung barrierefreier Zutritte für Rollstuhlfahrer (z. B. Einsatz von Rampen, spezielle Plätze für Rollstuhlfahrer) • Ausschluss von Veranstaltungsstätten, die keine rollstuhlgängigen WC-Anlagen zur Verfügung haben • Unterstützung von Personen mit anderen Handicaps (z. B. Seh- und Hörbehinderte), z. B. spezielle Sendesysteme für Hörbehinderte • Geschlechtergerechte Formulierungen in Konferenzunterlagen • Angebot der Kinderbetreuung, um auch Teilnehmern mit kleinen Kindern eine störungsfreie Teilnahme zu ermöglichen • Zahlung eines Lohns für Standpersonal und Mitarbeiter während der Veranstaltung, der über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt

Nachhaltige Firmenveranstaltungen als Treiber einer nachhaltigen …

4

 austeine für eine nachhaltige Umsetzung B von Firmenveranstaltungen

4.1

Veranstaltungsmanagementsystem

293

Um Firmenveranstaltungen nachhaltig umzusetzen, bedarf es einer strukturierten Vorgehensweise. Hierbei kann die Systematik eines Veranstaltungsmanagementsystems O ­ rientierung und Hilfestellung geben, um im Vorfeld einen sogenannten Benchmark zu ermitteln. Das heißt, wo stehe ich mit der geplanten Veranstaltung unter ökologischen, sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten. Dabei sollte das System Nachhaltigkeitsindikatoren, welche auch im Rahmen der Corporate Social Responsibility bei Unternehmen und Institutionen Anwendung finden, berücksichtigen. Wichtig ist dabei sicherzustellen, dass die nachhaltigen Unternehmensleitlinien im Marketing- und Eventmanagement des Unternehmens verankert sind. Mithilfe eines von 2bdifferent entwickelten Online-Fragebogen-Tools lassen sich Firmenveranstaltungen unter Berücksichtigung der drei nachhaltigen Dimensionen erfassen und nach Auswertung in eine Green-, Yellow und Red-Area einordnen. Dabei werden alle Handlungsfelder abgefragt und mit individuellen Frageblöcken erfasst. Hierunter fallen Fragestellungen u. a. zu der Location, dem Catering, der An- und Abreise usw. Diese Ergebnisse kann das Unternehmen heranziehen und in die Umsetzung einer nachhaltigen Firmen-Eventsstrategie einfließen lassen. Falls es sich um regelmäßig wiederkehrende Veranstaltungen, wie z. B. Jahreshauptversammlungen, Corporate-Events, Messen, Pressekonferenzen etc., handelt, lassen sich für Folgeveranstaltungen anhand des Benchmarks weitere Verbesserungspotenziale in allen drei nachhaltigen Dimensionen erkennen. Dies führt für die Folgeveranstaltungen zu einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) innerhalb der nachhaltigen Umsetzung von Firmenveranstaltungen. cc

Bei allem Anspruch ist bei der Planung einer nachhaltigen Veranstaltung zu beachten, dass dies ein schrittweiser Prozess ist – von ersten Nachhaltigkeitsmaßnahmen hin zu einer vollständigen nachhaltigen Umsetzung der Veranstaltung.

Gerade um diesen schrittweisen Prozess zu unterstützen, wird die Entwicklung von Veranstaltungs-Guidelines für die nachhaltige Umsetzung empfohlen. Diese sollten die Grundlage für alle Arten von Veranstaltungen im Unternehmen bilden – von der internen Vertriebstagung für 20 Personen bis hin zu Großveranstaltungen für Kunden und Mitarbeiter*innen.

4.2

Event Sustainability Management System ISO 20121

Die ISO 20121 ist eine Managementsystemnorm, die entwickelt wurde, um Eventorganisationen in der Veranstaltungsbranche dabei zu unterstützen, die Nachhaltigkeit ihrer veranstaltungsbezogenen Aktivitäten, Produkte und Dienstleistungen zu verbessern.

294

S. Steimer und C. Arnold

Die ISO 20121 basiert auf der früheren britischen Norm BS 8901 „Specification for a Sustainability Management System for Events“, die erstmals 2007 entwickelt wurde. Aufgrund des hohen Interesses an BS 8901 wurde beschlossen, eine internationale Version des Standards zu schaffen, die erstmals für die Organisation der Olympischen Spiele 2012 in London eingesetzt wurde. Einfach ausgedrückt beschreibt die ISO 20121 die Bausteine eines Managementsystems, das jeder Veranstaltungsorganisation helfen wird, • weiterhin erfolgreich zu sein, • mehr soziale Verantwortung zu übernehmen • und den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Die ISO 20121 gilt für alle Arten und Größen von Unternehmen, die in der Veranstaltungsbranche tätig sind – vom Catering-, Licht- und Tontechnik-, Sicherheits- und Messebauunternehmen sowie Veranstaltungsorte bis hin zu unabhängigen Veranstaltungsorganisatoren und -teams von Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen. Als aktuelles Leuchtturmprojekt kann hier die Formula E genannt werden, die sich im Jahr 2018 als erste Motorsport-Meisterschaft mit der ISO 20121 zertifizieren lies.

4.3

CO2-Eventbilanz

Unternehmen können für ihre Firmenveranstaltungen einen CO2-Fußabdruck für den Event ermitteln lassen. Hierzu gibt es Anbieter von CO2-Eventrechnern zur komfortablen und validen Kalkulation von CO2-Eventbilanzen. Dabei werden bei der Ermittlung alle Gewerke einer Veranstaltung, wie z. B. Agenturleistungen, Catering, Messe- und Bühnenbau, Ton-/Licht-Technik, Location, berücksichtigt. Beispiele für Klimarechner im Internet

• • •

MyClimate – bietet einen eigenen MyClimateEventrechner Atmosfair  – bietet eine individuelle Kalkulation und Zertifikate für die Kompensation Klimaktiv  – bietet einen Klimarechner und weitere Dienstleistungen für Unternehmen

Mithilfe dieser Ergebnisse lassen sich Hinweise zu CO2-Einsparmöglichkeiten aufzeigen, um daraufhin bei Folgeveranstaltungen Emissionen zu reduzieren. Auch ist eine integrierte CO2-Kompensation der klimaschädlichen Emissionen durch hochwertige und zertifizierte Klimaschutzprojekte möglich. Die Ergebnisse können in den Nachhaltigkeitsbericht des Unternehmens einfließen. In ihrer Abschlussarbeit hat Pötzl (Rück und Pötzl o. J.) vier verschiedene Online-­ Klimarechner für eine exemplarische Veranstaltung getestet. In den drei besonders wichtigen Emissionsquellen Mobilität, Catering und Übernachtung zeigten die Klimarechner

Nachhaltige Firmenveranstaltungen als Treiber einer nachhaltigen …

295

teilweise deutliche Abweichungen. Der Grund hierfür: bislang existiert keine einheitliche Formel für die Berechnung des CO2-Fußabdrucks von Veranstaltungen. Trotz dieser Einschränkung ist das Ermitteln einer CO2-Eventbilanz dennoch empfehlenswert. Durch die Darstellung der anfallenden Emissionen lassen sich Kompensationszahlungen berechnen, Kompensationsprojekte festlegen sowie Maßnahmen für weitere Einsparungen ableiten.

Folgende Maßnahmen tragen zur Reduzierung der CO2-Emissionen bei (Auszug)

• • • • • • • • • •

4.4 cc

ein Energiekonzept mit 100 Prozent Öko-Strom energieeffiziente Tagungs- und Veranstaltungstechnik modernste energiesparende Lichttechnik ideale Tageslichtnutzung Heizenergie aus ressourcenschonenden Quellen klimaschonende An- und Abreise regionales, biologisches Catering der Einsatz ökologisch zertifizierter Reinigungsmittel Abfalltrennung und -vermeidung digitales Teilnehmermanagement

Lieferkette & Lieferantenprüfung „Verschiedene Abteilungen wie der Einkauf, das Marketing und der Nachhaltigkeitsbeauftragte in Unternehmen verankern verbindliche Beschaffungsbedingungen. Damit steigen die Herausforderungen für Dienstleister. Die Bewertung von potenziellen Partnern wird zukünftig noch stärker davon abhängig gemacht werden, wie nachhaltig diese Unternehmen wirtschaften.“ (Dipl.-Ing. André Flinterhoff, Leiter Brand Spaces & Corporate Spaces, Zentrales Marketing, Schüco International KG)

Diese Aussage zeigt, dass für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung das Thema Supply-Chain-Management in allen Unternehmensbereichen von wesentlicher Bedeutung ist. Im Bereich Beschaffung geht es für die Unternehmen um den möglichst umweltverträglichen Einkauf von sämtlichen, für die Firmenveranstaltungen benötigten Gütern und Dienstleistungen. Viele Unternehmen sind hierbei jedoch ausschließlich auf die nachhaltige Beschaffung von produktionsbezogenen Gütern und Dienstleistungen fokussiert und stellen die Rahmenbedingungen erst sukzessive auch auf nicht-produktions­ bezogene Güter und Dienstleistungen um. Wichtig dabei ist es, dass die unternehmensinternen Nachhaltigkeitskriterien und Leitlinien auch in den Beschaffungsvorgängen für das Marketing- und Eventmanagement verankert werden und Eingang in Lieferantenausschreibungen und -verträgen finden. Die nachhaltigen Ausschreibungskriterien gewährleisten die Einhaltung von sozialen und öko-

296

S. Steimer und C. Arnold

logischen (Mindest-)Anforderungen über die gesamte Lieferkette. Diese Vorgehensweise erhöht die Glaubwürdigkeit und Reputation des Unternehmens und wirkt sich damit auch auf eine nachhaltige Unternehmensführung aus. Parallel dazu sollte für die wichtigsten Lieferanten und Dienstleister des Unternehmens ein Lieferanten-Check für die eingesetzten Veranstaltungsgewerke durchgeführt werden, um den jeweiligen Status der Partner in Sachen Nachhaltigkeitsperformance zu ermitteln. cc

4.5

Die nachhaltige Ausrichtung und Strategie des Unternehmens kann den Veranstaltungslieferanten und -dienstleistern als vertrauensbildende Maßnahme im Rahmen eines Lieferantentages vorgestellt werden.

Weitere Tools für eine nachhaltige Umsetzung

Je nach Größe und Tätigkeit eines Unternehmens bietet es sich an, ergänzende Instrumente zum Thema Nachhaltigkeit einzusetzen und dadurch die Firmenveranstaltungen nachhaltiger zu gestalten. Dazu gehören unter anderem • die allgemeine Norm DIN 26000 für unternehmerisches Nachhaltigkeitsmanagement • Elemente der DIN 14001 (Umweltmanagement) • EMAS, kurz für „Eco-Management and Audit Scheme“ (Umweltmanagement) • die DIN 18040 zur Barrierefreiheit • die SA 8000 (Social Accountability) • die Nachhaltigkeitsberichterstattung nach Standards, wie Global Reporting Initiative (GRI) oder Deutscher Nachhaltigkeitskodex (DNK)

5

 hancen und Herausforderungen C im Nachhaltigkeitsmanagement

5.1

Gute Nachhaltigkeitskommunikation stärkt die Positionierung

cc

„88  % der Unternehmensvertreter nannten als positiven Effekt des CSR-RUG (CSR-Richtlinienumsetzungsgesetz) die Zunahme an interner Kommunikation zum Thema Nachhaltigkeit“. Deutsches Global Compact Netzwerk & econsense – Forum Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft (2018)

Die öffentlichkeitswirksame Orientierung an nachhaltigen Kriterien und Werten ist auch bei der Umsetzung von Firmenveranstaltungen ein wichtiger Aspekt geworden. Aller-

Nachhaltige Firmenveranstaltungen als Treiber einer nachhaltigen …

297

dings: mit der guten alten PR-Weisheit „Tue Gutes und rede darüber“ ist es heute längst nicht mehr getan. Wenn es um Nachhaltigkeit geht, wollen Kunden, Partner und Mitarbeiter ernst genommen werden und auf Augenhöhe kommunizieren. Die Stakeholder von heute wollen nicht nur wissen, dass ein Unternehmen sich engagiert – sie wollen wissen wie es das tut! Und diesem Anspruch können die Unternehmen durch eine glaubwürdige und transparente Nachhaltigkeitskommunikation gerecht werden. Verfolgt das Unternehmen eine klare und schlüssige Nachhaltigkeitsstrategie, kann es sich im Markt bzw. gegenüber Kunden und weiteren Stakeholdern entsprechend positionieren. Das bedeutet, Nachhaltigkeitsbotschaften zum nachhaltigen Eventmanagement in die bestehenden Formate zu integrieren, wie z.  B.  Mitarbeiter- und Kundennewsletter, Social-­Media-Kanäle, Pressekonferenzen. Dabei sind die Regeln guter Nachhaltigkeitskommunikation zu beachten.

Regeln guter Nachhaltigkeitskommunikation

Gute CSR-Kommunikation vermeidet (sinsofgreenwashing o. J.): • • • •

die quasi inflationäre Nutzung des Eigenschaftsworts „nachhaltig“, Greenwashing in dem Sinne, dass kleine Maßnahmen übertrieben dargestellt werden, Irreführung durch falsche Labels o. ä. euphemistische Botschaften, wenn ihre Wirkung nicht im Verhältnis zum intendierten Nutzen steht (z. B. „größte Solaranlage der Welt“), • die sonst übliche („Nicht“-)Darstellung von Schwierigkeiten bei der Realisierung – im Gegenteil: die Verfolgung von Nachhaltigkeit durch neue Lösungen hat viel mit Erproben und Ungewissheiten zu tun – sympathischer wirkt, wer Unsicherheit zugibt, • den ausschließlichen Bezug auf Vorstand/Geschäftsführung, stattdessen auch aus Gründen der Kultur („DNA“), inbeziehung von Akteuren aus dem Unternehmen, • die Fixierung auf Superlative und Erfolge: Im Vordergrund steht, ein gemeinsames Verständnis für Chancen und Risiken zu schaffen! Deshalb: über Prozesse statt über Ergebnisse kommunizieren.

5.2

 hange-Management und Weiterbildung entwickelt C Organisation und Mitarbeiter

Der Mensch steht im Mittelpunkt bei der erfolgreichen Umsetzung von Nachhaltigkeit in Unternehmen  – auch im Bereich des Managements von Firmenveranstaltungen. Dem Change-­Management zur Begleitung, Unterstützung und Mobilisierung der Organisation im Rahmen nachhaltiger Unternehmensführung kommt daher eine entscheidende Rolle

298

S. Steimer und C. Arnold

entlang des gesamten Nachhaltigkeitsprozesses zu. Denn ohne die Zustimmung, Offenheit und Handlungsbereitschaft der Belegschaft sowie wichtiger Interessengruppen kann der unternehmerische Ansatz, Nachhaltigkeit praktisch umzusetzen, schnell wirkungslos sein. Nur wer informiert ist, ist motiviert – und wer motiviert ist, handelt! Aus- und Weiterbildungen zu nachhaltigen Inhalten sind ein wichtiger Baustein, um Veränderungen im Unternehmen zu erreichen. Gut informierte und ausgebildete Mitarbeiter*innen sind in Phasen der Veränderung aufgeschlossener und haben eine höhere Bereitschaft am Veränderungsprozess mitzuwirken. Der Einzelne kann durch Bildung erkennen: „Mein Handeln hat Konsequenzen – nicht nur für mich und mein Umfeld, sondern auch für andere. Ich kann dazu beitragen, die Welt ein Stück weit zu verbessern“. Dieses Denken ist dringend notwendig, um Veränderungen anzustoßen und drängende nachhaltige Herausforderungen anzugehen. Deshalb bieten Beratungsagenturen wie 2bdifferent auf die Veranstaltungsbranche zugeschnittene Seminarangebote zu nachhaltigem Eventmanagement an. Inhalte sind bspw.: • • • • •

EU-CSR-Berichtspflicht 2017 und die Auswirkungen auf die Veranstaltungswirtschaft Green Meeting vs. Sustainable Event CO2-Event-Bilanzierung Standards und Zertifizierungen in der Eventbranche Nachhaltigkeitskommunikation

Die Umsetzung erfolgt sowohl in Inhouse- als auch in offenen externen Seminaren mit Branchenpartnern wie dem Deutschen Fachbuchverlag  – Mediengruppe, GutCert oder auch der IHK. Mit der von 2bdifferent gemeinsam mit dem FAMAB Kommunikationsverband e. V. und der FAMAB-Stiftung initiierten Bildungsoffensive „sustainable FUTURE EDUCATION“ wird auch speziell der Branchennachwuchs angesprochen und geschult.

5.3

Erfüllung der EU-CSR-Berichtspflicht

Im Januar 2017 wurde europaweit die EU-CSR-Berichtspflicht eingeführt. Dieses Gesetz besagt, dass börsennotierte Unternehmen sowie Banken und Versicherungen mit mehr als 500 Mitarbeiter*innen der CSR-Berichtspflicht unterliegen. Deshalb müssen die betroffenen Unternehmen neben den finanziellen Daten auch über ihr Engagement für ökologische und soziale Belange, die Achtung der Menschenrechte und die Korruptionsbekämpfung informieren. Ziel ist es damit das Vertrauen der Verbraucher*innen und der Investoren in die betroffenen Unternehmen zu stärken. Weiter soll damit die Transparenz bezüglich nachhaltigen und sozialverträglichen Handelns erhöht und EU-weit vergleichbar gemacht werden. In Deutschland sind ca. 540 Unternehmen davon betroffen – europaweit sind es ca. 6000 Unternehmen. Die EU-CSR-Berichtspflicht forciert die Betrachtung, dass Unternehmenserfolg inzwischen auch daran gemessen wird, inwieweit ein Unternehmen, neben rein monetärem Gewinn, seine Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft wahrnimmt. Dies betrifft genauso deutlich die ressourcen-intensiven Event-, Messe- und Kongress-Aktivitäten eines berichts-

Nachhaltige Firmenveranstaltungen als Treiber einer nachhaltigen …

299

pflichtigen Unternehmens. Daraus ergibt sich für die betroffenen Unternehmen die Notwendigkeit, den Nachhaltigkeitsgedanken und damit die eigene Nachhaltigkeitsstrategie im Eventmanagement ebenfalls zu verankern.

5.4

 achhaltigkeit muss nicht teurer sein – Kostenersparnis durch N nachhaltige Messeorganisation

Die weit verbreitete Meinung, dass Nachhaltigkeit – insbesondere auch für das Eventmanagement von Firmenveranstaltungen – teurer sein muss, hält sich hartnäckig. Dieser Ansatz ist davon geprägt, dass die Berücksichtigung von Nachhaltigkeit bei Veranstaltungen in vielen Praxisfällen erst kurz vor der Realisierung der Veranstaltung auf die Agenda kommt. Hier liegt ein Grundfehler in der Umsetzung. Das Thema muss bereits mit der Ankündigung – dem „save the date“ – auf die interne Agenda gesetzt und in die Kommunikation nach außen zu den Teilnehmenden aufgenommen werden. Das heißt, mit der ersten Idee einer Veranstaltung wird gleichzeitig auch der Prozess einer nachhaltigen Umsetzung begonnen. Dadurch entsteht der zeitliche Spielraum, um nachhaltige kreative Ideen umzusetzen, die in vielen Fällen zu einer günstigeren und nachhaltigeren Lösung führen. Beispiel

Durch die nachhaltige Beratung und Umsetzung des DRUPA-Messekonzeptes für die Heidelberger Druckmaschinen AG konnten hierdurch über 600.000 EUR eingespart und der CO2-Fußabdruck um 50 bis 70  Prozent in einzelnen Handlungsfeldern gesenkt werden. Durch folgende Maßnahmen wurden diese Ergebnisse erzielt (auszugsweise): • Der Messestand wurde aus wiederaufgearbeiteten Druckplatten der eigenen Kunden gebaut. Es kam dadurch zu einer verstärkten Bindung zwischen Vertrieb und den Kunden, die mit dieser Maßnahme Teil des Messekonzeptes und -standes wurden. Dadurch entstanden hohe Einsparungen bei Materialkosten und CO2-Verbräuchen. – Handlungsfelder: „Energie“ – „Wirtschaftlichkeit“ – „Soziales“ • Der Messestand wurde mit Ökostrom betrieben. Es wurden auf der Heidelberger-­ Druckmaschinen-­Messefläche LED-Lampen installiert. Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Schaffung personeller Verantwortlichkeiten für das Abfallmanagement. Mit Dienstleistern wurden Vereinbarungen zur Abfallentsorgung getroffen. Weiter wurden ökologische und ökonomische Einsparungen bei Verpackung, Logistik und Aufbau erzielt. – Handlungsfelder: „Energie“  – „Mobilität (Logistik)“  – ­„Abfallmanagement“ • Durch eine geschickte Taktung und Verzahnung von Standbesetzungs- und Abfahrtszeiten der ÖPNV am Messestandort konnten Reisekosteneinsparungen in

300

S. Steimer und C. Arnold

Höhe von 20.000 EUR während der Messedauer erzielt werden. Dies dadurch, da der komplette Individualverkehr (i. d. R. mit Taxen) auf unter 10 Prozent gesenkt werden konnte. Ebenso wurden diese Einsparungen möglich, da man sich bewusst für messenahe Hotels entschieden hatte. Ein zusätzlich positiver Effekt dieser Maßnahmen war die hohe Zufriedenheit und Motivation der Standmitarbeiter*innen. – Handlungsfelder: „Mobilität“ – „Unterbringung“ – „Soziales“ • Nachhaltigkeit schafft auch akquisitorisches Potenzial! Ein weiterer messbarer Aspekt dieses nachhaltigen Messekonzeptes war es für Heidelberger Druckmaschinen, dass über die Kommunikation im Vorfeld der Messe auch neue Interessenten und Zielgruppen erreicht wurden und sich für einen Messebesuch interessierten. Daraus resultierten neue Kundenaufträge. Es erfolgte Medienaufmerksamkeit über den gesamten Messeprozess mit u. a. großen internationalen Fachmedien wie www.exhibitoronline.com. – Handlungsfelder: „Kommunikation“ – „Wirtschaftlichkeit“

6

Fallbeispiel: „Deutscher Filmpreis goes green“

6.1

Ausgangssituation

Nachhaltigkeit, soziale und gesellschaftliche Verantwortung sind auch in der deutschen Filmbranche längst keine Fremdworte mehr. „Es ist höchste Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Der Deutsche Filmpreis macht den Anfang. Uns erwartet dabei ein längerer Prozess. Aber Nachhaltigkeit soll für uns kein Modethema sein, das wir aufgreifen, weil es der Zeitgeist verlangt:“, so der Deutsche-Filmakademie-Präsident Ulrich Matthes am 3. Mai 2019 bei der Eröffnungsrede zur Verleihung des Deutschen Filmpreises 2019 in Berlin. Damit hat sich der Deutsche Filmpreis zu einem alternativen und nachhaltigen Veranstaltungskonzept verpflichtet. Es ist der Beginn eines Weges, den die Deutsche Filmakademie in den nächsten Jahren gemeinsam mit den Mitgliedern der Deutschen Filmakademie gehen wird.

6.2

Zielsetzung

Die Zielsetzung ist eine umweltgerechte und soziokulturelle, sowie wirtschaftlich verträgliche Gestaltung des Deutschen Filmpreises. Dies bedeutet, in den kommenden zwei bis drei Jahren kontinuierlich die Umweltbelastungen, soziale und finanzielle Auswirkungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu analysieren und zu optimieren.

6.3

Umsetzung

Die Grundlage für diesen mehrjährigen Prozess bildet ein für die Eventbranche entwickeltes Managementsystem. Es vereint aktuelle wie auch bereits bestehende nachhaltige Me-

Nachhaltige Firmenveranstaltungen als Treiber einer nachhaltigen …

301

thoden und Herangehensweisen. Dazu gehören unter anderem Inhalte aus der ISO 20121 für Event-Sustainability-Management, Umweltaspekte aus der DIN 14001 und EMAS sowie Prozesse und Handlungsempfehlungen für sozial faire Arbeitsbedingungen, Gesundheitsschutz, Inklusion und Barrierefreiheit.

6.4

Handlungsfelder

Davon betroffene Handlungsfelder beim Deutschen Filmpreis sind: • • • • • • • • • • • • •

Mobilität Veranstaltungsort Unterbringung Energie Beschaffung von Produkten und Dienstleistungen Catering Abfallmanagement Umgang mit Wasser Gastgeschenke/Merchandising Druckerzeugnisse Sponsoring Soziale Aspekte/Inklusion/Barrierefreiheit Kommunikation (intern/extern)

6.5

Maßnahmen und erste Ergebnisse

Gegenüber 2018 wurde 2019 die Gästekommunikation zu Angeboten zur klimafreundlichen Optimierung der Reisekette verbessert. Bereits bei vielen Events war die Deutsche Bahn offizieller Mobilitätspartner und stellte das klimaneutrale Veranstaltungsticket zur Verfügung. Die Barrierefreiheit ist ein weiteres wichtiges Thema für die Veranstalter. Deshalb wurde eine barrierefreie Location ausgewählt und die Webseite der Deutschen Filmakademie und des Deutschen Filmpreises barrierefrei gestaltet. Bei der Produktion, den Proben und der Verleihung wurde 100 Prozent Ökostrom eingesetzt. Zudem ist die Eventlocation energieoptimiert und verbessert damit kontinuierlich die Energieeffizienz der Gala, was letztendlich die CO2-Bilanz positiv beeinflusst. Die obligatorische Currywurst als Mitternachtssnack suchte man auf der Aftershowparty vergeblich. „Wir machen das jetzt einfach so!“, war der Wortlaut von Claudia Loewe, Geschäftsführerin der Deutschen-Filmakademie-Produktion, als der Vorschlag kam, das Catering zum ersten Mal in der Geschichte des Filmpreises ausschließlich vegan und vegetarisch zu gestalten. Die Speisen waren fast zu 100 Prozent regional und saisonal. Selbst bei der legendären Berliner Currywurstbude „Curry 36“ gab es tatsächlich nur eine vegane Variante.

302

cc

S. Steimer und C. Arnold

Fazit: Acht Tonnen weniger CO2 gegenüber einem klassischen Buffet mit Fleisch und Fisch.

Auch Plastikstrohhalme wurden von der Gala und Party verbannt. Stattdessen gab es Alternativen aus Glas oder Papier. Dabei wurde auch die Abfallvermeidung bereits im Vorfeld optimiert. Es wurde Mehrweggeschirr eingesetzt, Servietten waren aus recycelten Materialien und auf die üblichen Schnittblumen zur Dekoration wurde verzichtet. Dazu kam eine konsequente Mülltrennung bis hin zum roten Teppich. Dieser ging nach Gebrauch zum Upcycling an eine Recycling-Firma.

6.6

Ausblick und nächste Schritte

Die Preisverleihung 2019 diente in puncto Nachhaltigkeit als Benchmark – als Start des Prozesses. Der Prozess zur weiteren Optimierung geht mindestens über drei Jahre und soll sukzessive alle weiteren Bereiche der Deutschen Filmakademie miteinbeziehen. Nach der Gala 2019 erfolgt die abschließende CO2-Bilanzierung. Damit werden die nicht vermeidbaren CO2-Emissionen der Gala 2019 ermittelt. Diese werden anschließend über ein Klimaschutzprojekt ausgeglichen.

7

Fazit

Firmenveranstaltungen, wie Messen, Kundentage oder Jahreshauptversammlungen, sind in der Regel ressourcenintensive Veranstaltungen, bei denen die direkte Kommunikation mit unterschiedlichen Stakeholdern im Vordergrund steht. Diese unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit, also ihrer Auswirkungen in Bezug auf ökologische, ökonomische oder soziale Kriterien auszurichten, birgt vielfältige Chancen. Neben möglichen Kosteneinsparungen sind vor allem ökologische Effekte realisierbar, wie die Reduzierung von CO2-Emissionen, die zu einem positiven ökologischen Fußabdruck beitragen. Unternehmen, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen und sich ernsthaft mit Aspekten der Nachhaltigkeit in ihrer Wertschöpfungskette auseinandersetzen, werden von Konsumenten und der Gesellschaft positiv wahrgenommen. Es liegt daher nahe, auch bei Firmenveranstaltungen Kriterien der Nachhaltigkeit zu berücksichtigen. Gerade Events mit hoher emotionaler Aufladung sind ideale Plattformen, die eigene Nachhaltigkeitsstrategie zu transportieren. Messepersonal wie Mitarbeiter*innen fungieren dabei als Botschafter des Unternehmens, im Idealfall identifizieren sie sich mit der eigenen (Nachhaltigkeits-)Strategie und unterstützen glaubhaft die Aktivitäten für mehr Nachhaltigkeit. Wer ernsthaft sein Unternehmen nachhaltiger ausrichten möchte, kommt um die nachhaltige Ausrichtung von Firmenveranstaltungen wie Messen und Events nicht herum.

Nachhaltige Firmenveranstaltungen als Treiber einer nachhaltigen …

303

Literatur Atmosfair (2019) Green meetings und events. https://www.atmosfair.de/de/fuer_unternehmen/klimafreundliche_veranstaltung/. Zugegriffen am 31.10.2019 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) und Umweltbundesamt (UBA) (Hrsg) (2015) Leitfaden für die nachhaltige Organisation von Veranstaltungen. Dessau-Roßlau, Berlin. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/377/publikationen/leitfaden_nachhaltige_organisation_von_veranstaltungen_2017_05_18_web.pdf. Zugegriffen am 31.10.2019 Deutsches Global Compact Netzwerk & econsense  – Forum Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft (Hrsg) (2018) Neuer Impuls für die Berichterstattung zu Nachhaltigkeit? Studie zur Umsetzung des deutschen CSR-Richtlinien-Umsetzungsgesetzes, Berlin Europäisches Institut für TagungsWirtschaft (EITW) an der Hochschule Harz (2019) Meeting- & Eventbarometer Deutschland 2018/19. Die Deutschland-Studie des Kongress- und Veranstaltungsmarktes, Wernigerode Große-Ophoff M (2016) Nachhaltiges Veranstaltungsmanagement – Einführung. In: Große-Ophoff M (Hrsg) Nachhaltiges Veranstaltungsmanagement – Green Meetings als Zukunftsprojekt für die Veranstaltungsbranche. Oekom, München, S 11–26 Holzbaur U (2016) Events nachhaltig gestalten. Springer Gabler, Wiesbaden Rück H, Pötzl A-M. (o. J.) Klimarechner im Praxistext: Hohe Abweichungen bei CO2-Emmissionen. Events-Magazin. https://www.events-magazin.de/eventbranche/klimarechner-im-praxistest-hohe-abweichungen-bei-co2-emissionen/?utm_source=eventsmagazine_weekly_nl&utm_ campaign=Messe_Frankfurt_feiert_Umsatzbestmarke_231217&utm_medium=email. Zugegriffen am 31.10.2019 The sins of greenwashing. (o. J.) The seven sins of greenwashing. http://sinsofgreenwashing.com/ indexad0f.pdf. Zugegriffen am 31.10.2019 Umweltdialog (2018) Startup gegen Müll in der Event- und Messebranche. https://www.umweltdialog.de/de/wirtschaft/sozialunternehmer/2018/Startup-gegen-Muell-in-der-Messe-und-­ Eventbranche.php. Zugegriffen am 07.11.2019 Zanger C (2012) Nachhaltigkeit von Eventkonzepten  – Ergebnisse der Podiumsdiskussion. In: Zanger C (Hrsg) Erfolg mit nachhaltigen Eventkonzepten. Gabler, Wiesbaden, S 1–10 Zanger C (2014) Messen und Events als Mittel integrierter Unternehmenskommunikation. In: Zanger C (Hrsg) Events und Messen – Stand und Perspektiven der Eventforschung. Springer Gabler, Wiesbaden, S 13–26

Prof. Dr. Susanne Steimer  ist Professorin für Beratungsforschung und Vertriebsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim. Sie verantwortet dort die Bachelorstudiengänge Beratung und Vertriebsmanagement sowie Management und Unternehmensführung. Darüber hinaus leitet sie das Qualitätsmanagement der Hochschule. Studiert hat sie Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim, an der sie auch im Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie bei Prof. Dr. Walter Bungard promovierte. Nach Studium und Promotion war sie einige Jahre in der Organisationsberatung und im Vertrieb von E-Learning-Anwendungen tätig. Ihr besonderer Fokus in Lehre und Forschung liegt auf den Schnittstellen von Management und Psychologie. Themen sind Vertriebspsychologie, Kundenverhalten sowie Nachhaltigkeit und Digitalisierung des Vertriebsmanagements.

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S. Steimer und C. Arnold Clemens Arnold  ist Partner bei 2bdifferent – der Beratungsagentur für Nachhaltigkeit in der Veranstaltungswirtschaft. Er berät mit seiner umfassenden Expertise Unternehmen, Verbände, Organisationen, Veranstalter und Agenturen aus dem Event- und Sportbusiness. Basierend auf seiner Ausbildung zum Corporate Responsibility Manager an der Universität Bayreuth und als Trainer des Deutschen Nachhaltigkeitskodex begleitet er seine Kunden bei der Entwicklung von Nachhaltigkeitsstrategien sowie bei der Einführung und Umsetzung von Nachhaltigkeits-Managementsystemen. Hierbei liegen Schwerpunkte im Bereich der Nachhaltigkeitsberichterstattung mit den jeweiligen Berichtsstandards und im Bereich der sozialen Nachhaltigkeit mit Kompetenzen insbesondere in der Personalentwicklung sowie bei den Arbeits-, Sozial- und Gesundheitssystemen. Nach seinem Studium der Betriebswirtschaft war er viele Jahre in Vertrieb und Marketing in internationalen Konzernen und als geschäftsführender Gesellschafter im eigenen Unternehmen tätig. Er ist Mitglied in der Jury des PSI Sustainability Awards und der Future Convention. Als Dozent an der SRH Hochschule Heidelberg, der Hochschule der Wirtschaft für Management Mannheim und der Deutschen Hotelakademie Köln vermittelt er den Studierenden „Marketing Management und CSR“.

Teil IV Branchen- und praxisfallorientierte Beispiele

Agilisierung von Organisationen als Baustein einer erfolgreichen integrierten nachhaltigen Führung von Energieversorgungsunternehmen Christiane Michulitz, Sebastian Seier und Simon Haas

1

Einführung: Agilität als Element der Nachhaltigkeit

Häufig wird unter Nachhaltigkeit v. a. eine ökologische Ausrichtung von unternehmerischen oder politischen Entscheidungen verstanden. In diesem Licht wird die Nachhaltigkeit der Energieversorgung in Deutschland häufig sehr kritisch diskutiert. Nicht zuletzt konnten die streikenden Schülerinnen1 der Fridays-for-Future-Bewegung in diesem Diskurs entscheidende Akzente setzen. Weitet man das Verständnis des Begriffes jedoch über das Feld der Ökologie aus, wird sichtbar, dass die Nachhaltigkeit der Energieversorgung zumindest teilweise inhärent ist: Netze und Erzeugungsanlagen haben Lebensdauern von mehreren Jahrzehnten und erfordern somit eine auf Langfristigkeit beruhende Planung. Gleichzeitig sehen sich jedoch viele kleine und mittlere Energieversorgungsunternehmen mit rasantem Wandel der Gesellschaft, energiewirtschaftlicher Regulierung, veränderten Technologien sowie einer wachsenden Wettbewerbslandschaft konfrontiert. Den Unternehmen stellt sich zunehmend die Frage, ob sie allein mit ihrem klassischen Geschäftsmodell des Commodity-Vertriebs (Strom, Gas, Wasser, Wärme) langfristig überlebensfähig sind. Sie stehen heute vor der Frage, ob und wie sie auf normativer, strategischer und

 Im Sinne der besseren Lesbarkeit wird in diesem Text die weibliche Form verwendet. Es sind grundsätzlich alle Geschlechter gemeint.

1

C. Michulitz (*) · S. Seier · S. Haas BET Büro für Energiewirtschaft und technische Planung GmbH, Aachen, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; Simon.haas@ bet-energie.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_17

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C. Michulitz et al.

operativer Ebene Nachhaltigkeit als Grundprinzip der Unternehmensführung etablieren können. Viel diskutierte Schlagworte für die Organisationsentwicklung in Stadtwerken sind momentan die Innovationsfähigkeit, Agilität und New Work. Angewandt auf das „Organisationsmodell“ stellen diese Konzepte auch die konventionelle, struktur- und hierarchieorientierte Organisationslogik infrage, indem sie Agilisierung von Strukturen, Prozessen und Arbeitskultur einfordern. Mit dem Begriff „Organisationsmodelle“ ist die Logik, nach der die Arbeit in einem Unternehmen organisiert wird, gemeint. Diese umfasst dabei mehr als nur die Aufbaustruktur (Organigramm) einer Organisation, z. B. auch die Wertschöpfungstiefe und -breite, Informationssysteme, Kontrollmechanismen und Erneuerungssysteme (Henning und Meinecke 2017, S. 243 ff.). Um aufzuzeigen, wie dieser Gedanke der nachhaltigen Innovationsfähigkeit operationalisiert werden kann, wird in diesem Beitrag ein branchenunabhängiges Modell für agile Organisationen vorgestellt, das Unternehmen ermöglichen soll, Innovationsfähigkeit zu einem organisatorischen Grundprinzip zu machen und somit ihr langfristiges Überleben in einer durch steigende Akteursvielfalt und Konnektivität komplexer werdenden Welt zu sichern. Das entwickelte Modell für agile Organisationen wird beschrieben und anwendungsorientierte Werkzeuge zur Umsetzung dargestellt. Darüber hinaus können bei der Agilisierung von Organisationen strukturell unterschiedliche Organisationsmodelle verfolgt werden. Diese werden als ver­ schiedene Lösungsvarianten zur Agilisierung beschrieben. Im Transfer auf die Versorgungsbranche werden Herausforderungen und Hürden bei der Einführung neuer Organisationsmodelle aufgezeigt. Handlungsempfehlungen für das Vorgehen runden den Beitrag ab.

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Agile Organisation vs. Agiles Arbeiten

Nachhaltigkeit ist darauf ausgerichtet, die relevanten Ressourcen so einzusetzen, dass sie sowohl hinsichtlich ihrer Quantität als auch ihrer Qualität langfristig nutzbar bleiben. Mit Blick auf Unternehmen kommen als relevante Ressourcen zunächst die klassischen Produktionsmittel (Rohstoffe, Anlagen, Gebäude, Werkzeuge etc.) sowie finan­ zielles Kapital und Arbeitskraft in den Sinn. Hinzu kommt in der heutigen Wissensökonomie Know-how als zentraler Erfolgsfaktor für Firmen. Darüber hinaus existiert jedoch noch eine Reihe weiterer weicher Ressourcen, auf die praktisch jedes Unternehmen zurückgreift. Dazu zählt bspw. die Natur als Quelle aller Rohstoffe, die Außenwahrnehmung (das Image) und das Betriebsklima einer Organisation. Die letzteren beiden wirken sich auch auf die mittel- und langfristige Entwicklung der Ressource Arbeitskraft aus, was ein Beispiel für die Komplexität der nachhaltigen Bewirtschaftung von Ressourcen ist. Eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung macht es sich zum Ziel, nicht nur die klassischen, sondern auch die vermeintlich weichen Ressourcen in die Unternehmenssteuerung zu inkludieren. Sie ist bemüht, alle Ebenen (normativ, strategisch, operativ)

Agilisierung von Organisationen als Baustein einer erfolgreichen integrierten …

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und alle Subsysteme nachhaltig auszurichten. Hilfreich ist hierbei, Unternehmen als ein System zu verstehen, das auf Basis verschiedener interner Prozesse die relevanten Ressourcen und Informationen (Input) auswählt und verarbeitet, um letztlich die gewünschten Produkte und Ergebnisse herzustellen (Output). Die theoretische Grundlage und Terminologie zur Beschreibung von Organisationen in diesem Beitrag ist auf das sog. „OSTO-­Systemmodell“ zurückzuführen (OSTO = offen, soziotechnisch und oekonomisch) (Henning und Meinecke 2017, S. 243 ff.). Diese Betrachtungsweise zeigt, dass nicht nur die verfügbare Menge und Qualität des Inputs entscheidend ist, um langfristig Güter und Dienstleistungen zu produzieren, die am Markt in ausreichender Menge nachgefragt werden. Vielmehr bestimmt auch die Frage, wie ein Betrieb verfügbare Rohstoffe und Wissen einsetzt und verarbeitet über den Unternehmenserfolg. Selbst wenn es einem Unternehmen gelingt, kontinuierlich Ressourcen in ausreichender Qualität und Menge zu beziehen, können die internen Prozesse zu unattraktiven bzw. wenig nachgefragten Outputs führen. Hinzu kommt, dass nicht nur für die eingesetzten Produktionsmittel die Kriterien Relevanz, Qualität und Quantität stimmen müssen. Auch für den Output gilt: Selbst die hochwertigsten Produkte und Dienstleistungen werden kaum Absatz finden, wenn sie für Kundinnen nicht relevant sind. Sogar der beste handbemalte Rechenschieber wäre in Zeiten der Taschenrechner und Smartphones ein Ladenhüter, da er für die Zielgruppe an Relevanz verloren hat. Während die Qualität und Quantität der Produkte und Dienstleistungen idealerweise über die internen Prozesse eines Unternehmens gesteuert werden können, sind für die Feststellung der Relevanz gut funktionierende Antennen in die Außenwelt erforderlich. Über diese Schnittstellen müssen Kundenbedürfnisse erkannt, interpretiert und ins Unternehmen getragen werden. Dieses Wissen über die Bedürfnisse der Umwelt stellt wiederum eine Art des Inputs bzw. eine relevante Ressource dar. Für die integrierte nachhaltige Unternehmensführung stellt sich die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass die Organisation die vorhandenen Ressourcen langfristig so einsetzt, dass die (sich mit der Zeit wandelnden) Bedürfnisse der Umwelt (v. a. Kunden und Shareholder) stets in einem maximal möglichen Maße befriedigt werden. Diese Bedürfnisbefriedigung wird aufgrund der steigenden Komplexität der Umwelt zunehmend anspruchsvoller. Komplexität ist dabei als Interdependenz der Handlungen von Akteuren zu verstehen. Diese Wechselwirkungen führen zu teilweise unvorhersehbaren Ursache-Wirkung-Beziehungen und damit Ergebnissen. Der Grad der Komplexität der Umwelt eines Systems oder auch zwischen System und Umwelt bestimmt sich jedoch nicht nur über die Anzahl und Art der Interdependenzen, sondern auch über die Geschwindigkeit, mit der Akteure miteinander ­kommunizieren bzw. handeln können. Mit zunehmender Geschwindigkeit der Kommunikation sinkt potenziell die Zeit, die zwischen Ursache, Aktion und Wirkung liegt.

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Seit Anfang der 2000er-Jahre ist ein Trend zunehmender Konnektivität zu beobachten, der mittlerweile den Status eines „Megatrends“2 erreicht hat (Zukunftsinstitut 2018). Steigende Konnektivität bedeutet, dass sowohl die Anzahl an Verbindungen zwischen Akteuren und Systemen zunimmt als auch die Geschwindigkeit, mit der kommuniziert und agiert werden kann. Zentrale Treiber dieser Entwicklung sind die Digitalisierung und moderne Mobilitätsformen, wie Flugzeuge, Züge, riesige Containerschiffe und Kraftfahrzeuge, die ein immer höheres Maß an Mobilität von Personen und Gütern erlauben. Aus Sicht von Organisationen führt die Konnektivität – also die zunehmende digitale und physische Verknüpfung von Akteuren – zu einer immer komplexer werdenden Umwelt. Aufgabe der integrierten nachhaltigen Unternehmensführung ist es, die verfügbaren Ressourcen in der immer komplexeren Umwelt stets so einzusetzen, dass Kundenbedürfnisse optimal erfüllt werden. Systemisch gesprochen muss also die Organisation nachhaltig in die Lage versetzt werden, auf operativer Ebene relevanten Input aus der Umwelt aufzunehmen und zu gewünschtem Output zu verarbeiten, auch wenn sich insbesondere die Kundenbedürfnisse in kontinuierlichem Wandel befinden und immer häufigere Produktinnovationen erfordern. Das System, soll heißen: das Unternehmen, muss also auf die Außenkomplexität und sich wandelnde Anforderungen reagieren können. Laut Luhmann (1987) dienen Organisationen dem Zweck der Komplexitätsreduktion. Diese ist dabei jedoch kein Selbstzweck, sondern hat zum Ziel, die Außenkomplexität für die Mitglieder der Organisation verarbeitbar zu machen. Luhmann spricht hier von Anschlussfähigkeit. Dies gelingt ihnen besonders dann, wenn sie der Außenkomplexität mit einer angemessenen Innenkomplexität begegnen. Steigt jedoch die Außenkomplexität, ohne dass sich die Innenkomplexität verändert, vereinfachen Organisationen – oft ungewollt und zunächst unbemerkt – die Realität der Außenwelt so sehr, dass sie sie verfälschen und bspw. neue relevante Inputs ­komplett vernachlässigen. Dies ist vergleichbar mit einem in die Jahre gekommenen Computermodell, das mit seiner beschränkten Rechenleistung den neuen Anforderungen nicht mehr gerecht werden kann. Die beschränkte Rechenleistung erklärt sich dabei aus der Tatsache, dass das klassische Unternehmen durch eine begrenzte Zahl an Führungskräften gesteuert wird, die bei zunehmender Komplexität schnell zum Engpass werden. Um dies zu vermeiden, müssen Unternehmen in der Lage sein, die Veränderungen in der Umwelt zu erkennen und ihre Organisations- und Arbeitslogik entsprechend anzupassen. Die Konzepte der Innovationsfähigkeit, Agilität und von New Work schlagen in diese Kerbe. In der Folge der Anwendung der damit assoziierten Methoden steigt die Innenkomplexität im Unternehmen an und spiegelt die Außenkomplexität besser wider. Wie bei einem Computer muss zur Bewältigung dieser gestiegenen Komplexität die Rechenleis-

 Als „Megatrends“ werden Entwicklungen bezeichnet, die sich unabhängig von konjunkturellen und politischen Trends über lange Zeiträume hinweg als stabil und gesellschaftlich prägend erwiesen haben.

2

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tung erhöht werden. Dies geschieht im Rahmen der Agilisierung durch die Dezentralisierung von Verantwortlichkeiten und Stärkung der Eigeninitiative von Mitarbeiterinnen. In Zukunft werden also solche Unternehmen erfolgreich sein, denen es am besten gelingt, bei zunehmender Außenkomplexität relevante Bedürfnisse aus ihrer Umwelt abzuleiten und zielgenau in gewünschten Output zu transformieren. Bei hoher Komplexität des Marktes bedarf es auf normativer und strategischer Ebene eines Entschlusses zu einer nachhaltigeren, innovationsfähigen Aufstellung. Oftmals werden in diesem Kontext agile Arbeitsweisen wie Scrum oder Design Thinking (Doing agile) mit Fragen der organisationalen Agilität (Being Agile) vermengt. Agile Arbeitsweisen erscheinen im Diskurs häufig konkreter und greifbarer als die organisationale Agilität, weshalb sich dieser Beitrag schwerpunktmäßig auf letzteren Aspekt und damit auf das Being Agile konzentrieren möchte. Während agile Arbeitsmethoden gut für einzelne Produktentwicklungsprojekte eingesetzt werden können, bedarf es für eine nachhaltige Transformation von Inputs aus einer komplexen Umwelt zu gewünschtem Output einer Agilisierung des Gesamtsystems. Als Agilität wird im Rahmen dieses Beitrags deshalb die Fähigkeit von Organisationen bezeichnet, interne Prozesse und systemische Gestaltungskomponenten entsprechend den Anforderungen aus der Außenwelt anzupassen. Der Begriff Agilisierung bezeichnet den Transformationspfad in Richtung einer agileren Organisation. Die Agilisierung des Gesamtsystems kann mittels unterschiedlicher Organisationsmodelle erfolgen. In den folgenden Abschnitten stellen wir zunächst ein Modell vor, welches die zentralen Dimensionen und Gestaltungsmerkmale agiler Organisationen beschreibt. Anschließend übertragen wir dieses theoretische Fundament auf unsere Erfahrungen aus dem Beratungsalltag bei Energieversorgungsunternehmen und arbeiten praktische Empfehlungen für die schrittweise Reorganisation von Energieversorgern heraus.

3

Ein Modell für die Agilisierung von Organisationen

3.1

Entscheiden, achten, lernen: Dimensionen der Agilität

Die seit dem Erscheinen des „Agilen Manifests“ (Beck et al. 2001) zunächst im Sinne des Doing agile geführte Diskussion hatte die Wiederbelebung von Ideen aus der in den 1950er-Jahren entstandenen Soziokratiebewegung (Schumacher und Wimmer 2019, S. 13 f.) zur Folge, wobei jedoch der Fokus nun eher auf der Agilität von Organisationsformen lag als auf der ursprünglich dominanten Demokratisierung. Die neue Debatte über Agilität hat dabei ein auffälliges Merkmal: Sie ist eine Diskussion der Extreme. Auf der einen Seite stehen Anhängerinnen einer eher tayloristischen Organisationsgestaltung, auf der anderen Seite die von Kurt Lewin (1947) geprägten Vertreterinnen des Gegenmodells. Dieser Beitrag bezeichnet die beiden Schulen im Folgenden als klassisch-bürokratisch-­ hierarchisch bzw. extrem agil. Gemeint sind die Pole in der Argumentation über das optimale Bild. Mit dem Begriff Agilisierung wird zum Ausdruck gebracht, dass eine graduelle

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Entwicklung vom einen zum anderen Pol möglich ist, ohne direkt vom einen Extrem ins andere springen zu müssen. In der Konsequenz bedeutet das, dass Agilität keine binäre Eigenschaft ist, sondern sich alle Unternehmen auf einem Kontinuum zwischen klassisch-­ bürokratisch-­hierarchisch und extrem agil bewegen. Eine Organisation, die sich relativ dicht am klassisch-bürokratisch-hierarchischen Extrem bewegt, ist die katholische Kirche, in der es seit über 2.000 Jahren keine Reorganisation gegeben hat und eine solche ohne den Segen der obersten Führungsperson – des Papstes – auch undenkbar ist. Zu den ex­ trem agilen Organisationen gehören von Laloux (2015) aufgezählte Beispiele, wie der niederländische Pflegedienst Buurtzorg und die Heiligenfeld-Kliniken in Bayern oder auch holakratische Unternehmen, wie z. B. der schweizerische IT-Dienstleister Netcentric, die deutsche Online-Lernplattform Springest oder der amerikanische Onlinehändler Zappos (Abb. 1). Das Modell lässt sich auch auf Energieversorgungsunternehmen übertragen, die zur Modernisierung ihres Geschäftsmodells in Vertrieb, Erzeugung und Kommunalservices ihre Innovationskraft mitunter deutlich steigern müssen. Dabei ist jede Form der Agilisierung kritisch auf die Passung zum Unternehmen zu prüfen ist, denn in der noch a­ nhaltenden Euphorie „wird gerne übersehen, sich selbstkritisch die Frage zu stellen, für welche unternehmerische Herausforderung agile Arbeitsformen eine geeignete Antwort darstellen und für welche gerade nicht.“ (Schumacher und Wimmer 2019, S. 16). Als extrem agile Unternehmen werden im Folgenden solche verstanden, die in der Lage sind, sich aus sich selbst heraus an sich verändernde Umweltbedingungen (z.  B. neue Kundenbedürfnisse) anzupassen. Derartige Änderungen erfolgen in klassisch-­bürokratisch-­ hierarchischen Unternehmen i.  d.  R. durch den Impuls hochrangiger Führungskräfte  – häufig der Geschäftsführung. In extrem agilen bzw. selbstführenden Organisationen können solche Anpassungen jedoch zu jeder Zeit von all ihren Mitgliedern initiiert werden. In der Soziokratie und später bei Laloux (2015) wird diese Eigenschaft als Selbstführung bezeichnet. Die dahinterliegende Idee ist, dass alle Mitarbeiterinnen als Sensoren des Systems für die Außenwelt agieren und auf Basis eventuell wahrgenommener Anpassungsbedarfe eine Optimierung der internen Strukturen und Abläufe initiieren können (Robertson 2016, S. 4 ff.).

„Klassisch-bürokratischhierarchisch"

„Extrem agil“ Verzicht auf klassische Führungspositionen

Frequenz organisationaler Erneuerungsschleifen Initiative zur organisationalen Erneuerung geht ausschließlich von den obersten Führungspositionen aus

Abb. 1  Kontinuum der organisationalen Agilität(Quelle: B E T)

Organisationale Erneuerung ist Teil des Arbeitsalltags und kann von allen Mitarbeiterinnen initiiert werden

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Das System befindet sich im Falle einer extrem agilen Organisation in einem permanenten Wandel, um zu jedem Zeitpunkt seine optimale Leistungsfähigkeit sicherzustellen. Klassisch-bürokratisch-hierarchische Unternehmen zeichnen sich hingegen durch eine hohe Strukturorientierung und einen ausgeprägten Bürokratismus aus. Dies führt einerseits zu verfestigten Hierarchien, die sich häufig eher macht- und status- als sachorientiert entwickeln. Andererseits herrschen in klassisch-bürokratisch-hierarchischen Unternehmen langwierige Informations- und Entscheidungsroutinen vor. Dies führt dazu, dass sich solche Unternehmen regelmäßig in wiederkehrenden Settings befinden und mit der Zeit die Fähigkeit verlieren, sich an verändernde Rahmenbedingungen anpassen zu können. Viele Unternehmen durchlaufen im Abstand von einigen Jahren Erneuerungsprozesse, die  – wie oben beschrieben  – auf der Erkenntnis einiger Schlüsselpersonen beruhen, dass die Anforderungen der Umwelt nicht mehr mit der Funktionsweise der Organisation übereinpassen. Dieser Erneuerungsprozess läuft somit in sehr langen Zyklen ab. Je kürzer diese Erneuerungszyklen werden, desto weiter rückt das Unternehmen auf dem Kontinuum in Richtung des Pols extrem agil. Das Extrem auf diesem Kontinuum sind selbstführende Unternehmen, die sich in einem permanenten Erneuerungsprozess befinden. Dabei sind diese Unternehmen nicht mehr auf den Input von Führungskräften angewiesen und verzichten deshalb auf die klassische Rolle einer Führungskraft in der Linie. Der Verzicht auf klassische Führungskräfte ist für die Organisationslogik ein Quantensprung und stellt in dem Kontinuum zwischen klassisch-bürokratisch-hierarchisch und extrem agil gewissermaßen einen Knick dar. Dies bedeutet, dass Unternehmen, die weiter auf die klassische Führungsrolle setzen, trotz flacher werdenden Hierarchien bei der Agilisierung irgendwann an eine Grenze stoßen. Diese Grenze kann nur mittels der konsequenten Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen überwunden werden, was die Abschaffung der klassischen Führungsrolle zur Folge hat und die Organisationslogik grundlegend verändert. Hiermit sei allerdings nicht gesagt, dass dieser Quantensprung für alle Unternehmen notwendig oder ratsam wäre. Auch wenn diese extreme Ausprägung der Agilität (heute) sicher nur für die wenigsten Unternehmen infrage kommt, bringt es dennoch einige Vorteile mit sich, die eigene Organisation auf besagtem Kontinuum ein Stück weiter in Richtung Agilität zu entwickeln. Der Mehrwert einer solchen Agilisierung besteht insbesondere in der besseren Wahrnehmung von Umwelteinflüssen (v. a. Kundenbedürfnissen). Mitarbeiterinnen bekommen zudem mehr Eigenverantwortung und einen größeren Aktionsraum, was  – in Verbindung mit der stärkeren Kundenorientierung  – eine wichtige ­Voraussetzung für Innovationsfähigkeit ist. Darüber hinaus kommt es häufig zu signifikanten Effizienzgewinnen dank kürzerer Entscheidungswege und einer Entbürokratisierung. Eine Agilisierung des Unternehmens betrifft die operativen Gestaltungselemente der Organisation. Hierzu gehören z. B. die Zusammensetzung der Teams, Art und Umfang der Informationsweitergabe, der Zuschnitt von Aufgaben und die Verteilung von innerbetrieblichen Ressourcen ebenso wie die Aufbauorganisation und die Prozesse.

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In der Diskussion rund um die Frage, wie Unternehmen mehr Agilität erreichen, wird zum Teil ein zu vages Konzept bemängelt, das „folglich nicht handlungsleitend wirken“ (Grundei und Kraehler 2018, S. 427) kann. Die Autorinnen richteten in der Regel ihren Fokus auf Fragen der Aufbauorganisation, die „flache Hierarchien“ und eine „Kombination aus stabiler Primärstruktur und flexibler Sekundärstruktur, namentlich in Form von netzwerkartigen Strukturen“ (Grundei und Kraehler 2018, S. 429) haben. Diese Reduktion auf Aspekte der Struktur als Hauptmerkmal von Agilität verschließt den Blick auf das Potenzial der Agilisierung von Organisationen, die insbesondere in traditionsreichen und hochstabilen Unternehmen oft ein notwendiger Treiber für Veränderung ist. Für diese Unternehmen bedeutet Agilisierung das Ausbalancieren des Spannungsfeldes zwischen Flexibilität und Stabilität (Linke et al. 2018, S. 314 ff.). Hierbei ist eine Veränderung der Grundlogik der Aufbauorganisation nur eine der denkbaren Interventionen. Die zentrale Frage ist, wie sich eine klassisch-­ bürokratisch-hierarchische in Richtung einer flexibleren, innovationsfähigeren und damit agileren Organisation transformieren lässt. Das in diesem Beitrag entwickelte Modell einer agilen Organisation beschreibt notwendige Merkmale dieser Organisationsform. Es umfasst drei zentrale Dimensionen und jeweils mehrere Hebel, an denen es anzusetzen gilt, um die Agilität zu steigern. Die drei Dimensionen sind (1) Entscheidungsroutinen, (2) Achtsamkeit und (3) Lernfähigkeit und bilden zusammen eine dreidimensionale Matrix (Abb. 2). Dimensionen agiler Organisationen Gestaltungsmöglichkeiten in der Dimension „Entscheidungsroutinen“ Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen

Erlernen von Entscheidungsmethoden

Aufsetzen von hierarchiearmen Eskalationsmechanismen

Stärkung des Denkens in Rollen

Setzen von gemeinsamen Zielen, Werten und Prinzipien

Transparente Bereitstellung von Informationen

Entscheidungen

Gestaltungsmöglichkeiten in der Dimension „Achtsamkeit“ Trainieren einer internen und externen Bedürfnisorientierung Etablieren von Vertrauen und Wertschätzung als zentrale Werte Förderung des ggs. Verständnisses durch Teamentwicklung Thematisieren impliziter Welt- und Menschenbilder Förderung der Reflexion auf der persönlichen Ebene

Gestaltungsmöglichkeiten in d. Dimension „Lernfähigkeit“ Förderung der Reflexion auf organisationaler Ebene Förderung der Reflexion auf sachlicher Ebene Sicherstellung eines intensiven Wissenstransfers im Unternehmen Einführen und Trainieren von Feedbackregeln Begreifen von Fehlern als Lernchancen

Achtsamkeit

Abb. 2  Dimensionen agiler Organisationen

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Der besondere Fokus des Modells liegt hier nicht auf dem strukturellen Organisationsmodell (Aufbauorganisation), sondern auf Aspekten der Zusammenarbeit und der Kommunikationsroutinen. In der Kurzzusammenfassung besagt das Modell, dass zur Agilisierung eines Unternehmens Entscheidungsbefugnisse neu verteilt werden müssen und dafür eine Kultur der Achtsamkeit und des organisationalen Lernens erforderlich ist. Jede Dimension stellt, genauso wie die organisationale Agilität insgesamt, ein Kontinuum dar. Bei der Dimension der Entscheidungsroutinen (Y-Achse im Modell) reicht dieses von zentral bis dezentral. Auf den anderen beiden Achsen bedeutet der Nullpunkt keine und das andere Extrem sehr hohe Achtsamkeit bzw. Lernfähigkeit. Sehr agile Organisationen zeichnen sich also nicht nur durch dezentrale Entscheidungsroutinen aus, sondern auch durch eine ausgeprägte Achtsamkeit und Lernfähigkeit. Entsprechend ist es bei der Entwicklung hin zur agileren Organisation wichtig, alle drei Dimensionen zu adressieren. In Unternehmen mit geringer Befähigung zum organisationalen Lernen und ausgeprägter Unachtsamkeit wird die Neuordnung von Entscheidungsbefugnissen eher zu Unklarheiten und Widerständen führen als zu einer performanten Organisation.

3.2

Konkrete Ansatzpunkte zur Agilisierung von Organisationen

Um Unternehmen auf den drei Ebenen Entscheidungsroutinen, Achtsamkeit und Lernfähigkeit weiterzuentwickeln und somit agiler werden zu lassen, stehen verschiedene Hebel zur Verfügung. Diese setzen an der Unternehmenskultur an und wirken sich in der Konsequenz auf Strukturen und Prozesse der Organisation aus. Im Folgenden werden die einzelnen Ansatzpunkte innerhalb der drei Dimensionen näher beschrieben. Die strukturellen Änderungen wirken sich idealerweise wiederum auf die Unternehmenskultur und Prozesse aus und unterstützen somit die Agilisierung.

3.2.1 Dimension 1 – Entscheidungsroutinen Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen | Ein zentraler Hebel für die Agilisierung eines Unternehmens ist die Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen. Dazu werden Rollen mit zugehörigen Rollenträgerinnen definiert, die innerhalb ihrer Rolle zu Entscheidungsträgerinnen werden (siehe Absatz Stärkung des Denkens in Rollen). In starren Organisationen besteht aufgrund formalisierter Entscheidungswege das Risiko, dass durch die hierarchieorientierte Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen hochrangige Positionen zum Nadelöhr werden, weil nicht nur übergeordnete strategische Themen dort entschieden werden, sondern auch zahlreiche operative Fragen aus dem Tagesgeschäft. Agilere Unternehmen geben ihren Mitarbeiterinnen gemessen an der Anzahl an Entscheidungsarten, die sie selbst bearbeiten müssen, mehr Freiraum für eigene Entscheidungen, womit zwangsläufig auch ein Mehr an Verantwortung verbunden ist. In diesen Unternehmen entscheiden Führungskräfte über das Was und Mitarbeiterinnen über das Wie. Dadurch verlieren Hierarchien an Bedeutung, was über kurz oder lang den Abbau

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bzw. die Verlagerung von Führungsebenen zur Folge hat. In extrem agilen, selbstführenden Unternehmen werden auch strategische Entscheidungen und klassische Führungsaufgaben (z. B. Budget- und Personalentscheidungen) dezentralisiert, wodurch die klassische Führungsrolle zugunsten von Führungsaufgaben quer zur Linie oder gemeinsam zu treffenden Führungsentscheidungen verschwindet. Zudem ändert sich bei extrem agilen Unternehmen auch die Entscheidungslogik im Sinne kybernetischer Prinzipien: „Agilität verzichtet auf die exakte Planbarkeit […] und setzt demgegenüber konsequent auf ein iteratives Vorgehen“ (Schumacher und Wimmer 2019, S. 15 f.). Stärkung des Denkens in Rollen | In der Diskussion um Agilität wird von Skeptikern regelmäßig betont, dass ja nicht jeder „einfach machen kann, was er will“. In der Tat muss für eine funktionierende agile Organisation dafür gesorgt werden, dass ein solcher Zustand der Anarchie trotz Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse nicht eintritt. Das Abgeben von Entscheidungen ist nicht damit getan, dass sich Führungskräfte nicht mehr zuständig fühlen. Werden Entscheidungen dezentralisiert, muss gleichzeitig auch geklärt werden, wer nun was entscheiden darf. Hierbei hilft die klare Definition von Rollen und den dazugehörigen Rollenträgerinnen. Die Aufgaben einer jeden Mitarbeiterin werden dazu in Rollen beschrieben. Zu jeder Rolle gehört dabei auch die Beschreibung der Entscheidungsbefugnisse. Darüber hinaus ermöglicht das Denken in Rollen auch eine effizientere (und bei sehr agilen Unternehmen selbststeuernde) Nutzung von Mitarbeiterkapazitäten. In extrem agilen Organisationen dürfen Mitarbeiterinnen Rollen selbstständig (wenn auch nicht ohne Abstimmung mit ihren Teams, Abteilungen oder Kreisen) tauschen, kreieren, anpassen oder abschaffen, wenn sie somit besser zum Unternehmensziel beitragen können (Laloux 2015, S. 115 ff.; Robertson 2016, S. 57). Erlernen von Entscheidungsmethoden | Neben der Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse und der Klärung der Zuständigkeit mittels Rollen ist auch die Frage zu klären, welche Entscheidungen nicht allein von einer Rollenträgerin getroffen werden dürfen und wer (oder besser: welche Rolle/n) in diese Entscheidungen einbezogen werden müssen. Sobald mehrere Personen eine Entscheidung fällen wollen, ist es sehr hilfreich, sich zunächst über den Entscheidungsmodus zu einigen. In vielen Unternehmen ist heute zu beobachten, wie Entscheidungen zwar in Gruppen (teilweise endlos) diskutiert werden, dabei aber nicht klar ist, wann eine Entscheidung als gefällt gilt. Am Ende geben ­regelmäßig unbewusste psychologische Faktoren (z. B. nach langer Diskussion kommt man doch auf den ersten Vorschlag zurück) oder Machtverhältnisse den Ausschlag. Das Bewusstmachen des Entscheidungsprozesses und die Einigung auf einen Entscheidungsmodus (bspw. Mehrheitsentscheid, Konsens, Konsent, systemisches Konsensieren (Köppel 2019, S. 100) sorgen einerseits für eine höhere Legitimation des Ergebnisses). Andererseits wird die Diskussion strukturiert und ein natürlicher Endpunkt der Diskussion (die Entscheidung wurde im vereinbarten Modus gefällt) definiert. Setzen von gemeinsamen Zielen, Werten und Prinzipien | Sowohl klassisch-­bürokratisch-­ hierarchische als auch extrem agile Organisationen sind darauf angewiesen, dass ihre Entscheidungsträgerinnen Entscheidungen im Sinne des Unternehmens treffen. Da ­ in  klassisch-­bürokratisch-hierarchischen Organisationen die Führungskräfte sowohl die

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Quelle der Unternehmensstrategie als auch die zentralen Entscheider sind, wissen sie idealerweise sehr genau, woran sie sich bei der Entscheidungsfindung orientieren müssen. Werden Entscheidungsbefugnisse jedoch auf mehrere Schultern verteilt, ist es wichtig, gemeinsame Ziele, Werte und Prinzipien zu definieren, nach denen entschieden und priorisiert werden soll. Insbesondere das Unternehmensziel wird in verschiedenen Agilitätsansätzen immer wieder als zentrales Element zur Ausrichtung von dezentralen Entscheidungen genannt. In der Soziokratie taucht es bspw. im Konsentverfahren auf, in dem Vorschläge als angenommen gelten, solange es im Sinne des Unternehmensziels keinen berechtigten Einspruch gibt (Schumacher und Wimmer 2019, S. 14). In holakratischen Organisationen hat nicht nur das Gesamtunternehmen einen übergeordneten Zweck (Purpose), sondern auch alle darin liegenden Kreise (Organisationseinheiten der Holakratie) und Rollen (Robertson 2016, S. 31 ff.). Evolutionäre Organisationen nach Laloux (2015, S. 220 ff.) haben gar einen evolutionären Sinn, an dem sich alle unternehmerischen Entscheidungen orientieren. Aufsetzen von hierarchiearmen Eskalationsmechanismen | Die Definition von Zielen, Werten und Prinzipien fördert die Konzentration auf Sachinhalte, weil grundsätzliche Fragen der Zusammenarbeit nicht mehr im Arbeitsalltag ausgehandelt werden müssen. Doch auch in extrem agilen Organisationen, in denen auf normativer Ebene klare Rollen, Ziele, Werte und Prinzipien definiert sowie Entscheidungsmethoden vereinbart sind, kann es zu massiven Uneinigkeiten und Konflikten kommen. Während in klassisch-bürokratisch-­ hierarchischen Unternehmen mit funktionierenden Eskalationsmechanismen Probleme i. d. R. relativ schnell über die Führungsebenen nach oben eskaliert werden, ist auch diese Aufgabe in agilen Unternehmen dezentralisiert. Dies ist z.  B. möglich, indem sich die Konfliktparteien auf eine neutrale Kollegin aus derselben Hierarchieebene einigen, der zu vermitteln und zu moderieren versucht. Hierfür übernehmen in agilen Unternehmen interessierte Mitarbeiterinnen häufig offiziell eine Mediatorenrolle und bilden sich in diesen Fähigkeiten fort. Insbesondere für schwerwiegendere Konflikte können auch Kollegiengremien genutzt werden, die Methoden der kollegialen Beratung nutzen. Transparente Bereitstellung von Informationen | Eine Grundvoraussetzung für das Treffen von Entscheidungen ist die Verfügbarkeit der dafür notwendigen Informationen. Somit gewinnt Transparenz eine immer größere Bedeutung, umso agiler eine Organisation werden will. In extrem agilen Unternehmen, in denen Mitarbeiterinnen z. B. ihre Gehälter untereinander aushandeln und somit eine klassische Führungsaufgabe übernehmen, sind in der Konsequenz selbst die Gehaltsinformationen für alle einsehbar.

3.2.2 Dimension 2 – Achtsamkeit Trainieren einer internen und externen Bedürfnisorientierung | Aus systemischer Per­ spektive zieht jede Organisation ihre Existenzberechtigung aus der Tatsache, dass sie Bedürfnisse aus der Umwelt erfüllt. Für Unternehmen stellen nicht nur aber v.  a. die Kundinnen diese Umwelt dar, weshalb sich der Begriff der Kundenorientierung einer solch großen Popularität erfreut. Wie weiter oben beschrieben, ist die Agilisierung von Unternehmen kein Selbstzweck, sondern dient der Sicherstellung der kontinuierlichen

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und qualitativ bestmöglichen Bedürfnisorientierung und damit des nachhaltigen Unternehmenserfolgs. Im Zusammenhang mit den Entscheidungsroutinen wurde auch bereits auf die Bedeutsamkeit von gemeinsamen Zielen verwiesen. In diesen sollte sich die Orientierung an den Kundenbedürfnissen ebenfalls niederschlagen. Mindestens genauso wichtig wie das Wahrnehmen von Bedürfnissen ist die Ausrichtung des täglichen Handelns an diesen Bedürfnissen und das Erkennen von Diskrepanzen zwischen einem Bedürfnis und der auf dessen Erfüllung ausgelegten Handlung. Dies gilt nicht nur für externe Kundenbeziehungen. Auch innerhalb von Unternehmen gibt es kundenähnliche Beziehungen zwischen Organisationseinheiten. Das gilt insbesondere für de facto dienstleistende Querschnittsfunktionen, wie die IT, deren Kundinnen alle Mitarbeiterinnen sind, aber auch wenn ein Team auf die Vorarbeiten eines anderen Teams angewiesen ist. Die Achtsamkeit für Bedürfnisse vermeidet sowohl intern als auch extern, dass am jeweiligen Bedürfnis vorbei produziert wird. Eine Möglichkeit, dies zu trainieren ist z. B. die Visualisierung und Diskussion der jeweiligen internen und externen Kundenbeziehungen in einem Team. Auch die stark auf die Kommunikation von Bedürfnissen ausgerichteten Methoden der gewaltfreien Kommunikation fördern entsprechende Fähigkeiten bei den Mitarbeiterinnen. Etablieren von Vertrauen und Wertschätzung als zentrale Werte | In einem Unternehmen, das sich durch die Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen agiler aufstellen möchte, müssen Vertrauen und Wertschätzung in der Zusammenarbeit eine wichtige Rolle spielen. Im Laufe der Entwicklung einer Organisation in Richtung Agilität betrifft dies zum einen die Führungskräfte, die lernen müssen, Aufgaben zu delegieren bzw. gänzlich abzugeben. Dies erfordert Vertrauen. Zudem ist es möglich und wahrscheinlich, dass Mitarbeiterinnen bei der Wahrnehmung ihrer neuen Verantwortlichkeiten auf andere Lösungswege kommen, als sie von der jeweiligen Führungskraft eingeschlagen worden wären. Auch hier besteht für Menschen in Leitungspositionen die Herausforderung, eigene Ideen zurückzustellen und andere Lösungsmöglichkeiten wertzuschätzen. Zum anderen müssen aber auch die Mitarbeiterinnen lernen, die Zuständigkeiten von Kolleginnen oder anderen Organisationseinheiten zu akzeptieren und in deren Fähigkeiten zu vertrauen. Je agiler ein Unternehmen wird, desto wichtiger werden Vertrauen und Wertschätzung gerade bei ­flacher werdenden Hierarchien. Ohne gegenseitiges Vertrauen und Wertschätzung wird es nicht gelingen, im Unternehmen konsequent in Rollen zu arbeiten und zu entscheiden. Förderung des gegenseitigen Verständnisses durch Teamentwicklung | In agilen Unternehmen orientieren sich Mitarbeiterinnen bei den Entscheidungen, die sie im Rahmen ihrer Rolle zu treffen haben, grundsätzlich an den gemeinsamen Zielen des Unternehmens. Um diese Praxis kulturell zu untermauern, ist ein ausgeprägter Teamgedanke hilfreich, mit dem das Gefühl vermittelt wird, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Hierfür gibt es eine Vielzahl an Teamentwicklungsmaßnahmen, die spielerisch erlebbar machen, wie alle Mitglieder einer Organisation mit ihrem persönlichen Beitrag auf ein gemeinsames Ziel einzahlen.

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Thematisieren impliziter Welt- und Menschenbilder | Kultur manifestiert sich u. a. in Gewohnheiten, standardisierten Handlungen, sozialen Normen und gemeinsamen Werten. Dem zugrunde liegen – häufig unbewusste und nicht-diskutierte – Welt- und Menschenbilder (Schein 1985). In stark hierarchieorientierten Organisationen ähnelt das Menschenbild häufig der X-Y-Theorie, der zur Folge es Menschen gibt, die gestalten wollen (Y), sowie solche, die träge sind und von Dritten (Führungskräften) motiviert und kontrolliert werden müssen, um Leistung zu erbringen (X; McGregor 1957). Grundlage agiler Unternehmenskulturen ist jedoch ein anderes Menschenbild. In dieser Denkweise ist jeder Mensch zu eigenverantwortlichem und selbstinitiativem Handeln fähig. Die X-Y-Logik ist demnach eine selbsterfüllende Prophezeiung, da Menschen, die auf Dauer so behandelt werden, als könnten sie keine eigenen Entscheidungen treffen, irgendwann tatsächlich das eigenständige Denken und Handeln einstellen. Vor dem Hintergrund der zentralen Rollen eigenverantwortlicher Entscheidungsfindung in agilen Organisationen wird die Bedeutung dieser impliziten Menschenbilder schnell deutlich. Gleichzeitig sind Menschenbilder tief verankerte Überzeugungen und – wie erwähnt – oftmals unbewusst. Einige Unternehmen, die bei ihrer Agilisierung bereits weit vorangeschritten sind, wie bspw. die Klinik Heiligenfeld in Bad Kissingen, nutzen deshalb regelmäßige Diskussionsformate, um gemeinsam die dominanten Menschenbilder in der Organisation zu adressieren (Laloux 2015, S. 206). Förderung der Reflexion auf der persönlichen Ebene | Agile Organisationen gehen mit größeren Entscheidungsfreiheiten und Handlungsspielräumen einher. Dies ermöglicht im Idealfall nicht nur bürokratiearme, effiziente Arbeitsabläufe, sondern auch ein höheres Maß an Selbstverwirklichung für die Mitarbeiterinnen. In Unternehmen, die sich auf unserem Kontinuum sehr dicht am Agilitätspol befinden, bspw. dem französischen Automobilzulieferer FAVI, können Mitarbeiterinnen häufig selbstständig die Rollen wählen, die sie im Unternehmen wahrnehmen wollen (Laloux 2015, S. 115 f.). Hierfür ist jedoch ein hohes Maß an Selbstreflexion und Achtsamkeit für die eigenen Bedürfnisse erforderlich: Was interessiert mich? Worin bin ich richtig gut? Wie möchte ich mich weiterentwickeln? Darüber hinaus erfordert auch das Arbeiten und Entscheiden in Rollen ein verstärktes Maß an persönlicher Reflexion. Einerseits betrifft das speziell die Führungskräfte, die sich an die viel umfangreichere Abgabe von Verantwortung gewöhnen und sich dabei immer wieder selbst hinterfragen müssen. Andererseits ist die Befähigung zur Selbstreflexion in agilen Unternehmen, aber auch auf der Ebene der Mitarbeiterinnen, unerlässlich. Gerade in leidenschaftlich geführten Diskussionen im Arbeitsumfeld ist mitunter schwer auszumachen, ob die Teilnehmerinnen aus einer persönlichen (und oft sehr emotionalen) Per­ spektive oder aus dem Blickwinkel der Rolle, die sie im Unternehmen erfüllen, argumentieren. In Unternehmen, in denen ein ausgeprägtes Rollenverständnis gelebt wird, können sich Mitarbeiterinnen in solchen Situationen gegenseitig hinterfragen, aus welcher Per­ spektive gerade gesprochen wird. Dafür ist auf der individuellen Ebene jedoch eine ­gewisse Reflexionsfähigkeit erforderlich.

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3.2.3 Dimension 3 – Lernfähigkeit Förderung der Reflexion auf organisationaler Ebene | Eines der wichtigsten Themen bei der Agilisierung ist die Fähigkeit einer Organisation, permanent kritisch zu hinterfragen, wie man zusammenarbeitet und ob diese Art der Zusammenarbeit die Ziele des Unternehmens bestmöglich unterstützt. Das betrifft sowohl die Aufbau- als auch die Ablaufstruktur eines Unternehmens. Das zentrale Werkzeug für diese Aufgabe sind regelmäßige Retrospektiven, in denen Mitarbeiterinnen gemeinsam über die Art der Zusammenarbeit reflektieren. Wichtig ist hierbei, dass diese Art der Reflexion von den Personen durchgeführt wird, die auch die Befugnis haben, Änderungen an den zugrunde liegenden Strukturen und Prozessen vorzunehmen – bzw. nach agiler Logik umgekehrt die Personen, die einen Prozess ausführen und diesen im Anschluss reflektieren, die Befugnis haben, Anpassungen von relevanten Strukturen und Abläufen vorzunehmen oder zumindest zu initiieren. Förderung der Reflexion auf sachlicher Ebene | Um nachhaltig die eigene Existenz zu sichern, sollte das primäre Ziel eines jeden Unternehmens die bestmögliche Erfüllung der Kundenbedürfnisse sein. Dies zu erreichen ist einer der zentralen Gründe für Agilisierung. Zu diesem Zweck müssen Unternehmen einerseits die Bedürfnisse richtig wahrnehmen (siehe interne und externe Bedürfnisorientierung) und andererseits kontinuierlich hinterfragen, ob die Qualität der angebotenen Leistung diesen Bedürfnissen entspricht. Während in allen Unternehmen – egal ob mit agilen Ambitionen oder nicht – die Qualitätssteigerung des Outputs einen Mehrwert darstellt, verändert sich bei agilen Unternehmen auch die Art dieses Lernprozesses auf der sachlichen Ebene. In agilen Unternehmen werden alle Mitarbeiterinnen bewusst als „Sensoren zur Außenwelt“ (Robertson 2016, S. 4 ff.) eingesetzt. Sie nehmen Veränderungen wahr und spiegeln daran den Output des Unternehmens. Stellen sie eine Differenz zwischen Anforderung und Output fest, können sie  – wenn es in ihrer Entscheidungsbefugnis liegt  – entweder selbst geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Qualität anzupassen, oder sie tragen ihre Beobachtung in die Organisation, um gemeinsam mit den Verantwortlichen eine Lösung zu finden. Die dafür erforderliche Reflexion auf der sachlichen Ebene manifestiert sich in vielen agilen Unternehmen bspw. durch Reviews, die in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden und in denen Mitarbeiterinnen gemeinsam systematisch die Qualität von Arbeitsständen, Zwischen- oder Endprodukten eruieren. In holakratisch geführten Unternehmen findet dies bspw. regelmäßig in den Tactical Meetings statt, in denen Rollenträgerinnen gemeinsam ihren Aufgaben- und Projektstatus besprechen. Sicherstellung eines intensiven Wissenstransfers im Unternehmen | An die Notwendigkeit der Reflexion auf sachlicher Ebene schließt sich das Erfordernis nach einem intensiven Wissenstransfer innerhalb der Organisation an. Wie oben beschrieben, ist es gerade durch die Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse in agilen Unternehmen möglich, dass eine Mitarbeiterin eine Diskrepanz zwischen Qualität und Produkt wahrnimmt und die Lösung dieses Problems zugleich auch in ihrem Zuständigkeitsbereich liegt. Um Entscheidungen dezentral treffen zu können, müssen die Verantwortlichen Zugang zu al-

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len dafür benötigten Informationen haben (siehe transparente Bereitstellung von Informationen). Auch für den Fall, dass eine Mitarbeiterin eine Qualitätsdiskrepanz wahrnimmt, jedoch nicht selbst für dieses Thema zuständig ist, ist ein organisationales Lernen erforderlich. Dies bedeutet, dass Wissen, Erfahrungen und Erkenntnisse innerhalb des Unternehmens weitergetragen werden und die zuständigen Personen erreichen müssen. Digitale Werkzeuge wie Wissensdatenbanken können hierbei hilfreich sein, ersetzen aber keinesfalls die direkte zwischenmenschliche Kommunikation. Formale Wissensaustauschformate wie Teamsitzungen, Themenabende oder Lessons-Learned-Sitzungen helfen, eine Kommunikationskultur zu etablieren, in welcher der Wissenstransfer neben den formalisierten Kanälen auch über den informellen Austausch über den kurzen Dienstweg (und über Abteilungsgrenzen hinweg) funktioniert. Einführen und Trainieren von Feedbackregeln | Persönliches und organisationales Lernen benötigt grundsätzlich die Reflexion von Verhaltensweisen sowie der Art und Weise, in der eine oder mehrere Aufgaben ausgeführt wurden. Eine entsprechende Selbstreflexion läuft idealerweise permanent bei allen Mitgliedern einer Organisation ab (siehe Förderung der Reflexion auf der persönlichen Ebene). Der Denkprozess kann aber auch durch Kolleginnen oder andere Stakeholderinnen (z.  B.  Kundinnen) unterstützt werden. Diese Art des Lernens durch Feedback können Unternehmen durch das Einführen und Trainieren von Feedbackregeln fördern. Diese stärken die Fähigkeiten von Mitarbeiterinnen, konstruktive Kritik zu üben und entgegenzunehmen, aber auch Lob und Wertschätzung auszudrücken. Begreifen von Fehlern als Lernchancen | Lernen, insbesondere im agilen Kontext, funktioniert maßgeblich über das Prinzip von Trial and Error. Diese Annahme findet sich auch im von Frederic Laloux (2015, S. 55) genutzten Begriff der „evolutionären Organisation“ wieder, die sich dank eines kontinuierlichen Reflexions- und Lernprozesses permanent weiterentwickelt und sich immer wieder an variable Umweltbedingungen und -anforderungen anpasst. Hierfür müssen Fehler als Lernchance begriffen werden. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass Fehler folgenlos bleiben. Vielmehr muss sich an einen begangenen Fehler ein Reflexionsprozess anschließen, in dem Ursachenforschung betrieben und möglichst konkrete Wege definiert werden, die helfen, denselben Fehler in Zukunft zu vermeiden. Gleichzeitig bleiben auch in sehr agilen Unternehmen Sanktionsmöglichkeiten für Fehler bestehen, die lediglich auf grobe Fahrlässigkeit zurückzuführen sind. Diese grob fahrlässigen Fehler sind jedoch die Ausnahme. Insgesamt wird die formelle oder informelle Sanktionierung von Fehlern in agilen Unternehmen soweit wie möglich durch den konstruktiven Umgang mit dem Misserfolg ersetzt. Diese Art der Fehlertoleranz macht es weniger wahrscheinlich, dass Mitarbeiterinnen Fehler aus Angst vor Sanktionen verschweigen (was eine grobe Fahrlässigkeit darstellt) und damit unter Umständen noch größeren Schaden anrichten. Darüber hinaus ist diese Art der Fehlerkultur auch die Grundlage für die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens. Nur wenn Misserfolge als Lernchance gesehen und nicht sanktioniert werden, haben Mitarbeiterinnen den Mut, etwas Neues auszuprobieren (Tab. 1).

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Tab. 1  Übersicht über Dimensionen, Gestaltungsmerkmale und Werkzeuge zur Agilisierung Dimension Entscheidungsroutinen

Achtsamkeit

Hebel Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen

Mögliche Werkzeuge • Delegation Poker • Bildung von Kreisen zur Bearbeitung von neuen Themen • Redesign des Organigramms (z. B. flachere Hierarchien, Kreisorganigramm, auf dem Kopf stehendes Organigramm) Stärkung des Denkens in Rollen • Standardisierte Vorlagen zur Rollenbeschreibung • Workshops zur gemeinsamen Rollenbeschreibung Erlernen von • Einzelentscheid Entscheidungsmethoden • Mehrheitsentscheid • Konsens • Konsent • Systemisches Konsensieren Setzen von gemeinsamen Zielen, • Workshops zur gemeinsamen Werten und Prinzipien Erarbeitung und Reflexion von Leitlinien Aufsetzen von hierarchiearmen • Kollegiale Beratungsgremien Eskalationsmechanismen • Moderatoren- und Mediatorenweiterbildungen Transparente Bereitstellung von • Intranet/Wissensdatenbanken Informationen • Offene Ordnerstrukturen Trainieren einer internen und • Visualisierung von internen und externen Bedürfnisorientierung externen Kundenbeziehungen • Systematische Kommunikation über Kundenbedürfnisse (z. B. über Kundenbeiräte) • Gewaltfreie Kommunikation Etablieren von Vertrauen und • Formulierung von Leitbildern Wertschätzung als zentrale Werte und Werten im Team • Vorleben durch die Führungskräfte Förderung des gegenseitigen • Liebe-Wahrheit-Diagramm Verständnisses durch • Maßnahmen zur Teamentwicklung Teamentwicklung Thematisieren impliziter Welt- und • Drei-Ebenen-Modell von Menschenbilder Edgar Schein Förderung der Reflexion auf der • Johari-Fenster persönlichen Ebene • Abgleich von Fremd- und Selbstbild (Fortsetzung)

Agilisierung von Organisationen als Baustein einer erfolgreichen integrierten …

323

Tab. 1 (Fortsetzung) Dimension Lernfähigkeit

Hebel Förderung der Reflexion auf organisationaler Ebene Förderung der Reflexion auf sachlicher Ebene Sicherstellung eines intensiven Wissenstransfers im Unternehmen

Einführen und Trainieren von Feedbackregeln Begreifen von Fehlern als Lernchancen

Mögliche Werkzeuge • Regelmäßige Retrospektiven • Erfahrungsaustausch mit anderen agilen Unternehmen • Regelmäßige Reviewformate • Persönliche Gruppenformate zum Wissens- und Erfahrungsaustausch • Wissensdatenbanken • Trainings • Tägliche Übung im Rahmen von Meetings • Interne und externe Fuckup-­Nights

4

 on der alten in die neue Welt – Vorgehensweise bei der V Umsetzung neuer Organisationsmodelle in Energieversorgungsunternehmen

4.1

Das Vorgehen im Überblick – ein generischer Ablauf

Organisationsmodelle sind oft historisch gewachsen. In ihrer spezifischen Ausgestaltung bilden sie einen wichtigen Teil des organisatorischen Gedächtnisses, in dem traditionelle Abläufe und Verhaltensweisen zementiert sind. Soll ein Unternehmen agilisiert werden, steht das Organisationsmodell somit im Zentrum des Interesses. Dies führt auch dazu, dass jedwede Art von Reorganisation – unabhängig davon, ob ihr primäres Ziel eine agilere Organisationsform ist oder nicht – Unternehmensmitglieder veranlasst, Abläufe und Gewohnheiten neu zu denken, und damit zur Agilisierung der Organisation beiträgt. Bei allen Arten von Organisationsprojekten stellt sich den Verantwortlichen in den betroffenen Unternehmen die Frage, in welche Richtung sich die Organisation entwickeln sollte, an welchen Stellschrauben dafür gedreht werden muss bzw. kann und was dies letztendlich tatsächlich bewirkt. Um diese Fragen zu beantworten, hat sich ein schrittweises Vorgehen bewährt, das in der folgenden Abbildung dargestellt und anschließend beschrieben ist (Abb. 3). Für jede praktische Steigerung der Innovationsfähigkeit einer Organisation bedarf es zunächst einer Formulierung des gewünschten Ziel-Zustandes (Schritt 1). Welche Anforderungen stellt der Markt an das Unternehmen? Welche Vision und welche strategischen Ziele werden verfolgt? Was ist der Mangel der heutigen Organisation? Wieso wird diese als wenig nachhaltig aufgestellt empfunden? Für diesen Schritt werden die Methoden der Strategieberatung eingesetzt.

324 1

C. Michulitz et al. 2

3

4

SCHRITT 1

SCHRITT 2

SCHRITT 3

SCHRITT 4

FORMULIERUNG DES ZIELZUSTANDS

ERFASSUNG DES STATUS-QUO

ORGANISATIONSMODELLE

UMSETZUNG

Abb. 3  Überblick über die Vorgehensweise in Reorganisationsprojekten

Anschließend bedarf es der Feststellung des Status quo im Rahmen einer Organisationsanalyse (Schritt 2). Im Rahmen einer Bestandsaufnahme wird anhand des oben vorgestellten Modells zur Agilisierung geklärt, wo die Organisation heute innerhalb der drei Dimensionen Entscheidungsroutinen, Achtsamkeit und Lernfähigkeit steht und welche Handlungsfelder zur Erreichung des gewünschten Zielzustandes bearbeitet werden müssen. Eine Change-Readiness-Analyse3 klärt, welche Bereitschaft für Veränderung existiert. Im nächsten Schritt werden Varianten zukünftiger Organisationsmodelle skizziert (Schritt 3). Es findet ein Abgleich zwischen dem gewünschten Ziel-Zustand und dem heutigen Organisationsmodell statt. Die Varianten werden bewertet. Das favorisierte Modell wird mit einem Zeit- und Meilensteinplan hinterlegt. Diese bestimmen das angestrebte Veränderungstempo. Für die Umsetzung einer agil-innovativen Organisationsform werden passende Sponsoren, Akteure, Change Agents und Multiplikatoren identifiziert, die nicht zugleich die Sponsoren des Projekts (also z. B. die Geschäftsführung) sind und das Projekt maßgeblich planen und treiben (Schritt 4). Dieses Team entwickelt einen Plan und Konzepte für die ersten Maßnahmen und Interventionen. Mit den ersten Erkenntnissen und Ergebnissen aus diesen Maßnahmen und Interventionen wird der Handlungsplan rollierend f­ ortgeschrieben. Eine erste sinnvolle Maßnahme kann die Reorganisation des Organigramms im Sinne einer Verflachung der Hierarchien sein. Dieser Schritt ist zwar sehr invasiv, macht aber den anstehenden Wandel und den Veränderungswillen für alle Mitarbeiterinnen spürbar. Dieser Schritt sollte alsdann von Workshops mit Führungskräften begleitet werden, in denen insbesondere die neue Rolle von Führung in einem agileren Unternehmen und gemeinsame Ziele und Werte des Unternehmens diskutiert werden können. Schrittweise kann der Kreis der Beteiligten über unterschiedliche Inter-

 Change-Readiness-Analysen untersuchen die Bereitschaft und Fähigkeit von Organisationseinheiten und Organisationen insgesamt, organisationale Veränderungen erfolgreich zu durchlaufen. Betrachtet werden hierbei alle für den Wandel notwendige Ressourcen, wie z. B. die Einstellung von Mitarbeiterinnen oder zeitliche Kapazitäten.

3

Agilisierung von Organisationen als Baustein einer erfolgreichen integrierten …

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ventionen dann auf eine möglichst große Zahl an Mitarbeiterinnen erweitert werden. Mögliche Formate sind – je nach priorisierten Handlungsfeldern – Tab. 1 zu entnehmen. Begleitend kommen in Schritt 4 Methoden des Projekt- und Change-Managements zur Anwendung. Die Gründe und strategischen Ziele, die eine Organisation veranlassen, eine Agilisierung in Betracht zu ziehen, können mannigfaltig sein. Je nach Ausgangslage in den Unternehmen kann der Strategieprozess aus Schritt 1 somit sehr unterschiedliche Formen annehmen und soll hier nicht weiter beschrieben werden. Die Umsetzung in Schritt 4 orientiert sich stark an dem im vorherigen Kapitel vorgestellten Modell. Konkrete Werkzeuge und Maßnahmen wurden bereits in Tab. 1 zusammengetragen. Im Folgenden sollen deshalb schwerpunktmäßig die in Schritt 2 und 3 handlungsleitenden Beratungsansätze kurz skizziert werden.

4.2

Eine Organisationsanalyse als Bestandsaufnahme

Als Ausgangspunkt zur Klärung der notwendigen Veränderungsbedarfe ist ein konsistentes Bild vom Ist-Zustand notwendig. Hierzu sind – neben einer technisch-kaufmännischen Bewertung – in der Beratung von Energieversorgungsunternehmen insbesondere mit folgenden Ansätzen gute Erfahrungen gesammelt worden. • Eine umfassende Systemdiagnose führt ausgehend vom Output der Organisation über das organisationale Verhalten zu den Gestaltungselementen der Organisation. • Mit einer Aufgaben- und Funktionsanalyse lässt sich klären, wo in der Bestandsorganisation Ineffizienzen bestehen. Beide Methoden geben einen ersten Zugang zum Organisationsaufbau und den Handlungsfeldern für Veränderung. Im Anschluss an die Status-quo-Analyse können zur Organisation passende Zukunftsbilder entwickelt werden. Im Rahmen einer Systemdiagnose werden ausgehend vom Output (Produkte, Ergebnisse, Leistungen) der Organisation analysiert, welches Verhalten und welche Organisationsmerkmale die Ursache für den Status quo bilden. Hierzu werden wertungsfrei positive und negative Systemoutputs identifiziert. Schritt für Schritt wird das den Output generierende Verhalten beschrieben (Henning und Meinecke 2017, S. 243 ff.). Um die Ursachen für das Verhalten (organisationale Rahmenbedingungen) deutlich zu machen, werden für die Dimensionen Entscheidungsroutinen, Achtsamkeit und Lernfähigkeit die in Abschn.  3.2 beschriebenen Einzelaspekte systematisch betrachtet. Die Systemdiagnose zeigt im Abgleich mit den Zielen und Strategien der Organisation, ob und wo Inkonsistenzen in der Organisationsgestaltung bestehen. Es wird deutlich gemacht, welche

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C. Michulitz et al.

Handlungsfelder bearbeitet werden müssen. Außerdem wird die Change Readiness geklärt. Diese bildet den Indikator dafür, wie radikal das Zukunftsbild für die Organisation sein kann.4

4.3

Organisationsmodelle – Alte Muster durchbrechen

Eine erfolgreich integrierte nachhaltige Gestaltung von Energieversorgungsunternehmen lässt sich auf vielen Wegen erreichen. Ansätze können einerseits rein organisationsintern sein, d. h. die Neugestaltung von Organisationsmerkmalen. Andererseits betont z. B. das Konzept der offenen Innovation auch die Bedeutung des Austauschs mit der Umwelt für die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens. Dementsprechend unterscheiden sich ­organisationsinterne Ansätze von solchen, die mit externen Partnern durchgeführt werden. Gleichzeitig können diese Reorganisationsansätze entweder die gesamte Organisation oder punktuell nur einzelne Organisationseinheiten im Fokus haben. Die Matrix in Abb. 4 gibt einen Überblick über die sich daraus ableitenden Lösungsansätze, die im Folgenden genauer erläutert werden sollen.

Organisationsintern

Gemeinsam mit externen Partnern

Gesamtunternehmerische Ansätze

Punktuelle Ansätze

Lösungsansatz 1

Lösungsansatz 2

Optimierung im Bestand

Ambidextrie

Lösungsansatz 3

Lösungsansatz 4

Kooperation

Outsourcing

Abb. 4  Übersicht über Lösungsansätze für neue Organisationsmodelle

4  Die Beschreibung des Status quo mithilfe einer Aufgaben- und Funktionsanalyse bietet einen stärkeren empirischen Zugang zu den Optimierungspotenzialen eines Energieversorgungsunternehmens. Basierend auf einer Selbstauskunft aller Mitarbeiterinnen des Unternehmens können mithilfe der BET-Webapplikation AKKUplus® alle Prozesse und Aktivitäten eines Energieversorgungsunternehmens zeitanteilig erhoben werden. Die kritisch-analytische bzw. vergleichende Auswertung der Erhebungsdaten liefert Hinweise auf Handlungsfelder zur Optimierung der Innovationsfähigkeit des Unternehmens. Im Rahmen der Auswertung wird die Aufstellung der Organisation im Abgleich mit den Zielen und der Strategie des Unternehmens überprüft. Es wird deutlich, ob und wo Inkonsistenzen in der Organisationsgestaltung bestehen.

Agilisierung von Organisationen als Baustein einer erfolgreichen integrierten …

327

Lösungsansatz 1: Optimierung im Bestand Eine Vielzahl von Energieversorgungsunternehmen investiert derzeit in Projekte zur Optimierung von Prozessen, Strukturen und Kultur im Bestand. Die Titel für diese Projekte sind vielfältig: Von der „Prozessoptimierung“ über die „Digitalisierungsoffensive“ bis hin zum Kulturwandelprojekt „Unser Stadtwerk 2020“ gibt es zahlreiche Ansätze. Allen gemeinsam ist der Gedanke, mit den vorhandenen Menschen und Ressourcen einen Weg in die neue Welt zu finden. Die Projekte sind oft umfassend und das gesamte Unternehmen betreffend. Lösungsansatz 2: Ambidextrie Ambidextrie bedeutet Zweihändigkeit. Während die Unternehmen von Typ 1 versuchen, die gesamte Organisation innovationsfähiger zu gestalten, verfolgt Lösungsansatz 2 den Grundgedanken, das alte Geschäft nach der alten Logik zu erhalten und parallel dazu neue Geschäftsmodelle oder Teams mit einer neuen, z. B. agilen, Arbeitsweise aufzubauen. Die Idee der Beidhändigkeit eröffnet Spielraum für inner­ betrieblichen Wettbewerb um nachhaltig erfolgreiches Handeln. Es gibt Zeit, um organisationale Lernerfahrungen mit unterschiedlichen Herangehensweisen zu ­ sammeln. Lösungsansatz 3: Kooperationen Steigender Wettbewerbsdruck und sinkende Verfügbarkeit von Fachkräften sind die größten Treiber für das Wiederaufleben von Projekten zur Kooperation von Energieversorgungsunternehmen. Ob als loses Netzwerk, als dauerhafter gemeinsamer Verbund für ganze Aufgabencluster oder als fusionierte Partner: Viele Unternehmen prüfen derzeit (zum wiederholten Male), ob sie ihre Innovationsfähigkeit nicht durch neue Verbindlichkeit in Netzwerken erhöhen können. Lösungsansatz 4: Outsourcing Mangelnde personelle Ressourcen und permanent neue Systemanforderungen führen zunehmend dazu, dass Energieversorgungsunternehmen sich vor die Frage stellen, ob sie die notwendige Innovationsfähigkeit für einzelne Prozesse (Aufgabenbereiche oder Geschäftsfelder) dauerhaft selber vorhalten können oder müssen. Die Reduktion der Wertschöpfungstiefe, z. B. in der Abrechnung, wird aktuell ebenso diskutiert wie die Erhöhung derselben, z. B. im Tiefbau. Der Maßstab für die Innovationsfähigkeit der Organisation ist hier: Was können und müssen wir selber machen, um nachhaltig die notwendige Flexibilität am Markt halten zu können? Diese vier Lösungsansätze bilden das Grundraster für die Entwicklung von denkbaren Zukunftsbildern der Organisation. Zwischen dem gewünschten Ziel-Zustand und dem bestehenden Organisationsmodell werden die Varianten bewertet. Dabei spielt die ­ ­Abschätzung der für die Realisierung bestehenden Herausforderungen und Hürden eine zen­trale Rolle.

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5

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 llein der Kopf will nicht mit: Herausforderungen und A Hürden bei der Etablierung neuer Organisationsmodelle

Auf strategischer Ebene fällt die Entwicklung von tragfähigen Zukunftskonzepten häufig leicht. Kaum ein Unternehmen würde heute von sich behaupten, dass es nicht auch gerne innovativ, agil und mit Merkmalen der New Work ausgestattet wäre. Mit einem Blick auf die operative Ebene wird allerdings deutlich: Die Herausforderungen und Hürden in der Realisierung neuer Organisationsmodelle sind vielfältig. Es lassen sich vier große Cluster identifizieren: Menschen, Führung, Struktur und Infrastruktur. Abb.  5 zeigt, dass sich diese Cluster durch alle drei Dimensionen des in Abschn. 3 vorgestellten Modells zur organisationalen Agilisierung von Unternehmen ziehen. Herausforderung Mensch Die Redensart „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ beschreibt die Grundphilosophie traditionell- bürokratisch-hierarchischer Organisationen. Die in der Hierarchie obenstehenden Verantwortlichen geben den Takt für das an, was gesagt und getan wird. Nun sind Energieversorgungsunternehmen in der Regel Unternehmen mit einer langen Tradition und einer etablierten Struktur. Viele Mitarbeiterinnen haben eine  Betriebszugehörigkeit über ihre gesamte Erwerbsbiografie hinweg. Sie werden überwiegend durch ein tarifliches Entgelt und damit verbundene Sicherheiten von Arbeitsplätzen und -zeiten ge­ bunden. In Energieversorgungsunternehmen besteht, so zeigen branchenübergreifende Benchmarks aus Mitarbeiterbefragungen, eine überdurchschnittliche Verbundenheit mit dem Unternehmen und eine unterdurchschnittliche Bereitschaft zur Veränderung der individuellen Arbeitsbedingungen. Die Konfrontation mit organisatorischem Wandel ist in

Dimensionen des Modells zur organisationalen Agilisierung

Querschnittsdimensionen für zentrale Herausforderungen

Entscheidungsroutinen

Achtsamkeit

Lernfähigkeit

Mensch Führung Struktur Infrastruktur

Abb. 5  Querschnittsdimensionen für Herausforderungen bei der organisationalen Agilisierung

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329

diesem Umfeld eine Herausforderung. Diese muss sorgfältig kommunikativ geplant und umsichtig begleitet werden. Eine Hürde der Organisationsentwicklung besteht darin, dass die Erwartungen an das realisierbare Veränderungstempo zu hoch sind. Denn auch wenn Mitarbeiterinnen offensichtlich schnell das neue Lied der Veränderung hin zu agilen Strukturen singen – die Beseitigung der sichtbaren und unsichtbaren Widerstände in den Köpfen braucht Zeit. Herausforderung Führung In der alten Welt war allen klar: Die Führungskraft gibt Weisungen, denen die Belegschaft Folge zu leisten hat. Im Modell der agilen Organisation ändert sich der normative Bezug: Die Führungskräfte geben Aufgaben ab und werden im Laufe der Agilisierung zunächst zu Dienstleistern und Beratern für die Mitarbeiterinnen. Ihre Aufgabe ist die Erfüllung von Anforderungen und Wünschen und die Weiterentwicklung von Prozessen und Routinen. Je nach Grad der gewünschten Agilität kann die klassische Führungsrolle sogar ganz verschwinden. Wichtig ist jedoch zu Beginn der Agilisierung: Die Legitimität, sich von der alten Welt zu verabschieden, kann nur von der Geschäftsführung kommen. Zieht die Geschäftsleitung nicht mit, werden auch alle anderen Beteiligten schnell in alte Muster zurückfallen. Selbst in Unternehmen, in denen die Chefs Agilität explizit unterstützen, ist oft zu beobachten, dass v. a. zu Beginn Mitarbeiterinnen immer wieder hinterfragen, ob das denn in der Konsequenz von der Geschäftsleitung gewünscht sei. Hier ist der regelmäßige Dialog zwischen allen Hierarchieebenen von zentraler Bedeutung. Nicht nur mit der Neuverteilung von Entscheidungsbefugnissen, sondern auch mit der Auslagerung von Aufgaben aus der Organisation hin zu Dienstleistern ändert sich das Führungsverhältnis. Zuvor musste eine Führungskraft zur Erfüllung der Aufgabe eine Mitarbeiterin beauftragen. Dieses Führungskraft-Mitarbeiterin-Verhältnis ändert sich durch die Verlagerung  von Verantwortung nun in ein Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnis, wodurch das Unternehmen u. U. Kontakt zu anderen Organisationen und damit ggf. anderen Arbeitsweisen bekommt, von denen es unter Umständen lernen kann. Gewohnte Abläufe werden infrage gestellt. Ehemalige Wissensträger verlieren Macht und Einfluss. Die Herausforderung besteht für die Führungskräfte darin, sich in einer flexiblen Konflikt- und Feedbackkultur zurechtzufinden. Zu den Hürden der Umsetzung gehören Mitarbeiterinnen, die aus ihren alten Rollen nicht heraus können (sie wissen nicht wie) oder wollen (sie haben keine Anreize oder Angst vor dem Verlust ihrer Komfortzone). In Unternehmen, die sich auf einen besonders ambitionierten Weg zur agilen Organisation machen, fällt es solchen Mitarbeiterinnen immer schwerer, sich im neuen System zurechtzufinden. So wie jedes Unternehmen seine Mitarbeiterinnen idealerweise nach strategisch definierten ­Kompetenzprofilen aussucht, tun dies auch agile Organisationen. Praxisbeispiele zeigen, dass sich Unternehmen im Rahmen der Agilisierung auch bewusst von Mitarbeiterinnen trennen, wenn diese die neue Organisations- und Arbeitsweise nicht mehr mittragen können oder wollen. Viele kommunale Energieversorger sind jedoch von einer familiären Unternehmenskultur geprägt, in der soziale Absicherung und Loyalität hohe Werte sind. Eine

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turbo-kapitalistisch anmutende Hire-and-Fire-Politik kommt somit in diesen Unternehmen nicht infrage. Die Folge sind etwas langwierigere Kulturwandelprozesse, die jedoch auch Raum für die Integration aller Beteiligten lassen und die moralische Integrität des Versorgers aufrechterhalten. Herausforderung Struktur „Allein der Kopf will nicht mit“ kann heißen, dass die Menschen veritable Schwierigkeiten in der Entwicklung von Innovationsfähigkeit haben. Es kann aber auch heißen, dass mit der Einführung neuer Organisationsmodelle Positionen im Unternehmen wegfallen (z. B. im Rahmen einer Fusion oder bei der Auslagerung von Aufgabenclustern). Dies ist kurzfristig eine Hürde für die Entscheider. Mittelfristig entfallen hierdurch aber auch Anreize für jüngere, engagierte Nachwuchskräfte, die einem tradierten Karrieremodell anhängen. Einerseits schätzen die Digital Natives den Wegfall von Stempeluhren und Resort-­Denken ebenso wie die Einführung von Home-Office-Modellen. Andererseits bedeutet das Arbeiten in Projekten und inner- bzw. überbetrieblichen Netzwerken aber auch, dass im neuen Selbstverständnis eher quer zur Linie die Arbeit getan wird. Innovationsfähige Organisationsmodelle stehen vor der Herausforderung, langfristig passende Anreize bieten zu können. Auch die Tarifbindung bei vielen Energieversorgern führt im Rahmen der Agilisierung zu Herausforderungen. Tarifverträge schreiben vor, für welche Tätigkeiten und welchen Grad an Personalverantwortung welche Entgelte zu zahlen sind, und staffeln diese Entgeltgruppen hierarchisch. Was einerseits Sicherheit für die Mitarbeiterinnen bietet, setzt andererseits Grenzen beim Denken in Rollen. In sehr agilen Organisationen mit ausgeprägtem Rollenbewusstsein ist das (Ab-)Schaffen oder Tauschen von Rollen (d. h. Aufgaben und Zuständigkeiten) kein ungewöhnlicher Vorgang. In tarifgebundenen Unternehmen kann dies jedoch die tarifliche Neueinstufung der betroffenen Mitarbeiterinnen zur Folge haben, was i. d. R. einen langwierigen Prozess zur Inklusion der Personalabteilung und des Betriebsrats nach sich zieht. Herausforderung Infrastruktur Die Koexistenz von analogen und digitalen Prozessen fordern Mensch, Organisation und Technik gleichermaßen. Entscheidungsträger aller Funktionsbereiche brauchen heute eine umfassende digitale Kompetenz. Der Arbeitsalltag eines jeden ist von technischen Problemen in der Anwendung und Bedienung neuer Programme, Applikationen und Prozessunterstützungen geprägt. Egal für welches Organisationsmodell sich die Unternehmen entscheiden: Jede Lösungsvariante erzeugt die Hürde, die IT-Strukturen entsprechend anpassen zu müssen. Kostenstellen und IT-Systeme, die in Zeiten hierarchischer ­Organisationsmodelle entwickelt und eingeführt worden sind, spiegeln diese Hierarchien i. d. R. wider und reproduzieren sie, indem sie hierarchieorientierte Prozesse erfordern. Im Rahmen der Agilisierung kommen Unternehmen also auch an den Punkt, an dem es nicht mehr reicht, mit den Menschen zu arbeiten, sondern infrastrukturelle Anpassungen notwendig werden. Dies gilt auch für Gebäude- und Büroinfrastrukturen, die ebenfalls ein Spiegelbild althergebrachter Hierarchien sein können und einen Ansatzpunkt für die Agilisierung bieten.

Agilisierung von Organisationen als Baustein einer erfolgreichen integrierten …

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331

 azit – Handlungsempfehlungen für Energieversorger und F andere Unternehmen mit Agilisierungsambitionen

Auch wenn die Herausforderungen und Hürden bei der Agilisierung einer Organisation vielfältig sind, überwiegen in vielen Fällen doch die Chancen. Dies gilt insbesondere, wenn sich die Verantwortlichen gewahr werden, dass Agilität keine binäre Eigenschaft, sondern ein Kontinuum ist, auf dem auch kleinere Schritte bereits eine Verbesserung der Arbeitsatmosphäre, Arbeitgeberattraktivität und Effizienz mit sich bringen können. Folgende zentrale Vorteile kann eine Agilisierung bieten: • Mit der Agilisierung der Organisation wird die Voraussetzung für Schnelligkeit und Innovationsfähigkeit geschaffen. Es wird die Grundlage für eine steigende Organisationsperformance gelegt. • Die Digitalisierung aller Arbeitsprozesse führt zu neuen Anforderungen an die Menschen. Mit der Agilisierung der Organisation wird Veränderungsbereitschaft erprobt und in das kulturelle Mindset eines Unternehmens gepflanzt. • Die nachwachsenden Fach- und Führungskräfte haben einen neuen Anspruch an Freiheit und Selbstbestimmung. Ein Organisationsmodell, das Eigeninitiative, Entfaltungsmöglichkeiten und Selbstführung fördert, ist für zukünftige Leistungsträger attraktiv (wenn nicht sogar selbstverständlich). • Heterogene und sich wandelnde Umweltanforderungen führen zu heterogenen innerbetrieblichen Anforderungen. Eine agile Organisation schafft die kulturellen Voraussetzungen für Interdisziplinarität und kreative Lösungen. Eine sorgfältige Abwägung von Chancen und Risiken der Agilisierung ist die Basis für einen erfolgreichen Wandel. Mit folgenden Empfehlungen soll dieser angeregt werden: • Investieren Sie in eine realistische Selbsteinschätzung: Wo stehen Sie mit Ihrem Unternehmen? Und welchen Grad an Schnelligkeit und Innovationsfähigkeit können Sie erreichen? • Denken Sie nach vorne: Entwickeln Sie eine Strategie mit einer ansprechenden Vision und leiten Sie daraus schrittweise ein plakatives Zukunftsbild ab. • Die Paradoxie der Agilisierung: Wenn Sie sich ein Stück weit vom alten Organisationsmodell verabschieden und agilere Strukturen und Entscheidungsroutinen einführen wollen, muss die Geschäftsführung mit gutem Beispiel vorangehen.  Agilisierung kann nicht funktionieren, wenn die Geschäftsleitung nicht an Bord ist. • One does not fit all. Es bedarf einer sorgfältigen Prüfung, welche Art der Veränderung ein Unternehmen braucht bzw. verarbeiten kann. Das Modell einer extrem agilen Organisation ist ein Denkmodell, welches in der vollständigen Realisierung nur wenige Vorbilder findet. Letztlich gilt es, für jede Organisation ein individuelles Betriebssystem mit einem passenden Grad an Agilität zu finden.

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• Finden Sie für Ihr Unternehmen einen passenden Lösungsansatz. Üben Sie zum Beispiel als Einstieg in Projekten neue Arbeitsweisen oder beginnen Sie für den Netzbetrieb mit einem zentralen Kanban-Board, wo sich die Monteure die Aufgaben für den nächsten Tag selber ziehen. Erfahrungen und Prinzipien aus agilen Arbeitsweisen können anschließend auf das Organisationsmodell übertragen werden. • Geben Sie hinreichende Möglichkeiten, agile Methoden zu trainieren, Erfahrungen zu sammeln und für die Organisation zu reflektieren. Agile Unternehmen berichten häufig von dem großen Mehrwert, den es mit sich bringt, wenn Organisationen beginnen, nicht nur über Inhalte (Was) zu diskutieren, sondern auch über die Art und Weise der Zusammenarbeit (Wie). Diesen Mehrwert können sich auch Unternehmen erschließen, die gerade erste Erfahrungen mit Agilität sammeln. • Eine lernende Organisation braucht Zeit, neue Impulse zu verarbeiten und zu integrieren. Nehmen Sie sich Zeit und feiern Sie Fortschritte. Machen Sie immer wieder deutlich, dass die Reflexion von Fehlern notwendig ist, um daraus zu lernen. Mit einer passgenauen, schrittweisen und planvollen Agilisierung der Organisation schaffen Unternehmen in der Energieversorgung ebenso wie in anderen Branchen ein Fundament für nachhaltigen Erfolg.

Literatur Beck K et al (2001) Manifest für Agile Softwareentwicklung. http://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html. Zugegriffen am 29.08.2019 Grundei J, Kraehler B (2018) Wie erreichen Unternehmen mehr Agilität? Ein kritischer Blick auf „neue“ Formen der Organisation. Z Führ + Organ 87(6):427–434 Henning, K./Meinecke, M. (2017) Das OSTO-Modell für Organisationsentwicklung und die Kunst der kleinen Lösung. In: Deister, A., Pollmächer, T., Falkai, P., Erk, K. (Hrsg) Krankenhausmanagement in Psychiatrie und Psychotherapie: Strategien, Konzepte und Methoden. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, S. 241–247 Köppel A (2019) Systemisches Konsentieren: Eine echte Alternative zum Mehrheitsprinzip. Organisationsentwicklung 38(2):100–102 Laloux F (2015) Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen, München Lewin K (1947) Frontiers in Group Dynamics: Concept, Method and Reality in Social Science, Social Equilibria and Social Change. Hum Relat 1(1):5–41 Linke B, Gergs H-J, Lakeit A (2018) Agilität braucht Stabilität: Was Unternehmen von Kampfflugzeugen, James Bond und Moses lernen können. Z Führ Organ 87(05):314–319 Luhmann N (1987) Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp, Berlin McGregor D (1957) The human side of enterprise. Manage Rev 46(11):22–28 Robertson B (2016) Holacracy: the revolutionary management system that abolishes hierarchy. Penguin, London Schein EH (1985) Organizational culture and leadership. Jossey-Bass Publishers, San Francisco Schumacher T, Wimmer R (2019) Der Trend zur hierarchiearmen Organisation: Zur Selbstorganisationsdebatte in einem radikal veränderten Umfeld. Organisationsentwicklung 38(2):12–18 Zukunftsinstitut (2018) Die Megatrend-Map. https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrends/. Zugegriffen am 29.08.2019

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Dr. Christiane Michulitz  studierte Germanistik und Biologie an der Universität Bonn und der RWTH Aachen. Von 1999 bis 2008 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Bereichs Personal & Controlling am Zentrum für Lern- und Wissensmanagement und am Lehrstuhl Informatik im Maschinenbau der RWTH Aachen. Von 2004 bis 2008 war sie Geschäftsführerin des Instituts für Unternehmenskybernetik e. V. an der RWTH Aachen und Beraterin bei der OSTO Systemberatung GmbH. 2005 promovierte sie im Fachbereich Erziehungswissenschaften und Soziologie an der Universität Dortmund. 2006 absolvierte sie zudem einen MBA in Entrepreneurship an der FH Aachen. Seit 2008 ist sie Beraterin für Organisationsentwicklung bei der B E T Büro für Energiewirtschaft und Technische Planung GmbH. Von 2011 bis 2017 war Frau Dr. Michulitz Teamleiterin für Organisations- und Personalentwicklung. Seit 2017 ist sie Partnerin für den Bereich Organisation & Prozessmanagement. Ihre Beratungsschwerpunkte sind Prozessmanagement und Reorganisationen, Change-Management, Personalmanagementkonzepte, Moderation und Coaching von Führungskräften. Sebastian Seier  studierte Politik- und Europawissenschaften an den Universitäten Sciences Po Paris und FU Berlin (M.A.). Während des Studiums sammelte Herr Seier berufliche Erfahrung als freier Journalist und im Bereich Executive Search der Unternehmensberatung Kienbaum Berlin GmbH. Anschließend war er als Werkstudent und Berater bei der Berliner Unternehmensberatung enviacon international tätig. Seit Anfang 2017 ist Sebastian Seier Berater im Partnerbereich Organisation & Prozessmanagement bei der B E T Büro für Energiewirtschaft und technische Planung GmbH in Aachen. Seine Beratungsschwerpunkte sind Strategieentwicklung, Innovationsmanagement und Organisationsentwicklung.

Simon Haas  studierte Betriebswirtschaftslehre und Business Administration mit dem Schwerpunkt Finanzen an der Universität zu Köln und der EMLYON Business School in Lyon (M.Sc.). In Zweithörerschaft absolvierte er parallel ein Studium der Umweltingenieurswissenschaften an der RWTH Aachen. Während seines Studiums sammelte er berufliche Erfahrung im Bereich wasserwirtschaftliche Grundlagen beim Wasserverband Eifel-Rur. Zudem arbeitete er als Werkstudent im Bereich Marketing bei der GenRe in Köln, als Praktikant im Bereich Strategie, Entwicklung und Innovation bei der AXA Konzern AG in Köln sowie als Werkstudent bei der Envistra GmbH in Bonn. Seit 2019 ist Herr Haas Berater bei der B E T Büro für Energiewirtschaft und Technische Planung GmbH in Aachen. Seine Beratungsschwerpunkte sind Organisationsentwicklung, Strategie- und Geschäftsmodellentwicklung sowie Unternehmenstransaktionen.

Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG Thomas Winkelmann, Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers

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 inführung: Industriebetriebe als E prädestinierte Nachhaltigkeitsobjekte

Industriebetriebe sind von der Grundtendenz her ambivalente Institutionen, was die Realisierung von Wohlfahrtseffekten und zugleich die umweltaverse Ressourcenbeanspruchung angeht: „Manufacturing ist the main driver for welfare and prosperity of people. However, manufacturing also strongly contributes directly and indirectly to the depletion of natural resources, enviromental burdens – affecting the health of animals, humans and eco-systems – as well as to social conflicts“ (Stark et al. 2017, Vorwort). Dieses Zitat lässt schon erkennen, dass Industriebetriebe aufgrund ihrer besonders nachhaltigkeitsaffinen Funktionsbereiche wie Beschaffung, Produktion und Logistik auf der einen Seite nahezu prädestinierte Objekte für nachhaltiges Denken und Handeln sind. Dies steht allerdings auf der anderen Seite mit einem inhärenten latenten Konfliktpotenzial insbesondere zwischen „Value Creation and Sustainable Development“ in Verbindung (Stark und Lindow 2017, S.  21), deren Verträglichmachung die eigentliche Herausforderung ist. Die Ursprungsintention der Nachhaltigkeit, die Ressourcenschonung, hat mittlerweile in Indus­ triebetrieben besonderes Gewicht, bzw. sollte es bekommen. Je nach Industriebranche und Größe der Betriebe sehen diese sich unterschiedlichen Nachhaltigkeitsanforderungen gegenüber. Große deutsche Industriebetriebe lassen z. B. oft weltweit produzieren, bzw. kaufen zu großen Teilen international ein, auch mit den damit verbundenen internationalen Nachhaltigkeitsanforderungen.

T. Winkelmann (*) · K. Butzer-Strothmann · F. Ahlers Leibniz-Fachhochschule, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_18

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T. Winkelmann et al.

Nachhaltigkeit ist dabei, nicht nur wegen der gesellschaftlichen Ansprüche, in einem stärkeren Nachhaltigkeitsbewusstsein der industriellen und vor allem individuellen ­Kunden manifestiert, ein Gebot der Stunde für Industriebetriebe. Bezogen auf das für Industrieunternehmen besonders relevante Green Supply Chain Management (GSCM) stellt in diesem Zusammenhang Chandan (2019, S. 285) fest: „GSCM has envolved to become a firm’s competitive strategy to become eco-friendly, socially responsible and to achieve compliance with customer expectations, peer-pressure and government regulations.“ Insofern kann durch nachhaltiges betriebliches Handeln ein ganzes Bündel an Anforderungen erfüllt werden. Es lassen sich damit auch neben den positiven mittelbaren Effekten, wie der Imagesteigerung, auch unmittelbar wertsteigernde Effekte durch Beibehaltung von Qualität erzielen, z.  B.  Kosteneinsparungen durch optimierten Ressourceneinsatz.

2

 rundlagen zu einem integrierten Nachhaltigkeitssystem G in Industriebetrieben

2.1

 inordnung von Nachhaltigkeit in das Zielsystem E von Industriebetrieben

Industriebetriebe in marktwirtschaftlichen Systemen sind generell dem originären betrieblichen Zielsystem mit dem Gewinnziel als Kernpriorität verpflichtet. Daran ändert zunächst auch das Nachhaltigkeitsziel nichts. Vielmehr geht es um die möglichst komplementäre Einordnung von Nachhaltigkeit in das Zielsystem industrieller Betriebe. Bezogen auf die betrieblichen Subziele, wie z. B. hohe Qualität der Erzeugnisse und Ressourcen-­ schonender Umgang mit Rohstoffen, liegt hier eine Reihe von Parallelen vor. Denn diese Subziele haben zugleich Gewinn steigernde bzw. Kosten reduzierende Effekte. Wie noch anhand des Fallbeispiels Continental AG akzentuiert wird, geht es um die Verträglich­ machung des einzelwirtschaftlichen Wertsteigerungsziels mit dem werteorientiert-­ gesellschaftlichen Ziel der Erzielung eines gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts, worunter sich auch Nachhaltigkeit subsumieren lässt. Verkürzt formuliert: Gewinn und Nachhaltigkeit. Oder wie es treffend im Nachhaltigkeitsbericht 2018 von Daimler (2019, S. 5) heißt: „Unser wichtigstes Unternehmensziel ist es, nachhaltig profitabel zu wachsen.“ Von besonderer Bedeutung ist dabei die Kurz- oder Langfristorientierung der relevanten betrieblichen Zielgrößen. Nachhaltigkeit ist per se langfristorientiert, z. B. durch den inhärenten Generationenbezug. Unternehmen befinden sich dabei oft in einer latenten Dilemmasituation: Die shareholderbezogene kurzfristige und kontinuierliche Gewinnerzielung ist oft nur bedingt verträglich mit oft erst sich langfristig wertsteigernd auswirkenden, aber kurzfristig kostenrelevant zu Buche schlagenden Nachhaltigkeitsaktivitäten. Die verstärkte Orientierung am Stakeholder Value, durchaus auch im langfristigen Interesse der kapitalgebenden und Rendite-erwartenden Shareholder, kann hier die notwendige Neuorientierung in Richtung eines langfristigen, nachhaltigen Denkens begünstigen, dass

Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG

337

durchaus auch periodenrelevante Ergebnisse z.  B. bei der Energieeinsparung erbringen kann. So schließt nachhaltiges Denken auch kurzfristig erfassbare Ergebnisse nicht aus, wie auch noch das Fallbeispiel Continental AG zeigt. Nachhaltigkeit sollte dabei nicht nur in das Zielsystem von Industrieunternehmen als Gesamtsystem, sondern auch in die Zielvereinbarungen mit den Verantwortungsträgern der einzelnen Bereiche einfließen: Im Nachhaltigkeitsbericht 2018 von Daimler (2019, S. 7) heißt es dazu richtungsweisend: „Unsere Nachhaltigkeitsziele und deren Management sind Bestandteile unserer Corporate Governance und fließen auch in die Ziele von Führungskräften ein.“ Gerade die systematische Einbeziehung der Nachhaltigkeit in das Zielsystem von Führungskräften ist ein konkreter Ausdruck einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung mit positiver Umsetzungswirkung, weil dann die Verantwortung für nachhaltiges Handeln nicht in Schriftstücken auf der obersten bzw. oberen Führungsebene verbleibt bzw. verharrt, sondern in die einzelnen Funktionsbereiche vordringt.

2.2

 egenstandsbereiche der industriellen Nachhaltigkeit G im Überblick

Grundsätzlich sind die Ansatzpunkte für ein nachhaltiges Wirtschaften in Industriebetrieben in nahezu allen Funktionsbereichen vorzufinden. In partieller Abgrenzung zu Dienstleistungsunternehmen sollen im Folgenden die besonders industrieaffinen Handlungsbereiche Beschaffung, Produktion und Logistik bezogen auf ihr Nachhaltigkeitspostulate kurz näher akzentuiert werden. Der Bereich Beschaffung steht durch den speziell von Handelsunternehmen aus Indus­ triestaaten praktizierten Einkauf bzw. Herstellung in Niedrigkostenländern mit z. T. menschenunwürdigen (Einhaltung von Human Rights) und gesundheitsgefährdenden Produktionsbedingungen besonders im Fokus der kritischen Öffentlichkeit, was mit anderen Vorbedingungen grundsätzlich auch für Industriebetriebe gilt. Die Beschaffung von Rohstoffen hat unter dem Nachhaltigkeitsgesichtspunkt spezielle Anforderungen zu erfüllen, z. B. umweltschonende An- und Abbaubedingungen. Dies führt hin zu nachhaltigen Lieferantenstandards bei der Auswahl und Reflexion von Beschaffungsquellen. „Die Erfüllung bestimmter Nachhaltigkeitsstandards oder die Erreichung bestimmter Zertifizierungen können zur Grundvoraussetzung für die Aufnahmen in die Lieferantenbasis gemacht werden“ (Herbes 2013, S. 116). Eine besondere Herausforderung aufgrund der Ressourcenbeanspruchung ist dabei die Kontrolle der Einhaltung der Lieferantenstandards vor Ort durch angemeldete bzw. unangemeldete Kontrollen. Ohne Kontrollen laufen gutgemeinte Nachhaltigkeitsstandards oft Gefahr, vor Ort nicht der Intention entsprechend umgesetzt zu werden. Bei dem primären Funktionsbereich Produktion in Industriebetrieben gibt es eine Reihe von Ansatzpunkten für nachhaltiges Handeln, z. B. die Verringerung des Bedarfs an natürlichen Rohstoffen sowie Material- und Energieeinsparungen. „Companies are focusing mostly in reduction of natural resources, reuse of material and energy recovery program“ (Bag et al. 2019, S. 127). Um diese Potenziale zu adressieren, ist zunächst hierbei an den

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T. Winkelmann et al.

eigentlichen Gütererstellungsprozess mit der Input-Output-Transformation von Roh­ stoffen bis zum fertigen Produkt zu denken. Dabei ist die Ressourceneffizienz von ­entscheidender Bedeutung, z. B. mit der Konsequenz der Ausschuss- und Abfallvermeidung. Die Überlegungen münden in die Realisierung einer weitgehenden Kreislaufwirtschaft mit der Wieder- bzw. Weiterverwertung von im Produktionsprozess anfallender nicht verwend- und verwertbarer Stoffe bzw. dem Produkt-Recycling generell ein (zur Abfall- und Kreislaufwirtschaft unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten näher Friege und Dornack 2019). Von der Entwicklung hin zur Industrie 4.0 sind in punkto Ressourceneffizienz neben Qualität weitere Akzente zu erwarten: „Die durch ‚Cyber Physical Systems‘ geschaffenen dezentralen, autarken und selbstoptimierenden Produktionsprozesse haben das Potenzial, Geschwindigkeitsgewinne und eine verbesserte Ressourcen- und Energieeffizienz zu ermöglichen“ (Biedermann et al. 2017, S. 14). Aufgrund der Bedeutung der Industrie 4.0 auch für die Nachhaltigkeit wird darauf im späteren Verlauf des Beitrages noch einmal gesondert eingegangen (Abschn. 4). Aufgrund der zunehmenden nationalen und internationalen Wirtschaftsverflechtungen insbesondere bei international agierenden Unternehmen mit dem damit immanenten verstärkten Güteraustausch rückt die Logistik auch unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten immer stärker in den Fokus (dazu näher Pfennig 2019). Hier gilt auch wieder, dass der Weg das Ziel ist. Logistik wird zu einem gewissen Grad immer die Umwelt belasten, weswegen es um die Reduzierung dieser Belastung geht. Diesem Tenor entsprechend formuliert auch Pfennig (2019, S. 590): „Eine absolute Nachhaltigkeit wird es im Bereich der Logistik nicht geben, eine relative Nachhaltigkeit im Sinne von ‚kontinuierlich nachhaltiger werden‘ kann es dann geben, wenn Unternehmen systematisch an der Umsetzung ihrer Nachhaltigkeitsziele arbeiten.“ Ein konkretes Beispiel wäre die Reduzierung des hohen bzw. immer noch zu hohen Anteils an Leerfahrten im logistischen Auslieferungsprozess (dazu Davidian 2019, S. 43). Sehr treffend lassen sich die zukunftsorientierten Anwendungsbereiche der Nachhaltigkeit in Industriebetrieben auch im Kontext mit Industrie 4.0 gesehen durch eine „Circular Economy“ mit vier Themenbereichen abbilden: „Im Rahmen eines Expertenworkshops wurde das Themenfeld ‚Circular Economy‘ als besonders relevant für die Betrachtung der Auswirkungen neuer technologischer Möglichkeiten durch Industrie 4.0 auf die nachhaltige Entwicklung bewertet […] Ausgangspunkt war die Betrachtung der vier relevanten Bereiche aus der Themenlandkarte: 1. Sustainable Products mit der Schaffung eines Kreislaufwirtschafts-Mind-Sets sowie Produkten mit verlängerter Lebensdauer. 2. Sustainable Processes mit dem Fokus auf Reduzierung von Verschwendung vor allem im Bereich der Hilfs- und Betriebsstoffe. 3. Governance mit dem Aufbau von Netzwerkstrukturen zur ökonomischen Nutzung abgestimmter Kreislaufführung. 4. Entwicklung von Unternehmen durch die Steigerung des Zukaufs an lokal verfügbaren Teilen“ (Banthien und Bode 2016, S. 10).

Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG

339

Diese vier Bereiche spiegeln die Handlungsbereiche industrieller Nachhaltigkeit treffend wider, wenn sich auch hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erheben lässt. Die meisten Industrieunternehmen beginnen bei Weitem nicht bei der „Stunde null“ beim Thema Nachhaltigkeit, sondern können hierbei auf schon etablierte Systeme z. B. zum betrieblichen Umweltmanagement zurückgreifen, die schon in vorherigen Dekaden eingeführt wurden. Ein Beispiel dafür ist das „System zur Erfassung und Bewertung von Umweltaspekten (SBU)“ der Volkswagen AG (dazu näher Weihofen und Wellge 2019).

2.3

Vorteilhaftigkeit eines integrierten Nachhaltigkeitssystems

Industriebetriebe stehen für ein in sich verbundenes Aktivitätengeflecht zur Gütererzeugung und deren Absatz auf den relevanten Märkten. Die optimale Verflechtung der industriellen Prozesse ist damit mitentscheidend für eine effiziente Güterproduktion. Entsprechend ist ein integriertes Produktionssystem mit den sinnvoll angepassten vorgelagerten Beschaffungs- und nachgelagerten Absatzaktivtäten von essenzieller Bedeutung für den Betriebserfolg. Auch die Nachhaltigkeit durchzieht – wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht – alle industriellen Prozesse, was auch hier eine integrierte Vorgehensweise auf den Plan ruft. Die Integration kann dabei intrasystemisch eine horizontale und vertikale Komponente annehmen. Horizontal geht es um die effiziente und dabei ressourcenschonende Verzahnung der einzelnen Aktivitäten der industriellen Wertschöpfungskette. Vertikal muss Nachhaltigkeit als Wertepostulat über das normative in das strategische System des Industriebetriebes und von da aus in die operativen Vollzüge einfließen. Die vertikale bildet damit den Rahmen für die horizontale Integration. Intersystemisch betrachtet ist Nachhaltigkeit keine Aufgabe, die auf das Betriebsgelände eines Industrieunternehmens beschränkt ist. Gerade für die Automobilindustrie formuliert in diesem Zusammenhang der Branchenverband treffend: „Die Verantwortung für Menschen und Umwelt endet nicht mehr am Fabriktor, sondern soll über die gesamte Lieferkette verankert werden“ (Verband der Automobilindustrie e. V. und Meßner 2018, S.  1). Dieses schließt z.  B. die mittelbare Mitverantwortung herstellender Industriebetriebe für das nachhaltige (Nicht-)Handeln ihrer Lieferanten ein. Ein immer weiter an Bedeutung gewinnendes, der fabriktorübergreifenden Sichtweise entsprechendes integratives Aufgabenfeld von Industrieunternehmen im Nachhaltigkeitskontext wird unter der Bezeichnung „Urban Production & Logistics“ thematisiert. „Die Vision der urbanen Produktion sieht eine Integration der industriellen Wertschöpfung in das städtische Umfeld vor, mit dem Ziel der Verschmelzung von Wertschöpfungsort, Arbeits- und Absatzmarkt, unter Berücksichtigung der Anforderungen aller beteiligten Anspruchsgruppen“ (Müller-Seitz et al. 2016, S. 29). Nachhaltigkeitszentrierte Themenaspekte sind hier z.  B. eine umweltschonende Lieferverkehrsorganisation und eine weitmögliche Begrenzung von möglichen Lärm- und Geruchsbelästigungen, an denen die

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T. Winkelmann et al.

Stadtbürger ein essenzielles Interesse bei der Nähe zu Industrieanlagen haben. Als betriebsübergreifende Facette einer integrierten Nachhaltigkeit zeigt sich hier die Notwendigkeit einer ausgewogenen Abstimmung der berechtigten Interessenlagen der relevanten Anspruchsgruppen in urbanen Räumen. Auch eine Reihe veröffentlichter Praxisbeispiele, wie z.  B. die Symrise AG mit einer  integrierten Nachhaltigkeitsstrategie (dazu Witter und Micus 2019) oder die Wilkening+Hahne GmbH+Co.KG = Wilkhahn mit einem integrierten Nachhaltigkeitsmanagement (dazu Remmers 2019), betonen und belegen zugleich die Relevanz einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung für Industriebetriebe. Das Verständnis und speziell die Anwendungsfelder von integrierter nachhaltiger Unternehmensführung können dabei je nach hergestellten Produkten und Produktionslinien unternehmensspezifisch mehr oder weniger stark variieren. Wilkhahn hat dazu z. B. folgendes Verständnis in enger Verzahnung mit dem Qualitätsmanagement: „Das integrierte Qualitäts- und Nachhaltigkeitsmanagement umfasst heute neben den Gestaltungsprinzipien und den internationalen Produkt- und Materialstandards auch Fragen der Führungsverantwortung und Mitarbeiterbeteiligung, der Gesundheitsförderung und des Arbeitsschutzes“ (Remmers 2019, S. 168). Diese angeführten Praxisbeispiele zeigen, dass Überlegungen zu einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung nicht einer ausschließlich theoretisch-abstrakt denkenden und dabei einer von einer absoluten Nachhaltigkeitsvision verzückten und zugleich den Realitäten entrückten Wissenschaftler-Community entstammen, sondern auch von Unternehmen in der Praxis aufgenommen und umgesetzt werden. Das folgende Praxisbeispiel der Continental AG zeigt eindrucksvoll die Praxisrelevanz nachhaltiger Überlegungen für Industriebetriebe auf.

3

Fallbeispiel Continental AG

3.1

Grunddaten zur Continental AG

Der Vorläufer der heutigen Continental AG, die Continental-Caoutchouc- und Gutta-­ Perche Compagnie, wurde 1871 in Hannover gegründet. Das Unternehmen blickt insgesamt – mit sicherlich Höhen und Tiefen – auf eine wachstumsorientierte und dabei ins­ gesamt gesehen nachhaltigkeitsorientierte Unternehmensentwicklung zurück. Die Continental AG heutiger Prägung ist ein erfolgreicher internationaler Industriekonzern. Die sich mehr und mehr als ein führendes internationales Technologieunternehmen eta­ blierende Continental AG mit ursprünglichem und auch noch heutigem Schwerpunkt „Fahrzeugzulieferteile“ bietet effiziente und intelligente Produktkomponenten, insbesondere für Fahrzeuge, Maschinen, Verkehr und Transport, an. Das Unternehmen erzielte 2018 mit rund 244.000 Mitarbeitern einen Umsatz von 44,4 Milliarden Euro in 60 Ländern und Märkten (Continental AG 2019a, S. 2). Die erhöhte Bedeutung der Nachhaltigkeit hat die Continental AG im Jahr 2018 durch eine neu geschaffene Abteilung Nachhaltigkeit und eine Vorstandsressortbenennung „Personal und Nachhaltigkeit“ strategisch und organisatorisch nachvollzogen. Damit ist

Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG

341

­Nachhaltigkeit auch nachhaltig in der Unternehmensorganisation verankert und kann sich entsprechendes Gehör bis hin auf die Vorstandsebene verschaffen. Nachhaltigkeit ist damit im Continental-Konzern als wichtiges normatives und strategisches Thema belegbar angekommen und etabliert. Dem Verständnis als innovatives Technologieunternehmen folgend investierte die Continental AG 2018 7 % vom Umsatz in die Forschung und Entwicklung (Continental AG 2019a, S. 8). Gerade dieser hohe F&E-Anteil setzt wichtige Akzente einer technologisch unterlegten nachhaltigen Produkt- und Lösungsentwicklung mit einem substanziellen Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz.

3.2

Zielsystem einer nachhaltigen Unternehmensführung

Die Headline des Nachhaltigkeitsberichtes 2018 der Continental AG, „Gesellschaftlichen Mehrwert schaffen“ (Continental AG 2019a), trifft die Grundzielsetzung des Konzerns treffend: Die Continental steht manifest zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung und den damit verbundenen Ansprüchen an ihr Handeln. Grundlage ist die Überzeugung: „Werte schaffen Wert“ (Reinhart 2019, S. 4). Damit wird Nachhaltigkeit explizit nicht als Antipode, sondern als fester Bestandteil des unternehmerischen, auf die systematische Steigerung des Unternehmenswertes ausgerichteten Zielsystems gesehen. Dies in der Überzeugung, dass die Stakeholder und hier vor allem die Kunden den innovativen Beitrag der Continental AG z. B. zu einer sicheren und sauberen Mobilität entsprechend honorieren. Wert- und Werteorientierung werden damit in einem symbiotischen Zusammenhang gesehen. Entsprechend wird eine gute, verantwortungsvolle und auf nachhaltige Wertschaffung ausgerichtete Unternehmensführung im Interesse aller Anspruchsgruppen angestrebt (Continental AG 2019a, S. 16). Die Nachhaltigkeitsziele „verästeln“ sich von der globalen Orientierung „Pro-­ Nachhaltigkeit“ ausgehend in die einzelnen Divisionen und die darunter angeordneten Funktionsbereiche der Continental AG. Damit nimmt auch der Konkretisierungsgrad zu. Im Folgenden werden anhand des aktuell verfügbaren Nachhaltigkeitsberichtes von 2018 exemplarisch bereichs- und funktionsübergreifende Ansatzpunkte der Nachhaltigkeit bei der Continental AG aufgezeigt.

3.3

 nwendungsbereiche eines Nachhaltigkeitsmanagements A im Überblick

Entsprechend der breitgefächerten Konzernstruktur weisen auch die Anwendungsbereiche eines Nachhaltigmanagements in der Continental AG ein breites Aktivitätsspektrum auf. Einen umfassenden Überblick mit vielen quantitativen Einzeldaten zu unterschiedlichen Nachhaltigkeitsaspekten vermittelt der schon erwähnte, konzernweit veröffentlichte Nach­ haltigkeitsbericht 2018 (Continental AG 2019a). Im Folgenden werden exemplarisch zentrale Akzente der nachhaltigen Geschäftspolitik der Continental AG akzentuiert.

342

T. Winkelmann et al.

Ein zentraler Ansatzpunkt ist ein qualitativ hochwertiges und dabei nachhaltiges Produktportfolio der Continental AG.  Nach eigenen Schätzungen beträgt mittlerweile der Anteil energieeffizienter und Schadstoffemissionen-reduzierender Produkte am Gesamtproduktportfolio fast 40 % (Continental AG 2019a, S. 24), mit deutlich steigender Tendenz. Einen markanten Anteil daran haben entsprechend forcierte Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Konzern. Schwerpunkt dabei sind konzernweit intelligente Lösungen, die sich in innovativen und nachhaltigen Produkten, Systemen und Serviceleistungen manifestieren, die final dem Ziel der symbiotisch verzahnten betrieblichen Wertsteigerung und zugleich gesellschaftlichen (und damit auch nachhaltigen) Mehrwertschaffung dienen. Die Beschaffung von Produktionsmaterialien hat für einen produzierenden Industriekonzern, wie der Continental AG, naturgemäß eine hohe Bedeutung. Im Jahr 2018 wurden 20,3 Mrd. Euro für Produktionsmaterialien aufgewendet (Continental AG 2019a, S. 23). Die Lieferanten, z. B. von Naturkautschuk für die Reifenherstellung, werden im Rahmen eines „Verhaltenskodexes für Geschäftspartner“ zur Einhaltung von Menschenrechten und fairen Arbeitsbedingungen verpflichtet (Continental AG 2019a, S. 35). Die Geschäftsrelevanz umweltschonender Aktivitäten für die Continental AG nimmt kontinuierlich zu. So hat sich der Konzern zum Ziel gesetzt, die betriebsbedingt verursachten CO2-Emissionen, den Energie- und Wasserverbrauch und das Abfallaufkommen gegenüber dem Jahr 2013 um 20 % zu verringern (Continental AG 2019a, S. 36). Diese besonders nachhaltigkeitsaffine Ressourcenschonung ist ein Beleg für die komplementäre Verfolgung der Ziele Wertsteigerung und gleichzeitig der Erzielung eines gesellschaftlich-­ ökologischen Mehrwerts. Das gebildete Vorstandsressort „Personal und Nachhaltigkeit“ lässt schon erahnen, dass die Continental AG den Mitarbeitenden aller Ebenen als Ideengeber und praktische Umsetzer nachhaltiger Ideen und Handlungen einen sehr hohen Stellenwert beimisst. Die vier Core Values von Continental, „Trust“, „Passion to Win“, „Freedom to Act“, „One for Another“, bringen auf die Mitarbeitenden übertragen die Personalphilosophie der Continental AG sehr gut zum Ausdruck. Dies führt hin auf das personalpolitische Grund- und Leitverständnis, dass die Mitarbeitenden „… respektiert, ihre Leistungen wertgeschätzt und ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten zur bestmöglichen Entfaltung gebracht werden sollen“ (Continental AG 2019a, S. 29). Angesichts der Veränderungen auf allen Ebenen, wofür das Schlagwort Digitalisierung exemplarisch steht, sieht sich die Continental AG darin bestärkt, ihre Mitarbeitenden antizipativ durch zeitgemäße Schulungs- und Weiterbildungsformen auf die neuen Anforderungen vorzubereiten (dazu näher Reinhart et  al. 2019). Nachhaltig wirkende Lerneffekte werden dabei insbesondere durch eine enge Vernetzung von Arbeit und Lernen unter Nutzung neuer Lerntechnologien erzielt. Die Continental AG vollzieht damit konsequent die Erkenntnis nach, dass Nachhaltigkeit bei den Mitarbeitenden des Unternehmens beginnt und diese selbst fähigkeits- und motivationsbezogen nachhaltig aufgestellt sein sollten, was auch zu einer Kulturveränderung führen muss und wird. Ein Ausdruck der nachhaltig implementierten Personalpolitik ist ein welt-

Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG

343

weites professionelles Talentmanagement, das durch den Potenzialfokus per se eine hohe Nachhaltigkeitsaffinität aufweist. Flankierende Systeme, wie z.  B. die betrieblichen Compliance-­Vorschriften, schmälern nicht das Vertrauen in das leitbild- und rechtskonforme Verhalten der Mitarbeitenden, sondern stellen dokumentierte und selbstverpflichtende Rahmenkonstrukte für das Akteursverhalten dar. Dem Anspruch der gesellschaftlichen Mehrwertschaffung entsprechend ist die Continental AG mit verschiedenen, z. T. international wirkenden Initiativen auf dem Feld „Soziale Verantwortung und Engagement“ aktiv. Die darunter subsumierbaren Maßnahmen sind breit gestreut und umfassen vielfach Geld- und Sachspenden an gesellschaftsrelevante und karikative Organisationen. So erfolgte bezogen auf das Berichtsjahr 2018 z. B. an den Conti-Standorten Indien, Ungarn, Mexiko und Rumänien die ausstattungsbezogene Unterstützung von Schulen und Kindergärten (Continental AG 2019a, S. 44).

3.4

 achhaltigkeit im internationalen Kontext als N besondere Herausforderung

Die Continental AG ist ein internationales Unternehmen, welches bezogen auf das Referenzjahr 2018 einen hohen Anteil des Umsatzes im Ausland erzielt hat. Entsprechend sind die gesamten Unternehmenssysteme auf die internationale Orientierung ausgerichtet, um gegenüber der internationalen Kundschaft bestehen zu können. Das gilt auf für das Nachhaltigkeitsansinnen der Continental AG. Denn Nachhaltigkeit macht nicht an den Ländergrenzen halt, wie besonders die Klimaproblematik verdeutlicht. Die einzelnen internationalen Standorte der Continental AG sind allein schon durch das unterschiedliche nationale Umfeld und Gesetzes- und Regelungssystem mit unterschied­ lichen Nachhaltigkeitsanforderungen in Ausprägung und Priorität konfrontiert. Das konzer­nübergreifende Bekenntnis zur Nachhaltigkeit sollte insofern im Konkretisierungsbereich eine standortspezifische Ausprägung erfahren, was maßnahmenbezogen auch geschieht. Insofern sind auch bezogen auf Nachhaltigkeit „… interkulturelle Spielräume auf der Ebene der Ländergesellschaften nahezu unverzichtbar“ (Butzer-Strothmann et al. 2018b, S. 266). Diese Spielräume entbinden internationale Unternehmen wie die Continental AG aber nicht von der grundlegenden Verpflichtung, sich länderübergreifend für Nachhaltigkeit einzusetzen. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, dass „… in Gastländern von internationalen Unternehmen häufig mehr in Sachen Nachhaltigkeit erwartet (wird) als von lokalen Unternehmen“ (Herbes 2013, S. 107). Im Idealfall kann die Nachhaltigkeit für internationale Unternehmen wie die Continental AG als „normativer Kitt“ fungieren, die für alle Inlands- und Auslandsgesellschaften eine Leitvorstellung setzt, die dann unter Berücksichtigung der länderspezifischen Besonderheiten vor Ort zur Anwendung gelangt. Das Unternehmen zeigt auch hier an vielen Stellen, das Nachhaltigkeit gelebt wird.

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T. Winkelmann et al.

Die Continental AG sieht die aus der internationalen Aufstellung hervorgehende Mitarbeitervielfalt (Diversity) als große Chance für das Unternehmen an: „Wir sind davon ­überzeugt, dass die Mitarbeitervielfalt unsere Agilität und Innovationsfähigkeit als Unternehmen fördert, da verschiedene Perspektiven den Nährboden für neue Ideen bilden“ (Continental AG 2019a, S. 34). In die gleiche Richtung argumentieren Butzer-Strothmann et al. (2018a, S. 3), wenn sie „… die produktive Vernetzung der (kulturellen) Vielfalt in internationalen Unternehmen“ hervorheben.

3.5

Ausprägungsgrad eines integrierten Nachhaltigkeitssystems

„Das Vernetzen von Menschen, Kulturen, Partnern und Systemen ermöglicht nachhaltige Lösungen, die mehr Wert schaffen“ – diese im Geschäftsbericht 2018 der Continental AG (2019b, S.  U5) mit dem Titel „Vernetzen“ nachzulesende richtungs- und wegweisende Aussage des Vorstandsvorsitzendem Elmar Degenhart ist in vielerlei Hinsicht richtungsweisend, auch für ein integriertes Nachhaltigkeitsmanagement: Nachhaltigkeit ist eine komplexe Herausforderung, die eine gleichzeitige Integration vielerlei Interessenlagen und Parameter vor dem Hintergrund der miteinander verzahnten Ziele gesellschaftliche und zugleich betriebliche Mehrwertschaffung bedingt. Nachhaltigkeit ist dabei per se in die Unternehmenssysteme der Continental AG integriert, wenn das auch nicht explizit, z. B. im Nachhaltigkeitsbericht, in den Vordergrund gerückt wird. In Anlehnung an die integrationskonstitutive St. Galler Managementtriade, normativ  – strategisch  – operativ, ist auch bei der Continental AG Nachhaltigkeit fest im normativen Wertesystem verankert, mit entsprechender „Strahlkraft“ auf die Markt- und Funktionsstrategien und die nachfolgenden operativen Handlungsvollzüge. Der integrative Gedanke kommt dabei aspektorientiert und mit unterschiedlichen Facetten zum Tragen. So wird z. B. mitarbeiterbezogen die Notwendigkeit einer vertrauensvollen Zusammenarbeit über Länder-, Geschäfts- und Abteilungsgrenzen hinweg und die Beziehung zu den Mitarbeitenden unter einer „ganzheitlichen Betrachtungsweise“ gesehen (Continental AG 2019a, S. 29). Das kommt durch das Leben der o. g. Core Values immer wieder sehr stark zum Ausdruck. Aufgrund der verzahnten Berichtserstattungen wurde ein integriertes Governance, „Risk & Compliance“-System im Kontext des Risikomanagements entwickelt (Continental AG 2019a, S. 46). Der Beitrag der Risikobewertung und -berichterstattung zur Nachhaltigkeit ist dabei essenziell, ist das Grundziel aller nachhaltiger Aktivitäten doch die Sicherung der Überlebensfähigkeit eines Systems, hier der Continental AG. Diese bewegt sich dabei zu großen Teilen auf zyklischen Märkten mit hoher Empfindlichkeit für konjunkturelle Einbrüche. Zur organisatorischen Institutionalisierung einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung nutzt die Continental AG abteilungs- und bereichsübergreifende Projektgruppen, Arbeitskreise und digitalgeprägte Netzwerke, die nachhaltigkeitsorientierte Themen objekt- und konzernweit in die Gesamtorganisation hineintragen.

Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG

3.6

345

 ktuelle und zukünftige Herausforderungen für die A Continental AG

In vielen Märkten, die die Continental mit ihren Produkten und Leistungen bedient, nimmt die Dynamik und Geschwindigkeit von Veränderungen in markanter Weise zu. Die Con­ tinental AG ist sich dieser Situation im hohen Maße bewusst und nimmt eine partielle, an Agilität orientierte Neuaufstellung im normativen, strategischen und operativen Handlungsbereich mit vielfältigen größeren und kleineren Anpassungen vor. Die sich abzeichnenden und z. T. schon vollzogenen Veränderungen, z. B. in Richtung Elektromobilität auf dem Automobilmarkt als dem zentralen Marktadressaten der Continental AG, werden das Unternehmen vor neue Herausforderungen stellen, bzw. die Weichen dafür werden gerade schon gestellt. Das Zulieferungsportfolio an die Automobilhersteller wird sich markant verändern. Um das übergeordnete Ziel der betrieblichen Nachhaltigkeit, die Überlebensfähigkeit des Unternehmens Continental AG, abzusichern, sind grundlegende Neuausrichtungen und -aufstellungen erforderlich. Die zulieferbezogene Antizipation des wachsenden Sektors der Elektromobilität mit den entsprechenden Produktionsportfolio-Veränderungen ist hier ein markantes Beispiel von hoher Wertschöpfungsrelevanz. Diese Veränderungen werden nicht ohne Friktionen und Widerstände vollzogen werden können. Die Umstrukturierung ganzer Produktionsbereiche und Organisationsbereiche und damit auch der Arbeitswelten der Mitarbeitenden wird sicherlich nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen, bzw. von latenten oder offenen Widerständen begleitet sein. Das Unternehmen Continental AG ist hier in mehrfacher Hinsicht durch ein gezieltes Change Management mit der Ziel der Organisationsentwicklung gefordert, die Rahmenvoraussetzungen für den notwendigen Wandel zu schaffen und zu gestalten. Neben der Etablierung von agileren Strukturen ist hier insbesondere die Personalentwicklung gefordert, die Belegschaft auf die neuen Herausforderungen vorzubereiten und weiterzuentwickeln. Betrachtet man die immerhin schon nahezu 150-jährige Geschichte des Continental Konzerns von den handwerklichen Anfängen bis zum heutigen internationalen Konzernstatus, so stimmt die schon in vielen Zeitperioden bewiesene und damit belastbare Lernund Antizipationsfähigkeit des Konzerns optimistisch. Sicherlich werden die Herausforderungen in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts nicht einfacher werden, aber das Motto der Continental, „The Future in Motion“, kann über den originären Fokus der Mobilität hinaus auch derart gedeutet werden, dass nicht nur die Zukunft in Bewegung ist, sondern auch gleichermaßen die Continental AG kontinuierlich an ihre Zukunftsfähigkeit arbeitet, z. B. mit wegweisenden technologischen Innovationen auf dem Mobilitätssektor. Bezogen auf den wichtigen zukunftszugewandten Faktor der Nachhaltigkeit bestätigt eine Stakeholderbefragung von Anfang 2019, dass die Continental „auf dem richtigen Weg“ ist (Reinhart 2019, S. 4). Der Weg ist dabei auch das Ziel insofern, als Nachhaltigkeit permanent als zentrale Leitgröße im Unternehmen präsent sein sollte und immer wieder vor dem Hintergrund neuer Anforderungen neue nachhaltige Initiativen auf dem Weg zu bringen sind. Die Continental AG wird sich hier kontinuierlich den Anforderungen von Mensch, Natur und Technik stellen.

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4

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 erspektiven für eine integrierte nachhaltige P Unternehmensführung in Industriebetrieben vor dem Hintergrund der Industrie 4.0

Das Wertschöpfungsgefüge und damit das Geschäftsmodell von Industriebetrieben – und so auch der hier im Fokus stehenden Continental AG – sieht sich durch neue technologisch getriebene Entwicklungen, die unter dem Terminus „Industrie 4.0“ subsumiert werden, neuen Vorzeichen gegenübergestellt. Immer mehr intelligente, miteinander vernetzte, also kommunizierende technologische Systeme werden in die Arbeitsprozesse integriert und steuern weitgehend automatisch die einzelnen industriellen Wertschöpfungsprozesse und deren Subaktivitäten. Der mittlerweile vielbeachtete wie vielbenutzte Terminus Industrie 4.0 „… beschreibt die Vision einer Vernetzung von Produzenten, Logistikdienstleistern und Kunden mithilfe von modernen Dienstleistungstechnologien zu ‚Smart Factorys‘ […] Der Begriff Smart Factory beschreibt eine Produktionsumgebung, in der intelligente Produkte mit intelligenten Maschinen und Menschen kommunizieren und sich dezentral organisieren …“ (Situm und Noppinger 2019, S. 83). Damit steht Industrie 4.0 für eine weitgehende Automatisierung der Wertschöpfungskette eines Industriebetriebes vom Rohmaterial bis zum Endverbraucher und der Entsorgung. Kern ist ein medienbruchfreier Informationsaustausch in Echtzeit zwischen Mensch, Maschine und Werkstück (Heng 2019, S. 568) im Sinne von Cyber-physischen Systemen als „… komplexe, autonome, automatisierte Systeme, die durch eine Kombination von Daten, Informationen und Funktionen zur Überwachung und Steuerung von Anlagen physische, biologische und/oder bautechnische Komponenten steuern“ (Situm und Noppinger 2019, S. 84). Ohne näher auf den vielschichtigen Themenbereich „Industrie 4.0“ eingehen zu wollen, steht hier der Bezug zu einem integrierten nachhaltigen Management im Vordergrund. Schon die angeführten Kurzcharakteristiken von Industrie 4.0 lassen unschwer erkennen, dass die Integration ein konstitutives Kernmerkmal dieser neuen industriellen Entwicklungsstufe ist. Die Integration der Wertschöpfungspartner, der Wertschöpfungskette insgesamt und z. B. produktionsrelevanter Datenströme sind Kernelemente der Industrie 4.0. Auch die damit in enger Verbindung stehende Digitalisierung von Wertschöpfungsprozessen „umspannt“ unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten das gesamte Wertschöpfungskon­ strukt Unternehmen und nicht nur vereinzelte Teilbereiche: „In der Digitalisierung einer hochdynamischen VUCA-Welt bedarf ökonomische Nachhaltigkeit der agilen Umsetzungskompetenz auf allen Ebenen der Wertschöpfung“ (Vieweg 2018, S. 130). Während also Integration auf den ersten Blick erkennbar auf Engste mit der Industrie 4.0 und den digitalen Entwicklungen verknüpft ist, sind die Parallelen zur Nachhaltigkeit  eher auf den zweiten Blick evident. Denn auch Nachhaltigkeit ist trotz ihrer ­bestandserhaltenden und -schonenden Grundphilosophie durchaus in einen erweiterten Einklang mit den unter Industrie 4.0 subsumierten Entwicklungen zu bringen. Bezogen auf das Grundziel der Nachhaltigkeit, der systemischen (hier unternehmensbezogenen) Überlebensfähigkeit im weiteren Sinne, ist zu konstatieren, dass Industriebetriebe sich

Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG

347

aktiv diesen neuen technischen Entwicklungen werden stellen müssen, um als System marktfähig zu bleiben. Auch viele der mit der Nachhaltigkeit verbundenen originären Teilintentionen, wie z. B. die Ressourcenschonung und Abfall- und Ausschussvermeidung, lassen sich in den sehr effizient zugeschnittenen industriellen Prozessen im Rahmen von Industrie 4.0 wiederfinden, bzw. sind mit ihnen kompatibel. Das Konzept 4.0 und die dahinterstehenden weiterentwickelten Technologien stellen einen deutlichen Schritt in Richtung einer „Ultraeffizienzfabrik“ dar. Ein idealtypisches Kernziel einer solchen „Ultraeffizienzfabrik“ „… ist eine lärm- und abfallfreie Produktion, die ausschließlich aus erneuerbaren Energien gespeist wird und deren Produkte komplett wiederverwertbar sind“ (Müller-Seitz et al. 2016, S. 31). Wenn der darin terminologisch inhärente Absolutheitsanspruch („frei“, „ausschließlich“, „komplett“) sicherlich auch heute noch als zu weitgehend erscheint, so ist doch die technologiegetriebene Entwicklung in diese Richtung vorgezeichnet. Neue Technologien werden damit zu einem wichtigen, wenn nicht zentralen „Enabler“ nachhaltiger Bestrebungen von Industrieunternehmen. Inwiefern die eher weichen Faktoren der Nachhaltigkeit, wie z. B. im Kultur- und Personalbereich, durch Industrie 4.0 bedient werden können, ist eine Frage der (nachhaltigkeitsaffinen) Gestaltung des Transformationsprozesses im Industriebetrieb insgesamt. Die Reduzierung des Menschen als Appendix automatisierter industrieller Prozesse greift dabei in vielfacher Hinsicht zu kurz. Man sollte „… die Industrie 4.0 nicht nur auf ihre technischen Aspekte reduzieren. Industrie 4.0 ist also nicht nur eine Frage der IT, sondern muss in all ihren Dimensionen begriffen werden – zumal der zentrale Erfolgsfaktor nach wie vor der Mensch ist“ (Heng 2019, S. 573). Wobei das Begreifen von 4.0 in all ihren Dimensionen bis dato nur schwer möglich ist. Denn es ist zu bedenken, dass die unter Industrie 4.0 subsumierten Entwicklungen erst am Anfang stehen und durch die voranschreitenden Digitalisierungsprozesse deutlich an Fahrt aufnehmen werden. Industrie 4.0 ist immer noch in der Entwicklungsphase. Insofern gilt: „Die Digitalisierung der Produktion befindet sich vielerorts in der Entwicklungs- und Implementierungsphase und ist als laufender Prozess denn als Ergebnis zu sehen. Dadurch eröffnen sich jedoch Möglichkeiten, diesen (r)evolutionären Prozess vor dem Hintergrund einer nachhaltigen Entwicklung zu gestalten“ (Biedermann et al. 2017, S. 14). Entsprechend ist auch die diesbezügliche Forschung in einem statu nascendi: „Es besteht ein großer Forschungsbedarf an den Wechselwirkungen von Industrie 4.0 und der nachhaltigen Entwicklung“ (Banthien und Bode 2016, S. 4).

5

 azit und Ausblick: Nachhaltigkeit als Gradmesser für die F Zukunftsfähigkeit von Industriebetrieben

Die Zukunftsfähigkeit von Industriebetrieben ist maßgeblich davon abhängig, inwiefern sie sich möglichst proaktiv den marktlichen, aber auch gesellschaftlichen Herausforderungen aktiv stellen. Dazu ist ein hohes Maß an organisationaler Lern- und Erneuerungsfähigkeit mit der Zielvorstellung einer erneuerungsfähigen Organisation erforderlich (dazu nä-

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T. Winkelmann et al.

her Kels et al. 2019). Die Anforderung Nachhaltigkeit gewinnt hier ein immer stärkeres Gewicht und ist damit weit mehr als ein wohlklingendes, aber weitgehend inhaltsloses Label, mit dem sich Industriebetriebe nur öffentlichkeitswirksam schmücken. Die zunehmend kritische Öffentlichkeit fordert von den Industriebetrieben einen markanten Nachhaltigkeitsbeitrag ein. Eine Vorreiterrolle in Sachen Nachhaltigkeit begünstigt auch die Anwerbung und Bindung von Talenten: „Greening Helps Organizations to Attract and Retain Talents“ (Bag et al. 2019, S. 147). Zukunftsfähigkeit von Unternehmen wird heute oft in einem Atemzug mit der Digitalisierung genannt. Wenn auch Digitalisierung nicht gleich Zukunft ist und nicht fokussierte Digitalisierungsstrategien mehr dysfunktionale als funktionale Effekte erbringen können, ist sie ohne Frage ein zukunftsbestimmendes Merkmal für die einzelnen Unternehmen wie auch für die Gesellschaft insgesamt, mit auch vielen Parallelen und unterstützenden Wirkeffekten für eine nachhaltige Entwicklung. Sehr treffend formuliert in diesem Zusammenhang Ternès (2019, S. 89) als Aufforderung: „Nachhaltigkeit und Digitalisierung für langfristige Erfolge intelligent verbinden“. Ohne diesen Faden näher aufgreifen und den Akteuren ihre hoffentlich vorhandene Grundeuphorie in Bezug auf Nachhaltigkeit berauben zu wollen, ist aber die ernüchternde Feststellung nicht zu umgehen, dass es Digitalisierung wie auch Nachhaltigkeit „nicht zum Nulltarif“ geben wird. Von der Bundesrepublik Deutschland sind z. B. schon Milliarden für den Kohleausstieg zur Klimaverbesserung auf den Weg gebracht werden worden, die aber erst den Anfang darstellen. Auch auf Unternehmensseite muss ergo der finanzielle Spielraum für digitale und nachhaltige Investitionen vorhanden sein, was auf keinen Fall als von vornhinein ausgemacht gelten kann (vgl. für die Digitalisierung z. B. Hess und Barthel 2019, S. 481), speziell nicht in margenarmen Märkten mit ausgeprägter Konkurrenz. Damit kristallisiert sich für die Zukunftsaufstellung von Unternehmen als Herausforderung deutlich heraus: Kernherausforderung ist die Verträglichmachung der wert- und werteorientierten Positionen, die in der Feststellung mündet: Nachhaltigkeit muss sich für Industriebetriebe lohnen, also einen Wertsteigerungseffekt für Industriebetriebe erzielen. Dieses ist ein legitimes Ziel für Betriebswirtschaften wie Industriebetriebe. Der Nachhaltigkeitsbericht der Continental AG ist ein gutes Beispiel dafür, dass es hierfür vielfältige Ansatzpunkte in Industriebetrieben gibt, wofür beispielhaft Energieeinsparung und Abfallvermeidung stehen. Diese Überlegungen sensibilisieren dafür, dass „Nachhaltigkeit mit Augenmaß“ gefragt ist. Auch hier greift der Integrationsgedanke wieder: Die grundsätzlich berechtigte gesellschaftliche Forderung nach Nachhaltigkeit sollte sich in entsprechenden politischen Weichenstellungen und dann in adäquaten betrieblichen Entscheidungsmustern w ­ iderspiegeln. Alles sollte Hand in Hand gehen, also gut aufeinander abgestimmt sein. Dabei ist eine nicht fokussierte und disparate „Überforderung“ von Systemmitgliedern und hier insbesondere Unternehmen zu vermeiden, die im Extremfall final ihre Überlebensfähigkeit in Frage stellen kann. Wenn diese beitragsabschließenden Ausführungen auch betriebswirtschaftlich „realernüchternd“ sind, so geben sie doch den Weg vor, dass nicht gegen, sondern nur mit den Unternehmen in Verbindung mit den anderen gesellschaftlichen Gruppen Nachhaltigkeit real auf den Weg gebracht werden kann.

Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG

349

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Prof. Dr. Thomas Winkelmann  ist seit 1988 im Continental Konzern aktiv. Hier treibt er in den letzten 12 Jahren als Personalleiter im Bereich Manufacturing Reifen den Wandel innerhalb der modernen Arbeitswelt voran, um die großen Herausforderungen der stark zunehmenden Flexibilisierung und Digitalisierung der Industrie als Chance für das Unternehmen und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu nutzen. Parallel hierzu ist der studierte und promovierte Bauingenieur Honorarprofessor an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein, womit sein langjähriges Engagement im Bereich internationales HR Marketing gewürdigt wurde. Weiterhin wurde Herr ­Winkelmann im Oktober 2019 vom Träger der Leibniz-­Fachhochschule Hannover, welche Studiengänge wie BWL, Health Management, Embedded Automation Design, IT-Security und Wirtschaftsinformatik anbietet, zum Präsidenten gewählt.

Prof. Dr. Kristin Butzer-­Strothmann,  Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing und Empirische Sozialforschung an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover seit 2011. Zuvor war sie ab 2009 Dozentin an der Leibniz-Akademie und bis 2018 Vizepräsidentin für Lehre und Forschung. Sie leitet den Masterstudiengang „Integrierte Unternehmensführung (digital/nachhaltig)“. Nach einer Lehre zur Werbekauffrau und dem Studium der BWL in Lüneburg promovierte sie zum Thema „Krisen in Geschäftsbeziehungen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 1998 bis 2009 arbeitete sie als Marktforscherin und Marketing-Consultant im Business- und Non-Business-Bereich. Darüber hinaus war sie für verschiedene Hochschulen und Bildungsinstitutionen als externe Dozentin für Marketing, Marktforschung sowie Industriebetriebslehre tätig.

Nachhaltigkeit in Industriebetrieben am Beispiel der Continental AG

351

Prof. Dr. Friedel Ahlers  ist seit 2011 Professor für ABWL mit Schwerpunkten Unternehmensführung und Personalwirtschaft an der Leibniz-­Fachhochschule in Hannover. Zuvor war er Dozent an der Leibniz-Akademie, davor einige Jahre Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Die Jahre zuvor arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Leibniz Universität Hannover (Institut für Unternehmensführung und Organisation). Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 1993. Das wirtschaftswissenschaftliche Studium wurde in Hamburg und Oldenburg ­absolviert.

Nachhaltiger Unternehmenserfolg am Beispiel von Symrise Christina Witter und Friedrich-Wilhelm Micus

1

Kurzvorstellung Symrise

Für uns bei Symrise ist entscheidend, auf welche Art und Weise unser Unternehmen wächst und erfolgreich wirtschaftet. Wir wollen nachhaltig begeisternde Geschmacks- und Dufterlebnisse kreieren und unseren Kunden ebenso nachhaltige Lösungen für die Herstellung ihrer Produkte bieten – und dies auf Basis von mehr als 10.000 überwiegend natürlichen Rohstoffen. Symrise ist mit mehr als 30.000 Produkten und einem Umsatz von 3,2 Milliarden Euro einer der weltweit führenden Anbieter auf dem Gebiet der Duft- und Geschmacksstoffe, kosmetischen Grund- und Wirkstoffe sowie funktionalen Inhaltsstoffen für Lebensmittel. Zu unseren Kunden gehören Parfüm-, Kosmetik-, Lebensmittel- und Getränkehersteller, die pharmazeutische Industrie und Produzenten von Nahrungsergänzungsmitteln und Heimtiernahrung. Gemeinsam mit ihnen entwickeln wir neue Ideen für Produkte, die fest zum täglichen Leben gehören. Jeder Verbraucher kommt im Schnitt 20 bis 30 Mal täglich mit Symrise-Produkten in Berührung. Seit Jahren wächst unser Unternehmen mit Hauptsitz in Holzminden stärker als der Markt. Wir investieren kontinuierlich in Forschung und Entwicklung, Produktionsanlagen, Logistik, Marketing sowie Vertrieb.

C. Witter (*) · F.-W. Micus Symrise, Holzminden, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_19

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354

2

C. Witter und F.-W. Micus

Grundverständnis und Ziele nachhaltigen Handelns

Unsere wirtschaftlichen Ambitionen treiben unseren Erfolg. Unser gesamtes Tun ist dabei fest mit unserem Engagement für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen verbunden. Das macht unsere Unternehmenskultur aus. Für unsere rund 10.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an über 100 Standorten weltweit tätig sind, sind wir auch deshalb ein attraktiver Arbeitgeber: Symrise übernimmt Verantwortung – und die geht über unsere Unternehmensgrenzen hinaus. Wir begreifen das als Teil unseres Geschäftsmodells und es zeigt sich jeden Tag aufs Neue in unserem Handeln. Bei unserem Tun behalten wir die Interessen unserer Kunden, der Konsumenten und unserer Mitarbeiter genauso im Blick wie die Belange der Gesellschaft. Und das funktioniert für uns über den verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt und den natürlichen Ressourcen. Gemeinsam mit unseren Rohstofflieferanten und Kunden streben wir überall dort, wo wir uns engagieren, kontinuierlich nach tragfähigen Lösungen, von denen alle nachhaltig profitieren. Daher unterstützt Symrise die nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals – SDGs) der Vereinten Nationen aktiv. Die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele mit ihren insgesamt 169 Unterzielen haben alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen in der „Agenda 2030“ 2015 verabschiedet. Die SDGs zeigen Ansatzpunkte für Politik, Wirtschaft und Privatpersonen zur Bewältigung der großen Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht. Dazu zählen unter anderem der Verbrauch von Ressourcen, weltweite Ungleichheiten und der Klimawandel. Mit ihrer Agenda verfolgt die internationale Gemeinschaft ein klares Ziel: Bis 2030 soll die Welt auf den durch die SDGs definierten Gebieten deutlich nachhaltiger agieren als bisher. Für uns bei Symrise liegt klar auf der Hand, dass Unternehmen darin eine entscheidende Rolle spielen. Denn sie beisetzen einen maßgeblichen Einfluss auf Umwelt und Gesellschaft  – von der Produktion bis zum Vertrieb ihrer Produkte, als Arbeitgeber sowie in der Zusammenarbeit mit Partnern und Lieferanten entlang der gesamten Lieferkette: An diesen Stellschrauben können sie arbeiten und damit einen großen Beitrag für die Umsetzung der SDGs leisten. Bei Symrise nehmen wir diese Verantwortung ernst und wollen in unserem Rahmen den größtmöglichen Beitrag leisten, damit die SDGs erreicht werden.

2.1

Transparentes Handeln – für Symrise oberstes Gebot

Unser Engagement dokumentieren wir dabei sehr genau. Mit unserer Nachhaltigkeitsberichterstattung erfüllen wir die Richtlinien der Global Reporting Initiative (GRI) in der Fassung der „GRI Standards“ von 2016 sowie die jüngsten Updates ausgewählter Indikatoren aus dem Jahr 2018. Wir legen zu allen wesentlichen Themen Rechenschaft ab – unsere Berichterstattung entspricht damit dem höchsten Anwendungslevel „In Übereinstimmung – Umfassend“.

Nachhaltiger Unternehmenserfolg am Beispiel von Symrise

2.2

355

 nerkannt nachhaltig – was Symrise auf dem Gebiet der A Nachhaltigkeit bereits erreicht hat

Unsere Ambitionen in Sachen Verantwortung und Nachhaltigkeit zeigen Erfolge. So konnten wir beispielsweise den CO2-Ausstoß unseres Unternehmens im Zeitraum von 2010 bis 2018 um 45 Prozent senken. Der Bedarf an chemischem Sauerstoff verringerte sich im selben Zeitraum um 71 Prozent. Bei den sensitiven Abfällen erreichte Symrise eine Reduktion von 47 Prozent. Und 90 Prozent unserer Partner in unserer Lieferkette erfüllen auch dank unseres Engagements mittlerweile alle geltenden Nachhaltigkeitskriterien. Unser Engagement für den Schutz des Klimas und bei der nachhaltigen Gestaltung der Lieferkette sowie der Einsatz zur Erhaltung der Biodiversität überzeugten auch die Jury des Deutschen Nachhaltigkeitspreises. Sie zeichnete Symrise mit dem ersten Platz in der Kategorie „Deutschlands nachhaltigstes Großunternehmen 2019“ aus.

2.3

Wachstum – mit dem Blick aufs große Ganze

Diese Auszeichnung spornt uns an, unsere Nachhaltigkeitsziele konsequent weiter­ zuverfolgen. Und sie bestätigt unsere Strategie, die wir auf nachhaltiges, profitables Wachstum ausgerichtet haben. Darunter verstehen wir den dauerhaft belastbaren Ausbau unseres Geschäfts unter konsequenter Berücksichtigung der ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen. Dazu gehören die immer effizientere Produktion und ein Portfolio, das dabei hilft, die Grundbedürfnisse der wachsenden Weltbevölkerung zu befriedigen. In unserer Nachhaltigkeitsagenda bündeln wir unsere Ambitionen zur Nachhaltigkeit mit Blick auf unser Kerngeschäft in vier tragenden Säulen: Footprint, Innovation, Sourcing und Care (FISC). Auf diese Weise gelingt es uns, wirtschaftlichen Erfolg mit nachhaltiger Unternehmensführung und gesellschaftlicher Akzeptanz zu verbinden.

3

Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele

Das Symrise Sustainability Board ist das globale und geschäftsbereichsübergreifende Gremium, mit dessen Hilfe wir unser Geschäftsmodell konsequent auf nachhaltiges Wirtschaften ausrichten. Um sicherzustellen, dass nachhaltigkeitsrelevante Themen und Belange wichtiger Anspruchsgruppen entlang der Wertschöpfungskette sowohl konsequent berücksichtigt, als auch geschäftsfördernd antizipiert werden, trifft sich das Symrise Sustainability Boards regelmäßig. Unter dem Vorsitz des Chief Sustainability Officers (CSO) kommen die Vertreter des Managements mehrmals jährlich zusammen. Das Sustainability Board beschließt die Nachhaltigkeitsziele, die direkt in den jeweiligen Geschäftsbereichen umgesetzt werden. Damit dies im Unternehmensalltag lückenlos funktioniert, haben

356

C. Witter und F.-W. Micus

Vorstand und Sustainability Board Nachhaltigkeitsverantwortliche für die Geschäftssegmente Flavor, Nutrition sowie Scent & Care benannt. Auch für die Stabsabteilungen Personal, Finanzen/Investor Relations und Corporate Communications bestimmten sie je einen Vertreter. Der Vorstandsvorsitzende der Symrise AG besitzt die direkte Verantwortung für die Strategie – ihm wird kontinuierlich über den Fortschritt aller Nachhaltigkeitsaktivitäten berichtet.

3.1

I nternationale Standards – daran orientieren wir uns in allen Unternehmensprozessen

Nachhaltigkeit in den Unternehmensprozessen steuern wir über unser integriertes Managementsystem. Es basiert auf den internationalen Standards zu Qualität (ISO 9001), Umwelt (ISO 14001), Arbeitsschutz (OHSAS 18001), Nachhaltigkeit (ISO 26000), Energie (ISO 50001), sozialer Verantwortung (SA 8000), den allgemein anerkannten Auditstandards der Global Food Safety Initiative (GFSI) sowie weiteren lokal anerkannten Standards.

3.2

 ielvorgaben und regelmäßige Aktionen – so unterstreichen Z wir den Stellenwert von Nachhaltigkeit

Den Führungskräften in den verschiedenen Bereichen kommt bei all dem eine besondere Verantwortung zu. Zu ihren Aufgaben gehört es, das Thema Nachhaltigkeit in ihren Teams zu operationalisieren und konkrete Ziele zu setzen. Dabei treiben wir die Umsetzung unseres Nachhaltigkeitsansatzes voran, indem wir die konkreten Nachhaltigkeitsziele in die individuellen Zielvorgaben unserer Führungskräfte integrieren. Zur Verankerung des Themas innerhalb der gesamten Belegschaft und der Organisation veranstalten wir an unseren Standorten regelmäßig Aktionen, die das Augenmerk unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf das Thema lenken – dazu gehört unter anderem der Symrise Nachhaltigkeitstag. Hier zeigen Mitarbeiter ihren Kollegen anhand von praktischen Beispielen, wie sie nachhaltige Entwicklungsprozesse in ihrer Abteilung anstoßen und umsetzen  – und welche Rolle die SDGs in ihrem Arbeitsalltag spielen.

3.3

Die globalen Nachhaltigkeitsziele weisen den Weg

Die globalen Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 dienen Symrise als eine Art Kompass. Die 17 SDGs sind dabei die Wegmarken, die die Richtung zur nachhaltigen Entwicklung vorgeben. Dabei stecken sie gleichzeitig den Rahmen dessen ab, was Unternehmen leisten können und müssen, um weiterhin erfolgreich zu wirtschaften.

Nachhaltiger Unternehmenserfolg am Beispiel von Symrise

357

Symrise hat dabei eine besondere Herausforderung zu bewältigen: Weil unser Unternehmen sehr breit aufgestellt und unser Geschäftsmodell vielschichtig ist, müssen wir alle Ziele im Blick behalten. Dabei ist uns bewusst, dass wir nicht alle 17 SDGs in gleichem Umfang angehen können. Deshalb haben wir uns dafür entschieden, jene in den Fokus zu nehmen, zu denen wir einen besonders wirksamen Beitrag leisten können.

4

Relevanz und Beitrag zu den globalen Nachhaltigkeitsziele

4.1

Überblick über die 17 SDGs

4.1.1 SDG 1 Keine Armut Wir suchen kontinuierlich nach Wertschöpfungsansätzen in unserer Lieferkette, von denen alle Beteiligten profitieren. Dabei nehmen wir vom Kleinbauern als Rohstofflieferant bis hin zum Konsumenten sämtliche Glieder der Kette unter die Lupe. Seite an Seite mit lokalen Kooperationspartnern leisten wir durch Sponsoring und Förderung geeigneter Projekte so einen Beitrag zur Linderung der Armut weltweit (Abb. 1). 4.1.2 SDG 2 Kein Hunger Im Rahmen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den direkten Erzeugern unserer Rohstoffe setzen wir uns für nachhaltige Landwirtschaft und Ernährungssicherheit ein. Unsere Strategie der Rückwärtsintegration hilft dabei, im Sinne unserer Nachhaltigkeitsziele direkt auf die vorgelagerten Stufen der Wertschöpfungskette Einfluss zu nehmen. Etwa wenn es darum geht, in der Agrar­oder Forstwirtschaft nachhaltige Anbaumethoden biobasierter Rohstoffe wirksam zu fördern. Ebenso zielen wir auf höchste Rohstoffeffizienz und das Vermeiden von Nahrungsmittelabfällen ab. Deshalb setzen wir so oft wie möglich auf das komplette Verwerten der Rohstoffe oder das Verwenden so genannter „Seitenströme“. Bei diesen handelt es sich meistens um Nebenprodukte der Lebensmittelindustrie. 4.1.3 SDG 3 Gesundheit und Wohlergehen Die Sicherheit am Arbeitsplatz und der Schutz der Gesundheit unserer Mitarbeiter ist in unserer Branche von besonders hoher Bedeutung. Das zeigen auch Auszeichnungen, wie kürzlich den „Safety Excellence Award“ an 18 Standorten in Nordamerika. Wir verankern das Thema im Unternehmen mithilfe unseres Konzepts der Null­Unfall­Kultur, Workshops für Führungskräfte sowie regelmäßige interne wie externe Audits. Darüber hinaus unterstützen wir unsere Mitarbeiter im Rahmen unserer Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge bei der gesunden und ganzheitlichen Lebensführung. Dazu gehören beispielsweise Präventionsmaßnahmen wie Schutzimpfungen, die wir auch schon vor der Beschäftigung bei uns weltweit unterstützen.

358

C. Witter und F.-W. Micus

Abb. 1  SDG Grafik

4.1.4 SDG 4 Hochwertige Bildung Symrise setzt bei seinem Beitrag zur hochwertigen Ausbildung und Förderung lebenslangen Lernens in erster Linie bei seinen eigenen Mitarbeitern an. Über Schulungen, ­Trainingsmöglichkeiten und Workshops für die gesamte Belegschaft vermitteln wir Wissen. Etwa 2,8 Millionen Euro investieren wir jedes Jahr in Weiterbildung. Außerdem fördern wir das Lernen und die Ausbildung entlang unserer Lieferkette, etwa durch Bildungsprojekte in nachhaltiger Landwirtschaft. 4.1.5 SDG 5 Geschlechtergleichheit Vielfalt verstehen wir bei Symrise als Treiber für Kreativität und Integrität. Auch deshalb ist die Förderung von Frauen in Führungspositionen ein besonderes Anliegen für uns. Langfristig soll der Frauenanteil im Vorstand mindestens 20 Prozent erreichen. Aufsichts-

Nachhaltiger Unternehmenserfolg am Beispiel von Symrise

359

rat und Vorstand haben hierzu konkrete personenbezogene Maßnahmen vereinbart. Dabei müssen wir laufende Anstellungsverträge respektieren und die Kontinuität im Führungsgremium sicherstellen. Die derzeitigen Vorstandsmitglieder haben Verträge, die in die Jahre 2020 bis 2024 hineinreichen.

4.1.6 SDG 6 Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen Wir brauchen zwingend sauberes, frisches Wasser für unsere Aktivitäten. Deshalb engagieren wir uns an unseren Standorten überall auf der Welt für den effizienten Einsatz von Wasser sowie das Reduzieren von Abwassermengen und e­ missionen. Darüber hinaus informieren wir vor Ort über die Bedeutung nachhaltiger Wassernutzung. Die Ergebnisse unseres globalen Einsatzes rund um das Thema Wasser legen wir regelmäßig über das Water Programm der Investoreninitiative CDP offen. 4.1.7 SDG 7 Bezahlbare und saubere Energie Als Unternehmen in einer relativ energieintensiven Branche ist unsere Produktion auf bezahlbare, zuverlässige und nachhaltige Energieversorgung angewiesen. Daher arbeiten wir laufend daran, unsere Prozesse immer effizienter zu gestalten. Weltweit setzen wir an unseren Standorten auf unterschiedliche Energiesparmaßnahmen und forcieren den Einsatz erneuerbarer Energien: von Solarmodulen bis hin zur eigenen Kraft­ Wärme­ Kopplungsanlage an unserer Firmenzentrale in Holzminden. 4.1.8 SDG 8 Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum Wir verstehen Nachhaltigkeit als Wettbewerbsvorteil. Wir sind überzeugt: Wirtschaftlicher Erfolg, Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Akzeptanz sind untrennbar miteinander verbunden. Um den Unternehmenswert dauerhaft zu steigern, Risiken zu minimieren und sich eröffnende Chancen nutzen zu können, bezieht Symrise das Thema Nachhaltigkeit auf allen Ebenen mit ein. Nachhaltiges Wirtschaften geht für Symrise mit verantwortungsvoller Personalpolitik, fairen Arbeitspraktiken sowie dem klaren Bekenntnis zu den Menschenrechten einher. Zu deren Einhaltung verpflichten wir auch unsere Lieferanten und Geschäftspartner. 4.1.9 SDG 9 Industrie, Innovation und Infrastruktur Ohne die dauerhafte Betriebssicherheit, Umwelteffizienz sowie die Wirtschaftlichkeit unserer Produktionsanlagen wäre Symrise weniger erfolgreich. Deshalb haben wir Sicherheitsstandards entwickelt, die für unsere gesamten Produktionsstandorte weltweit gelten. Über interne Audits sowie durch unser Tochterunternehmen TESIUM überprüfen wie die Einhaltung der vereinbarten Standards regelmäßig. Darüber hinaus investieren wir in die lokale Infrastruktur und die medizinische Versorgung vor Ort. 4.1.10 SDG 10 Weniger Ungleichheiten Symrise integriert die Interessen seiner Stakeholder auf allen Ebenen seiner Wertschöpfungskette. So stiftet unser Unternehmen Nutzen für alle Beteiligten weltweit. Die faire Vergütung unserer Mitarbeiter – unabhängig von ihrem Geschlecht – ist für

360

C. Witter und F.-W. Micus

uns selbstverständlich. Tarifverträge in vielen Ländern sowie die Festlegung von Entgeltkategorien im Unternehmen stellen sicher, dass unterschiedliche Bezahlung bei gleicher Arbeit ausgeschlossen ist.

4.1.11 SDG 11 Nachhaltige Städte und Gemeinden Über die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung im Umfeld unserer Produktionsstätten in mehr als 40 Ländern, leistet Symrise einen indirekten Beitrag zu nachhaltigen und sicheren urbanen Räumen. Im Rahmen unserer Lieferkette engagieren wir uns außerdem in sozialen und ökologischen Initiativen vor Ort – vom nachhaltigen Nahrungsmittelanbau bis hin zur verbesserten Gesundheitsversorgung in der Stadt und auf dem Land. 4.1.12 SDG 12 Nachhaltige/r Konsum und Produktion Die nachhaltige Ausrichtung unserer Produkte und Prozesse ist für uns ein selbstverständlicher Qualitätsanspruch, den wir konsequent verfolgen. Über unseren Green Chemistry-­ Ansatz entwickeln wir bestehende Produkte kontinuierlich weiter. Über Prozessredesign und die völlige Neugestaltung von Prozessen durch Grüne Chemie und innovative Technologien machen wir unsere Produkte darüber hinaus immer nachhaltiger. Zudem bewerten wir unsere Produkte und ihre Auswirkungen im Sinne der Nachhaltigkeit und optimieren sie entsprechend. 4.1.13 SDG 13 Maßnahmen zum Klimaschutz Symrise hat als produzierendes Unternehmen die Verantwortung, negative Auswirkungen auf das Klima so weit wie möglich zu verringern. Dabei setzen wir an unseren Standorten weltweit auf zertifizierte Umwelt- und Energiemanagementsysteme und eine eigene Klimaschutzstrategie. Außerdem stellen wir unsere Fortschritte in den Bereichen Ressourcenschonung und Emissionsreduzierung unter anderem durch die Teilnahme an der unabhängigen Investoreninitiative CDP Climate Change jährlich aufs Neue unter Beweis. 4.1.14 SDG 14 Leben unter Wasser Mit der Akquisition unserer Lebensmittelsparte Diana wächst für uns auch die Bedeutung der nachhaltigen Nutzung von Meeresressourcen. Deshalb haben wir zur Versorgung der Fische in unseren Farmen einen nachhaltigen Ansatz zur Fütterung entwickelt und müssen so keine zusätzlichen Fische zum Verfüttern zukaufen. Über diesen Weg tragen wir durch verschiedene Umweltziele sowie in Kooperation mit Erzeugern vor Ort zur Schonung maritimer Ressourcen bei. 4.1.15 SDG 15 Leben an Land Der Erhalt und die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt liegen im ureigenen Interesse von Symrise. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das Wohl unseres Unternehmens hängt stark von der Produktivkraft der Natur ab. Schon deshalb setzen wir uns

Nachhaltiger Unternehmenserfolg am Beispiel von Symrise

361

weltweit für eine verantwortungsvolle Beschaffung natürlicher Rohstoffe aus nachhaltigem Anbau oder nachhaltiger Wildsammlung in Einklang mit international anerkannten Biodiversitätszielen und Kriterien ein.

4.1.16 SDG 16 Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen Für uns ist es absolut selbstverständlich, die Gesetze der Länder zu befolgen, in denen wir aktiv sind. Sehr oft gehen unsere eigenen Ansprüche dabei jedoch noch deutlich über die nationalen Vorschriften hinaus. Faire Arbeitspraktiken, menschenwürdige Beschäftigung oder das Vermeiden von Korruption und Bestechung sind Grundlagen unseres Handelns überall auf der Welt und in unserem Verhaltenskodex festgeschrieben. 4.1.17 SDG 17 Partnerschaften zur Erreichung der Ziele Die globalen Herausforderungen unserer Zeit können wir nicht im Alleingang lösen. Wir setzen deswegen auf Branchenkooperationen und vorwettbewerbliche Ansätze, bei denen wir gemeinsam mit unseren Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft an langfristig tragfähigen Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung arbeiten.

4.2

Fünf Kern-SDGs bei Symrise im Fokus

Zu jedem der 17 SDGs bestehen eine Reihe von Unterzielen. Sie beschreiben die konkreten Aufgaben, die zu lösen sind. Bei einigen Themen sind vor allem politische Entscheidungsträger gefragt. Bei anderen sind in erster Linie Unternehmen und Zivilgesellschaft gefordert, einen Beitrag zu leisten. Auf dieser Basis haben wir im Berichtsjahr 2018 eine Reihe von SDGs identifiziert, zu denen wir bei Symrise mit Blick auf unsere Geschäftstätigkeit sowie hinsichtlich der Auswirkungen unseres Handelns auf Umwelt und Gesellschaft eine besonders große Wirkung erzielen können. Bei all dem ist für uns die Zusammenarbeit mit anderen Partnern aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zentral, um die anstehenden Aufgaben zu bewältigen.

4.2.1 SDG 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum SDG 8 hat ein nachhaltiges und inklusives Wirtschaftswachstum mit Vollbeschäftigung unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen zum Ziel. Neben Maßnahmen zur Beendigung von Zwangsarbeit, Sklaverei und Menschenhandel sollen vor allem für junge Leute, Frauen und Menschen mit Behinderung gleichberechtigte Beschäftigungsverhältnisse geöffnet werden. Darüber hinaus sollen die Arbeitnehmerrechte weltweit gestärkt werden. Wirtschaftswachstum und negative Umweltauswirkungen gilt es dabei nach Möglichkeit zu entkoppeln. Symrise hat als weltweit tätiges Unternehmen großen Einfluss auf die Arbeitsbedingungen seiner eigenen Mitarbeiter. Darüber hinaus kann es auch bei seinen Partnern und Zulieferern entlang der gesamten Wertschöpfungskette einen direkten Beitrag zu einem menschenwürdigen Wirtschaftswachstum leisten.

362

C. Witter und F.-W. Micus

4.2.2 S  DG 12: Verantwortungsvoller Konsum und nachhaltige Produktion SDG 12 will verantwortungsvollen Konsum und nachhaltige Produktionskreisläufe erreichen. Darunter fallen nachhaltiges Management und die effiziente Nutzung natürlicher Ressourcen. Die Verringerung von Lebensmittelabfällen, die umweltgerechte Verwendung von Chemikalien und das Minimieren deren nachteiliger Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und Umwelt zählen ebenfalls dazu. Genauso wie das Reduzieren der Abfallmenge durch Vermeidung, Verringerung, Recycling und Wiederverwendung. Die Interessen von Symrise sind aufs Engste mit diesen Zielen verknüpft. Schließlich liegt unser Kerngeschäft darin, die menschlichen Grundbedürfnisse nach Gesundheit, Ernährung und Wohlbefinden zu erfüllen. Über die nachhaltige und effiziente Nutzung natürlicher Ressourcen für unsere Produkte und Prozesse haben wir hier direkte Einflussmöglichkeiten. 4.2.3 SDG 13: Maßnahmen zum Klimaschutz SDG 13 beschreibt Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen. Über internationale politische Rahmenwerke und Zielkorridore zum Klimaschutz hinaus, liegt ein Schwerpunkt für Unternehmen auf der Implementierung konkreter Klimaschutzmaßnahmen in ihre jeweiligen unternehmerischen Strategien und Planungen vor Ort. Hier hat Symrise als produzierendes Unternehmen einer energieintensiven Branche eine besondere Verantwortung und Hebelwirkung über seine eigenen Standorte hinaus. Etwa durch die Verpflichtung zu weitsichtigen Klimazielen oder konkreten CO2­Einsparquoten. 4.2.4 SDG 14 und 15: Biodiversität SDG 14 und 15 zielen auf den Schutz natürlicher Lebensräume an Land sowie unter Wasser. Darunter fallen die Erhaltung, nachhaltige Nutzung und Wiederherstellung der Ozeane und Süßwasserökosysteme, der Wälder, Berge, Feucht­und Trockengebiete und ihrer natürlichen Ressourcen und Ökosystemleistungen. All das ist für unsere Rohstoffversorgung essenziell. Neben dem Schutz der Biodiversität und der nachhaltigen Nutzung der natürlichen Rohstoffe ist ein geregelter Zugang zu genetischen Ressourcen entscheidend. Um den Erhalt der Artenvielfalt und die ökologische Integrität der globalen Ökosysteme sicherzustellen, ist zudem eine gerechte Verteilung der aus ihrer Nutzung entstehenden Vorteile mit den Ursprungsländern zentral. Aus diesem Grund fahnden wir laufend nach Einflussmöglichkeiten, um unser Geschäftsmodell in Einklang mit der Umsetzung internationaler Biodiversitätsziele zu bringen. 4.2.5 SDG 17: Partnerschaften zur Erreichung der Ziele SDG 17 beschreibt die Notwendigkeit globaler Partnerschaften, Multi­ Stakeholder­ Initiativen und Kooperationen zum Austausch von Wissen, Technologie und Finanzmitteln, damit die globalen Nachhaltigkeitsziele erreicht werden.

Nachhaltiger Unternehmenserfolg am Beispiel von Symrise

363

Der Wissenstransfer und die Synergien zwischen dem eigenen Unternehmen und NGOs, Lieferanten, politischen Institutionen und Partnern vor Ort sind Grundlage der Geschäftstätigkeit von Symrise und somit aller Beiträge des Unternehmens zu den SDGs. Auf die konkreten Partnerschaften wird im Folgenden beim jeweiligen thematisch passenden SDG verwiesen.

4.3 4.3.1

Konkrete Schritte mit Fokus Partnerschaft SDG 8 Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum

Unser Anspruch Symrise strebt nach bestmöglichen, gleichberechtigten und sicheren Arbeitsbedingungen für unsere Mitarbeiter und Lieferanten sowie deren Beschäftigte – und dies entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Die Entlohnung unabhängig vom Geschlecht ist für uns selbstverständlich. Es ist unser erklärtes Ziel, den Anteil von Frauen auf der ersten, globalen Führungsebene unterhalb des Vorstands bis 2025 auf mindestens 20 Prozent zu steigern. Auf der zweiten, globalen Führungsebene soll er bis dahin mindestens 25 Prozent betragen. Und auch das ist für uns selbstverständlich: Wir zahlen Steuern dort, wo wir wertschöpfend tätig sind. Dadurch tragen wir dazu bei, dass staatliche und kommunale Investitionen in Infrastruktur und das Gemeinwohl vor Ort möglich sind. Bis 2025 streben wir eine globale Steuerquote von überdurchschnittlichen 26 bis 28 Prozent an. Wie wir uns engagieren, um zu SDG 8 beizutragen Die Unternehmensstrategie von Symrise beruht auf den drei Pfeilern Wachstum, Effizienz und Portfolio. Nachhaltigkeit spielt dabei eine entscheidende Rolle: Wir integrieren sie auf allen unseren Ebenen, um den Unternehmenswert dauerhaft zu steigern und Risiken zu minimieren. Qualifikation – wir fördern unsere Mitarbeiter Verantwortungsvolle Personalpolitik ist integraler Teil unserer Unternehmenskultur. Dazu gehören Qualifikation und Weiterbildung unserer Mitarbeiter genauso, wie die Förderung von Vielfalt in der Belegschaft und die Vereinbarkeit von Berufs­und Privatleben. Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit – das ist unser Grundsatz Im Jahr 2018 haben wir an unseren großen Standorten eine geschlechtsspezifische Analyse der Entgelte von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen vorgenommen. Am Beispiel ­unseres Standortes Deutschland mit den meisten Mitarbeitern zeigt sich, dass die durchschnittliche Vergütung der Frauen von der durchschnittlichen Entlohnung der Männer statistisch nicht signifikant abweicht. Dabei haben wir die persönliche Entscheidung jedes einzelnen, in Teilzeit zu arbeiten, rechnerisch bereinigt. Die verbleibenden, nicht

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signifikanten Unterschiede beruhen auf produktionsspezifischen Entgeltbestandteilen wie Erschwerniszulagen, auf tätigkeitsbezogenen Entgelten wie Vorarbeiter­oder Meisterzulagen oder sind durch unterschiedliche, tarifliche Entgeltniveaus für kaufmännische oder technische Berufe vorgegeben. Internationale Standards und ein eigener Code of Conduct – daran halten wir uns Unser Integriertes Managementsystem beruht auf den Vorgaben der konzernweit verbindlichen Norm Social Accountability 8000 (SA 8000). Sie basiert auf den Konventionen der International Labour Organization (ILO), der Universal Declaration of Human Rights sowie der UN-Konvention für Kinderrechte. Humane Arbeitspraktiken, eine menschenwürdige Beschäftigung und die Berücksichtigung sozialer Aspekte der Beschäftigung sind Grundlagen für unser Handeln an jedem Standort. Auch von unseren Lieferanten und Geschäftspartnern fordern wir die Wahrung der allgemeinen Menschenrechte. Bevor ein neuer Lieferant oder Geschäftspartner aufgenommen wird, muss er uns die schriftliche Bestätigung zum Erhalt und der Einhaltung der Vorgaben des Symrise Code of Conduct vorlegen. Die internationale Plattform der Supplier Ethical Data Exchange (SEDEX) ist ein wertvolles Werkzeug, mit dem wir Lieferanten leichter beurteilen und unsere eigenen Daten gegenüber Kunden offenlegen können. Seit 2006 veröffentlichen wir auf der Plattform Informationen zu Menschenrechten, Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechten. Darunter auch Daten zu den Themen Gesundheit und Sicherheit, Umwelt und ethische Geschäftspraktiken. Seit 2012 haben wir unsere wichtigsten Lieferanten dazu aufgefordert, sich bei SEDEX zu registrieren und ihre Daten dort offenzulegen, damit wir eine Bewertung vornehmen können. Stellen wir fest, dass ein Lieferant ein besonders ausgeprägtes Risiko mitbringt, mit kritischen Rohstoffen arbeitet oder wenn durch die Bewertung Probleme offenkundig geworden sind, führen wir selbst Audits durch oder beauftragen unabhängige Unternehmen damit, sie durchzuführen. Der von uns gelebte Ansatz der Rückwärtsintegration unserer Zulieferer ermöglicht uns darüber hinaus, auf die Einhaltung unserer Vorgaben direkt Einfluss zu nehmen. Förderung der Gemeinschaft – das hat Priorität Zudem konzentrieren wir uns auf den Aufbau starker Gemeinschaften vor Ort, um langfristig stabile Lieferketten und damit ein sicheres und starkes Wachstum zu ermöglichen. Im Rahmen unserer Wachstumsstrategie kooperieren wir dabei mit Gemeinschaften in Schwellenländern und fördern wichtige Entwicklungen, die Vorteile für alle Stakeholder mit sich bringen. Partnerschaften – weil wir zusammen mehr schaffen. Wie gemeinsam mit unseren Partnern zu SD (8 beitrage) Zusammen mit unseren Partnern vor Ort übernehmen wir langfristig Verantwortung für alle Mitarbeiter in den mit uns verbundenen Gemeinschaften und bringen uns in sozialen Projekten ein. In einem mehrjährigen Projekt fördern wir beispielsweise die nachhaltige

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Bewirtschaftung des Amazonasgebiets. Unsere Partner dabei sind der brasilianische Kosmetikhersteller „Natura“ und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Ziel dieses Projektes ist neben dem Schutz des dortigen Regenwaldes auch eine deutlich verbesserte Wertschöpfung für die lokalen Bauern und Kooperativen. Auch auf Madagaskar hat sich das vereinte Engagement mit Partnern bewährt. Dort arbeiten wir seit Jahren mit internationalen Kooperationspartnern und NGOs wie UNICEF, der GIZ oder Save the Children zusammen. Unsere Projekte sind dabei höchst unterschiedlich. Wir unterstützen die lokalen Vanille-Bauern beispielsweise bei der Verbesserung der Anbaumethoden. Wir sorgen außerdem für den Zugang zu fairen Finanzdienstleistungen oder Gesundheitsprogrammen. Dazu gehören etwa kostenlose Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Was wir bis jetzt erreicht haben: der Status Quo beim SGD 8 • 2018 betrug unsere globale Steuerquote 28,1 Prozent. Damit liegen wir deutlich über dem durchschnittlichen effektiven Steuersatz für Unternehmen in Deutschland. • Von 9694 Mitarbeitern (Vorjahr: 9387) waren 2018 3806 weiblich. Dies entspricht einem Anteil von 39,3 Prozent. 2017 lag er bei 38,7 Prozent. Und wir sind auf gutem Wege, unsere selbst gesetzten Ziele beim Frauenanteil auf den oberen Führungsebenen bis 2025 zu erreichen. 2018 waren 27 Prozent der Positionen auf der ersten Führungsebene mit Frauen besetzt. 2017 betrug ihr Anteil lediglich 21 Prozent. Auf der zweiten Führungsebene lag der Frauenanteil bei 42 Prozent (2017: 44 Prozent). • Darüber hinaus existieren aktuell bei Symrise keinerlei Hinweise auf eine geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung weiblicher und männlicher Mitarbeiter. Entgeltunterschiede können sich jedoch aus der Art der Tätigkeit und den entsprechenden Zulagen ergeben – wie zum Beispiel bei der Schichtarbeit durch die entsprechende Vergütung. • Bei unser letzten großen Mitarbeiterbefragung im Jahr 2016 nahmen etwa 5400 unserer Mitarbeiter teil. Dies entspricht einer Quote von 80 Prozent in den beteiligten Ländern. Das positive Feedback war überwältigend: 90 Prozent waren sehr zufrieden oder zufrieden mit ihrer Arbeit. 95 Prozent gaben an, dass sie ihre aktuelle Stelle ohne zu zögern erneut antreten würden. Dieses positive Bild von Symrise als Arbeitgeber wurde auch im Jahr 2018 durch die Auszeichnung als Top­Arbeitgeber Deutschlands bestätigt – das Unternehmen belegte den achten Platz in der Chemie­und Pharmabranche.

4.3.2 S  DG 12 Verantwortungsvoller Konsum und nachhaltige Produktion Unser Anspruch Das Produktspektrum von Symrise umfasst rund 30.000 Produkte, die in 160 Ländern eingesetzt werden. Für uns besteht die Herausforderung darin, Produkte zu entwickeln, die den unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen von Konsumenten entsprechen und gleichzeitig nachhaltigen Mehrwert für unsere Kunden und die Gesellschaft schaffen können. Deswegen erarbeiten wir für jede strategische Produktgruppe ein individuelles

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Nachhaltigkeitskonzept. So gelingt es uns, den positiven Nutzen unsere Produkte zu steigern und ihren Fußabdruck zu verringern. Diesen Ansatz verfolgen wir auch bei Neuentwicklung  – bis 2025 wollen wir mehr als zwölf Prozent unseres Umsatzes mit neuen Produkten generieren. Für eine nachhaltige Produktion haben wir uns entsprechende Ziele in den Bereichen gesetzt, wo wir den größten Einfluss haben: Bis 2025 wollen wir unsere spezifischen CO2-Emissionen gegenüber 2016 um 50 Prozent senken sowie den chemischen Sauerstoffbedarf im Wasser und unsere sensitiven Abfälle um jeweils 60 Prozent gegenüber 2010 verringern. Wie wir uns engagieren, um wirkungsvoll zu SDG 12 beizutragen Innovation ist einer der wesentlichen Treiber für Nachhaltigkeit bei Symrise. Auf Basis spezifischer Indikatoren, die am Konzept der „Planetary Boundaries“ ausgerichtet sind, überprüfen wir seit 2012 unsere Produkte und Projekte hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeitsleistung. Neues Produktdesign, Grüne Chemie, innovative Technologien – für laufend mehr Nachhaltigkeit Ein zentraler Baustein für effiziente Prozesse und umweltfreundliche Produkte ist die systematische Anwendung unseres Green Chemistry-Ansatzes: Wir entwickeln bestehende Produkte kontinuierlich weiter und konzentrieren uns zusätzlich auf Prozessredesign und die völlige Neugestaltung von Prozessen durch Grüne Chemie und innovative Technologien. So entwickeln wir beispielsweise eigene Technologien wie unser patentiertes SymTrap® Verfahren. Damit können wir geschmacksaktive Komponenten vollständig aus den Seitenströmen der Rohstoffverarbeitung herauslösen – und so eine maximale und gleichzeitig energiesparende Ressourcenausbeute erzielen. So kann etwa aus der Heidelbeere ein Inhaltsstoff für Augen- und Darmgesundheit auf 25 Prozent erhöht werden, der in der Natur nur 0,5 Prozent beträgt. Messen und erfassen – so können wir Verfahren und Produkte laufend verbessern Darüber hinaus haben wir ein Bewertungssystem entwickelt, das uns ermöglicht, für jedes Produkt den spezifischen Nachhaltigkeitsimpact auszuweisen – zum Beispiel hinsichtlich Energieeinsatz, CO2-Ausstoß oder Wasserverbrauch. So können wir – aber genauso unsere Kunden – noch gezielter Einfluss auf die Produktentwicklung nehmen und das jeweilige Endprodukt nachhaltig optimieren. Übrigens: Unsere Analyse und Bewertungsmethode wurden durch eine externe Prüfung validiert. Nebenprodukte und nachwachsende Rohstoffe einsetzen – so schonen wir Ressourcen Der effiziente Einsatz und die Einsparung von natürlichen Ressourcen ist bei allen unseren Produktinnovationen entscheidend – sowohl für die Nachhaltigkeit als auch für die Profit­

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abilität von Symrise. So arbeiten wir mit Erfolg daran, geeignete Seitenströme aus der land- und forstwirtschaftlichen Produktion oder der Nahrungsmittelherstellung wertschöpfend einzusetzen. Dabei werden auch biotechnologische Ansätze und neue physikalische Trenntechnologien geprüft. Zu den wichtigsten Rohstoffen zur Herstellung von Duftstoffen aus natürlichen und erneuerbaren Quellen zählen beispielsweise Rohsulfat-­ Terpentin, ein Nebenprodukt aus der Zellstoff- und Papierindustrie, und D-Limonen, ein Nebenprodukt aus der Zitrusindustrie. Mit Blick auf nachwachsende Rohstoffe rückt außerdem die Ressource Holz verstärkt in den Fokus. Ein innovatives Produktbeispiel ist der SymroxaneTM: Der neuartige Duftstoff wird mittels chemischer Reaktionen aus einem Bestandteil des Baumharzes der asiatischen Kiefer hergestellt und ist seit Juni 2019 auf dem Markt. 91 Prozent der C-Atome in einem Molekül werden dabei aus nachwachsenden Ressourcen gewonnen. Weitere Beispiele sind bereits bestehende Produkte aus der Zwiebel, für die die gesamte Prozesskette von der Sortenauswahl über den landwirtschaftlichen Anbau bis hin zur Verarbeitung und Abfallvermeidung neu betrachtet wurde. Eine solche radikale Vorgehensweise bringt wegweisende Möglichkeiten: So werden Nebenprodukte eliminiert, die Rohstoffeffizienz gesteigert und der ökologische Fußabdruck unserer Produkte erheblich reduziert. Partnerschaften – weil wir zusammen mehr schaffen. Wie wir SDG 12 zusammen mit unseren Partnern umsetzen Um nachhaltige Innovationen zu entwickeln, braucht es einen frischen Blick auf die Dinge und eine Kooperation über die Grenzen der eigenen Branche hinaus. Deshalb arbeiten wir in den unterschiedlichsten Bereichen mit öffentlichen Forschungseinrichtungen und spezialisierten Partnerunternehmen zusammen. Seit 2016 kooperieren wir mit mehreren Universitäten und Forschungsinstituten in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt. Zusammen erforschen wir die Pflanzenzüchtung für die Bioökonomie. Durch das wissenschaftliche Projekt werden unter anderem Nahrungsmittelnebenströme bei der Rapsverarbeitung erkundet und bewertet, die als Verarbeitung in Getränken und Lebensmitteln einen Ersatz für tierische Proteinquellen darstellen können. Ein anderes Beispiel ist die Zusammenarbeit mit einem italienischen Biotechnologieunternehmen bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe zur Behandlung von fettiger Haut aus nachhaltigen Rohstoffquellen. Als erstes Produkt aus dieser Zusammenarbeit wurde 2018 „SymControlTM Care“, das aus einer marinen Mikroalge stammt, von Symrise weltweit eingeführt. Weitere Produkte aus nachhaltigen Quellen mit ergänzendem Wirksamkeitsprofil befinden sich in der Entwicklung. Im Bereich Oral Care erforschen wir seit 2015 gemeinsam mit europäischen Universitäten die positiven Auswirkungen von Probiotika auf die Mundhygiene und entwickeln verschiedene Lösungen für Mundpflegeanwendungen. Unsere Probiotika stellen dabei natürliche, wirksame und nachhaltige Inhaltsstoffe dar und sind selbst nachwachsende Rohstoffe.

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Was wir bis jetzt erreicht haben: Status quo beim SDG 12 • Im Jahr 2018 haben wir 200 Millionen Euro in Forschung und Entwicklung investiert. Zum Vergleich: 2017 waren es 196 Millionen Euro. Mit 1728 Mitarbeitern waren rund 70 Kolleginnen und Kollegen mehr im Berichtsjahr in diesem Bereich beschäftigt als im Vorjahr. • Insgesamt reichten sie 60 Patente ein – 2017 betrug die Zahl 42. • Mit 17,1 Prozent Umsatz aus neuen Produktentwicklungen haben wir unseren Zielwert von zwölf Prozent für 2025 bereits zum wiederholten Mal übertroffen (2017: 15,9 Prozent). • Seit 2010 haben wir die Ökoeffizienz um 45 Prozent bei den CO2-Emissionen gesteigert, beim chemischen Sauerstoffbedarf um 71 Prozent, sowie 47 Prozent bei den sensitiven Abfällen. Damit befinden wir uns auf gutem Wege, um unsere für 2025 gesetzten Ziele zu erreichen. Mit der von uns entwickelten Product Sustainability Scorecard lassen sich die Auswirkungen jedes einzelnen Inhaltsstoffs unserer Produkte entlang der Wertschöpfungskette erfassen. Dadurch erleichtern wir unseren Kunden den Vergleich mit anderen verfügbaren Alternativen und helfen ihnen dabei, den umweltfreundlichsten Weg zu wählen.

4.3.3 SDG 13 Maßnahmen zum Klimaschutz Unser Anspruch Symrise will seinen Fußabdruck entlang der gesamten Wertschöpfungskette minimieren. Dazu hat sich unser Unternehmen verpflichtet. Unser Ziel ist, die Treibhausgasemissionen bezogen auf die Wertschöpfung bis 2025 um 50 Prozent zu reduzieren. Basisjahr ist dabei 2016. Unsere Zulieferer, die Rohstoffe von mindestens 80 Prozent des gesamten Einkaufsvolumens liefern, verpflichten wir außerdem, sich bis spätestens 2020 zu eigenen Klimazielen und Reduktionsmaßnahmen zu bekennen. Unser erklärtes Ziel: Bis 2050 wollen wir klimapositiv sein – unter anderem durch den Einkauf umweltfreundlicher Energien sowie die Weiterleitung überschüssiger Energie an die lokalen Gemeinschaften vor Ort. Wie wir uns engagieren, um wirkungsvoll zu SDG 13 beizutragen Unsere Klimaschutzziele bauen auf vier Schlüsselbereichen auf: der Schonung wertvoller Ressourcen, der effizienten Beschaffung von Rohstoffen, dem Schutz von Biodiversität und Ökosystemen sowie dem Bau absolut umweltfreundlicher Produktionsstätten. Wachstum und Umweltauswirkungen entkoppeln – daran arbeiten wir Im Jahr 2018 haben wir uns darauf konzentriert, unser dynamisches Wachstum in den verschiedenen Anwendungsbereichen von seinen möglichen Umweltauswirkungen zu entkoppeln. So haben wir unsere Energiebilanz in Schwerpunktbereichen durch zusätzliche Maßnahmen noch weiter optimiert und im Rahmen der Total Productive Maintenance einen stärkeren Fokus auf die Reduzierung von Klima- und Gewässeremissionen gelegt.

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Unsere Fortschritte im Bereich Ressourcenschonung und Emissionsreduzierung dokumentieren wir unter anderem durch die Teilnahme an der unabhängigen Investoreninitiative CDP (Abb. 2). Wir setzen uns ehrgeizige Ziele – und lassen uns regelmäßig daran messen Unsere Produktionsstandorte mit den stärksten potenziellen Umweltauswirkungen befinden sich dabei entweder in Ländern mit strenger Umweltregulierung und/oder besitzen zusätzlich ein nach ISO 14001 zertifiziertes Umweltmanagementsystem. Außerdem werden als Mindeststandard die Anforderungen von SMETA 4 Pillar eingehalten und regelmäßig extern verifiziert. Alle deutschen Standorte verfügen darüber hinaus über ein nach ISO 50001 zertifiziertes Energiemanagementsystem.

Abb. 2  SYM Anwendungsbereiche

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Als eines von derzeit weltweit 513 Unternehmen unterstützt Symrise seit 2018 die Empfehlungen der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD). Die Task Force setzt sich dafür ein, dass Unternehmen den finanziellen Einfluss des Klimawandels auf ihr Unternehmen in ihren Geschäftsberichten offenlegen. Die Firmen teilen dabei Informationen zu ihrer Governance, zu den Auswirkungen auf Geschäftstätigkeit und Strategie sowie zum Chancen- und Risikomanagement mit und verfolgen ihre Ziele auf Basis vorgegebener Kennzahlen. Dabei liegt der Schwerpunkt der Empfehlungen auf den Chancen und Risiken, die sich aus dem Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft ergeben. Die TCFD empfiehlt außerdem, mögliche Auswirkungen zu erläutern, die sich aus klimabezogenen Risiken anhand verschiedener Szenarien, wie beispielsweise einer globalen Erwärmung um zwei Grad Celsius, ergeben können. Symrise befürwortet die Ziele der Initiative und kommuniziert bereits zahlreiche Klimadaten in den jährlich veröffentlichten Unternehmensberichten sowie im Rahmen des CDP Climate Change. Partnerschaften – weil wir gemeinsam mehr schaffen. Wie wir gemeinsam mit unseren Partnern zu SDG 13 beitragen Der Klimawandel macht nicht vor nationalen Grenzen halt. Symrise hat das Potenzial internationaler und branchenübergreifender Kooperationen für Maßnahmen zum Klimaschutz erkannt – beispielhaft hierfür stehen die Unterstützung des TCFD oder die jährliche Teilnahme am CDP.  Mit der AfB gGmbH haben wir 2018 darüber hinaus eine Partnerschaft zur Wiederverwendung unserer IT-Altgeräte für Deutschland geschlossen. Diese werden in den Inklusionswerkstätten der AfB bereinigt, aufbereitet und wieder vermarktet. Neben der Förderung von Menschen mit Behinderung steht hierbei insbesondere der Ressourcen- und Klimaschutz im Mittelpunkt. Insgesamt konnten 95 Prozent unserer Geräte wieder in den Umlauf gebracht werden, so dass im Vergleich zur Herstellung und Nutzung neuer Geräte etwa acht Tonnen CO2 eingespart wurden. Was wir bis jetzt erreicht haben: Status quo beim SDG 13 • Im Jahr 2018 gelang es Symrise, die spezifischen CO2-Emissionen (Scope 1 und 2) im Vergleich zu 2017 um drei Prozent zu reduzieren. Zur besseren Einordnung: Von 2010 bis 2017 waren es 42 Prozent. • 2018 überzeugte Symrise abermals im CDP Rating (ehemals Carbon Disclosure Project). Trotz erheblich gestiegener Anforderungen an die CDP Rating-Teilnehmer gehörte Symrise mit der Bewertung „A-“ auch in diesem Jahr wieder in der Kategorie Klima wie auch in der Kategorie Wald zur Spitzengruppe. Auch in der Kategorie Wasser erreichte Symrise mit der sehr guten Benotung „B“ eine Position weit vor anderen namhaften Firmen. • Symrise war das erste Unternehmen der Branche, dessen Klimastrategie von der Science Based Target Initiative genehmigt wurde. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Unternehmen unter Leitung des Carbon Disclosure Project, des

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World Resources Institute, des Worldwide Fund for Nature (WWF) und des United Nations Global Compact. Wir tragen aktiv dazu bei, die Erderwärmung auf unter zwei Grad Celsius zu begrenzen. • Symrise nimmt in Deutschland eine Vorreiterrolle in Sachen Klimaschutz ein und handelt konform mit den Beschlüssen der UN-Klimakonferenzen COP 21  in Paris und COP 22 in Marrakesch.

4.3.4 SDG 14 und 15 Schutz der Biodiversität Unser Anspruch Die globale Artenvielfalt ist für Symrise Quelle von Inspiration und natürlichen Rohstoffen. Ohne sie ist unser Geschäft nicht denkbar: Biodiversität ist für uns die Grundlage, um stetig neue Aromen und Düfte zu kreieren. Die Bewahrung der Artenvielfalt weltweit ist daher essenzielles Anliegen von Symrise. Wir haben uns verschiedene konkrete Ziele gesetzt, die zu ihrem Schutz beitragen: Darunter fällt unter anderem die Entwicklung von auf Biodiversität basierenden, innovativen Rohstoffen in unseren regionalen Niederlassungen auf Madagaskar und in Brasilien. Bis 2020 wollen wir die komplette Integration unserer Forschungsabteilung in Übereinstimmung mit den internationalen Regelungen zu biodiversitätsbasierten Innovationen geschafft haben. Bis 2025 sollen sämtliche unserer Hauptlieferanten nach Nachhaltigkeitskriterien bewertet worden sein. Denn schließlich möchten wir dann 100 Prozent unserer strategischen landwirtschaftlichen und aquakulturellen Rohstoffe nachhaltig beziehen. Wie wir uns engagieren, um wirkungsvoll zu SDG 14 und 15 beizutragen Mit der Unterzeichnung des Business & Biodiversity Pledges der UN- Konvention zur Biologischen Vielfalt haben wir uns im Jahr 2017 – ergänzend zu unserer bereits 2014 veröffentlichten Biodiversitätsagenda – zur Umsetzung eines betrieblichen Biodiversitätsmanagements bekannt. Dies soll dazu beitragen, die Kernziele der UN-Biodiversitätskonvention wirksam zu unterstützen. Dazu gehören der Erhalt der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile sowie die gerechte Aufteilung der aus der Nutzung der Biodiversität resultierenden Vorteile mit den Ursprungsländern. Klare Kriterien schaffen Transparenz – wir halten uns daran Um den Erhalt und die nachhaltige Nutzung von Anbausystemen zu stärken ist Symrise bereits 2016 der Sustainable Agriculture Initiative (SAI) beigetreten. Auf der Plattform haben sich 90 der wichtigsten Lebensmittelhersteller und -zulieferer der Welt organisiert. Anbauer und Rohstofflieferanten, mit denen wir zusammenarbeiten, sollen bestimmte Kriterien erfüllen, wenn es um die Wasser- und Landnutzung, die Düngung und den Pflanzenschutz geht. Die SAI hat dazu Kriterien, die eine gute fachliche Praxis beschreiben, sowie das „Farm Sustainability Assessment“ entwickelt. Dabei handelt es sich um ein einfach zu nutzendes Werkzeug, mit dem die Erfüllung der Kriterien bewertet werden kann. Der Vorteil für die beteiligten Unternehmen: Die Zulieferer bis hin zu den einzelnen Erzeugern lassen sich einfach und unabhängig miteinander vergleichen.

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Kooperationen mit Landwirten schützen Artenvielfalt – wir leben sie In Deutschland hat Symrise das „Farm Sustainability Assessment“ mit Zwiebelbauern umgesetzt. Dabei schauen wir uns gemeinsam die Produktion und die landwirtschaftlichen Techniken an und erheben danach die Daten. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen steht dabei stets ein partnerschaftlicher Ansatz, bei dem wir gemeinsam mit Landwirten oder anderen Partnern nach geeigneten Lösungen suchen, wie beispielsweise beim nachhaltigen Anbau von Lavendel in Frankreich oder Patschuli in Indonesien. Unternehmen wie wir können so Rohstoffe finden und als nachhaltig qualifizieren und damit Anforderungen der Kunden erfüllen. Zertifizierte Zulieferer – darauf legen wir Wert Für verschiedene Anwendungsbereiche ist auch das Thema der nachhaltigen Forstwirtschaft für uns relevant. Viele unserer Lieferanten sind bereits durch das Forest Stewardship Council und/oder die Sustainable Forest Initiative zertifiziert. Durch unsere Teilnahme am „CDP Forest Program“ können wir unsere Fortschritte und Ansätze transparenter machen. Unsere beiden nordamerikanischen Standorte in Jacksonville, Florida, und Colonel’s Island, Georgia, haben eine Zertifizierung des Forest Stewardship Council erhalten. Gesünderes Füttern in Aqua-Farmen – schafft bessere Lebensbedingungen Durch verschiedene Umweltziele entlang der gesamten Wertschöpfungskette tragen wir außerdem dazu bei, dass Ozeane und Meere und deren Biodiversität erhalten bleiben. Symrise hat beispielsweise einen umweltschonenderen Ansatz zur Ernährung der Fische in den Aqua-Farmen mit gesünderem Futter entwickelt. Es wird leichter von den Tieren aufgenommen, führt zu besserem Wachstum und geringerer Sterberate. Das neue Futter hat zudem eine höhere Aufnahmequote und ist besser verträglich, sodass weniger Sedimente entstehen. Nachhaltiges Wirtschaften und gerechte Verteilung der Vorteile – das ist überall im Unternehmen verankert Im Bereich der biobasierten Forschung und Entwicklung haben wir bei Symrise zudem betriebliche Regelungen, Governance-Strukturen, Prozesse und Maßnahmen zur geschäftsbereichsübergreifenden Implementierung der Kriterien des Nagoya Protokolls in allen relevanten Funktionsbereichen entwickelt. Dadurch stellen wir sicher, dass der Bezug und die Erforschung biobasierter Rohstoffe in Einklang mit internationalen Vorgaben und nationalen Regelwerken zum „Access und Benefit Sharing“ erfolgt – dem dritten Kernziel der UN Biodiversitätskonvention. Durch die gerechte Verteilung von Vorteilen aus der Nutzung genetischer Ressourcen leistet Symrise wirksame Beiträge zum Erhalt der Biodiversität sowie zur Förderung lokaler Gemeinschaften in den Ursprungsländern unserer natürlichen Rohstoffe, wie zum Beispiel in Brasilien und auf Madagaskar.

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Partnerschaften – weil wir gemeinsam mehr schaffen. Wie wir gemeinsam mit unseren Partnern zu SDG 14 und SDG 15 beitragen Symrise will die Biodiversität schützen und hat zusammen mit 17 anderen Unternehmen im Herbst 2019 in New York das Bündnis „One Planet Business for Biodiversity“ (OP2B) ins Leben gerufen. Neben den 18 Konzernen engagiert sich auch der World Business Council for Sustainable Development (WBCSD). Dabei liegt der Fokus der neuen Allianz auf der Landwirtschaft. Das weltweite Ernährungs- und Landwirtschaftssystem ist für 30 Prozent der von Menschen gemachten Kohlendioxidemissionen, 70 Prozent des Trinkwasserverbrauchs und 60 Prozent des weltweiten Verlusts an Biodiversität verantwortlich. Deshalb hat sich das branchenübergreifende Bündnis OP2B das Ziel gesetzt, alternative landwirtschaftliche Methoden zu entwickeln, durch die Biodiversität geschützt und gefördert wird. Diese sollen zum Beispiel dazu beitragen, dass Pflanzen Kohlendioxid besser in der Erde speichern und Böden mehr Wasser aufnehmen können. Zudem soll die Widerstandsfähigkeit der Vegetation verbessert und die Abhängigkeit von künstlichen Wirkstoffen verringert werden. Außerdem wollen die Partner, dass Nahrungsmittelhersteller ihr Sortiment vielfältiger gestalten. So ist unter anderem geplant, die Anzahl der Zutaten zu erweitern, um so die genetische Vielfalt der Pflanzen zu erhalten. Zudem haben die Firmen vor, Strategien zum Schutz bedrohter Ökosysteme wie Wälder, Sumpfgebiete und Grasland sowie Wiesen zu entwickeln, da diese besonders reich an Biodiversität sind. Diese drei Ziele will das Bündnis bis 2030 erreichen. Beim Thema Biodiversität sowie dem Schutz der Meere und Ozeane arbeitet Symrise seit jeher in unterschiedlichsten Initiativen, Roundtables und Kooperationen mit (Nicht-) Regierungsorganisationen und öffentlichen Einrichtungen zusammen und nutzt deren Expertise und Kenntnisse der Gemeinschaften vor Ort. Dies gilt für die Implementierung der UN-Biodiversity Pledge ebenso wie in der SAI oder für den wiederholten Projektpartner GIZ auf Madagaskar oder im Amazonasgebiet. 2018 setzte sich Symrise außerdem in Kooperation mit dem Forschungsinstitut CRIEPPAM für den nachhaltigen Anbau von ­Lavendel in Frankreich sowie gemeinsam mit dem Zulieferer Van Aroma für den umweltschonenden Anbau von Patschuli in Indonesien ein. Als erstes Unternehmen seiner Branche hat Symrise 2018 das Verfahren zur Aufnahme als vollwertiges Mitglied der Union for Ethical BioTrade (UEBT) erfolgreich durchlaufen. Damit setzen wir einen weiteren Meilenstein zur Umsetzung internationaler Biodiversitätsziele auf Unternehmensebene. Gleichzeitig sollen so faire Arbeitsbedingungen sowie das Einhalten der Menschenrechte gefördert werden. Was wir bis jetzt erreicht haben: Der Status quo bei den SDGS 14 und 15 • Bezogen auf das Einkaufsvolumen waren Ende 2018 bereits 90 Prozent der Hauptlieferanten von Symrise nach Nachhaltigkeitskriterien bewertet. • Darüber hinaus haben wir damit begonnen, den Anteil unserer nachhaltig bezogenen strategischen landwirtschaftlichen und aquakulturellen Rohstoffe auf 100 Prozent bis 2025 zu erhöhen.

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• 2018 konnten wir 98 Prozent unserer Produktionsstandorte nach Nachhaltigkeitskriterien überprüfen. • Als erster Hersteller von Duft- und Geschmacksstoffen haben wir im Berichtsjahr 2018 darüber hinaus die Zertifizierung des Forest Stewardship Council® (FSC) für unsere aus forstwirtschaftlicher Produktion stammenden Seitenströme erhalten. Trotz erheblich gestiegener Anforderungen an die CDP Rating Teilnehmer gehörte Symrise zudem auch in diesem Jahr erneut mit der Bewertung „A-“ in der Kategorie Wald zur Spitzengruppe.

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 azit: Komplementarität von Nachhaltigkeit und F wirtschaftlichem Erfolg

Wir bei Symrise sind überzeugt: Nachhaltigkeit braucht nicht nur ein klares Bekenntnis – sie braucht gelebte Praxis. Wie dieser Beitrag zeigt, sind bei Symrise Verantwortung und Nachhaltigkeit in alle Prozesse integriert. Sie sind Bestandteil aller Entscheidungen, die im Unternehmen getroffen werden. Bei der Konzeption des neuen Logistikzentrums am Stammsitz in Holzminden genauso wie bei der Förderung unserer Mitarbeiter, den Partnerschaften mit unseren Lieferanten oder der Entwicklung eines neuen Verfahrens oder Produkts. Und die bisherige geschäftliche Entwicklung unseres Unternehmens bestätigt unser Handeln: Nachhaltigkeit lässt sich mit wirtschaftlichem Erfolg verknüpfen – und das mit besten Ergebnissen. Wir setzen alles daran, damit es so bleibt.

Christina Witter,  kommuniziert seit 2010 für die Symrise AG. Sie ist zuständig für die konzernweite Presse- und Medienarbeit in Fachund Publikumsmedien. Ergänzend unterstützt sie die Kommunikation in den Branchenverbänden der Industrie – DVAI, DVRH, EFFA, IFRA, IOFI.  Davor begleitete sie unterschiedliche Positionen in Presse- und Öffentlichkeitsarbeit auf Unternehmens- und Agenturseite. Christina Witter studierte ­angewandte Sprachwissenschaften an der Universität Leipzig und hat einen Abschluss als Diplom-­ Dolmetscherin.

Friedrich-Wilhelm Micus,  Seit 2015 verantwortet Friedrich Wilhelm Micus die Nachhaltigkeitskommunikation und Unternehmensberichterstattung im Symrise Konzern und kommuniziert die Nachhaltigkeitsstrategie von Symrise in den unternehmensweiten internen und auch externen Medien. Davor verantwortete er vier Jahre die globale interne Kommunikation der Symrise AG.  Berufsbegleitend legte er seine Abschlüsse im Bachelor of Arts of Business Adminis­ tration an der Wirtschaftsakademie in Göttingen und den MBA Sustainability Management an der Leuphana Universität in Lüneburg ab.

Nachhaltigkeit im Handel am Beispiel von ROSSMANN Raoul Roßmann, Kristin Butzer-Strothmann und Friedel Ahlers

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Prolog: Einsicht und Haltung

Wer ein Unternehmen verstehen will, muss auch den oder die Menschen verstehen, die es gegründet haben bzw. heute leiten. In diesem Zusammenhang erlaubt das Buch von Dirk Roßmann (2018) mit dem unkonventionellen Titel „… dann bin ich auf den Baum geklettert!“ – „Von Aufstieg, Mut und Wandel“ viele authentische persönliche „Einsichten“ in das bewegte Leben eines erfolgreichen Unternehmers und trägt insofern biografische Züge. Einsichten im Sinne von verarbeiteten Erkenntnissen sind prägend für einen Menschen, formen und begründen sein Verhalten. Aus diesen Einsichten erwächst Haltung als ein grundlegender Werteanker für Handlungen und Entscheidungen. „Haltung entscheidet“ – dieser Buchtitel von Permantier (2019) ist richtungsweisend für viele Lebens- und Entscheidungslagen. „Unsere Haltung ist unser Fenster, aus dem wir auf die Welt schauen“ (Permantier 2019, S. 118). Auch Dirk Roßmann hat in seinem Buch viel von seiner Haltung preisgegeben, wenn er z. B. schreibt: „Moderne Helden sind für mich Menschen, die etwas vorleben und sich einsetzen. Die viel tun für die Gemeinschaft“ (ROSSMANN 2018, S. 205). Die zusammen mit dem Unternehmer Erhard Schreiber 1991 gegründete „Deutsche Stiftung Weltbevölkerung“, die sich insbesondere auf Hilfe für Afrika konzen­ triert, ist ein Ausdruck dieser Lebensphilosophie von Dirk Roßmann. Diese hat viel mit globaler Nachhaltigkeit zu tun: „Das Thema Weltbevölkerung ist ein Nachhaltigkeitsthema“ (ROSSMANN 2018, S. 207). Nachhaltigkeit ist damit zu einem nicht ­unwesentlichen R. Roßmann (*) Dirk Rossmann GmbH, Burgwedel, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Butzer-Strothmann · F. Ahlers Leibniz-Fachhochschule, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_20

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R. Roßmann et al.

Teil eine Haltung von einzelnen Personen, in diesem Fall mit „Strahlkraft“ über das eigene Unternehmen hinaus und in die Gesellschaft hinein. Mit leicht poetischem Anklang formuliert geht es darum, dass Lebens- und Liebenswerte im Mikro- wie im Makrokosmos auch unseren nachfolgenden Generationen zu überlassen und dabei Verantwortung heute für die Zukunft zu übernehmen.

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 inführung: Nachhaltiges Wirtschaften als Herausforderung E für den Handel

Nachhaltigkeit ist als Leitmaxime und Herausforderung in Handelsbetrieben voll angekommen, schenkt man dem Handelsverband Deutschland (HDE) in einer Eigenerklärung glauben: „Der Handel nimmt als drittgrößter Wirtschaftszweig seine Verantwortung für Mensch, Umwelt und Gesellschaft wahr. Die soziale und ökologische Ausgestaltung der gesamten Lieferkette stellt angesichts global vernetzter Märkte eine zentrale Herausforderung dar. Als Hersteller und Vertreiber von Produkten an der Schnittstelle zum Endverbraucher kommt dem Einzelhandel eine besondere Rolle für den nachhaltigen Konsum zu“ (HDE 2017, o. S.). Diese besondere Funktion des Handels als wichtiger Player im Nachhaltigkeitsmanagement wird auch durch folgendes Zitat verdeutlicht: „Kaufleute können nicht nur ihr eigenes Verhalten, sondern auch das Kaufverhalten ihrer Kundinnen und Kunden und damit die gesamte Warenkette nachhaltig beeinflussen. Dies beginnt bei der Auswahl des Sortiments und der weltweiten Produzenten, beinhaltet Möglichkeiten des nachhaltigen Transports und der Lagerung, erstreckt sich auf Warenpräsentation am Point of Sale bis hin zur Kundenberatung zu nachhaltigen Produkten“ (Bundesminis­ terium für Bildung und Forschung 2019, S. 3). Die hohe Akteursbedeutung des Handels im Nachhaltigkeitsgeschehen erklärt sich zu großen Teilen aus der Bindegliedfunktion zwischen Hersteller und Verbraucher. „Der Handel bestimmt über das Listing oder Non-Listing von Produkten das Angebot und nimmt somit entscheidend Einfluss auf den Warenkorb des Konsumenten einerseits und das Sortiment der produzierenden Stufe (Hersteller und Vorproduzent) andererseits“ (Nitz 2016, S. 33). Der Handel ist gewissermaßen der „Gatekeeper“ der Nachhaltigkeit durch seine Türöffnungsfunktion für nachhaltige Produkte (Dürk 2013, S.  57). Diese Türöffnungsfunktion erfolgt im Eigeninteresse angesichts der zunehmenden und mittlerweile bedeutsamen Nachfrage nach nachhaltigen Produktangeboten. Insofern überrascht es nicht, dass – wie in anderen Branchen – auch im Handel in den letzten Jahren „… ein entsprechend intensiver Konkurrenzkampf bei der Positionierung in der Nachhaltigkeitsarena“ (Geßner und Kölle 2016, S. 1) zu beobachten ist. Die vermeintliche oder reale „Moralisierung der Märkte“ legt nahe, dass Handelsunternehmen, die sich diesem Trend verschließen, zunehmend von Gesellschaft und Kundschaft „abgestraft“ werden könnten (Schmidt 2019, S. 492). In dieser Strömung hat auch „Fair Trade“ als ein zentraler Ankerpunkt des nachhaltigen internationalen Handels kontinuierlich weiter an Bedeutung gewonnen, hat also den Einzug in den „Mainstream“ geschafft (von Hauff und Claus 2017, S. 204). Noch

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stärker fokussiert und akzentuiert als der Begriff nachhaltig ist der Begriff „fair“. Dieser ist aber sehr interpretationsbedürftig und steht damit vielen Assoziationen offen. Allerdings ist Nachhaltigkeit im Handel kein Selbstläufer. Bei aller verständlicher Euphorie und dem Hang zur Trendwahrnehmung in Richtung Nachhaltigkeit gilt auch die ernüchternde Feststellung: „Der Aufbau eines nachhaltigen Geschäftsmodells ist im Einzelhandel alles andere als einfach. Er kostet Geld, erfordert viel Zeit und einen langen Atem und birgt Risiken“ (Oliver Wyman 2013, S. 4). Niedrige Margen bei vielen Artikelgruppen verstärken die Notwendigkeit, Nachhaltigkeit ganz bewusst auch aus der wirtschaftlichen Perspektive zu betrachten. Die Herausforderung besteht eben darin, wie auch in der Nachhaltigkeitstriade angeführt, ökonomische, ökologische und soziale Interessen in einen vertretbaren Ausgleich zu bringen. Nachhaltigkeit erfordert auch ein grundlegendes Umdenken in den Planungssystemen des Handels: „Die Veränderung von einer im Handel (und dessen Lieferketten) üblichen kurzfristigen Denkweise auf eine langfristige, nachhaltige Denkweise stellt eine Herausforderung für alle Beteiligten dar“ (Kohlgrüber 2017, S. 410). Denn Nachhaltigkeit steht für Weitsicht auf gesellschaftlicher, politischer und betrieblicher Ebene.

3

 rundlagen zu einem integrierten Nachhaltigkeitssystem G in Handelsbetrieben

3.1

Nachhaltigkeit als Anspruch der Kunden an den Handel

„Sich für die Nachhaltigkeit stark zu machen, wird zum Auftrag an alle Lager des wirtschaftlichen Lebens, inklusive der Konsumenten“ (Matuszek 2013, S.  63). Gerade von letzter Gruppe steigen – stark beeinflusst durch die omnipräsente mediale Diskussion – die Nachhaltigkeitsanforderungen an die von ihnen präferierten Handelsunternehmen. Sie sind sich zunehmend ihrer Verantwortung bewusst und hinterfragen verstärkt das vom Handel präsentierte Warenangebot, insbesondere nach ökologischer und sozialgerechter Produktionsweise, und achten dabei auf entsprechende nachhaltige Gütesiegel (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019, S. 3). Unter der Überschriften-­Fragestellung „Why Consumers Buy Sustainably: The Role of Personal Values“ haben Balderjahn und Hüttel (2019, S. 24 ff.) im Rahmen einer Untersuchung ermittelt, dass personale Werteorientierungen, wie z. B. „universalism“ (u. a. „tolerance, protection oft the welfare of all people and nature …“) (S. 33), maßgeblichen (positiven) Einfluss auf ein nachhaltiges Konsumentenverhalten haben. Das Thema „nachhaltiger Konsum“ (dazu näher Kriener et al. 2011, S. 15 f.) zählt damit mittlerweile zu den arrivierten Rahmenfaktoren, denen sich Handelsunternehmen gegenübersehen. Ein zentrales Indiz dafür ist, dass der Markt für nachhaltige vermarktete Produkte kontinuierlich wächst, wie z. B. eine Studie aus den USA mit Vergleichszahlen von 2018 zu 2013 belegt (Hermes 2019, S. 26). Kunden möchten mit dem Kauf (vermeintlich) nachhaltiger Produkte auch ein Stück „gutes Gefühl“ kaufen sowie bei und für sich ein „Feel-Good“-Faktor bewirken (Weber

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2019, S. 483). Immer mehr Kunden wollen auch die Produktentstehung aktiv mitverfolgen können, um sich vor Ort einen Nachhaltigkeitseindruck zu verschaffen. Besonders auf lokaler Ebene ist dies möglich, z. B. in Form eines „Erfahrungsfeldes Bauernhof“ mit der Zurückgewinnung der Wertschätzung für Lebensmittel und deren Erzeuger (dazu näher NABU 2017, S. 8). Kunden sind verstärkt nicht mehr nur passive Einkäufer, sondern verstehen sich zunehmend als aktive Akteure, die ihre Anliegen und Ideen z. B. über Online-­ Communities einbringen wollen (Schmidt 2019, S. 498). Zertifizierungen und Siegel sollen den Kunden Orientierung geben, gerade in einem schwer konturierbaren und einsehbaren Feld wie Nachhaltigkeit. Sie werden von Handels­ unternehmen mittlerweile in breiterer Front zur Nachhaltigkeitskommunikation an Verbraucher mit dem Ziel der nachhaltigen Attributsvermittlung und Informationssuche-­ Vereinfachung eingesetzt (Weber 2019, S.  476). Dennoch scheint ein wenig Vorsicht geboten bei absoluten Formulierungen wie: „Zertifizierungen führen aus der Falle der falschen Selbsteinschätzung heraus“ (Matuszek 2013, S. 67). Ein Schlüsselelement ist die Zertifizierungsglaubwürdigkeit bzw. -seriosität, die nicht immer quasi per se gegeben ist. Aufgrund der „Flut überbetrieblicher Umweltstandards“ (Dahm 2019, S. 134) bzw. der „Flut von neuen Labels und Nachhaltigkeitssiegeln“ (Weber 2019, S. 480) ist der Einzelne oft informationstechnisch und zeitlich überfordert, valide Einschätzungen zur Seriosität von Labeln, Siegeln etc. mit Nachhaltigkeitsbezug vorzunehmen. Diese Siegelflut läuft damit Gefahr, dass sie „… mehr verwirrt als aufklärt“ (Schommer 2013, S. 111). Unbeschadet dieser kritischen Einordnung bleiben aber Siegel ein wichtiges Informationsin­ strument von Produktions- und Handelsunternehmen zur Transparenzerhöhung bei den Verbrauchern im schwer einzuschätzenden Angebotsspektrum nachhaltiger Güter.

3.2

 andlungsbereiche der händlerrelevanten Nachhaltigkeit H im Überblick

Der Handelsverband Deutschland (HDE 2017, S. 1 ff.) sieht fünf zentrale Handlungsbereiche für ein nachhaltiges Handeln in Handelsbetrieben, die je nach Handelsart in Relevanz und Prioritätszumessung variieren können: 1. Rohstoffe: Hier geht es insbesondere um die nachhaltige Herstellung von Rohstoffen sowie (Vor-)Produkten. 2. Produktion: Maßstab gegenüber den Lieferanten ist hier ein Mindestmaß an sozialer und ökologischer Verantwortung. 3. Handel: Kernthemen sind hier z. B. eine ladenbezogene Energieeffizienz und ein klimafreundliches Logistikmanagement. 4. Konsum: Im Mittelpunkt stehen hier Themen wie der Entsprechung der Konsumentenwünsche durch einen Ausbau des nachhaltigen Produktangebots. 5. Recycling: Fragen der Abfallvermeidung, -verwertung und -entsorgung mit Fokus auf Wiederverwertung stehen hier im Vordergrund.

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Die hier als zentral angesehenen nachhaltigen Handlungsbereiche verdeutlichen das breite Spektrum an Handlungsmöglichkeiten in Handelsbetrieben. Diese Handlungsbereiche der Nachhaltigkeit unterscheiden sich von Handelssparte zu Handelssparte. Jedes Handelssegment hat damit eigene „prioritäre“ Themen und Handlungsfelder (Kriener et al. 2011, S. 25; für einen Überblick zur Nachhaltigkeit in den einzelnen Handelssegmenten Dürk 2013, S. 65 ff.). Die Handelsunternehmen stehen dabei vor der Aufgabe, praxisnah vor Ort Nachhaltigkeit umzusetzen oder wie Geßner und Kölle (2016, S. 2) formulieren: „Es geht vor allem darum, das Thema vom Kopf auf die Füße zu stellen und Unternehmer zu befähigen richtungssichere Schritte für mehr Nachhaltigkeit zu unternehmen …“. Im Folgenden werden exemplarisch einzelne Handlungsbereiche näher akzentuiert. Eigenakzente unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten können Handelsunternehmen u. a. im Bereich des Gebäudemanagements mit z. B. einer hohen Energieeffizienz sowie in der Optimierung der Logistik setzen (Dürk 2013, S. 59). Im für den Handel besonders relevanten Bereich Logistik liegt großes Nachhaltigkeitspotenzial, z. B. in Form eines umweltschonenden Transportmanagements (Swoboda et al. 2019, S. 683). Vor dem Hintergrund des für den CO2-Ausstoß per se kritischen Online-Handels ist laut einer Studie den Online-­ Shoppern durchaus ein nachhaltiger Versand wichtig, z. B. in Form der Nutzung von gebrauchten Versandkartons (Stüber 2015, o. S.). Zur CO2-Verminderung hat auch das Bekenntnis zur Region eine Renaissance erlebt. Gerade im Lebensmittelhandel spielt der Regionalitätsbezug eine immer größere Rolle. Mit Eigenmarken ragt die Verantwortung von Handelsunternehmen stärker in den Produktionsprozess hinein, auf den sie dann größeres Einfluss- und Kontrollpotenzial haben (Dürk 2013, S.  63). Allerdings werden bei Eigenmarken die Händler von den Kunden noch stärker in die Verantwortung genommen als ohnehin schon. Bezogen auf den oben genannten Bereich Recycling sehen sich z. B. Textilhändler mit der Herausforderung eines nachhaltigen Textilrecyclings konfrontiert (dazu näher Böschen 2016). Bei ausrangierten Matratzen lässt sich der Weichschaum recyceln (Mattauch 2019, S. 36). Auch die Anfahrt zu und Abfahrt von Handelsgeschäften ist ein Nachhaltigkeitsthema. Hier könnten z. B. Möglichkeiten der Reduzierung von Verkehrs- und Umweltbelastung speziell in Städten wie eine Shared Mobility stärker als bisher genutzt werden (dazu Krämer und Bongaerts 2019). Das Thema Nachhaltigkeit ist damit nicht nur auf das einzelne Handelsunternehmen selbst zu verkürzen, sondern ragt in viele vor- und nachgelagerte Bereiche hinein. Eine besondere Herausforderung stellt für den Handel die Kontrolle der Einhaltung vorgegebener nachhaltiger Lieferantenstandards im internationalen Kontext dar. Bei sehr komplexen Wertschöpfungsketten mit eher intransparenten Lieferantenstrukturen mit vielen Unterlieferanten erscheint das bei hoher geografischer und zusätzlich kultureller ­Distanz eine besondere Herausforderung (Dürk 2013, S. 60), die kaum vollständig bzw. mit nur kaum vertretbaren sehr hohen Aufwand zu meistern ist.

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3.3

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Integrierte nachhaltige Handelssysteme und -prozesse

Mit dem augenfälligen Angebot von mehr oder weniger nachhaltigen Produkten liegt noch kein umfassendes nachhaltiges Handelsmanagement vor. Dieses erstreckt sich auf viele Prozesse, die vom Kunden oft kaum wahrgenommen werden (können). Es gilt, die gesamte Liefer- und Wertschöpfungskette unter Nachhaltigkeitsaspekten ins Blickfeld zu nehmen. „Nachhaltige kaufmännische Verantwortung darf sich daher nicht auf den unmittelbaren Warenkotakt beschränken und sollte den Weg der Ware vor der Herstellung über den Gebrauch bis zur Entsorgung miteinbeziehen“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019, S. 7). Die gesamte Wertschöpfungskette sollte daher vor dem Hintergrund des Verantwortungs- und Nachhaltigkeitsparadigmas ressourcenschonend und sozial ausgestaltet werden (Schmidt 2019, S. 497; Schommer 2013, S. 109 f.). Entsprechend gilt es, die gesamte Wertschöpfungskette hinsichtlich von Nachhaltigkeitspotenzialen durchzudeklinieren, was oft eine enge Kooperation mit den Produzenten voraussetzt (Nitz 2016, S. 255). Die einzelnen Schritte sind dabei vor dem Hintergrund des Nachhaltigkeitspostulats sinnvoll zu einer schlüssigen Gesamtaufstellung zu integrieren. Antipodische Elemente eines integrierten Nachhaltigkeitssystems sind eine „… mangelhafte strategische Verankerung im Kerngeschäft, Stabsstellencharakter der Nachhaltigkeitsabteilung, fehlendes ‚commitment‘ des Top-Managements, Sprunghaftigkeit bei der Verfolgung kurzfristiger und langfristiger Ziele sowie ‚halbherziger‘ organisatorischer Umsetzung“ (Hasenmüller 2013, S. 311 f.). Nachhaltigkeitsstrategien sollten daher als integraler Bestandteil des Strategiesystems von Handelsunternehmen verstanden werden (Kriener et al. 2011, S. 19). So postuliert auch Dürk (2013, S. 80): „Die strategische Verankerung von Nachhaltigkeit ist die grundlegende Voraussetzung jeglichen Nachhaltigkeitsengagements.“ Dies setzt ein klares Commitment Pro-Nachhaltigkeit des Top-Managements voraus. Nachhaltigkeit sollte generell integraler Bestandteil aller Unternehmensfunktionalsysteme im Handel sein, z. B. von Controlling und Personal. Es ist also für Handelsunternehmen wichtig, dass Nachhaltigkeit „… in allen Unternehmensbereichen Berücksichtigung findet“ (Hedde und Seul 2014, S. 261). Hinsichtlich des Personalbereichs ist z. B. eine Nachhaltigkeitssensibilisierung und -bildung der Mitarbeiter im Rahmen von Seminaren, Workshos etc. zu initiieren. Bezogen auf ein Nachhaltigkeitscontrolling bietet sich als kennzahlengestütztes Steuerungssystem eine „Sustainable Balanced Scorecard“ an (dazu für das Fallbeispiel REWE Group näher Grübl 2015).

4

Fallbeispiel ROSSMANN

Die folgenden Angaben im Kap. 4  entstammen – wenn nicht anders angegeben  – dem zweiten Nachhaltigkeitsbericht des Unternehmens ROSSMANN „Nachhaltiges Wirtschaften bei ROSSMANN 2019“ (Stand April 2019) (ROSSMANN 2019).

Nachhaltigkeit im Handel am Beispiel von ROSSMANN

4.1

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Grunddaten zum Unternehmen

Im Jahr 1972 eröffnete Dirk Roßmann in Hannover den ersten Drogeriemarkt in Deutschland nach dem Selbstbedienungsprinzip. Das Unternehmen baute in den Folgejahren systematisch seine Marktanteile durch neue Filialen und Übernahmen aus und ist heute einer der zwei großen Drogerieketten in Deutschland. Seit 1993 expandierte ROSSMANN auch in Staaten des europäischen Auslands und in die Türkei. Kerndaten für das Jahr 2018, wie mehr als 56.000 Mitarbeiter (33.000 in Deutschland) und ein Umsatz von 9,46 Milliarden Euro (6,66 Milliarden Euro in Deutschland), stehen exemplarisch für den Unternehmenserfolg. Jährlich hält ein angemessenes Umsatzwachstum das Unternehmen auf weiteren Wachstumskurs. Dazu hat auch die frühzeitige Öffnung für neue Entwicklungen wie den Onlinehandel im Jahr 1999 beigetragen. Das Unternehmen ROSSMANN als inhabergeführtes Familienunternehmen befindet sich mehrheitlich im Besitz der Familie Roßmann. Ein ausländisches Partnerunternehmen ist mit 40 Prozent an ROSSMANN beteiligt. Das Unternehmen wird mittlerweile in der heutigen Form in der zweiten Generation geführt (davor waren schon die Eltern und Großeltern von Dirk Roßmann im Handels- und Drogeriebereich tätig). Die Mitarbeiter werden als wertvollste Ressource des Unternehmens betrachtet. Entsprechend wird viel Wert auf eine mitarbeiterorientierte Personalpolitik gelegt. Die Drogeriebranche bietet von dem Produktspektrum, der betrieblichen Logistik und dem Filialsystem her vielfältige Ansatzpunkte zu nachhaltigem Wirtschaften. Als Grundcharakteristika der Drogeriebranche in Deutschland gelten: „Drogeriemärkte sind i. d. R. mittelflächige Einzelhandelsbetriebe mit einem breiten, im Bereich Drogerieartikel stellenweise auch tiefen Sortiment in übersichtlicher Warenpräsentation; Kunden erhalten im Bedarfsfall auch eine fachliche Beratung. Drogeriemärkte bieten im deutschsprachigen Raum ein Angebot von Drogerieartikeln sowie ergänzend zahlreiche andere Warengruppen an, u. a. Zeitschriften, Parfümeriewaren, Süßwaren, Schreib- und Spielwaren sowie Geschenkartikel und Schmuckwaren“ (Swoboda et al. 2019, S. 104). Diese Grundcharakteristika gelten im Prinzip auch für das Unternehmen ROSSMANN.

4.2

 achhaltiges Wirtschaften: Betriebliche Grundintention N und Ziele

„Nachhaltiges Wirtschaften“ begleitet das Unternehmen ROSSMANN, wenn am Anfang mit sicherlich auch anderen Akzenten, nahezu von Beginn der Unternehmensgeschichte an. Ausgehend von der Primärzielsetzung, wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen und die kontinuierliche positive Geschäftsentwicklung fortzusetzen, nimmt das Unternehmen ökologische und soziale Verantwortung wahr. Dabei sieht das Unternehmen einen komplementären Zusammenhang zwischen ökonomischer und ökologischer Effizienz sowie sozialer Verantwortung. Diese triadische Zielausrichtung ist die konkrete Handlungsmaxime für alle Aktivitäten im Bewusstsein bei ROSSMANN, das wirtschaftlicher Erfolg explizit

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als Grundlage zur Übernahme ökologischer und sozialer Verantwortung angesehen wird. Anderseits sind wiederum ökologische und soziale Akzentsetzungen wichtige Garanten des wirtschaftlichen Erfolgs. Von dem Hintergrund dieser erkannten Wechselwirkungen wird treffend von einem „in sich geschlossenen Verständnis“ von Nachhaltigkeit gesprochen, was auf eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung hindeutet. Mit Familienunternehmen wird oft eine hohe Vertrauenswürdigkeit von Kunden- und Mitarbeiterseite assoziiert (Gerken et al. 2019, S. 302), was im Besonderen für das Familienunternehmen ROSSMANN gilt. „Werte der Unternehmerfamilie können in konkrete Ziele und Strategien umgesetzt werden, die den Mitarbeitern als kulturelle Orientierung […] dienen …“ (Gerken et al. 2019, S. 301). Damit hat die Werteorientierung der Unternehmerfamilie in Familienunternehmen eine prägende Vorbildfunktion: „Im Vergleich zu anonymen Publikumsgesellschaften hat die Werteorientierung in Familienunternehmen eine besondere Bedeutung, da die Werte der Unternehmerfamilie einen prägenden Einfluss auf das Unternehmen ausüben“ (Gerken et al. 2019, S. 301). Im positiven Sinne gilt das auch für die Familie Roßmann.

4.3

Handlungsbereiche des Nachhaltigkeitsmanagements

4.3.1 Überblick Das Unternehmen ROSSMANN hat mittlerweile vielfältige Handlungsbereiche des Nachhaltigkeitsmanagements für sich definiert und konkret umgesetzt. Der Nachhaltigkeitsbericht bietet dazu eine sehr transparente Übersicht (ROSSMANN 2019). Dem pragmatischen Selbstverständnis im Handel folgend wird auf die konkrete Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele in der Zentrale, in den Filialen, beim Einkauf und in der Logistik größten Wert gelegt. Dabei wird weniger auf Direktiven aus der Zentrale als auf die Eigenverantwortung der Mitarbeiter gesetzt. Davon unberührt ist das besondere Engagement der Eigentümerfamilie Roßmann für nachhaltige Anliegen wie dem Klimawandel, was als Vorbildfunktion dient. Durch die Gründer- und Familienprägung mit entsprechender nachhaltigkeitsaffiner Wertegrundlage hat das Unternehmen ROSSMANN besonders gute Ausgangs- und Rahmenbedingungen, unter denen sich dieses Engagement entwickeln und entfalten kann. Viele Maßnahmen des Nachhaltigkeitsmanagements lassen sich durch eine Kooperation mit Lieferanten, aber auch in übergreifenden Initiativen mit Wettbewerbern wirkungsvoller umsetzen. Dazu zählt z.  B. die Mitarbeit von ROSSMANN im Rezyklat Forum, dass 2018 vom dm-drogerie markt initiiert wurde. Hier arbeiten Unternehmen der Hersteller- und Händlerebene daran, den Kreislaufwirtschafts- und Recyclinggedanken in den betrieblichen Prozessen und im Bewusstsein der Verbraucher stärker zu verankern (Ken­ trath 2019). Aufbauend und abgeleitet aus dem Grundkonzept des nachhaltigen Wirtschaftens mit dem betrieblichen Nachhaltigkeitsverständnis bei ROSSMANN (Abschn. 4.2) lassen sich die Aktivitäten den Handlungsbereichen Ressourcenschonung und Umweltschutz, Pro-

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383

duktverantwortung, Mitarbeiterverantwortung und -wertschätzung und soziales Engagement zuordnen, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.

4.3.2 V  erantwortungsvoller Umgang mit natürlichen Ressourcen und Umweltschutz Das Unternehmen ROSSMANN nutzt gezielt neue Technologien und Verfahren, um Umweltschutzziele zu realisieren. Die Unternehmenszentrale von ROSSMANN in Burgwedel bei Hannover ist in vielfältiger Weise Ausdruck des nachhaltigen Anspruchs des Unternehmens. Beispielhaft dafür stehen die Nutzung von Geothermie, eine große Photovoltaik-­ Anlage, ein Leitsystem für Abfälle und Wertstoffe, eine Verwertung der Kantinenreste sowie eine Blumenwiese mit einer großen Bienenpopulation vor der Zentrale. Einen hohen Stellenwert legt das Unternehmen auf eine umweltschonende Logistik, realisiert durch kurze Anlieferungswege, optimierte Tourenplanung etc. Gerade der Logistiksektor bietet in einem Filialunternehmen wie ROSSMANN ein hohes Umweltschutzpotenzial. Zu weiteren ressourcen-schonenden Aktivitäten zählen z. B. eine kontinuierliche Modernisierung des PKW-Fuhrparks und die konsequente Ausnutzung von Energieeinsparungsmöglichkeiten in den Filialen, wie im Beleuchtungs-, Lüftungs- und Klimatisierungssystem. Aufgrund der hohen Filialanzahl sind damit erhebliche Einsparungen zu realisieren. Tragetaschen bestehen zu großen Teilen aus Recyclingmaterial. In den ausliegenden Printmedien mit Fokus auf die Kundenzeitschrift „Centaur“ wird der Kunde in verschiedenen Facetten zum Ressourcen schonenden Umgang angeregt. Die beispielhaft angeführten Aktivitäten zeigen, dass das Unternehmen ROSSMANN in vielfältiger und dabei sehr konkreter Weise auf dem Feld der Ressourcenschonung unterwegs ist und als Effekt beträchtliche Kosteneinsparungen erzielt hat und weiterhin erzielen wird. Dieses belegt die intendierte Komplementarität von Ökonomie und Ökologie im Kontext des übergeordneten Unternehmens- und Gesellschaftswohls. 4.3.3 Verantwortungsvolle Produkt- und Markengestaltung Die Produkte sind der Dreh- und Angelpunkt eines Drogeriemarktunternehmens wie ROSSMANN.  Entsprechend muss sich hier Nachhaltigkeit in besonders erkennbarer Weise widerspiegeln und beweisen. Rossmann hat diesen Kernbereich explizit für sich besetzt und sieht nachhaltige Produktverantwortung als zentralen strategischen Ziel- und Handlungsfaktor des Unternehmens. Diese hohe Bedeutungszumessung spiegelt sich in vielfältiger Weise in der produkt- bzw. markenpolitischen Aufstellung wider: Bei den erfolgreichen ROSSMANN-Eigenmarken hat das Unternehmen per se großen Einfluss auf eine nachhaltige Gestaltung. Mit der Bio-Lebensmittel-Marke enerBIO und der Alterra Naturkosmetik stehen mit dem „Green Brand“ ausgezeichnete Produktgruppen im Sortiment. Auch bei den anderen Produktgruppen wird auf eine hohe Umweltverträglichkeit geachtet. Eine ausgefeilte Qualitätssicherung und -kontrolle sorgt dabei für die Einhaltung gesetzlicher und eigen definierter Umweltstandards. Die Verpackungsgestaltung wird vor dem Hintergrund der Grundsätze Vermeidung, Verminderung, Verbesserung und Verwertung ständig optimiert. Optionen zum Recycling werden konsequent wahrgenommen und

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entsprechend auf den Produkten ausgelobt (siehe z.B. domol: https://www.rossmann.de/ de/marken/domol/c/online-dachmarke_4455203). Bei den ROSSMANN-Marken wird seit 2013 auf Peelingkörper aus festem Mikroplastik verzichtet. Ein entsprechendes eigenes ROSSMANN-Siegel „Rezeptur OHNE Mikroplastik“ schafft hier Transparenz für die Kunden und kennzeichnet zukünftig alle ROSSMANN-Marken, deren Rezepturen mikroplastikfrei sind. Dabei verzichtet ROSSMANN nicht nur auf Peelingkörper aus festem Mikroplastik, sondern schließt zusätzlich auch weiteres festes Mikroplastik und flüssige, synthetische Polymere mit ein. Bei den Rohstoffen für die Produkte, etwa Palmöl, achtet ROSSMANN auf einen nachhaltigen Anbau mit Zertifizierungsnachweis. Das Unternehmen nutzt aktiv Güte- und Umweltsiegel zur Qualitätsdokumentation und Transparenzschaffung für die Kundschaft. Der (Mit-)Verantwortung für die gesamte Wertschöpfungskette entsprechend hat ROSSMANN einen Lieferantenkodex entwickelt. Die Zusammenarbeit mit Lieferanten ist an explizite Umwelt- und Sozialstandards gebunden. Dem unter Emissionsgesichtspunkten bedeutsamen Regionalprinzip wird ein hoher Stellenwert beigemessen. Bei internationalen Lieferanten wird die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards durch beauftragte Institute überwacht.

4.3.4 E  ngagement für die Mitarbeiter: Wertschätzung als Schlüsselfaktor Schon im Vorwort des Nachhaltigkeitsberichtes machen die Unternehmenslenker Dirk und Raoul Roßmann deutlich, dass sie ihre Mitarbeiter als den wichtigsten Faktor des Unternehmenserfolges betrachten. Unisono gilt das auch für das Nachhaltigkeitsmanagement. Ohne engagierte Mitarbeiter an allen Stellen des Unternehmens ist gerade bei betont dezentralen Entscheidungsstrukturen ein konsequentes nachhaltiges Handeln nicht zu verwirklichen. Denn Nachhaltigkeit ist zuallererst eine Umsetzungsherausforderung, sie muss also von den Mitarbeitern des Unternehmens erfahrbar, verstanden und dann im alltäglichen Geschehen praktiziert werden. Hier greift das umfassende Verständnis von Nachhaltigkeit weit über das Umweltschutzengagement hinaus, substanziell in die Personalpolitik des Unternehmens hinein. Eine Schlüsselgröße stellt dabei die explizite Wertschätzung der Mitarbeiter dar, vorgelebt von der Unternehmerfamilie Roßmann. Erfahrbar wird diese Wertschätzung insbesondere durch eine entsprechende mitarbeiterorientierte Ausgestaltung der Personalsysteme mit z. B. attraktiven Anreizen, einer betrieblichen Gesundheitsförderung und einem differenzierten zeitgemäßen Fortbildungsprogramm. Eine ebenso wichtige Rolle in der intendierten expliziten Wertschätzungs- und Feedbackkultur spielt das Führungsverhalten der Leitungskräfte vor Ort. Schon traditionell hat die Ausbildung junger Menschen bei ROSSMANN einen besonders hohen Stellenwert, um einerseits den eigenen Nachwuchs auszubilden und damit personalseitig die Unternehmensentwicklung abzusichern, aber auch der gesellschaftlichen Verantwortung nach Ausbildungschancen für Schulabgänger nachzukommen. Auch für Abiturienten bietet ROSSMANN mit dem dualen Studium bzw. für Hochschulabsolventen mit Trainee-­Programmen interessante Angebote, die für eine aktive Personalbildung und -sicherung des Unternehmens stehen.

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4.3.5 Soziales Engagement Maßgeblich durch den Unternehmensgründer Dirk Roßmann initiiert, vorgelebt und praktiziert ist das soziale Engagement des Unternehmens seit jeher ein wichtiger Eckpfeiler des betrieblichen Nachhaltigkeitsmanagements. Treffend und die tiefe persönliche Überzeugung zum Ausdruck bringend wird im Nachhaltigkeitsbericht von einer „Herzensangelegenheit“ von Dirk Roßmann gesprochen. In Anerkennung seines Engagements für die Integrierung der ökologischen und sozialen Verantwortung in das unternehmerische Handeln wurde er 2014 mit dem „Deutschen CSR-Preis“ ausgezeichnet. Ein Schwerpunkt des sozialen Engagements liegt auf der Unterstützung und Förderung von Kindern und Familien. Beispielhaft erwähnt seien hier als Initiativen die Unterstützung des Deutschen Kinderhilfswerks e.  V., das sich um Hilfe für benachteiligte Kinder kümmert und wofür die ROSSMANN-Kunden spenden können, sowie die finanzielle Unterstützung der Aktion „MENTOR – die Leselernhelfer“, die die Sprach- und Lesekompetenz von Schülern stärken will. Besonders wichtig zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die 1991 von den Unternehmern Erhard Schreiber und Dirk Roßmann gegründete „Deutsche Stiftung Weltbevölkerung“, um Antworten auf das rapide Bevölkerungswachstum in Afrika, insbesondere in puncto Familienplanung, Gesundheitsversorgung, Existenzgründungshilfen sowie Aufklärungs- und Bildungsarbeit, zu geben. Dieses Engagement verdeutlicht, dass Nachhaltigkeit ein erdumspannendes Thema ist, dass nicht an Unternehmens- und Ländergrenzen aufhört und haltmacht. Die Idee eines gesamthaften, integrierten Vorgehens in Sachen Nachhaltigkeit enthält dadurch eine besondere Akzentuierung weit über den Unternehmensführungsblickwinkel hinaus. Wobei gerade eine erfolgreiche und nachhaltige Unternehmensführung die Keimzelle eines solchen umfassenden Nachhaltigkeitsengagements ist, da sie  – wie im Fallbeispiel ROSSMANN  – die finanziellen Voraussetzungen für ein solches Engagement erst schafft.

4.4

Aktuelle und zukünftige Herausforderungen für ROSSMANN

 In ihrem Vorwort zum Nachhaltigkeitsbericht 2019 betonen Dirk und Raoul Roßmann, dass das Nachhaltigkeitsengagement des Unternehmens auch in Zukunft systematisch weiter engagiert vorangetrieben wird: „Wir werden unser ökologisches und soziales Engagement sukzessiv in allen Unternehmensbereichen weiter ausbauen …“. Dazu passt, dass Nachhaltigkeit bei ROSSMANN als weiterzuentwickelnder Prozess und nicht als Zustand verstanden wird. Ein Nachhaltigkeitsmanagement ist damit per se immer im Fluss, sollte also immer Ausschau nach neuen ökonomisch darstellbaren und vertretbaren umweltschonenden Optionen halten. Weitere Nachhaltigkeitseffekte können oft durch die Einführung neuer Technologien und Systeme realisiert werden, die z. B. die Bereiche Energieeffizienz und Logistikoptimierung betreffen. So wird z. B. von ROSSMANN die verstärkte Nutzung der Elektromobilität entsprechend dem Ausbau der dafür notwendigen Infrastruktur  angestrebt.

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Nicht verschwiegen werden aber soll, dass ROSSMANN – wie jedes andere Unternehmen im Prinzip auch – die Balance zwischen ökonomischen, ökologischen und sozia­ len Aspekten immer wieder aufs Neue justieren muss. Dabei lassen sich nicht alle Wunschvorstellungen aus ökologischer und sozialer Sicht erfüllen. Der ökonomische Vorbehalt von Maßnahmen ist letztlich eine unabdingbare Voraussetzung, um den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens abzusichern, der wiederum die Grundvoraussetzung für die Finanzierung nachhaltiger Maßnahmen im ökologischen und sozialen Bereich ist. Wie andere große Handelsunternehmen auch ist für ROSSMANN die nachhaltigkeitsbezogene Überprüfung der Produktionskette bei zunehmend größeren Warenströmen eine Herausforderung (generell auch Hedde und Seul 2014, S. 267). Entsprechend muss bei kritischen Stellen des Nachhaltigkeitsmanagements, etwa der z. T. schwierigen und dazu aufwendigen Kontrolle der Umwelt- und Sozialstandards bei asiatischen Lieferanten, immer wieder nachjustiert werden. Die Verantwortung für Umwelt und Gesellschaft kennt insofern keinen Stillstand, sondern fordert zur permanenten Verbesserung der Nachhaltigkeitssysteme auf. Nachhaltigkeit hat seinen Preis. Und dies nicht nur für die Konsumenten, sondern auch für die auf diesem Feld aktiven Handelsunternehmen. Es ist somit „… nicht zu unterschätzen, dass ethisch-nachhaltiges Handeln selbst mit gewissen Kosten verbunden ist“ (Habisch und Popal 2013, o. S.). Unternehmen wie ROSSMANN gehen trotz dieser zusätzlich anfallenden Kosten für Zertifizierungen, Qualitätskontrollen etc. bewusst diesen Weg. Wichtig aus ökonomischer Sicht ist dabei, dass die Kunden von ROSSMANN den eingeschlagenen Weg zu mehr Nachhaltigkeit mitgehen und das Engagement des Unternehmens in Form einer hohen Kundenloyalität honorieren. Die hier vorgenommene Auflistung der Nachhaltigkeitsaktivitäten von ROSSMANN soll in keiner Weise die Aktivitäten der vielen anderen Unternehmen schmälern, die sich entsprechend ihrer Möglichkeiten auch vorbildlich für das Nachhaltigkeitsziel engagieren. Der Unternehmerfamilie Roßmann ist in hohem Maße bewusst, dass Nachhaltigkeit ein derart komplexes Thema ist, dass es nur in einer konzertierten Aktion aller entscheidungsund handlungsrelevanten Akteure, ausgehend vom einzelnen Bürger über Unternehmen bis hin zu politischen Instanzen auf lokaler bis internationaler Ebene, zu „stemmen“ ist. Diese Komplexität und der damit verbundene Hinweis auf die nur minimale Beeinflussbarkeit einzelner Akteure entbindet gerade eben aber nicht den einzelnen Bürger und auch nicht das einzelne Unternehmen von der Verantwortung für Nachhaltigkeit. Mit dem Hinweis in einer Fernsehsendung auf das Buch von Jonathan Safran Foer (2019) „Wir sind das Klima! Wie wir unseren Planeten schon beim Frühstück retten können“ und des Angebots des Bezugs von 25.000 kostenlosen Exemplaren über die ROSSMANN-Homepage im November 2019 setzte Dirk Roßmann neue Akzente. Im Kern geht es in dem Buch um Aufklärungsarbeit und um die Botschaft, dass Klimaschutz im Kleinen beginnt, also bei jedem Bürger und seinem Verhalten, etwa bei der Ernährung. Ein solches nachhaltiges Verhalten, wenn es millionen- bzw. sogar milliardenfach geteilt und praktiziert wird, ist

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ein sehr wirksamer Hebel zur Um- und Neuorientierung wirtschaftlicher und politischer Systeme in Richtung Nachhaltigkeit. Der einzelne Mensch ist damit zugleich Teil des Problems, wie aber auch der Lösung. Insgesamt gesehen hat das Unternehmen ROSSMANN auf dem Weg zu einem nachhaltigen Unternehmen schon ein großes Stück an Wegstrecke zurückgelegt und kann auf viele Projekte mit Vorbildcharakter verweisen. Angetrieben durch das Werteverständnis der Unternehmerfamilie Roßmann und getragen durch ein breites Engagement in der Belegschaft werden weitere Schritte in Richtung Nachhaltigkeit folgen, um – in Anlehnung an eine Formulierung im Nachhaltigkeitsbericht – die Welt im Kleinen wie im Großen ein Stück gerechter, sozialer und liebevoller zu machen.

5

 erspektiven für eine integrierte nachhaltige P Unternehmensführung in Handelsbetrieben vor dem Hintergrund zentraler Markttendenzen

„Unternehmensführung am Puls der Nachhaltigkeit“ (Matuszek 2013, S.  143): Dieser Leitsatz soll die Aktualität, Bedeutung und zugleich Notwendigkeit hervorheben, Nachhaltigkeit in die Führungssysteme von Unternehmen zu verankern. Ein tiefer Grad der Systemintegration steht dafür, dass Nachhaltigkeit nicht nur als ein außenwirksam verwandter Unternehmensgrundsatz genutzt wird, sondern die Kultur bzw. die DNA des Unternehmens erreicht hat. Nachhaltiges Wirken und Handeln wird damit zur Normalität im Führungs- und Entscheidungsgeschehen des Unternehmens, womit es seine Wirkung voll zur Geltung bringen kann. Nachhaltigkeit ist auch ein Glaubwürdigkeitsthema. In einer Zeit zunehmender Transparenz und medialer Präsenz, die nahezu in eine verstärkte öffentliche Dauerbeobachtung mündet (Weber 2019, S. 483), würden unter dem Terminus „Greenwashing“ ­subsumierbare Aspekte, wonach Nachhaltigkeit kaum mehr als eine substanzlose Marketingformel (Kriener et al. 2011, S. 10) ist, von aufgeklärten und kritischen Verbrauchern als besonders imageschädlich wahrgenommen werden. Unternehmen des Handels, wie andere Betriebe auch, müssen also ihren öffentlichkeitswirksamen Bekenntnissen zur Nachhaltigkeit auch belegbare Taten folgen lassen, um eine hohe Kundenakzeptanz zu erfahren. Auch ist die Frage, ob die bislang erkennbare Lücke zwischen vorgegebenem Umweltbewusstsein und tatsächlichem Einkaufsverhalten von Konsumenten sich in Zukunft stärker schließen wird. „Bei Umweltfragen ist der Spagat zwischen gutem Willen und tatsächlichem Handeln offenbar besonders groß“ (Mattauch 2019, S.  37). Ein Grund dafür sind – z. T. beeinflusst durch die öffentliche Greenwashing-Diskussion – virulente Informations- und Vertrauensdefizite auf Konsumentenseite: „This discrepancy, often entitled as the attitude-behaviour-gap, can be partly explained by the lack of sustainability information and trust deficits“ (Reimers und Hoffmann 2019, S. 21). Es muss also den Händlern durch geeignete Maßnahmen, wie eine glaubwürdige Informationspolitik sowie eine

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moderate und dabei transparente Preispolitik, gelingen, die „Liking“-Position vieler Kunden in eine „Wanting“-Position (dazu näher Rutschmann 2019, S.  52  ff.) bezogen auf Nachhaltigkeitsprodukte zu transformieren. Hierzu können auch fundierte empirische Forschungen mit einem Neuromarketing-Hintergrund weitere Erkenntnisse liefern (dazu z. B. Ramsoy 2019). Bezogen auf die nach wie vor zentrale Größe Einkaufspreis gilt es, sich vor Augen zu halten: Das zukünftige Ausmaß des nachhaltigen Konsums ist auch maßgeblich von der Preisgestaltung abhängig. „Die Menschen wollen zwar nachhaltigere Produkte, haben ja aber nicht mehr Geld in der Tasche“ (Hermes 2019, S. 23). Transparente und moderate Preisgestaltungsmaßnahmen haben nach einer Untersuchung von Reimers und Hoffmann (2019) ein deutliches Einflusspotenzial auf die Steigerung der Nachfrage nach nachhaltigen Produkten. Nachhaltigkeitsmanagement muss sich für Unternehmen letztlich lohnen, also betriebswirtschaftlich zu legitimieren sein. Unternehmen wie der Outdoor-Ausrüster Vaude sehen zwar auf der einen Seite nachhaltiges Engagement mit höheren Kosten verbunden. Auf der anderen Seite stehen aber die Chancen der glaubwürdigen und wettbewerbsdifferenzierenden Markenpositionierung (Janke 2019, S. 60). Insofern gelten Einschätzungen, wie „Kommt es jedoch hart auf hart, so bleibt zu bemerken, dass am Ende des Tages das Unternehmen ein wirtschaftliches bleibt, die Moral also wohl immer den Kürzeren zieht“ (Jansen 2019, S. 312), eher für Extremsituationen. Handelsunternehmen bleiben für das Gros der Entscheidungssituationen eher dann wirtschaftlich, wenn sie gesellschaftlichen Strömungen mit ethischer Nuancierung wie Nachhaltigkeit gezielt in ihr Strategie- und Zielsystem aufnehmen. Wenn auch nicht anhand aktueller Zahlen für den gesamten Handelssektor genau und valide zu belegen, so erscheint plausibilitätsgestützt die Aussage von Hedde und Seul (2014, S. 270), wonach „… der Nachhaltigkeit auch quantifizierbar sehr wohl ein Potenzial im Sinne der Wertschöpfung zugesprochen werden kann“, für Handelsbetriebe plausibel und einsichtig. Nachhaltige Unternehmensführung ist zu großen Teilen ein „… umsichtiges umweltschützendes und ökonomisches Verhalten“ (Bartelmus 2014, S. 137). Gerade der Begriff „umsichtig“ ist hier wichtig: Er steht für die Einbeziehung mehrerer Perspektiven in den relevanten nachhaltigkeitsbezogenen Entscheidungs- und Handlungskontext vor dem Hintergrund einer integrativen Gesamtvorstellung. Oder prononcierter formuliert: Ein Unternehmen steht nicht für sich alleine da und kann sich entsprechend auch nicht alleine legitimieren, es ist nur im Systemkontext überlebensfähig.

6

 azit und Ausblick: Nachhaltigkeit als ein Garant für die F Zukunftsfähigkeit von Handelsbetrieben

Nachhaltigkeit wird explizit mit einem vorausschauenden Element in Verbindung gebracht (z. B. Swoboda et al. 2019, S. 51). Gerade durch ihre Grundintention, auch den zukünftigen Generationen die Lebensgrundlage zu erhalten, ist vorausschauendes Denken und

Nachhaltigkeit im Handel am Beispiel von ROSSMANN

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Handeln von allen relevanten Akteuren angesagt, um dieses Grundziel zu verwirklichen. Nachhaltigkeit kann in diesem Kontext in mehrfachem Sinne als Garant für die Zukunftsfähigkeit von Handelsbetrieben angesehen werden: Generell ist für alle Betriebe die Erhaltung der Umwelt eine Conditio sine qua non, um auch zukünftig in einem existenziell-­ lebensfähigen Umfeld wirtschaften zu können. Speziell für die Zukunftsfähigkeit von Handelsbetrieben ist die Antizipation von Konsumtrends, wozu Nachhaltigkeit in sehr gewichtigem Maße mit einer anzunehmenden weiteren Bedeutungszunahme in der Zukunft zählt, essenziell mit den damit verbundenen Implikationen der entsprechenden Anpassung ihres Produkt- und Serviceangebotes. „Ökonomie soll lebensdienlich sein“ (Dahm 2019, S. 160) – mit dieser nachhaltigen Grundforderung werden sich alle wirtschaftliche Prozesse in den nächsten Jahren verstärkt konfrontiert sehen. Dabei wird Nachhaltigkeit in einem Atemzug mit der Zukunftsfähigkeit von sozialen und wirtschaftlichen Systemen genannt (Dahm 2019, S. 160). Daher werden Handelsunternehmen, wie andere Betriebe auch, noch transparenter als bisher bezogen auf ihr Handeln gegenüber allen Anspruchsgruppen werden müssen, um ihre Legitimität hinsichtlich der „Lebensdienlichkeit“ nachzuweisen (zu Transparenz im Wirtschaftskontext näher z. B. Hossiep 2019). Rückschlüsse von dem Verhalten der neuen Konsumentengeneration Z (ab 1995) auf die Zukunftsaufstellung von Handelsbetrieben sind nur schwer valide ableitbar, da das Wertespektrum nicht so einheitlich ist, wie man vermuten könnte. Eher noch mit ihrer Vorgängergeneration Y gemein haben sie generelle Anforderungen an zukunftsaufgestellte Unternehmen und Marken: „Nicht nur regional, auch sozial verantwortlich, anti-­ diskriminierend, umweltfreundlich und auf Tierwohl bedacht müssen sich Firmen und Marken heute präsentieren …“ (Meier und Lebok 2019, S. 43). Das Thema „Nachhaltigkeit beim Einkauf“ ist heute schon für viele Konsumenten von Bedeutung (z.  B.  Hedde und Seul 2014, S.  249). Und es spricht vieles dafür, dass die ­Bedeutung des nachhaltigen Konsums mit seiner inhärenten intra- und intergenerativen Gerechtigkeitsdimension (Bedürfnisbefriedigung, ohne bei gegenwärtigen Populationen in Industrie- und Entwicklungsländern und speziell zukünftigen Generationen die Grundlagen von angemessenen Lebens- und Konsummöglichkeiten zu gefährden) weiter zunehmen wird (von Hauff und Jörg 2017, S. 42; von Hauff und Claus 2017, S. 66). Nachhaltigkeit wird sich im Handel mehr und mehr zu einer Selbstverständlichkeit entwickeln, die zum normalen Erwartungsrepertoire der Konsumenten zählt. Es erfolgt damit mehr und mehr kein primär staatlich verordneter, sondern ein „Market-driven ethical consumption“ (Nicholls und Opal 2005, Title). Ob sich generelle Forderungen nach einem quantitativen Weniger an Konsum zur Ressourcenschonung durchsetzen werden, bleibt allerdings abzuwarten. Auf jeden Fall dürfte angesichts medialer Aufklärungsarbeit und damit verbundener Umweltbildung der Konsum noch „bewusster“ als bisher werden. Die Konsumenten haben damit in ihrem Mikrokosmos den eigentlichen Schlüssel für nachhaltiges Handeln in der Hand. Sie wachsen mehr und mehr in die Rolle als „Nachhaltigkeitstreiber“ hinein (Hedde und Seul 2014, S. 252). Entscheidend ist dabei, dass dem

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R. Roßmann et al.

Bewusstseinswandel auch ein Handlungswandel in den „daily activities like shopping“ (Barnett et al. 2011, S. 55) folgt. Aus internationaler Handelsperspektive dürfte die Bedeutung des „Fair Trade“ weiter zunehmen: „Fair Trade is […] entering the mainstream“ (Nicholls und Opal 2005, S. 229). Mainstream heißt aber noch nicht unbedingt, dass daraus weitverbreitetes konkretes Handeln geworden ist. So führen auch von Hauff und Claus (2017, S. 220) aus: „Es besteht noch Potenzial, das Konzept des Fairen Handels auszubauen und eine grössere [sic] Anzahl an Produzenten in den Entwicklungsländern zu erreichen.“ Die hier stark akzentuierte Zukunftsfähigkeit schließt aber Realistik nicht aus. Vom Handel als Sachwalter der Konsumenteninteressen können sicherlich viele Impulse in Richtung Nachhaltigkeit ausgehen, mit der alleinigen „Zugpferdrolle“ wäre er aber überfordert. Denn „… es wäre vermessen zu glauben, dass der Handel alleine es schaffen könnte, alle Beteiligten an der Wertschöpfung sämtlicher Konsumgüter weltweit auf Mindeststandards der Nachhaltigkeit zu verpflichten und Zuwiderhandlungen auszuschließen“ (Schommer 2013, S. 123). Nachhaltigkeit ist damit eine Aufgabe aller Handelnder, angefangen von einzelnen Konsumenten über institutionellen Akteuren, wie Lieferanten und Handel, bis zu staatlichen und supranationalen Gremien. Nur ihr gemeinsames Zusammenwirken kann einen Rahmen einer zukunftszugewandten Nachhaltigkeit schaffen, innerhalb deren einzelne Nachhaltigkeitsakteure wie der Handel gezielte zukunftsgerichtete Akzente setzen können. Epilog: Zuversicht und Handeln „Zuversicht“ ist ein Schlüsselwort in dem schon im Prolog angeführten Buch von Dirk Roßmann (2018, S. 195 f.). Diese Zuversicht hat ihn auch und gerade in schwierigen wirtschaftlichen Situationen nicht verlassen und neue Impulse gegeben. Und zumindest ein gewisses Maß an realistischer Zuversicht täte auch in der zum Teil emotional geführten und bisweilen aufgeheizten Nachhaltigkeitsdiskussion allen Akteuren gut. Bei aller berechtigter Problematisierung der Auswirkungen des Klimawandels und Kritik an langsam erscheinenden Entscheidungsprozessen in Politik, Gesellschaft und Unternehmen sollte die Zuversicht nicht verloren gehen, auch dieses Problem durch konkretes Handeln, durch „Doing Responsibility“ (Barnett et al. 2011, S. 200) gezielt anzugehen, wenn man sicherlich auch von einer „Lösung“ zum jetzigen Zeitpunkt nicht sprechen kann. In puncto konkretes Handeln stimmen gerade die vielen einzelnen Initiativen, angefangen von den einzelnen Konsumenten mit ihrem zunehmenden ressourcenschonenden Verhalten über die Unternehmen mit verstärkten nachhaltigen Aktivitäten im Eigeninteresse bis hin zur vermehrt Wirkkraft zeigenden Sensibilisierung auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, zuversichtlich. Eines von unzähligen Beispielen hierfür ist die vorbildliche Initiative von ROSSMANN zur Abschaffung von Mikroplastik. Viele  – aus globaler Sicht  – kleine Schritte in die richtige Richtung bewirken hier durchaus viel. Um den Prolog wiederauf-

Nachhaltigkeit im Handel am Beispiel von ROSSMANN

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zunehmen: Einsicht und Haltung sollten auch beim Thema Nachhaltigkeit in Zuversicht und Handeln münden.

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R. Roßmann et al.

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Nachhaltigkeit im Handel am Beispiel von ROSSMANN

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Raoul Roßmann,  ist seit seinem Abitur 2004 im Unternehmen tätig. Er studierte Betriebswirtschaft in Hannover und London und graduierte mit dem Bachelor of Arts 2009 sowie dem Master of Science 2010. Bevor er in 2015 den Geschäftsbereich Einkauf und Marketing übernahm, hatte er vier Jahre lang den Non-Food-Einkauf des Unternehmens geleitet.

Prof. Dr. Kristin Butzer-­Strothmann,  Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing und Empirische Sozialforschung an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover seit 2011. Zuvor war sie ab 2009 Dozentin an der Leibniz-Akademie und bis 2018 Vizepräsidentin für Lehre und Forschung. Sie leitet den Masterstudiengang „Integrierte Unternehmensführung (digital/nachhaltig)“. Nach einer Lehre zur Werbekauffrau und dem Studium der BWL in Lüneburg promovierte sie zum Thema „Krisen in Geschäftsbeziehungen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 1998 bis 2009 arbeitete sie als Marktforscherin und Marketing-Consultant im Business- und Non-­Business-­Bereich. Darüber hinaus war sie für verschiedene Hochschulen und ­Bildungsinstitutionen als externe Dozentin für Marketing, Marktforschung sowie Industriebetriebslehre tätig. Prof. Dr. Friedel Ahlers  ist seit 2011 Professor für ABWL mit Schwerpunkten Unternehmensführung und Personalwirtschaft an der Leibniz-­Fachhochschule in Hannover. Zuvor war er Dozent an der Leibniz-Akademie, davor einige Jahre Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Die Jahre zuvor arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Leibniz Universität Hannover (Institut für Unternehmensführung und Organisation). Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 1993. Das wirtschaftswissenschaftliche Studium wurde in Hamburg und Oldenburg ­absolviert.

Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements in der Versicherungsbranche aus Sicht der Talanx AG Martin Wienke, Kathrin Reichert und Julius Hansen

1

Einleitende Bemerkungen

Wurde vor gut einer Dekade noch die Frage nach der Notwendigkeit der „Compliance“ im Unternehmen diskutiert, so dominiert heute die Debatte um unternehmerische Verantwortung und Nachhaltigkeit. Im Ringen um die Positionierung hierzu hat nicht zuletzt auch die von der „Fridays for Future“-Bewegung angestoßene Diskussion um den Klimaschutz an Dynamik gewonnen. Inwieweit die Funktionsbereiche Compliance und Nachhaltigkeit vor diesem Hintergrund weiter zusammenwachsen und zu wichtigen Stützpfeilern einer zeitgemäßen Unternehmensstrategie werden, soll im vorliegenden Beitrag näher betrachtet werden. Im Zuge der Klimadebatte und der gesellschaftlichen Diskussion um verantwortungsvolle, transparente Unternehmensführung verzahnen sich die Funktionen Compliance und Nachhaltigkeitsmanagement in der betrieblichen Praxis immer mehr und werden zu wichtigen  Stützpfeilern einer zeitgemäßen Unternehmensstrategie. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst einige definitorische Grundlagen gelegt und rechtliche Anforderungen in den Bereichen Compliance und Nachhaltigkeit skizziert. Im Hauptteil wird darauf aufbauend praxisbezogen beleuchtet, wie zunehmend nichtfinanzielle Aspekte den Unternehmenserfolg determinieren und wie der Talanx Konzern – unter Berücksichtigung der vo­ ranschreitenden Regulierung in diesem Bereich  – damit umgeht. Als grundlegendes Element der Nachhaltigkeitsarbeit wird die Stakeholder-Befragung und Wesentlichkeitsanalyse eingeführt. Im Schlussteil werden beobachtbare Trends aufgezeigt und es erfolgt ein Ausblick auf das „Bindeglied“ Integritätsmanagement, das als zukunftsweisender Ansatz im Talanx Konzern ausgebaut und weiterentwickelt wird.

M. Wienke (*) · K. Reichert · J. Hansen Talanx AG, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_21

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396

1.1

M. Wienke et al.

Einleitung

Im Zuge der fortschreitenden Globalisierung sowie der Liberalisierung der Märkte haben die großen international tätigen Konzerne an wirtschaftlichem Gewicht und gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten gewonnen (BMU 2007, S. 14). Sie prägen maßgeblich das Bild einer zunehmenden internationalen Verflechtung und sind dabei nicht nur als Bestandteil des Systems und Gegenstand vieler Fragen, sondern auch und vor allem als Teil der Lösung anzusehen. Denn mit staatlicher Regulierung allein lassen sich ökologische, soziale und ökonomische Herausforderungen wie Klimawandel, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung oder unfreiwillige Migration nicht bewältigen. Vielmehr bedarf es gerade auch der beständigen Innovationskraft von Unternehmen, um im engen, partnerschaftlichen Austausch mit anderen Akteuren Umweltbelastungen zu minimieren oder wirksame Beiträge zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Lieferkette zu leisten. Die Europäische Kommission postuliert dementsprechend, dass auf allen Ebenen gehandelt werden muss: Die EU-Institutionen, die Mitgliedstaaten und die Regionen müssen einbezogen werden, Städte, Gemeinde und ländliche Gebiete sollten zu Triebkräften des Wandels werden, und Bürger, Unternehmen und Sozialpartner sowie die Forschungs- und Wissensgemeinschaft müssen gemeinsam agieren. (EU Komm. „Reflexionspapier“ 2019)

Eine wachsende Zahl gesellschaftlicher Gruppen erwartet von den Unternehmen eine wirksame „Good Corporate Governance“. Was unter einer übersetzt „guten Unternehmensführung“ zu verstehen ist, wird naturgemäß unterschiedlich interpretiert. Einigkeit besteht weitestgehend jedoch, dass daran ein klares Bekenntnis zu Werten und Transparenz – und darauf aufbauend auch eine aussagekräftige, glaubwürdige Berichterstattung über die nachhaltige Unternehmensausrichtung und die Auswirkungen des unternehmerischen Handelns – geknüpft ist. Der offenen Kommunikation über Ziele und Zielkonflikte, Problemstellungen und Lösungsansätze kommt daher ein hoher Stellenwert zu. Schließlich gilt es, einerseits, im Unternehmen Führungskräfte und Mitarbeiter für neue Herausforderungen zu sensibilisieren, und andererseits, den Dialog mit externen Stakeholdern zu führen. Ein Außerachtlassen gesellschaftlicher Belange kann ein Unternehmen schnell in seiner Existenz bedrohen (z. B. Freeman 1984). Freeman definiert Stakeholder mit „any group or individual who can affect or is affected by the achievement of the firm‘s objectives“ (Freeman 1984, S. 25). Angesichts beständig zunehmender Transparenzanforderungen, zuletzt auch immer stärker regulat. getrieben, ist zu beobachten, dass sich in der Praxis zwei Funktionsbereiche zunehmend verzahnen: die im Rahmen des europäischen ­Versicherungsaufsichtsrechts „Solvabilität II“ als Schlüsselfunktion etablierte Compliance-­ Funktion mit der Funktion des des Nachhaltigkeitsmanagements (Corporate Sustainability Management). Dieser Entwicklung möchte der vorliegende Beitrag nachgehen, der einen integrativen Managementansatz im Sinne des St. Galler Managementmodells zum Ziel hat (Bleicher 2004).

Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements … 397

1.2

 ood Corporate Governance und Compliance – G Begriffsbestimmungen

Corporate Governance bezeichnet den rechtlichen und faktischen Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung des Unternehmens (von Werder 2010, Teil 1 Rnr. 1) und lässt sich mit Verfassung des Unternehmens umschreiben (Hauschka et al. 2016, Rnr. 1), die die externen und internen Regelungen umfasst, die von dem Unternehmen entweder von Rechts wegen anzuwenden sind oder die sich das Unternehmen selbst – mitunter freiwillig – auferlegt. Zwischenzeitlich hat sich herauskristallisiert, dass das Unternehmen sowohl in seinem Innen- als auch in seinem Außenkontext betrachtet werden sollte (z. B. Nonnenmacher 2017, S. 3). Bei einer Befragung hinsichtlich der Bestandteile guter Corporate Governance aus dem Jahre 2018 bestand weitgehend Einvernehmen dahingehend, dass neben Zielorientierung, Controlling sowie Mitarbeiterorientierung auch Kategorien von Belang sind, die eher wenig mit dem Geschäftsmodell im engeren Sinn in Verbindung bringt, wie z. B. soziale Verantwortung, Transparenz und Compliance (Ulrich 2018, S. 63). Im Zen­ trum der Corporate Governance steht demzufolge das Beziehungsgeflecht, in das das Unternehmen eingebunden ist (Vahs und Schäfer-Kunz 2007, S. 41). Dies führt zu einer holistischen Betrachtung der Shareholder- und Stakeholder-Interaktion. Demnach soll „gute“ Corporate Governance hier als die Governance verstanden werden, die die verschiedenen Aspekte auf allen Beziehungsebenen miteinbezieht, so wie es auch das St. Galler Managementmodell vorzeichnet. Was unterscheidet die Begriffe „Good Corporate Governance“ und „Compliance“, was haben sie gemein? Governance und Compliance können als aufeinander bezogene Begriffe verstanden werden, da es um mehr als die Vermeidung von Regelverstößen in der Governance geht (Schwarz 2017, S. 149; Siepelt und Vieweg 2017, S. 38). Was unter dem Begriff Compliance zu verstehen ist, wurde schon in unzähligen Beiträgen behandelt. Aufgrund der Wichtigkeit des Begriffsverständnisses soll er hier dennoch erneut beleuchtet werden. Historisch betrachtet stammt der Begriff aus der angelsächsischen Rechtsterminologie, die in das deutsche Wirtschaftsrecht übernommen wurde (Hauschka 2010, § 1 Rnr. 2), und bedeutet in etwa „Einhaltung, Befolgung, Übereinstimmung“. Damit knüpft die Compliance an die u. a. in §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 AktG bzw. 43 Abs. 1 GmbHG für die Geschäftsleitungsorgane von Unternehmen normierte Legalitätspflicht an. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die Legalitätsverpflichtung zwei Ebenen hat: im ­Innenverhältnis die Einhaltung der bestehenden Pflichten aus den für eine Gesellschaft privater Rechtsform und ihre Organe maßgeblichen Regelungen und im Außenverhältnis die Einhaltung der rechtlichen Pflichten und Vorgaben der Rechtsordnung, die jedermann treffen, die für eine Gesellschaft durch ihre Organmitglieder zu erfüllen sind (Beisheim und Hecker 2015, S. 49 f.). Überschneidungen zwischen Compliance und Corporate Governance ergeben sich dort, wo ein übergeordneter Rahmen die Compliance mitregelt. In Deutschland gibt es seit

398

M. Wienke et al.

2002 den Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK), der für börsennotierte Aktiengesellschaften als Leitbild für eine gute Unternehmensführung fungiert. In Ziffer 4.1.3. wird die Pflicht des Vorstands bestimmt, für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hinzuwirken. Schließlich ging die Regierungskommission einen Schritt weiter und griff in der Fassung des DCGK von 2017 das „Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns“ auf (z. B. Fockenbrock 2017). Damit setzte sich ein Trend fort, nicht ausschließlich rechtlich normierte Forderungen an die Unternehmen aufzunehmen, ein Trend, der mit der Gründung der Regierungskommission DCGK seinen Anfang fand (Spießhofer 2018, S. 442).

1.3

Das Konzept der Nachhaltigkeit – Begriffsbestimmungen

Seit im Jahr 1987 die Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen ihren Abschlussbericht „Our Common Future“ vorgelegt hat, spätestens jedoch seit der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992, prägt die Diskussion um eine nachhaltige zukunftsverträgliche Entwicklung die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung. Mit der Pariser Klimaschutzkonferenz (COP21), die im Dezember 2015 stattgefunden hat, steht nunmehr auch gesellschaftlich und medial eine zentrale Nachhaltigkeitsherausforderung im Brennpunkt: die globale Erderwärmung. Eine der wohl bekanntesten Definitionen nachhaltiger Entwicklung, über deren Inhalt weitgehend Konsens zu herrschen scheint, stammt von der Brundtland-Kommission. Sie definiert nachhaltige Entwicklung als eine Entwicklung, „die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987, S. 27). Das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung ist schon von seiner Begrifflichkeit her kein deskriptives, sondern ein normatives Konzept. Es vermittelt die Vorstellung einer Welt, wie sie sein sollte, insbesondere einer Welt mit mehr Generationen- und Verteilungsgerechtigkeit (UBA 2002, S. 16). Nachhaltigkeit (Sustainability) kann als das Ziel eines vielschichtigen Entwicklungsprozesses gesehen werden. „Sustainability, or the ability to sustain life at the highest possible quality, means that every generation has the ability and is responsible for realisation of the highest quality of life by taking opportunities for improvement“ (Schaltegger et al. 2003, S. 22). In diesem Verantwortungszusammenhang beschäftigen sich verstärkt auch Unternehmen und Unternehmensverbände mit der Umsetzung von „Corporate Social ­Responsibility“ (CSR), „Corporate Sustainability“ und „Sustainability Management“, um den an sie gestellten Forderungen nach Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung gerecht zu werden.1 Beispiele für (Branchen-)Initiativen sind etwa die Value Balancing Alliance, das Hub for Sustainable Finance oder die Global e-Sustainability Initiative, kurz

1

 Zum Konzept CSR und begrifflichen Unschärfen vgl. z. B. Schneider 2015, S. 21 ff.

Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements … 399

GeSI. Sustainability Management stellt den umfassendsten Ansatz dar und ist gemäß dem „Drei-Säulen-Modell“ darauf ausgerichtet, ökologische, soziale und ökonomische Wirkungen unternehmerischer Aktivitäten so zu steuern, dass einerseits eine nachhaltige Entwicklung des Unternehmens selbst ermöglicht wird und andererseits positive Wirkungen vom Unternehmen auf eine nachhaltige Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft ausgehen. Die sozialen und ökologischen Aspekte der Unternehmenstätigkeit sollen dabei mit Methoden der Ökonomie gemanagt und in die „konventionelle“ betriebswirtschaftliche Unternehmensführung integriert werden (BMU et al. 2007, S. 10).

1.4

Rechtliche Grundlagen im Bereich Compliance

Finanzunternehmen im Allgemeinen und Versicherer im Speziellen weisen Besonderheiten in ihrem Governance-System auf (Scheidl und Hartung 2018, S. 250). Der Gesetzgeber und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) schreiben Finanzunternehmen vor, dass neben der  internen Revision und dem Risikomanagement weitere Schlüsselfunktionen aufgebaut werden müssen. Diese Funktionen sollen eine fachlich spezialisierte Kontrollarbeit ausüben, risikosteuernde Geschäftsbereiche beraten und der internen Revision eine konfliktfreie Prüfung ermöglichen (Scheidl und Hartung 2018, S. 250). Compliance ist eine der vorgenannten Schlüsselfunktionen im Versicherungsunternehmen, um dieses Regelungsziel zu erreichen. Die Gesamtheit der von der Compliance-­ Funktion gesteuerten Prozesse und Maßnahmen wird auch als Compliance-­Management-­ System bezeichnet (Scheidl und Hartung 2019, S. 256). Auf Basis aller wesentlichen Gesetze, Verordnungen und unternehmensinternen Regelwerke erwarten der Gesetzgeber und die BaFin von der Compliance-Funktion eine valide Bewertung, ob die Verfahren zur Verhinderung von Non-Compliance im Unternehmen angemessen sind (Scheidl und Hartung 2018, S. 256). Die BaFin konkretisiert ihre Erwartungen an die Versicherungsunternehmen in Rundschreiben, wie beispielsweise den Mindestanforderungen für die Geschäftsorganisation vom 25. Februar 2017, in dem sie unter anderem erläutert, wie die Compliance-Strukturen, proportional zur Größe des Unternehmens, ausgestaltet  sein sollten. Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass der Begriff „Compliance“ regelkonformes Handeln umfasst und dem Bereich der Legalitätspflicht der Organe des Unternehmens zuzuordnen ist (Niewarra und Segschneider 2016, S. 40).

1.5

 echtliche Grundlagen im Bereich R der Nachhaltigkeitsberichterstattung

Die politischen Initiativen der EU verdeutlichen, dass die Entwicklung der europäischen Wirtschaft eng mit der Umsetzung von Nachhaltigkeit im unternehmerischen Kontext verbunden ist. Dafür schafft die EU in den letzten Jahren einen gemeinsamen politischen

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Rahmen und treibt die Diskussion um „nichtfinanzielle Belange“ voran (BMAS 2019). Jüngste Meilensteine seit der Veröffentlichung des Grünbuchs zur sozialen Verantwortung der Unternehmen im Jahre 2001 und den Mitteilungen der EU-Kommission zu CSR in den Jahren 2002 und 2006 sind die Richtlinie des Europäischen Parlaments und Rates vom 22. Oktober 2014 (2014/95/EU) zur nichtfinanziellen Berichtspflicht sowie der „Aktionsplan für ein nachhaltiges Finanzwesen“ (März 2018). Mit der Berichtspflicht zu Nachhaltigkeitsaspekten verfolgt die EU das Ziel, europaweit ein verantwortungsbewussteres und an Nachhaltigkeitskriterien ausgerichtetes Wirtschaften zu fördern. Die oben genannte Richtlinie bildet die Grundlage für die mittlerweile erfolgte Umsetzung in nationales Recht: Das deutsche „Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten“ (auch CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, kurz CSR-RUG) verpflichtet große Unternehmen, über ihre Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie die Bekämpfung von Korruption und Bestechung zu berichten. Das Transparenzgesetz erfasst kapitalmarktorientierte Kapitalgesellschaften, Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen, die an zwei aufeinanderfolgenden Bilanzstichtagen eine Bilanzsumme von 20 Mio. Euro oder Umsatzerlöse von 40 Mio. Euro und zugleich die Zahl von 500 Arbeitnehmern (im Jahresdurchschnitt) überschreiten. Die erfassten Unternehmen können wählen, ob sie die nichtfinanziellen Informationen als Erweiterung des Lageberichts im Geschäftsbericht oder in einem separaten Nachhaltigkeitsbericht veröffentlichen. Dieser muss dann spätestens vier Monate nach Geschäftsjahresende veröffentlicht werden. Zu den im Gesetz genannten nichtfinanziellen Belangen sind jeweils die folgenden Angaben zu machen, wenn sie für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses und der Lage des Unternehmens erforderlich sind: • • • •

eine Beschreibung der verfolgten Strategie, Konzepte und Maßnahmen eine Beschreibung der angewandten Due-Diligence-Prozesse die Ergebnisse der verfolgten Strategie in Bezug auf die genannten Belange die wesentlichen Risiken, die mit der eigenen Geschäftstätigkeit verknüpft sind und die schwerwiegende negative Auswirkungen auf die genannten Belange haben können, sowie die Handhabung dieser Risiken • die wichtigsten nichtfinanziellen Leistungsindikatoren, die für die Geschäftstätigkeit von Bedeutung sind • soweit es für das Verständnis erforderlich ist, Hinweise auf im Jahresabschluss ausgewiesene Beträge und zusätzliche Erläuterungen dazu Verfolgt das Unternehmen in Bezug auf einen oder mehrere dieser Belange keine klare Strategie, ist in einer Erläuterung anzugeben, warum dies so ist („comply or explain“). Eine inhaltliche Prüfung der Berichte ist bis dato nicht vorgeschrieben. Wurde eine inhalt-

Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements … 401

liche Prüfung durchgeführt, ist ein damit gegebenenfalls einhergehendes Prüfungsurteil ab dem 1. Januar 2019 allerdings offenzulegen. Ein Abschlussprüfer hat indes bereits jetzt zu prüfen, ob die nichtfinanziellen Informationen innerhalb der Frist von vier Monaten vorgelegt wurden. In der Praxis zeigt sich, dass externe Überprüfungen weiter an Bedeutung gewinnen: Im Berichtsjahr 2018 haben bereits 68 % (2017: 61 %) der Unternehmen ihre nichtfinanzielle Berichterstattung freiwillig extern prüfen lassen; 60 % (2017: 56 %) davon im Zuge einer „prüferischen Durchsicht“ bzw. mit „limited assurance“ (Ernst & Young 2019). Eine Studie des Deutschen Global Compact Netzwerks und econsense (Forum Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft) zur Umsetzung des deutschen CSR-­RUG kommt zu folgenden Ergebnissen: Die Umsetzung des CSR-RUG ist von einer Vielfalt an Formaten und Vorgehensweisen geprägt. Für fast alle Unternehmen war sie mit unterschiedlichen Herausforderungen und erheblichem Aufwand verbunden. Doch die Umsetzung führte bei so gut wie allen Unternehmen auch zu positiven Effekten. Insofern hat sich der Aufwand oft durchaus gelohnt. So ist die Aufmerksamkeit für nichtfinanzielle Themen in den betroffenen Unternehmen deutlich gestiegen, vor allem bei der Unternehmensleitung und dem Aufsichtsrat, aber auch bei den Mitarbeitern. In der Rangliste der Treiber für Nachhaltigkeit in Unternehmen dominieren gleichwohl noch die Anforderungen von Kunden und Kapitalmarkt. (DGCN und econsense 2018)

Der Gesetzesinitiative kann mithin eine Impulswirkung für die Weiterentwicklung der innerbetrieblichen Strukturen, Prozesse und des Berichtswesens zugesprochen werden. Die im HGB verankerten „Pflicht“-Belange – insbesondere die Aspekte Bekämpfung von Korruption und Bestechung sowie Achtung der Menschenrechte  – weisen zudem einen starken Compliance-Bezug auf, was die eingangs skizzierte Verzahnung der Compliance-­ Funktion mit dem Nachhaltigkeitsmanagement beschleunigt.

2

 usammenspiel von Compliance und Nachhaltigkeit Z in der Talanx

Das Zusammenspiel von Compliance und Nachhaltigkeit in der Talanx ist von interdisziplinärem Arbeiten geprägt und baut auf der Nachhaltigkeitsstrategie auf. Diese besteht aus Handlungsfeldern, Zielen sowie Maßnahmen und legt den Grundstein für die Nachhaltigkeitsausrichtung des Unternehmens. Im Folgenden soll zunächst aufgezeigt werden, wie „weiche“ Faktoren zunehmend den Unternehmenserfolg beeinflussen, bevor die Ausgestaltung der Talanx Nachhaltigkeitsstrategie skizziert wird. Letzteres soll praxisbezogen am Beispiel der Themenbereiche erfolgen, die die Funktionsbereiche Compliance und Nachhaltigkeit gleichermaßen tangieren bzw. bei denen es zu starken inhaltlichen Überschneidungen kommt.

402

2.1

M. Wienke et al.

 ichtfinanzielle Aspekte und „soft facts“ beeinflussen N den Unternehmenserfolg

In der betriebswirtschaftlichen Literatur wurde die Verknüpfung von finanziellem Erfolg und Verantwortung lange als ein „Oxymoron“ bezeichnet und die zwei Aspekte damit „widersprüchlich-gegensätzlich“ miteinander verknüpft. Man müsse sich eben entscheiden, entweder Gewinn oder Ethik. Oft herrschte die Einstellung: In guten Zeiten kann man sich mehr „Verantwortung“ in Form von gemeinnützigen Projekten leisten, in schlechten eben weniger. Spätestens mit der Finanzkrise ist diese Sichtweise auf die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen nicht mehr haltbar. (Schneider und Schmidpeter 2015, S. VII)

Praxisbeispiele und auch wissenschaftliche Studien zeigen, dass konsistente Nachhaltigkeitsstrategien und zielgerichtete Maßnahmen die Rentabilität von Unternehmen erhöhen (ebd.). So ergab eine Meta-Untersuchung von rund 2200 Studien aus dem Jahr 2015 eine positive Korrelation zwischen Nachhaltigkeitsperformance und Finanzperformance (CFP, Corporate Financial Performance) der analysierten Unternehmen (Friede et al. 2015). Die Ausrichtung wirtschaftlichen Handelns an Kriterien einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Entwicklung hat spätestens mit dem internationalen Klimagipfel von Rio de Janeiro 1992 den Charakter eines nur ethischen Diskurses überschritten (vgl. Ahrendt 2017, S. 105). So ist feststellbar, dass sich eine Überwindung des eingangs beschriebenen Oxymorons zunehmend durchsetzt. Bei gleicher Qualität und gleichem Preis würden heute weit mehr Menschen einen Anbieter mit starkem sozialen Engagement gegenüber einem in dieser Hinsicht nicht auffälligen  Wettbewerbers vorziehen, als dies in den 1990er-Jahren der Fall war (Kotler et  al. 2013, S.  13, 26). Die Wissenschaft hat zwischenzeitlich herausgefunden, dass eine Verbesserung der Nachhaltigkeitsreputation eines Unternehmens um 5 % eine fast doppelt so hohe Weiterempfehlungsrate zur Folge hat (Rödig 2014, S. 91). Auf Kundenseite ist eine bis zu 20 % höhere Zahlungsbereitschaft messbar (Whelan und Fink 2016); bei den Mitarbeitern lässt sich die Fluktuation um 25–50 % reduzieren (ebd.) und die Stakeholder-Gruppe der Aktionäre erwartet eine bis zu 6  % höhere Aktienperformance pro Jahr (Khan et  al. 2015). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Unternehmen mit einer starken Nachhaltigkeitsleistung eine bessere Betriebsleistung und ein geringeres Risikoprofil aufweisen. Daneben profitieren diese Unternehmen von einem besseren Zugang zum Kapitalmarkt (Clark et  al. 2015, S. 46). Diese Erkenntnis setzt sich zunehmend auch in der Branche der Finanzdienstleister durch: Im Vergleich zu allen 2500 im Dow Jones Sustainability Index bewerteten Unternehmen über sämtliche Branchen hinweg stehen die besonders gut bewerteten Versicherer den Top-Performern anderer Branchen nicht nach. Allerdings sind die erzielten Durchschnittswerte in der Versicherungsbranche deutlich schlechter als der Weltdurchschnitt aller betrachteten Branchen (Görgen 2019, S.  482; Robecosam 2018). Es kann mithin durchaus von einem gewissen Aufholbedarf gesprochen werden.

Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements … 403

2.2

 takeholder-Befragung und Wesentlichkeitsanalyse als S grundlegendes Element der Nachhaltigkeitsstrategie

Die Nachhaltigkeitsstrategie des Talanx Konzerns baut auf den Anforderungen und Inte­ ressen seiner Stakeholder auf. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Kunden und Geschäftspartner, Investoren sowie die Beschäftigten. Neben den übergeordneten Strategieelementen „Nachhaltigkeitsstrategie und Governance“ sowie „Dialog und Berichterstattung“ gliedert sich die aktuelle Nachhaltigkeitsstrategie des Talanx-Konzerns des Talanx Konzerns des Talanx Konzerns in vier weitere Handlungsfelder. Das für den vorliegenden Beitrag relevante Handlungsfeld „Compliance und Transparenz“ umfasst als Querschnittsfunktion die Einhaltung von gesetzlichen und rechtlichen Vorschriften, regulatorischen Vorgaben sowie des eigenen Verhaltenskodex über den gesamten Konzern und alle Handlungsfelder hinweg. Vom rechtlich korrekten, verantwortungsbewussten und ethischen Handeln bei Talanx hängen maßgeblich das Vertrauen in den Konzern und seine Wettbewerbsfähigkeit ab. Neben Themen wie Geldwäsche- und Korruptionsprävention zählen hierzu z. B. auch Datenschutz und Cybersecurity sowie Steuer-Compliance. Der Talanx Konzern möchte bezüglich dieser und weiterer Themen Transparenz herstellen, um hiermit im Wettbewerb zu überzeugen. Unter Berücksichtigung der GRI-Standards und des CSR-RUG bildet eine Wesentlichkeitsanalyse die Grundlage der Nachhaltigkeitsarbeit im Talanx Konzern. So wurde im Geschäftsjahr 2018 die initiale Stakeholder-Befragung aus dem Jahr 2014 aktualisiert und erweitert, um die Nachhaltigkeitsthemen und Herausforderungen, die für das Unternehmen wesentlich sind, zu identifizieren. Die Themen wurden mithilfe einer internen sowie einer online-basierten externen Stakeholder-Befragung und telefonischen Experteninterviews ermittelt. Die hohe Bedeutung des Themas Compliance wurde durch die neue Befragung untermauert. Weitere wesentliche Themen sind: Datenschutz und Cybersecurity, Verantwortung ggü. Kunden, Mitarbeitergewinnung und -entwicklung, Nachhaltigkeit im Asset-Management und in Versicherungslösungen, Menschenrechte und Talanx als Arbeitgeber (Talanx 2019, S. 15 f.). Gemäß GRI-Standards muss ein Nachhaltigkeitsbericht diejenigen Themen behandeln, die die wesentlichen ökonomischen, ökologischen und sozialen Auswirkungen (impacts) der berichtenden Organisation aufzeigen oder substanziell die Beurteilungen und Entscheidungen der Stakeholder beeinflussen. Im Unterschied zu GRI nimmt das CSR-RUG neben den Auswirkungen nicht die Stakeholder-Relevanz als zweite Dimension der Wesentlichkeitsanalyse in den Blick. Stattdessen ist zu bewerten, inwieweit eine nichtfinanzielle Information erforderlich für das Verständnis von Geschäftsverlauf, Geschäftsergebnis und Lage des Unternehmens ist. Berichtspflichtige Unternehmen stehen mithin vor der Herausforderung, die Wesentlichkeit von Themen in drei Dimensionen zu ermitteln, um sowohl die GRI- als auch das CSR-RUG-Anforderungen zu erfüllen. Der Vorstand der Talanx AG wurde als oberster Entscheidungsträger in den Prozess der Ermittlung wesentlicher Themen eingebunden. So wurde die Bedeutung von Themen im Vorstand festgelegt und das Vorgehen für den Stakeholder-Dialog abgestimmt. Auch die

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Ergebnisse der Wesentlichkeitsanalyse sind zur Validierung mit dem Vorstand besprochen worden. Ein Review-Prozess der Nachhaltigkeitsstrategie und -prozesse erfolgt stets nachgelagter, wiederum unter Einbindung des Gesamtvorstandes. Ziel ist eine effiziente organisatorische Integration von Nachhaltigkeit in das Kerngeschäft des Talanx-Konzerns.

2.3

 hemenkomplexe Korruptionsprävention und Menschenrechte T als Eckpfeiler von Compliance-Programmen – Brückenschlag zwischen Compliance und Nachhaltigkeit

Das CSR-RUG regelt auch die Nutzung von Rahmenwerken. Unternehmen können für ihre nichtfinanzielle Berichterstattung nationale, europäische oder internationale Rahmenwerke heranziehen. Es ist anzugeben, ob ein Rahmenwerk verwendet wird und wenn dies der Fall ist, welches. Kommt kein Rahmenwerk zur Anwendung, ist dies zu begründen (§ 289d HGB). In diesem Zusammenhang sei der Deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK) erwähnt, der 2011 vom Rat für Nachhaltige Entwicklung in einem Stakeholder-Prozess entwickelt und bereits mehrfach überarbeitet wurde. Der DNK unterstützt den Aufbau einer Nachhaltigkeitsstrategie und bietet als Transparenzstandard einen Einstieg in die Nachhaltigkeitsberichterstattung (www.deutscher-nachhaltigkeitskodex.de). In der Berichtspraxis ist zu beobachten, dass immer mehr Unternehmen die GRI-­ Standards für Nachhaltigkeitsberichte und -kennzahlen anwenden, so auch der Talanx Konzern. Weltweit sind mittlerweile über 33.000 GRI-basierte Nachhaltigkeitsberichte in der offiziellen GRI-Berichtsdatenbank („Sustainability Disclosure Database“, https://database.globalreporting.org/) registriert. Global Reporting Intitiative (GRI) ist eine internationale Not-for-Profit-Organisation und hilft Unternehmen, Regierungen und anderen Organisationen dabei, die jeweiligen Auswirkungen auf kritische Nachhaltigkeitsthemen zu verstehen und zu kommunizieren. Dies umfasst den Klimawandel, Menschenrechte, Korruptionsbekämpfung und viele andere Themen. Die GRI-Standards werden vom Global Sustainability Standards Board (GSSB) herausgegeben, einem unabhängigen Multi-­ Stakeholder-­Standardgeber, der von GRI gegründet wurde (GRI und DQS CFS 2019). Die GRI-Standards sind modular aufgebaut und können sowohl als Set als auch einzeln angewendet werden. Sie enthalten eine Reihe von Berichterstattungsgrundsätzen, um die Auswahl und Qualität der Inhalte zu steuern. Eine grundlegende Anforderung ist es, wesentliche Themen zu identifizieren und offenzulegen (siehe auch Abschn. 2.1). Zu differenzieren ist zwischen den drei „universellen Standards“ (GRI 101: Grundlagen, GRI 102: Allgemeine Angaben, GRI 103: Managementansatz) sowie den 33 „themenspezifischen Standards“ (GRI 200: Wirtschaft, GRI 300: Ökologie, GRI 400: Soziales). Organisationen nutzen für ihre Berichterstattung lediglich diejenigen themenspezifischen Standards, die die für sie wesentlichen Themen abdecken. Die Elemente „Wesentlichkeit“ und „Einbindung von Stakeholdern“ sind, wie bereits ausgeführt, zwei der zehn grundlegenden Prinzipien der Berichterstattung, die es zu berücksichtigen gilt. Wichtig ist, dass der Nachhal-

Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements … 405

tigkeitsbericht alle wesentlichen Themen einer Organisation aufgreift, auch solche, die nicht von den GRI-Standards abgedeckt sind. Ein Beispiel hierfür aus der Berichtspraxis des Talanx-Konzerns stellt der Themenkomplex Datenschutz und Cybersecurity dar. Nachfolgend sind exemplarisch die GRI-Standards aufgelistet, die aus dem Blickwinkel des Talanx-Konzerns einen ausgeprägten Compliance-Bezug aufweisen und damit den bereits erwähnten interdisziplinären Austausch erfordern: • • • • • • • • • • • • •

GRI 204: Beschaffungspraktiken GRI 205: Korruptionsbekämpfung GRI 206: Wettbewerbswidriges Verhalten GRI 307: Umwelt-Compliance GRI 406: Gleichbehandlung GRI 407: Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlungen GRI 408: Kinderarbeit GRI 409: Zwangs- oder Pflichtarbeit GRI 412: Prüfung auf Einhaltung der Menschenrechte GRI 414: Soziale Bewertung der Lieferanten GRI 415: Politische Einflussnahme GRI 417-3: Verstöße im Zusammenhang mit Marketing und Kommunikation GRI 418-1: Begründete Beschwerden in Bezug auf die Verletzung des Schutzes und den Verlust von Kundendaten • GRI 419: Sozioökonomische Compliance Die Übersicht veranschaulicht die Vielfalt an Aspekten, die ein zeitgemäßes Com­ pliance-­Management abzudecken hat. Als einer der wesentlichen Pfeiler von Compliance-­ Programmen kann die Korruptionsprävention angeführt werden, die gleichzeitig ein Grundprinzip der unternehmerischen Nachhaltigkeit darstellt (Teicke 2018, S. 274 f.). An dieser Stelle wird deutlich, dass für die interne Aufbereitung und Ausgestaltung der Nachhaltigkeitsberichterstattung eine enge Verzahnung zwischen den involvierten Fachbereichen Compliance und Nachhaltigkeit erforderlich ist. Im Talanx-Konzern ist hierfür einerseits ein regelmäßiger Austausch im Rahmen eines internen Kompetenzteams ­Nachhaltigkeit etabliert; andererseits finden fortwährend bilaterale Gespräche statt – beispielsweise im Zuge der Erarbeitung eines konzernweit gültigen Verhaltenskodex für ­Geschäftspartner. Im Rahmen der nichtfinanziellen Berichtspflicht sind Unternehmen gefordert, ihre Maßnahmen zur Korruptionsprävention konkret zu erläutern. Darzustellen sind insbesondere folgende Compliance-Elemente: Richtlinien, Schulungsmaßnahmen, Audits, Klauseln, Geschäftspartnerprüfungen und Risikoanalysen (ebd.), um das effektive Management dieses „Compliance-Klassikers“ angemessen belegen zu können. Ein inte­ grativer Ansatz und eine enge Zusammenarbeit sind dabei unerlässlich, will man nicht riskieren, dass Doppelarbeit entsteht oder – noch schlechter – die jeweiligen Aktivitäten sich gegenseitig behindern oder gar konterkarieren. Die Notwendigkeit der Nutzung von Synergieeffekten durch Bündelung von Ressourcen und Kompetenzen in der gemeinsa-

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men Arbeit von Compliance und Nachhaltigkeit erscheint gerade auch in einem international agierenden, dezentral organisierten Konzern unerlässlich.

2.4

 unehmende Verrechtlichung nichtfinanzieller Themen – Wird Z Nachhaltigkeit zu einer weiteren Compliance-Anforderung?

Die der unternehmerischen Nachhaltigkeit zugeschriebenen Themenblöcke Umweltbelange, Arbeitnehmerbelange, Sozialbelange, Menschenrechte und Bekämpfung von Korruption und Bestechung verlieren zunehmend das Merkmal der Freiwilligkeit. Viele ethisch-moralische Pflichten sind bereits gesetzlich festgeschrieben. Wie sich diese Entwicklung fortsetzen wird, lässt sich aus heutiger Sicht noch nicht abschließend beurteilen, wenngleich bereits feststeht, dass der Regulierungsgrad in den fünf im CSR-RUG verankerten Aspekten weiter zunehmen wird. Insbesondere ist derzeit ein Trend innerhalb der Finanz- und Versicherungsindustrie festzustellen, sich intensiver mit den materiellen Environmental-, Social- und Governance-Aspekten (kurz ESG) auseinanderzusetzen (z. B. BaFin 2019b). Standen in der Vergangenheit die produzierende Industrie und der Handel im Blickfeld des unternehmensbezogenen Nachhaltigkeitsdiskurses, steht nun die Finanzwelt auf der politischen Agenda der Europäischen Union und nationaler Initiativen. Ein prominentes Beispiel dafür ist der im Frühjahr 2018 von der EU-Kommission veröffentlichte „Aktionsplan für ein nachhaltiges Finanzwesen“ (Action Plan on Sustainable Finance). Die von der Kommission vorgelegten Vorschläge bekräftigen Europas Entschlossenheit, weltweit die Vorreiterrolle bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Umsetzung des Übereinkommens von Paris zu übernehmen. Kernpunkte der Maßnahmen umfassen ein einheitliches EU-Klassifikationssystem („Taxonomie“), Investorenpflichten, Referenzwerte für CO2-Emissionen sowie eine bessere Kundenberatung in Sachen Nachhaltigkeit (EU Kommission 2018). Bemerkenswert beim Vorstoß, die rechtlichen Anforderungen anzuheben, ist die Lesart des Konzeptes der Nachhaltigkeit durch die Legislative. Gerade bezogen auf den Finanzsektor ist eine sogenannte „Finanzialisierung der Nachhaltigkeit“ zu verzeichnen (z. B. Hiß 2014). Während Nachhaltigkeit auf den drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales aufbaut, der sogenannten „Triple Bottom Line“, wird in den aktuellen ­Regulierungsvorhaben vorwiegend die Dimension Environment/Umwelt adressiert. Durch diese Einengung des Nachhaltigkeitsverständnisses entsteht zunehmend ein neuartiges, vornehmlich klimabezogenes Nachhaltigkeitsverständnis. Wie sich diese Entwicklung fortsetzen wird, ist derzeit nicht absehbar. Zumindest birgt die Finanzialisierung des Konzeptes das Risiko, dass soziale und ökonomische Governance-basierte Belange ins Hintertreffen geraten. Der Finanzwelt, in der auch die Versicherungsbranche eine tragende Rolle spielt, wird durch den Gesetzgeber eine besondere Rolle zugedacht: sie soll als „Ankerbranche“ fungieren und Treiber für die Legislative sein, eine ausgeprägte Regulatorik in diesem Feld voranzubringen. Das, was in der Finanzwelt beschlossen wird, soll auf andere Branchen ausstrahlen – im Sinne des beschriebenen „Anker-Gedankens“. Das würde wiederum zu einer entspre-

Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements … 407

chenden Limitierung des Nachhaltigkeitsgedankens anstelle einer Ausdehnung führen. Die Nachhaltigkeit könnte sich zu einem auf Umweltthemen begrenzten Konzept entwickeln. Umgekehrt könnte dies aber auch nur der Ausgangspunkt sein, d. h., dass nach der Umsetzung der Anforderungen im Umweltbereich checklistenartig auch die Säulen Sozia­ les und Ökonomie/Governance durch die gesetzgebenden Institutionen angegangen werden. Für diese Lesart spricht der von der BaFin am 20. September 2019 veröffentlichte Entwurf eines Merkblatts zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken, in dem klargestellt wird, dass sich Nachhaltigkeit aus den Dimensionen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (Governance) zusammenzusetzen habe, (BaFin 2019a). Eines jedoch bleibt bereits heute festzuhalten: Die Grenzen zwischen Nachhaltigkeits- und Compliance-Anforderungen werden zunehmend durchlässiger. Mit der Verrechtlichung von Nachhaltigkeitsaspekten entsteht eine Situation, in der Unternehmen ihre Bemühungen im Bereich der unternehmerischen Nachhaltigkeit ernst nehmen und gezielt im Kerngeschäft verankern müssen; ein reaktiver „Nice-to-have-Ansatz“ ist nicht mehr zeitgemäß. Wie bei jeder anderen regulatorischen Anforderung auch, müssen die nichtfinanziellen Aspekte umfassend aufgearbeitet werden. Anderenfalls droht ein Regelbruch und dieser dürfte umso schwerer wiegen, als damit erfahrungsgemäß ein nicht unerheblicher Reputationsverlust einhergeht. Seit ökologische, ökonomische und soziale Fragen in den Mittelpunkt rücken, stellt sich auch für Unternehmen verstärkt die Frage nach der Verantwortung für ihr Handeln (Renz et al. 2015, S. 2). Auf den Talanx-Konzern übertragen bedeutet dies, dass wir im Zuge der Anbahnung der Richtlinie 2014/95/EU zur nichtfinanziellen Berichtspflicht und mit Inkrafttreten des nationalen CSR-RUG verstärkt an den Themen arbeiten (Abb. 1). Gerade auch in den verpflichtenden Berichtsformaten zu Nachhaltigkeitsaspekten sind die Unternehmen gefordert, nicht nur ihren Standpunkt zu dem einen oder anderen Thema

Nachhaltigkeit

  

Compliance

Deutscher Corporate Governance Kodex (DCGK): § 161 AktG Nationaler Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte CSR-RUG: § 289a HGB

   

Global Reporting Initiative (GRI) Deutscher Nachhaltigkeitskodex (DNK) UN Global Compact (UNGC) DIN ISO 26000

Abb. 1  Compliance und Nachhaltigkeit: eigene Darstellung

  

Modern Slavery Act (GB) Devoir de Vigilance (FR) Wet Zorgplicht Kinderarbeid (NL)

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einzunehmen, sondern auch das entsprechende Compliance-Bekenntnis dazu abzugeben. Dies setzt jedoch vorab voraus, dass ein gemeinsames Verständnis hierüber erzielt wurde. Im Talanx-Konzern wird dieses interdisziplinär in Arbeitsgruppen und Workshops erarbeitet. Wichtige Grundlage ist darüber hinaus das Element der regelmäßigen Stakeholder-­ Befragung. Formale Nachhaltigkeits-Gremien, wie beispielsweise das „Responsible Investment Committee“ der Talanx AG, oder die Behandlung von Nachhaltigkeitsthemen auf Vorstandsebene unterstützen den Prozess der „ESG-Sensibilisierung“ im Konzernverbund.

3

Schlussbetrachtung

3.1

Ausblick und Trends

Während in der Vergangenheit die Gesetze klarer Taktgeber für die Unternehmen waren, rücken die Stakeholder und das gezielte Management der Stakeholder-Beziehungen immer mehr in den Mittelpunkt der geschäftlichen Überlegungen. Parallel hierzu ist eine Professionalisierung der Arbeit nichtstaatlicher Organisationen zu beobachten. Durch die sozialen Medien und einen gekonnten Umgang mit den damit verbundenen Möglichkeiten ist die faktische Einflussnahme auf die vorherrschende Meinung in der Öffentlichkeit weitaus einfacher geworden. Kommunikationsmöglichkeiten, wie z.  B.  Twitter, Facebook oder LinkedIn, ermöglichen den nichtstaatlichen Organisationen, durch „Schulterschluss“ das Meinungsbild dahingehend zu prägen, dass der Gesetzgeber nicht umhinkommt, die Dinge zu verrechtlichen. Aus Unternehmenssicht ist damit die Herausforderung verbunden, sich entsprechend zu positionieren. Dabei gibt es zwei grundsätzliche Wege: entweder wird abgewartet, bis es zur einer rechtlichen Verpflichtung kommt, oder das Unternehmen bringt sich (pro-)aktiv in den Prozess der Meinungsbildung ein, und wird damit selbst Taktgeber. Die letztere Variante erscheint dabei aus vielerlei Hinsicht vorzugswürdig. Einerseits kann das Unternehmen sich selbst besser in Position bringen und sein Handeln in diesem Bereich werbend einsetzen; andererseits kann es gegebenenfalls durch freiwillig eingegangene Selbstverpflichtungen einem Anstieg der rechtlichen Anforderungen vorbeugen.

3.2

 ögliche Antwort auf die Entwicklung: Aufbau M eines Integritätsmanagementsystems

Als um die Jahrtausendwende die Idee der Good Corporate Governance aus dem angelsächsischen Raum und damit auch die Idee der Compliance nach Deutschland transportiert wurde, ging man davon aus, dass mit der Implementierung eines Bündels von Maßnahmen und Prozessen nicht regelkonformes Handeln („non-Compliance“) verhindert werden könne. Dementsprechend haben, angefangen von den DAX-30-Unternehmen bis

Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements … 409

hin zum familiengeführten KMU, die meisten Unternehmen sogenannte Compliance-­ Management-­Systeme (CMS) etabliert (Möhrle und Weinen 2016, S. 253), die den Zweck verfolgen, dass Regelkonformität nicht dem Zufall überlassen wird, sondern das Unternehmen vor Risiken, die sich aus der Nichtbeachtung von Gesetzen und selbst eingegangenen Verpflichtungen ergeben können, geschützt werden (Withus 2010, S.  75; Klindt et al. 2010, S. 215 ff.). Auf Unternehmensseite wurden daher umfassende Compliance-­ Programme aufgesetzt, die in ihrer Ausgestaltung abhängig von der Unternehmensgröße und dem Geschäftsmodell sind. Regelmäßig wurden diese Programme überprüft und gegebenenfalls verfeinert. So entstanden nach und nach immer ausgefeiltere Prozess- und Kontrolllandschaften. Darüber hinaus wurden in Form von Zertifizierungsstandards, wie beispielsweise dem IDW PS 980, ISO 19600 oder ISO 37000, übergeordnete Standards entwickelt. Über die Vor- und Nachteile solcher Zertifizierungsstandards wird recht kon­ trovers diskutiert. Mitunter könnte das Bild entstehen, dass die sich mit Compliance-­ Themen befassenden Zertifizierungsstandards Regelverstößen vorbeugen können, wenn nur die in den Standards enthaltenen Best-Practice-Ansätze umgesetzt würden. Die Realität belegt jedoch das Gegenteil (vgl. auch Wieland 2008, S. 17). Das prominenteste Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit für den Fall eines „State-of-the-art“-CMS ist die sogenannte „Dieselaffäre“ (Jäkel 2015). Trotz eines umfassend zertifizierten Compliance-­ Management-­Systems und ausgefeilter Governance-Risk-Compliance-Prozessen konnte dieser in Ausmaß und Schadenshöhe außergewöhnlicher Compliance-Fall nicht verhindert werden. Ob Fälle von Datenmissbrauch, Korruption oder Kartellrechtsverstöße: In den großen deutschen Unternehmen haben Ermittler in den vergangenen Jahren viele Verstöße aufgedeckt (z. B. Kalbhenn 2012). Bei der Ursachensuche und der Frage, warum es trotz komplexer Systeme immer wieder und teilweise zu gravierenden Compliance-Verstößen gekommen ist, stößt man rasch auf die im betroffenen Unternehmen vorherrschende Unternehmenskultur. Es reift die Erkenntnis, dass Prozesse, mögen sie einen noch so hohen Reifegrad aufweisen, nicht geeignet sind, den Faktor Mensch und sein kulturelles sowie gesellschaftliches Vorverständnis zu kompensieren. Was kann aus den vielen Vorfällen gelernt werden, die nahezu täglich der Medienberichterstattung zu entnehmen sind? Unsere Überzeugung: Der Mensch (und Mitarbeiter) muss, so wie er ist und agiert, in das Zentrum des Handelns gestellt werden. Es geht darum, das „richtige Handeln“ durch eigene, intrinsische Motivation zu erzeugen. Der Weg dorthin führt aus unserer Sicht über die reine rechtliche Verpflichtung hinaus hin zu einem wertebasierten Handeln und Wirtschaften. Die reine Erfüllung der Legalitätspflicht wird um die Legitimität des unternehmerischen Handelns ergänzt. Das bedeutet eine Grenzverschiebung von der Rechtsverletzung im engeren Sinne hin zur Vermeidung negativer Auswirkungen (Spießhofer 2018, S. 444) durch Signale nach innen und außen. Diesen Ansatz greifen wir im Unternehmen auf und ergänzen seit nunmehr einem Jahr unser Compliance-­ Management-­System um Aspekte eines Integritätsmanagements. Nach und nach implementieren wir Maßnahmen, die die Eigenverantwortlichkeit des Handelns eines jeden Einzelnen unterstreichen und ihn dafür sensibilisieren, dass es in der Arbeitsroutine auch

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immer wieder zu Dilemma-Situationen kommen kann, die sachgerecht gelöst werden müssen. Denn das „Unternehmen“ an sich existiert nicht. Das „Unternehmen“ ist die Summe der in ihm Beschäftigten. Dementsprechend fängt das Integritätsmanagement dort an, wo die Compliance-Management-Systeme nicht selten enden (Heißner und Benecke 2013, S. 2926). Manches, was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand. Indem wir die Integrität der Mitarbeiter und ihrer individuell-subjektiven Schnittmenge von persönlichen Werten und Werten ihres Arbeitgebers durch die vorgenannten Maßnahmen in den Mittelpunkt stellen und somit Gemeinsamkeiten herausarbeiten, erhöhen wir durch die Gesamthaftigkeit des Systems auch dessen Robustheit (Heißner und Benecke 2013, S. 2926). Die damit entstehende Brücke zur unternehmerischen Nachhaltigkeit kann zu einem echten Werttreiber für den ganzen Konzern werden. Was auf den ersten Blick irritierend erscheinen mag, entfaltet in der betrieblichen Praxis eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Denn auch Compliance hat mit Gerechtigkeit, einem der Grundpfeiler der globalen Nachhaltigkeitsagenda (z. B. UN Sustainable Development Goals Nr. 5 „Geschlechtergerechtigkeit“ und Nr. 16 „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“) zu tun; und zwar in Form der Fairness (Leyk 2016, § 12, Rnr. 2) und Integrität.

3.3

Fazit

Ein modernes, weltoffenes und zukunftsfähiges Unternehmen zu sein, bedeutet auch, sich mit den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen. In der öffentlichen Debatte rund um die unternehmerische Verantwortung tritt diese Anforderung immer deutlicher zutage. Gerade die großen, multinationalen und börsennotierten Unternehmen sind „öffentlich exponiert“ (vgl. Dyllick 1992, S. 15) und stehen vor der Aufgabe, ihre „licence to operate“ (z. B. IÖW und imug 2002) dauerhaft zu sichern. So verwundert es nicht, dass Organe multinationaler Konzerne die Aufgabe und Ausrichtung ihrer Unternehmen zunehmend kritisch hinterfragen (Afhüppe und Maisch 2019) oder gar die Abkehr vom Shareholder Value propagieren, wie zuletzt 200 Unternehmenschefs aus den USA (Rottwilm 2019). Dieser Herausforderung stellt sich auch der Talanx-Konzern. Als Partner internationaler Großkonzerne und infolge seiner internationalen Geschäftstätigkeit hinterfragt er kritisch seine Rolle im gesellschaftlichen Gefüge. Genau wie andere global agierende Unternehmen stellt sich die Talanx die Frage nach ihrem unternehmensspezifischen „Purpose“. Unter einem „Purpose“ ist zu verstehen, dass sich Unternehmen vor allem auch mit der Frage auseinandersetzen, wie ihr übergeordneter Beitrag für die Gesellschaft aussieht. Nachhaltigkeit hat sich dabei zu einem unternehmensstrategischen Thema entwickelt, das in seiner Regulierungstiefe weiter zunehmen wird. Damit geht eine Verrechtlichung des freiwilligen unternehmerischen Engagements einher. Die Aufgaben von Nachhaltigkeitsund Compliance-Abteilungen haben immer mehr thematische Überschneidungen und erfordern einen ganzheitlichen, interdisziplinaren Blick auf die Themen. Die Integrität im unternehmerischen Handeln und Wirtschaften bildet dabei die Brücke zwischen beiden

Compliance als wesentlicher Baustein eines integrierten Nachhaltigkeitsmanagements … 411

Disziplinen. Insgesamt stellt sich dies als Chance für beide Disziplinen dar. Die Nach­ haltigkeitsarbeit gewinnt an Durchsetzungsvermögen, sofern sie nicht rein freiwillig-­ philanthropisches Engagement betrifft, sondern die Umsetzung verbindlicher gesetzlicher und regulatorischer Anforderungen einbezieht. Umgekehrt erfährt die Compliance-­ Funktion Impulse aus dem Nachhaltigkeitsmanagement, die sie in die Lage versetzt, über die schlichten Paragrafen des Gesetzes und die Kenntnis des Rechts hinaus unternehmensinterne Gegebenheiten zu hinterfragen und die Arbeit um ethische Aspekte zu bereichern. Letzteres unterstützt, wie in dem Beitrag aufgezeigt, auch die Regelkonformität. Gerade im Lichte der zunehmenden Digitalisierung und der rasanten Beschleunigung des technischen Fortschritts erscheint es praktisch unmöglich, alle Sachverhalte prozessual bis ins kleinste Detail zu regeln. Daher ist eine Rückbesinnung auf Werte als übergeordnetes Referenzprinzip unabdingbar. Gleichzeitig wird damit eigenverantwortliches Handeln gefördert. Compliance und Nachhaltigkeit als Denk- und Steuerungsmodelle ergänzen und bereichern sich auf diese Weise im Bestreben nach mehr Nachhaltigkeit in der Unternehmenswirklichkeit gegenseitig.

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M. Wienke et al. Dr. Martin Wienke  war von  1993 bis Januar 2020 für den HDI/ Talanx-Konzern tätig. 2003 wurde er zum Generalbevollmächtigten bestellt. Von 2007 bis zu seinem Ausscheiden war er Chief Compliance Officer der Gruppe. Vor Eintritt in die Dienste des HDI/ Talanx-Konzerns hat Herr Dr. Wienke in der Rechtsabteilung der Allianz-Versicherungs-AG in München gearbeitet. Herr Dr. Wienke hat in Bonn und Genf Rechtswissenschaften studiert und in Hamburg sein zweites juristisches Staatsexamen absolviert. Er promovierte am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. Er lebt in Hannover, ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne. Kathrin Reichert  ist Compliance Expertin. Seit 2008 entwickelt sie Strategien für die Ausrichtung der Compliance Management Systeme auf sich verändernde Rahmenbedingungen in großen und mittleren börsennotierter Unternehmen in verschiedenen Branchen. Davon seit 2014  in leitenden Funktionen, in zum Teil internationalen Teams. Nach dem Jurastudium in Augsburg und Lausanne und beruflichen Stationen in Verband, Kanzlei und als M&A Lawyer eines DAX Konzerns, absolvierte Frau Reichert 2011 einen MBA an der School of Governance, Risk und Compliance der Steinbeis-Hochschule Berlin. Dies schärfte ihren Blick für die ganzheitliche Betrachtung von Entwicklungen und Trends sowie deren Auswirkungen auf die Unternehmen. Den Veränderungen pragmatische und wirksame Lösungen gegenüber zu stellen, ist etwas, was sie bis heute begeistert. Daneben ist Frau Reichert in verschiedenen Compliance- und Branchen-Verbänden ehrenamtlich vertreten. Julius Hansen  ist Jahrgang 1982, hat an der Leuphana Universität zu Lüneburg Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert und dort den Abschluss Diplom Ökonom erlangt. Im Hauptstudium hat er sich intensiv mit umweltökonomischen Fragestellungen und Aspekten des unternehmerischen Nachhaltigkeitsmanagements auseinandergesetzt; dies auch im Rahmen eines interdisziplinären „Studienprogramms Nachhaltigkeit“. Herr Hansen verfügt über praktische Berufserfahrung in folgenden Themenfeldern: Nachhaltigkeits-Research/ESG-­ Rating, Umwelt-/Nachhaltigkeitsmanagement und Risikomanagement. Derzeit ist er als Senior Manager Corporate Sustainability in einer der großen europäischen Versicherungsgruppen tätig.

10 Jahre Nachhaltigkeit bei Union Investment: Integration als dauerhafter Prozess Matthias Stapelfeldt

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Ausgangslage

Die meisten in der Finanzindustrie Beschäftigten erinnern sich noch sehr gut an die Finanzmarktkrise 2008, die von den Immobilienmärkten in den USA ausgehend die globalen Finanzmärkte und -institute, in der Folge die Realwirtschaft und nicht zuletzt auch die Vermögenswerte privater Anleger erfasste. Die Konsequenzen einer globalen Vernetzung, aber auch das ständige Austesten möglicher Grenzen von Finanzierungsinstrumenten – und in der Folge dann eben auch das Überschreiten legaler Grenzen – führte zu einer jahrelangen Krise der Finanzindustrie, die zum Teil heute noch nicht überwunden ist. Neben den verlorengegangenen Vermögenswerten ist in einem hohen Maße auch das Vertrauen in das integre Verhalten von Finanzdienstleistern grundlegend abhandengekommen. Die von einigen Banken betriebene einseitige Ausrichtung der Geschäftsmodelle auf die Maximierung des finanziellen Erfolgs für die Aktionäre und auch einzelne Angestellte wurde zum Symbol für die Verantwortungslosigkeit der gesamten Bankenbranche. Diesen Rahmenbedingungen musste sich auch Union Investment als genossenschaftlicher Asset Manager damals stellen. Obwohl die genossenschaftliche Finanzgruppe zu keiner Zeit staatliche Hilfe in Anspruch nehmen musste und Union Investment als Treuhänder eben keine Investmentbank mit den bekannten Geschäftsmöglichkeiten oder Interessenkonflikten war, war das Unternehmen natürlich ebenfalls direkt und in massivem Ausmaß von der Finanzkrise betroffen. Das interne Krisenmanagement in der Zeit hatte bis dahin nicht gekannte Ausmaße angenommen und im Vordergrund aller M ­ aßnahmen

M. Stapelfeldt (*) Union Asset Management Holding AG, Leiter Nachhaltigkeitsmanagement, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_22

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M. Stapelfeldt

stand der Erhalt der Vermögenswerte der Kunden, die Sicherung der finanziellen Stabilität des Unternehmens und der Arbeitsplätze der Mitarbeiter. Im Nachhinein betrachtet war diese Finanzmarktkrise aber auch das konkrete Wiederaufleben des Begriffs der Verantwortung der Finanzindustrie für verschiedene Anspruchsgruppen, neben den Aktionären, eben der Kunden, den Mitarbeitern, aber auch in Bezug auf die Politik, die einen Teil der Banken letztlich mit staatlichem Geld retten musste. Banken mit Geschäftsmodellen, die stark auf die Ertragsströme aus dem Investmentbanking fußten, taten sich – und tun sich bis heute – schwer mit den notwendigen Konsequenzen aus der Krise; andere Finanzdienstleister hatten es einfacher, ihr Handeln zu verändern. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ war jedoch in der Finanzbranche noch nicht ins Bewusstsein gedrungen und schon gar nicht als ein Leitsystem für umfassende Verantwortung nutzbar. Noch heute fehlen im Finanzwesen zum größeren Teil wissenschaftliche Grundlagen, um Nachhaltigkeitsrisiken im Bankgeschäft fundiert bewerten zu können. Union Investment ist ein fester Bestandteil der genossenschaftlichen Finanzgruppe, die im Kern aus knapp 1000 regionalen Volks- und Raiffeisenbanken (VR-Banken) besteht, mit der DZ BANK als genossenschaftlichem Spitzeninstitut sowie einer Reihe bekannter spezieller Finanzdienstleister, wie zum Beispiel der RuV-Versicherung, der Bausparkasse Schwäbisch Hall und eben auch Union Investment als Vermögensverwalter. Der gemeinsame kulturelle Hintergrund mit einer spezifisch genossenschaftlichen Wertekultur sorgt für eine ausgeprägte Dezentralität und Bodenhaftung, die für eine Entwicklung einer Nachhaltigkeitskultur durchaus förderlich sind. Die Verankerung der VR-Banken in der Region zeichnet sich aus durch ausgeprägtes soziales Engagement, die Unterstützung lokaler Umweltprojekte und der genossenschaftlichen Besonderheit einer starken Mitgliederbeteiligung an der Bank selbst. Aus diesem Grunde sagen Genossenschaftsbanken oft, sie agieren ohnehin nachhaltig, ohne jedoch den Begriff weiter zu spezifizieren oder im Sinne des heutigen Nachhaltigkeitsbegriffs öffentlich zu berichten. Union Investment vertreibt die eigenen Produkte, also Investmentfonds, nicht direkt an Privatkunden, sondern über die VR-Banken. Insofern entspricht das Profil der Kunden exakt dem der VR-­Banken-­Kunden und ist auch durch uns nicht ohne weiteres veränderbar. Diese Kunden zeichnen sich nicht durch eine ausgeprägte Nachhaltigkeitsorientierung aus, was unserem eigenen Handeln in Sachen Nachhaltigkeit somit Grenzen setzt. Auf der anderen Seite sind allerdings auch die Kirchenbanken in Deutschland genossenschaftlich organisiert und haben seit Anfang der 90er-Jahre durch ihre ethisch geprägten Fonds dafür gesorgt, dass sich Union Investment früher und umfangreicher mit Nachhaltigkeitsfragen in der Vermögensanlage als andere Fondsgesellschaften beschäftigt hat. 2009 stellte sich Union Investment die Frage, ob und in welcher Form dem, neben den Kirchenbanken, langsam steigenden Interesse institutioneller Kunden nach ethischen und umweltfreundlichen Produkten Rechnung getragen werden konnte. Die damals geläufige Antwort wäre gewesen, zusätzliche einzelne Kundenbetreuer und Fondsmanager einzustellen und neue Fonds aufzulegen, um der noch verhaltenen Nachfrage sukzessive Rechnung zu tragen.

10 Jahre Nachhaltigkeit bei Union Investment: Integration als dauerhafter Prozess

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Zu diesem Zeitpunkt beginnt eigentlich die Entwicklung einer systematischen Nachhaltigkeitsstrategie von Union Investment. Als Treuhänder vertreten wir die Interessen unserer Anleger gegenüber den Unternehmen, in die wir investieren. Dies tun wir auch in Fragen der guten Unternehmensführung wie auch bezüglich Risken aus unethischem oder umweltschädlichem Verhalten. Wir haben uns also die Frage gestellt, wie glaubwürdig es auf Dauer ist, wenn wir nach außen explizit Nachhaltigkeitsinteressen vertreten, die wir als Unternehmen für uns selbst noch nicht strategisch organisiert haben. Dieser Gedanke, der heute banal erscheint, war damals eher unüblich. Das Leitmotiv: „Wir sollten an uns die gleichen (Nachhaltigkeits-)Anforderungen stellen, die wir auch an andere stellen“, hat sich bis heute bewährt. Es ist eingängig und entspricht in hohem Maße unserem Geschäftsmodell und unserer Rolle als aktiver Aktionär im Interesse unserer Anleger.

2

 ernfragen vor der Entwicklung K einer Nachhaltigkeitsstrategie

Vor dem Aufsetzen des Strategieprozesses in dem eben geschilderten Umfeld ergaben sich eine Reihe grundsätzlicher Fragen, die die Sorge um einen nicht beherrschbaren oder nicht reversiblen Prozess ausdrückten, sofern man sich auf eine öffentlich sichtbare Nachhaltigkeitsstrategie einließe. Die wesentlichen Fragen waren damals sicherlich: • Wir haben kaum nachhaltige Kunden oder Bankenpartner, auch in unserem Eigentümerkreis fordert niemand explizit umfassende Nachhaltigkeit von uns. Also, warum benötigen wir eine Strategie für Nachhaltigkeit? • Wie teuer wird Nachhaltigkeit in den unsicheren Zeiten nach der Finanzmarktkrise werden? • Wie kann und soll man Nachhaltigkeit in einem Projektportfolio „on top“ priorisieren, wenn unzählige Folgeaktivitäten zur Bewältigung der Finanzmarktkrise im Projektportfolio stehen und höher priorisiert werden müssen. • Wir verstehen: Es geht darum, unsere Reputation zu sichern. Kann man das nicht auch weniger aufwendig bewerkstelligen? • Können wir nicht einfach einen Nachhaltigkeitsbericht schreiben? Das muss doch auch möglich sein. Zum Zeitpunkt dieser Diskussion im Jahr 2009 gab es in der Tat kaum Meinungsdruck seitens der Stakeholder, die Finanzmarktkrisenaspekte einmal ausgeklammert. Es gab auch keine wirklich überzeugenden Praxisbeispiele oder Antworten aus dem Asset Managementbereich, die als Vorbild hätten dienen können. Die mit den Wirtschaftsprüfern geführten Gespräche ergaben eine starke Compliance-Ausrichtung von Nachhaltigkeitsaktivitäten, was in der Zeit in der Finanzmarktkrise sicher nicht verwunderte.

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In diesem unsicheren Umfeld und nachrangiger Geschäftspriorität stellte sich die Frage nach einem lehrbuchhaften top-down Vorgehen, ggf. sogar einer als Projekt mit externer Beratung verbundenen umfänglichen Integration, nicht. Letztlich war es, wie so oft, eine ganz praktische Frage, die den Impuls gab, konkret ein Projekt zu starten und die gedanklichen Vorüberlegungen zu beenden: „Was müssen wir tun, um einen qualitativ guten CSR-Bericht vorweisen und fortschreiben zu können?“ Ein Aufsichtsrat hatte das Thema für die nächstfolgende Sitzung aufgerufen, also waren konkrete Antworten gefragt. Diese anekdotische Erwähnung zeigt, dass entscheidende Handlungsimpulse oftmals aus einem konkreten operativen Handlungsdruck hervorgehen. Das soll nicht die sonstige Motivation in der Sache infrage stellen, ist aber ein Entscheidungsmuster, welches sich in der Folge gelegentlich wiederholt hat. Als Grundsatzfrage stand im Raum, ob wir über eine reine Absicherungsstrategie mit Nachhaltigkeitselementen nachdenken oder Nachhaltigkeit in unser Geschäftsmodell integriert werden soll, also in Produktions- und Vermarktungsprozesse zu integrieren und einen wirklichen Business Case zu rechnen Diese Frage war zwischen den internen Entscheidungsträgern durchaus umstritten. Die Einheiten Konzernsteuerung/Controlling, Recht/ Compliance, die Kommunikationsabteilung, der Kundenvertrieb sowie in geringerem Umfang die Produktionseinheit (das Fondsmanagement) waren die Meinungsbildner für den Vorstand, ein profitabler Geschäftsplan für größere Investitionen konnte noch nicht geschrieben werden. Es stellte sich also die Frage, wie hoch das Commitment des Vorstandes für ein solch sehr grundsätzliches Vorhaben mit potenziell erheblichen Auswirkungen auf Ressourcen ohne klare Ertragsperspektive sein würde. Würden ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden? Würde das Projekt ggf. wieder zurückgenommen, falls die Krise erneut ausbrächet? Letztlich fiel die Entscheidung, mit einem kleinen internen Kreis Beteiligter, kurzfristig eine Vorstudie zu erstellen, die mehr Auskunft über mögliche Umsetzungsoptionen und deren Konsequenzen gäbe.

3

Entwicklung eines Zielbildes

Die heutigen Schaubilder mit einer als selbstverständlich beschriebenen hohen Integrationstiefe in die Unternehmensprozesse waren wenig geläufig, eine vertiefte Berichterstattung zu Nachhaltigkeitsfragen für Finanzdienstleister noch eher unüblich. Die GRI-­Berichte von Banken erfüllten zwar formal die erforderlichen Indikatoren, aber mit noch nicht sehr aussagekräftigen Informationen. In den Untersuchungen wurde sehr schnell klar, dass ein Modell eines grünen/nachhaltigen Unternehmens kein Zielbild für Union Investment sein konnte, da dies aufgrund der Eigentümer- und Kundenstruktur nicht unserem Unternehmenszweck entsprach. Als Dienstleister für alle VR-Banken hat Union Investment deren Bedürfnisse zu erfüllen und diese sind schlicht nicht durchgängig nachhaltig. Die Entwicklung eines für das Unternehmen passenden Zielbildes für eine Nachhaltigkeitsstrategie wurde über mehrere Schritte hergeleitet.

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Über die Abstufung verschiedener Integrationsmodelle wurden realisierbare Optionen entwickelt und ein Favorit ausgewählt, der nicht vollständig nachhaltig war, aber dennoch die Ambition einer weitgehenden Integration in den Geschäftsbetrieb darstellte. Das Zielbild war die „unternehmerische CSR“, die sich bewusst von einer vollständig grünen Bank abgrenzt, aber eben auch nicht nur selektiv oder opportunistisch agiert, sondern systematisch im Kerngeschäft Nachhaltigkeitsaspekte integriert (Abb. 1). Um den zu bestimmenden Integrationsgrad und die zu erwartenden Aufwände zu klären, wurde der damalige GRI-Berichtsstandard als Hilfsgröße genommen und anhand dessen eine Gap-Analyse erstellt. Die Analyse ergab, dass von den 95 zu erfüllenden Indikatoren 34 für Union Investment relevant waren und 14 davon bereits berichtsfähig. Parallel dazu wurde ein Abgleich gemacht, ob mit den hiermit gefundenen Indikatoren auch das zur Diskussion stehende Nachhaltigkeitsrating der Muttergesellschaft DZ-BANK positiv bedient werden konnte. Dies war nur zum Teil der Fall, die zusätzlich ermittelten Lücken wurden den vorherigen Handlungsnotwendigkeiten hinzugefügt, sodass sich ein Anforderungsprofil für eine zielorientierte Nachhaltigkeitsstrategie ableiten ließ. Als strategisches Zielfoto für die Nachhaltigkeitsstrategie wurde anfangs festgelegt, dass wir als Unternehmen gemäß festgelegtem Modell ein verantwortungsvoller und glaubwürdiger Universalanbieter sein wollen, um das ambitionierte Zielfoto im Kerngeschäft bestmöglich zu unterstützen. Union Investment wollte im Kerngeschäft der führende Asset Manager für nachhaltige Anlagelösungen in Deutschland werden. Beide Leitsätze, sowohl der auf Unternehmensebene wie auch der für das Kerngeschäft, werden seitdem in jedem Strategieturnus gemeinsam mit allen Betroffenen Einheiten überarbeitet und weiterentwickelt. Mit den verantwortlichen Fachabteilungen wurden die Anforderungen inhaltlich für die aus der Analyse hervorgegangenen Themen durchgesprochen, mit jeweils dem Ambitionsniveau „vollständig nachhaltig“ als Idealzustand, aber eben auch mit einer zwischenzeitlich „kleineren“ Lösung, falls die technischen oder budgetmäßigen Anforderungen kurzfristig zu hoch waren. Die zahlreichen Gespräche über Standards und Best Practice

Passive CSR

Beiläufige CSR

Unternehmerische CSR

Vollständig ausgeprägte CSR > Normative Integration in Vision und Mission > Vollständige Stakeholderausrichtung

Gesellschaftliches Engagement aus > Unternehmenszweck > Zufall

> Strategisch aktiv > Systematische Integration > Aktive Verantwortung

> Proaktiv und ganzheitlich > Politisch motiviert > „New Governance“

> Punktuelle gesellschaftliche Verantwortung > Reputationsschutz > Compliance

> Ertragsnutzen im Kerngeschäft > Zukunftsfähigkeit > strategischer Handlungsfelder

> Weiterentwicklung des Kerngeschäfts > Ziele über den Zweck des Unternehmens hinaus

Maßnahmen betreffen nicht das Kerngeschäft und wirken nur indirekt auf die Geschäftsstrategie

Maßnahmen resultieren aus dem Kerngeschäft und prägen langfristig die Geschäftsstrategie

CSR-Maßnahmen zielen auf Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingung

Vision

Management

Ziele

Abb. 1  Zielbildbestimmung für eine Nachhaltigkeitsstrategie. (Quelle: Eigene Darstellung)

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waren zeitaufwendig, führten aber bei den durchführenden Einheiten zu einem guten und selbst hergeleiteten Verständnis über Lösungsoptionen. Aus diesen Gesprächen wurden dann Aktivitäten und Kosten bestimmt (Abb. 2). Als letzter Schritt wurden die identifizierten Aktivitäten auf eine Zeitachse für einen Vier-Jahres-Zeitraum gelegt, um Kosten verteilen und ggf. auch notwendige Abbruchpunkte bestimmen zu können, falls es eine neue Finanzmarktkrise geben würde. Nach der Erfüllung einer jeden Phase schaltete der Vorstand die nächste Phase mit entsprechenden Kostenplanungen frei. In Ergänzung dieser inhaltlichen Anforderungen wurde die Frage erarbeitet, in welcher organisatorischen Aufstellung und mit welchen Steuerungsinstrumenten das noch zu etablierende Nachhaltigkeitsmanagement arbeiten sollte. Union Investment hat sich in verschiedene Geschäftsbereiche – Segmente genannt – organisiert, die eine hohe Eigenverantwortung bei Planung und Durchführung der Betriebseinheiten aufweisen. Die Holdinggesellschaft Union Asset Management Holding ist mit den üblichen Stabsbereichen rahmengebend, aber nicht für die Segmente operativ tätig. Eine zentrale Nachhaltigkeitsabteilung mit ausgeprägten Ressourcen und operativer Verantwortungen in den Segmenten hätte also potenziell zu permanenten Eingriffen in diese Strukturen geführt. Dieser Umstand wäre der Themenentwicklung nicht förderlich gewesen und hätte der Steuerungslogik der Unternehmensgruppe widersprochen. Hieraus folgte die Konsequenz, das Nachhaltigkeitsmanagement zwar als Stabsstelle direkt am Vorstand anzubinden und mit klarer Koordinationsverantwortungen auszustatten, aber in der Folge die Nachhaltigkeitsaktivitäten so dezentral wie möglich aufzustellen und die Beteiligten durch Delegation der Umsetzungsverantwortung zu direkt Betroffenen zu machen. Die Frage der Systemintegration einer Nachhaltigkeitsdatenbank in die Steuerungssysteme wurde beleuchtet und angesichts der noch unklaren künftigen Anforderungen entschieden, bis auf Weiteres ein separates, am Markt führendes System anzuschaffen, statt eine aufwendige Integration in die bestehenden IT-Systeme zu versuchen. Dies hat sich absolut bewährt, da die Unternehmenssoftware den Nachhaltigkeitsanforderungen nicht gewachsen war und die in den ersten Jahren oft erfolgten Modifikationen der Software deutlich schneller und individueller gestaltet werden konnten als im Rahmen einer gesamthaften Unternehmenssoftware. Dies ist ein Beispiel für die oft gemachte Erfahrung, dass anfänglich eine mittlere Integrationstiefe einer sehr hohen Integrationstiefe im Unternehmen vorzuziehen ist.

4

Steuerungsinstrumente des Nachhaltigkeitsmanagements

Die normativen Elemente eines Unternehmens beschäftigen sich mit Vision, Mission, Zielen, Prinzipien, Normen und Spielregeln, die darauf ausgerichtet sind, der Entwicklungsfähigkeit und der Strategie eines Unternehmens einen konsistenten Rahmen zu geben. Sie entwickeln sich mit dem Unternehmen weiter und sind im Normalfall sehr beständig. Es ist deshalb davon auszugehen, dass diese Elemente schon vor einer Nachhaltigkeitsdebatte be-





  Zertifizierung eines Umweltmanagementsystems bei UI

 Beschluß einer CSRKommunikationsstrategie

 Beitritt zu UN Principles of Responsible Investment

 Beschluß einer Markt/Produktionsstrategie

Phase 1 -2011











 Entsprechung ISO 26000 ?

 Erster Nachhaltigkeitsbericht in 2012



 Entsprechung DNK* und ZIA**  Entwicklung der CSR-Strategie 2015+ Nachhaltigkeitscodex der Immobilienwirtschaft

 Ausweitung gesellschaftlichen Engagements mit   Umfassende CSR-Stakeholderkommunikation einer NGO

 Erstes Nachhaltigkeitsprogramm 2012-2015





 -

 Implementierung CSR in Unternehmenssteuerung (BSC)



 Nachhaltigkeitskodex

 Zertifizierung 2. Nachhaltigkeitsbericht 2014



Phase 3 -2015

CSR-Datenplattform



Phase 2 - 2013

Abb. 2  Konkrete Zieldefinition und mittelfristige Zeitplanung im Rückblick. (Quelle: eigene Darstellung)

*DNK=Deutscher Nachhaltigkeitscodex, ** ZIA= Zentraler Immobilienausschuss

 Gründung des internen CSR-Round Table

 Organisatorische Verankerung von Nachhaltigkeit

 Beschluß einer Nachhaltigkeitsstrategie für die UI-Gruppe(Phasenplan)

Start 27.08.2010

2.)Wir wollen einer der führenden Asset Manager für nachhaltige Anlagelösungen und Dienstleistungen in Deutschland werden.

1.) Wir wollen uns als verantwortungsvoller und glaubwürdiger Universalanbieter im Asset Management positionieren.

Strategische Ziele für Union Investment

10 Jahre Nachhaltigkeit bei Union Investment: Integration als dauerhafter Prozess 421

422

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standen haben und auch nicht einfach aufgrund eines neu entstehenden Themenfeldes „Nachhaltigkeit“ unmittelbar verändert werden sollten. Die später hohe Bedeutung von Nachhaltigkeit war zu dem frühen Zeitpunkt 2010 auch nicht absehbar. Bei dem von uns gewählten Zielmodell waren Nachhaltigkeitselemente nicht in allen normativen Strukturen notwendig. Bei Union Investment gibt es aufgrund des genossenschaftlichen Hintergrundes ein stark ausgeprägtes Wertesystem mit klarer Mission, Vision und Werteleitlinien (z. B. Führungsleitlinien), welche verantwortliches und partnerschaftliches Handeln im Unternehmen bereits fest verankert hatten. Im Markenmanagement ist zum Beispiel vor einigen Jahren „vorausschauend“ als prägender Einwort-Markenwert festgelegt worden. Eine bessere Analogie zu den Inhalten des Nachhaltigkeitsmanagements lässt sich kaum finden. Der Abgleich des normativen Rahmens hatte also ergeben, dass letztlich lediglich ein speziell auf Nachhaltigkeit ausgerichteter Verhaltenskodex nachzurüsten ist, welcher systematisch die Handlungsfelder des Nachhaltigkeitsmanagements abdeckt und den bereits vorhandenen bestehenden Verhaltensleitlinien einen Rahmen gibt. Punktuelle Erweiterungen bestehender Richtlinien konnten aus Nachhaltigkeitssicht angeregt werden, ohne die vorhandenen normativen Elemente oder die bisherige Verantwortung der Einzelregelungen infrage zu stellen (Abb. 3).

4.1

Nachhaltigkeitskodex

Nach Etablierung und Veröffentlichung des Nachhaltigkeitskodex stellte sich die Frage, wie die diversen Elemente aktuell gehalten werden können und die Implementierung mit Leben gefüllt wird. Ein nicht operationalisierter Nachhaltigkeitskodex würde ansonsten

Wie verhalten wir uns als verantwortungsvolles Unternehmen?

Corporate Social Responsibility

Nachhaltigkeitskodex

Welche Ziele und Maßnahmen planen wir ? Strategie und Kommunikation

Produkte und Dienstleistungen

Umwelt

Gesellschaft

Mitarbeiter

Nachhaltigkeitsprogramm

Wie berichten wir, was wir tun?

CSR-Bericht/ Intranetportal

Abb. 3  Handlungsfelder und Steuerungsinstrumente des Nachhaltigkeitsmanagements. (Quelle: eigene Darstellung)

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im Richtlinienordner vergessen werden. Bei Union Investment haben wir, um den administra­ tiven Aufwand in Grenzen zu halten, die einzelnen Themenfelder des Kodex auf interne Verantwortungsträger verteilt und im Sinne einer Materialität wesentliche Elemente in unterschiedliche Härtegrade der Implementierung unterschieden: 1. Beispiel für hohe Materialität: Compliancenahe Elemente, wie z. B. Geldwäscheprüfungen oder potenzielle Interessenkonflikte, werden regelmäßig per Online-Test bei allen Mitarbeitern geprüft und müssen bestanden werden. 2. Beispiel für mittlere Materialität: Im Rahmen regelmäßiger Veranstaltungen werden Mitarbeiter zu Umweltmanagementfragen unterrichtet und diese im Unternehmen regelmäßig kommuniziert. 3. Beispiel für niedrige Materialität: Themen des nachhaltigen Einkaufsmanagements werden in den Fachabteilungen und bei den direkt betroffenen Mitarbeitern mittels Richtlinien und im Tagesgeschäft verankert, unterliegen aber nicht regelmäßiger Prüfungen oder breiter Informationen an alle Mitarbeiter.

4.2

Nachhaltigkeitsprogramm

Das Kernstück einer jeden hochwertigen Nachhaltigkeitsintegration ist jedoch eine systematische und fundierte Aufsetzung des Nachhaltigkeitsprogramms. Es dient dem Nachhaltigkeitsmanager zur Setzung ambitionierter mittelfristiger Nachhaltigkeitsziele für das Gesamtunternehmen, der jährlichen Erarbeitung und Fortschreibung zielunterstützender Maßnahmen in allen relevanten Bereichen des Unternehmens, der Ableitung steuerungsrelevanter Daten, z. B. für eine Balanced Scorecard, einer durch den Vorstand formal freigegebenen Legitimation für das Programm des Nachhaltigkeitsbeauftragten und letztlich natürlich der Berichterstattung, mit dem das Nachhaltigkeitsprogramm Ausdruck der konkreten öffentlichen Kommunikation wird. Im Laufe der Jahre hat sich aus dem Nachhaltigkeitsprogramm eine in der Breite und Konstanz bemerkenswerte Summe von über 270 verabschiedeten und zum sehr großen Teil auch erfolgreich abgeschlossenen Maßnahmen ergeben. Dies kann man als Ausdruck einer gelungenen Inte­ gration in das Unternehmen werten, weil es in den Anfangsjahren parallel zur operativen Geschäftsplanung durchgeführt wurde und noch einen starken Freiwilligkeitscharakter besaß (Abb. 4). In der Praxis wird das Nachhaltigkeitsprogramm im CSR-Bericht von den Stakeholdern  nur wenig zur Kenntnis genommen und damit in seiner Wirkung deutlich unterschätzt, gibt es doch einen guten Einblick in das Denken und Wirken des Nachhaltigkeitsbeauftragten im Unternehmen. Das jährlich angelegte Programm mit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung von Zielgrößen und unterstützenden Maßnahmen sorgt für einen intensiven regelmäßigen Dia­ log zwischen dem Nachhaltigkeitsbeauftragten und den Fachabteilungen und für die beständige Auseinandersetzung mit Verbesserungspotenzialen.

424

M. Stapelfeldt

Abb. 4  Das Nachhaltigkeitsprogramm als Messgröße für den Aktivitätsgrad im Unternehmen. (Quelle: eigene Darstellung)

4.3

Ergebnismessung

Die aus dem Programm hervorgehenden Ziele und Kennzahlen müssen dann in die strategische Gesamtsteuerung des Unternehmens integriert werden, damit sie nicht für sich stehen, sondern auch Einfluss auf andere Steuerungsgrößen und zentrale Entscheidungen auf Vorstandsebene nehmen können. Dies geschah bei Union Investment durch die Integration wesentlicher Nachhaltigkeitselemente sowohl auf Konzernebene wie auch auf Ebene der Tochterunternehmen in die Balanced Scorecard. Die Verantwortung für die Planzahlen sowie deren Erfüllungsgrad wurde dabei den direkt ausführenden Fachbereichen zugeteilt, sodass die Leistungsverantwortung komplett dezentral im Fachbereich verbleibt. Über diese Verknüpfung mit den Steuerungstools der Konzernsteuerung ist eine regelmäßige Themenpräsenz relevanter Nachhaltigkeitsfragen auf Vorstandsebene gegeben.

4.4

Integration in Vergütungssysteme

Als weiteres Steuerungsinstrument ist die Integration der gesetzten Ziele und Maßnahmen in die persönliche Leistungsplanung und Vergütungssysteme anzustreben. An allen Stellen bei Union Investment, an denen relevante Beiträge zur Nachhaltigkeitsstrategie stattfinden, ist es obligatorisch, diese in die Jahresplanung der Mitarbeiter aufzunehmen, sodass im Rahmen der Beurteilungs- und Entlohnungspolitik Nachhaltigkeit als ein integrales Element der persönlichen Leistung und nicht als eine Zusatzbelastung wahrgenommen wird. Dies gilt seit einigen Jahren übrigens auch für den Vorstand selbst, der Nachhaltigkeitsziele in seine Leistungsplanung und Vergütung integriert hat. Eine jährliche Berichterstattung der Nachhaltigkeitsleistung an den Aufsichtsrat rundet das Bild der Verantwortung der Unternehmensleitung ab. Diese vollständige Integration in alle Managementebenen hat letztlich für eine höhere Akzeptanz regelmäßiger Ziele gesorgt. Idealtypisch hätte dies bereits am Anfang einer Strategie stehen sollen. Allerdings

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425

ist es  im dargestellten Fall hilfreich gewesen, mit den Fortschritten der ersten Jahre zu signalisieren, dass Nachhaltigkeit nicht zu einem persönlichen Risiko von Vorstand oder Geschäftsführungen wird, sondern durchaus auch zu positiven Bewertungen führen kann.

5

Integration in die Unternehmensprozesse

5.1

Strategie

Eine der Hauptaufgaben des Nachhaltigkeitsbeauftragten ist es – gerade zu Beginn – ein durchgängiges Verständnis des Anspruchs an die Nachhaltigkeitsleistung über das Gesamtunternehmen hinweg zu schaffen, obwohl die einzelnen Handlungsfelder ja erst nach und nach entwickelt werden und deshalb nicht synchron den gleichen Entwicklungsstand erreichen. Es gibt auch gute Gründe dafür, einzelne Handlungsfelder oder Bereiche des Unternehmens mit anderen Maßstäben zu messen oder erst zeitlich versetzt zu entwickeln. Gerade im Kundenbereich lässt sich der Einsatz nachhaltiger Produkte nicht erzwingen, sondern muss dem Bedarf folgen. Investitionen in Produkte, welche – z. B. auch aus Nachhaltigkeitsaspekten – ihrer Zeit voraus sind oder schlicht nicht nachgefragt werden, sind nicht sinnvoll in eine breite Angebotspalette zu integrieren. Ein Nachhaltigkeitsangebot für Altersvorsorgesparpläne musste zum Beispiel nach mehreren Jahren eingestellt werden, da die Berater in den VR-Banken das Thema nicht aufnahmen und die Produktpflegekosten letztlich zu hoch wurden. Nach drei Jahren Pause ist der Markt nunmehr reif für ein solches Produkt und wir legen es neu auf. Als Instrument für die Visualisierung des Anspruchsniveaus in den unterschiedlichen Handlungsfeldern haben wir das nachfolgende Tableau entwickelt, welches den gesamthaften Entwicklungsstand des Unternehmens und daraus sich ergebende Handlungsnotwendigkeiten für Vorstandsentscheidungen zu visualisieren hilft (Abb. 5). Betriebsebene 2015 Strategie

Kommunikation

Marktführer

Early follower

Mitarbeiter

Kerngeschäftsebene 2015 Umwelt

ok

ok

Gesellschaft

Marktverantwor tung Kunden „1“

Marktverantwo rtung Kunden „2“

ok

Produktionsverantwortung “1“

Produktionsverantwortung „2“

ok

ok

ok

Mitläufer

ok

Late follower Non-perfoming

Ist-Status 2014

Zielsetzung bis 2014

Zielsetzung bis 2018

Quelle: UI-CSR Round Table 1 HJ./ 2015

Abb. 5  Die Strategiekonsistenz wird durch das Anspruchsniveau aller einzelnen Handlungsfelder hergestellt. (Quelle: eigene Darstellung)

426

M. Stapelfeldt

Neben dem aktuellen Status werden auch die im letzten Planungszyklus vorgenommenen Verbesserungspotenziale aufgezeigt, sowie die für den nächsten Planungszyklus mit der Fachabteilung verabredeten Weiterentwicklungen. Das Ziel der Durchgängigkeit und Glaubwürdigkeit für das Gesamtunternehmen ist dann erfüllt, wenn sich alle Handlungsfelder im „grünen Bereich“ bewegen. Ausnahmen werden in der Bedeutung für das Gesamtunternehmen thematisiert, aber bei fundierter Begründung auch durchaus akzeptiert. In der Praxis hat sich dieses Instrument sehr gut geeignet, um ein einheitliches Verständnis des Zielbildes für alle handelnden Personen zu verdeutlichen und potenzielle Widersprüche aufzuzeigen und zu adressieren. Für die Entwicklung einzelner Handlungsfelder und deren Anspruch ist es auch Aufgabe des Nachhaltigkeitsbeauftragten, externe Trends und Treiber frühzeitig zu identifizieren und zu bewerten. Gerade in der Anfangsphase eine Nachhaltigkeitsstrategie ist in den einzelnen Bereichen die Umfeldbeobachtung oder die Entwicklung spezifischer Standards noch nicht so ausgeprägt, dass sie ausschließlich dezentral vorgenommen werden sollte. Die Marktforschung kann z. T. unterstützen, aber es bleibt Kernaufgabe des Nachhaltigkeitsbeauftragten, die Bewertung und danach Ableitung in konkrete Ziele und Maßnahmen vorzunehmen. Relevante Handlungsimpulse des Nachhaltigkeitsbeauftragten für das Unternehmen lagen oftmals darin, neue interne Stakeholder für das Thema zu gewinnen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass dies anhand abstrakter Modelle oder Zielbilder nur selten gut gelingt, anhand konkreter Aufgabenstellungen aus der Umfeldbeobachtung aber sehr wohl. Insofern hat es auch immer ein etwas opportunistisches Element, in welcher Reihenfolge man in der Praxis neue Träger des Themas gewinnen kann. Ein Risikomanager wird sich verständlicherweise erst dann für Nachhaltigkeit interessieren, wenn er konkret Klimarisiken modellieren soll oder muss, aber nicht, wenn es eine neue Studie über Klimarisiken gibt, die vielleicht sogar die bisherige Verfahrensweise infrage stellt. Gerade wenn es um nicht-finanzielle Betrachtungen geht, sollte das Beharrungsvermögen auf etablierten und ja auch berechtigten Vorgehensweisen mit in Betracht gezogen werden. Ohne eine konkrete Nutzendimension lassen sich neue Stakeholder nicht gewinnen.

5.2

Kerngeschäft

Der wesentliche Hebel bei der Erzielung einer positiven Nachhaltigkeitswirkung im Unternehmen muss im Kerngeschäft ansetzen. Insofern ist es unabdingbar, dass vertieftes Wissen über die Kerngeschäftsprozesse Teil eines erfolgreichen Nachhaltigkeitsmanagements ist. Der Nachhaltigkeitsmanager muss für wesentliche Geschäftsbereiche im Unternehmen ein kompetenter Ansprechpartner sein und sollte auf Augenhöhe mit den Schlüsselpersonen diskutieren können. Bei Union Investment gab es bereits im Fondsmanagement wie auch im Immobilienmanagement Personen, die eine Nachhaltigkeitsidee unterstützten und es gab eine Reihe nachhaltigkeitsaffiner Kunden, die auf der Vertriebsseite für Interesse am Thema sorgten. Die über den gesamten Zeitraum erfolgte enge und sehr kooperative Zu-

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427

sammenarbeit mit diesen internen Einheiten hat im Nachhinein zu einer hohen Dynamik bei der Nachhaltigkeitsentwicklung im Unternehmen geführt. Im Rückblick war ein wesentliches Erfolgselement für die Nachhaltigkeitsintegration im Kerngeschäft bei Union Investment die Tatsache, dass es gelungen ist, relevante Wachstumsschübe frühzeitig zu identifizieren und entsprechend zu antizipieren. Die jeweils vierjährig angelegte Nachhaltigkeitsstrategie musste zweimal vorzeitig neu angelegt werden, da die Ziele erreicht waren und sich für die Planung nicht mehr als handlungsleitend erwiesen hatten. Die Identifizierung neuer Stufen der Nachhaltigkeitsentwicklung für die Asset Managementbranche, mit einer entsprechenden Bewertung in Bezug auf Entwicklungssprünge für einen künftigen Geschäftserfolg ergab sich aus intensiver Beobachtung des regulatorischen Umfeldes- sowie des Produktions- und Absatzmarktes durch das Nachhaltigkeitsmanagement. Die frühzeitige Thematisierung auf Vorstandsebene und der frühzeitige und richtig dimensionierte Aufbau von Kompetenzen und Ressourcen hatten uns letztlich zu dem unten näher beschriebenen Erfolg als Marktführer in Deutschland geführt. Im Wesentlichen waren die Wachstumsschübe im Kerngeschäft durch folgende drei Stufen gekennzeichnet (Abb. 6): . Nachhaltigkeit als Produktebene, 1 2. Nachhaltigkeit als eigenes Geschäftsfeld, 3. Nachhaltigkeit im gesamten Kerngeschäft integriert.

5.3

Kommunikation und Berichterstattung

In Bezug auf die Entwicklung unternehmensbezogener Handlungsfelder ist der Fokus des Nachhaltigkeitsbeauftragten neben der Strategieentwicklung vorrangig auf die Kommunikation und Berichterstattung zu legen. Dem Leitsatz folgend, dass wir als Unternehmen an uns die gleichen Ansprüche wie an andere Unternehmen stellen, haben wir uns sowohl mit dem GRI-Standard befasst, als auch mit dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex. Zusätzlich Entwicklungsstufe

Nachhaltigkeit als Produktebene

Nachhaltigkeit als Geschäftsfeld

Nachhaltigkeit im gesamten Kerngeschäft integriert

Zeitraum und Strategiebezug

2010 – 2013 CSR-Strategie 2010-2014

2014 – 2017 CSR-Strategie 2015+

2018 – ca. 2023 Nachhaltigkeits-Kerngeschäftsstrategie 2018+

Inhaltliche Ausprägung im Kerngeschäft

Einzelne Nachhaltigkeitsfonds Kundenindividuelle Ausgestaltung von Nachhaltigkeitskriterien

Nachhaltigkeits-Produktpalette systematisch erweitert Researchplattform und Investmentprozesse fokussiert ausgebaut Kundenspezifische aktive Kommunikation

Integration in das gesamte Kerngeschäft und angrenzende Prozesse struktureller Ausbau der Organisationseinheiten und Kompetenzen

Investition in technische NachhaltigkeitsPlattform SIRIS und Spezialisierung der Fachressourcen im Portfolio Management

Integration in alle Systeme und Prozesse im Fondsmanagement =>ESG-Integration

Reaktive Vermarktung für Spezialkunden Veränderungsprozesse

Kompetenzentwicklung durch PRIBenchmarking Aufbau eines fokussierten ESGTeams im Portfolio Management

Herausbildung eines usp

Breitenkommunikation an alle Stakeholder

Ausbau der Entscheidungskompetenzen des ESG-Teams

Abb. 6  Entwicklungsstufen der Nachhaltigkeitsstrategie im Kerngeschäft. (Quelle: eigene Darstellung)

428

M. Stapelfeldt

fällt in die Kategorie „Reporting“ auch die öffentliche Erfüllung von Selbstverpflichtungserklärungen, wie in unserem Falle für das Kerngeschäft der ZIA-Immobilienkodex sowie das jährliche internationale Benchmarken der Investmentprozesse (PRI-Assessment). Die Frage nach weiteren Berichtsstandards oder Initiativen, wie z. B. dem Carbon Disclosure Project (CDP) oder aktuell eine vertiefte Klimaberichterstattung, wird regelmäßig geprüft, aber aufgrund des Aufwandes dann auch in vielen Fällen wieder verworfen. Zusätzlich ist natürlich durch die Kommunikationsabteilung ein Onlineauftritt des Unternehmens zu entwerfen und ebenfalls zu pflegen. Nach acht Jahren Berichterstattung muss man konstatieren, dass die umfangreiche Berichterstattung bislang nur sehr wenig Resonanz hervorgebracht hat. Der Ansatz, den CSR-Berichtsstandard eines DAX-Unternehmens auch für uns selbst abzubilden, war für das Selbstverständnis in den ersten Jahren sicherlich hilfreich, sollte aber auch aus Effizienzaspekten irgendwann hinterfragt werden. Moderne Kommunikationsformate bieten die Möglichkeit, modularer, zielgruppenspezifischer und effizienter zu berichten, als dies früher möglich war. Der klassische CSR-Bericht wird damit absehbar der Vergangenheit angehören. 2019 hat Union Investment erstmals Nachhaltigkeit als ein kommunikatives Positionierungsthema für das Gesamtunternehmen definiert. Der Claim: „Zukunft nachhaltig gestalten“, zeugt dabei vom Anspruch, Nachhaltigkeit als Schlüsselthema in der Unternehmenskommunikation intern und extern aktiv gestaltend umzusetzen.

5.4

Umweltmanagement

Besondere Beachtung auf Betriebsebene hat ebenfalls das Themenfeld Umwelt. Die Einführung eines ISO-14001 zertifizierten Umweltmanagements hat zu einer großen Verbreitung im Unternehmen und einer großen Verbindlichkeit durch ein flächendeckendes internes Auditierungssystem und die jährliche externe Zertifizierung geführt. Umweltthemen eignen sich auch gut zur internen Kommunikation, da sie eine persönliche Betroffenheit der Mitarbeiter herstellen können. Ebenfalls systemhinterlegt ist mittlerweile der Einkaufs- und Lieferantenprozess, welcher mit der Bewertung von Nachhaltigkeitsaspekten bei der Angebotsausschreibung beginnt, der Akzeptanz von Nachhaltigkeitsbedingungen bei der Auftragsvergabe folgen und im Anschluss durch regelmäßige Audits und Zielvereinbarungen bei den Lieferanten in einen regelmäßigen Verbesserungsprozess übergeht. Ein Highlight nachhaltiger Themenentwicklung war sicherlich die Etablierung der unternehmensübergreifenden Klimastrategie „2°sind machbar“, einer Paris-konformen Klimastrategie auf Betriebsebene, welche die politischen Ziele der Reduktion von CO2-­ Emissionszielen von 40 % bis 2030 und 85 % bis 2050 für Union Investment abbildete. Der Vorstandsbeschluss für Implementierung dieser Strategie konnte exakt zeitgleich zum Beschluss in Paris im Dezember 2015 getroffen werden, sodass dies in der Folge auch kommunikativ sehr gut platziert werden konnte. Dass das Unternehmen hier im Finanzdienstleistungsbereich eine Vorbildfunktion einnahm, sich den als sehr abstrakt empfundenen Klimazielen aus dem Klimagipfel konkret anschloss und sich zu einer Erfüllung

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429

verpflichtete, wurde sowohl im Unternehmen wie auch in der Branche als Beleg für die Ernsthaftigkeit und Fortschrittlichkeit unseres Ansatzes gewürdigt. Mittlerweile ist auch eine Klimastrategie in Bezug auf das Kerngeschäft der Vermögensanlagen vom Nachhaltigkeitsmanagement initiiert worden und befindet sich in Umsetzung.

5.5

Mitarbeiterverantwortung

Das Themenfeld „Arbeitgeberverantwortung“ ist im Normalfall in einem Unternehmen bereits gut entwickelt, so auch bei Union Investment. Sowohl Kennzahlen wie auch In­ strumente des modernen Personalmanagements sind entwickelt und haben für das Nachhaltigkeitsmanagement deshalb keinen ausgeprägt wertschöpfenden Charakter. Andererseits ist die Positionierung als verantwortliches und nachhaltig handelndes Unternehmen in einem zunehmend schwierigeren Personalmarkt durchaus ein wichtiges Argument für Bewerber.

5.6

Gesellschaftliche Verantwortung

Die Begleitung des Themenfeldes gesellschaftlicher Verantwortung beginnt mit der Frage, was wir als Unternehmen unter dem Begriff verstehen. Über die üblichen Themenstellungen des Corporate Giving und Volunteering hinaus haben wir bei Union Investment definiert, dass auch die Beschäftigung mit der Entwicklung von Nachhaltigkeitsstandards für die Finanzdienstleistungsindustrie in traditionellen Branchen- und Nachhaltigkeitsverbänden, nachhaltigkeitsspezifischen Initiativen wie auch die aktive Begleitung politischer Prozesse Teil der Arbeit für die Sache der Nachhaltigkeit ist. Ebenso zählen wir die Frage unseres Engagements in der Lieferkette zu diesem Handlungsfeld. Gesellschaftliche Verantwortung ist in dieser weiten Ausprägung ein nicht zu unterschätzender Teil einer Glaubwürdigkeit eines Unternehmens, sich für die verschiedenen Stakeholdergruppen kompetent zu positionieren.

6

Messbarkeit der Nachhaltigkeitsleistung

Im Rahmen einer in die Unternehmenssteuerung integrierten Nachhaltigkeit ist eine Erfolgsmessung unverzichtbar. Dies erfolgt zum einen über die Integration relevanter Kennzahlen in die Balanced Scorecard. Die relevanten Performanceindikatoren für die verschiedenen Dimensionen einer BSC für die jeweiligen Markt- und Produktionsbereiche werden abgebildet und mit mittelfristigen Zielwerten belegt (Abb. 7). Daneben sind für wesentliche Geschäftsprozesse über Zertifizierungen oder öffentliches Benchmarking eine hohe Transparenz und ableitbare Zielwerte herstellbar, etwa im Personalbereich über das TOP-Arbeitgeber-Programm, über die ISO-14001-­Zertifizierung im Umweltbereich oder im Kerngeschäft über das PRI-Assessment. Zertifizierungen sind jedoch in

430

M. Stapelfeldt

Kennzahlen

Verantwortlich

2015 Ist

2016 HR

Budget

2017

2018

2019

2020

Planung

Finanzperspektive

NH-Vermögenswerte Markt „1“

Markt „1“

Mrd. €

NH-Vermögenswerte Markt „2“

Markt „2“

Mrd. €

Kundenzufriedenheit Markt „1“

Markt „1“

Note

Zufriedenheit B2B Markt „2“

Markt „2“

Note

Zufriedenheit B2C Markt „2“

Markt „2“

Note

Kundenperspektive

Prozessperspektive ESG Prozessqualität Produktion „1“

Produktion „1“

Note

ESG-Prozessqualität Produktion „2“

Produktion „2“

Note

Planerreichung Nachhaltigkeitsprogramm

Nachhaltigkeit

%

Umwelt

%

Ressourcen-/Umweltperspektive Umwelteffizienz (Wasser/Energie/CO² ) /Mitarbeiterkennzahlen Krankheitsrate

Mitarbeiter

%

Fortbildungstage

Mitarbeiter

Tage

Fluktuationsrate

Mitarbeiter

%

Abb. 7  Ergebnistransparenz: Nachhaltigkeitsindikatoren in der Balanced Scorecard. (Quelle: eigene Darstellung)

der Regel sehr aufwendige Prozesse, sodass eine Vielzahl von Zertifizierungen im Unternehmen eher kontraproduktiv wirken, wenn es keine explizite Notwendigkeit dafür gibt. Externe Ratings und Rankings auf Produktebene sorgen ebenfalls für eine gute Übersicht, wie das Unternehmen im Wettbewerbsvergleich steht. Unsere Erfahrung hat jedoch auch gezeigt, dass Flexibilität bei der Entwicklung einer Zielbestimmung von Vorteil ist. Gerade zu Anfang eines Entwicklungsprozesses haben wir angestrebt, dass sich der Fachbereich selbst marktgerechte Performanceindikatoren überlegt und auch selbst testet. Auch im Nachhaltigkeitsmanagement selbst gab es durchaus im Laufe der Zeit eine Weiterentwicklung in der Frage, mit welchen Indikatoren denn Erfolg oder Wirkung gemessen werden sollte.

7

Ergebnisse der Nachhaltigkeitsstrategie

Nach fast zehn Jahren Nachhaltigkeit im Unternehmen bietet dieser Buchbeitrag eine gute Gelegenheit, die Fortschritte und Ergebnisse zu reflektieren. Rückblickend hätte ich mir nicht vorstellen können, dass Nachhaltigkeit eine derart große Bedeutung für das Unternehmen erlangen würde. Dies ist sicherlich zum großen Teil dem aktuellen Umfeld der letzten Jahre geschuldet, aber auch die systematische und frühzeitige Entwicklung von Strukturen und Standards war der Themenakzeptanz sicherlich förderlich. Klare Struktur und Planbarkeit sind gerade in einem weichen und abstrakten Thema wie Nachhaltigkeit sehr förderlich. Wiederkehrende Entscheidungsmuster und Konzepte unterstützen die Bereitschaft, neue Vorhaben oder Fachbereiche in das Nachhaltigkeitsspektrum des Unternehmens zu integrieren.

10 Jahre Nachhaltigkeit bei Union Investment: Integration als dauerhafter Prozess

7.1

431

Integrationsgrad

Union Investment hat mittlerweile einen hohen Integrationsgrad erreicht. Viele Fachbereiche und Abteilungen sind mit Nachhaltigkeitsaspekten im Tagesgeschäft befasst und sehen dies als einen normalen operativen Vorgang in ihrer Aufgabenstellung an. Nicht alle Fachbereiche entwickeln sich zeitlich gleichlaufend, konkrete Anlässe in den jeweiligen Planungen kann man zur Integration nutzen, und es lohnt sich, dann auch ggf. ein oder zwei Jahre zu warten. Nachhaltigkeit hat bei den meisten Führungskräften den Status des Gutmenschentums oder der Esoterik lange verlassen, und stellt keinen Gegensatz zu ökonomischen Erwägungen mehr dar. Durch die im zeitlichen Ablauf lange währende Entwicklung und Implementierung des Zielbildes ist es gelungen, Fachbereiche und Mitarbeiter mitzunehmen und zu motivieren. In diesem Sinne ist die Entwicklung von Handlungsfeldern nicht lediglich als eine zu erledigende Sachaufgabe anzusehen, sondern trägt auch zur Unternehmenskultur bei. Die Zusammenarbeit zu Nachhaltigkeitsfragen zwischen Fachbereichen ist vielleicht sogar mehr von einem organisationsübergreifenden gemeinsamen und sinnstiftenden Ziel geprägt, als dies in normalen operativen Geschäftsthemen der Fall ist (Abb. 8).

7.2

Marktstellung

Die ursprüngliche Erstellung des Business Case im Jahr 2010 war im Unternehmen noch mit sehr großer Skepsis begleitet worden. Nachhaltige Finanzprodukte waren lediglich für sehr wenige Kunden geeignet und es war kaum vorstellbar, dass breite Kundensegmente sich für das Thema interessieren. Erst langsam, und auch nur bei sehr aufgeklärten institutionellen Kundengruppen hat sich das Bewusstsein für nachhaltigkeitsinduzierte Chancen und Risiken bezogen auf eine Finanzanlage entwickelt. Bis heute sind 90 % unserer Kun-

NH-Strategie, Verhaltenscodex, CSR-Management

Strategie / Steuerung CSR-Bericht, Stakeholderkommunikation, Reputationsmanagement

Kommunikation (Öffentlichkeitsarbeit, Unternehmenskommunikation) Infrastruktur (IT, Gebäudeverwaltung, Beschaffung etc.) Management von Human Resources

AGG, Work-Life-Balance, Gender, Fortbildung

Antikorruptionsmaßnahmen, Compliance

Recht und Compliance Nichtfinanzielle Indikatoren in der Rechnungslegung ESG-Themen-, und Titelresearch, ESGDatenplattform

UMS, Green IT, Lieferantenmanagement, Gebäudeausstattung, ..

Rechnungswesen und Steuern

Research

Asset Management

Investmentprozesse, Engagement

Fondsadministration

Risikocontrolling

KlimaRiskomanagment

Marketing

Vertrieb

Bankenbetreuung, Schulung, Kundenservice

Produktklarheit, SRI Angebote, Marketingkommunikation

Abb. 8  Die Prozessintegration im Unternehmen weist einen hohen Abdeckungsgrad auf. (Quelle: eigene Darstellung)

432

M. Stapelfeldt

Abb. 9  Qualitativer und quantitativer Erfolg im Kerngeschäft wird nach der Anlaufphase sichtbar. (Quelle: eigene Darstellung)

den in Nachhaltigkeitsprodukten institutionelle Kunden, an den Privatkunden ist die Entwicklung bis 2018 weitgehend vorbeigegangen. Dennoch ist es gelungen, den Bestand nachhaltiger Vermögenswerte von ca. 2,5 Mrd. € im Jahre 2010 auf heute über 45 Mrd. € zu verachtzehnfachen (Abb. 9). Mit diesem Wachstumspfad sind wir seit Jahren Marktführer in Deutschland. Durch den aktuellen „EU-Aktionsplan für die Finanzierung nachhaltiges Wachstums“ und dessen stark forcierender Wirkung auf die Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in das Kerngeschäft ist in den nächsten Jahren mit steigenden Anforderungen an Asset Manager zu rechnen. Aufgrund unser schon jetzt gut ausgebauten Größe und Infrastruktur versprechen wir uns hierbei als Union Investment Vorteile im Wettbewerb. Man könnte sagen, dass die frühzeitige Integration im Kerngeschäft jetzt zum Erfolgstreiber der nächsten Jahre wird. Allerdings ist auch davon auszugehen, dass im Laufe der Zeit dann der bisherige Differenzierungsfaktor verschwindet, da alle Anbieter sich in eine Richtung entwickeln werden. Nachhaltigkeit wird also langfristig mehr und mehr zum Hygienefaktor werden. In der qualitativen Bewertung unserer Investmentprozesse durchführende Ratingagenturen sind wir in den letzten sechs Jahren fünfmal zum besten Asset Manager für Nachhaltigkeit in Deutschland erkoren worden. Auch auf Produktebene stellen wir uns erfolgreich den jährlichen Nachhaltigkeitsratings, sodass die führende Produktqualität in Sachen Nachhaltigkeit kontinuierlich nachvollziehbar ist.

7.3

Glaubwürdigkeit in der Außen- und Innenwahrnehmung

Externe Glaubwürdigkeit zum Thema „Nachhaltigkeit“ ist nur schwer messbar. Wir versuchen, die inhaltlichen Voraussetzungen durch eine konsequente Strategie und Berichterstattung zu schaffen und letztlich durch eine Vielzahl verschiedener Aktivitäten auch im

10 Jahre Nachhaltigkeit bei Union Investment: Integration als dauerhafter Prozess

433

öffentlichen Raum ein konkretes Bild unseres Tuns und unseres Anspruchs zu vermitteln. Jährliche Investorenkonferenzen, zahlreiche Auftritte auf Konferenzen und Podien, eine sehr intensive Gremien- und Verbandsarbeit zu allen nachhaltigkeitsbezogenen Themen der Finanzwirtschaft, eigene Publikationen und Studien sowie regelmäßige konkret nachhaltigkeitsbezogene Pressearbeit sind Bausteine, die sich nach Jahren der Kontinuität zu einem Gesamtbild verdichten, welches zeigt, dass wir als Unternehmen Nachhaltigkeit ernst nehmen. Die kürzliche persönliche Berufung des Autors in den Sustainable-­Finance-­ Beirat der Bundesregierung mag hierfür als Beleg gelten.

8

Erkenntnisse aus 10 Jahren Nachhaltigkeitsmanagement

8.1

Ein klarer Plan hilft bei der Improvisation

Es ist wichtig, einen mehrjährigen verabschiedeten Fahrplan als Entscheidungsgrundlage und ein Zielbild in Bezug auf Handlungsfelder und Integrationstiefe zu haben. Dies hilft bei der Akzeptanz im Unternehmen gerade in den ersten Jahren. Die Erschließung einzelner Handlungsfelder oder inhaltlicher Maßnahmen bedarf einer hohen zeitlichen und inhaltlichen Flexibilität. Es ist erfolgversprechender, die ohnehin anstehenden Vorhaben und Projekte im Unternehmen zu nutzen und Nachhaltigkeitsbetrachtungen hinzufügen, als separate Projekte zu initiieren, die in den Fachabteilungen lediglich als Zusatzbelastung empfunden werden. Das funktioniert zwar nicht in allen Fällen, vermindert aber viele Reibungsverluste im Unternehmen an den falschen Stellen oder zu falschen Zeitpunkten.

8.2

 orübergehende Teilintegration führt zu V höherer Entwicklungsdynamik

Auch wenn das Zielbild eine sehr hohe Integration anstrebt, ist in der Zwischenzeit oftmals eine nur mittlere Integrationstiefe von Vorteil. Die separate Behandlung von Nachhaltigkeitsfragen außerhalb der bestehenden IT-Systeme  – also mit einem speziellen Nachhaltigkeitssystem sowohl auf Unternehmensebene wie auch im Kerngeschäft – führte z.  B. dazu, dass sich Änderungswünsche sehr viel schneller umsetzen ließen als in der langen Prioritätenliste des Gesamtunternehmens. Der Fokus einer eigenen Nachhaltigkeitsstrategie ist deutlich höher, als eine frühe Integration in die Gesamtunternehmensstrategie dies zuließe. Diese Trennung lässt sich in den ersten Jahren sehr gut umsetzen und sorgt für Geschwindigkeit und Klarheit; irgendwann wird dann gerade bei Systemfragen allerdings der Zeitpunkt kommen, bei denen sich Priorisierungs- und Ressourcenkonflikte ergeben und die separate Nachhaltigkeitsentwicklung in Richtung einer Vollintegration in unternehmensweite Prozesse übergeht. Das passiert allerdings dann zu einem Zeitpunkt, bei dem Nachhaltigkeit schon sehr viel weiter entwickelt ist und sich im Wettbewerb der Themen und Herausforderungen für ein Unternehmen deutlich besser behaupten kann.

434

8.3

M. Stapelfeldt

Vorhandenes integrieren statt erneuern

Man wird bei der anfänglichen Bestandsaufnahme erstaunt sein, wie viele Teilaspekte eines Zielbildes im Unternehmen bereits in Ansätzen oder ausgeprägt bereits vorhanden sind. Auch wenn diese Aspekte vielleicht noch nicht dem Idealbild entsprechen, sollte man nicht unbedingt versuchen, sie unmittelbar zu erneuern oder weiterzuentwickeln. Nachhaltigkeitsmanagement als neue Querschnittsfunktion sollte nicht als „Besserwisser“ im Unternehmen auftreten. Eine Klammer für verschiedene Themen zu bilden und dann im nächsten Schritt inhaltliche Weiterentwicklungen einzelner Fachbereiche über die Planung des Nachhaltigkeitsprogramms zu begleiten, sorgt für eine weiterhin dezentrale Verantwortung und größere Akzeptanz im Unternehmen.

8.4

Grenzen akzeptieren, aber immer wieder testen

Die Etablierung einer umfassenden und stark integrierten Nachhaltigkeitsstrategie bringt es mit sich, dass eine Vielzahl verschiedener Themen entsteht, die es anzusprechen und deren Fachbereiche es für die Sache zu gewinnen gilt. Dabei wird es unweigerlich auch zu Konflikten kommen oder die Notwendigkeit einer Entwicklung infrage gestellt. Im Sinne der Erreichung großer Fortschritte ist es manchmal besser, einzelne, nicht-nachhaltig geprägte Prozesse nicht fortwährend in Frage zu stellen und damit wertvolle Zeit und Akzeptanz zu verschwenden, sondern realistisch die Bedeutung des Konfliktfeldes für das Gesamtziel zu bewerten und ggf. auch zwei bis drei Jahre auszuklammern. Vielleicht gibt es bessere Anlässe oder neuere Erkenntnisse aus dem Umfeld, ein Thema wieder und dann erfolgreicher aufzurufen. Wichtige Themen von unwichtigen zu unterscheiden, wird sich im Gesamtergebnis langfristig auszahlen. Dann wird die Frage, ob ein Vorstand ein Elektro-­Dienstwagen fährt, letztlich wirklich zur Nebensache.

9

Ausblick

9.1

Vom Impulsgeber und Treiber zum Koordinator

Die ersten sieben bis acht Jahre des beschriebenen Prozesses waren geprägt von einer sehr starken Impulsgeberfunktion. Geläufige Vorurteile mussten widerlegt, Ansprüche definiert und Maßnahmen implementiert, der Vorstand im Zweifel um Richtungsentscheidungen gebeten werden, die dann in das Unternehmen getragen wurden. Das prägt das Bild des Nachhaltigkeitsbeauftragten im Unternehmen als Innovator und Thementreiber. Andererseits nimmt mit der Zahl der aktiv tätigen Fachbereiche auch die Bedeutung der Koordinationsfunktion zu. Die Rolle ist dann aber nicht mehr durch aktive Einflussnahme auf einzelne Inhalte oder Maßnahmen gekennzeichnet, sondern zunehmend als Rolle eines Koordinators des gesamten Maßnahmenprogramms. Dies gilt es sich bewusst zu machen

10 Jahre Nachhaltigkeit bei Union Investment: Integration als dauerhafter Prozess

435

und das eigene Rollenbild entsprechend weiterzuentwickeln. Eine Projektmanagementausbildung sollte mit der Entwicklung verschiedener Schnittstellen für zunehmend komplexe Projekte einhergehen. Vermutlich gibt es nur wenige Stellen im Unternehmen, die mit einer solchen Vielzahl verschiedener inhaltlicher Schnittstellen in Berührung kommen.

9.2

Loslassen gehört zum Rollenbild

Je stärker die verschiedenen Fachbereiche eigene Verfahren und Methoden entwickeln und damit Fachwissen aufbauen, umso mehr schwindet der Wissensvorsprung des Nachhaltigkeitsmanagements. Die Eigendynamik der Themen führt dazu, dass manche Aktivitäten nicht mehr im Detail verfolgt werden können. Die Steuerungsfunktion erfolgt zunehmend über die Planung und das Controlling des Nachhaltigkeitsprogramms, weniger über inhaltliche Diskurse spezifischer Themen. Dies bedeutet auch einen Kompetenzverlust des Nachhaltigkeitsbeauftragten im Detail. Neue Themen und Kompetenzen aufzubauen, wird zur Notwendigkeit. Insofern ist eine gewisse Nähe zum Innovationsmanagement des Betriebs hilfreich.

9.3

 irkung unternehmerischen Handelns als W nächste Entwicklungsstufe

Die kürzlich verabschiedete EU-Regulierung zur Förderung einer nachhaltigen Finanzwirtschaft sieht unter anderem vor, das Asset Manager öffentlich über ihren Investmentansatz und eingesetzte Kriterien berichten und wie diese auf Anlageentscheidungen in Bezug auf Umwelt und Gesellschaft wirken. In der Vergangenheit bezog sich die Verantwortung eines Treuhänders ausschließlich auf die finanziellen Aspekte einer Anlage. Diese neue Dimension einer Wirkungsbetrachtung ist der Anfang eines womöglich sehr weitgehenden Trends, den Begriff der Wirkung von Finanzanlagen neu zu definieren. Die Erforschung der Wirkung von Nachhaltigkeit auf das Unternehmen, aber auch auf Umwelt und Gesellschaft wird deshalb eine der Leitthemen für die nächsten Jahre sein. Die Entwicklung des Konzeptes der SDGs kann ein möglicher formaler Rahmen dafür sein. Alternative Rahmensysteme werden erst noch etabliert werden müssen. Die EU versucht derzeit, unter dem Begriff „Taxonomie“, ein universelles Ordnungs- und Wirkungssystem für Nachhaltigkeit aufzubauen. Das Nachhaltigkeitsmanagement wird diese neue Rahmengebung intensiv mit begleiten müssen und für das Unternehmen Lösungen suchen, wie diese Anforderungen handlungsleitend umzusetzen sind. Sicher ist jedenfalls, dass die Fragen einer nachhaltigen Entwicklung und die Verantwortung für die Wirkung des eigenen Handelns von Jahr zu Jahr drängender werden und damit an Relevanz für ein jedes Unternehmen gewinnen. Die Bedeutung der Rolle des Nachhaltigkeitsmanagements als in die Kernprozesse eines Unternehmens voll integrierte Funktion wird damit zunehmen.

436

9.4

M. Stapelfeldt

Integrated Thinking als Langfristziel

Nach zehn Jahren Entwicklung kann man sicher konstatieren, dass es gelungen ist, Nachhaltigkeit auf allen Ebenen von Union Investment als festes Element des täglichen ­Geschäfts zu etablieren. Der Prozess eines gesamthaft und durchgängig integrierten Denkens ist allerdings ein Anspruch, dessen Umsetzung noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Dies liegt zum Teil an der tatsächlichen Verinnerlichung der sehr spezifischen und dennoch zum Teil abstrakten Nachhaltigkeitsthemen, aber eben auch an der Frage, wie die Konsequenzen der Implementierung weicher Themen auf den finanziellen Erfolg eines Unternehmens durchschlagen. Oftmals müssen Entscheidungen getroffen werden, deren Wechselwirkung mit anderen Fragestellungen im Unternehmen nicht vorab klar sind. Manchmal geht es auch um Haltung und Ethik, die in dem dann konkret zur Entscheidung stehenden Kontext noch nicht diskutiert wurden und Zeit benötigen, um zu reifen. Die Bedeutung von Nachhaltigkeit im Finanzsektor verändert sich derzeit durch die verschiedenen Gesetzgebungsinitiativen zur Schaffung einer nachhaltigen Finanzwirtschaft sehr stark. Es gibt für die konkrete Implementierung aber kaum belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse, zum Beispiel für die Bewertung von Klimarisiken im Kreditportfolio einer Bank. Ohne solche Grundlagen ist eine integrierte Entscheidungsfindung mit großen Unsicherheiten behaftet. Dennoch ist der Weg dahin vorgezeichnet. Nachhaltigkeit wird seinen Stellenwert in wertegeleiteten Unternehmen auch künftig behalten, sich als Querschnittsfunktion aber selbst immer wieder neu erfinden und behaupten müssen.

Matthias Stapelfeldt  Herr Stapelfeldt ist bis März 2020 mehr als 26 Jahre in verschiedenen Leitungsfunktionen für Union Investment tätig gewesen, seit 2010 als Leiter Sustainable Finance. Im Juli 2014 wurde er in den Vorstand des Forums Nachhaltige Geldanlagen gewählt, ist seit 2018 im Vorstand des Vereins für Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanagement (VfU) sowie im Vorstand des Green and Sustainable Finance Cluster Germany (von der hessischen Landesregierung getragen) tätig. Im Sommer 2019 wurde Herr Stapelfeldt in den Sustainable Finance Beirat der Bundesregierung berufen, dem er bis März 2020 angehörte. Er war in den letzten 10 Jahren maßgeblich beteiligt an der inhaltlichen Entwicklung der Integration von Nachhaltigkeit in das treuhänderische Asset Management in Deutschland. In 2018 hat er gemeinsam mit dem WWF das Buch „Greening Finance“ mit Beiträgen von über 20 der führenden deutschen Akteure aus der Sustainable Finance-Landschaft herausgegeben.

Nachhaltigkeit als integraler Bestandteil der Unternehmensführung aus der Perspektive der Beratungsgesellschaft EY Roger Müller und Mark Veser

1

Unser Verständnis integrierter Unternehmensführung

Eine integrierte Unternehmensführung setzt eine ganzheitliche langfristig orientierte Betrachtung der Wertschöpfung voraus. Dabei gilt es, sowohl finanzielle und nicht-­finanzielle Faktoren zu berücksichtigen, wie auch zwischen wichtigen Stakeholdergruppen zu differenzieren. Gestützt auf den Erkenntnissen aus dem Embankment Project for Inclusive Capitalism („EPIC“; Coalition for Inclusive Capitalism 2018) unterscheiden wir vier Kategorien von Werten, die ein Unternehmen schafft (siehe Tab. 1): Finanzielle Werte, Werte für Konsumenten, Werte für Mitarbeitende und Gesellschaftliche Werte. Im Sinne einer integrierten Unternehmensführung gilt es, unter Berücksichtigung des spezifischen Unternehmenskontextes, die Rolle des Unternehmens in der Gesellschaft zu definieren, die Wertschöpfung für die Stakeholder aktiv zu steuern und darüber transparent Rechenschaft abzulegen. Entsprechend dem Long Term Value Framework (siehe Abb. 1) gilt es, hierzu verschiedene Elemente zu adressieren und diese konsistent aufeinander abzustimmen. Dieses Framework wurde mit Unternehmen und Vermögensverwaltern sowie Vermögenseigentümern abgestimmt. Es ermöglicht dem Management die systematische und konsequente Bewertung von Aspekten, die für den langfristigen Erfolg des Unternehmens wichtig sind. Zudem hilft es bei der Erarbeitung von Kennzahlen zur Verdeutlichung, wie und für wen Unternehmensstrategien langfristig Wert schaffen, und kann somit als Grundlage für entsprechende Diskussionen mit Investoren und anderen Stakeholdergruppen dienen. R. Müller (*) · M. Veser Ernst & Young AG, Zurich, Schweiz E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_23

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R. Müller und M. Veser

Tab. 1  Vier Kategorien von Werten (Coalition for Inclusive Capitalism 2018) Finanzielle Werte Traditionelle monetäre Messgrößen der Leistungserbringung eines Unternehmens. Beispiele für Kenngrößen: - Umsatz - Marge - Cash Flow - Kapitalstruktur

2

Werte für Konsumenten Funktionale oder emotionale Werte, die ein Unternehmen mittels seiner Produkte und Dienstleistungen für seine Kunden schafft. Beispiele für Kenngrößen: - Funktionaler Nutzen - Emotionaler Nutzen

Werte für Mitarbeitende Wert, den ein Unternehmen durch die Beschäftigung und Weiterentwicklung seiner Mitarbeitenden schafft. Beispiele für Kenngrößen: - Fähigkeiten - Know-how - Engagement/ Motivation

Gesellschaftliche Werte Ökonomische, ökologische und soziale/ gesellschaftliche Auswirkungen der Beziehungen zu weiteren externen Stakeholdern über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Beispiele für Kenngrößen: - Steuern - Emissionen - Philanthropisches Engagement

Unser Vorgehen

Vor dem Hintergrund dieses Long Term Value Frameworks, möchten wir nachfolgend ein phasenweises Vorgehen zu dessen Umsetzung aufzeigen, zentrale Fragestellungen aufführen sowie einen Einblick dazu geben, wie wir Kunden bei entsprechenden Projekten begleiten. Unser Vorgehen für die integrierte Unternehmensführung und Berichterstattung gliedert sich in die drei Phasen Bestandsaufnahme, Planung und Umsetzung. In jeder dieser Phasen gilt es, dabei die vier in Abb. 1 gezeigten Schritte zu berücksichtigen.

2.1

Phasenweises Vorgehen

2.1.1 Bestandsaufnahme (Phase 1) In einem ersten Schritt geht es darum, aus Perspektive des Long Term Value Frameworks eine Bestandsaufnahme zu machen, respektive eine Analyse vorzunehmen, inwieweit die aktuelle Unternehmensführung darauf ausgerichtet ist, langfristig Wert für seine Stakeholder zu schaffen. Daraus ergeben sich Erkenntnisse zu allfälligen Lücken und Optimierungspotenzialen, die es in den anschließenden Phasen zu adressieren gilt. Zudem gilt es, eine Projektstruktur zu definieren, die eine breit abgestützte und funktionsübergreifende Herangehensweise ermöglichen, die direkt von der Geschäftsleitung getragen wird. Dementsprechend ist auch das Projektteam mit Vertretern verschiedener Funktionsbereiche zusammenzusetzen, wie beispielsweise Unternehmensentwicklung, Finanzen, Investor Relations, Kommunikation, Nachhaltigkeit, Risikomanagement, sowie die Einbindung der Geschäftsbereiche zu gewährleisten.

Nachhaltigkeit als integraler Bestandteil der Unternehmensführung aus der Perspektive … 439

Kontext Stakeholder Stakeholder Outcomes

Schritt vier Kennzahlen zur Messung des Long Term Value erarbeiten

Kennzahlen

Wert schaffen S hritt drei Strategische Fähigkeiten identifizieren

Schritt zwei Wirkungen für Stakeholder bewerten

Wert schützen

Strategische Fähigkeiten Governance

Abb. 1  Long Term Value Framework (EY 2019)

2.1.2 Planung (Phase 2) Basierend auf den in Phase 1 gewonnenen Erkenntnissen gilt es, in einer zweiten Phase eine Ambition zu definieren, inwiefern diese Lücken und Optimierungspotenziale angegangen werden sollen und in welchem Zeitrahmen. Dies ermöglicht die Erstellung einer (mehrjährigen) Projektplanung mit parallel zu bearbeitenden Arbeitspaketen. Typischerweise lassen sich dabei Arbeitspakete zu folgenden Themenbereichen unterscheiden: • Schärfung der Kenntnisse bezüglich Erwartungshaltung der verschiedenen Stakeholdergruppen sowie der eigenen Ambitionen, inwiefern diese Erwartungen adressiert und welcher Wert für die Stakeholder geschaffen werden soll (Stakeholder Outcomes) • Erarbeitung eines einheitlichen Verständnisses des Geschäftsmodells und der damit verknüpften strategischen Fähigkeiten, anhand derer das Unternehmen mittels der zur Verfügung gestellten Ressourcen Wert schafft und schützt • Bestimmung von Kennzahlen, deren Erhebungsmethoden und -prozesse sowie zusätzlicher Kontextinformationen, um den Wert, den das Unternehmen schafft, entlang der in Tab. 1 gezeigten vier Kategorien erfassen zu können • Anpassung der Managementinformationssysteme, um die entsprechenden Kennzahlen bei strategischen Investitions- und operativen Entscheidungsprozessen mitzuberücksichtigen • Festlegung des Berichterstattungsansatzes, um die Umsetzung der strategischen Zielsetzungen sowie die langfristige Wertschaffung gegenüber Investoren und anderen Stakeholder aufzuzeigen

2.1.3 Umsetzung (Phase 3) Zu Beginn der Umsetzung gilt es, pro Arbeitspaket gemeinsame, sprich funktionsübergreifende, Grundlagen zu erarbeiten und diese über die einzelnen Arbeitspakete hinweg abzustimmen. Mit fortlaufender Dauer gilt es, die entsprechenden Konzepte und Ansätze zu verfeinern.

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R. Müller und M. Veser

Der Zeitpunkt, wann bei den einzelnen Arbeitspaketen die größte Arbeit anfällt, kann aufgrund von gegenseitigen Abhängigkeiten sehr unterschiedlich sein. So gilt es, beispielweise möglichst früh das Geschäftsmodell zu beschreiben, da dies einen wichtigen Input für die anderen Arbeitspakete darstellt. Zudem ändern sich die diesbezüglichen Sachverhalte meist nicht grundsätzlich innerhalb kürzester Zeit, sodass nach einer ersten arbeitsintensiven Erarbeitung in der Folge mehr die Aktualisierung und fortlaufende Optimierung im Vordergrund steht. Demgegenüber setzt die Anpassung der Managementinformationssysteme die Verfügbarkeit relevanter Kennzahlen voraus, sodass dies im Laufe der Zeit mit zunehmender Verfügbarkeit entsprechender Daten an Bedeutung gewinnt und somit auch mehr Aufwand erfordert. Die Umsetzung zieht sich in der Regel über mehrere Jahre hin. Dies kann relativ einfach anhand der Kennzahlen zur Messung des geschaffenen Wertes (Stakeholder Outcomes) veranschaulicht werden. Da aus unserer Erfahrung die meisten Unternehmen noch nicht über ausgereifte Kennzahlen verfügen, um die für verschiedene Stakeholder geschaffenen finanziellen und nicht-finanziellen Werte passend erfassen zu können, gilt es, zuerst entsprechende Erhebungsmethoden und -prozesse festzulegen sowie zu implementieren, bevor überhaupt mit einer ersten Datenerhebung begonnen werden kann. Da die Bedeutung vieler Kennzahlen durch Vergleiche der Entwicklung über die Zeit hinweg, z. B. pro Quartal oder Geschäftsjahr, zunimmt, kann es durchaus ein bis mehrere Jahre dauern bis in den Managementinformationssystemen sowie zuhanden der externen Berichterstattung alle als relevant erachteten Kennzahlen verfügbar sind. Daher kann es sinnvoll sein, in regelmäßigen Intervallen (z. B. jährlich) die ursprüngliche Bestandsaufnahme, inwieweit das Unternehmen auf langfristige Wertgenerierung für seine Stakeholder ausgerichtet ist, zu aktualisieren. Dies ermöglicht einerseits, gemachte Fortschritte aufzuzeigen, und andererseits festzustellen, ob es aufgrund aktueller Entwicklungen zusätzliche Optimierungspotenziale zu adressieren gilt.

2.2

Zentrale Fragestellungen

Die zentralen Fragestellungen, die es im Rahmen der Umsetzung einer integrierten Unternehmensführung zu adressieren gilt, lassen sich anhand der unter 2.1.2 beschriebenen Arbeitspakete aufzeigen.

2.2.1 E  rwartungshaltung der Stakeholder sowie Ambitionen bzgl. Wertschaffung Um die Kenntnisse bezüglich Erwartungshaltungen der verschiedenen Stakeholdergruppen zu schärfen sowie die eigenen Ambitionen zu artikulieren, inwiefern diese Erwartungen adressiert und welcher Wert für die Stakeholder (Stakeholder Outcomes) geschaffen werden soll, sind folgende Aspekte aufzugreifen: • Zusammenstellung einer gesamtheitlichen Übersicht der verschiedenen Stakeholdergruppen, deren Interessen sowie deren Verbindung und Beitrag zur Wertschöpfung der Unternehmung

Nachhaltigkeit als integraler Bestandteil der Unternehmensführung aus der Perspektive … 441

• Durchführung von Interviews mit Vertretern der Leitungsorgane, um relevante Themen zu identifizieren, die aus ihrer Sicht die Erreichung der langfristigen strategischen Zielsetzungen beeinflussen werden • Ermittlung der Erwartungen der Stakeholder gegenüber dem Unternehmen mittels Sichtung verfügbarer Daten sowie direkter Interaktion mit Vertretern verschiedener Anspruchsgruppen • Analyse von Megatrends bezüglich der relevanten Themen hinsichtlich Geschäftsrelevanz, Bedeutung für Stakeholder und zukünftigen Entwicklungen • Bestimmung der wichtigsten Themen auf Basis der vorangehenden Punkte und Review durch Leitungsorgane • Artikulation einer Stakeholder-Ergebnismatrix mit den Werten, die das Unternehmen für die einzelnen Stakeholder schaffen möchte (Stakeholder Outcomes) • Aktualisierung der Datengrundlagen, Einschätzungen und eigenen Ambition in regelmäßigen Abständen

2.2.2 Verständnis des Geschäftsmodells Für das Verständnis dafür, wie ein Unternehmen Wert für seine Stakeholder schafft, kommt dem Geschäftsmodell eine zentrale Bedeutung zu. Hierzu gilt es oft, die Sichtweisen verschiedener Unternehmensbereiche untereinander abzustimmen, wobei es folgende Punkte zu beachten gilt: • Festhalten des Zwecks, für den das Unternehmen existiert, der Rolle, die es in der Gesellschaft spielt, seiner einzigartigen Eigenschaften sowie des Wertes, den es schafft • Bestimmung der wesentlichen Elemente des Geschäftsmodells und deren Verknüpfungen untereinander, inklusive der wichtigsten Inputfaktoren, der Einbettung in das Unternehmensumfeld, der Werttreiber sowie der daraus resultierenden finanziellen und nicht-finanziellen Werte • Review und gegebenenfalls Ergänzung der mit dem Geschäftsmodell verbundenen finanziellen und nicht-finanziellen Risiken und Chancen • Darstellung des Geschäftsmodells und Verknüpfung zu wesentlichen Themen für die Berichterstattung • Fortlaufende Optimierung der Verknüpfung des Geschäftsmodells mit den strategischen Zielsetzungen und den verschiedenen Wertkategorien (siehe Tab. 1)

2.2.3 B  estimmung von Kennzahlen, Erhebungsmethoden und -prozessen Um den Wert, den das Unternehmen für seine Stakeholder schafft, erfassen zu können, gilt es, zugehörende Kennzahlen und Kontextinformationen zu bestimmen: • Ausdifferenzierung der vier Wertkategorien (siehe Tab. 1) anhand idealtypischer quantitativer Kennzahlen und komplementärer qualitativer Informationen • Assessment der Realisierbarkeit und des damit verbundenen Aufwands der idealtypischen Kennzahlen und Kontextinformationen

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R. Müller und M. Veser

• Auswahl der neu zu erhebenden Kennzahlen und Kontextinformationen, der entsprechenden Methoden, Datenquellen, -prozesse und unterstützenden IT-Systeme sowie der Erhebungszyklen • Implementierung der entsprechenden Kennzahlen und Kontextinformationen • Überprüfung der Robustheit und fortlaufende Optimierung

2.2.4 Anpassung der Managementinformationssysteme Für die Einbettung der Kennzahlen bei strategischen Investitions- und operativen Entscheidungsprozessen bedarf es folgende Aspekte aufzugreifen: • Interviews und Workshops mit Entscheidungsträgern zu Zielsetzungen einer Erweiterung der Managementinformationssysteme • Einbettung der quantitativen Kennzahlen und qualitativen Kontextinformationen in Managementcockpits • Erstellen von Analysen und Ableiten von Erkenntnissen auf Basis der angepassten Managementinformationssysteme

2.3

Festlegung des Berichterstattungsansatzes

Im Rahmen der Festlegung des Berichterstattungsansatzes gilt es, folgende Punkte zu adres­sieren: • Artikulation der Ambition hinsichtlich integrierter Unternehmensführung sowie deren Reflektion in einer integrierten Berichterstattung • Festlegung von Zielsetzungen und zentralen Arbeitspaketen pro Berichtsjahr über die nächsten paar Jahre hinweg • Definition der Berichtsformate und -strukturen sowie des Zusammenspiels zwischen verschiedenen Berichten, z. B. des Geschäfts- und des Nachhaltigkeitsberichts • Klärung, welche Inhalte in welchem Umfang in welchen Berichten gezeigt werden sollen • Bestimmung, inwieweit Referenzierungen (textlich und grafisch), innerhalb sowie über die einzelnen Berichte hinweg, anzustreben sind • Falls anstelle des Geschäftsberichts, in einem anderen Bericht die für verschiedene Stakeholder geschaffenen Werte umfassend dargestellt werden sollen ist zudem zu ­analysieren, inwieweit die Leitungsorgane des Unternehmens in die Erstellung und Freigabe des Berichts passend einzubeziehen sind • Optimierung der Konsistenz und Abstimmung verschiedener Berichtsinhalte untereinander

Nachhaltigkeit als integraler Bestandteil der Unternehmensführung aus der Perspektive … 443

2.3.1 Wie wir Kunden begleiten Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, um Kunden auf dem Weg zu einer integrierten Unternehmensführung und Berichterstattung zu begleiten. Dies ist einerseits geprägt von dem in der Organisation vorhandenen Know-how sowie den verfügbaren Kapazitäten und anderseits abhängig von dem Wunsch, Erfahrungen aus vergleichbaren Projekten einfließen zu lassen. Hauptsächlich ist Unterstützung bezüglich Bestandsaufnahme, Einholen des Buy-ins der Geschäftsleitung, der Planung sowie während der gesamten Umsetzung gefragt. 2.3.2 Bestandsaufnahme Wie unter 2.1.1 beschrieben, geht es bei der Bestandsaufnahme darum, anhand des Long Term Value Frameworks die Ausgangslage zu erfassen und den hauptsächlichen Handlungsbedarf aufzuzeigen. Hierbei ist eine objektive Beurteilung gefragt, was der Einschätzung durch eine Drittpartei entgegenkommt. In diesem Zusammenhang sind auch Vergleiche mit ähnlich ausgerichteten Organisationen sowie reale Beispiele zur Adressierung des Handlungsbedarfs hilfreich, um über Stufen und Funktionen hinweg die Resultate, mögliche Implikationen sowie potenzielle Optimierungen zielführend diskutieren zu können. 2.3.3 Einholen des Buy-ins der Geschäftsleitung Neben der objektiven Bestandsaufnahme ist häufig auch die Unterstützung bei der Abstimmung mit Vertretern der Geschäftsleitung gewünscht, um sowohl den Nutzen einer integrierten Unternehmensführung und Berichterstattung aufzuzeigen, wie auch damit verbundene Aufwände und Anforderungen einordnen zu können. Hierbei geht es neben der Herbeiführung einer Managemententscheidung auch darum, Ambitionen und realistische Erwartungshaltungen abzustimmen, um eine erfolgsversprechende Grundlage für das weitere Vorgehen zu schaffen. Erfahrungsgemäß ist es wichtig, relativ frühzeitig die Geschäftsleitung einzubinden, um die benötigte Abstimmung mit strategischen Prioritäten sowie die Sicherstellung der benötigten Ressourcen zu gewährleisten. Zudem wird dadurch die Abstimmung mit und Einbettung der zusätzlich gewonnenen Erkenntnisse und Kennzahlen in Managemententscheidungen vorbereitet. 2.3.4 Planung Um realistisch planen zu können, sind insbesondere Erfahrungswerte aus ähnlichen Projekten gefragt. Dabei geht es einerseits um Fragen der Projektsteuerung sowie Rollen und Verantwortlichkeiten und anderseits um die Bestimmung verschiedener Arbeitspakete und Abfolge entsprechender Aktivitäten. Da Organisationen hierzu in der Regel noch nicht über eigene Erfahrungen verfügen, ist hierzu das Know-how erfahrener Drittparteien besonders gefragt.

R. Müller und M. Veser

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2.3.5 Umsetzung Die Unterstützung in der Umsetzung der Planung ist stark von der Größe und den Kapazitäten des internen Projektteams geprägt. So ist bei einzelnen Organisationen ein Coaching ausreichend, während bei anderen die operative Übernahme bestimmter Aufgaben explizit gewünscht wird. Neben der Begleitung über die gesamte Projektdauer hinweg sind stattdessen auch periodische externe Statusreviews vorstellbar, z. B. nach Erscheinen der Jahresberichte. Dies erlaubt einerseits die Verifizierung gemachter Fortschritte und gibt anderseits der Geschäftsleitung eine zusätzliche Informationsgrundlage, um den aktuellen Stand beurteilen zu können.

3

Schlussbemerkung

Nachhaltigkeit als integralen Bestandteil der Unternehmensführung zu etablieren, ist ein komplexer Prozess, der für die jeweilige Organisation viele neue Fragestellungen aufwirft. Um diese passend zu adressieren und von den Erfahrungen anderer Organisationen zu profitieren, kann es sich lohnen, externe Unterstützung beizuziehen. Dies ermöglicht eine Außenperspektive wie auch Erkenntnisse aus vergleichbaren Projekten miteinfließen zu lassen, um den langfristigen Wert für verschiedene Stakeholder und damit einhergehend die Erfolgsaussichten der Organisation selbst zu optimieren.

Literatur Coalition for Inclusive Capitalism (2018) Embankment project for inclusive capitalism. London Ernst & Young (2019) Long term value: building a new perspective on corporate reporting. Zürich

Roger Müller  ist Partner bei EY in der Schweiz. Er ist leitender Prüfer von kotierten und privat gehaltenen nationalen und internationalen Unternehmen. Er ist Experte im Bereich Sustainability Reporting, verantwortlich für unterschiedliche Projekte im Bereich inte­ grierter Berichterstattung sowie Nachhaltigkeit und hat umfassende Erfahrung in der Interaktion mit Verwaltungsräten und Kontrollgremien von Unternehmungen. Er ist dipl. Wirtschaftsprüfer (CH) und Referent an verschiedenen Lehrveranstaltungen, Seminaren und Konferenzen.

Nachhaltigkeit als integraler Bestandteil der Unternehmensführung aus der Perspektive … 445 Mark Veser  ist Senior Manager bei EY in der Schweiz und leitet den Servicebereich zu Sustainability. Er leitet Projekte zu integrierter Unternehmensführung und -berichterstattung sowie zu Nachhaltigkeitsstrategien, deren Umsetzung und entsprechender Berichterstattung, inklusive deren Prüfung, für zahlreiche internationale und nationale Unternehmen. Zudem ist er bei Accountancy Europe, dem europäischen Dachverband der Wirtschaftsprüfer, in Arbeitsgruppen zu diesen Themen involviert. Er hat an der Universität Zürich zu strategischem Stakeholdermanagement promoviert und ist Referent an verschiedenen Konferenzen sowie Autor von zahlreichen Publikationen zu integrierter Unternehmensführung, Nachhaltigkeit und Berichterstattung.

„Nachhaltigkeit“ als Querschnittsaufgabe einer integrierten Stadtentwicklung am Beispiel der Landeshauptstadt Hannover Susanne Wildermann, Friedel Ahlers und Kristin Butzer-­ Strothmann

1

 inführung: Besondere Nachhaltigkeitsverantwortung von E Städten/Kommunen

„Städte sind verdichtete Kernbereiche der Gesellschaften, deren Teil sie sind; neben ihrer tatsächlichen Entwicklung können sie zugleich als ein gesamtgesellschaftliches Entwicklungsmodell verstanden werden …“ (Jahn und Schramm 1998, S. 44). Dieses gilt in besonderer Weise für die in den letzten 25 Jahren stark an Bedeutung gewonnene Nachhaltigkeitsverantwortung. Diese wird auf der einen Seite von der Gesellschaft her von den Städten aktiv eingefordert, auf der anderen Seite können diese hier eigene Entwicklungsakzente setzen. Aufgrund der urbanen Entwicklung mit dem Zuzug in Städten weltweit gilt das 21. Jahrhundert als das „Jahrhundert der Städte“, was sie nahezu zwangsläufig in den Mittelpunkt nachhaltiger Aktivitäten rückt: „Da Städte in Zukunft voraussichtlich 70 % der auf der Erde lebenden Menschen beherbergen werden, sind sie die ‚zentralen Akteure/innen und Arenen nachhaltiger Entwicklung‘“ (Region Hannover 2018, S. 9). Dies gilt weniger für globale politische Entscheidungsprozesse auf nationaler und multinationaler Ebene, sondern mehr für die nachhaltige Umsetzungskompetenz vor Ort. Nachhaltigkeit ist damit ein Zusammenspiel aller gesellschaftlich und wirtschaftlich  agierenden und Verantwortung tragenden Akteure und damit keinesfalls nur von S. Wildermann Landeshauptstadt Hannover, Leitung Agenda 21- und Nachhaltigkeitsbüro, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Ahlers · K. Butzer-Strothmann (*) Leibniz-Fachhochschule, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_24

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S. Wildermann et al.

­ nternehmen, wenn sie auch im Blickpunkt dieses Herausgeberbandes stehen. Ein ganz U wesentlicher Akteur, gerade auch mit Blick auf die gesellschaftlichen und lebensweltbezogenen Aspekte von Nachhaltigkeit, sind die Städte bzw. weiter gefasst die Kommunen. Ihnen kann eine besondere Nachhaltigkeitsverantwortung zugesprochen werden, da sie in besonderer Weise Träger politischer und gesellschaftlicher Verantwortung sind und die vorzufindende und damit erfahrbare Nachhaltigkeitssituation der Bürger*innen vor Ort prägen. Je nachdem, ob z. B. eher ländlich oder städtisch geprägt, stehen die Kommunen dabei vor unterschiedlichen Herausforderungen mit unterschiedlicher Gewichtung. Die Städte sind mit der immanenten Konzentration von Bevölkerung, Verkehr etc. in Sachen Nachhaltigkeit besonders gefordert: „The concentration of people and activity in cities often generate high level of local pollution with impacts on air, water and waste. Yet it is exactly this concentration that provides opportunities to reduce such impatcs“ (European Commission 2016, S. 158). Nachhaltigkeit ist nicht (nur) irgendetwas Abstraktes, wo z.  B.  Bürger*innen in den Medien globale Konferenzen ohne konkreten Bezug vor Augen haben. Vielmehr geht es um „lokale Kompetenz für globale Herausforderungen – ohne lokale Impulse und Innovationen lassen sich die globalen Herausforderungen nicht lösen. Um die Ziele der Agenda 2030 und des Pariser Klimaabkommens zu erreichen müssen alle politischen Ebenen und gesellschaftlichen Akteure zusammenwirken“ (Rat für Nachhaltige Entwicklung 2019). Die Kommunen haben hier eine Schlüsselfunktion: Als politische Wirkungszentren vor Ort gestalten sie „nachhaltige Erlebniswelten“ für die Bürger*innen, angefangen von z. B. Fahrradwegen über die Bürgerbüros bis zu Kulturangeboten. Durch diese erfahrbaren nachhaltigen Aktivitäten, die (hoffentlich) einen entsprechenden Eindruck hinterlassen, schärft man zugleich das Bewusstsein der Bürger*innen für eine reale Nachhaltigkeit in kleineren oder Kleinst-Formaten. Denn die Bürger*innen einer Stadt sind zugleich Ideenquelle, Mitgestalter, Umsetzer und Nutznießer mikroinstitutioneller Nachhaltigkeitsinitiativen. Es sind also die Bürger*innen, „… deren Engagement die Grundlage für eine zukunftsfähige und nachhaltige Kommune ist“ (Richter 2019, S. 270). Eine besondere Verantwortung für die Nachhaltigkeit wächst den meisten Städten auch durch die wachsenden Einwohnerzahlen zu, die es eben nachhaltig zu bewältigen gilt. „Das 21. Jahrhundert wird das der Städte“ (Richter 2019, S. 287). Und es ist es schon und das weltweit: „For the first time in human history, more than half oft he world’s population lives in urban areas“ (Storper et al. 2015, S. 1). Und damit auch mit zunehmenden Herausforderungen an das Konglomerat Stadt, gerade mit Bezug auf Nachhaltigkeit. In diesem Zusammenhang werden Konzepte wie „Smart Cities“ mit intelligenten Systemsteuerungen für nahezu alle digitalisierungsaffinen Bereiche als mögliche Lösungsansätze diskutiert. Dies vor dem Hintergrund der Zielsetzung, „… kompakte Städte mit einer effizienten Ressourcenökonomie zu schaffen, die auf den Bestand der Städte und den ihres Umfeldes ausgerichtet …“ (Etezadzadeh 2015, S. 7) sind, was als Ziel in hohem Maße Nachhaltigkeit widerspiegelt. Wobei das Themenfeld „Smart (sustainable) cities“ für ein umfassendes Konzept mit engem Nachhaltigkeitsbezug steht: „Smart sustainable city is defined as a city of good performance in a forward-looking way in economics, people, governance,

„Nachhaltigkeit“ als Querschnittsaufgabe einer integrierten Stadtentwicklung am …

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mobility, environment and living …“ (Alastal et al. 2019, S. 144). Entsprechend ist eine integrierte nachhaltige Stadtentwicklung gefordert, die alle genannten Bereiche nicht isoliert, sondern gesamtheitlich im Blick hat.

2

Grundlagen zur integrierten nachhaltigen Stadtentwicklung

2.1

 achhaltige Stadtentwicklung als institutionelles und N gesellschaftliches Ziel

Die zukünftige Stadtentwicklung ist ein zentrales, viele unterschiedliche Interessenlagen vereinendes Entscheidungs- und Handlungsfeld der Stadtplanung. Sie beschäftigt sich klassischerweise mit einer Reihe von zentralen Aufgabenfeldern, so u. a. der Bauleitplanung, der städtebaulichen Sanierung, Aufwertung von Stadtquartieren und der Verbesserung von Infrastrukturen (Umweltbundesamt 2017a, S. 1). Nachdem vor mehreren Dekaden noch eher quantitative Aspekte, wie Verkehrs- und Infrastrukturausbau, im Vordergrund standen, hat seit ca. drei Jahrzehnten mit der verstärkten Umweltsensibilisierung der Gesellschaft auch das qualitative Umwelt- und Nachhaltigkeitsdenken Einzug in das Zielsystem der Stadtentwicklung gehalten. Heute ist Nachhaltigkeit ein auch weitgehend von verantwortlichen politischen Gruppierungen in den Städten – wenn auch mit unterschiedlicher Wahrnehmung und Gewichtung – mitgetragenes zentrales Ziel der Stadtentwicklung. Als Querschnittsfunktion durchzieht Nachhaltigkeit die oben genannten klassischen Felder der Stadtentwicklung und setzt hier jeweils neue Akzente in Richtung Ressourcenschonung, Verkehrsberuhigung etc. Nach Jaeger-Erben und Matthies (2014, S. 13) ist eine nachhaltige Stadtentwicklung insbesondere durch drei Kernaufgabenbereiche gekennzeichnet: • „die Suche nach lokalen, stadtentwicklungspolitischen Lösungen für den weltweiten Klimaschutz; • die Orientierung an Zielen der Nachhaltigkeit, wie der Sicherung von Lebensqualität und Wohlbefinden in Städten; • die Partizipation und Teilhabe von Stadtbewohnerinnen und -bewohnern sowie Akteuren der Zivilgesellschaft in der Stadtentwicklungspolitik.“ Die Breite der drei Aufgabenbereiche und ihre z. T. unterschiedliche Fokusausrichtung verdeutlichen, dass eine nachhaltige Stadtentwicklung keine monolithische, sondern sehr komplexe Herausforderung ist und vielen Akteursbereichen eine aktive Rolle abverlangt. Die Bevölkerungszunahme in den urbanen Welten und hier insbesondere Städten macht die Aufgabe nicht leichter. Sie verlangt u. a. nach neuen Konzepten für die Wohnraumbeschaffung und Verkehrsbewirtschaftung. Internationale Mega-Cities, wie z. B. Tokio, Istanbul und Mexiko-Stadt, stehen hier sicherlich noch vor ganz anderen Herausforderungen. Aber auch die deutschen Großstädte  – wenn sicherlich auch in überschaubareren

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Dimensionen als die vorgenannten Mega-Cities – sind hier besonders gefordert. Die verschiedenen nachhaltigkeitsrelevanten Systeme im Verkehr etc. müssen dabei nicht in erster Linie und zumal in gleicher Dimension mit der Einwohnerzahl „mitwachsen“, sondern primär intelligenter werden. Intelligenter insbesondere dahingehend, dass z. B. die Verkehrsströme umweltschonender gelenkt werden können. Es ist legitim, dass Städte Nachhaltigkeit neben den originären lokalen und globalen Verantwortungsgründen und der Bürgerschaftsverpflichtung auch als Element des Stadtmarketings ansehen. So erhofft sich die Stadt Freiburg als Avantgarde-Stadt in Sachen Umweltschutz und Nachhaltigkeit unter dem vermarktungsfähigen Label „Green City“ eine nicht unerhebliche „Strahlkraft“ für ihr Stadtmarketing (dazu Richter 2019). Nachhaltiges Leben in nachhaltig wahrgenommenen Städten wird auch immer mehr zu einem bedeutenden Faktor für die betriebliche Rekrutierung von insbesondere Fach- und Führungskräften. Gerade die neuen Generationen Y und Z schenken dem Thema Work-­Life-­ Balance eine hohe Aufmerksamkeit. Das „Life“ in einer nachhaltigen Stadt(-umgebung) ist dabei ein bedeutsamer Indikator einer anvisierten hohen Lebensqualität. Insofern unterstützt eine nachhaltige Stadtentwicklung in nicht zu unterschätzendem Maße auch die Rekrutierungspolitik von lokal ansässigen Unternehmen. Die enge Verflechtung der Ziele unterschiedlicher Akteursgruppen an einer nachhaltigen Stadtentwicklung wird damit schon evident.

2.2

Vielfaltsspektrum an nachhaltigen Aufgaben in Städten

Im Vergleich zu Unternehmen ist das nachhaltige Aufgabenspektrum von Städten noch breiter aufgestellt, was insbesondere am städtischen Gesamtauftrag und an der damit verbundenen größeren Anzahl an zu berücksichtigenden politischen und gesellschaftlichen Anspruchsgruppen liegt. Nachhaltigkeit reicht quasi in alle Dimensionen des städtischen Lebens hinein, z. B. von auf den ersten Blick unterschiedlichen Faktoren wie Lebensqualität, Verkehrsinfrastruktur, Stadtstruktur, Wirtschafts- und Arbeitskonstellationen, Bildungsvielfalt, Ressourcenschonung und Verwaltungsstrukturen. Diese sicherlich nur exem­ plarische Aufzählung zeigt zum einen das Vielfaltsspektrum an nachhaltigen Aufgaben in Städten. Zum anderen wird aber auch schnell offensichtlich, dass die Bereiche keine isolierten Entscheidungs- und Handlungsfelder darstellen, sondern vielfältige Interdependenzen aufweisen. Einen guten Überblick über das nachhaltige Aufgabenspektrum im weiteren Sinne in und von Städten bieten die ursprünglich von Giffinger et al. aufgestellten und hier nach Müller-Seitz et  al. (2016, S.  5  ff.) angeführten sechs Leistungsdimensionen von Smart Cities: 1. Smart Economy: Diese Kategorie zielt auf eine Stärkung der städtischen Wettbewerbsund Innovationsfähigkeit durch z. B. eine aktive Gründerszene etc.

„Nachhaltigkeit“ als Querschnittsaufgabe einer integrierten Stadtentwicklung am …

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2. Smart People: Dazu zählen u.  a. Human- und Sozialkapital begünstigende Faktoren wie eine breitgefächerte Hochschullandschaft, eine soziale und ethnische Vielfalt und die Weltoffenheit der betrachteten Stadt. 3. Smart Governance: Hier stehen breitgefächerte Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger*innen, die Qualität der städtischen Dienstleistungen und transparentes Verwaltungshandeln im Vordergrund. 4. Smart Mobility: Im Fokus stehen hier nachhaltige, innovative und sichere Verkehrssysteme sowie eine gute Erreichbarkeit und Verfügbarkeit von Informations- und Kommunikationstechnologien. 5. Smart Environment: Relevant sind hier Umweltschutzaspekte und ein nachhaltiger Ressourceneinsatz. 6. Smart Living: Hierunter fallen alle Aktivitäten, die zur erhöhten Lebensqualität einer Stadt wie kulturelle Einrichtungen, Gesundheitsversorgung etc. beitragen. Diese Auflistung sensibilisiert für ein mittlerweile gängiges erweitertes Verständnis und damit zugleich Aufgabenspektrum von Nachhaltigkeit in Städten, das weit über das ursprüngliche Umweltschutz- und Ressourcenschonungsansinnen (Bereich 5 Smart Environment) hinausgeht und in nahezu alle Entscheidungsbereiche hineinragt. Zudem wird durch das breitgefächerte Aufgabenspektrum deutlich, dass entgegen einer isolierten Betrachtung der Einzelbereiche ein integriertes Gesamtkonzept einer nachhaltigen Stadt sinnvoll ist, wo sich die einzelnen Bereiche synergetisch ergänzen. Zugleich wird anhand des breitgefächerten Aufgabenspektrums auch deutlich, dass die Nachhaltigkeitstransformation von Städten keine Frage von Jahren, sondern eher Jahrzehnten ist, wenn das auch nicht als „Freibrief“ für ein nicht konsequentes Vorgehen in Richtung Nachhaltigkeit verstanden werden darf. Zumindest die Transformation zu nachhaltigeren Lebensstilen der Bürger*innen ist zu Teilen auch eine Generationenfrage mit entsprechend einzukalkulierendem Zeitbedarf (zum Zeitaspekt der nachhaltigen Transformation näher Umweltbundesamt 2014b). So stellt auch das Umweltbundesamt (2014a, S.  61) fest: „Die Einzeltrends der ‚Nachhaltigen Lebensmodelle und Entschleunigung‘ wirken als ressourcenleichtere Lebensweise positiv auf Ressourcenverbrauch, stellen jedoch – bei allem Bedeutungszuwachs – weiterhin ein Nischenphänomen dar.“ Ein Kernbereich nachhaltigen Handelns in Städten speziell in Europa ist die Schaffung einer „grünen“ und „blauen“ Infrastruktur. „Many European cities […] started to invest in green or blue infrastructure by expanding nature-based solutions or ecological systems to enhace urban resilience“ (European Commission 2016, S. 179). Zur „grünen Infrastruktur“ gehört z. B. ein grünes Antlitz der Stadt durch Parks, Straßenbäume etc. Unter der „blauen“ Infrastruktur fallen insbesondere wasseraffine Maßnahmen wie die nachhaltige Nutzung dieser Ressource. Diese Vielfalt an nachhaltigen Aufgaben und Herausforderungen impliziert gleichzeitig die Involvierung einer Vielzahl von Institutionen, subinstitutionellen Akteuren und final den Bürgern*innen in das Nachhaltigkeitsgeschehen. Dabei wird schnell klar, dass eine Vielzahl von Involvierten auch mit einer entsprechenden Vielzahl von z. T. ­konfliktären

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Interessenlagen verbunden ist, wenn z. B. an eine autofreie Innenstadt gedacht wird. Die Diskussion um eine möglichst optimale nachhaltige Stadtentwicklung wird damit als Diskurs in der öffentlichen und dabei speziell politischen Arena ausgetragen. Mittlerweile veröffentlichen eine Reihe von Städten und weitere Kommunen einen Nachhaltigkeitsbericht, der ihre Aktivitäten i. d. R. über mehrere Jahre zusammenfasst. Wenn auch viele Aufgabenfelder und Aktivitäten wie z. B. der Bereich Verkehr zu arrivierten Bestandteilen nahezu eines jeden Nachhaltigkeitsberichts zählen, bleibt genug Raum für spezielle kommunale Akzentsetzungen. Die Vielfalt an Maßnahmen im Bereich Nachhaltigkeit wird durch die Berichtslage besonders evident.

2.3

I ntegriertes und entwicklungsorientiertes Nachhaltigkeitssystem in Städten

Die Notwendigkeit einer integrierten nachhaltigen Stadtentwicklung lässt sich treffend aus dem folgenden Zitat des Umweltbundesamtes zur Stadtentwicklung herauslesen: „Die Stadtentwicklung umfasst alle Planungen und Maßnahmen zur städtebaulichen Ordnung und Entwicklung. Dabei kommt es vor allem darauf an, fachübergreifend zu denken und zu handeln und Fachbelange in einen räumlichen Gesamtkontext zu bringen. Vor allem bedeutet nachhaltige Stadtentwicklung aber, dass bei allen Entscheidungen über Veränderungen die Stadt als Ganzes betrachtet werden muss. Entscheidungen sollen zukunftsfähig sein. Diese umfassen • • • • •

Umwelt, Soziales, Wirtschaft Kultur sowie Teilhabe an Entscheidungsprozessen.

Somit hat nachhaltige Stadtentwicklung eine Vielzahl von Facetten und Handlungsfeldern“. (Umweltbundesamt 2017a, S. 1 f.)

Gerade weil dieser Facettenreichtum vorliegt, „… lohnt es sich also, integrative Modelle oder Orientierungskonzepte zu entwickeln, die nicht nur Zusammenhänge darstellen, sondern hierin auch gezielte Anknüpfungspunkte aufzeigen“ (Jaeger-Erben und Matthies 2014, S. 22). Nachhaltigkeit besteht in Kommunen aus vielen „Puzzlesteinen“ träger-, prozess- und maßnahmenbezogener Art. Um die Metapher „Puzzle“ weiter zu bemühen, ergibt aber nur das Gesamtbild einen wahrnehmbaren Sinn. Damit ist der Weg zur Integration der Einzelelemente in Richtung eines schlüssigen Gesamtkonzeptes einer nachhaltigen Stadt vorgezeichnet. Kuhn et al. (2018, S. 9) sprechen bezogen auf kommunale Nachhaltigkeit von einem „integrierten, zyklischen Prozess“. Neben dem Integrationsaspekt ist dieser

„Nachhaltigkeit“ als Querschnittsaufgabe einer integrierten Stadtentwicklung am …

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­ ezeichnung auch gleichzeitig ein Entwicklungsaspekt inhärent mit der Aufforderung zur B systematischen Reflexion und Weiterentwicklung der kommunalen Nachhaltigkeitsaktivtäten. Bei Kommunen besteht bezogen auf Nachhaltigkeit ein inter- und intrasystemisches Integrationserfordernis. Intersystemisch bzw. vertikal derart, dass Nachhaltigkeitsinitiativen, z.  B. in Form von Förderschwerpunkten auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, sinnvoll aufeinander abgestimmt werden sollten; mit der Möglichkeit der Kommunen, ihre Erfahrungen vor Ort in die übergeordnete politische System- und Entscheidungsebene miteinzubringen. Aus Gestaltungssicht der Stadt liegt die intrasystemische bzw. horizontale Integrationsebene in ihrem Wirk- und Handlungsfeld. Gerade die aufgezeigte Vielfalt an nachhaltigen Aufgabenfeldern im Vorkapitel und deren enge Verflechtungen weist Nachhaltigkeit als eine dezernatsübergreifende Querschnittsaufgabe in Städten aus. Entsprechend sollte die rein ressortbezogene hinter einer sektorübergreifenden Denk- und Handlungsweise zur Verwirklichung einer nachhaltigen Stadtentwicklung zurücktreten, bzw. zumindest von ihr ergänzt werden (Schmidt 2017, S. 145). Dies bedarf einer entsprechenden zentralen Koordination und Steuerung, z.  B. durch eine eigene Nachhaltigkeitszuständigkeit in Form eines dafür zuständigen Dezernates oder eines eigenen Koordinators. Um den einheitenübergreifenden Charakter von Nachhaltigkeitsaktivitäten in Kommunen deutlich zu machen, könnte neben der festen personellen Zuständigkeit ein ressort- und verwal­tungs­ ebenen-­übergreifendes Koordinationsteam bestellt werden, wo fachbereichsbezogenes Know-how und Verantwortlichkeiten gebündelt und verzahnt werden (Kuhn et al. 2018, S. 19). Diese Koordination nachhaltiger Aktivitäten in der Verwaltungseinheit selbst beugt „Insellösungen“ vor und führt auf ein abgestimmtes Gesamtkonzept hin. Entsprechend betont auch die Region Hannover (2018, S. 85) in ihrem Nachhaltigkeitsbericht: „Nachhaltigkeit im Handeln ist aber erst dann erreicht, wenn nicht nur einzelne Aspekte als ‚Inselthemen‘ behandelt und einzelne Aktivitäten oder Programme durchgeführt werden, sondern wenn die gesamte Struktur der Verwaltung nachhaltig und von der Zielsetzung zum nachhaltigen Handeln durchdrungen ist. Es bedarf also eines konsequenten und gut strukturierten Nachhaltigkeitshandelns in der gesamten Verwaltung, um dem Anspruch zur Nachhaltigkeit gerecht zu werden …“. Diese intrasystemische Integration wird ergänzt durch die intersystemische Form der aktiven Einbeziehung stadtrelevanter Stakeholder, wie z. B. der ortsansässigen Unternehmen und zuförderst der Bürger*innen. Der Integrationsgedanke ist auch dem seit einigen Jahren populären Konzept der „Smart Cities“ inhärent, wenn auch oft mit affinem IT-Bezug als „… Vernetzung der städtischen Akteure und Aktivitäten auf Basis der IT-Infrastruktur …“ (Müller-Seitz et  al. 2016, S. 2). Die Autoren dieses Zitats öffnen aber wegweisend ihre definitorischen Vorstellungen auch für weitergehende Aspekte, wenn sie anführen, dass sie „… unter Smart Cities ein Städtemanagement verstehen, welches darauf abzielt, die Zukunftsfähigkeit von Städten sicherzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird mehr Lebensqualität durch eine (unter anderem IT-basierte) Vernetzung von Städten und deren Infrastrukturen und Menschen angestrebt, die u.  a. mit mehr Lebensqualität und neuen Formen politischer

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­ artizipation einhergeht“ (Müller-Seitz et al. 2016, S. 2). Neue Formen politischer PartiziP pation gehen über das klassische Wahlrecht deutlich hinaus und stehen für einen aktiven Bürgerdialog. Nachhaltige Stadtentwicklung ist damit bei Weitem keine alleinige Aufgabe der Stadtverwaltung, wenn bei ihr auch die „Fäden zusammenlaufen“. Gerade der Integrationsgedanke öffnet den Blickwinkel für einen aktiven Einbezug der relevanten lokalen Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft, Umwelt- und Sozialverbänden, Initiativen, Kulturschaffenden und ehrenamtlich Tätigen. Eine vitale Stadt im Sinne einer lebendigen, entwicklungsaffinen Kommune setzt bei Nachhaltigkeit explizit auch auf Dezentralität und Selbstorganisation. Dies impliziert von der Stadtverwaltung her das Einfordern, Zulassen und Unterstützen mikrosystemischer Nachhaltigkeitsinitiativen vor Ort in den Stadtteilen bis zu einzelnen Hausgemeinschaften und Einzelpersonen. Neben einer geplanten städtischen Nachhaltigkeitsstrategie bedarf es damit auch einer evolutorischen Nachhaltigkeitsenergie lokal vor Ort als ein aktives Bürgeransinnen zur Umsetzung mikrosystemischer Nachhaltigkeitsaktivitäten. Das zunehmende Bewusstsein der Bürger*innen für die Sinnhaftigkeit von Nachhaltigkeit befördert diese Energiebildung in Eigeninitiative, die sich dann durch entsprechende Initiativen, wie z. B. Müll sammeln, ihren Weg bahnt. Die Kanalisierung und Integration dieser Energie im Kontext der nachhaltigen Gesamtaufstellung der Stadt ist dann wiederum eine Aufgabe für das zuständige Verwaltungsressort. Ein integriertes Nachhaltigkeitskonzept beinhaltet explizit auch eine integrative Stadtgesellschaft in dem Sinne, dass alle Stadtbewohner mit ihren unterschiedlichen sozio-­ kulturellen Hintergründen als Adressat gelten. Oder wie Schuster (2013, S. 63, 67) für das Beispiel Stuttgart formuliert: „Für alle, die in unserer Stadt leben, gilt: Wir sind willkommen und aktiv in einer internationalen, interkulturellen und integrativen Stadtgesellschaft“ … „Alle, die in Stuttgart leben, sind Stuttgarter.“ Interkulturalität sollte insofern als Bereicherung für Städte wahrgenommen werden. Das folgende Fallbeispiel der Landeshauptstadt Hannover (LHH) spiegelt sehr gut den akzentuierten Integrationsgedanken der Nachhaltigkeit wider.

3

Fallbeispiel Landeshauptstadt Hannover (LHH)

3.1

Grunddaten zur Landeshauptstadt Hannover

Die LHH ist eine von den zentralen Wachstumsdaten her „wachsende Stadt“, was sich insbesondere in den letzten Jahren durch kontinuierlich steigende Einwohnerzahlen (2019: 543.331 – nach Region Hannover 2019, S. 1) mit – von quartalsmäßigen Schwankungen abgesehen – insgesamt weiter steigender Tendenz widerspiegelt. Als Landeshauptstadt ist sie politischer und kultureller Mittelpunkt des Bundeslandes Niedersachsen. Durch die Wiedervereinigung ist sie auch verkehrstechnisch stärker in den Mittelpunkt von Deutschland als wichtiger Knotenpunkt zentraler Verkehrsadern gerückt. Sie verfügt – auch dank der Investitionen für die Weltausstellung Expo 2000  – über ein sehr gut ausgebautes

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­ ffentliches Verkehrssystem. Ferner liegt eine breitgefächerte Wirtschaftsstruktur vor, von ö vielen kleineren Handels- und Handwerksbetrieben bis hin zu internationalen Konzernen mit weltweiten Renommee. Mit der Eilenriede verfügt die Stadt Hannover über einen der größten zusammenhängenden Stadtwälder Europas, also quasi eine „grüne Lunge inside“. Weil und Mönninghoff (2011, Vorwort) sehen die Eilenriede als „… ein wunderbares Symbol für Nachhaltigkeit … “. Gerade einem solchen Stadtwald wird neben seiner grünen Funktion ein hoher nachhaltigkeitszentrierter Symbolcharakter zugeschrieben: „Natur und insbesondere Wald haben neben der praktischen Bedeutung (für Bewegung und Erholung) auch einen hohen Wert als Symbol für ‚Leben‘ …“ (Jaeger-Erben und Matthies 2014, S. 17). Diese exemplarischen Daten zu Hannover deuten schon darauf hin, dass gute Rahmenbedingungen bestehen, auf die die Nachhaltigkeitsstrategie der Stadt aufbauen kann, bzw. die von der Stadt schon in den letzten Dekaden vorausschauend entwickelt worden sind. Mit diesen positiven Entwicklungsdaten wachsen aber auch die Ansprüche an die (nachhaltige) Stadtentwicklung.

3.2

Nachhaltigkeitsverpflichtung und -ziele der LHH

Ein schon langjähriges politisches Commitment in der LHH zur Nachhaltigkeit und damit zur nachhaltigen Stadtentwicklung, das mit einem Ratsbeschluss von 1995 zur „Charta der Europäischen Städte und Gemeinden auf dem Weg zur Zukunftsbeständigkeit“ einen ersten wichtigen Meilenstein verzeichnen konnte, zeigt die schon für das Thema vergleichsweise lange Historie der zukunftszugewandten Beschäftigung mit Nachhaltigkeitsaspekten in der LHH auf (Wildermann 2019, S. 1). Ein „frühes“ Bekenntnis der Stadt Hannover spiegelt die Veröffentlichung „Aktivitäten der Stadt Hannover auf dem Weg zur Zukunftsbeständigkeit: Eine Bestandaufnahme zur lokalen Agenda 21 und Charta von Aalborg“ wider (LHH 2005). Richtungsweisend wird schon im Vorwort formuliert: „Nachhaltigkeit ist ein strategisches Ziel der Stadt Hannover“ (Schmalstieg et al. 2005, S. 1). Mit dieser Publikation liegt eine erste umfassende Bestandsaufnahme der vielfältigen Facetten der Nachhaltigkeit bezogen auf die Stadt Hannover vor. In den Folgejahren und speziell vor dem Hintergrund der kontinuierlichen Bedeutungszunahme von Nachhaltigkeit hat die Stadt Hannover ihre Nachhaltigkeitsaktivitäten gezielt weiter intensiviert und z.  T. auf neue Anforderungsmuster ausgerichtet. Dies spiegelt sich auch in „AUFBRUCH – MEILENSTEINE – ZIELE: HANNOVER AUF DEM WEG ZUR NACHHALTIGKEIT wider. Die Veröffentlichung erfolgte anlässlich eines von der LHH koordinierten Treffens von 23 überwiegend bundesweiten Organisationen in Hannover, um unter dem Titel „Rio+20 – Nachhaltig vor Ort!“ das bisher Erreichte zu diskutieren und Per­spektiven für die Zukunft zu entwickeln. Die Ergebnisse dieser Konferenz flossen in die Arbeit der deutschen Delegation beim in 2012 stattfindenden Weltgipfel 2012 Rio+20 in Rio de Janeiro unter dem Motto „Hannover-Resolution“ ein.

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Ein weiterer Meilenstein in der Nachhaltigkeitsausrichtung der LHH ist die Umstrukturierung des Agenda 21-Büros mit zwei Mitarbeitenden zu einem Agenda 21- und Nachhaltigkeitsbüro mit insgesamt sechs Mitarbeitenden in 2013. Hierdurch gelang die stärkere strategische Bedeutungszumessung der Nachhaltigkeit, die eine entsprechende Aufmerksamkeit der Verantwortungsträger der Stadt einfordert. Gleichzeitig konnten auf der operativen Ebene die interne und externe Bildungsarbeit ausgebaut und zahlreiche Leuchtturmprojekte zusammen mit der Stadtgesellschaft realisiert werden. Nachhaltigkeit ist damit mittlerweile ein anerkanntes und arriviertes Ziel der LHH. Es zielt – wie grundsätzlich bei anderen Kommunen auch – aus Bürgersicht auf eine lebensund liebenswerte Stadt ab, will aber auch die globale Verantwortung der Kommune sichtbar machen. Dies wird besonders deutlich im Ratsbeschluss von 2016 „2030-Agenda – Nachhaltigkeit auf kommunaler Ebene gestalten“. Hierzu heißt es u. a.: „Aufgrund der bisherigen Nachhaltigkeitsaktivitäten der Landeshauptstadt Hannover sollen folgende Strategien weiterverfolgt werden: die Verstärkung der Informations- und Bewusstseinsbildung zu den Nachhaltigkeitszielen unter Einbeziehung aller gesellschaftlich relevanter Gruppen und Netzwerke, […] die Vertiefung globaler Netzwerke und (Städte-) Partnerschaften […], sowie die weitere Einbindung der Nachhaltigkeitsziele als Querschnittsaufgabe in die kommunalen Handlungsfelder […].“ Dazu tragen Aktivitäten auf vielen unterschiedlichen städtischen Handlungsfeldern zur Nachhaltigkeit bei, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird.

3.3

Der Stadtentwicklungsprozess „Mein Hannover 2020“

Die Nachhaltigkeitsprinzipien  – Ganzheitlichkeit, Generationengerechtigkeit, globale Verantwortung, Partizipation – sind, wie oben ausgeführt, in der Landeshauptstadt Hannover seit dem Beschluss zur Erarbeitung einer lokalen Agenda 21 in 1996 handlungsleitend und finden sich in den Programmen und Maßnahmen der einzelnen Themenfelder wieder. Dazu die Erste Stadträtin und Wirtschafts- und Umweltdezernentin Sabine Tegtmeyer-­ Dette, in deren Dezernat das Querschnittsthema Nachhaltigkeit federführend bearbeitet wird: „Hannover ist eine wachsende Stadt, in der die Handlungsfelder der Nachhaltigkeit in allen vier Dimensionen fortwährend – auch im Hinblick auf unsere globale Verantwortung  – weiterentwickelt werden. Bei den vielfältigen Herausforderungen wie Umweltund Klimaschutz, Ressourcenschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltiges Wirtschaften, Flächenmanagement, umweltfreundliche Mobilität, Bildung, Inklusion, soziale Teilhabe und aktuell die Integration von geflüchteten Menschen kann Hannover auf einen starken Rückhalt in der Politik, ein modernes Verwaltungsmanagement und ein herausragendes Engagement in der Zivilgesellschaft zurückgreifen.“ Deutlich wird dies besonders im integrierten Stadtentwicklungskonzept „Mein Hannover 2030“ durch seine strategischen Zielsetzungen. Das integrierte Stadtentwicklungskonzept, das auf der Grundlage eines Status-quo-­ Berichts entwickelt wurde, greift alle wesentlichen Handlungsfelder einer nachhaltigen Stadtentwicklung auf.

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Handlungsleitend waren im Stadtentwicklungsprozess folgende sechs Themenfelder und Fragestellungen: 1 . Wirtschaft, Arbeit, Wissenschaft und Umwelt – Wie wollen wir wachsen? 2. Wohnen, Versorgung und Mobilität  – Wie machen wir Hannover zu einem Zuhause für viele? 3. Bildung und Kultur – Wie schaffen wir gute Bildung und lebendige Kultur? 4. Inklusion, Integration und Teilhabe – Wie stärken wir selbstständiges Leben und gesellschaftliche Teilhabe? 5. Finanzen – Was wollen und was können wir uns leisten? 6. Stadtverwaltung 2030 – Wie wollen wir in Zukunft in der Stadtverwaltung arbeiten? Weiterhin wurden fünf Querschnittsthemen festgelegt: • • • • •

Demografischer Wandel, Gleichstellung von Frauen und Männern Gesellschaftlicher Wandel Innovation Nachhaltigkeit neue Kooperationsformen

Ähnlich wie andere Städte auf dem Weg zur Nachhaltigkeit wurden im Rahmen eines stadtweiten Dialogprozesses (s.  u.) daraus sechs zentrale Betätigungsfelder definiert (Wildermann 2019, S. 1, 6 f.): 1. Klima und Ressourcen Hierunter fallen z. B. Projekte wie eine Masterplan 100 % für den Klimaschutz 2050 oder Energiesparprojekte an Schulen. 2. Mobilität und Infrastruktur Beispielhaft lassen sich hierunter Maßnahmen zu einer fahrradfreundlichen Stadt und ökologische Wohnkonzepte subsumieren. 3. Wirtschaft und Arbeit Exemplarisch für dieses vielfältige Feld stehen die Förderung der Kreativwirtschaft und eine Fachkräfte-Initiative. 4. Bildung und Integration Darunter fallen z.  B. eine nachhaltige Schulentwicklungsplanung und die VHSFörderung. 5. Lebensqualität und Stadtstruktur Exemplarisch hierfür sei die Kulturförderung und die Stadtteilentwicklung genannt. 6. Governance und Verwaltung Hierzu zählen beispielsweise bürgernahe und effiziente Verwaltungsstrukturen und ein Ausbau der Bürgerbeteiligung.

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Jedes dieser sechs Aufgabengebiete enthält für sich ein breites Spektrum an nachhaltigen Subaufgaben, die hier nur exemplarisch aufgegriffen wurden. Darüber hinaus wurde das Querschnittsthema Nachhaltigkeit explizit mit fünf Strategien in das integrierte Stadtentwicklungskonzept aufgenommen: • • • • •

Bildung für nachhaltige Entwicklung fördern, Bürgerschaftliches Engagement für nachhaltige Entwicklung ermöglichen, nachhaltige Lebensweisen in den Mittelpunkt rücken, global denken – lokal handeln (Umsetzung SDGs), ein Integriertes Nachhaltigkeitsmanagement etablieren.

Die enge Verzahnung der einzelnen Bereiche untereinander lässt die querschnittsorientierte Implementierung von Nachhaltigkeit, d. h. insbesondere die zielführende Abstimmung der Einzelbereiche vor dem Hintergrund des Gesamtziels einer nachhaltigen Stadtentwicklung, als übergreifende Aufgabe besonders offensichtlich werden. Die konkreten nachhaltigen Handlungsfelder sind in diversen Publikationen der LHH und speziell im aktuellen Nachhaltigkeitsbericht festgehalten, auf den hier nur verwiesen werden kann (LHH Nachhaltigkeitsbericht, erscheint Herbst 2020). Der Nachhaltigkeitsbericht enthält eine Gesamtübersicht der Ziele und eine Darstellung der Zielerreichung mithilfe von ca. 80 Indikatoren sowie wesentlichen Programmen, Projekten und Maßnahmen. Weiterhin werden diese in Bezug zu den Sustainable Development Goals (SDGs) gesetzt. Als Grundlage dienten zum einen die aktualisierten Be­ werbungsunterlagen zum „Deutschen Nachhaltigkeitspreis“ sowie die fachbezogenen Handlungsprogramme, Masterpläne, Monitoringberichte und Teilergebnishaushalte der Dezernate bzw. Fachbereiche sowie insbesondere das Stadtentwicklungskonzept „Mein Hannover 2030“. Im Vorfeld der Erstellung des Nachhaltigkeitsberichtes wurden die indikatorgestützten Daten bei allen Dezernaten und Fachbereichen abgefragt, um den nachhaltigen Entwicklungsstand auch zahlenmäßig untermauern zu können. Dadurch wird eine hohe Transparenz und zugleich ein hoher Verpflichtungsgrad erreicht, der über bloße Bekundungen weit hinausgeht und konkret Erreichtes aufzeigt. Die erhobenen quantitativen Daten bieten für Folgeberichte durch gute Vergleichsgrundlagen die Möglichkeit der Darstellung des Fortschrittes auf den einzelnen Nachhaltigkeitsfeldern.

3.4

Integrationsgrad der Nachhaltigkeitsaktivitäten

Die im Vorfeld angeführte Vielfältigkeit der Nachhaltigkeitsaktivitäten der LHH fordert ein abgestimmtes und integriertes Gesamtkonzept der Stadtentwicklung ein. Genau das hat die LHH schon früh erkannt und den „integrierten Stadtentwicklungsprozess ‚Mein Hannover 2030‘“ auf den Weg gebracht, worin explizit Nachhaltigkeit als Querschnittsthema integriert ist (LHH 2016, S. 1).

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Diese evidente Integrations- und Querschnittsorientierung des Nachhaltigkeitskonzeptes der LHH kommt auch transparent in der Jurybegründung der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis zum Ausdruck, in dessen Rahmen Hannover als die „Nachhaltigste ­Großstadt Deutschlands 2018“ ausgezeichnet wurde: „In Hannover wird nachhaltige Stadtentwicklung gelebt. Die niedersächsische Landeshauptstadt […] kombiniert bei der Bewältigung ihrer Zukunftsaufgaben eine integrierte und strategische Herangehensweise mit vielfältigen, kreativen Praxisprojekten und einer ausgeprägten Beteiligungskultur. Rat und Verwaltung unterstützen das breite Engagement und setzen Nachhaltigkeit in beeindruckender Weise als Querschnittsaufgabe um“ (nach Wildermann 2019, S. 1). Die Bedeutung des renommierten Nachhaltigkeitspreises für die Landeshauptstadt Hannover fasst die Erste Stadträtin und Wirtschafts- und Umweltdezernentin wie folgt zusammen: „Die Auszeichnung Hannovers als ‚Deutschlands nachhaltigste Großstadt 2018‘ hat uns in unserem nachhaltigen Handeln bestärkt und hat auch dazu beitragen, dass unsere Ziele und Strategien nachhaltiger Entwicklung in der Verwaltung und in der Öffentlichkeit noch besser wahrgenommen werden.“ Der Integrationsanspruch einer nachhaltigen Stadtentwicklung wird damit evident. Die Umsetzung dieses Anspruches und das damit erforderliche Abstimmungserfordernis der einzelnen verwaltungsbezogenen zuständigen Dezernate sind allerdings nicht immer friktionslos möglich und z. T. zeitintensiv. Dennoch gibt es bei vielen Nachhaltigkeitsinitiativen keine Alternative zur dekanatsübergreifenden Zusammenarbeit. Bei entsprechender Kultur in der Stadtverwaltung, die in Hannover vorliegt, kann der ressortübergreifenden Zusammenarbeit viel Positives über den Nachhaltigkeitsfokus hinaus, wie z. B. ein übergreifender Ideen- und Wissensaustausch, abgewonnen werden. Dies bestätigt auch Sabine Tegtmeyer-Dette: „Für die erfolgreiche Umsetzung einer nachhaltigen Stadtentwicklung – und das betrifft sowohl die großen stadtweiten Projekte als auch die vielen Initiativen in den Stadtquartieren – spielt es eine entscheidende Rolle, inwieweit wir den Interessensausgleich zwischen den Zielfeldern Ökologie, Ökonomie, Soziales und Kultur im Rahmen demokratischer und auf das Gemeinwohl ausgerichteter Prozesses bewerkstelligen können. ‚Hannover auf dem Weg zur Nachhaltigkeit‘ ist in diesem Sinne Herausforderung und Motivation gleichermaßen.“

3.5

 erausforderungen und Zukunftsprojekte: Auf dem Weg H zur Nachhaltigkeit

Die LHH sieht sich  – treffend beschrieben  – selbst „auf dem Weg zur Nachhaltigkeit“ (LHH 2016, S. 4; Wildermann 2019, S. 1), obwohl schon viele zukunftsweisende nachhaltige Projekte in der Stadt angestoßen und umgesetzt wurden. Dies impliziert, dass der „Weg zur Nachhaltigkeit“ konsequent weiter beschritten werden sollte. Einen finalen Zustand von Nachhaltigkeit im Sinne eines „Zieleinlaufes“ kann es schon deswegen nicht geben, weil sich auch das Anforderungsspektrum an Nachhaltigkeit vor dem Hintergrund

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neuer Herausforderungen ständig weiterentwickelt und sich damit eine nachhaltige Stadtentwicklung als permanente Aufgabe ohne Verfallsdatum zeigt. „Um diesen Weg hin zu einer fortschreitenden Nachhaltigkeit operational gezielt weiter zu beschreiten, nutzt die LHH neben der langfristigen Orientierung an Nachhaltigkeit sogenannte Arbeitsprogramme mit konkreten, und dabei vermehrt ressortübergreifenden Projekten, die im Haushalt der Stadt hinterlegt und deren Sachstände öffentlich einsehbar sind“, so Sven Krüger vom Büro des Oberbürgermeisters und dort zuständig für die Prozesssteuerung des Stadtentwicklungskonzeptes „Mein Hannover 2030“ (LHH Hannover 2019). Strategische Ausrichtung und operative Umsetzung sollen damit Hand in Hand gehen mit dem Anspruch der Realisierung nachhaltiger Vorhaben als für Bürger vor Ort wahrnehmbare nachhaltige Ausprägungsformen. Entsprechend sieht auch Wildermann (2019, S. 13) als einen zentralen Erfolgsfaktor mit Blick auf die Realisierung einer nachhaltigen Stadt Hannover, „… die Strategien in konkretes, für die Stadtgesellschaft und v. a. für das Klima zu spürbaren Verbesserungen führendes Handeln umzusetzen.“ Von besonderer Bedeutung gerade für die Zukunftsfähigkeit von Hannover und ein sehr gelungenes Beispiel für den aktiven Bürgereinbezug ist der Stadtdialog „Mein Hannover 2030“: „Bei diesem Projekt zur aktiven Stadtentwicklung wurden auf gut 200 Veranstaltungen von ca. 17.000 Bürgern*innen und weiteren 10.000 Personen im Online-Dialog verschiedenste Zukunftsfragen diskutiert. Das Ergebnis sind über 1400 Anregungen …“ (LHH Hannover 2019, S. 13). Die Bürger*innen sind insofern nicht nur Adressat, sondern auch eigeninitiiert selbst Initiatoren einer nachhaltigen Entwicklung ihrer Stadt. Städte sind daher gut beraten, auch „Freiräume für bottom-up Initiativen“ (Matern 2017, S. 170) zu ermöglichen. Hier liegt viel Ideenpotenzial, dass es gezielt zu nutzen und zu aktivieren gilt. Auch die Bürger*innen bzw. ihre Initiativen wollen sich explizit als nachhaltig agierende Akteure verstehen. „Neben der staatlich gestalteten Umgestaltung florieren Bürgerinitiativen, die eine Transition zu mehr Nachhaltigkeit fordern und umsetzen. Hier fun­ gieren Städte zunehmend als Labore für neue Lebensmodelle“ (Umweltbundesamt 2014a, S. 9). Wildermann betont (2019, S. 10), dass es notwendig ist, für Akteure der Stadtgesellschaft Möglichkeitsräume zu schaffen, in denen kreative Ideen erprobt werden können. Hierbei seien die Belange der jungen Generation insbesondere zu berücksichtigen und Angebote zu schaffen, um die bei der Entwicklung ihre Gestaltungskompetenz zu unterstützen und ihre Ideen in Partizipationsprozesse einbringen zu können. Nachhaltigkeit ist aber auch in der LHH kein konfliktbereinigter Bereich. Maßnahmen, z. B. zur Verkehrsberuhigung in der Innenstadt bis ganz hin zur autofreien Innenstadt über die Fußgängerzone hinaus, rufen nahezu zwangsläufig unterschiedliche Interessenlagen auf den Plan. Für akute und latente Konflikte in Verbindung mit Nachhaltigkeitsaktivitäten lassen sich sicherlich viele weitere Beispiele finden. Diese Konfliktträchtigkeit vieler Nachhaltigkeitsthemen an sich ist per se vorgezeichnet. Damit rücken die Anwendung konfliktregulierender Techniken in den Vordergrund, um trotz unterschiedlicher Interessenlagen auf einen vertretbaren gemeinsamen Nenner im Interesse des Nachhaltigkeitsfortschritts zu kommen. Die Stadtpolitik ist hier in mehrfacher Weise gefordert: Sie muss

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z. B. die berechtigten Interessenlagen des innerstädtischen Handels mit denen der klimafreundlichen Verkehrsleitführung austarieren. Diese Diskussionen sollten transparent in der politischen Arena mit einer finalen Beschlussfähigkeit geführt werden, um die Nachhaltigkeit weiter auf den Weg zu bringen. Die ehrgeizigen Ziele, die sich die Kommunen für eine nachhaltige Entwicklung gesetzt haben, erfordern auch eine Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins und des Handelns jedes einzelnen Menschen. Wobei es darum geht, „das Wissen vom Kopf in die Hand“ zu bekommen. Die Beförderung nachhaltiger Lebensstile ist deshalb ein immerwährender Prozess. Die LHH legt daher besonderen Wert darauf im Rahmen ihrer schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit, Kinder und Jugendliche zu zukunftsfähigem Denken und Handeln zu befähigen: Ziel ist es dabei, die Auswirkungen des eigenen Handelns zu verstehen, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln. In Kooperation mit einer Vielzahl von Organisationen, Verbänden und Initiativen aus der Stadtgesellschaft sowie in mehreren außerschulischen Lernorten bietet die LHH in herausragender Weise eine Fülle an Veranstaltungen, Projekten, Werkstätten, Fortbildungen, Exkursionen, Broschüren und Ausstellungen sowie Unterrichts- und Beratungsangebote an (siehe auch www.hannover-nachhaltigkeit.de). Eine nachhaltige Stadtentwicklung ist also generell kein „Selbstläufer“, wie man vielleicht aufgrund ihrer hohen gesellschaftlichen Akzeptanz zunächst vermuten könnte. Nicht immer stehen z. B. den zuständigen Verwaltungseinheiten hinreichende Ressourcen für ein breitgefächertes Nachhaltigkeitsmanagement zur Verfügung, die Handlungs- und Entscheidungsspielräume können begrenzt sein oder zentrale Zielkonflikte der Nachhaltigkeit können nicht final gelöst werden (Jaeger-Erben und Matthies 2014, S. 14).

4

 enerelle Perspektiven für eine integrierte G nachhaltige Stadtentwicklung

Die Analyse des Nachhaltigkeitskonzeptes der LHH lässt schon einen fortgeschrittenen Stand mit vielen zielführenden Akzentsetzungen konstatieren. Aber auch reale bzw. vermeintliche „Avantgarde-Städte“ der nachhaltigen Entwicklung, zu denen auch Hannover nach der Auszeichnung als „Nachhaltigste Großstadt Deutschlands 2018“ zählt, sollten ihr Programm gezielt weiterentwickeln. Entsprechend ist die nachhaltige Stadtentwicklung eine permanente, zukunftszugewandte Aufgabenstellung. Dabei gibt es nicht den Masterplan für „die“ integrierte nachhaltige Stadtentwicklung, wenn auch die Städte untereinander viel voneinander lernen können. Die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in den Städten, was Größe, Verkehrsaufkommen, Quartiere etc. eingeht, fordert eine jeweils auf die Verhältnisse zugeschnittene integrierte nachhaltige Stadtentwicklungsplanung ein. So formuliert auch Wildermann (2019, S.  7): „Jede Stadt geht ihren eigenen Weg der ­Nachhaltigkeit“. Eine integrierte nachhaltige Stadtentwicklung ist allenfalls von der Methodik, aber nicht von den Inhalten ein finaler Zustand. In einer vitalen Stadt wird es immer wieder

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neue Impulse und Akzentsetzungen in Richtung Nachhaltigkeit geben, womit es das Gesamtgefüge partiell neu auszutarieren gilt. Nachhaltigkeit „lebt“ als ein von Bürgern*Bürgerinnen und Institutionen mit ihren Ideen eingespeistes System mit der Fähigkeit zur permanenten Weiterentwicklung und partiellen Selbsterneuerung. Eine konkrete Zukunftsherausforderung kann darin gesehen werden, die Resilienzfähigkeit von Städten als einen wesentlichen Faktor zur Absicherung der Nachhaltigkeit zu erhöhen. Dahinter steht das Ansinnen z. B. des Aufbaus widerstandsfähiger und robuster Infrastrukturen, die weniger krisenanfällig sind (Etezadzadeh 2015, S. 16). Gerade in Zeiten voranschreitender digitaler Prozesse sollte auch die IT-Security in gleichem Maße mitwachsen, um Problemsituationen mit dysfunktionalen Ketteneffekten in dicht besiedelten urbanen Zonen zu vermeiden. Die weitere Digitalisierung der Infrastrukturen und Versorgungssysteme von Städten im Kontext der Entwicklung zu einer „Smart City“ weist eine gewisse Ambivalenz zwischen Sicherheit einerseits und Störungsauswirkungen andererseits auf, die als „Verletzlichkeitsparadoxon“ bezeichnet wird: „Jede tatsächlich eingetretene Störung wirkt sich bei hoher wahrgenommener Versorgungssicherheit stärker aus wie bei schlechter Zuverlässigkeit der Versorgungssysteme. Anders ausgedrückt: Je höher das Vertrauen in die vorhandene Infrastruktur ausgeprägt ist, umso schwerer sind die Folgen bei deren Ausfall. Die Menschen haben es schlichtweg verlernt, mit Störungen umzugehen“ (Lauzi 2019, S. 33). (Längere) Stromausfälle würden in einer digitalen Stadt damit erhebliche Probleme bereiten und müssten durch ein mehrfach abgesichertes Versorgungssystem unbedingt verhindert werden, um einen (zeitweiligen) Zusammenbruch der gesamten Infrastruktur zu vermeiden.

5

 azit und Ausblick: Nachhaltige Stadt als lebens- und F liebenswerte Stadt

Das Motto „Jeden Tag eine gute Stadt“ der LHH (LHH 2016, S. 1) gibt sehr treffend die Zielrichtung vor: Eine nachhaltige Stadt ist nicht etwas Abstraktes und Abgehobenes, sondern sollte konkret erfahrbar für jede(n) Bürger*in sein bzw. werden. So erreicht dann auch Nachhaltigkeit die „DNA“ der Städte im Sinne einer nachhaltigkeitsbezogenen Akzeptanz und Mobilisierung ihrer Bürger*innen. Nachhaltigkeit ist damit  – grundlegend formuliert  – ein Thema für alle in der Stadt, also für die Bürger*innen, die ansässigen Unternehmen, die Stadtverwaltung, die Vereine etc. Es gibt damit kein Monopol auf Nachhaltigkeit. Eine lebens- und liebenswerte Stadt als Zielvorstellung nachhaltiger Überlegungen ist nur mit einer aufgeklärten und impulsgebenden Bürgerschaft und Zivilgesellschaft zu erreichen. Die Institution Stadt mit ihrer Verwaltung muss hier richtungsweisende Impulse setzen. Sie braucht aber einen entsprechenden Widerhall ihrer Bürger*innen. Lebens- und liebenswert erfahrbar ist ihre Stadt für die Bürger zuallererst in ihrem Mikrokosmos, der sich konkret in Grünflächen vor der Haustür, guten und zugleich klimafreundlichen Verkehrsverbindungen zur Arbeit etc. widerspiegelt.

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Damit dies gelingt, muss Nachhaltigkeit zum einen Chef*innensache sein, denn: Nachhaltigkeit braucht klare Entscheidungen und im Konfliktfall Prioritätensetzungen. Zum anderen braucht es Führungspersönlichkeiten mit hoher Kommunikationsfähigkeit und visionärer, integrativer Kraft, die querschnittsorientiert und ressortübergreifend die Zielsetzungen in gemeinsames, konkretes Handeln umsetzen (Wildermann 2019; Rat für Nachhaltige Entwicklung 2019, S. 19). Unabdingbar für den Erfolg sind, so Wildermann, allerdings auch förderliche gesetzliche und politische Rahmenbedingungen nicht nur auf der kommunalen Ebene. Dazu gehören auch auskömmliche finanzielle und personelle Kapazitäten, um stabile Strukturen und Abläufe in der Verwaltung dauerhaft verankern zu können sowie unterstützende Kampagnen bzw. Förderangebote des Bundes, um Nachhaltigkeit auf kommunaler Ebene wirkungsvoll umsetzen zu können (Wildermann 2019, S. 10). Bezogen auf Europa bieten schon viele Städte, wie z. B. Zürich und Wien, ihren Bürgern*innen ein hohes Maß an Lebensqualität, die über der (schon hohen) Lebensqualität des jeweiligen Gesamtlandes liegt: „In most countries the life satisfaction in cities is higher than in the country as a whole“ (European Commission 2016, S. 87). Bezogen auf das Bundesland Niedersachsen gilt diese sicherlich unisono für die Landeshauptstadt Hannover. Wobei für eine „lebens- und liebenswerte Stadt“ es gerade eine Conditio sine qua non ist, dass auch die Region mit für diesen hohen Grad an Lebensqualität steht, was auch für Hannover im Besonderen gilt. Insofern sollten die Kommunen im Einzugsgebiet der Stadt und die Stadt selbst in nachhaltigkeitsrelevanten Fragen, wie Verkehr, Naherholung etc., eng zusammenarbeiten. Für die Region Hannover liegt dies vor: „Die Landeshauptstadt Hannover und die Region Hannover arbeiten seit vielen Jahren in diesem Sinne im Rahmen von strategischen Zielen, Programmen und Projekten“ (Region Hannover 2018, S. 22) eng zusammen, um gemeinsam die Nachhaltigkeitsattraktivität der gesamten Region weiter zu steigern. „Zukunftsbeständige Städte“, wie sie die richtungsweisende Charta von Alborg vor gut 25 Jahren schon einforderte, werden Städte sein, die sich proaktiv mit den für sie relevanten nachhaltigen Anforderungen auseinandersetzen und nicht als Reagierer auf schon vollzogene Entwicklungen Gefahr laufen, mehr und mehr den Anschluss zu verlieren. Eine zukunftsorientierte Organisationsaufstellung, wie sie derzeit unter dem Stichwort „Agilität“ in der Unternehmensführungsliteratur diskutiert wird, gilt vom Prinzip her für städtische Verwaltungen unisono, wenn auch unterschiedliche Rahmenbedingungen vorherrschen. Trotz zum Teil anzutreffender Technikeuphorie sind die im Rahmen von „Smart City“ diskutierten technischen Anwendungsoptionen nicht den städtischen Entscheidungsträgern entrückte deterministische Entwicklungsrichtungen ohne Alternativen. Vielmehr gilt: „Nicht der Einsatz neuer Technologie löst die Probleme der Stadtentwicklung, vielmehr muss die Technik von den gesellschaftlichen Akteuren zur Problemlösung eingesetzt werden“ (Lauzi 2019, S. 133). Nachhaltigkeit ist nicht nur ein institutionelles Thema, sondern im Mikrokosmos jeden einzelnen Stadtbürgers und darüber hinaus jedem Menschens als Handlungsherausforde-

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S. Wildermann et al.

rung angesiedelt. Soll der richtungsweisende Konferenztitel von Rio 2012 „The future we want“ (Schuster 2013, S. 11) Realität werden, ist auch der Einzelne gefordert, in seinem täglichen Konsumverhalten etc. angemessene Veränderungen vorzunehmen, die in Richtung einer nachhaltigen Lebensweise zielen. Der Gandhi zugeschriebene Satz „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünscht für diese Welt“ (nach Schuster 2013, S. 10) gibt die Richtung vor: Große Veränderungen beginnen im Kleinen, jeder Einzelne ist hier gefordert. Es wäre viel gewonnen, wenn Nachhaltigkeit zu einer Leitmaxime für jeden Einzelnen wird und damit in die handlungsprägende „Alltagskultur“ einfließt. „Die Stadt für Morgen ist für ihre Menschen da“ (Umweltbundesamt 2017b, S. 5). Das gilt sicherlich auch schon für die „Stadt heute“, aber für das „Morgen“ aufgrund der zunehmenden Herausforderungen erst recht. Wobei schon „heute“ die Weichen für eine lebens- und liebenswerte Stadt in der Zukunft gestellt werden, bzw. schon gestellt worden sind. Dieses vor dem Hintergrund der generellen Überlegung: Zukunft ist nicht (nur) das, was auf uns zukommt, sondern zuallererst das, was wir aus ihr machen. Entsprechend haben die gestaltenden Akteure für eine nachhaltige Zukunft bzw. hier eine nachhaltige und dabei lebenswerte und liebenswerte Stadt den Schlüssel dafür selbst in der Hand.

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„Nachhaltigkeit“ als Querschnittsaufgabe einer integrierten Stadtentwicklung am …

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S. Wildermann et al. Dipl. Ing. Susanne Wildermann  ist Jahrgang 1962 und hat an der Leibniz Universität Hannover Gartenbauwissenschaften studiert. Sie war beim BUND LV Niedersachsen und bei der Bürgerinitiative Umweltschutz e.V. (BIU) als Abfallberaterin und von 1996 bis 2013 bei der Landeshauptstadt Hannover im Bereich Umweltbildung tätig. Seit 2013 ist sie Leiterin des Agenda 21- und Nachhaltigkeitsbüros der LHH.  Die Aufgabenbereiche des Nachhaltigkeitsbüros reichen von der Entwicklung von verwaltungsinternen Nachhaltigkeitsstrategien, der Nachhaltigkeitsberichterstattung, der Implementierung der fairen Beschaffung über die Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele in der Stadtgesellschaft und der Bildung für Nachhaltige Entwicklung für Schulen und Kindertagesstätten bis hin zur Organisation von nachhaltigen Veranstaltungen wie den Autofreien Sonntag oder Projekten der kommunalen Entwicklungszusammenarbeit mit der Partnerstadt Blantyre. Ziel ist es, eine nachhaltige Stadtentwicklung sowie eine nachhaltige globale Entwicklung gemeinsam mit den Akteur*innen der Stadtgesellschaft zu befördern. Prof. Dr. Friedel Ahlers  ist seit 2011 Professor für ABWL mit Schwerpunkten Unternehmensführung und Personalwirtschaft an der Leibniz-­Fachhochschule in Hannover. Zuvor war er Dozent an der Leibniz-Akademie, davor einige Jahre Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Die Jahre zuvor arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Leibniz Universität Hannover (Institut für Unternehmensführung und Organisation). Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 1993. Das wirtschaftswissenschaftliche Studium wurde in Hamburg und Oldenburg absolviert. E-mail: [email protected]

Prof. Dr. Kristin Butzer-Strothmann  Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing und Empirische Sozialforschung an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover seit 2011. Zuvor war sie ab 2009 Dozentin an der Leibniz-Akademie und bis 2018 Vizepräsidentin für Lehre und Forschung. Sie leitet den Masterstudiengang „Integrierte Unternehmensführung (digital/nachhaltig)“. Nach einer Lehre zur Werbekauffrau und dem Studium der BWL in Lüneburg promovierte sie zum Thema „Krisen in Geschäftsbeziehungen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 1998 bis 2009 arbeitete sie als Marktforscherin und Marketing-Consultant im Business- und Non-Business-Bereich. Darüber hinaus war sie für verschiedene Hochschulen und Bildungsinstitutionen als externe Dozentin für Marketing, Marktforschung sowie Industriebetriebslehre tätig. E-Mail: [email protected]

Teil V Fazit und Ausblick

Auf dem Weg zu einer „besseren“ Unternehmensführung: Integrierte Nachhaltigkeit als Kernmerkmal von intelligenten zukunftsfähigen Unternehmen Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann

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 inführung: „Bessere“ Unternehmensführung als E ethisches Leitmotiv

Die Vorstellung von einem „besseren Unternehmen“ (Weissman 2014, S. 29) bzw. unter Steuerungsgesichtspunkten einer (wie auch immer gearteten) „besseren“ Unternehmensführung löst sicherlich unterschiedliche Interpretationsmuster aus und ist insofern nur schwer näher allgemeingültig konturierbar. Bezogen auf die Nachhaltigkeit werden hier Unternehmen adressiert, die aus Überzeugung nachhaltigkeitsbezogen handeln und dabei über formelle bzw. informelle Mindestanforderungen der Nachhaltigkeit hinausgehen, was sich entsprechend in ihren Führungsentscheidungen manifestiert. Gemeint sind Unternehmen mit dem Vorsatz und dem entsprechenden Handlungs- und Umsetzungswillen, „… sich nach Kräften für eine lebenswerte Zukunft einzusetzen und entsprechend nachhaltig zu wirtschaften“ (Maak und Ulrich 2007, S. 124). Damit wird aber keinesfalls einer unfokussierten Nachhaltigkeitsstrategie das Wort geredet, die von grundlegenden marktwirtschaftlichen Prinzipien entrückt ist und sich damit selbst von Realisierungschancen entfernt. Die Diskussion um eine „bessere“ Unternehmensführung kann aus verschiedenen Perspektiven eine anregende Wirkung haben: Zum einen inhaltlich durch eine substanzielle Beschäftigung mit dem „besten“ bzw. „besseren“ Kurs der Unternehmensführung vor dem Hintergrund auch der gesellschaftlichen Verantwortung. Ein Beispiel dafür sind die ethisch geprägten Vorstellungen von Peter Ulrich (1999) zu einer „guten“ Unternehmensführung. Zum anderen durch die anhaltende und de facto nicht endende werdende Diskussion an sich, die Unternehmen immer wieder an ihre auch gesellschaftliche Verantwortung F. Ahlers (*) · K. Butzer-Strothmann Leibniz-Fachhochschule, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_25

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e­ rinnert. Die derzeit auf der Agenda befindlichen Themen wie Klimaschutz, die sicherlich auf der Agenda stehen bleiben werden, werden mittelfristig ergänzt auch um die Nachhaltigkeit tangierenden Themen wie z. B. die Bevölkerungsentwicklung. Insofern wird die Diskussion um eine „bessere“ Unternehmensführung immer aktuell bleiben. Auch hier sind die Unternehmenslenker und die betriebliche Avantgarde mit hoffentlich ausgeprägter sozialer Ader besonders gefordert: „Social entrepreneurs are those people […] to change the world for the better“ (Skoll 2006, Preface). Sehr treffend hat auch Bleicher (2011, S. 39 f.) in seinem Vorwort zu seinem Buch „Das Konzept integriertes Management“ die personalisierte Komponente aufgegriffen: „Die intelligente vernetzte Unternehmung mit unternehmerischen und herausragenden Führungskräften auf allen Ebenen, welche danach streben, etwas zu schaffen, das dauerhafter ist als sie selber, eine langfristig lebensfähige, funktionierende, auf inneren Werten basierende Institution in unserer neuen Welt, der die Kraft innewohnt, sich permanent gleichsam selbst zu erneuern …“. Dieser Satz hat es im positivsten Sinne in sich: Ein nachhaltiges werteorientiertes, zukunftszugewandtes, wandlungsoffenes und über Eigeninteressen hinausgehendes Denken der Verantwortung tragenden Unternehmensmitglieder wird eingefordert und bei Vorliegen als intelligente Unternehmung umschrieben. Im folgenden Abschnitt wird auf das positiv besetzte Kon­strukt eines intelligenten Unternehmens näher eingegangen.

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 rundlinien von intelligenten G zukunftsfähigen Unternehmen

Unternehmens- und Wirtschaftswachstum wird sich nachhaltiger und intelligenter zu legitimieren haben, wie auch das nachfolgende Zitat treffend verdeutlicht: „Die neue ethisch, nachhaltige Wirtschaft wäre ein neuer Motor des Wachstums und würde die Welt auf dem Weg des Wohlstands bringen und belassen. Es geht darum auf Basis des Vertrauens, die Wirtschaft auf intelligentere und nachhaltige Weise wirken zu lassen“ (Steiner 2008 nach Bergauer 2013, S. 32). Diese Aussage ist zu Beginn der 2020er-Jahre aktueller als je zuvor. Wobei das Wachstum sich eher qualitativ mit der Orientierung an einer „intelligenten Selbstbeschränkung“ entwickeln sollte, die einen nachhaltigen Nutzen verspricht. „Die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung ist heute Voraussetzung dafür, dass die technisch-­ wirtschaftliche Entwicklung so gesteuert werden kann, dass sie dem Wohl des Menschen und der Schöpfung dient“ (Vogt 2014, S. 224 f.). Das Thema „intelligente Unternehmen“ wird in der Literatur eher theoretisch-­ kon­ zeptionell (Schwaninger 1999) bzw. praxis- und anwendungsnah angegangen (Franken und Brand 2008). Ohne diese Thematik hier im Detail aufgreifen zu wollen, sind hier doch richtungsweisende Überlegungen für die Nachhaltigkeit relevant. Ein intelligentes Unternehmen ist generell fähig zur Evolution (Momm 1997, S. 235) in dem Sinne, dass es sich frühzeitig auf (nachhaltigkeitsgetriebene) Veränderungen einstellen und damit seine Überlebensfähigkeit sichern kann. Dies tangiert auch ein zentrales Kernkriterium von organisatorischer Intelligenz, die (kollektive) Problemlösungsfähigkeit (vgl. z.  B.  ­Oberschulte

Auf dem Weg zu einer „besseren“ Unternehmensführung: Integrierte Nachhaltigkeit als … 471

1994, S.  30), hier mit Blick auf die nachhaltigkeitsbezogenen Herausforderungen. Ein Zeichen von Intelligenz wäre demnach z. B. die Entwicklung und Implementierung umweltschonender Technologien, die für ein – zumindest vorübergehendes – Alleinstellungsmerkmal stehen können. Ein Kernmerkmal der pragmatischen Ansätze zu einem intelligenten Unternehmen liegt auf der intra- und intersystemischen Wissensmobilisierung zur Innovationsförderung (z. B. Franken und Brand 2008). Diesem Kerninhaltsbereich ist ein hohes Potenzial für eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung inhärent. Zum einen lässt sich durch einen aktiven Mitarbeitereinbezug nachhaltigkeitszentriertes Ideenpotenzial wie z. B. zur Ressourcenschonung in basisnahen Prozessen generieren. Zudem werden dadurch die Mitarbeiter zum aktiven Ideen-Inputgeber für Nachhaltigkeit und zugleich entsprechende Handlungsweisen in das operative Handlungsgeschehen integriert. Zum anderen wird dadurch im Rahmen der zunehmenden netzwerkbezogenen Unternehmensbeziehungen das (innovative) Wissenspotenzial unternehmensverbundener Stakeholdergruppen, wie insbesondere Lieferanten und Kunden zur nachhaltigen Unternehmensentwicklung, adressiert und abgeschöpft, heute auch als „Open Innovation“ bezeichnet (z. B. Röstel et al. 2019, S. 285). Nachhaltigkeit wird somit zur Gemeinschaftsaufgabe für ein zielgerichtetes Unternehmenskollektiv und -netzwerk, dass unter Wissensgesichtspunkten breit aufgestellt und damit ein zentraler Gradmesser für ein intelligentes Unternehmen ist. Eng mit diesen Überlegungen korrespondiert die Vorstellung zur Implementierung einer nachhaltigen Verbesserungskultur in Unternehmen, die in enger Verbindung mit einem integrierten Ideen- und Innovationsmanagement gesehen wird (dazu Röstel et al. 2019). Nachhaltig kann hier wieder in zwei Richtungen gedeutet werden: Zum einen im Sinne nachhaltigkeitsfördernder Ideen und Innovationen selbst und zum anderen in einem kontinuierlichen Verbesserungsmanagement und -prozess im Unternehmen im Interesse einer beständigen Innovationsförderung, wobei diese beiden Aspekte eng zusammenhängen. Ein intelligentes, nachhaltig handelndes Unternehmen zeichnet sich damit unter Nutzung integrierter Denk- und Handlungskonzepte als Ideenspeicher und Innovationsumsetzer im Bereich Nachhaltigkeit aus. Zukunftsfähigkeit von Unternehmen setzt per se auch eine systematische Auseinandersetzung mit der Zukunft voraus. Dies gilt im Besonderen im Nachhaltigkeitskontext. Entsprechende ausgerichtete Verantwortungs- und Nachhaltigkeitsansätze, z. B. „The concept of prospActive responsibility“ (Lautermann 2012, S.  57  ff.), werden an Bedeutung gewinnen. Zukunftsorientierte Unternehmen lösen sich von etablierten, (zu) engen Sichtweisen auf sich selbst und ihr Markt- und Produktionsgeschehen, sondern verstehen sich explizit als Akteur in einem umfassenden Ökosystem (Otto et al. 2019, S. 184). Ein intelligentes und zukunftsfähiges Unternehmen macht daher nicht an den Unternehmensgrenzen halt. Eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung erfordert in diesem Zusammenhang „… explizit ein Denken über die engen Unternehmensgrenzen hinaus in überlagernde gesellschaftspolitische Verantwortungsfelder hinein“ (Eggers et al. 2011, S. 214), wozu aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten z. B. der Klimaschutz gehört.

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F. Ahlers und K. Butzer-Strothmann

Das Anliegen der Gestaltung von intelligenten, zukunftsfähigen Unternehmen und ihrem Anspruch der Realisierung und Weiterentwicklung einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung kann oft an Grenzen aufgrund gewachsener Strukturen stoßen, z. B. was den schon als Intelligenzkriterium ausgewiesenen intra- und intersystemischen Wissenstransfer angeht. Hierbei sollte die Zielrichtung lauten: „From siloed work to interdisciplinary collaboration“ (Fountaine et al. 2019, S. 64). Gerade im Kontext des Managements 4.0 ergibt sich ein Wandel in Richtung zu flexiblen Netzwerken unter Nutzung inund externer Expertise, die sich an agilen Prinzipen ausrichten (Servatius 2019, S. 11).

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I ntegrierte Nachhaltigkeit als ein Nukleus einer zukunftsfähigen intelligenten Unternehmensführung

Die Termini Intelligenz, Nachhaltigkeit und Integrativität werden gerade in Bezug auf die Themenfelder Nachhaltigkeit und CSR öfters in einem Atemzug genannt: So erhoffen sich z. B. viele Akteure „… von CSR einen wesentlichen Beitrag für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wirtschaften …“ (Riess 2012, S. 779). In etwa die gleiche Richtung zielt folgendes Zitat: „Unternehmerische Nachhaltigkeit bedeutet ein dauerhaftes, intelligentes Wirtschaftshandeln …“ (Grothe 2016, S. 1). Auch wird das Thema nachhaltiges (Personal-)Management oft in enger positiver Verbindung zur Zukunftsfähigkeit von Unternehmen gesehen (z.  B.  Kosel und Weißenrieder 2010, S.  23). Sicherlich ließen sich noch viel mehr Literaturbezüge mit gegenseitiger Bezugnahme auf Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit und Intelligenz finden. Die Frage, die sich damit stellt, ist, wieso gerade es einer (integrierten) Nachhaltigkeit zugetraut wird, den Nukleus einer zukunftsfähigen intelligenten Unternehmensführung darzustellen oder ob damit nicht eine zu große Bürde bzw. Portion ethisch eingefärbter Optimismus mitschwingt. Ein Grund für diese Nukleus-Zuordnung ist die Omnipräsenz nachhaltiger Überlegungen und ihre hohe Anschlussfähigkeit an zukunftsrelevante Themen. Die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen muss sich aktuell insbesondere im Digitalisierungszeitalter unter Beweis stellen, wozu nachhaltiges Handeln auf allen betrieblichen Ebenen einen erheblichen Beitrag leisten kann: „In der Digitalisierung einer hochdynamischen VUCA-Welt bedarf ökonomische Nachhaltigkeit der agilen Umsetzungskompetenz auf allen Ebenen der Wertschöpfung“ (Vieweg 2018, S. 130). Es ist gerade ein Zeichen von Intelligenz und Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens, den situativ „richtigen Grad“ von systemisch vertretbarer und gesellschaftlich sinnvoller integrierter nachhaltiger Unternehmensführung bestimmen zu können. „Integration (wie auch Nachhaltigkeit, Einschub der Verfasser) ist etwas Graduelles, d. h. Organisationen können einen höheren oder niedrigeren Integrationsgrad aufweisen“ (Koubek und Pölz 2014, S.  236). Eine integral-nachhaltige Übersteuerung im Strom einer unfokussierten Nachhaltigkeits- und Integrationseuphorie unter Vernachlässigung originärer ökonomischer Kriterien gilt es dabei zu vermeiden. Statt einer „Über-Integralität“ sollte eine ­vertret- und umsetzbare „Gebrauchs-Integralität“ auch und gerade mit Blick auf die

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­ achhaltigkeit treten (zum Integralitätsaspekt Deeg et al. 2010, S. 217 ff.), die nur unterN nehmensspezifisch zu bestimmen ist: „Die Taxierung des notwendigen Grades an Integralität und damit auch die Vermeidung von Überintegralität […] stellt insofern eine permanente situationsspezifische Herausforderung für Unternehmen dar“ (Ahlers und Gülke 2017, S. 25). Es gilt also, in iterativen Prozessen und unter Berücksichtigung konfliktärer Zielsysteme das unternehmensspezifisch „richtige Maß“ an nachhaltigem Handeln und dessen integrativer Verankerung zu bestimmen. Wobei dieses nur zeitpunktbezogen mit der Option der periodischen Anpassung vor dem Hintergrund veränderter Umweltanforderungen erfolgt bzw. erfolgen kann. Eine integrierte Nachhaltigkeit hat nur dann reale Chancen sich zum Nukleus einer intelligenten und zukunftsfähigen Unternehmensführung zu entwickeln, wenn im Anklang an das Nachhaltigkeitsdreieck sich ökonomische und nachhaltige Ideen weitgehend in Einklang bringen lassen bzw. zumindest ihr latentes Friktionspotenzial so weit als möglich eingeebnet wird. Dazu müssen die relevanten Märkte, also die institutionellen und individuellen Nachfrager nach Produkten und Dienstleistungen, vermehrt Nachhaltigkeit einfordern, damit sich das Angebotsspektrum zumindest gewinnneutral in Richtung Nachhaltigkeit verschieben kann. Dieses ist sicherlich kein Unterfangen von „heute auf morgen“, sondern ein Handlungsfeld einer evolutorisch-nachhaltigen Unternehmensentwicklung. Und zeigt noch einmal, dass Nachhaltigkeit keine ausschließliche „Unternehmenssache“ als Einzelsystem ist, sondern positive Tendenzen in diese Richtung von dem gesamten Stakeholdergeflecht auszugehen haben.

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Systemisch-evolutorische nachhaltige Unternehmensentwicklung

Eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung betrifft aufgrund einerseits des damit verbundenen Grundwertes und andererseits ihres Facettenreichtums nahezu alle Strategie-, Struktur-, Kultur- und Prozesssysteme des Unternehmens. Um die nachhaltige Transformation dieser Systemelemente vorzunehmen, ist auch ein nachhaltiges Wandlungsmanagement erforderlich. Dieses zeichnet sich durch eine strategische Orientierung bei ausgeprägtem partizipativen und werteorientierten Handlungsvollzug aus, wie sie mit den ihm inhärenten Such-, Lern- und Experimentierprozessen auch dem Transitionsansatz inhärent sind (vgl. dazu näher Schneidewind et al. 2012). Ein zu integrierendes Nachhaltigkeitsmanagement bedarf also auch entsprechender Wandlungskonzepte, die mit den Nachhaltigkeitsgedanken, wie z. B. eines ausgeprägten Mitarbeitereinbezugs, kompatibel sind. Eine wie auch immer geartete Verordnung von Nachhaltigkeit würde dem zuwiderlaufen und eine substanzielle Integration dieses normativen Leitgedankens dort nicht ermöglichen, wo es am wichtigsten ist: bei allen Unternehmensmitgliedern in allen Abteilungen des Unternehmens. Ein Grundmerkmal einer evolutorisch-nachhaltigen Unternehmensentwicklung und der ihr inhärenten Wandlungsprozesse ist die Vermittlung von „visions of change as visons of continuity“ (Venus et al. 2019, S. 667), also die Verstetigung eines Wandels mit nachhaltigen

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Akzentsetzungen. Das evolutorische Element eines „sinnhaften Lernens“ (Bleicher und Abegglen 2017, S. 137) zur Neuausrichtung eines Systems in Richtung Nachhaltigkeit greift hiermit genauso wie dann eine gewisse Kontinuität im Leben und Umsetzen nachhaltiger Prinzipien. Was für CSR gilt: „Ad hoc CSR cannot be sustainable“ (Hemingway 2013, S. 195) gilt auch für die damit eng verbundene Nachhaltigkeit: Eine nachhaltige Entwicklung und Kultur muss im Unternehmen evolutorisch „heranwachsen“ und sich authentisch entwickeln, statt von außen oder oben „aufgepropft“ zu werden. Ein entsprechendes mittel- bis langfristiges Zeitfenster ist dazu einzukalkulieren. Das heißt aber nicht, dass übermäßig lange darauf gewartet werden kann oder sollte. Die Zeit für einen Wandel in Richtung Nachhaltigkeit ist heute gekommen. Wenn Bleicher und Abegglen (2017, S. 139) davon sprechen, dass es „zuweilen […] sogar eines Generationswechsels (bedarf), um nachhaltige Veränderungen des Verhaltens über andere Strukturen und Prozesse herbeiführen zu können …“, kann damit eher ein Führungswechsel an der Spitze gemeint sein als ein Warten auf eine neue Mitarbeitergeneration in längeren Zeitperioden. Unternehmen werden i. d. R. nicht den großen Wurf in Richtung Nachhaltigkeit machen und auch machen müssen, sondern sich dahin evolutionär über verschiedene Stufen in diese Richtung entwickeln (zur Entwicklungsstufen-Vorstellung näher Müller-Christ und Giesenbauer 2019). Dieses kontinuierliche und schrittweise Vorgehen in Richtung definierter Zielsetzungen, wie z.  B.  Nachhaltigkeit, also die Umsetzung von Veränderungen in kleinen Schritten (Malik 2006, S. 323) unter expliziter Mitnahme der Systemmitglieder, ist konstitutiv für eine evolutionäre Unternehmensentwicklung: „Erfolgreiches Management ist konsequenterweise nicht durch das Gelingen des ‚großen Wurfs‘ definiert, sondern durch den harmonischen, ein Gleichgewicht zwischen Bewahrung und Wandel realisierenden Verlauf evolutionärer Systementwicklung“ (Jung et al. 2013, S. 589). Die besondere Eignung einer evolutionären Unternehmensführung für die Aufnahme von Nachhaltigkeit lässt sich auch an einem Leitgedanken dieses Ansatzes verdeutlichen. Danach ist nach einer evolutionären Unternehmensführung „das Handeln des Managements nicht durch das Streben nach Optimierung des kurzfristigen Gewinns, sondern durch den Wunsch nach Verbesserung der Anpassungs- und damit Lebensfähigkeit geleitet …“ (Macharzina und Wolf 2018, S. 77). Generell ist ein „Einpflanzen“ eines weit vorangeschrittenen Nachhaltigkeitskonzeptes innerhalb einer darauf nicht vorbereiteten Organisation wenig erfolgversprechend. Entsprechende kulturelle, strukturelle und führungsbezogene Rahmenkonstellationen sind erst zu schaffen. Ein zentrales Kennzeichen einer evolutionären Unternehmensführung ist in diesem Zusammenhang die Gestaltung von Rahmenbedingungen, innerhalb deren die Akteure Handlungs- und Wahlmöglichkeiten haben (Dillerup und Stoi 2016, S. 52). Damit würde Nachhaltigkeit und deren Umsetzung zu wichtigen Teilen in die Hände der betrieblichen Akteure gelegt werden, die einschätzen können, was (nicht) umsetzbar erscheint. So wird im Idealfall ermöglicht, „… dass das Thema Nachhaltigkeit von allen Unternehmensbereichen eigenständig vorangetrieben wird und als grundsätzliche Haltung im ­Tagesgeschäft ebenso seinen Platz findet wie als integrierte Betrachtungsweise im täglichen Tun“ (Pretzel 2019, S. 713).

Auf dem Weg zu einer „besseren“ Unternehmensführung: Integrierte Nachhaltigkeit als … 475

Gerade eine systemisch-evolutionäre nachhaltige Unternehmensführung und -entwicklung fordert neben Besonnenheit insbesondere auch eine besondere Form der „Bescheidenheit des Managements“ ein. Dies derart, dass im Lichte des gemäßigten Voluntarismus, der die Illusion einer vollkommenen Machbarkeit vermeidet (Kirsch 1999, S. 411), ins Kalkül gezogen werden muss, das in einer unvollkommenen (Betriebs-)Welt Nachhaltigkeit nur bedingt genau geplant, organisiert, verordnet etc. werden kann. Insofern lässt sich Nachhaltigkeit nicht einfach und friktionslos in das Betriebssystem und seine Subsysteme einprogrammieren, speziell aufgrund der Subjektbezogenheit der Systemmitglieder. Realistisch und zugleich wohltuend ist daher „… das Prinzip einer wohlgewählten ‚Bescheidenheit‘ im Sinne der Anerkennung begrenzter betrieblicher Wirkmechanismen …“ (Eggers et al. 2011, S. 220). „Eine solche wohltuende Bescheidenheit des Managements unter bewusster Abkehr von technokratisch-technomorph vorgeprägten Ansprüchen in Richtung vollständig optimaler Lösungen und der Hinwendung auf ‚machbare‘ Gestaltungs- und Lenkungsalternativen weist einen realistischen Weg …“ (Ahlers und Gülke 2017, S. 26). Auch Managementwissenschaft und -lehre sollten danach vorsichtig agieren und das pragmatische Wissenschaftsziel der Empfehlungsabgabe zumindest im Detaillierungsgrad nicht überstrapazieren: „Letztlich muss alles Bemühen der Managementwissenschaft und -lehre um die Bereitstellung von anwendungsbezogenem Führungswissen bescheidener Weise als die Produktion von Leitplanken, Haltegriffen und Sicherheitsregeln verstanden werden, die ihren Adressaten, den jetzigen und zukünftigen Führungskräften, lediglich eine Orientierung bieten in unsicherem, herausforderndem, führungsbedürftigem Gelände“ (Jung et al. 2013, S. 592). Für die Realisierung einer umweltadäquaten Unternehmensentwicklung mit Bezug auf Nachhaltigkeit gilt: „Unternehmensentwicklung verlangt unternehmerische Dynamik“ (Bleicher und Abegglen 2017, S.  594)  – gerade Nachhaltigkeit entwickelt sich ständig weiter, was dann auch die nachhaltige Unternehmensführung sollte. Die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung liefert genug neuen „Füllstoff“ für das immer wieder von neuem zu befüllbare Leerstellengerüst des integrierten nachhaltigen Managements. Der eingeforderten unternehmensbezogenen Dynamik zur Entsprechung von Herausforderungen wie der Nachhaltigkeit wird die Vorstellung von einem vitalen Unternehmen gerecht (dazu Steinle 2005, S. 785 ff.). Der Begriff Vitalisierung steht hier in Verbindung mit Unternehmen für ein hohes Maß an Lebens- und Entwicklungsenergie, die die Überlebensfähigkeit des Systems absichert. Die Grundvorstellung der Vitalisierung ist auch im Kontext der integralen Unternehmenssteuerung verwendbar, wonach Integration Lebensund Entwicklungssynergien koordiniert (Deeg et al. 2010, S. 225).

5

Fazit: „Der Weg ist das Ziel“

Die Beitragsüberschrift von Bergauer (2013, S. 25): „Corporate Social Responsibility und Nachhaltigkeit – Vom Idealismus zur betrieblichen Realität“ beschreibt sehr treffend die grundlegende Handlungsherausforderung als zu gehenden Weg: Eine nachhaltige Unternehmensführung lässt sich nicht quasi „von heute auf morgen“ in die verschiedenen

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­ nternehmenssysteme integrieren, sondern eher etappenweise und evolutorisch mit viel U Platz für in- und externe Diskurse. Ob die nachhaltige Unternehmensentwicklung dabei zurecht mit einem „Paradigmenwechsel“ in Verbindung zu bringen ist (z. B. bei Kohl 2012, S. 16), ist vom Blickwinkel abhängig. Eher zeichnen sich die Nachhaltigkeitstendenzen schon länger ab und nehmen vermehrten Einfluss auf das Unternehmenssystem. Diese „schleichende Nachhaltigkeit“ machen eine radikale Umkehr weniger erforderlich als einen kontinuierlichen Fortgang der Etablierung des Nachhaltigkeitsgedankens in Unternehmen. Insofern ist wohl heute bezogen auf Nachhaltigkeit weniger das Ziel an sich das Ziel, sondern der Weg dahin das Ziel. Der Weg „Vom Reden zum Tun“ (Vogt 2014, S. 31) ist allerdings bei Nachhaltigkeit tendenziell beschwerlich. Wie beschwerlich, hängt stark von der Ausgangsposition des jeweiligen Unternehmens und dessen vorherrschendem Zielsystem ab. Ein „Meilenstein“ auf dem zu gehenden Weg einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung ist die Hinwendung zu langfristigen Denkweisen, auch und gerade was das Gewinnziel von Unternehmen angeht. Zielgröße sollte ein dauerhafter und verantwortungsvoller Shareholder-Value sein (Weissman 2014, S. 29). Dies im Kontext eines in jeder Hinsicht „wertvollen unternehmerischen Wirtschaftens“, „… das neben originären ökonomischen Kriterien auch z. B. eine bessere Sozial- und Umweltverträglichkeit fokussiert und damit einem breitgefächerten, ganzheitlichen Zielsystem das Wort redet“ (Eggers et al. 2011, S. 214). Um zum Abschluss den Beitragstitel mit dem „besseren Unternehmen“ noch einmal aufzugreifen: Wir brauchen dem evolutionären Überlegungen folgend „Mehr vom Besseren“ (Thieme 2014, S. V).

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Prof. Dr. Friedel Ahlers  ist seit 2011 Professor für ABWL mit Schwerpunkten Unternehmensführung und Personalwirtschaft an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover. Zuvor war er Dozent an der Leibniz-Akademie, davor einige Jahre Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Die Jahre zuvor arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Leibniz Universität Hannover (Institut für Unternehmensführung und Organisation). Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 1993. Das wirtschaftswissenschaftliche Studium wurde in Hamburg und Oldenburg ­absolviert.

Prof. Dr. Kristin Butzer-Strothmann  Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing und Empirische Sozialforschung an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover seit 2011. Zuvor war sie ab 2009 Dozentin an der Leibniz-Akademie und bis 2018 Vizepräsidentin für Lehre und Forschung. Sie leitet den Masterstudiengang „Integrierte Unternehmensführung (digital/nachhaltig)“. Nach einer Lehre zur Werbekauffrau und dem Studium der BWL in Lüneburg promovierte sie zum Thema „Krisen in Geschäftsbeziehungen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 1998 bis 2009 arbeitete sie als Marktforscherin und Marketing-Consultant im Business- und Non-Business-Bereich. Darüber hinaus war sie für verschiedene Hochschulen und Bildungsinstitutionen als externe Dozentin für Marketing, Marktforschung sowie Industriebetriebslehre tätig.

Finale Gedanken: Integrierte nachhaltige Unternehmensführung quo vadis Friedel Ahlers und Kristin Butzer-Strothmann

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Einführung: Zukunftsperspektive als Denkanstoß

„Die Zukunft übt seit jeher eine gewisse Magik auf Menschen und Systeme aus“ (Eggers et al. 2011, S. 217). Sie ist – speziell was längere Perioden angeht – sicherlich nur schwer zu „enträtseln“. Davon unabhängig ist aber die Erkenntnis, das Unternehmen sich periodisch zumindest partiell immer wieder „neu erfinden“ müssen und als System „neu zu denken“ sind. Ein zentraler zukunftsweisender Leitgedanke ist dabei  – nicht nur angesichts der aktuellen Diskussion – die nachhaltige Unternehmensführung. Nachhaltigkeit und Zukunft von Systemen sind dabei aufs Engste miteinander verknüpft. So gilt heute Nachhaltigkeit nahezu als „… Gradmesser für die Zukunftsgestaltung in nahezu allen Politikbereichen“ (Vogt 2014, S. 230), was unisono auch für die Unternehmensführung gilt. Die Formulierung „Das 21. Jahrhundert – Zeitalter des integrierten Denkens und Handelns im gesellschaftlichen Kontext“ (Eggers et al. 2011, S. 213) trifft den Nerv für die Begründung der Zukunftsfähigkeit des Konzeptes einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung. Die integrierte Unternehmensführung selbst wird von Ahlers und Gülke (2017, S.  15) als „Leit- und Denkkonzept mit stark heuristischem Charakter“ und „als impulsgebendes und pulsierendes Denk- und Handlungskonzept mit hoher Anschlussund Zukunftsfähigkeit“ ausgewiesen. Dies gilt als „Leerstellengerüst“ „befüllt“ mit dem Nachhaltigkeitsgedanken erst recht. Die nachhaltige Unternehmens-Avantgarde wird sich auf dem Kontinuum starkes versus schwaches Nachhaltigkeitsparadigma (Pufé 2017, S. 140) beim erst genannten Kontinuumspunkt ansiedeln. Wobei es den erreichbaren und wünschenswerten Nachhaltigkeitsgrad in den zukünftigen Perioden immer wieder aufs Neue aufgrund neuer technologischer F. Ahlers (*) · K. Butzer-Strothmann Leibniz-Fachhochschule, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Butzer-Strothmann, F. Ahlers (Hrsg.), Integrierte nachhaltige Unternehmensführung, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61168-5_26

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Möglichkeiten etc. zu bestimmen und auszutarieren gilt. So steht z. B. die Gesellschaft bei der Digitalisierung, Robotik etc. noch am Anfang mit erheblichem Änderungspotenzial, wobei diese Änderungen auf ihr Nachhaltigkeitspotenzial hin überprüft und ggf. entsprechend eingesteuert werden sollten. Ein wesentlicher robuster Schritt zur Realisierung einer zukunftsfähigen nachhaltigen Entwicklung in Unternehmen wäre erreicht, wenn das Thema Nachhaltigkeit quasi für Strategien als übergeordnete Orientierungs- und Handlungsmaxime gesetzt wäre. Nach dieser Vorstellung „… wird das Thema Nachhaltigkeit proaktiv im Rahmen der Strategiearbeit adressiert – und zwar bevor Strategien und Aktionen abgeleitet werden“ (Wunder 2019a, S. 45). Damit einher geht die Erreichung eines gewissen Selbstverständlichkeitsstatus von Nachhaltigkeit im orientierungsgebenden Werte- und Zielgefüge von Unternehmen: „Ziel muss es sein, Nachhaltigkeit zu einer selbstverständlichen Größe der Unternehmenskultur werden zu lassen und zu einem integralen Bestandteil aller als maßgeblich identifizierten Unternehmensbereiche und Produkte“ (Ernst & Young 2012, S. 33). Dann hätte man das erreicht, was im Ausgangsbeitrag mit der Formulierung „Nachhaltigkeit erreicht DNA der Unternehmen“ umschrieben wurde. Und weitergehend formuliert, nicht nur erreicht, sondern durchdrungen im Sinne von integriert. Als Herkulesaufgabe kann die Herausforderung betrachtet werden, „… dass Gewinnstreben und ethisches Handeln bei Unternehmen in Einklang gebracht werden müssen“ (Krämer 2018, S. 74). Damit sind alle Marktplayer wie Produzenten, Abnehmer und Konsumenten auf den Plan gerufen. Wenn auch erste richtungsweisende Schritte in dieser Richtung von Unternehmen unternommen worden sind, z. B. in Form der Zusprechung zu nachhaltigen Investmentfonds, so bleibt die Aufgabe virulent. Eine wie auch immer geartete „Lösung“ kann es auch nur unternehmensspezifisch und zeitpunktbezogen geben. Die evolutionären Vorstellungen aufgreifend ist eine integrierte nachhaltige Unternehmens­ entwicklung bei Weitem kein exakt planbarer, geradliniger Weg. Eher eine Situation, die das „Management als Kunst des Umgangs mit Widersprüchen“ (Jung et al. 2013, S. 591) interpretiert. So wird die Entwicklungsfähigkeit einer Organisation gerade bei dem stark interessengeleiteten und z.  T. konfliktären Thema „Nachhaltigkeit“ zu einem „fragilen Balanceakt“ zwischen eigenbestimmter Selbstbestimmung und fremdbestimmter Umwelteinpassung (Deeg et al. 2010, S. 119). Ferner ein Balanceakt zwischen gesellschaftlich Wünschenswertem und betrieblich Machbarem. Damit bleibt Nachhaltigkeit eine permanente Herausforderung für Unternehmen, die nicht einfach als „abgeschlossen“ betrachtet werden kann. Die Zukunft wird neue Herausforderungen an eine integrierte nachhaltige Unternehmensführung bereithalten, denn „… es scheint wenig wahrscheinlich, dass die Fragen nach den leitenden Werten unserer Gesellschaft(en) in naher Zukunft abschließend beantwortet werden (können)“ (Schmidt und Quandt 2017b, S. 146). Es wird also auch eine Zeit neben und nach dem Klimawandel als aktuelles Thema mit neuen Herausforderungen geben, von den maßgeblich wiederum die Unternehmen als Träger des Wirtschaftsgeschehens betroffen sein werden. Der im Zitat verwandte Terminus „abschließend“ führt übertragen auf die Gestaltung einer nachhaltigen Unternehmensführung leicht auch in eine unvorteilhafte Denkrichtung derart, dass etwas „abgehakt“ werden kann. Das gilt für

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Nachhaltigkeit in Verbindung mit der Zukunftsorientierung von Unternehmen auf keinen Fall. Vielmehr ist Nachhaltigkeit – wie schon angedeutet – eine offene Herausforderung für Unternehmen, die sich in absehbarer und auch in ferner Zukunft immer wieder und dann jeweils unter partiell anderen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen stellen wird. Nachhaltigkeit als Handlungsherausforderung wird damit für die Unternehmen heute und verstärkt in Zukunft ein ständiger Wegbegleiter sein.

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 rkenntnis-Quintessenzen der Beiträge E und Schlussfolgerungen

Die Integration von Nachhaltigkeitsprinzipien in das Unternehmensführungssystem ist maßgeblich von auf gesellschaftlicher Ebene vorgelagerten Integrationsbemühungen abhängig, insbesondere der Integration von Ethik und Ökonomik (dazu Göbel 2017, S. 87 f.). Damit gilt es aber ein „besonders dickes Brett zu bohren“, dessen Erfolgsaussichten momentan – zumindest in der intendierten Breite – noch eher zurückhaltend einzuschätzen sind. So führt auch Göbel (2017, S. 88) aus: „Dieser Zustand der radikalen Versöhnung von Ethik und Ökonomik kann als Ideal angestrebt werden, ist aber heute noch keine Realität.“ Ideale im Rahmen nachhaltiger Konzepte haben sicherlich ihre Berechtigung, um die Diskussion um Nachhaltigkeit voranzubringen. Sieht man sich dem realen Zielgeflecht betriebswirtschaftlicher Systeme gegenüber, so gewinnt die von Pragmatismus geprägte Aussage von O’Riordan (2017, S. 471) an Gewicht: „In Pursuit of a Pragmatic Approach to Responsible Management“. Gegen einen solchen pragmatischen Ansatz der Integration von gesellschaftlicher Verantwortung und Nachhaltigkeit in das Ziel- und Handlungssystem von Unternehmen spricht dann wenig, wenn dahinter eine authentische Absicht im Sinne eines Schritts in Richtung einer „besseren“ Unternehmensführung steht. Die hier angeführten Vorstellungen zu einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung sind nicht zu verwechseln mit den anführbaren, im Sinne von theoretisch und praktisch, denkbaren Überlegungen zu diesem Konzept mit einem großen Facettenreichtum. Insofern ist die Restriktion virulent, „… alle damit verbundenen Facetten nicht thematisieren zu können und damit zwangsläufig ‚unvollständig‘ zu bleiben. Dies ist ein generelles Problem integrierter Konzepte, insofern man diesen Kritikpunkt überhaupt akzeptiert. Denn integrierte Konzepte stehen nicht in erster Linie für die selbstnominierte Omnipräsenz bezogen auf alle denkbaren Elemente, sondern für einen methodischen Denk- und Handlungsrahmen mit konkretem, situationsspezifisch unterschiedlichem Befüllungspotenzial“ (Ahlers et al. 2017, S. 5). Trotz der breiten Erörterung der integrierten und nachhaltigen Unternehmensführung als Teilkonzepte und zum Teil schon in ihrer Zusammenführung ist das Thema bei Weitem noch nicht „ausgeforscht“. Ein Ansatzpunkt für eine weitere Forschung könnte in Verbindung mit dem Nachhaltigkeitskonzept ein Modellentwurf sein, um einen unternehmensspezifischen (optimalen) Integrationsgrad zu bestimmen und zu bewerten (auch Koubek und Pölz 2014, S.  237). Ein solcher betriebsspezifischer Integrationsgrad ist aber nur

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z­ eitpunktbezogen mit der inhärenten Aufforderung zu periodischer Anpassung vor dem Hintergrund systemischer Veränderungen relevant. Ernüchternd wie realistisch zugleich kann bezogen auf Nachhaltigkeit festgestellt werden: Es ist ein noch für die allermeisten Unternehmen „gutes Stück Wegstrecke“ zu gehen, um das Ziel zu erreichen „… dass Nachhaltigkeit dabei zum selbstverständlichen Leitgedanken aller Abteilungen wird …“ (Müller-Christ und Giesenbauer 2019, S. 247). Aber: die Unternehmen befinden sich hier auf dem „richtigen Weg“.

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I ntegrationsgedanke im weiteren Sinne: Systemische Überlebensfähigkeit

Aus Sicht der Systemtheorie ist die Frage der (Über-)Lebensfähigkeit von Systemen in der Umwelt und hier wie Unternehmen am Markt essenziell wie existenziell zugleich. Nach Malik (2006, S. 80) sind Systeme „lebensfähig“, wenn sie „… sich an wandelnde Umstände in ihrer Umgebung anpassen, dass sie Erfahrungen aufnehmen und verwerten  – also lernen, dass sie ihre Identität bewahren und sich entwickeln können.“ Gerade mit wirtschaftlicher Nachhaltigkeit wird das Ziel einer langfristigen Überlebensfähigkeit eines Unternehmens verknüpft (Wunder 2019b, S. 252). Das Fokusobjekt Unternehmen als Systemeinheit ist dabei nicht für sich isoliert überlebensfähig, was bei einer Ebenen-Analyse sehr deutlich wird. Danach können Unternehmen auf der Mesoebene eingeordnet werden, die vor der vorgelagerten Makroebene mit staatlicher und überstattlicher Verantwortung abhängen und ihrerseits der berufliche Kumulationspunkt für die Mikroebene in Form der Mitarbeiter sind. Nachhaltigkeit ist – sehr langfristig und im größeren Kontext gesehen – eine Frage der systemischen Überlebensfähigkeit aller agierenden Systeme auf diesem Planeten, also eine existenzielle Frage. „Nachhaltige Unternehmensentwicklung zielt auf die langfristige Existenzsicherung eines Unternehmens ab“ (Orth 2016, S. 74). Dem können sich somit auch die Unternehmen nicht entziehen. Zumal dann nicht, wenn die wertegeprägte Grundhaltung, „… dass sich Unternehmensführung letztlich über einen gesellschaftlichen Nutzen legitimieren muss“ (Gomez und Meynhardt 2014, S.  17  f.), mehr und mehr Platz greift, wofür einiges spricht. Nachhaltigkeit ist damit von der Grundintention her auf den langfristigen Bestand von Systemen ausgerichtet: Aus Unternehmenssicht bedeutet das in der Innensicht die langfristige Bestandssicherung im ökosozialen Umfeld, in der Außensicht darüber hinaus einen Beitrag zum langfristigen Bestand des globalen ökosozialen Systems (Weissenberger-­ Eibl und Braun 2019, S. 249). Die gesellschaftliche Verantwortung kann das Unternehmen nicht einfach „hinausdefinieren“. In diesem übergeordneten Lichte ist die Forderung „Verorte nachhaltige Unternehmensführung“ (Rieckhof und Klapper 2015, S.  9) von existenzieller Bedeutung für ­Unternehmen und kein nur „schmückendes Beiwerk“ zur Außenpropagierung gesellschaftlicher Verantwortung. Ein Beförderer und zugleich Gradmesser dieser „Verortung“,

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bzw. besser Integration, von nachhaltiger Unternehmensführung in das gesamte Unternehmenssystem ist das auch von Bleicher (2011, S. 312 f.) propagierte Dezentralisationsprinzip bzw. die führungszentrierte Delegation. Diese Elemente gehen stärker in die Richtung Mit- und Selbstverantwortung der einzelnen Unternehmensbereiche und -mitglieder hier für Nachhaltigkeitsaspekte als zukunftsfähiges Leitprinzip. Bezogen auf die hier akzentuierte systemische Überlebensfähigkeit können von dezentralen Verantwortungsstrukturen positive Akzente ausgehen, wie auch schon der Integrationsvordenker Hans Ulrich (1984, S. 310) betont: „So ist es vorstellbar, dass sich lebensfähige Strukturen im Großen schließlich von unten her aus funktionsfähigen Strukturen im kleinen von selbst aufbauen.“ „Umgemünzt“ auf Nachhaltigkeit bedeutet das, dass bei entsprechenden Struktur- und Kulturkonstellationen Nachhaltigkeit aus der Mitte des Unternehmens heraus entwickelt werden kann. Im Gegenzug gefährden publik werdende nachhaltigkeitsbezogene Anti-Aktivitäten, also Aktionen, die mittelbar oder unmittelbar der Nachhaltigkeit zuwiderlaufen, die Überlebensfähigkeit eines Systems, bzw. zumindest dessen Ertragskraft. Ein aufgrund nachhaltigkeitsaverser Aktivitäten, wie z. B. der Verwicklung in menschenunwürdige Produktionsbedingungen im Ausland, erlittenes „trust-damaging“, wird zwangsläufig hohe Kosten des „organizational trust repair“ nach sich ziehen (dazu näher Bozic et al. 2019). Neben einem imagemäßigen Schaden können „integrity gaps“, wie es z.  B. der Dieselskandal offenbart, auch erhebliche rechtliche Risiken beherbergen. „Such lapses not only endan­ ger  the reputation of the company but also pose regulatory and liability risks“ (Soltes 2019, S. 51). Auch wenn man beim Integrationsgedanken die Unternehmen als Zielobjekt in den Blick nimmt, darf dabei die übergeordnete Systemperspektive nicht außer Acht bleiben. Denn sie bewegen sich in einem Kontext „… aufeinander aufbauender und ineinander verwobener Systeme ‚Natur‘, ‚Gesellschaft‘ und ‚Wirtschaft‘ …“, wobei letztere „… als Teil der Gesellschaft und diese wiederum als Teil des Planeten Erde …“ (Schwegler und Dyckhoff 2012, S. 60) anzusehen ist. Wenn dies zunächst auch weit hergeholt erscheint, so trifft dies die Nachhaltigkeitsintention sehr treffend. Eben Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Neben der betrieblichen rückt damit die übergeordnete gesellschaftliche Überlebensfähigkeit in den Fokus. Dieses legt auch die z. B. von Peter Ulrich (1999, S. 234 ff.) geforderte verstärkte Hinwendung zum Stakeholder-Value statt einer zu starken Betonung des Shareholder-Value als Zielorientierung und zugleich Legitimationsgrundlage von Unternehmen nahe.

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Nachhaltung der Nachhaltigkeit als Herausforderung

Nachhaltigkeit muss in Unternehmen nachgehalten werden in dem Sinne, dass es auch substanziell in alle betrieblichen Wertschöpfungsprozesse integriert wird und dort auch als zentrales handlungsleitendes Prinzip mit notwendigen Anpassungen und Akzentverschiebungen verbleibt. Ein eher rein image- und marketingbezogenes Interesse mit „grünen

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Leuchtturmprojekten“ greift hier – wenn als Anfangsprojekte durchaus noch akzeptabel – über die Zeit dann bei Weitem zu kurz und würde sich früher oder später von einer kritischen Öffentlichkeit als Green-Washing entlarven lassen (Seeger 2014, S. 214). Besonders  – wenn auch nicht ausschließlich  – gefordert zur Initiierung und dann Nachhaltung der Nachhaltigkeit in Unternehmen sind die verantwortlichen Unternehmenslenker als Familienunternehmer bzw. bestellte Geschäftsführer oder Vorstände. Richtungsweisend betont in diesem Zusammenhang Hans Ulrich (1984, S. 362), wonach es in diesem und in Zusammenhang mit Integration gesehen vorteilhaft ist, wenn „… der Unternehmer das Rechte will, das heisst nicht einfach einem platten Erfolgs- und Wachstumsstreben verhaftet ist, sondern seine eigene Funktion in einem übergeordneten ­Zusammenhang sieht und sich sowohl seinem eigenen Gewissen wie auch den andern Menschen gegenüber verpflichtet fühlt.“ Eine solche Grundeinstellung trägt das Nachhaltigkeitsprinzip dann auch wirklich nachhaltig in das Unternehmen hinein und sorgt gleichzeitig für dann dessen Nachhaltung als beständiges Leitmotiv der Unternehmensführung. Die Aufforderung „Nachhaltung der Nachhaltigkeit“ steht gegen das auch wie immer geartete „Einmalbestreben“ eines Unternehmens, sich der Nachhaltigkeit zuzuwenden und sich zu ihr öffentlichkeitswirksam zu bekennen. Das „Ausgangsbestreben“ muss insofern in ein kontinuierliches Bestreben transformiert werden. Es geht darum, „… CSR/ Nachhaltigkeit in der Organisation am Leben zu erhalten“ (Lorentschitsch und Walker 2012, S. 309). Wobei die Formulierung „am Leben zu erhalten“ eher einen gezwungenen Charakter statt des erforderlichen kontinuierlichen Impulscharakters hat. Danach geht es darum, das Thema Nachhaltigkeit immer wieder aufs Neue und kontinuierlich mit „Leben zu erfüllen“. Ein Ansatzpunkt ist die Integration von Nachhaltigkeit, neben den oft nicht (mehr) wahrgenommenen Leitlinien, in die Unternehmenskultur als handlungsprägendes Instrument im Unternehmen. Damit erreicht man auch die schon angeführte DNA des Unternehmens. Die kulturbezogene Integration ist eher über mittelbare Handlungen mit  z.  T. symbolhaften Charakter zu vollziehen, z.  B. eine Vorbildfunktion des Top-­ Managements in Sachen Nachhaltigkeit. Wichtig ist, dass dabei möglichst alle Mitarbeiter des Unternehmens adressiert und auch mitgenommen werden. Eine vertiefte kulturelle Verankerung von Nachhaltigkeit in den einzelnen betrieblichen Systemen hat auch den Vorteil, dass bei Führungskräftewechseln Nachhaltigkeit nicht (vor-)schnell wieder at acta gelegt wird. Dem Systemdenken entsprechend ist das Unternehmen (nur) ein Player in einem umfassenden Kontext, der Einfluss auf Nachhaltigkeit hat und nimmt. Von Betriebsseite gesehen vorgelagert und damit Einfluss nehmend auf das System ist die Gesellschaft und hier die leitgebende Politik, die durch entsprechende Anstöße bis hin zu gesetzlichen Regelungen hier gefordert ist. Auch von hier ist eine verantwortungsgetragene und eigenmotivierte Nachhaltung der Nachhaltigkeit als Gesellschafts- und Staatsziel gefragt, und das unabhängig von einem vorschnellen Blick auf Wahlen und Wählergruppen.

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 azit: Integrierte nachhaltige Unternehmensführung in den F nächsten Dekaden

Bei der Fragestellung „Quo vadis CSR bzw. Nachhaltigkeit?“ ist zunächst im Gegensatz zu Konzepten, die eher als z. T. beratergetriebene Managementmoden mit zeitlichem Verfallsdatum tituliert werden können, nicht davon auszugehen, „… dass CSR bzw. Nachhaltigkeit eine vorübergehende Phase darstellt, die alsbald abebben und durch einen neuen Managementfokus abgelöst werde“ (Bruton 2017, S. 203). Dies kann als Bestätigung für Unternehmen verstanden werden, die ein substanzielles Nachhaltigkeitskonzept aufbauen bzw. schon aufgebaut haben, wie zugleich als „Weckruf“ für Unternehmen dienen, die hier noch viel Potenzial und damit Handlungsbedarf aufweisen. Die damit akzentuierte Beständigkeit kann auch das Konzept „Integrierte Unternehmensführung“ für sich reklamieren. „Wohltuend“ ist auch, „… dass es selbst in dynamischen Zeiten betriebswirtschaftliche Themen mit langer Halbwertzeit gibt, wozu […] auch das ganzheitliche bzw. integrierte Management zählen wird“ (Eggers et al. 2011, S. 219). Gleiches gilt unisono aufgrund der weitreichenden inhaltlichen Substanz und Variationsbreite – wie schon angeklungen – für die nachhaltige Unternehmensführung. Dementsprechend ist auch die Ansatzkombination in Form einer integrierten nachhaltigen Unter­ nehmensführung eine substanzhaltige Vorstellung mit „Strahlkraft“ in die nächsten Dekaden hinein. Es gehört damit auch wenig prophetische Gabe dazu vorherzusehen und vorherzusagen, dass Nachhaltigkeit zu einem vorherrschenden Thema und Maßstab für alle relevante gesellschaftlich-wirtschaftlich relevanten Systeme und Akteure werden wird, wenn es das nicht schon längst ist. Die Debatte dazu, die heute durch den Klimawandel stark bestimmt wird, kann im Laufe der Zeit weitere und andere Akzente annehmen, die sich aus zukünftigen Systemveränderungen ergeben, die sich erst heute andeuten oder so noch nicht absehbar sind. Generell spricht vieles dafür, dass die Werteorientierung betrieblicher Systeme in der Zukunft stärker als bisher schon hinterfragt werden. Damit rückt auch die gesellschaftliche Legitimation von Unternehmen und damit die Sinnfrage immer stärker in den Vordergrund. „Werteorientierung […] führt zu einer neuen Wandlungskultur, die über Sinnstiftung nachhaltigen Erfolg generieren kann. Unternehmen, die solche inte­ grativen Wandlungskonzepte anwenden, werden in der zunehmenden Dynamik der Märkte zu den Gewinnern der Zukunft gehören“ (Steinhaus 2017, S. 240). Und dies gilt nicht nur für die Unternehmen, sondern für alle Akteure des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens. Ob die Nachhaltigkeitsdiskussion langfristig Impulse in Richtung z.  B. neuer Wirtschaftsmodelle wie etwa einer „Gemeinwohl-Ökonomie“ (dazu Baumast und Pape 2019) setzt, ist heute noch nicht bzw. nicht valide absehbar. Die eigene Entwicklungsfähigkeit von Systemen, und hier speziell Unternehmen in Gestalt des Selbsterhaltungstriebs, sollte nicht unterschätzt werden. In diesem Sinne übernehmen Unternehmen immer wieder aufs

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Neue als „Lernende Player Verantwortung“ (Schmidt und Quandt 2017a, S. 11) in sich verändernden In- und Umwelten im Rahmen einer integrierten nachhaltigen Unternehmensführung. Gerade die aktuelle Debatte um Klimaschutz zeigt, dass speziell bei den internationalen Unternehmen die Verantwortung nicht an den Ländergrenzen haltmacht, sondern sie sich im Rahmen eines Global Corporate Citizenship mehr und mehr als „verantwortlicher Weltbürger“ (Maak und Ulrich 2007, S. 70) verstehen sollten. Gerade in Zeiten, wo die internationalen politischen Bemühungen zum Klimaschutz oft noch wegen nationalstaatlicher Interessenlagen oder wissenschaftlichen Untersuchungen diametral widersprechenden Politiker-Auffassungen an Grenzen stoßen, könnten hier die multinational tätigen Unternehmen eigene Akzente in Richtung einer nachhaltigen Unternehmensführung setzen. Das Forschungs- und Handlungsfeld „integrierte nachhaltige Unternehmensführung“ ist insgesamt gesehen weit weniger als andere Managementhemen „zeitgetrieben“ und mit einem absehbaren „Verfallsdatum“ versehen (bezogen auf das integrierte Management Ahlers und Gülke 2017, S. 27). Das integrative Element in der Unternehmensführung wird durch die weiter zunehmende Komplexität des Unternehmensgeschehens allein schon von der Methodik her – unabhängig von der inhaltlichen „Befüllung“ – weiter an Bedeutung gewinnen. Dem Nachhaltigkeitselement ist per se ein langfristiger Herausforderungscharakter inhärent, der die Unternehmen über die nächsten Dekaden und darüber hinaus begleiten wird. Nachhaltigkeit entscheidet sich  – wie schon akzentuiert  – nicht allein oder in erster Linie auf der Unternehmensebene. Vorgelagert sind ganz grundsätzliche Fragen auf gesellschaftlicher Ebene, die auf die Unternehmensebene wieder zurückstrahlen. Eine, wenn nicht die Grundsatzfrage solchen Coleurs ist: „Wie wollen wir morgen leben“ (Haver 2019, S. 759), wobei morgen hier für längere Zeiträume steht. Der gesellschaftliche Diskurs, der durch die aktuelle Klimadebatte wieder an Fahrt aufgenommen hat, setzt hier Orientierungsgrößen und Maßstäbe, die sich dann auch im unternehmerischen Verhalten als verantwortlichen gesellschaftlichen Akteur widerspiegeln werden. Dem Streben nach Nachhaltigkeit haftet im übergeordneten Sinne etwas Hoffnungsvolles derart an, dass es einen systemischen Überlebenswillen der agierenden Akteure und Systeme von Individuen über Unternehmen bis Gesellschaften auf nationaler und internationaler Ebene im Kontext einer lebens- und liebenswerten Umwelt symbolisiert. Auch das Management  – sowohl aus personaler wie funktionaler Perspektive  – sollte sich dieser zukunftszugewandten, von positivistischen Zügen geprägten Sichtweise (wieder) stärker öffnen. Oder mit den Worten des Begründers und Vordenkers des inte­ grierten Managements Hans Ulrich gesprochen: Man (im Sinne aller Verantwortung tragenden Systeme und Akteure) sollte sich wieder stärker ins Bewusstsein rufen, „… was Management auch ist oder sein kann: Ein faszinierendes geistiges Abenteuer“ (Ulrich 1984, S. 298).

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Prof. Dr. Friedel Ahlers  ist seit 2011 Professor für ABWL mit Schwerpunkten Unternehmensführung und Personalwirtschaft an der Leibniz-­Fachhochschule in Hannover. Zuvor war er Dozent an der Leibniz-Akademie, davor einige Jahre Mitarbeiter einer Unternehmensberatung. Die Jahre zuvor arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Leibniz Universität Hannover (Institut für Unternehmensführung und Organisation). Die Promotion zum Dr. rer. pol. erfolgte 1993. Das wirtschaftswissenschaftliche Studium wurde in Hamburg und Oldenburg absolviert.

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Prof. Dr. Kristin Butzer-­Strothmann  Professorin für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Marketing und Empirische Sozialforschung an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover seit 2011. Zuvor war sie ab 2009 Dozentin an der Leibniz-Akademie und bis 2018 Vizepräsidentin für Lehre und Forschung. Sie leitet den Masterstudiengang „Integrierte Unternehmensführung (digital/nachhaltig)“. Nach einer Lehre zur Werbekauffrau und dem Studium der BWL in Lüneburg promovierte sie zum Thema „Krisen in Geschäftsbeziehungen“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Von 1998 bis 2009 arbeitete sie als Marktforscherin und Marketing-Consultant im Business- und Non-Business-Bereich. Darüber ­hinaus war sie für verschiedene Hochschulen und Bildungsinstitutionen als externe Dozentin für Marketing, Marktforschung sowie Industriebetriebslehre tätig.