Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas 3472760354, 9783472760351


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Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas
 3472760354, 9783472760351

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GEORG

LUKACS

WERKE

GEORG

LUKACS

BAND

15

WERKE

GEORG

LUKACS

Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas

Herausgegeben von Frank Benseler

LUCHTERHAND

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Mit dem Krisztina Lukécs-Preis der Kisfaludy-

Gesellschaft ausgezeichnete Preisschrift

Herausgegeben von der Kisfaludy-Gesellschaft

aus den Mitteln der Arthur-Visérelyi-Wodianer-Stiftung

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Budapest, Franklin-Tarsalat, 1911

Deutsche Originalausgabe iibersetzt von

Dénes Zalan, Erlangen

Die Anmerkungen im Anhang stammen vom Ubersetzer.

© 1981 by Hermann Luchterhand Verlag GmbH Darmstadt und Neuwied. Gesamtherstellung: Druck- und Verlags-Gesellschaft mbH, Darmstadt

ISBN 3-472-76035-4

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INHALT

ee VdI

Band 1 Vorwort

Erstes Buch Grundsatzfragen 1 1

Das Drama Das moderne Drama

17

52

Zweites Buch

Die geschichtlichen Voraussetzungen 11

1v_

Das deutsche klassische Drama

Das franzésische Tendenzdrama

133

180

Drittes Buch

Die heroische Epoche v_

vi_

Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragédie

Henrik Ibsen, Versuch, eine biirgerliche Tragddie zu schaffen

203 242

Band 2

Inhalt

Viertes Buch

Der Naturalismus vit vit 1x

Die Wegbereiter der neuen Technik Das. Bauerndrama

279

Moglichkeiten und Grenzen des Naturalismus

343

Théatre libre und Freie Biihne

309 333

Fiinftes Buch

Die Entwicklung aus dem Naturalismus xI xi xm

Impressionismus und lyrischer Naturalismus Maeterlinck und die dekorative Stilisierung Lustspiel und Tragikomédie

373 493 451

Sechstes Buch Die heutige Situation xIv xv

Auf dem Weg zum grofen Drama

Die ungarische Dramenliteratur

495 539

Nachwort des Herausgeber

561

Anmerkungen

569

Personenregister

585

Ausfihrliches Inhaltsverzeichnis von Band 1 und 2

BAND

1

Vorwort

Dieses Buch versucht die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas zu beschreiben

und sucht eine Antwort

auf die Frage, ob es ein modernes

Drama gibt. Falls ja, wie wurde es zum modernen Drama? Wie ist sein Stil? Wie ist es entstanden? Wir sehen, da die Bestimmung dessen, was fiir einen

dramatischen Ausdruck die Gefiihls- und Gedankenwelt des modernen Lebens erhalten konnte, eine Frage stark empirischen Charakters zu sein scheint. Diese empirische Frage kann aber nur ein gutes Theater vollkommen

und wirklich empirisch beantworten, und zwar dadurch, daf es jene

Stiicke spielt, die diesen Charakter haben und es gibt mit der Qualitit der Regie und des Spiels zugleich die praktische Lésung der Stilfrage. Die sich einstellende oder sich nicht einstellende Wirkung ware dann die Kontrolle

der Wahrheit der Bestimmungen.

Ja, aber alle tatsichlichen Wirkungen

werden durch Millionen von zufalligen Umstinden soweit beeinflu&t, daf es vielleicht iiberfliissig ist, auf sie naher einzugehen. Die Feststellung geniigt, da man vielleicht auf dieser Basis starke Suggestionen vom Wesen des modernen Dramas geben kénnte, aber Grenzen zu ziehen, genaue Bestim-

mungen zu schaffen, ist unméglich, wenn man von der Empirie und blo&

von der Praxis ausgeht.

Grenzen kann man nur mit Hilfe von Abstraktionen schaffen, und so wurde dieses Buch, das aus der handgreiflichsten Praxis, aus dramaturgischen und Regieproblemen hervorwuchs, immer theoretischer. Als einer der Leiter der

Thalia-Gesellschaft' in den Jahren 1904-1907 erlebte ich die in diesem Buch

aufgegriffenen Fragen bei der Auswahl und Regie von Stiicken und erst als ich sie niederschreiben mufte, als ich jede Frage auf tiefere Ursachen und

Gesetzmia&igkeiten zuriickfiihren wollte, wurde dieses Buch theoretisch und

seine Schreibweise begrifflich. Trotzdem ist dieses Buch fiir mich aus dem Leben hervorgewachsen und steht mit dem Leben in engem Zusammenhang,

und ich gebe es mit der Hoffoung aus den Hinden, da auch die Leser diesen Zusammenhang empfinden werden.

10

Vorwort

#2

Die Hauptfrage des Buches ist also: Gibt es ein modernes Drama und

welchen Stil hat es? Diese Frage ist aber wie jede Stilfrage vor allem eine

soziologische Frage. Die erschépfende Behandlung dieses Themas gehért

natiirlich nicht in den Rahmen dieses Buches. Ich kann nur einige allgemeine Bemerkungen machen.’

Zwischen bestimmten Epochen sind die trennenden Unterschiede tiefer als

zwischen verschiedenen Individualitaten der gleichen Epoche. Jene grofen Abweichungen, die z.B. bei der Beurteilung von Bildern oder Statuen

taglich vorkommen seltener.

mégen, sind bei der Bestimmung einer Epoche viel

Und doch: es gibt kaum Literatursoziologie. Die Ursache hierfir liegt

= glaube ich ~ in erster Linie in der Soziologie (davon abgesehen, da von recht vielen Autoren jede wahre Synthese gescheut wird), in ihrer Ambition,

die wirtschaftlichen Verhiltnisse einer Zeit als letzte und tiefste Ursache ihrer gesellschaftlichen aufzuweisen und dadurch die unmittelbare Ursache

der kiinstlerischen Erscheinungen aufzuzeigen. Und diese sehr plétzliche

und allzu einfache Verbindung ist so ins Auge fallend und grell inadaquat, da8 auch die sich der Wahrheit inhaltlich anndhernden Resultate keine

tiberzeugende Wirkung hervorzurufen vermégen. Die gréften Fehler der

soziologischen Kunstbetrachtung sind, daf sie in den kiinstlerischen Schépfungen die Inhalte sucht und untersucht und zwischen ihnen und bestimmten wirtschaftlichen Verhiltnissen eine gerade Linie ziehen will. Das wirk-

lich Soziale aber in der Literatur ist: die Form. Die Form macht das Erlebnis

des

Dichters

mit den

anderen,

mit dem

Publikum,

tiberhaupt

erst zur

Mitteilung, und die Kunst wird - in erster Linie - durch diese geformte

Mitteilung, durch die Méglichkeit der Wirkung und die tatsichlich entste-

hende Wirkung eigentlich erst sozial. Freilich, in der Anwendung gibt es viele Schwierigkeiten, da eben die Form niemals zum bewuften Erlebnis im

Aufnehmenden wird, ja, sogar nicht einmal in ihrem Schépfer. Der Aufnehmende glaubt wirklich daran, da8 die Inhalte auf ihn gewirkt haben und nimmt nicht wahr, daf er mit Hilfe der Form iiberhaupt erst in die Lage versetzt wurde, das zu konstatieren, was er als Inhalt ansieht: das Tempo,

den Rhythmus, die Hervorhebungen und die Weglassungen, die Einstellun-

* Diese Frage habe ich in meiner Arbeit »Zur Theorie der Literaturgeschichtee ausfihrlicher besprochen. Sie erschien in der Festschrift fir Bernét Alexander. [Anm. v. G. L.]

Vorwort

11

gen von Licht und Schatten etc. -, da& diese alle die Form, alle ein Teil der Form sind, alles Wege sind, die zur Form als zum unsichtbaren Zentrum fahren. Der Aufnehmende nimmt nicht wahr, daf (in der Kunst) Nichtge-

formtes nicht existiert, und dafi also das, was er als inhaltliche Wirkung fihle, dies in nur sehr kleinem Mage ist; da noch die starkste inhaltliche Wirkung nur daher so stark ist, weil, eben mit Hilfe der Form und nur durch sie, aus

jeder Wirkungsméglichkeit der Materie tatsichliche Wirkung entsteht. Dem schdpferischen Geist jedoch kommt selten die Form zu BewuStsein. Er hat Erlebnisse

und

technische

Probleme;

er kampft

um

den

unmittelbaren

Ausdruck, und seine Probleme liegen teilweise diesseits, teilweise jenseits der Form. Und sehr oft kommt ihm in diesem Kampf auch nicht zu Bewuftsein, da8 die technischen Lésungen nur Wege sind, die zur Form fiihren. Entweder wei

der Schipfer jetzt, da8 er zu ihr strebt oder nicht. Und noch

weniger Kiinstler fithlen, da das, was sie »Erlebnis«, Leben, und zwar Leben als Stoff ihrer Dichtung, nennen, keinen Augenblick von der Form

unabhangig ist. Die Formvision eines Kiinstlers in sich selbst ist keine isolierte seelische Erscheinung, die nur dann beginnt tatig zu werden, wenn ¢s sich

um

die Formulierung

handelt,

sondern

sie ist ein sich stets mit

kleinerer oder gréferer Kraft betatigender Faktor seines Seelenlebens, beeinflu&t stindig die Perspektive den Dingen und dem Leben gegeniiber. Jedes

»Erlebnis« ist - bis zu einem gewissen Grade — bereits sub specie formae erlebt und der Erinnerungsstoff, die Beobachtung und die konstruierte Psychologie, die die unmittelbare Materie der Schépfung sein wird, ist noch starker auf die formalen Gestaltungsméglichkeiten bezogen. Die echte Form des echten Kiinstlers ist a priori, eine stindige Form den Dingen gegeniiber, etwas, ohne das er nicht fihig ware, die Dinge iiberhaupt wahrzunehmen. Mit diesem Gesichtspunkt gelangen wir zu einer anderen sozialen Beziehung

der Form. Diese Beziehung ist, kurz gesagt, die zwischen Materie und Form.

Es erhebt sich also die Frage, ob und inwieweit das ganze uSere und innere

Leben einer Epoche, soweit es einem Dichter klar ist, geeignet ist, Wirkungen zu erreichen, die die - vom Dichter in vieler Hinsicht unabhingig

entstehenden — Formen verlangen und erméglichen. Und ich meine hier das

ganze Leben, natiirlich in jeder seiner duferen und inneren Ausdrucksméglichkeiten, ich meine, daf es bestimmte duSere Geschehnisse an sich hat, und

mit welcher sinnlichen Kraft es die inneren Geschehnisse widerzuspiegeln

vermag, welche Menschen in diesem Leben existieren, welches ihre Gefiihle, Gedanken, Wertungen, Gebirden etc. sind. Also: Welchen Stoff gibt das Leben der Dichtung und welchen schlieft es von der Dichtung aus - als

12

Vorwort

Stoff, der wegen seiner Ausgefallenheit keinem Publikum zumutbar wire?

Freilich auch dem Dichter nicht. Denn hier ist von einer Wechselwirkung

die Rede. Wir haben gesagt: die Form ist seelische Realitit, sie nimmt lebendig teil am Seelenleben, und als solche spielt sie ihre Rolle nicht nur als auf das Leben wirkender und die Erlebnisse umgestaltender, sondern auch als vom Leben gestalteter Faktor. Die Schemata der Schicksalsverhiiltnisse entsprechen den Formen der Literatur; aber der Rahmen

dessen, was wir

und wie wir es als Schicksal bezeichnen, und mit welcher Intensitat wir es betrachten, wie wir es auswerten, — dies alles soll wenigstens vom Leben bestimmt werden. Zu bestimmten Zeiten sind nur bestimmte Lebensauffassungen méglich, und wenn auch die Literatursoziologie sich nicht damit beschiftigen kann, was es ist, das diese Lebensauffassungen, diese Weltanschauungen erzeugt, so stellt sie doch fest: bestimmte Weltanschauungen

bringen bestimmte Formen mit, ermdglichen sie, schlieRen andere genauso

von vornherein aus. Dies ware der Rahmen fiir die inneren Zusammenhinge. Der aufere bestimmende Faktor der Literatur ist die Wirkung, die um so allgemeiner, breiter und tiefer ist — je sozialer ihre Ursache ist. Aber die Geschichtsschreibung

der Wirkungen und die Durchforschung der Ursachen gehért nur in zweiter Linie zu unserer Aufgabe. Wir betrachten die Literatur und untersuchen die Entwicklung ihrer geschichtlichen Wege, die Faktoren, die auf sie gewirkt haben und wie sie gewirkt haben. Die Geschichte der Wirkung ist eine

kulturpsychologische und historische Frage; namlich die, was einer Epoche gefallt, was wirkt und warum es wirkt (und hier ist die Literatur, erst recht ein Teil von ihr, nur eine Gattung, nur eines von vielen Symptomen). Aber die innere formale Bedeutung der Wirkung und der Wirkungsméglichkeiten

kann man nicht wichtig genug nehmen: das ist das dritte Kriterium fiir die

soziale Ausrichtung der Literatur. Hier ist von folgenden Beriihrungspunkten die Rede: in erster Linie davon, da der Wirkungswille schon in die

Form einbegriffen ist und daf& ihm seine Grenzen von den sozialen Wirkungsmdglichkeiten gesteckt sind. Das Wichtigste ist hierbei: die Aufgabe, das Ziel, dessen Erreichen in gewisser Hinsicht das Kunstwerk bedingt. Dariiber hinaus ist es die entstehende Wirkung bzw. der Reflex der nicht

eintretenden oder nicht entstehenden Wirkung auf das Kunstwerk, resp. auf die Entwicklung der Literatur. Wir sehen: die Wirkung der wirtschaftlichen

Umstinde auf das Kunstwerk ist nur indirekt und kann nur als solche bestimmt werden, - wenn wir einmal davon absehen wollen, da die wirtschaftlichen Umstinde bestimmen, welche und wie groSe Gesellschafts-

Vorwort

3

schichten iiberhaupt als Publikum fiir die Kunst in Frage kommen. Von diesem Faktor jedoch kénnen wir absehen, solange wir ganz allgemein

sprechen, ja, sogar auch noch in den meisten speziellen Fallen, da hier ja nur die Entwicklung einer Gattung zur Debatte steht. Und von hier aus gesehen

ist dieser Faktor in irgendeinem der hier dargestellten Typen notwendiger-

weise impliziert. Da dies nun fiir die Frage, wie groBe Gesellschaftsschichten

die Literatur und das Drama beeinflussen, von Bedeutung ist, ist ihre wichtigste Grenze durch die Qualitat dieser Schichten, durch ihre Gefiible, Wertungen, Gedankenkreise, kurz: ihre Ideologie festgelegt. Und so spielen die wirtschaftlichen Verhiltnisse selbst nur eine untergeordnete, als Grundtatsache wirkende Rolle, die direkt wirkenden Ursachen sind ganz anderer Art. Ich weif, da ich die hier geschilderten Beziehungen in ein sehr grobes Schema presse, wenn ich sie in folgender Weise zu skizzieren versuche:

Wirtschaftliche und kulturelle Verhiltnisse - Lebensauffassung — Form (beim

Kiinstler

als a priori des Schaffens) - das Leben

als geformtes

~ Publikum - (hier wieder als kausale Reihe: Lebensauffassung ~ wirtschaftliche und kulturelle Verhaltnisse) - Wirkung — die Reaktion auf die verschie-

denen Wirkungen des Kunstwerks — usw. ad infinitum.

Dieses Buch ist der Versuch einer Entwicklungsgeschichte, deswegen mufte ich diese methodologischen Bemerkungen vorausschicken.* Ich versuchte, wenigstens in einem Teil der Geschichte einer Gattung, den Gang der

Entwicklung zu skizzieren. Jede Entwicklung ist aber sozial, deshalb mufte ich tiber Literatursoziologie sprechen. Den Wert und die Schénheit der einzelnen Werke kann man ohne jeglichen sozialen Bezug erkennen und beschreiben, ihren Zusammenhang und ihre Entwicklung aber nicht. Ich

glaube aber doch, daf es keine solchen tiefgreifenden Unterschiede gibt, wie sie die einseitigen Fanatiker der beiden Richtungen sehen. Ich versuchte zu beweisen, daf die Literatur — gerade an ihren zutiefst kiinstlerischen Stellen

~ stark sozial determiniert ist und nur das dem Gang ihrer Entwicklung eine Richtung und eine Gesetzmafigkeit gibt und geben kann. Denn alles andere, wovon man im Zusammenhang mit der Entwicklung sprechen kana, ist entweder zufallig, oder hat nur sekundire Bedeutung. Sekundir ist, wer auf

wen wirkte, denn bei jeder solchen Wirkungsfrage taucht das Problem auf, warum er wirkte, was derjenige suchte, der die Wirkung in dem erlebte, was

auf ihn wirkte, was holte er dabei heraus und welchen Sinn, der von anderen noch nicht erkannt wurde, las er dann heraus. Und eine jede rein persénliche

14

Vorwort

Tatsache und Wirkung ist (im Hinblick auf die Entwicklung) zufallig. Die »Entwicklung« ist nur ein imaginares Ziel, zu dem tausend Wege fiihren, und ein jeder Weg kann neue Wege schaffen; die Entwicklung kénnen wir

als eine nicht ausgesprochene und nicht formulierbare, aber fast genau

beschreibbare »Aufgabe« ansehen, in deren Richtung alle streben und wir

kénnen nur aus der Richtung und aus den Ursachen der Bewegungen auf das

Ziel folgern. Dieses Ziel ist also eine Abstraktion, ist keine »Wahrheit« und

sein Sinn und Wert kann nur dies sein: So viele Erscheinungen des Tatsa-

chen- und Ereigniskomplexes, den wir moderne Dramenliteratur nennen, so

klar zu ordnen, in so vielseitige, tiefe und doch widerspruchslose Beziige

hineinzustellen wie nur mdglich.

*

Die Erérterung der Methode ist immer eine Aufzihlung von mildernden

Umstinden. Hier ist es vielleicht deswegen notwendig, damit dieser Versuch, der auch im Hinblick auf das Erreichen der beabsichtigten Ziele als Versuch genommen werden soll, nicht auf Grund dessen, was auferhalb des

Kreises seiner Zielsetzung fiel, verurteilt werde (bzw. dann soll er wegen seiner Zielsetzung verurteilt werden). Dieses Buch strebt keine duSere Vollkommenheit an, es ist nur bestrebt, die Linie der Entwicklung klarzule-

gen. Es will tiber moderne Dramenliteratur sprechen und nimmt jedes Wort

seines Titels buchstablich. Es bespricht also nicht die Schriftsteller, die nur

die auferen Ornamente der alten Werke aufnehmen und nachahmen; es beschiftigt sich mit den Biihnenwerken, die nicht zur wahren Literatur zahlen, nur in Anspielungen und Erwahnungen, ausgenommen, wenn die Wirkung dieser Werke (wie beim franzésischen Tendenzdrama) in der

Entwicklung der Dramenliteratur eine Rolle spielt; und es lift die in Dialogform geschriebenen, aber in ihrer inneren Form rein lyrischen Schriften der groSen Dichter (wie Browning,

Swinburne, Verhaeren

usw.) mit

tiefer Hochachtung aber vollkommen beiseite. Und es beschiftigt sich unter den Schriftstellern, die zum eng gefaften Gegenstand gehéren, auch nur mit

denen, in deren Schriften es etwas Neues, etwas aus erster Hand gibt, die

Analyse von Werken der Epigonen, auch wenn sie die beriihmtesten sind,

hielten wir fir eine Beschaftigung nicht fruchtbar. (Deshalb wird von Heyermans

und Gorkij, den Epigonen von Hauptmann und von Rostand,

dem Epigonen von Victor Hugo usw. nicht die Rede sein.) Ich erwahne

noch, da& ich die auslindische Dramenliteratur bis zum Herbst 1909 bear-

beiten konnte, bei der Besprechung der ungarischen Dramenliteratur konnte

Vorwort

1S

ich ~ aus drucktechnischen Griinden - auch noch das Theaterjahr 1909/t0 in den Kreis der Erdrterung mit einbeziehen.

Ich kann aber das Buch nicht aus meinen Handen geben, ohne daf ich den Herren Professoren Bernat Alexander, Zsolt Bedthy und Frigyes Riedl* meinen

tiefen

Dank

zum

Ausdruck

bringe.

Sie waren

Fassung des Buches, die zum Preisausschreiben eingereicht wurde‘, mit solch verstindnisvollem wollen aufnahmen und deren gute Ratschlige Uberarbeitung von grofem Nutzen waren. Um eventuelle Mifverstindnisse zu vermeiden, da8 die Hauptprinzipien meines Buches schon

es, die die erste

der Kisfaludy-Gesellschaft und nachsichtigem Wohlund Hinweise mir bei der muf ich noch bemerken, beim Preisausschreiben die

gleichen waren; nur der historische und soziologische Rahmen wurde erweitert und die Formanalyse wurde stark vertieft. Ganz neu ist im Buch

nur das m. Kapitel. Ich erginzte und verinderte mehr oder minder alle Kapitel, am meisten die Kapitel 1, n, x, xm, und xm. Da an dem xuv. Kapitel

viel verandert wurde, ist natiirlich; gerade dort konnte sich die Wertung tiber

die sich noch entwickelnden, noch nicht reifen, bei weitem noch nicht in historischer Entfernung befindlichen Schriftsteller verindern. Gerade deswegen nahm ich in diesem Kapitel — ich glaube den aufmerksameren Lesern wird das ohnehin auffallen - in Hinblick auf die Dichter und Tendenzen viel zuriickhaltender Stellung, als in den vorhergegangenen Kapiteln oder in irgendeinem meiner Aufsitze, die einen Schriftsteller, der hierher gehért,

behandeln. Das Buch wire nicht vollstindig, wenn es die heutigen Tendenzen nicht besprechen wiirde, eine sehr entschiedene Stellungnahme gegentiber der Gegenwart wiirde aber nicht zum historischen Ton des Ganzen passen. Daf dieser Gesichtspunkt fiir das Kapitel iiber die ungarische Drameniliteratur in noch gréferem Mafe gilt, wird gewif fir jedermann

selbstverstindlich sein. Berlin, 10. 12. 1909

17

Erstes Buch Grundsatzfragen

I Das Drama

Das Drama ist ein solches Schriftwerk, das derch zwischenmenschliche

Geschehen eine unmittelbare und starke Wirkung auf eine versammelte Masse hervorrufen will. Das wire, einfach und kurz ausgedriickt, die gemeinsame, bis zur Trivialitat bekannte Wesensart aller Dramen, wenn man.

alle ihre Eigenschaften, die durch historische, also zufallige Umstiinde

zustande kamen, aufer acht lift. Aus diesen vorhandenen Umstanden aber,

unter denen mit Hilfe des gegebenen Stoffs die ebenfalls gegebene Wirkung zu erzielen ist, ergeben sich alle (abstrakten) formalen Eigenheiten und

Gesetze des Dramas, und sie sind daraus ableitbar. Daraus ergibt sich

zugleich auch, welche geselischaftlichen Verhiltnisse fiir diese paradoxen und komplizierten formalen Folgen vorteilhaft oder unvorteilhaft sind und inwiefern sie dies sind. Man kann also die sich wiederholenden Erscheinun-

gen der Geschichte des Dramas ableiten, den Rahmen, in dem die sich nie

wiederholenden Irrationalititen der tatsichlichen Geschehen doch ihre Stellung einnehmen miissen: man kann die Querschnitte finden, die an diesen Pflanzen, die in so verschiedenen Landschaften und Zeiten wuchsen, doch

dieselben Gebilde zeigen.

L

Das Ziel des Dramas ist die Massenwirkung, und die Umstinde, unter denen es dieses Ziel erreichen mu, sind eigentlich schon im Begriff der Massenwir-

kung enthalten, nimlich, da die Zeit, die zur Verfiigung steht, verhiiltnisméafig kurz sein muf. Was ergibt sich aus dem Verhiltnis dieses Zieles und

der Umstinde fiir die Natur des Stoffes (die wir vorerst nicht detaillieren wollen), die die Wirkung hervorruft? Die stoffliche Folge der kurzen Zeit ist

vor allem die perspektivische Kiirzung der vorgetragenen Begebenheit. Man

kann also aus dem oder den menschlichen Leben, die die Handlung bilden, entweder das isolierte Geschehen auswiahlen (und dieses ist auch nicht in seiner vollen Breite und Vielseitigkeit darstellbar), oder wenn in der Hand-

18

Grundsatzfragen

lung mehrere Episoden dieser Leben eine Rolle spielen, so mu8 man sie noch markierender, nur durch ihre wichtigsten Konturen begrenzt zeichnen. In

welche Richtung erstrecken sich diese Verkiirzungen? Was soll nach den Forderungen der Umstinde, die mit einfachster und grdbster Allgemeinheit das Zustandekommen des Dramas bestimmen, hervorgehoben und was

weggelassen werden? Auf die Massen wirkt nur das Allgemeine, die Masse kann das rein individuelle Geschehen oder eine Betrachtung des Geschehens,

die sich nur aus individuellen Gesichtspunkten ergibt, nie spontan und stark empfinden. Die Forderung dieser Allgemeinheit ergibt sich aus dem Begriff der Masse selbst: das Geschehen muf& so sein, da es die Masse plitzlich

erschiittert, das Geschehen muf sich also auf hauptsichlich ahnliche Gefiihle

und Erlebnisse der Masse beziehen, damit es allgemein ist. Die Massenpsychologie hilft, dem Begriff des Allgemeinen (der hier nur den Gegensatz zum

blo8 individuellen bedeutet) einen bestimmten und wirklichen Inhalt zu

geben. Die Aufnahmefihigkeit und die Bereitschaft der Masse erfordert

sowohl formal wie auch inhaltlich das Allgemeine sinnlich; oder genauer: sie schlieft die blo& intellektuelle Allgemeingiiltigkeit aus. Formal kann man auf die Masse, weil sie nur in Bildern denken kann, nur durch Bilder wirken, was

nicht nur eine durch viele Erfahrungen bestitigte Beobachtung ist, sondern was sich aus der ersten Grunderscheinung des In-der-Masse-Seins, aus dem

Primitivwerden der Gefiihle der Menschen in der Masse, von selbst und

zwingend ergibt. Die inhaltliche Ursache dieser Forderung ist, da in der Masse ein gewisser Ausgleich zwischen den einzelnen Menschen zustande kommt (solange das Massengefiithl andauert) und nachdem das abstrakte Denken am meisten und deshalb zutiefst isoliert individuell in allen ist, kann

es am wenigsten eine Rolle spielen. Erginzen wir das noch damit, daf in

allen starken Massengefiihlen in kleinerem oder gréferem Mae die Elemente des religidsen Gefiihls vorhanden sind: der Mystizismus, das Uberwiegen

der Gefiihlselemente, die Gleichgiiltigkeit gegeniiber logischen Argumenten,

die Ungeduld, der Fanatismus der Anbetung und des Hasses usw. Die natiirliche Folge davon ist, da& das Allgemeine, das von der Masse, wenn auch unbewut, gefordert wird, das am meisten auf sie wirkt - genauso wie das Allgemeine der Religiositat - inhaltlich nicht intellektuell, sondern das Gefiihl oder den Willen betreffend ist; formal nicht dialektisch oder logisch,

sondern sinnlich, symbolisch ist. Aus der Natur der Masse, die fiir das Drama in Frage kommt und noch mehr aus der Natur des Dramenstoffes

ergibt sich, daf in ihr das Ubersinnliche — wenigstens formal — keine Rolle spielen kann. Daf das Drama auch historisch auf dem Boden der religidsen

I Das Drama

19

Gefiihle wuchs, lieSen wir hier absichtlich auer acht. Was als formale Folge

daraus fiir das Drama entsteht, kénnen wir - so glauben wir - anhand der

Eigenschaften einer Masse, die an einem gewissen Ort versammelt ist und

auf gewisse Sensationen wartet, ableiten. Daf diese Eigenschaften in einer aus religidsen Griinden (oder unter der Wirkung von religidsen Traditionen) versammelten Masse genauso, nur noch stirker vorhanden sind, mu8 wohl, glaube ich, nicht weiter ausgefiihrt werden.

Eine inhaltliche Zusammendringung aber, die Notwendigkeit von groBen

Auslassungen, zwingt das Drama ebenfalls in Richtung des Allgemeinen, der

Symbolik. Aus der Zusammendringung selbst ergibt sich schon das Allge-

meine. Je kiirzer ich irgendein Geschehen erzahle, desto allgemeiner wird es, desto starker ahnelt es anderen Geschehen; aus welchen Gesichtspunkten ich

auch viele Details weglasse. Denn eine Begebenheit wird durch ihre Details, durch die Vielheit, Vielfaltigkeit ihrer Details, durch die Unméglichkeit,

diese unter einem Gesichtspunkt zu ordnen individuell (also so individuell, daf sie sich nie mehr in der selben Form wiederholt). Sobald ich also in

irgendeiner Richtung sehr viele Details weglasse, wird die Begebenheit, auch

dann, wenn ich es nicht beabsichtigt hatte, einer anderen ahnlich, bei der ich aus ahnlichen Gesichtspunkten von den Details absah. Und es ist gewi8, da8

dieser Proze8 beim gréften Teil der Begebenheiten — wenigstens nachtrig-

lich, in der Erinnerung - immer durchfihrbar ist. Die treffende Wirkung des Epigramms, der Maxime, des Apercu ist immer eine solche: eine formale. Zwei Ausspriiche die iiber die selbe Sache zwei entgegengesetzte Inhalte

aussagen, die mit groSer Zusammengedrangtheit konzipiert sind, werden mit der gleichen Kraft der Wahrheit wirken: denn es ist gewif, da& mit jedem

zahllose Begebenheiten faSbar werden und es wird nur von der suggestiven

Kraft ihrer Formulierung abhingen, welche wie viele und welche Assoziationen der Zugehérigkeit zu einzelnen Begebenheiten erweckt werden. Je starker und konsequenter dieses Nicht-Sehen der Details, die Stilisierung ist,

desto allgemeiner

wird

die Begebenheit

sein, desto mehr individuelles,

historisches Geschehen kann sie in sich fassen, kann sie bedeuten — kann sie

symbolisieren. Die unmittelbare Wirkung auf die Masse erfordert also einerseits das Allgemeine, die Symbolik des dargestellten Geschehens, andererseits zwingen

aber die durch seinen Umfang gesetzten Grenzen das Drama ebenfalls in

Richtung der Symbolik, der zusammenfassenden, aus der Ferne, aus der

Vogelperspektive vorgenommenen Betrachtung. Das Zusammentreffen oder

noch mehr die Verschmelzung dieser beiden Forderungen gibt dem Begriff

20

Grundsatzfragen

der Allgemeinheit des dramatischen Geschehens einen noch konkreteren

Inhalt: Wenn im Geschehen ein Mensch vorkommt, ist es notwendig, daf

dieser den Menschen (oder wenigstens einen gewissen Menschenschlag) reprasentiert, symbolisiert, wenn etwas mit ihm geschieht, ist es notwendig, da dieses Geschehen das Leben (bzw. das typische Leben dieses Menschenschlages), sein Schicksal bedeutet. Und es ist notwendig, da& dieser Mensch

und dieses Schicksal fiir die in Betracht kommende

Mensch und ein typisches Schicksal ist.

Masse ein typischer

Wir sagten, der Stoff des Dramas ist ein zwischenmenschliches Geschehen.

Das ist historisch gewif so, es ergibt sich aber doch nicht im ersten Augenblick so deutlich aus den allein méglichen Grundvoraussetzungen des Dramas wie das bisher Gesagte. Und doch ist das der ausschlieBliche Stoff,

vielleicht die wichtigste und charakteristischste Eigenart des Dramas - wie

kénnte es aber auch etwas anderes sein! (Neben einer negativen Fragestel-

lung wirkt diese Umgrenzung vielleicht auch in ihrer Form nicht als willkiir-

liche Dogmatik.) Es ist gewi8, da8 die Natur, die den Menschen umgibt,

dramatisch nur markierbar ist, und in Hinblick auf das Wesen der Sache

besteht zwischen der primitivsten und der vollkommensten Markierung

kaum ein Unterschied. Das Drama, hier in der Mittelstellung zwischen Epik und

den bildenden Kiinsten, kann sich nicht derer Mittel bedienen. Das

wesentliche an der Naturstilisierung der bildenden Kiinste ist die Aufhebung

der Zeit, indem sie die Vergangenheit und die Zukunft in einem, beide symbolisierenden Punkt vereint. Die Zeitlichkeit des dramatischen Gesche-

hens schlie&t das prinzipiell aus. Die Natur (die Kulisse), die im Drama erscheint, begleitet die Handlungen, Geftihle und Gedanken der Menschen; die Universalitit der erstarrten groBen Augenblicke der bildenden Kiinste

kann also in ihr nicht vorhanden sein. Dieses Vorhandensein der Natur kann von den anderen poetischen Gattungen zum Ausdruck gebracht werden,

gerade deswegen, weil sie die Natur nicht konkret darstellen miissen, weil sie

nichts anderes als das sich stiindig Verandernde geben, die Atmosphire, und

nur insofern, wie sie die Geschehnisse umgibt und eine Rolle in ihnen spielen

will. Die Ausdrucksmittel der anderen poetischen Gattungen erlauben es

aber, die Geschehnisse und neben ihnen - versuchsweise und nicht konkret

~ die dazutretende Natur getrennt zu geben. Das Drama kénnte all das nur unmittelbar zum Ausdruck bringen, oder so, da8 irgendeine Figur von Fall zu Fall die Natur bestimmen wiirde, was ihre unmittelbare und sinnliche

Wirkung nehmen wiirde. Oder aber das Drama wiirde den Proze8 selbst darstellen, der - nachdem keine Méglichkeit der Stilisierung zu seiner

1 Das Drama

21

Verfiigung steht — nur Nachahmung sein kénnte und so miifte er mit der Wirkung verglichen werden, wobei aber seine Wirkung nur viel schwacher

sein kann. Die Natur — hier verstehe ich darunter alles was den Menschen

umgibt — kann also im Drama nur eine sekundire Rolle spielen; sie kann nur Hintergrund sein, wenn auch eventuell ein schéner und wichtiger Hinter-

gund, aber eine wesentliche, fiir die Form entscheidende Rolle kann sie nicht spielen. Von

den Abstrakta werden die rein philosophischen durch die

Forderung der unmittelbaren Massenwirkung, die geschichtlichen (die Notwendigkeit der Entwicklung usw.) durch den eng bemessenen Umfang

schon von vornherein ausgeschlossen. Alle Bereiche sind nur soweit und insofern dramatisch, soweit sie sich in den Gefiihlen der Menschen unterein-

ander und in ihren Taten spiegeln und offenbaren. Dieselben Ursachen

schliefen auch aus dem Kreis der dramatischen Geschehnisse, aus dem Stoff des Dramas, die Tatigkeit der iibernatiirlichen Krafte und Machte aus. Diese

kénnen von allen Kiinsten nur lyrisch, nur durch die Seele der Menschen,

durch jene Wirkungen, die die Seele der Menschen formen, ausgedriickt

werden. Oder sie werden ganz abstrakt signalisiert und die Erginzung, die eigentliche Vorstellung der metaphysischen Erscheinung wird den Gedanken und der Phantasie des Aufnehmenden iiberlassen. Es ist leicht einzusehen, da all das - schon durch das bisher Gesagte - im Drama unmdglich ist. Das Drama kann auch die metaphysischen Geschehen nur in der Form der soziologischen Geschehen ausdriicken.

Wie sollen nun diese Menschen sein, wie sollen die Geschehen sein, die sich zwischen ihnen abspielen, damit die durch die natiirlichen Voraussetzungen

geforderte Wirkung am sichersten zustande kommen kann? Mit anderen Worten: welche Menschen, welche Teile des Lebens dieser Menschen sind die geeignetsten Stoffe des Dramas? Oder noch einfacher: welche Lebensiu-

Berungen der Menschen sind diejenigen, in denen sich das ganze Wesen der

Betreffenden und die fiir sie typischsten Geschehen mit der unmittelbarsten

und sinnlichsten Kraft spiegeln? Was symbolisiert am reinsten das ganze

Leben eines Menschen? — Es ist allgemein bekannt, da8 das Drama die Dichtkunst des Willens ist, da8 ein Mensch und sein Schicksal nur durch die Anspannung seines Willens dramatisch werden kann. Sein Verstand, seine Gefiihle, alle seine anderen auSeren und inneren Eigenschaften begleiten ihn nur, sie dekorieren nur den dramatischen Menschen, sie sind nur dazu da,

def er nicht ganz als starre Abstraktion wirkt, sie helfen nur, die Illusion des

Lebens zu erwecken. Das Drama ist die Dichtkunst des Willens, denn das ganze Wesen des Menschen kann sich mit unmittelbarer Energie nur in

22

Grundsatzfragen

seinem Willen und in seinen Taten, die durch seinen Willen entstanden sind, offenbaren. Die Justiz der primitiven Vélker urteilt iiber die Menschen ganz auf Grund

ihrer Taten (also nach dem Willen, der sich in ihren Taten

offenbart). Sie geht von dem Gefiihl aus, da& der Titer identisch mit seiner Tat ist, da& gerade die Tat am starksten und am sichersten das Wesen des

Menschen

deckt, da& das Wesen des Menschen sich in seinem Willen

offenbart und es ist daneben nur untergeordnet wichtig, was dieser Mensch

empfindet und wie er denkt; die Motive seiner Tat sind nebensichlich. Diese

Tatsache kann fiir uns natiirlich nur eine symptomatische Bedeutung haben;

sie ist nur ein praktisches Beispiel dafiir, daS die Menschen, wenn sie das ganze Wesen des Menschen erfassen wollen, ihren Willen und dessen Offenbarungen als den reinsten Ausdruck des ganzen Menschen empfinden. Denn das Gefiih! und der Gedanke sind in ihrer Form viel augenblicklicher und verinderlicher, in ihrem Wesen viel flexibler und auferen Wirkungen

starker ausgesetzt als der Wille. Der Mensch weif von seinen eigenen Gefiihlen und Gedanken vielleicht auch selber nie, inwiefern sie seine Gefiihle und seine Gedanken sind (oder inwiefern sie wirklich zu den seinen wurden), eigentlich wei& der Mensch nur dann mit voller Sicherheit von

ihnen, wenn irgendeine Gelegenheit sie auf die Probe stellt, wenn man also in ihrem Sinne handeln muf, wenn sie Willenselemente werden und wenn

sich aus ihnen Taten ergeben. Die reinste und ausdruckvollste Manifestation des Willens ist aber der Kampf; er ist es insofern, da man in einem sehr weiten Sinne alle Manifesta-

tionen des Willens als Kampf ansehen kénnte. Und aus dem bisher Gesagten

ergibt sich, da& von allen Lebenserscheinungen (Kimpfen), die die Reaktion

des Willens hervorrufen, diejenige zum geeignetsten Stoff des Dramas wird, in der am stiarksten dieser Kampfcharakter vorhanden ist, die am starksten den Willen im dramatischen Menschen auslést. Die Handlung, die am

geeignetsten ist, das ganze Leben des betreffenden Menschen in seiner formalen und inhaltlichen Isolierung zu symbolisieren, die den Menschen,

der eine Rolle in ihr spielt, so sehr in seinem Wesen erfaft, da neben der iiber allem dominierenden Wichtigkeit seiner dadurch auf die Oberfliche gelangten Eigenschaften all das wirklich nicht in Betracht kommen kann, was man — wegen der Stilisierung, die durch die Okonomie des Dramas gefordert wird - von ihm auf alle Falle weglassen muf. Das Ziel ist also, da8

der Kampf das ganze Leben des betreffenden Menschen (oder genauer

~ denn er reprisentiert auch -: des betreffenden Menschentyps) bedeutet;

das ganze Leben aus dem Blickwinkel des Konflikts betrachtet, von dem im

1 Das Drama

23

betreffenden Drama gerade die Rede ist. Es ist also eine inhaltliche Forderung der dramatischen Form an den Konflikt, da er das zentrale Lebens-

problem des betreffenden Menschen (Menschentyps) sei, das natiirlich zugleich auch fiir die in Frage kommende Masse genauso ein zentrales Problem ist; die formale Forderung ist, da& der Konflikt so sei, da8 der Mensch auch das Maximum seines Lebens geben kann und auch gibt, in dem sein ganzes Leben

mit der gréStmdglichen

Kraft und Vielseitigkeit zum Ausdruck

kommen kann; vom Menschen selbst fordert die dramatische Form, daf er

- vom Gesichtspunkt des aktuellen Problems — das Maximum seines Typs, ein Beispiel ist, das zum gréSten Kraftaufwand geeignet sein soll. Das ist der dramaturgische Grund und die Berechtigung der Forderung nach einem

Helden im Drama, dem Byronschen »I want a hero«’, aber das zieht auch die

Grenzen fiir die Berechtigung der Forderung. Die Grae des Helden ist im Vergleich zu den anderen Exemplaren seines Typs absolut, denn er ist dessen Gipfelpunkt, er ist die dekorative Zusammenfassung alles in der Wirklichkeit

viel schwacher (weil verstreuter und weniger rein) Existierenden. Das Wil-

lenselement, das den Kampf hervorrief, mu in ihm mit der groSten Vehemenz vorhanden sein, es ist sogar notwendig ~ wenn die Natur des Konflikts so ist, da& den Uberlegungen und Gefihlen gegeniiber dem Willen eine stark hemmende Rolle zukommen kann —, da auch diese hemmenden Umstinde in ihm in einem maximalen Grade vorhanden sind, damit er, alle Méglichkei-

ten seines Typs ausschépfend, doch dessen griftes Beispiel sei. Von allen anderen Aspekten her gesehen, ist aber der Begriff des Helden und das Ausma8 seiner Grdfe natiirlich unendlich relativ. Er ist nicht nur dem

Leben gegeniiber relativ, sondern auch gegeniiber der Welt des Stiickes. Die

Kraft und die Tiefe seines Kampfes gibt ihm die Maglichkeit, im Mittelpunkt des Stiickes zu stehen, nicht seine sonstigen menschlichen Qualititen; der Kampf macht Corneilles Cinna gegeniiber dem gréferen Augustet und

Tbsens Skule gegeniiber Hikon Hakonson zentral.

Die Frage ist nun: wie soll dieser Kampf formal beschaffen sein, damit in ihm

der Held das Maximum seines Wesens geben kann, damit er zum Symbol seines ganzen Lebens emporwachsen kann? Die oberen und unteren Gren-

zen des Gebietes des Kampfes werden durch die natiirlichen Grenzen der menschlichen Krafte und Fahigkeiten festgelegt, sie bestimmen das Maxi-

mum und Minimum der Intensitaét des Kampfes. Denn so sicher es auch ist,

daf eine Kraft sich in um so augenscheinlicherer Weise offenbart, je gré8e-

ren Widerstand sie vorfindet, so wahr ist es auch, daf& der zu grofe Widerstand es unméglich macht, da& sie auf sinnlich wahrnehmbare Weise

24

Grundsatzfragen

titig ist, da sie sinnlich ist, also hier: damit sie dramatische Wirkung

hervorrufen kénne. Zwischen den kimpfenden Kraften mu daher immer ein gewisses Verhiltnis vorhanden sein. Der Kampf muf, wenn er noch so scharf und heftig ist, wenigstens scheinbar zwischen den gleichen Kriften oder wenigstens nicht zwischen erdriickend verschieden starken Gegnern ausgetragen werden. Obwohl der Ausgang des Kampfes objektiv - in der Tragédie - in der Regel von vornherein entschieden ist, kann er subjektiv nicht schon im voraus entschieden sein. Auch diese objektive GewiSheit

kann aber nicht mehr sein als ein Vorgefiihl mit ungewisser Wahrscheinlichkeit. Der Kampf, der sich zwischen solchen Gegnern abspielt, die in keinem

Grd8enverhiltnis zueinander stehen (z. B. der Kampf des Menschen mit der

Gottheit oder mit einer anderen geheimnisvollen Macht, die eine absolute Kraft darstellt, wie die Vererbung usw.) kann nicht dramatisch sein. Denn

dieser Kampf ist nur in einer sterilen Ekstase ausdriickbar, nur in Worten,

nur intim, lyrisch, individuell, hdchstens in lyrisch ergreifenden Ausbriichen des ohnmichtigen Zorns oder der schmerzlichen Resignation. Hier liegt der wahre tiefe dramaturgische Grund dafiir, da& der Stoff des Dramas nur ein

zwischenmenschliches Geschehen sein kann. Denn den Teil, der zwischen dieses Maximum und Minimum des Kampfes fillt, machen gerade die Kampfe eines Menschen mit einem anderen Menschen oder mit einer Menschengruppe oder mit einer durch sie reprisentierten menschlichen Institution aus. Und der »Gegenspieler«, der gegen den Helden auftritt und

miglichst gleichstark ist, ist der vollkommenste technische Ausdruck und zugleich das Symbol dieser Situation. Der Kampf gegen die Natur ist

teilweise genauso unfruchtbar wie die oben skizzierten Kimpfe, aber auch wenn er nicht so wire, wiirde er nur den physischen Menschen in Anspruch

nehmen oder wenigstens den in erster Linie, und so kann sich in ihm nicht die ganze Persénlichkeit des Menschen offenbaren. Die Gottheit, wenn sie

im Drama vorkommt - und eigentlich spielt sie in einem jeden Drama eine

Rolle - kann sich nur in der Kraft des einzelnen Menschen oder der Institution offenbaren. Der Kampf des Prometheus von Aischylos gegen

Zeus bleibt ein lyrischer Monolog und ist in keinem Moment wirklich

dramatisch. Der Kampf des Kénigs Oedipus, der sich ebenfalls gegen eine Gottheit richtet, wird gerade dadurch dramatisch, da die Gottheit selbst nicht erscheint, sondern sie erscheint nur in den Menschen, in den Taten der Menschen und in den Institutionen der Menschen. (Denn wir diirfen nie

vergessen, daf die ganze Oedipus-Tragédie hinfillig ist, wenn man den die

Blutschande verbietenden moralischen Befehl — der letzten Endes eine

1 Das Drama

25

soziale Tatsache ist - nicht als unbedingt bindend betrachtet; wie auch - natiirlich unberechtigt, denn

au8erhalb

des Dramas

er kritisiert ihn von einer Ethik her, die

liegt — Jules Lemaitre diesen Befehl empfand.)*

Dasselbe macht das Schicksal von Ibsens Oswald undramatisch und macht den Kampf von Frau Alving gegen dasselbe Geschick tief undramatisch. Die

Rache Aphrodites an Hippolytos in der Tragédie des Euripides kann nur

durch die Leidenschaft Phaedras dramatisch werden, und es ist die ganze

konkrete historische Situation des rémischen Reiches dazu nétig, damit der Kampf des Ibsenschen Julianus Apostata gegen Christus dramatisch werde. Und hier verursacht die metaphysische Natur des Themas und das Fehlen

des »Gegenspielerse iiberall die grdften und kaum zu bewaltigenden technischen Schwierigkeiten. Der dramatische Kampf kann nur ein zwischen-

menschlicher Kampf sein, das Drama kann auch die aus metaphysischen Griinden entstehenden Kimpfe nur in soziologischer Form darstellen. Das

Drama

ist, wie

wir

sahen,

ein

Kampf,

der

mit

bis

zum

Letzten

gespannten Kriaften ausgetragen wird, der das ganze Leben eines Menschen symbolisiert. Es ist ein Kampf mit dem starksten Gegner, der vorstellbar ist,

denn wir sahen, da8 die obere Grenze nur formal ist, sie ist nur die

Umgrenzung der Erscheinungsweise des kimpfenden Gegners, sie bedeutet

nur, da8 der Kampf schon von vornherein entschieden ist, was aber nicht

vom ersten Augenblick an sichtbar ist. Es ist ein Kampf mit dem méglichst

miachtigsten Gegner, mit der Notwendigkeit in ihrer héchsten Form, und in

diesem Kampf muf der Mensch - ich verwende hier Wilhelm von Scholz’ Tragédienformel’ - immer untergehen. Das konsequente Zuendedenken der

stofflichen Forderungen des Dramas muf zur Tragédie fiihren. Denn was ist

die Tragédie — ganz allgemein -, wenn nicht der mit maximaler Kraftaufwen-

dung gefiihrte Kampf eines Menschen mit der auSeren Welt und dem Schicksal um sein zentrales Lebensproblem? Das Drama erreicht seinen Gipfelpunkt immer in der Tragédie; ein vollkommenes Drama kann nichts

anderes sein als eine Tragidie. Fiir die tragischen Gefiihle gibt es aber kein adaquateres Ausdrucksmittel als das Drama, und es ist auch keines vorstellbar: alle seine formalen Forderungen fallen mit den Audrucksforderungen

der tragischen Gefiihle zusammen, es schlie&t nichts in sich, was nicht allein

fir den Ausdruck der tragischen Gefiihle, aber nicht nur fiir den Ausdruck dieser Gefiihle geeignet wire. Es kann also kein Zufall sein, da8 die grofen dramatischen Epochen (die griechische, englische, spanische, franzésische Epoche) zugleich auch die Zeiten der grofen Tragédien waren. Wir wissen

sogar von keiner Epoche, in der das Drama wirklich in Bliite stand, ohne daf

26

Grundsatzfragen

es die Tragédienform beherrschte und da& mit dem Ende der tragischen

Gefiihle nicht auch die Blitezeit des Dramas zu Ende gewesen wire. Es

geniigt vielleicht, wenn ich mich auf das griechische Drama nach Euripides und auf das englische Drama nach Ben Jonson, Beaumont-Fletcher, Ford beziehe.

2

Das Wesen der dramatischen Form ist die paradoxe, intellektuell unverein-

bare sinnliche Vereinbarung von widerspriichlichen Anforderungen und deren Auflésung in sinnliche Symbole. Diese Paradoxie ist - wie wir sehen werden

— in allen Details des Dramas

vorhanden,

und sie ergibt sich

eigentlich aus dem paradoxen Mifverhiltnis der beabsichtigten Wirkung und der Mittel, die zur Verfiigung stehen. Die grofen Paradoxien der

dramatischen Form sind deshalb die folgenden: Der Inhalt des Dramas ist das ganze Leben, ein ganzes, vollkommenes, in sich geschlossenes Univer-

sum, welches das ganze Leben bedeutet, das selbst das ganze Leben sein muf. Die Mittel zur Darstellung dieses Universums sind aber riumlich und zeitlich auferordentlich begrenzt. Das Drama mu8 mdglichst in cinem kleinen Raum, in kurzer Zeit, mit einer begrenzten Zah! an Personen die Illusion der ganzen Welt erwecken. Und von beiden Seiten her ist die Bereitschaft stark, sich so weniger Mittel wie méglich zu bedienen und doch

soviel wie méglich in sich zu fassen. Diese Beschrinkung des Umfangs

zwingt das Drama sowohl zur Stilisierung des Geschehens wie auch zur

Stilisierung der Darstellung des Menschen, der in diesem Geschehen eine Rolle spielt; statt durch die sinnliche Kraft des vielfaltigen Lebens kann das Drama nur mit Hilfe der - immer begrifflichen, zur Abstraktheit neigenden

~ Verallgemeinerung, durch das Weglassen der Details wirken. Daraus ergeben sich gleich zwei Paradoxien. Die Natur seiner Stilisierung zwingt das

Drama

immer

dazu,

die Menschen

abstrakt

und

ihre

Konflikte

in

dialektischer Form zu sehen, die Natur seiner Wirkung (Massenwirkung) erlaubt ihm aber nur die méglichst primitiven, sinnlichen, unmittelbar wirkenden Symbole; und die Natur seines Stoffes (lebendige Menschen und

ihre Handlungen) widersetzt sich auch dieser unvermeidlich notwendigen Richtung der Stilisierung. Die Welt des Dramas bedeutet die ganze Welt des Lebens, aber nachdem

seine inhaltlichen Méglichkeiten nicht mehr erlauben, als da& es einige Abenteuer aus dem Leben einiger Menschen gibt, kann seine Universalitit

nicht inhaltlich sein, wie die der Epik (Epos, Roman), die ihr eigenes

I Das Drama

27

Universum universal darstellt, die fiir den Ausdruck der UnermeBlichkeit auch in ihren Ausdrucksmitteln keine Grenzen hat (bzw. nur dort, wo die

Grenze zu dem liegt, was man iiberhaupt in Worten ausdriicken kann).

Gegeniiber der inhaltlichen Universalitat der Epik ist also die Universalitat des Dramas formal; gegeniiber der Extensitat der Epik ist das Drama intensiv; gegeniiber der Sinnlichkeit und der Empirie der Epik ist das Drama abstrakt, metaphysisch, symbolisch, mystisch.

Wie kann diese Universalitat formal zustande kommen? Von den Bestandteilen der Universalitat sind der unendliche Reichtum der einzelnen Erschei-

nungen, die unbegrenzte Zahl der Verwirklichungen der unbegrenzten

Méglichkeiten nicht nur aus dem Drama ausgeschlossen, es darf nicht einmal

fir einen Augenblick die Illusion dieser Elemente erwecken; nur sein drittes Element, der Zusammenhang ist auch stofflich dramatisch ausdriickbar. Es ist also selbstverstindlich, da& das Drama das Element der Totalitat des

Lebens, das beiden gemeinsam ist, stark betonen wird; es muf dieses Element sogar, weil nur dies das Gemeinsame ist, viel starker betonen, als es

in der Wirklichkeit ist. Die Ordnung, der vielfache und komplizierte Zusam-

menhang der Dinge und die unerbittliche Notwendigkeit dieser Verkniip-

fung, des Auseinander-Folgen der Dinge ist das wichtigste formale Grundprinzip des Dramas. In ihm ist alles konstruiert; jedes seiner Atome steht mit all den anderen Atomen in einem engen Zusammenhang und auch die Kleinste Bewegung hat iiberall eine starke, tiefe und notwendige Resonanz.

Es kann in ihm keinen Zufall, keine Idee und keine Episode geben, also cin Geschehen oder einen Menschen, der nur fiir sich, nur deshalb da ist, weil er schén oder interessant oder riihrend ist, aber nicht mit unerbittlicher Strenge

in die grofe notwendige Architektur des Dramas hineingestellt ist, die mit mathematischer Genauigkeit und mit Unfehlbarkeit konstruiert ist. Im Drama herrscht also die Notwendigkeit, sie herrscht dort noch stirker,

harter und konsequenter als im Leben. Die Erscheinungsform der Lebenserscheinungen kann das Nebeneinander-Sein und auch die Erscheinungsform

der anderen Kiinste sein, die stofflich dem Leben viel niherstehen; die Erscheinungsform der dramatischen Erscheinungen kann nur das Auseinan-

der-Folgen und die Uber- und Unterordnung sein. Hume konnte zwar die

unbedingte Herrschaft der Kausalitét hinsichtlich des Lebens verneinen", dadurch hért aber das Leben als Leben nicht auf zu existieren; im Leben existieren die Erscheinungen durch ihr blo&es Sein, die Verbindungen zwischen ihnen sind nur nachtriglich. Die dramatischen Erscheinungen

haben keine andere Realitat als ihr Verkniipft-Sein und hier ist keine andere

28

Grundsatzfragen

Verkniipfung vorstellbar als die kausale. Es kann kein anderer Zusammenhang bestehen, als die lange Kette der Ursachen und Wirkungen, wobei jede

Ursache die Wirkung der vorherigen Ursache ist und jede Wirkung die

Ursache der nach ihr kommenden Wirkung. Und das Ende dieser Kette liegt in den einzelnen, schon nicht mehr analysierbaren Erscheinungen, in die gerade dadurch, daf sie von hier abgeleitet werden, dramatisch den Elementen des durch das Drama geschaffenen Kosmos werden. das eine Ende der Kette, das Ziel, in dessen Richtung sich das Drama

denen, und zu Das ist bewegt

~ wo ist der Ausgangspunkt? Aus der Natur des kausalen Denkens ergibt sich, da8 es nirgendwo anders stehenbleiben kann als bei der letzten Ursa-

che, bei der nicht weiter analysierbaren Erscheinung; bei einer Ursache, die

schon die Wirkung von nichts ist - was kann eine solche letzte Ursache in

der Welt des Dramas sein, und wo kann sie liegen? Bis wohin reicht die

Kette der Kausalitit, die die dramatische Notwendigkeit schafft? Liegt ihr Ende auferhalb oder innerhalb des Dramas? Rein formal geschen ist es notwendig,

da

es anders

beschaffen

sein soll als alle Elemente,

die im

Drama vorkommen. Das Drama setzt sich aus Menschen und ihren Taten

zusammen, und man kann im Hinblick auf beide immer die Frage stellen,

warum es so geschah und warum er so ist, wie er ist. Das Ende der Ursache und Wirkungsreihe kann nur das sein, was gerade auf dieses »warum« auf eine Weise antwortet, die keinen Widerspruch duldet. Diese letzte Ursache

kann nur ein Gefiihl sein, das Gefiihl, das Denken, Sehen, Werten des

Dichters gegeniiber der Welt (gegeniiber der Welt, die er im Drama darstellen wird), die Gruppierung der Welt, die Festsetzung ihres Tempos, ihres

Rhythmus, ihrer Akzente sein; mit einem Wort - auch wenn es nicht ganz

der richtige Ausdruck ist - sie kann seine Weltanschauung sein. Gegen die ‘Weltanschauung kann man nur einen inhaltlichen Einwand haben, und zwar, ob der Aufnehmende sie annimmt oder nicht, oder genauer: es ist ein

latenter, nicht ausgesprochener Kampf zwischen dem Aufnehmenden und dem Schaffenden im Gange, ob es dem Schaffenden gelingt - wenn auch nur fiir die Zeit der unmittelbaren Wirkung des Werkes - dem Aufnehmenden

dieses Gefiihl zu suggerieren oder nicht. An allen anderen Punkten ist der Widerstand des Aufnehmenden formal; d.h., die sich nicht einstellende

Wirkung

bedeutet das Miflingen des Stiickes. Die Frage nach einem

»warume, auf die das Drama nicht antworten kann ~ also eine weltanschau-

liche Ungeléstheit oder die unvollkommene Durchfihrung einer kausalen Verbindung — ist nur der begriffliche Ausdruck dessen, da8 der Dichter aus

Selbstverschulden, aus formalen Ursachen, nicht fahig war, einem Zuschau-

I Das Drama

29

er, der bereit zur Suggestion war, mit geniigender Kraft zu suggerieren. Die Weltanschauung kann nicht zum Diskussionsgegenstand gemacht werden,

oder hdchstens formal: nur ihre Anwendung, die Maglichkeit ihrer konse-

quenten Durchfihrung oder ihr Gelingen ist kritisierbar. Ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit kann aber nie in Frage gestellt werden, ihr gegeniiber kann die Frage des »warum« nicht gestellt werden; denn das Wesen der

Wirkung des Werkes ist gerade, daf wir es als wahr empfinden. Und wenn

die Wirkung auch eine, sagen wir, soziologische Voraussetzung einer gewis-

sen, eventuell unbewuften Abmachung um das Komplexum der Gefiihle, die unter das Wort Weltanschauung gefaft sind, zwischen dem Dichter und seinem Publikum ist, ist diese Frage schon von Zeit zu Zeit, sogar von

Person zu Person verinderlich und kann somit nicht das formale Problem

des Dramas sein; ein Problem, das die konstanten Elemente der Wirkung

sucht. Das Aufgebaut-Sein auf die Weltanschauung ist die formale Frage der

kausalen Struktur des Dramas. An die Weltanschauung sind nur formale

Forderungen zu erheben, es kann an sie nur die Frage gestellt werden, ob sie

- nachdem sie ein Element des Dramas ist, das die Konstruktion zusammen-

halt - fiir diese Aufgabe geeignet ist oder nicht und inwieweit sie dazu

geeignet ist. Wir werden spater Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen, da durch

die Paradoxie der dramatischen

Form die letzte Konstruktion,

die

Weltanschauung, fast aus ihr verschwindet, wir konnen sie nie unmittelbar empfinden. Wir kénnten sagen: nur das Fehlen der Weltanschauung ist bemerkbar; oder mit anderen Worten: wenn die Konstruktion schon gelang, ist die Weltanschauung iiberfliissig geworden, bzw. das Drama wirkt nun

ausschlieBlich durch seine Struktur. Die Weltanschauung mag vielleicht

inhaltlich veraltet sein, der Zuschauer aber projiziert unter der Wirkung der

groBen Impressionen, die von der Form verursacht wurden, eine seinen Beobachtungen adaquate, von der urspriinglichen Sicht des Dichters gewif

verschiedene Weltanschauung hinter die Geschehnisse, die notwendigerweise wirkten. Die Wirkung des »Kénig Ocdipus« ist vielleicht das grifte Beispiel dafiir, denn heute miissen alle Menschen dieses Drama wegen struktureller Ursachen, wegen der vollkommenen Durchfiihrung der analy-

tischen Lésung als Schicksalstragddie empfinden, obwohl der gré8te Kenner des griechischen Dramas, Wilamowitz, von ihm sagt, da8 bei Sophokles vom Schicksal als Ursache, als wirkender Kraft nirgends die Rede sei und auch nirgends die Rede sein kénne."'

Die Totalitat und den Reichtum des Lebens kann das Drama nur rein formal

ausdriicken. Seine Ausdrucksméglichkeiten sind hier nicht einmal auf einer

30

Grundsatzfragen

Ebene mit der Wirklichkeit, sie sind nicht mehr ihre stilisierten Abbreviatu-

ren, vom Gesichtspunkt der Ordnung her, wo sie nur stirker ein Element betonen, das auch dort vorhanden ist. Die inhaltliche Totalitat mu8 man

daher mit formaler Totalitét ersetzen, die extensive mit der intensiven, die

empirische mit der symbolischen Totalitit. Mit einem Wort: die Kategorie

der Totalitat ist hier durch die Kategorie der Geschlossenheit ersetzt. Die Totalitét und der Reichtum

bedeuten also im Drama, da& alle denkbaren

Méglichkeiten aufgeworfen sind und daf auf alle aufgeworfenen Fragen die Antwort gegeben ist. Das Drama ist das typischste Beispiel fiir die kiinstleri-

sche Stilisierung, von der Simmel spricht, die alle Faden aus dem lebendigen Leben herausreiftt und sie an ihren Enden zusammenbindet, damit es villig in sich geschlossen, in sich vollendet ist, damit es mit nichts was au8erhalb

von ihm liegt, in Zusammenhang steht. So kommt ein neues Leben zustande, dessen Charakter als Leben von der spontanen Illusion seiner Abgeschlossenheit gegeben wird. Wir empfinden

es als vollkommen,

denn in uns

entsteht nichts, in uns kann ihm gegeniiber keine Neugierde, kein Gefiihl des Mangels entstehen; wir konnen uns auch nichts vorstellen, was noch in diese Welt gehéren kénnte und ihr doch fehlt. Wenn wir nun diesem noch leeren

Grundprinzip einen Inhalt geben wollen und fragen, welches das Problem

ist, von dessen Gesichtspunkt her wir diese Fragen stellen miissen, die zusammen mit ihren Antworten alles erschépfen und dadurch die Totalitat zustande bringen; also was der Mittelpunkt ist, um den wir diese in sich geschlossene Linie, diesen Kreis zichen, muf man wieder genauso antworten

wie damals, als wir das Ende der Kausalitatsreihen suchten, als wir zur Weltanschauung gelangten. Wir sagten schon, da& der Gegenstand des

Dramas ein Geschehen aus dem Leben eines Menschen ist, das sich in der Form eines oder mehrerer Kimpfe offenbarte, das so stilisiert ist, daf es das ganze Leben dieses Typs bedeutet. Der Kampf dieses Menschen um sein zentrales Lebensproblem, bzw. die Abstraktion dieses Kampfes, ist der Mittelpunkt, um den sich alles gruppiert. Nur das vollkommene Zuendedenken, das konsequente Zuendefiihren aller Méglichkeiten dieses Kampfes kann dem Drama die Geschlossenheit geben, die von der Form gefordert wurde, Und es ist klar, da& dieses Zuendedenken, nachdem von Kampf und Antinomien die Rede ist, nur in einer abstrakten dialektischen Form vorstellbar ist. Sowohl diese dialektische Totalitat als auch die letzte Ursache, die die

Kausalitét erfordert, kann nur die Weltanschauung geben. Aus diesem Blickwinkel ist die Weltanschauung ebenso eine entscheidende, konstrukti-

ve, formale Forderung des Dramas, wie sie es von dem anderen Gesichts-

I Das Drama

31

punkt her war. Aber ebenso hier wie dort ist sie nur das a priori des Dramas,

sie ist nur sein Grundrif; in den Geschehnissen selbst, die sich unmittelbar vor uns abspielen, kann ihr keine Rolle zukommen. Und die Forderung der Geschlossenheit, aus der sich die villige Auflésung aller Méglichkeiten ergibt, fordert vom Kampf, der den Gegenstand des Dramas ausdriickt, von einer anderen Seite her dasselbe, was wir schon aus dem Begriff des Kampfes selber abgeleitet haben: sie fordert das Maximum des kimpfenden Menschen und der sich gegen ihn richtenden Krifte, sie fordert also - ganz zu Ende

gedacht — die Tragédie. Die

letzte formale Forderung

der Universalitit des Dramas

ist, da8 die

Grundlage ihrer Stilisierung die Weltanschauung sei, also etwas, was dem konkreten Drama formal vorgreift, was auferhalb der im engeren Sinn

genommenen Welt des Dramas steht. Die Forderung der unmittelbaren Massenwirkung schlieft aber die abstrakte Begrifflichkeit aus dem Drama aus, und sein Stoff (spontane Geschehen mit lebendigen Menschen) erlaubt es nicht, da sie in einer nackt logischen, dialektischen Form erscheint. Die Notwendigkeit der Geschlossenheit selber stellt aber neben diese Paradoxien noch eine weitere. Denn sie fordert vom Drama einerseits als Fundament

seines Aufbaus ein Motiv, das auferhalb von ihm liegt, andererseits — das ergibt sich aus dem Begriff der Geschlossenheit - schlieft sie die Moglichkeit

aus, da etwas fiir das Drama existiert, das auSerhalb von ihm liegt. Denn die Welt des Dramas wird gerade dadurch zum Universum, daf sie alles in sich

fat, was tiberhaupt in sie hineinzudenken ist. Die Grundlage des Dramas ist somit inhaltlich abstrakt und dialektisch, formal das Gegenteil; sie ist nur das a priori des Dramas und es kann ibr in ihm nirgends eine unmittelbare Rolle zukommen und sie mu§ doch - immanent — in ihm sein, auch in allen seinen

winzigsten Details.

Was wir so, ganz kurz, mit Hilfe der Formanalyse als dramatische Weltan-

schauung herauskristallisierten, offenbart sich in der unmittelbaren Wirkung

als die Atmosphire, als die Einheit des Tons. Sie ist die stillschweigende Bestimmung dessen, was in der Welt, die vor uns liegt, mdglich und unméglich ist; inwiefern und wie etwas mdglich ist. Sie ist die unsichtbare Grenze und der Rahmen der Handlung, der Gefiihle und der Gedanken, sie

zerlegt die LebensiuSerungen der vorkommenden Menschen in unmittelbar nicht wahrnehmbare Takte, sie fa8t sie in Rhythmen. Die Weltanschauung

ist die mystische, immanente Einheit der Welt des Dramas, die nur durch das Ganze des Dramas unmittelbar zum Ausdruck kommen kann, deren Vorhandensein beim Aufnehmenden desto weniger bewuft wird, je vollkomme-

Grundsatzfragen

32

ner das Drama gelést ist, aber bei deren Fehlen oder Inkonsequenz auch die

technisch perfekteste Komposition auseinanderfillt. Vielleicht kann eine

kurze Analyse der »Antigone« die Richtigkeit des Gesagten am klarsten bestitigen. Sowohl die Stellung Antigones wie auch die Kreons ist am Anfang des Stiickes, ganz bis zum Erscheinen von Tiresias, die mdglichst reinste, sich mit gréSter tragischen Kraft entgegenstehendste. Kreon muf

unter der Wirkung von verschiedenen, aber gleichstarken moralischen Be-

fehlen die Beerdigung von Polynikes verbieten; Antigone muf ihn trotzdem

beerdigen, da jedoch Kreon jeden zum Tode verurteilen muf, der sich seinem Befehl widersetzt, mu8 er seinen Befehl trotz allem an Antigone

vollziehen, nachdem es sich herausstellte, daB sie es war, die gegen den

Befehl verstie8. Wie es auch der Chor ausdriickt: »Fromm sein dient zu frommem Werke, Aber Macht, was Machtes Amt ist, Duldet nicht, was sie bestritte:

Dich zerstért eignen Trachtens Starrsinn.«"?

Wenn Tiresias erscheint, verindert sich alles. Es stellt sich heraus, da& Kreon

nicht recht hatte, als er die letzte Ehre fiir Polynikes verbot, daf er nicht recht hatte, als er Antigone verurteilte, lebendig begraben zu werden. Und der Chor iiberzeugt auch Kreon, er will seine Fehler gutmachen. Es ist aber

schon zu spit. Antigone starb und Hamon richtet sich selbst iiber ihrem

Leichnam. Was ist somit aus der Tragédie geworden, die am Anfang so schén und gro8 war? Sie wurde eine Kette von ungliicklichen Zufallen. Keine — weder eine aufere, noch eine innere - Notwendigkeit zwang Tiresias dazu, sein Wort erst dann zu erheben, als es schon zu spat war. Und wenn er

ein wenig friiher gesprochen hitte, gibe es nicht einmal einen Konflike, geschweige denn eine Tragédie, und so ist es auch nur ein unglicklicher

Zufall und nicht die notwendige Folge von Kreons und Antigones Lage, daf

Antigone tot aufgefunden wird. Und wenn man sich hier nicht verspatet

hatte, wo wire dann die Tragédie? Paul Ernst sieht diese Sache in seiner

Antigone-Analyse so, und er versucht die Einheit so herzustellen, daf er die

Notwendigkeiten der Taten in die Seele Kreons hineinverlegt, indem er sagt, da8 ihm die Notwendigkeit der objektiven Pflicht fehle und stat dessen nur Halsstarrigkeit, Mangel an Einsicht und Vermessenheit vorhanden seien. Schon dadurch verlor das Drama an Notwendigkeit, da8 die Katastrophe nicht nur durch objektive Situationen, sondern durch subjektive Eigenschaf-

1 Das Drama

33

ten heraufbeschworen wurde (»durch die Umsetzung des Notwendigen in das Gewollte« sagt Ernst)’, aber die Frage ist, ob man das aufrechterhalten

kann. Es ist fraglich, ob nicht unser stindiger Wunsch nach immanenter

Einheit den Kreon der ersten Hiilfte des Stiickes, unter der Wirkung der

Tiresias-Szene, nachtraglich zu einem hochmiitigen Tyrannen macht, dessen Recht zuerst niemand in Zweifel zieht, der auch selber tief tiberzeugt ist, da8

die Aufrechterhaltung des Staates die Bestrafung der Ungehorsamen und die

Austilgung der Anarchie erfordert. So wiirde die Tragédie in zwei ungleiche

Teile zerfallen: der eine wire ein schner, tief begriindeter, grofer tragischer Konflikt und der andere die Schicksalstragddie, die durch ungliickliche Zufalle zustande kam. Der Grund dieses Zerfalls ware ein rein weltanschauliches Nicht-zu-Ende-gedacht-Sein (die Tiresias-Szene ist von allen anderen

Gesichtspunkten her betrachtet sehr gut), es wire das Nicht-zu-Ende-gedacht-Sein der moralischen Berechtigung von Kreons Haltung.

Das Drama ist durch seine formale Paradoxie zu paradoxen Wirkungen

fahig: es bringt die tiefsten Abstrakta sinnlich zum Ausdruck, es zeigt die strengste Dialektik in konkretem Geschehen. Weil sein Ziel die Massenwir-

kung ist, driickt das Drama primitivere, weniger verfeinerte und komplizier-

tere Gefiihle aus als die anderen literarischen Gattungen und doch ist es unter ihnen die abstrakteste, doch steht es der Philosophie am nichsten. Das

Wesen der Wirkung des Dramas besteht darin, da& es mit Hilfe von unmittelbaren Symbolen die tiefsten Lebensprobleme in grofen Massen bewu8rmachen kann, daf es die tiefsten Lebensgefiihle in sehr verschiedenen

und ~ durch das In-der-Masse-Sein — primitiver gewordenen Menschen

erwecken kann. Daf diese Wirkung bis zu mystischen Ekstasen gesteigert werden

kann, erklirt am klarsten, daf das Drama aus religiésen Wurzeln

hervorwuchs. Es erklirt auch, daf einerseits das Gefiihl, die Weltanschau-

ung den Boden der Religion verlassen muf oder da& sie ihre naive Sicherheit

verlieren muf, damit ein Drama zustande kommen kann; andererseits muSte

sie aber aus dem starken Fanatismus des religidsen Gefiihls noch vieles im wesentlichen, wenn auch nicht formal, bewahren, damit das Drama noch

méglich ist. Das Drama ist die Dialektik der in Konflikt geratenen Willens-

krifte und das Drama ist nur dann méglich, wenn der Dichter und sein

Publikum das Leben in dieser Form empfinden. Solange die Gefiihle noch nicht problematisch sind (es entsteht kein Konflikt zwischen ihnen, sie

stehen nicht einander gegeniiber, sie wurden als Willenskrifte, die durch

gleiche Notwendigkeiten getrieben sind, noch nicht dialektisch) und die Dialektik zunichst intellektuell ist, solange kann es noch kein Drama geben.

34

Grundsatzfragen

Und es kann dann kein Drama mehr geben, sobald der Proze8 der Auflésung so tief ist, sobald die Willenskrifte mit sich selber so weit entzweit sind,

da sie einander nicht mehr gegeniiberstehen, wenn also die Dialektik nur

noch intellektuell ist. Ganz kurz gesagt: die scholastische Dialektik ist noch nicht dramatisch und die sophistische ist es schon nicht mehr; das Mysterium ist noch kein Drama und der platonische Dialog ist es nicht mehr.

Die paradoxe Verschmelzung des Konkreten und des Abstrakten, woriber

wir bis jetzt bei der Grundlegung des Dramas sprachen, zieht sich natiirlich durch alle detailtechnischen, dramaturgischen Fragen. Das Wesen der Paradoxie besteht darin, da& lebendige, spontan handelnde Menschen in den

spréd abstrakten Rahmen hineingestellt werden. scheint es also und im grofen und ganzen ist es auch Leben, das konkrete Element, vom Menschen, vom wire und das abstrakte Element des Dramas sich in

Im ersten Augenblick so, als ob im Drama das Charakter reprasentiert der Situation, in die der

Mensch hineingerat und in allem, was mit ihm geschieht, offenbaren wiirde.

Es ist gewif, da& die Handlung (hier im weitesten Sinne genommen) symbolisch und konstruiert ist, sie ist also méglichst einfach, klar, durch-

sichtig, sie ist nur da, die dialektisch formulierte Weltanschauung auszudriicken. Und der Mensch ist — ich glaube das muf ich nicht detaillieren

- immer augenblicklich, irrational, kann sich in Abstraktionen nicht einfiigen, er darf sich sogar, nachdem er die Illusion des Lebens erwecken mu,

auch in keine beliebige Abstraktion einfiigen. Andererseits kann aber auch die Rolle des am individuellsten gezeichneten Menschen im Drama nur die

Reprisentation sein, der dramatische Mensch ist immer ein Typus. Und nachdem spontane Taten die Handlung bilden, kann auch das abstrakte

Vorausdenken diese nicht vor den zahllosen Zufallen des Augenblicks bewahren. Von dem Gesichtspunkt des einen aus betrachtet wird der andere immer irrational sein, nur das ist abstrakt und typisch, wovon wir ausgehen.

Von einer Charakter-Abstraktion ausgehend kann es immer nur ein Zufall sein, ob der Typ sich gerade in dieser und nicht in einer anderen Tat oder Situation offenbart und vom Gesichtspunkt der abstrakten Handlung gese-

hen, muf auch der am starresten stilisierte Mensch voll zufilliger Eigenschaften sein. Nachdem so der Charakter und die Handlung die Resultate

von Kraften entgegengesetzter Richtungen sind, sind ihre Richtungen wieder entgegengesetzt. Ihre Tempi sind einander entgegengesetzt: die Zeichnung des Charakters erfordert Langsamkeit; die Handlung Schnelligkeit. Die Richtungen ihrer Stilisierung sind entgegengesetzt: Breite und Detail-

liertheit erfordert die Stilisierang des Charakters, eine grofe abstrakte

I Das Drama

35

Zusammenfassung die der Handhung. Die Distanzen sind entgegengesetzt,

diese erfordert Nahe, Intimitit, jene die dekorative Monumentalitit der

Vogelperspektive. Aber auch hier noch sind die Elemente der einen bei der

anderen vorhanden, in beiden herrscht nur die eine Seite und unterdriickt die andere — aber nie so sehr, da sie ganzlich verschwinden wiirde. Und beide sind nur vom eigenen Blickwinkel her der vollkommene Gegensatz der anderen, sie sind nur in ihrem Entgegengesetztsein polare Gegenteile. Das Wesen der dramatischen Form ist aber auch hier sinnlich: es schafft in der spontanen Wirkung eine unzertrennliche und nur in der nachtraglichen Analyse wieder zertrennbare Einheit aus der Paradoxie der Elemente. Cha-

rakter und Handlung sind untrennbar: die Handlung ist das Schicksal des Helden

und der Held ist immer identisch mit seinem Schicksal, er wird

gerade in seinem Schicksal wirklich das, was er ist. Charakter und Handlung

sind eins, wie der Tater fiir die primitiv Fiihlenden identisch mit seiner Tat

ist, wie die natura naturans und die natura naturata in der Naturphilosophie eins sind. Die Richtung der Charakterstilisierung, der zugleich konkrete und abstrakte, lebendige und symbolische Charakter des dramatischen Menschen

wird von diesem Verhiltnis bestimmt: der dramatische Mensch ist ein Mensch, der mit seiner Tat identisch ist, es verbleibt nichts in ihm, was seine Tat nicht auslésen wiirde und was nicht seine Tat aus ihm auslésen wiirde; er

ist ein Mensch, der mit der ganzen Flache seines Wesens sein Schicksal beriihrt, in dem es also nichts ~ kiinstlerisch - Unerléstes gibt, nichts, was

seine grofe Begegnung mit seinem Schicksal nicht zu Musik machen wiirde. Der dramatische Mensch ist die Abstraktion des Willens. Dennoch ist es die Situation (also das Handlungselement), die im Drama die Notwendigkeit starker hervorbringt. Die ganze Problematik der Schicksals-

tragddie kann vielleicht — formal, technisch — auf diese Frage zuriickgefihrt

werden: inwiefern herrscht im Drama die Situation tiber das Geschehen? Die technische Aquivalenz des Schicksals (also der sprédesten Notwendigkeit) kann im Drama allein die Situation sein. Wenn man von jemandem sagt, da8

sein Schicksal in seinem Charakter liege, so ist das nur ein Spiel mit den

Worten; dem Schicksal kann nur das einen bestimmten Sinn geben, da8 es von aufen kommt, da8 es vom Wesen des Menschen, von seinem dramati-

schen Wesen, prinzipiell verschieden ist. Das Schicksal setzt natiirlich einen

gewissen Charakter voraus, in dem es sich offenbaren kann und den es sich offenbaren hilft, es ist aber notwendig, da& dieser von ihm verschieden ist,

da8 dieser ihm entgegenkommt und beide nur im mystischen Augenblick der groSen Begegnung eins werden. Die Tatsache selbst, daf sie eins werden,

Grundsatzfragen

36

setzt voraus, daf sie irgendwann verschieden waren. So stellte die Folge, da

das griechische Drama aus der Mythologie hervorwuchs, einen tiefen kiinstlerischen Wert dar und es machte die Stilisierung reiner, da es eine Leidenschaft mit einer Gottheit symbolisierte, die auf den Menschen von aufen wirkte. Somit gab es seinem Schicksalscharakter durch die Personifikation

einen sinnlichen Ausdruck (z. B. Phaedra und Herakles von Euripides; es ist lehrreich diese mit Alfieris ahnlich konzipierter, aber noch nicht psycholo-

gisch ausgedriickter Myrrha zu vergleichen). Der menschliche Wille, der Mensch, wird (wie gebunden wir ihn uns auch vorstellen) immer das Prinzip

der Freiheit, der von ihm ausgehenden Handlung symbolisieren und all das,

was ihm gegeniiberstebt, an dessen Widerstand oder an dessen Angriff diese Kraft gebrochen wird, wird die Notwendigkeit, die ber ihn triumphiert, das Schicksal, symbolisieren. So kann man das dramatische Schicksal ganz

genau nur negativ umschreiben: es ist all das, was den Verlauf des Lebens

irgendeiner Person im Drama beeinfluft und was nicht aus ihrem Charakter entspringt.

Daraus ergibt sich natiirlich auch die Relativitat der GroSe des Begriffskrei-

ses des Schicksals: die seelischen Tatsachen, die psychologischen Motive des einen Menschen sind objektive Schicksale fiir den anderen. Die Situation

— auch wenn sie die gréfte Freiheit bietet- kann dem Menschen des Dramas héchstens die Wahl zwischen zwei Méglichkeiten geben. Das heift, fiir einen gewissen Charakter gibt es bei einer stark geschlossenen Situation

keine Wahl; die Notwendigkeit des dramatischen Geschehens ist vollkommen.

Von

einem

Charakter

ausgehend

(um

es so zu sagen: in einem

luftleeren Raum) sind fiir die Handlung zahllose Richtungen und Intensitaten vorstellbar; so gibt es in einem Drama, das fiir einen Charakter kompo-

niert ist, fiir die Lésung noch sehr viele Méglichkeiten, auch wenn sehr viele Méglichkeiten von den Situationen vernichtet werden; die Suggestion der Notwendigkeit ist viel schwerer zu erreichen. Antigones und Kreons Fall ist dafiir vielleicht das klarste Beispiel. Es gibt in den Charakteren beider eine

gewisse, bis zum Letzten reichende Heftigkeit, keine von beiden ist der reine Typ, den die gegebene Situation erfordert, von keinem der beiden Gesichts-

punkte her ist das Drama rein auf die Situation aufgebaut. Kreon schafft aber fiir Antigone eine fertige Situation; Kreons Charakter ist fiir sie ein objektives Schicksal und nachdem sie nur zwischen zwei Méglichkeiten wahlen

kann, kénnte sie auch ohne die letzte Anspannung ihres Charakters nur das

tun, was sie getan hat; ihre Tragédie ergibt sich nicht aus ihren besonderen

Charakterziigen und das wirkt auch als vollkommen notwendig. Kreon

1 Das Drama

37

schafft sich aber, wie wir es in der vorherigen Analyse zeigten, mit seinem

Ungestiim seine Situation selber und die Komposition auf den Charakter hebt bei ihm die Notwendigkeit dessen, was mit ihm geschieht, auf. Die Wirkung der Notwendigkeit wird im Drama um so starker, je gréfer die

Rolle der Situation (der Handlung) und je kleiner im Verhiltnis dazu die des

Charakters in der Komposition ist. Der offensichtlichste Fall und zugleich der hauptsachlichste Beweis dafiir ist, daf die tiberwaltigendste Wirkung der Notwendigkeit in uns von jenen Dramen erweckt wird, in denen die Situation alles bedeutet, wo schon am Anfang des Stiickes alles geschah und

die Handlung nur aus der Entwirrung der Vergangenheit besteht. So stark ist

hier das Gefiihl fiir die Notwendigkeit, da8 dadurch auch noch die zufilligen Begebenheiten und die augenblicklichen

Charakterziige in ihren Folgen

durch die Kraft des Schicksals norwendig werden. Es geniigt vielleicht, wenn ich mich auf »Kénig Oedipus« und Ibsens »Gespenster«, auf die zwei

berihmeesten Beispiele beziehe. Charakter und Handlung sind aber nur sekundare Ausdrucksmittel des

Dramas. Man kénnte fast sagen, da wir tiberhaupt nur mittelbar von ihnen Kenntnis nehmen, wir sehen und héren unmittelbar nur Dialoge. So symbolisiert die unmittelbare Erscheinungsweise der Form wieder die Dialektik ihres Wesens. Der dramatische Dialog ist Thema und Behandlung, Stoff und

Form in einem und zugleich - ich verwende hier die Definition von Julius

Bab" — und aus diesem paradoxen Widerspruch ergeben sich alle formalen

und stofflichen Forderungen, die man an sie stellen kann. Und die Form und

der Stoff stehen fiir den Intellekt wieder in einem unvereinbaren Gegensatz

zueinander: der Stoff ist das lebendige Leben, die unmittelbare Manifesta~

tion der Seele des Menschen; die Form ist der tiefe weltanschauliche Dualismus, die Manifestation der dramatischen Dialektik an einem Punkt.

Somit setzen die stofflichen Méglichkeiten des Dialogs die obere Grenze

seiner Stilisiertheit fest: die maximale Ausdrucksméglichkeit der betreffen-

den Person innerhalb der Grenzen, die von der gegebenen Welt gezogen worden sind. Die formale Anforderung setzt seine untere Grenze fest: das

Maximum an Symbolik innerhalb dieser Grenzen. Der Dialog muf das ‘Wesen des Menschen, seinem dem Schicksal zugewandten und sich mit ihm beriihrenden Teil in jedem Augenblick mit der AusschlieBlichkeit geben, die

die Lebensillusion eben noch zulaft. Dieser Teil des Wesens des Menschen wird selbstredend nicht vom

»Leben«, sondern von seinem Leben in der

inneren, in sich geschlossenen Welt des gegebenen Dramas bestimmt. Das

Pathos des Dramas ist z. B. keine Erhabenheit gegeniiber der Umgangsspra-

Grundsatzfragen

38

che, denn auch sie kann pathetisch sein und auch in der feierlichsten Sprache kann Pathos fehlen; aber die Symbolik des Dialogs ist eine vollkommene Konzentration, eine solche Stilisiertheit der Wdrter des sprechenden Men-

schen, da8 ihre Bilder den ganzen Menschen und sein ganzes Schicksal in

sich fassen. Aber: das Pathos des Dramas kann nur den Menschen und sein Schicksal (bzw. alle immanent hierher gehérenden Typen) in sich fassen. Uber eine gewisse Erhabenheit des Allgemeinen hinaus werden die Kreise

der Begriffe so weit gefa8t sein; die Bilder fassen soviel in sich, da sie nichts Wirkliches und Bestimmtes mehr enthalten; sie sind aur noch intellektuell und nicht mehr sinnlich. Das ist die ~ formale — obere Grenze der Symbolik

des Dialogs, die, ohne daf es begrifflich notwendig ware, in der Rege! mit der oberen Grenze, die der Stoff erlaubt, zusammenfallt (von dieser Grenz-

ziehung hangt die Méglichkeit des Gebrauchs der Sentenz im dramatischen Dialog ab). Das Drama besteht nur aus Dialogen, was es aber ausdriicken muf ~ in

seiner letzten Analyse — liegt sowohl diesseits als auch jenseits der Kreise der Ausdrucksméglichkeiten des Dialogs. So ist die tiefste und letzte Paradoxie

der dramatischen Technik vielleicht das: das Drama kann alles nur durch die Psychologie ausdriicken und alles ist nur ein psychologischer Ausdruck; wir sahen schon, da& das willkiirlich und ungeniigend sein mu. Dieselbe Frage von einer anderen Seite her betrachtet: das Wesen der dramatischen Form ist die Geschlossenheit, doch liegt die Abgeschlossenheit in sich und ihre letzte

Grundlegung auferhalb des unmittelbaren Kreises dieser geschlossenen Welt. Im Hinblick auf die stoffliche Seite des Geschehens: das Drama kann

durch die Darstellung soziologischer Geschehen ganz an der Grenze der mystischen Ekstasen stehende Gefiihle auslésen, die aber doch immer nur durch die Seele der vorhandenen Menschen ausdriickbar sind, die nur als

ihre seelischen Tatsachen empfindbar sind. Die Verbindung der Tatsachen

ist somit scheinbar empirisch, (die einfache Folge der Tatsache aus der

Tatsache) und psychologisch, ihrem Wesen nach ist sie aber apriorisch und

geht iiber das blo& Psychologische hinaus. Der Begriff des Zufalls - der

scharfste Fall des Erwachens aus der dramatischen Illusion - kann nur so interpretiert werden. Zufillig ist all das, was nur pragmatisch begriindet ist, bei dem wir, wenn wir die Kette der Ursachen verfolgen, nicht zum unsichtbaren, zum immanenten Zentrum gelangen, sondern bei irgendeiner einfachen

Tatsache

stehenbleiben

miissen,

aus

der sich der als zufillig

empfundene Fall ergibt - und von dem wir im Leben auch glauben wiirden,

da er sich aus ihr ergibt ohne etwas Stérendes daran zu finden. Die durch

1 Das Drama

39

die Pest bedingte Verspatung von Bruder Lorenzos Brief, die die unmittelba-

re Ursache von Romeos und Julias Untergang ist, ist ein klares Beispiel dafiir. Deswegen ist die Intrige undramatisch, denn sie ist nichts anderes als das bewufte Nacheinander solcher rein pragmatischen Geschehen. Sie la8t

teils wegen ihrer Pragmatik, teils dadurch, da8 sie mit ihrer Bewuftheit die Geschehnisse zu sehr intellektualisiert keine wirkliche dramatische Wirkung

entstehen. Da man aber rein aus dem Charakter, nur mit Hilfe der Psychologie nicht motivieren kann, glauben wir in den vorangegangenen Ausfithrungen schon geniigend bewiesen zu haben. Das Wesen der dramatischen Stilisierung ist, wenn man alles zusammenfa&t, das folgende: man mu ein Abenteuer aus dem Leben eines Menschen so darstellen, da dies das ganze Leben dieses Menschen bedeutet, daf dieses isolierte Geschehen ein in sich geschlossenes, vollkommenes

Ganzes, das

ganze Leben sei. Von hier ausgehend kénnen wir nun schon ~ mit Hilfe von positiven und negativen Begrenzungen - dem dramatischen Konflikt, dem Charakter und der Situation, deren Begriffe bis jetzt nur formal be-

stimmt und mehr oder weniger leer waren, einen ganz bestimmten Inhalt geben. Aus der Forderung der Geschlossenheit ergibt sich die Unauflésbarkeit des

Konfliktes, ergibt sich die Tragédie, auf deren notwendige Folge aus der innersten Form des Dramas wir schon an mebreren Stellen hinwiesen. Einerseits deshalb, weil, wie wir damals sagten, sie nur aus dem villigen

Ausschépfen der maximalen Méglichkeiten der Geschlossenheit zustande

kommen kann und das kann ~ nachdem von zwischenmenschlichen Konflikten die Rede ist, nur zur Tragédie fiihren. Weiterhin, weil der Begriff der Geschlossenheit selbst auch die Vorstellbarkeit eines eventuell anderen Lésungsweges, als den, den das Drama gibt (hier fiihrt die Forderung der

Notwendigkeit in diese Richtung), ausschlieft. Eine Lésung ist aber - nachdem die dramatische Form die Dialektik der sich mit maximaler Kraft gegeneinander richtenden Kriafte ist - nur dann vorstellbar, wenn der Kampfende untergeht; denn der Sieg oder die Unentschiedenheit haben immer tausendfiltige Méglichkeiten. Wenn also die Form einen einzigen Weg fordert, so kann dies nur der zur Tragédie fiihrende sein. Dieser Weg

fabrt iiberdies deshalb zur Tragédie, weil fiir die Geschlossenheit - daf es mit dem Ende des Dramas auch ein Ende fir alles Innerliche und AuSerliche gibt - kaum ein anderer sinnlicher Ausdruck vorstellbar ist, als der Tod oder mindestens eine so grofe Erschiitterung, die dem ganzen Leben der betref-

fenden Person ein Ende setzt. Nur durch den Tod sind alle Tiren des

40

Grundsatzfragen

Dramas tiber das Ende hinaus in Richtung auf die Zukunft verschlossen, nur

so werden alle seine aus dem Leben herausgerissenen Faden nach innen

gekehrt, nur so wird das Drama zu einem Kreis, zu einer Schlange, die sich in

ihren eigenen Schwanz bei8t. Denn gerade mit Hilfe der Motivation kann

man alle Fiden der Vergangenheit in den Kreis der Geschehen innerhalb des Dramas einbeziehen und villig mit dessen Welt verschmelzen. Fir die Zukunft gibt es keine solchen Mittel und nur die Tragédie kann sie endgiiltig abschlieSen. So empfinden wir die letzten Szenen der Shakespearetragédien

~ wenn er sie wirklich aus Naivitat so schrieb — seine grofen Hinschlachtungen, aus denen nie ein anderer Mensch lebendig fliehen konnte, als blof der Zuschauer

des Dramas,

als der, der nur durch das Drama spazierte, der

eigentlich nicht im Drama lebte und nur Hintergrund der Geschehnisse war,

doch tief kiinstlerisch. Das gro&e Massaker ist das Symbol des grofen Weltzusammenbruchs, der gerade der Gegenstand des Dramas ist: das Ende des Dramas bedeutet auch das Ende jener Welt. So bleiben nur Horatio und Fortinbras am Ende von »Hamlete, so bleiben nur Kent und Edgar am Ende von »Kénig Lear« am Leben. Und wenn auch die untragischen Ausginge der

griechischen Tragédien durch die Worte von Gottern abgeschlossen worden sind, empfinden wir sie nicht mehr als abgeschlossen und heute gibt es auch

keine géttlichen Erscheinungen mehr, deren Befeble den tragischen Schlu8 ersetzen kénnten. Der letzte Zusammenhang zwischen Drama und Tragédie ergibt sich aber doch aus dem innersten Wesen des Dramas, er ergibt sich daraus, da& das Abenteuer, das seinen Gegenstand bildet, das ganze Leben bedeutet, und das ist nur beim tragischen Menschen und auch nur in seiner

tragischen Lebenslage zu erreichen. Denn iiberall anderswo ist das ganze Leben nur ein Ganzes: eine jede Sache — und hat sie auch fiir sich genommen

eine noch so grofe, schéne und starke Wirkung — hat nur soweit eine Bedeutung, als sie das ganze Leben entwickelt oder behindert; sie ist fiir sich

genommen nur eine Episode, ein Teil, sie erhalt nur in ihrer Beziehung zum Ganzen eine wirkliche Bedeutung. Das tragische Erlebnis ist das einzige, das, obwohl es nur ein Teil vom Ganzen ist, doch das Ganze bedeutet; es ist das

einzige, was das Symbol fiir das ganze Leben sein kann. Der tragische Mensch ist die einzige Menschenart, die durch ein’ Abenteuer seines Lebens

symbolisierbar ist.

Die Form erfordert - wie wir sahen — den tragischen Menschen als geeignetsten Stoff des Dramas und jetzt kénnen wir vielleicht, indem einige wichtige Typen ausschliefen (so genau es begrifflich méglich ist), Wesen des dramatischen Menschen umschreiben. Formal: der Mensch,

den wir das der

1 Das Drama

4r

sich noch entwickelt, der noch auf dem Weg zu etwas ist oder bei dem die Entwicklung das Leben selber ist (Goethe), kann nicht dramatisch sein; aus

dem einfachen Grund, weil fiir ihn alle einzelnen Geschehen nur ein Stadium, eine Episode sein kénnen. Ganz zu schweigen von der technischen Unausdriickbarkeit der Entwicklung, das hei&t davon, da8 die wichtigsten

Teile dieser Entwicklung innere, ausschlieflich psychologische Verschiebun-

gen und im Drama nicht ausdriickbar sind, — was sich, wie ich glaube, aus

der obigen apriorischen Unméglichkeit ergibt. Und auch der Weise kann

nicht dramatisch sein, fiir den alles nur soweit symptomatisch ist, da8 die

Taten ihn schon zu nichts mehr verpflichten, fiir den - aus einem anderen

Grund und aus einer anderen Perspektive — alle einzelnen Geschehen auch nur Episoden sind und fiir den sich der ganze Sinn des Lebens, wenn er ihn

berhaupt als ausdriickbar empfindet, nie in einer Handlung offenbaren kann. Ebenso ist auch der unerschiitterlich religisse Mensch vom Drama

ausgeschlossen, denn ihn kann nur rohe aufere Gewalt niedertreten und deshalb ist mit seinem Tod - genauso wie bei dem Weisen — sein Leben noch nicht zu

Ende,

sein Tod

ist kein Abschlu&,

keine Tragédie.

Das ist die

Ursache der Unfruchtbarkeit der Mirtyrertragidie. Die » ... Unméglich-

keit des christlichen Theaters ist ... Somit ist Hebbels Dialog atmosphirenlos, und die tiefsten seelischen Ver-

schiebungen, die feinsten, leisen Vibriationen miissen auferhalb des Dialogs bleiben. Sie werden zwar ausgesprochen, ihre Wirkung entsteht aber nicht durch zu starke und auffillige Worte; sie gelangen eher trotz ihrer Hilfe als durch sie zu uns. Natiirlich ist die Atmosphirelosigkeit nicht iiberall von

Nachteil. Das Atmosphirische bringt die Dinge immer nahe, es fat iiberall

die auseinanderstrebenden Gegensitze in eine Einheit, bringt iiberall scharfe Dissonanzen in Einklang. Aber das wahre Dramatische wird auf der Dissonanz, auf der Unauflésbarkeit gewisser Dissonanzen aufgebaut. Deshalb bedeuten die groSen Gewinne der Atmosphire fiir das Drama zugleich auch

grofe Gefabren. Ihr Wert liegt darin, da8 sie die Menschen einander médglichst nahe bringen, was die Dissonanz ihrer Situation noch vertieft; sie verwandeln das ewige »nicht« in ein »doch nicht«. Ihre Gefahr ist, da sie sie

ganz auflésen, und alles Dramatische zerfillt in idyllische, satirische oder

elegische Lyrik. Hebbel wurde von dieser Gefahr nie bedroht. In seiner Menschenbetrachtung selbst gab es viel Nicht-Atmosphirisches, mit spréder Ausschlieflichkeit dramatisch Tragisches. Wenn auch die zu scharf gezogenen Umrisse in den Beziehungen der Menschen auf den Wegen zum

Tragischen oft dissonant wirken, verleiht dies den Gipfelpunkten eine fir andere unerreichbare

Szenen

zwischen

Monumentalitit.

Judith

und

Ich beziehe mich auf die groSen

Holofernes,

auf das Gegeniiberstehen

von

Vater und Sohn in »Agnes Bernauer«, von Meister Anton und dem Sekretir

238

Die beroische Epoche

am Ende von »Maria Magdalenae, auf die »Nibelungen«-Tragédie, haupt-

sichlich auf deren dritten Teil. Und das Gegeniiberstehen von Herodes und Mariamne, von Kandaules, Gyges und Rhodope ist voll solcher unvergeBlich

monumentaler Szenen. Ich zitiere nur wegen der Kiirze und vielleicht weil gerade in seiner Kiirze am paradigmatischsten, den bekannten, vielzitierten Dialogteil aus der Herodes-Tragédie:

Mariamne: Herodes:

Mariamne: Herodes:

Leb wohl! Ich weif du kebrst zuriick!

Dich tédtet (Sie zeigt gen Himmel) der allein!

_— So klein die Angst?

So grof die Zuversicht! Die Liebe zittert! Sie zittert selbst in einer Heldenbrust!

Mariamne: Die meine zittert nicht!" Er vermochte dennoch nicht — auch im Ausdruck nicht — die alles auflésende

Wirkung des Relativismus zu vermeiden, nur eine Form konnte er ihm noch nicht geben. Er erblickte und erkannte klar die Wirkung des modernen Lebens, die die Tragédie vernichtet. In seinem offenen Brief an Rétscher, der als Beilage zum »Trauerspiel in Sizilien« erschien, spricht er iiber die Tragikomédie wie von einer Gattung, die man dann brauche, wenn ein tragisches Geschick in untragischer Form auftrete. Ein solches Schicksal sei die Mischung des Furchtbaren mit dem Barocken, es sei licherlich und furchtbar zugleich. So kénne natiirlich sein Ausdruck auch nicht die reine kiinstlerische Form sein. Ebenda bringt er seine Befiirchtung zum Ausdruck, da viele Erscheinungen des heutigen Lebens, wie wichtig sie auch vom anderen Gesichtspunkt her seien, sich nur fiir eine solche Bearbeitung eignen wiirden.'” Damit ist aber nur die eine Seite der Lockerung von allem gekennzeichnet: Nachdem die sich entgegenstehenden Krafte auch ihre subjektive Berechtigung verloren haben, werden sie zu minderwertig fiir die Tragédie; und der Strudel, der die Menschen verschlingt, verdient keme Menschenopfer. Die Gefahr, die damit einhergeht, vermied Hebbel teilweise

durch die Distanzierung seiner Themen; obwohl auch bei ihm eine Spur dieser Situation

hie und

da vorhanden

ist. In ihren Folgen

ist es viel

wichtiger, da8 die Betrachtung, nachdem sie alles nur als subjektiv berechtigt anerkannt, kein Stehenbleiben, keinen fixen Punkt in der Motivation erlaubt,

besonders nicht in der psychologischen. Sie kennt keine ungebrochenen, jenseits aller Diskussion stehenden, somit jede Analysiertheit ausschliefenden Grundgefiihle mehr. Sie hat nur noch die pathologisch ins Individuelle reichende Zuspitzung der seelischen Begriindungen zur Folge, und dadurch

V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragidie

239

hebt sie die Monumentalitat der primitiven und nicht analysierten menschli-

chen Beziehungen auf. Sie zwingt den Dichter, die Menschen und die Dinge dort mit vielen feinen Ursachen in Zusammenhang zu bringen, wo eine einfache gro8e Beziehung geniigen wiirde. Mit einem Wort: Die Psychologie hebe die dekorative Gréfe der menschlichen Beziehungen auf oder schwicht sie zumindest ab. Die zwei Seiten der Gefahr steigern hier bei Hebbel gegenseitig ihre Gefahrlichkeit: Die Distanzierung zwingt ihn zum Aufsuchen von Ausnahmeverhiltnissen, aber deren Begriindung steigert nur die Schirfe und alles in Teile zerlegende Wirkung seiner Anschauung, die ‘iberall Probleme sieht. In »Gyges«, in seiner in jeder Hinsicht am besten gelésten Tragédie, ist am deutlichsten sichtbar, welch gekiinstelte Grundlagen und Zusammenhinge dazu nétig sind, damit die fiir ihn notwendige tragische Atmosphire entsteht. Selbst dort, wo die erhabene Einfachheit seines Themas ihn am stirksten gebunden hat, wo er eigentlich nichts anderes machen wollte, als das episch Gewaltige ins Dramatische von

gleicher Wirkung umzusetzen (»Nibelungen«), selbst dort verfeinerte und

schwichte er noch mit seinen psychologischen Begriindungen die primitive

Monumentalitat des Epos ab; was die feinfiihlige Analyse Paul Ernsts, besonders hinsichtlich der Gestalt Hagens aufgezeigt hat.'* Hebbel verspiirte diese Gefahr oft selbst und vielleicht deswegen sprach er so oft mit solch scharf verurteilenden Worten iiber Schiller, weil er gespiirt hat, da er ihm

wegen Eigenschaften unterlegen ist, die eigentlich seine Uberlegenheit begriinden miiften: wegen seiner tieferen Problembetrachtung und wegen

seiner gréReren Fahigkeit, Menschen zu schaffen. So dachte er nach dem Lesen der »Jungfrau von Orleans« an eine andere, menschlichere, tiefere als

die Schillers;'” so seszte er dessen dekorativem »Demetrius« seinen eigenen

psychologisch und geschichtlich tiefer und vielseitiger motivierten Deme-

trius entgegen. Aber das erstere schrieb er nie und »Judithe, die fiir ihn mehr

oder weniger geeignet war, erreicht als Ganzes nie Schillers Monumentalitit. Am Ende seines Lebens hatte er auch den Gedanken, ob Schillers Deme-

tius-Auffassung nicht doch richtiger als seine sei.’ Das tiefste Stilproblem Hebbels ergibt sich dennoch aus dem Zentrum seines

Wesens, aus seiner gréften kiinstlerischen Starke. Diese Dissonanz ist tragisch, besonders im Sinne von Hebbels Auffassung des Tragischen, und er stellte das auch selbst immer als den gréften Fehler seiner Dramen fest. Er sah natiirlich nur die Folgen: »Meine Dramen haben zu viel Eingeweide: die meiner Zeitgenossen zu viel Haut«'*! - schreibt er einmal. Ein anderes Mal

fragt er sich, ob die Beziehung zwischen der Idee und dem einzelnen

240

Die heroische Epoche

Menschen nicht zu stark sei; ob es notwendig sei, alle Menschen und alle

Situationen unmittelbar aus der Idee abzuleiten.'? Wilhelm von Scholz hat

als allererster ganz scharf das Problem erblickt. Er schreibt, da in Hebbels Weltanschauung die Tragédie frither vorhanden sei als das Drama.’ Je

tiefer Hebbel also das tragische Problem sieht, um so weniger dramatisch

notwendig sieht er es. Und weil er es mit allen méglichen Mitteln versinnbildlichen will - nicht nur mit den dramatischen — sprengt er dadurch nicht nur einmal das Drama; ohne diese Bemithung wire dieses Gefiihl natiirlich

aus dem Drama hervorgewachsen. Die Tragédie ist Gipfelpunkt des Dramas, das vollkommene Drama kann nur eine Tragédie sein, und die tragischen Gefiihle haben keine wahrhaftigere Form als die dramatische. Ja, aber sie treten doch auch nicht-dramatisch auf; oder vielleicht genauer: der Stoff der

tragischen Dialektik kann auch so beschaffen sein, da& er in kein Drama hineinpa&t. Das tragische Gefithl druchdringt das Drama eigentlich dennoch

immanent,

es ist dennoch

das

»Ding

an sich« im

Gegensatz

zu dessen

Erscheinung. Und es ist eine Konzeption des Tragischen vorstellbar, die nur eine Manifestation des dramatisch Tragischen ist; die sogar im Inhalt, an

Gewicht und Bedeutung nicht einmal die gréSte, wenn auch formal am geschlossensten ist. Die Betrachtung des Tragischen war bei den romantischen Philosophen und auch bei Hebbel in vieler Hinsicht ahnlich. Nicht

ganz, denn bei ihm fielen Drama und Tragédie im wesentlichen doch zusammen: die Dialektik von allem erschien doch in der Form der Dialektik

der einander gegeniiberstehenden menschlichen Willenskrafte. Die erstere befand sich aber doch nicht innerhalb des Dramas, sie war nur die einzige Ausdrucksweise der anderen Dialektik: des a priori aller Dramen, der

ganzen Welt. Dadurch vertieft sich alles Tragische unendlich; diese An-

schauung bot Hebbel die Mdglichkeit, die Problematik anderer Dichter nicht einmal als Problem zu empfinden. Aber gerade infolge der Vertiefung des Wesens der grofen Notwendigkeit wird auf der Oberfliche alles willkiirlicher. Hier gibt es gewissermafen doch eine dhnliche - wenn auch in den Details

verschiedene - Beziehung

zwischen

ihm

und

den

anderen,

wie

tiberhaupt zwischen dem alten und dem neuen Drama. Mit je stirkerer und unwiderlegbarerer Gewifheit das Tragische als Ziel von Anfang an gegeben

ist, desto weniger ist dessen pragmatische Begriindung wichtig, je mehr es

das a priori von allem ist, desto weniger ist der Fall, in dem es sich offenbart,

entscheidend. Denn es wiirde sich in jedem Fall auf die gleiche Art und Weise offenbaren und in jedem Fall kénnte sich ohnehin nur das offenbaren. Die tiefe Erlebtheit, das Kosmischwerden des Gefihls fiir die Tragédie, da

V Hebbel und die Grundlegung der modernen Tragédie

24

das, worin es sich offenbart, entweder jenseits der Grenzen liegt, die der

Seoff des Dramas setzt (Byron: »Kain«, »Manfred«) oder sich zu einem

vollig beliebigen Fall voller Zufille verkniipft - denn es ist ohnehin gleich,

von welchem Fall die Rede ist - und sein rein lyrischer Ausdruck ein nicht dramatisches Geschehen umrahmt (Swinburne: »Atlanta in Calydon«): das

macht die Tragédien der grofen englischen Lyriker undramatisch. Vielleicht

sah niemand Maria Stuart tiefer und tragischer als Swinburne und es gibt dber sie keine reinere Tragidie als die Grundlegung, aus der dieses Drama entstand. Das Drama selbst ist voller Zufille und Willkiirlichkeiten, und man

muf8 alles, was dort geschah, vergessen, damit die schottische Konigin wieder

in einem reinen Licht ihrem Schicksal gegeniiber vor uns steht. Bei Hebbel sind natiirlich die Beziehungen enger. Bei den englischen Lyri-

kern ging bereits alles Dramatische verloren, bei ihm offenbart sich all das in

den Stildissonanzen einiger gewaltiger Dramen. Und dennoch: es gibt fast in allen seinen Dramen viel Willkiirlichkeit in der Handlungsfiihrung, eine

Menge Dinge, von denen man absehen muf, damit nur die Gesten des Einander-Gegeniiberstehens vorhanden bleiben, in denen die Tragik und

Dramatik unwiderstehlich gro8 ist. Nicht einmal dramatische Momente k6nnen ein wirkliches Drama zustande bringen. Wir miissen uns noch auf einen anderen grofen englischen Lyriker beziehen, der nicht nur die Musik der kosmischen Tragédien hérte, sondern vor dem sich die Tragik der menschlichen Schicksale in wirklich menschlichen und oft in wirklich dramatischen Augenblicken dffnete. Wir miissen uns auf Robert Browning

beziehen, der aber doch nie imstande war, ein echtes Drama zu schreiben.

Kassner nennt, wenn auch nicht ausdriicklich, auch die Ursache dafiir. »Er war nie fertig«, schreibt er iiber ihn, und iiber seine Worte schreibt er, daf er

dreimal soviel Verse brauchte, um etwas zu erzahlen als alle anderen; daf er es immer so empfunden habe, daf er das wirklich Wichtige noch nicht gesagt hatte und noch ein Vers nétig sei, um es zu sagen und dann noch einer und - es bleibe noch immer etwas ungesagt; da seine Verse Zimmer seien, deren Tiren offengeblieben sind, weil Browning sie nur durchlaufen und nicht in ihnen gewohnt habe.'™ Browning sieht seine Menschen in einer entscheidenden, symbolischen, alles umfassenden Situation, also dramatisch. Er spiirt aber, da& das noch immer nicht dieses All-Umfassen ist, das ihm vor-

schwebte, da& das, was er gab, hinsichtlich des grofen kosmischen Dramas doch nur ein Fall blieb, noch nicht dramatisch wurde. Und deshalb ersticken alle Méglichkeiten des Dramatischen an diesem Punkt in einem Wort- und

Versschwall und lassen alles andere leer. Hebbel empfand - vielleicht aus

Die heroische Epoche

242

sehr ahnlichen Griinden — gerade entgegengesetzt und schrieb einen Dialog, der den entgegengesetzten Stil hatte: »Ich bin immer gleich zu Ende