Topik des Sonetts: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte 9783484366381, 9783484970946

The study combines a general theory of the history of literary genres with a history of the sonnet from the Middle Ages

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German Pages 530 [532] Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
1. Universalistische Aspekte
2. Soziale Aspekte
3. Literarische Historizität
1. Das Sonett als Stanze: Die mittelalterliche Tradition
2. Das epigrammatische Sonett der Frühen Neuzeit
3. Topik des deutschen Petrarkismus
4. Sonett als Lied in Aufklärung und Romantik
Schluss: Zur Historizität des Sonetts
Backmatter
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Topik des Sonetts: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte
 9783484366381, 9783484970946

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Frhe Neuzeit Band 138 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Thomas Borgstedt

Topik des Sonetts Gattungstheorie und Gattungsgeschichte

Max Niemeyer Verlag Tbingen 2009

n

Meinen Eltern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-36638-1

ISSN 0934-5531

 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Druck und Einband: Hubert & Co., Gçttingen

Inhalt

Einleitung ................................................................................................ 1 2 3

1

Das Sonett als exemplarische Gattung ........................................ 1 Theorie historischer Mediengattungen ........................................ 7 Historische Gattungstopik des Sonetts ........................................ 13

ERSTER TEIL Theorie medialer Gattungen ..................................................................

19

1

Universalistische Aspekte ...........................................................

21

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Historische Gattungstrias und Redekriterium ............................. Dimensionen der Kommunikation .............................................. Aussagemodi, Schreibweisen, poetogene Strukturen ................. Mediencodes und Medienkanäle ................................................ Die Medialität der Literatur ........................................................

21 27 30 36 40

2

Soziale Aspekte ..........................................................................

50

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

50 55 59 63

2.6 2.7

Die Sozialität der Gattungen ....................................................... Textsorten und Texttypen ........................................................... Kommunikative Gattungen und Diskurstraditionen ................... Drei Hinsichten der Sozialität von Gattungen ............................ Gebrauchsformen, Kommunikationsgattungen, Mediengattungen ........................................................................ Ideologien der Gattung ............................................................... Der Wert der Gattung .................................................................

3

Literarische Historizität ..............................................................

86

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Die rekursive Bestimmung der Gattung ..................................... 86 Historischer Ort und rekursiver Index der Gattungen ................. 90 Intertextualität und Systemreferenz ............................................ 93 Das intertextuelle Profil der historischen Gattung ...................... 98 Die Differenzen der Gattung ...................................................... 105 Die Theorien der Gattung ........................................................... 112

67 73 79

VI

ZWEITER TEIL Historische Gattungstopik des Sonetts ................................................... 117 1

Das Sonett als Stanze: Die mittelalterliche Tradition ................. 119

1.1 1.2

1.9 1.10 1.11

Ursprungsfragen: Der Streit um Strambotto und Kanzone ......... Das melodische Schema der Kanzone und die ›Erfindung‹ des Sonetts ........................................................................................ Probleme der metrischen Ableitbarkeit des Sonetts von der Kanzonenstrophe ........................................................................ Die Rekonstruktion einer kombinatorischen Sonettregel ........... Die Numerologie des sizilianischen Sonetts ............................... Provenzalischer Minnediskurs und sizilianische Objektivierung der Liebe ............................................................ Imperiale Ästhetik: Sonettform und Architektur am Hof Friedrichs II. ............................................................................... Der große Innovator: Diversifikation der frühen Sonettform bei Guittone d’Arezzo ................................................................ Die Beschränkung der Form im dolce stil novo ......................... Die italienischen Sonettpoetiken vom 14. bis 16. Jahrhundert .... Das Stanzensonett als Gattungstopos .........................................

2

Das epigrammatische Sonett der Frühen Neuzeit ....................... 211

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10

Sonett und epigrammatisches Paradigma ................................... Inschriftlichkeit als Gattungsmotiv des Sonetts .......................... Kasualer Objektbezug und Heterogenität der Stoffe .................. Pointierung und rhetorische Kürzung als epigrammatischer Stil Sonett-Anordnungen ................................................................... Sonett-Überschriften ................................................................... Reimschemata und Versformen .................................................. Graphie ....................................................................................... Sonettmusik und das Sonett als Ode ........................................... Das Epigrammsonett als Gattungstopos .....................................

3

Topik des deutschen Petrarkismus .............................................. 269

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9

Zum Begriff des Petrarkismus .................................................... Petrarkismus als Gattungstopos der volkssprachlichen Lyrik .... Sonettpoetik und distanzierter Petrarkismus ............................... Poetik in Exempeln bei Martin Opitz ......................................... Antipetrarkismus ........................................................................ Petrarkismus im Zeichen des Epigramms ................................... Epigrammatisierung und Kolloquialstil bei Paul Fleming .......... Constantia, Ehe, Treue ............................................................... Vanitas, Melancholie, Jesusminne ..............................................

1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8

119 122 128 136 138 148 163 175 186 191 205

211 218 223 232 237 243 251 258 262 265

269 278 281 289 297 306 315 332 341

VII

3.10 3.11

Erotischer Scherz ........................................................................ 352 Gattung und Diskurs ................................................................... 360

4

Sonett als Lied in Aufklärung und Romantik ............................. 363

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8

Neue Grundlagen für das Sonett im Zeitalter der Aufklärung .... Artifizialität als paradigmatisches Sonettmerkmal ..................... Sentimentaler Diskurs und Petrarca-Begeisterung ..................... Authentischer Affektausdruck und Sonett als Elegie ................. Sonett als Lied und Heterogenität der Form ............................... Subjektivität und Lebenswahrheit im Sonettzyklus Bürgers ...... Wertungsfragen im Zusammenhang mit Bürgers Sonetten ........ August Wilhelm Schlegels Aufwertung von Silbenmaß und Reim ........................................................................................... Gattungsmischung und Zusammenführung der Künste im frühromantischen Sonett ............................................................. Das Sonett als Verständigungsform im Kreis der Frühromantiker ........................................................................... Romantische Sonettphilosophie und ideales Gedicht .................

4.9 4.10 4.11

363 364 372 386 396 410 421 426 431 444 452

Schluss: Zur Historizität des Sonetts ..................................................... 469 Literaturverzeichnis ............................................................................... 488 Abkürzungsverzeichnis .......................................................................... 488 1 Quellen ....................................................................................... 489 2 Forschungsliteratur ..................................................................... 495 Abbildungsverzeichnis ........................................................................... 523

Einleitung 1

Das Sonett als exemplarische Gattung

Unter den überlieferten lyrischen Formen nimmt das Sonett heute mehr denn je eine Ausnahmestellung ein. Obgleich das Schreiben in den Bahnen klassischer Genres weitgehend erodiert ist und selbst als traditionalistischer oder postmoderner Gestus des Widerspruchs keine große Signifikanz mehr entfaltet, zeigt das Sonett eine erstaunliche Präsenz. Umso deutlicher wird dies, wenn man es mit anderen, prominenteren Gattungen aus der Geschichte der Poesie vergleicht. Die Gegenwärtigkeit des Sonetts im Rahmen der Lyrik übertrifft heute diejenige, die etwa die Novelle oder die Tragödie auf ihren angestammten Bühnen noch in Anspruch nehmen können. Gemeinsam mit Novelle und Tragödie ist dem Sonett aber seine strikte Historizität. Unterschieden ist diese dominante Historizität von solchen Gattungen, deren ›Sitz im Leben‹ von zeitgenössischen Medieninstitutionen gewährleistet wird wie im Fall der liedhaften Formen, deren Fortschreibung durch eine lebendige Popmusikindustrie auf der Basis moderner Tonträger- und Digitalisierungstechniken gesichert wird, oder der erzählerischen Universalform des Romans, die weiterhin vom Medium des Buchs getragen ist. Ein Sonett stellt im Vergleich dazu nichts als eine historische Reminiszenz in der Nischensparte der Lyrik dar. Bedenkt man den Zusammenhang genauer, dann erscheint das Sonett gerade deshalb als eines der erfolgreichsten literarischen Genres überhaupt. Keines seiner kennzeichnenden Merkmale ist durch dauerhafte historische Voraussetzungen, also etwa durch spezifische mediale Bedingungen, vorgegeben, die über die Gebundenheit an Sprache und Schrift hinausgingen. Was das Sonett ausmacht, wirkt vielmehr willkürlich und sollte von den Kräften der Geschichte rasch verweht worden sein. Verwandte Genres aus der Umgebung der frühen Sonettistik wie die mittelalterliche Kanzone oder das ebenfalls von provenzalischen Trobadors entworfene kunstvolle Gebilde der Sestine spielen seit langem keine nennenswerte Rolle mehr für die Lyrik. Das Sonett dagegen bewegt nach über 750 Jahren weiterhin die Phantasie von Autoren, die sich als lyrische Avantgarde verstehen, und die dabei nicht Traditionspflege im Sinn haben, sondern sich dem literarischen Experiment verpflichtet fühlen. So sehr das Sonett in seiner Geschichte zur Reflexion traditioneller Werte gedient hat, so sehr war es zugleich immer wieder ein spezifischer Ausdruck von Modernität. An Klischees zur Erklärung dieses Sachverhalts herrscht kein Mangel. Zwei mal vier Verse auf insgesamt zwei, selten auch auf mehr Reime, und zwei mal drei Verse auf in der Regel zwei oder drei Reime bilden vom 13. Jahrhundert

2 bis in die unmittelbare Gegenwart das Gerüst des Sonetts. Man hat dies einerseits als Ausdruck mathematischer Rationalität gedeutet, andererseits hat man darin die Willkür eines rein traditionsorientierten Poesieverständnisses gesehen. Zwischen universeller Regel und willkürlichem Traditionsprinzip schwanken entsprechend die Bestimmungen des Sonetts. Dieses Spannungsfeld umschreibt nun allerdings das Bedingungsgefüge ästhetischen Schaffens überhaupt, das sich zwischen dem Aufnehmen und Wahren der künstlerischen Tradition und den geschichtlichen und ästhetischen Herausforderungen der jeweiligen Gegenwart zu verorten hat. Indem das Sonett mit Maß und Zahl über das historisch Wandelbare hinauszielt, erhebt es den Geltungsanspruch der Kunst auf denkbar grundlegende Weise. Und indem an seiner wandelbaren Geschichte die Begrenztheit dieser Geltung sichtbar wird, bildet es eine Ikone des Ästhetischen selbst. Der Universalitätsanspruch, der in den numerischen Relationen des Sonetts zum Ausdruck kommt, ist ihm in die Wiege gelegt. Es ist seit seinen Anfängen im 13. Jahrhundert davon gezeichnet und hat diese raison d'être bis in die Gegenwart nicht abgelegt. Als Universalitätsanspruch wird er allerdings erst in der Moderne formuliert. Erst die romantische Poetik des Sonetts macht die mathematische Begründung zu dessen Prinzip und erhebt es damit in den Rang einer Idealform von höchster, eben mathematisch-geometrischer und damit quasi naturwissenschaftlicher Dignität. Erst von hier aus ist die Ausnahmestellung des Sonetts in der Geschichte der modernen Lyrik angemessen zu beschreiben. Von Baudelaire bis Mallarmé, von Wordsworth bis Heaney, von Rilke bis Trakl, Brecht bis Grünbein, von Jandl bis Pastior: das Sonett ist ein Paradefall der Modernität, indem es zugleich auf den Überlieferungscharakter wie auf den überindividuellen Geltungsanspruch aller Literatur verweist. Das Sonett in dieser Weise als modern auszuzeichnen impliziert aber auch die Einsicht, dass dies nicht von jeher seine Charakteristik war. Im Zeichen der humanistischen Nachahmungslehre der Frühen Neuzeit, in deren Geltungsbereich das Sonett schon einmal für rund 200 Jahre eine ausgesprochene Ausnahmestellung eingenommen hat, standen keineswegs die Fragen numerisch begründeter Tektonik im Zentrum des Interesses. Dass die Moderne im Sonett also eine Idealform lyrischer Aussprache erblickte, setzt einen Akt der Adoption voraus, der von seiner Geschichte über weite Strecken absieht, indem er sich auf dessen ›klassische‹ Gestalt im Canzoniere Petrarcas bezieht. Diese moderne Adoption hat mit der Sonettpoetik der Romantik stattgefunden, die deshalb als eine Zäsur in der Gattungsgeschichte beschrieben werden kann. Daraus folgt aber auch, dass sich eine gattungsgeschichtlich motivierte Auseinandersetzung mit der Form unabhängig von diesen normativen Zurüstungen um dessen Gestalt zu kümmern hat, wie sie in den verschiedensten Epochen und Kontexten und bis hinein in die modernen Experimentalformen vorzufinden ist. Gattungsgeschichte erweist sich als eine Auseinandersetzung mit einem in vielerlei Hinsicht heterogenen Gegenstandsbereich, selbst bei einer so überschaubaren Form, wie sie das Sonett darstellt. Das Sonett ist gerade aus diesem Grund das vielleicht beliebteste Demonstrationsobjekt gattungstheoretischer Konzeptionen. Bei aller Variabilität zeigt es

3 über Jahrhunderte hinweg eine formal begründete Konstanz, mit der man den Begriff einer transhistorischen Gattung recht unmittelbar identifizieren kann. Diese Konstanz scheint so groß und auf ein so schmales formales Gerüst gegründet, dass man dem Sonett sogar umgekehrt den Gattungscharakter überhaupt abgesprochen hat und es zur bloßen ›Form‹ erklärte. Nun trägt eine solche Unterscheidung nicht wirklich, da sich jede Form in historischer Betrachtungsweise zur Gattung weitet. Die Unterscheidung weist vielmehr darauf hin, dass man beim Sonett das Wechselspiel von Textrekurrenz und historischem Wandel aufgrund seiner klaren formalen Kontur recht eindeutig bestimmen kann. Gerade dies macht es zum idealen Exempel. Eine eingängige Auseinandersetzung mit einer solchen Gattungsgeschichte bedarf der genaueren Begründung. Die Gattung des Sonetts ist durch ihre jahrhundertelange europäische Geschichte und ihre gut eingegrenzte Kontur ein literaturwissenschaftlicher Sonder- und Glücksfall. Ihr Weg durch die unterschiedlichen Nationalliteraturen in zahlreichen Epochen vom Mittelalter bis heute gibt reichhaltiges und gut isolierbares Anschauungsmaterial für intertextuelle Prozesse über kulturelle und historische Grenzen hinweg. Das Sonett ist insofern ein komparatistischer Musterfall. In der Form des Sonetts vermitteln sich dabei unterschiedliche mediale Aspekte von der Klangcharakteristik der reimgegründeten mittelalterlichen Stollenstrophe bis zur graphischen Repräsentation des modernen visuellen Gedichts. Das Sonett ist insofern auch ein medientheoretischer Musterfall. Der dominante Formcharakter hat es dabei auch immer wieder zum poetologischen Musterfall werden lassen. Zugleich ist das Sonett eng an bestimmte historische Diskurse wie den mittelalterlichen Minnediskurs, den frühneuzeitlichen Petrarkismus oder die moderne Künstlerthematik geknüpft, so dass es als Gattung auch diskursgeschichtlich aufschlussreich ist. Innerhalb der Gattungsgeschichte des Sonetts kommen in nuce grundlegende Fragestellungen der Poetik, der Literaturtheorie und der Literaturgeschichtsschreibung zusammen. Das Feld einer Gattungsgeschichte ist meist sehr weit gesteckt. Im Fall des Sonetts reicht es vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart und durchzieht sämtliche nationalen Literaturen. Eine nationalliterarische Begrenzung der Betrachtungsweise verbietet sich deshalb von selbst. Die gewaltige Ausdehnung des Gebiets macht allerdings den Überblick schwierig. Was die Entwicklung der Sonettforschung betrifft, so ist sie selbst in deutlicher Weise den historischen Sonettkonjunkturen unterlegen. Die deutsche Literaturgeschichtsschreibung hat drei umfangreiche Überblicksdarstellungen zum Sonett hervorgebracht: eine stammt aus dem späteren 19. Jahrhundert, eine aus der Mitte des 20. und die dritte vom Beginn des 21. Jahrhunderts.1 Alle drei Arbeiten stehen stark im Bann des romantischen Sonettparadigmas, das heißt, sie gehen von ——————— 1

Heinrich Welti: Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung. Mit einer Einleitung über Heimat, Entstehung und Wesen der Sonettform. Leipzig 1884; Walter Mönch: Das Sonett. Gestalt und Geschichte. Heidelberg 1955; Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett. 2 Bde., Göttingen 2002.

4 einem festgefügten, gleichsam klassizistischen Gattungsbegriff aus, der auf der strophischen und antithetisch-tektonischen Abgrenzung von Quartetten und Terzetten und auf einer mehr oder weniger normativen Fixierung von Sonettvers und Reimschema beruht. Alle Arbeiten greifen bis auf den Sonettursprung im 13. Jahrhundert zurück und entwerfen eine chronologisch geordnete Geschichte der Gattung. Heinrich Welti zielt dabei vor allem auf eine Erschließung des deutschen Sonetts vom 16. Jahrhundert bis in seine unmittelbare Gegenwart. Seine Untersuchung stellt bis heute das Standardwerk zum älteren deutschen Sonett dar, in dem mit umfassendem Kenntnisstand auf relativ viele Autoren eingegangen wird. Der Romanist Walter Mönch veröffentlicht sein Sonettbuch 1955 im Kontext der Sonettkonjunktur der Nachkriegszeit. Er ist um eine breite komparatistische Repräsentation der Gattungstradition bemüht und kultiviert zugleich ein idealistisch überhöhtes Bild des überzeitlichen Wesens der Gattung. Beide Tendenzen des Buches sind in ihrer Zeit motiviert. Ihre Problematik war schon damals deutlich erkennbar: der des komparatistischen Zugriffs in der quantitativen Überforderung der Studie, die des idealistischen in seinem anachronistischen Traditionalismus, der bereits beim Schema des ShakespeareSonetts oder beim Sonett Rilkes das Wesen der Gattung gefährdet sah.2 Gleichwohl ist der weite komparatistische und interdisziplinäre Horizont der Arbeit wertvoll. Durchaus ähnliches lässt sich auch von dem jüngsten der drei Bücher aus dem Jahr 2002 sagen. Sein Autor Friedhelm Kemp, Romanist, Übersetzer und nur unwesentlich jünger als Mönch, bietet mit dem umfangreichen zweibändigen Überblickswerk eine Art Summa seines übersetzerischen Lebenswerks am Beispiel des Sonetts. Ein gattungs- oder literaturtheoretischer Anspruch wird ausdrücklich nicht erhoben. Im Stil von Hugo Friedrichs Epochen der italienischen Lyrik ist eine große Zahl von Sonetten jeweils zweisprachig präsentiert und mit biographischen und textbezogenen, meist aus der Übersetzungspraxis gewonnenen Beobachtungen ergänzt. Es handelt sich um eine große, erläuterte Anthologie des europäischen Sonetts vom Mittelalter bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, die in Auswahl und Wertung ausgesprochen traditionell verfährt und hinsichtlich der Gattungsreflexion keine neuen Perspektiven bietet – ein wertvoller Lesetext, doch methodisch anachronistisch und wenig ergiebig.3 Hinzu kommen historisch begrenzte Arbeiten. Nach der Sonettskepsis der 1960er und 70er Jahre hat der neue Historismus der Postmoderne in den beiden letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts das Dichten von Sonetten in den unterschiedlichsten Varianten und Anknüpfungen an die Tradition wieder in Gang gesetzt, wodurch nicht zuletzt auch das gattungsgeschichtliche Interesse neu angeregt wurde. Gegenzyklisch erschien 1969 die Sonettanthologie von JörgUlrich Fechner, die einen Gesamtüberblick über die deutsche Gattungstradition ——————— 2 3

Vgl. dazu bereits die Rezension von Karl Maurer: Walter Mönch, Das Sonett. Gestalt und Geschichte. In: RF 67 (1955/56) 214–220. Vgl. meine Rezension: Halbtausend Sonette für Leser. Friedhelm Kemps alteuropäische Spaziergänge. In: IASLonline [11.02.2004]. URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/ liste/Borgstedt3892444811_497.html.

5 verschaffte und die eine nützliche Sammlung der wichtigsten poetologischen Texte zum Sonett enthielt. 1979 folgte eine Anthologie zum deutschen Sonett von Hartmut Kircher im Reclam-Verlag, die 2003 durch eine erheblich verknappte ersetzt wurde, sowie ein Realienband zur Gattungsgeschichte.4 Die monographische Beschäftigung konzentrierte sich auf historisch begrenzte Felder. So befassen sich die Arbeiten von Dirk Schindelbeck und von Andreas Böhn mit dem Sonett des 20. Jahrhunderts.5 Die ältere monographische Forschung zwischen Welti und Mönch brachte eine Reihe von Studien zu bestimmten Zeitabschnitten der neueren Sonettgeschichte hervor.6 Daneben finden sich Arbeiten zur Sonettdichtung einzelner Autoren,7 wobei diejenige Rilkes den weitaus größten Anteil daran hat. Je stärker die Perspektive dieser Untersuchungen historisch eingeschränkt ist, desto unergiebiger sind sie meist für die übergreifenden gattungstheoretischen und gattungsgeschichtlichen Fragestellungen. Konzeptionell interessant werden dagegen Arbeiten, die sich mit der historisch übergreifenden Gattungsentwicklung befassen, und dabei wiederum solche, die an die Grenzen der klassischen Gattungsbestimmung stoßen. Vor allem gilt dies für die Auseinandersetzung mit der Dichtungspraxis im 20. Jahrhundert, aber auch für die vorromantische Sonettdichtung, die insgesamt nicht weniger heterogen ist als die ——————— 4

5

6

7

Das deutsche Sonett. Dichtungen – Gattungspoetik – Dokumente. Ausgewählt und hg. von Jörg-Ulrich Fechner. München 1969; Deutsche Sonette. Hg. von Hartmut Kircher. Stuttgart 1979; Fünfzig Sonette. Hg. von Hartmut Kircher. Stuttgart 2003; Hans-Jürgen Schlütter: Sonett. Mit Beiträgen von Raimund Borgmeier und Heinz W. Wittschier. Stuttgart 1979; vgl. auch bereits die älteren Anthologien: Deutsche Sonette aus vier Jahrhunderten. Hg. von Karl Viëtor. Berlin 1926; sowie als Bestandsaufnahme der romantischen Sonettproduktion auch weniger bekannter Autoren: Sonette der Deutschen. In vier Theilen. Hg. von Friedrich Raßmann. Braunschweig 1817. Dirk Schindelbeck: Die Veränderung der Sonettstruktur von der deutschen Lyrik der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart. Frankfurt a.M. 1988; Andreas Böhn: Das zeitgenössische deutschsprachige Sonett. Vielfalt und Aktualität einer literarischen Form. Stuttgart, Weimar 1999. Ernst C. Wittlinger: Die Satzführung im deutschen Sonett vom Barock bis zur Romantik. Untersuchungen zur Sonettstruktur. Phil. Diss. Tübingen 1956; Theodor Fröberg: Beiträge zur Geschichte des deutschen Sonetts im 19. Jahrhundert. St. Petersburg 1904 (zugl. Phil. Diss. München); Gertrud Wilker-Huersch: Gehalt und Form im deutschen Sonett von Goethe bis Rilke. Bern 1952 (Phil. Diss. Bern 1950); Heinz Mitlacher: Moderne Sonettgestaltung. Phil. Diss. Greifswald 1932; Thomas Schneider: Gesetz der Gesetzlosigkeit. Das Enjambement im Sonett. Frankfurt a.M. 1992. Da sich die folgenden Studien gattungsgeschichtlich mit dem älteren Sonett befassen, ist ein näherer Forschungsüberblick zum gattungsbezogenen Schrifttum nicht angezeigt. Querbezüge werden an der gehörigen Stelle der Diskussion hergestellt. Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die ›Sonette‹ des Andreas Gryphius. München 1976; Hans-Jürgen Schlütter: Goethes Sonette. Anregung – Entstehung – Intention. Bad Homburg 1969; Katrin Jordan: ›Ihr liebt und schreibt Sonette! Weh der Grille.‹ Die Sonette Johann Wolfgang von Goethes. Würzburg 2008; MiYoung Chang: Die Sonette Joseph von Eichendorffs. Untersuchung der thematischen und stilistischen Entwicklung des lyrischen Werkes. Frankfurt a.M. 1992; Alfred Mohrhenn: Friedrich Hebbels Sonettdichtung. Berlin, Leipzig 1923.

6 modernen Texte. Auf einige Versuche einer Gattungsbestimmung des Sonetts aus diesem Kontext wird im Schlussabschnitt dieser Arbeit näher eingegangen.8 Insofern die folgenden Untersuchungen zur Geschichte des Sonetts auf eine Historisierung des dominanten Gattungsparadigmas zielen, bildet das frühromantisch-schlegelsche Sonettkonzept einen strategischen Angelpunkt der Argumentation. Während zu den Abweichungstendenzen der modernen Sonettdichtung bereits eine Reihe von Studien vorliegen, hat es eine ausgreifende gattungsbezogene Analyse der älteren Traditionen des Sonetts außer in der Arbeit von Mönch kaum gegeben.9 Diese aber ging zentral von der überhistorischen Geltung des romantischen Sonettmodells aus. Um also das romantische Sonettparadigma selbst in seinem historischen Stellenwert – auch für die moderne Dichtung – bewerten zu können, ist auf der Basis der im ersten Teil dieser Studie entworfenen Konzeption historischer Gattungen ein vergleichender Blick auf die Sonett-Tradition der vorangehenden Jahrhunderte und der verschiedenen Nationalliteraturen angezeigt. Das romantische Sonettmodell, das einer traditionalistischen Sonettpraxis bis heute zur Vorlage dient und das einen großen Teil der Forschungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts in ihrer Wertungshaltung geprägt hat, wurde von seinen Schöpfern als einzig legitimer Rückgriff auf die autoritative Tradition der Sonettform Petrarcas dargestellt. Zugleich wurde dieser Rückgriff mit großer Geste philosophisch fundiert und als verbindlicher Ausdruck des inneren Wesensgesetzes des Sonetts exponiert. Eine Historisierung dieses Modells vor dem Hintergrund der vorausliegenden Gattungsgeschichte ist deshalb nicht nur zur Exemplifizierung gattungstheoretischer Annahmen interessant, sondern auch zur Korrektur einer heute noch geläufigen ›klassischen‹ Gattungsvorstellung des Sonetts. So ist das vor allem von August Wilhelm Schlegel entworfene romantische Sonettmodell als ein historisches Paradigma gleichberechtigt neben andere epochale Ausprägungen der Form zu stellen. Es kann nicht als ein überhistorisch gültiges Modell gelten. Entworfen wird eine historische Topik des Sonetts als Modell einer historistisch ausgerichteten Gattungsgeschichtsschreibung.

——————— 8

9

Auf die Forschungsgeschichte im internationalen Rahmen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Relevante Titel werden an den gehörigen Stellen der Argumentation zitiert. Aufgrund der gewaltigen Tradition des Sonetts und der großen hier versammelten Namen sind die Publikationen unüberschaubar. Stellvertretend sei nur eine neuere deutschsprachige Überblicksdarstellung genannt, die auf die Aktualität des Sonetts zielt: Paul Neubauer: Zwischen Tradition und Innovation. Das Sonett in der amerikanischen Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts. Heidelberg 2001. Eine im Gegensatz dazu vor allem auf den historischen Wandel bezogene Konzeption hat Fechner anhand der Geschichte des Sonetts erläutert: Jörg-Ulrich Fechner: Permanente Mutation. Betrachtungen zu einer ›offenen‹ Gattungspoetik. In: Die Gattungen in der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Mit Beiträgen von Jörg-Ulrich Fechner, Gerhard R. Kaiser, Willy R. Berger. Hg. von Horst Rüdiger. Berlin, New York 1974, S. 1–31.

7

2

Theorie historischer Mediengattungen

Seit den linguistischen und gesellschaftswissenschaftlichen Fundierungsversuchen der 1970er-Jahre ist das Interesse an den Grundfragen der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie merklich abgeflaut, um erst gegenwärtig wieder etwas Fahrt aufzunehmen. Das liegt einerseits an einer gewissen theoretischen Erschöpfung in diesem Bereich und an einem Wandel des theoretischen Gesamtklimas. Es mag aber auch an einem Relevanzverlust von Gattungsfragen innerhalb der modernen künstlerischen Praxis selbst liegen. Seit den klassischen Avantgardebewegungen stand die Gattungspoetik im Zentrum der kritischen Auseinandersetzung der Künste mit den normativen Vorgaben ihrer Traditionen. Sowohl in den 1920er- als auch in den 60er- und 70er-Jahren war die traditionskritische Avantgardekunst flankiert von theoretischen Bemühungen um eine wissenschaftliche Neubegründung gattungspoetischer Fragen jenseits von überkommenen normpoetischen Vorgaben. In den Künsten führte der traditionskritische Impuls zu einem experimentellen Ausloten des künstlerischen Kommunikationsraums und seiner materialen und medialen Bedingungen, das die traditionalen Vorgaben bewusst negierte und überschritt. Im Anschluss an die klassischen Avantgardebewegungen gilt dies noch genauso für die Nachkriegsmoderne der 1960er- und 70er-Jahre, in der Geschichte der deutschen Lyrik ebenso für Ernst Jandl wie für Rolf Dieter Brinkmann. Auf die modernistische Aufbruchsstimmung dieser Zeit folgte eine intensive gesellschaftliche Rückbesinnung auf die Unhintergehbarkeit der unter Legitimationsdruck geratenen Tradition, die deren alte Verbindlichkeit gleichwohl nicht mehr restituieren konnte. Wenn beispielsweise das postmoderne Schreiben der 80er-Jahre – repräsentiert von Romanen wie Umberto Ecos Der Name der Rose oder Patrick Süskinds Parfüm, kenntlich aber auch durch ein neues Aufleben der Sonettdichtung10 – auf geschichtliche Stoffe und traditionelle Genres zurückgreift, dann entspricht es damit dem gesamtkulturellen Historismus der Zeit. Dieser vollzieht sich jedoch grundsätzlich in einem selbstreflexiven, ironisierten Gestus, der die ›Gemachtheit‹ der in Anspruch genommenen Traditionen beständig unterstreicht, deren Verbindlichkeit längst außer Kraft gesetzt ist. Das ehemals normative Potential der Gattungstraditionen hat sich im Historismus der 80er-Jahre in die Praxis eines ironisch gebrochenen Zitierens verflüchtigt. Das überkommene gattungsorientierte Schaffen ist in den kulturrevolutionären Umbrüchen des 20. Jahrhunderts unwiederbringlich als obsolet und historisch erwiesen worden. Wie steht es nun im gleichen Zeitraum um die Bilanz der Theorie? Wollte man ein Zwischenergebnis der Auseinandersetzungen um die Gattungstheorie festhalten, so dominiert das historistische und konstruktivistische Paradigma das Feld in verschiedenen Varianten. Als unbestreitbar gilt heute, dass es sich bei ——————— 10

Programmatisch wahrgenommen wurde etwa Ulla Hahns »Anständiges Sonet« in U. Hahn: Herz über Kopf. Gedichte. Stuttgart 1981, S. 19.

8 künstlerischen Gattungen wie bei allen anderen kulturellen Ausdrucksformen um gesellschaftliche Konventionen beziehungsweise um ›kulturelle Konstruktionen‹ handelt. Nimmt man Jacques Derridas Vortrag La loi du genre von 1980 als einen Indikator der Entwicklung,11 dann ist sowohl die Ubiquität als auch die grundsätzliche Durchlässigkeit von Gattungen zu konstatieren, die mehrfache Zugehörigkeit von Gattungsexemplaren zu Gattungen ebenso wie ihr grundsätzlicher Mangel an gleichbleibenden Merkmalen, ihre mangelnde überhistorische Identität und Geltungskraft. Derrida weist zudem jede Möglichkeit zurück, zwischen universellen beziehungsweise naturgegebenen und historisch-kulturellen Bedingungen von Gattungen zu unterscheiden. Konkret wendet er sich gegen Gérard Genettes Abgrenzung eines universalistischen ›Modus‹-Begriffs von einem historischen Begriff der ›Gattung‹.12 Betroffen sind davon natürlich auch Klaus W. Hempfers Differenzierungsversuch von überhistorischen ›Schreibweisen‹ und historischen ›Gattungen‹ und alle verwandten Bestrebungen.13 Derridas paradoxale Konzeption eines allgegenwärtigen und zugleich zu dekonstruierenden Gattungsbegriffs kann insofern als theoriegeschichtliche Entsprechung des ironisch gebrochenen Gattungsbezugs der ›postmodernen‹ Literatur- und Kunstpraxis gelesen werden. Indem sie das gattungstheoretische Fragen nach historischen Tradierungsprozessen, langfristigen Kontinuitäten und überhistorisch gültigen Bedingungen und Mustern für überholt erklärte, hat sie ihren Teil zur Stagnation gattungstheoretischer Forschungen beigetragen. Einen andersgearteten Lösungsansatz mit vergleichbaren Konsequenzen bildete die Theorie der Textsorte. Sie stand noch im Zeichen des linguistic turn und der Verwissenschaftlichungstendenzen der 1970er-Jahre und sollte die Aporien der traditionellen Gattungstheorie beseitigen, indem sie eine strikt synchrone, von ästhetischen Wertungsimplikationen freie Perspektive an die Gattungsfrage anlegte. Sie war Ausdruck der Ausweitung des Literaturbegriffs mit seiner Privilegierung der poetischen Tradition und des kulturellen ›Höhenkamms‹ – verstanden mithin als ein Demokratisierungsinstrument für die überkommene traditionsorientierte Gattungstheorie.14 Die Kategorie der Textsorte ist ein rein heuristisches Instrument, bei dem die jeweiligen Textsortenmerk——————— 11

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Jacques Derrida: The Law of Genre. Translated by Avital Ronell. In: Critical Inquiry 7 (1980) 55–81 (Special issue: On Narrative); auch ders: La loi du genre/The law of genre. In: Glyph 7 (1980) 176–201, 202–232; dt.: Das Gesetz der Gattung. In: Ders: Gestade. Wien 1994, S. 245–283. Gérard Genette: Introduction à l’architexte. Paris 1979; dt.: Einführung in den Architext. Stuttgart 1990. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973, S. 153ff. Auf diesen Zusammenhang hat Wolfgang Raible retrospektiv noch einmal ausdrücklich hingewiesen: »[...] viele assoziieren mit ›Gattung‹ nur literarische, u.U. sogar nur durch die Gattungspoetik konsekrierte Texte. Da jedoch Patentschriften, Leitartikel oder Schulaufsätze sicher im gleichen Maße Mustern gehorchen wie etwa der pikareske Roman, war ein allgemeinerer Begriff nötig, der sowohl literarische wie nicht-literarische Textgattungen umfaßt.« Wolfgang Raible: Wie soll man Texte typisieren? In: Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik. Hg. von Susanne Michaelis und Doris Tophinke. München, Newcastle 1996, S. 59–72, hier: S. 59.

9 male definitorisch fixiert werden und das ausdrücklich keinerlei historischen Index besitzt. Dies macht sie für die Beschreibung historischer Gattungsentwicklungen wenig brauchbar. Dass das ahistorische Textsortenkonzept zur Charakterisierung historisch-literarischer Gattungen nicht wirklich angemessen ist, haben Textsortentheoretiker denn auch immer wieder festgestellt.15 In neueren Diskussionen wird seitens der Textsortentheorie auf historisch-literarische Gattungen praktisch kaum noch eingegangen,16 während sich die jüngere literaturwissenschaftliche Gattungstheorie ihrerseits vom Paradigma der Textsorte zu verabschieden scheint.17 Gleichwohl ist es in den Literaturwissenschaften seit langem üblich, gerade auch die historischen Gattungen als ›Textsorten‹ zu bezeichnen – also etwa lieber von einer ›Textsorte Roman‹ als von der Gattung des Romans zu sprechen – um so den letztlich trügerischen Eindruck zu erwecken, man habe die problematischen Implikationen der Gattungskategorie damit vermieden und einen wissenschaftlich tragfähigeren Begriff in Anschlag gebracht. Die Kategorie der Textsorte ist zudem, da sie aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Gattungsbegriff der traditionellen Poetik hervorgegangen ist, negativ auf den Literaturbegriff fixiert geblieben. Dies gilt zum einen in medialer Hinsicht durch ihre grundsätzliche Privilegierung des Textbegriffs, es gilt aber auch hinsichtlich ihrer zu geringen gesellschaftlichen Kontextualisierung. Der Begriff ist als ein reiner Klassifikationsbegriff von Texten gefasst worden, ohne dass er handlungs- oder kommunikationstheoretisch fundiert worden und ohne dass damit ein soziales, ästhetisches oder historisches Angemessenheitskriterium verbunden wäre. Die ›Textsorte‹ ist eine heuristischklassifikatorische Kategorie geblieben, hilfreich zur terminologisch klaren Identifikation von begrenzten Textkorpora, hilflos allerdings gegenüber zentralen Fragen der Medienvielfalt, der Medienästhetik und vor allem der historischen Tradierung und Wandlung von Gattungen. Eine Textsorte ›Roman‹, so ist zu folgern, ist in historisch angemessener Weise nicht konstruierbar. Die genannten Defizite sind letztlich auch nicht durch den Versuch zu beheben, vom Begriff der Textsorte einen neuen Begriff des ›Genre‹ abzugrenzen, der eine Art ›historische Textsorte‹ beschreiben soll. Harald Fricke meint damit ——————— 15

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Vgl. Wolf-Dieter Stempel: Gibt es Textsorten? In: Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht. Hg. von Elisabeth Gülich und Wolfgang Raible. Wiesbaden 21975, S. 175–179, bes. S. 179; Harald Weinrich: Thesen zur Textsorten-Linguistik. Ebd., S. 161– 169; Eckard Rolf: Die Funktionen der Gebrauchstextsorten. Berlin, New York 1993, S. 125. Vgl. Kirsten Adamzik: Einleitung: Aspekte und Perspektiven der Textsortenlinguistik. In: Adamzik: Textsorten – Texttypologie. Eine kommentierte Bibliographie. Münster 1995, S. 11–40. Rüdiger Zymner lokalisiert die Textsortenlehre mehr oder weniger außerhalb literaturwissenschaftlicher Fragestellungen: Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, S. 151–155; ähnlich: Birgit Neumann, Ansgar Nünning: Einleitung: Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Hg. von Marion Gymnich, B. Neumann und A. Nünning. Trier 2007, S. 1–28, hier: S. 3.

10 solche Textsorten, die in einem bestimmten historischen Kontext ›etabliert‹ seien.18 Die Bestimmung verrät das Bemühen, die spezifische Historizität literarischer Gattungen quantifizierbar und definitorisch fassbar zu machen. Um das zu erreichen, wird mit der ›Etabliertheit‹ der Textsorte ein kontextbezogenes Prädikat eingeführt, das selbst synchronisch und ahistorisch gedacht wird. Nur so lassen sich nämlich die ›hinreichenden und notwendigen Bedingungen‹ bestimmen, die die historisch ›etablierte‹ Textsorte dann auch definitorisch greifbar machen soll. Nun sind aber nicht nur Poststrukturalisten, sondern auch historisch denkende Gattungstheoretiker der Auffassung, dass ein definitorischer Zugriff auf historisch-literarische Gattungen zum Scheitern verurteilt ist, da er ihrem transitorischen und Differenz generierenden Charakter nicht gerecht werden kann und somit ihre Historizität gerade verfehlt.19 Vor diesem Hintergrund scheint dann die Einführung eines neuen Begriffs des ›Genre‹, der zudem dem französischen und angelsächsischen Wort für ›Gattung‹ unmittelbar entspricht und damit terminologisch verwechselbar und unübersetzbar ist, nicht hinreichend begründet. Vielmehr gehen die Defizite, die der Begriff des ›Genre‹ bei der theoretischen Beschreibung der Historizität von Gattungen aufweist, auf die ursprünglich ahistorische Konzeption des Textsortenbegriffs selbst zurück. Zumindest drei gattungstheoretische Grundsatzfragen bleiben damit ungeklärt und harren einer systematischen Verortung: 1. Der mögliche Stellenwert überhistorischer, anthropologisch fundierbarer Voraussetzungen historischer Gattungsbildungen ist in den genannten Theoriemodellen aufgrund ihrer konstruktivistischen Vorentscheidungen systematisch ausgeblendet. 2. Die erforderliche Ausweitung der gattungstheoretischen Perspektive über rein literarische Schrifttexte hinaus ist durch die Rückbindung der Modelle an den Textbegriff und an die überkommene literaturwissenschaftliche Gattungstheorie nicht konsequent geleistet. 3. Die Bedingungen historischer Tradierung und historischen Gattungswandels sind durch den synchronen Zuschnitt der Modelle aus dem Blick geraten und nicht einmal ansatzweise in die Theorie integriert.20 Alle drei Problembereiche besitzen eine spezifische Relevanz gerade auch für die Ausei——————— 18

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Vgl. Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981, S. 132f; Ulrich Breuer: text/sorte/genre: Konkurrenz und Konvergenz linguistischer und literaturwissenschaftlicher Klassifikationen? In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbands 44 (1997), H 3, S. 53–63; Dieter Lamping: Genre. In: RLW, Bd. 1 (1997), S. 704f. Vgl. beispielsweise Alastair Fowler: Kinds of literature. An introduction to the theory of genres and modes. Oxford 1982, S. 40; Werner Strube: Zur Klassifikation literarischer Werke. In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Ein Symposion. Hg. von Dieter Lamping und Dietrich Weber. Wuppertal 1990, S. 105–155, hier: S. 140–143; auch: Doris Tophinke: Zum Problem der Gattungsgrenze – Möglichkeiten einer prototypentheoretischen Lösung. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hg. von Barbara Frank, Thomas Haye und Doris Tophinke. Tübingen 1997, S. 161–182. Diesen Mangel konstatiert auch Zymner: Gattungstheorie, S. 211–213. Als Desiderat der Gattungsforschung benennen es Neumann/Nünning, S. 19; unter Bezug auf Todorov und Bachtin auch Heta Pyrhönen: Genre. In: The Cambridge companion to narrative. Hg. von David Herman. Cambridge 2007, S. 109–123.

11 nandersetzung mit der Gattungsgeschichte des Sonetts. Zum einen ist es eine völlig offene Frage, wie die historisch persistierenden Merkmale der Sonettform, nämlich deren markante mathematisch-geometrische Charakteristik, gattungstheoretisch bewertet werden sollen, und welche Rolle diese für das langanhaltende Interesse an der Form spielen. Wie universell also ist das Bleibende am Sonett, oder wie sehr trügt hier ein ideologisch verstellter Blick? Und wie überhaupt sind langfristig persistierende Merkmale für historische Gattungen zu beschreiben? Zum anderen ist das Sonett als lyrische Form auf der Grenze mündlicher und schriftlicher Realisationsweisen der Sprache situiert, indem es als Reimform deren klangliche Merkmale mit sich führt. Gleichzeitig überschreitet es aufgrund seiner mathematisch-geometrischen Konstitution wie wenige andere literarische Genres die Grenze zum Graphischen und ist offen für zahlreiche Formen der Visualisierung. Seine Medialität lässt sich also nicht leichthin auf die reine Schriftform reduzieren, sie erscheint vielmehr porös und übergängig, was gattungstheoretisch erfasst werden muss. Drittens bildet das Sonett einen gattungsgeschichtlichen Musterfall, insofern an wenigen anderen Beispielen so prägnant vorzuführen ist, wie sich Konstanz und Wandlungsfähigkeit in einer literarischen Gattung verschränken und wie dies gattungsgeschichtlich beschrieben werden kann. Die vorliegende Studie verbindet die gattungstheoretische Untersuchung mit der historisch-konkreten Analyse gattungsgeschichtlicher Prozesse. Dies eröffnet die Chance einer wechselseitigen Erhellung von Begriffsbildung und historischer Beschreibung, es ergibt sich aber auch die Notwendigkeit, beiden Bereichen in der Argumentation ihre jeweils eigene Dynamik zuzugestehen. Die folgenden Überlegungen zur Gattungstheorie gehen den Gegenstandsbereich grundsätzlich an und zielen über die bloße Anwendung auf den Fall einer einzelnen Gattung hinaus. Das wichtigste Ziel bildet dabei die systematische Korrelation der unterschiedlichen Perspektiven und der ihnen zuzuordnenden Begriffe. Dies führt zu einer Diskussion, die Fragen der Linguistik, der Semiotik und der Medientheorie, der Literatursoziologie und der Literaturgeschichte thematisiert. Entwickelt werden Konzepte, die im Blick auf die übergeordnete Fragestellung der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie anschließbar sind. Um die komplexe Thematik theoretisch angemessen zu erfassen, soll im Folgenden konsequent mehrperspektivisch vorgegangen werden. Mehrperspektivische Zugänge haben sich für die Analyse komplexer Gegenstandsbereiche bewährt. So untergliedern Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp ihre Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert nach verschiedenen Untersuchungsebenen, um die pluralen Facettierungen des Gegenstands angemessen beschreiben zu können. Sie machen zu diesem Zweck »schwache Anleihen bei der Systemtheorie« und entwerfen vier Untersuchungsebenen in Anlehnung an das Parsonssche AGIL-Schema.21 Nun eignet sich das system——————— 21

Jürgen Fohrmann: Einleitung: Von den deutschen Studien zur Literaturwissenschaft. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hg. von J. Fohrmann. Stuttgart 1994, S. 1–14, hier: S. 11f.

12 theoretische Modell weniger zur Untersuchung methodologischer Hinsichten in unserem Sinn, da die für die Gattungstheorie in Rede stehenden Unterscheidungen unterschiedlicher historischer Perspektivierungen nicht gut als derart systemhaft-funktionaler Zusammenhang zu begreifen sind. Eine dezidiert mehrperspektivische Zugangsweise zur Gattungstheorie haben jetzt auch Marion Gymnich und Birgit Neumann vorgeschlagen, wenn sie textuelle, historische, kognitive und funktionale Aspekte von Gattungen unterscheiden.22 Die Wahl dieser Ebenen ist an überkommenen Theorietraditionen orientiert und wirkt systematisch heterogener, als die im Folgenden zugrundegelegte Einteilung nach historischen Geltungsbereichen.23 Die in Frage stehenden Hinsichten der Gattungsanalyse können nämlich auf aussagekräftige Weise anhand ihres zeitlichen Fokus separiert werden. Eine solche zeitbezogene Untergliederung der Betrachtungsweisen lässt sich zwanglos durch ›schwache Anleihen‹ bei der Grundlegung der Sprachtheorie motivieren. Ich nehme deshalb auf Eugenio Coserius Unterscheidung von drei Ebenen der Betrachtung des Sprachlichen Bezug. Damit folge ich auch entsprechenden Vorschlägen von Peter Koch und Wulf Oesterreicher, die ihren im weiteren Sinn ebenfalls der Gattungstheorie zuzuordnenden Begriff der ›Diskurstradition‹ auf diese Unterscheidung gegründet haben.24 Coseriu bestimmt die allgemeine menschliche Sprechtätigkeit als universale Ebene des Sprachlichen, die Einzelsprache – also etwa das Deutsche – als historische Ebene und einzelne Diskurse bzw. Texte und deren situationsbedingte Regularitäten als partikuläre Ebene des Sprachlichen.25 Eine derartige Dreiteilung des Gegenstandsbereichs passt zu den Problemstellungen der Gattungstheorie. Hier sind auf einer universalen Ebene die Fragen nach historisch übergreifenden oder anthropologischen Merkmalen literarischer Gattungen thematisch, während auf einer partikulären, situationsbezogenen Ebene die sozialen Aspekte von Gattungen in spezifischen historischen Situationen und Kontexten befragt werden. Die mittlere, historische Ebene, auf der bei Coseriu die historisch gewordenen Einzelsprachen angesiedelt sind, eröffnet schließlich den Raum, nach der spezifischen Historizität der kultur——————— 22

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Marion Gymnich, Birgit Neumann: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts: Der Kompaktbegriff Gattung. In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Hg. Gymnich u.a. 2007, S. 31–52. Da die hier entfaltete Mehrebeneneinteilung unabhängig von den Vorschlägen von Gymnich und Neumann entwickelt wurde, handelt es sich um keine Zurückweisung ihres Gliederungsvorschlags, sondern um ein alternatives Modell, das seine Vorzüge in der Operationalisierbarkeit zu erweisen haben wird. Peter Koch: Diskurstraditionen: zu ihrem sprachtheoretischen Status und zu ihrer Dynamik. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hg. Frank u.a. 1997, S. 43–79, hier: S. 43ff.; Wulf Oesterreicher: Zur Fundierung. Ebd., S. 19–41; vgl. zum Konzept der Diskurstradition unten: S. 59ff. Eugenio Coseriu: Die Lage in der Linguistik [1973]. In: Schriften von Eugenio Coseriu (1965–1987), eingeleitet und hg. von Jörn Albrecht. Tübingen 1988, Bd. 1, S. 367–381, hier: S. 368ff.; ders.: Die Ebenen des sprachlichen Wissens. Der Ort des ›Korrekten‹ in der Bewertungsskala des Gesprochenen. Ebd., Bd. 1, S. 327–364, hier: S. 328f.

13 übergreifenden literarischen Gattungsbegriffe zu fragen. Infolgedessen orientiert sich die Diskussion der Gattungsproblematik im Folgenden an einer dreistufigen Betrachtungsweise universeller, sozialer und historischer Aspekte literarischer Gattungen. Dies soll es erlauben, die unterschiedlichen gattungstheoretischen Begriffe in Beziehung zu setzen und in ihrer jeweiligen Kontur zu diskutieren. Die Differenzierung von drei Ebenen der Gattungsanalyse stellt schließlich die Grundlage einer eigenständigen Fundierung der historischliterarischen Gattungstraditionen dar. Eine entscheidende Pointe der vorliegenden Argumentation besteht nämlich in der Einsicht, dass die historische Tradierung und damit der historische Gattungswandel ein spezifisches Merkmal literarischer und künstlerischer Gattungen darstellt, auf das mit einer eigenständigen, historisch ausgerichteten Theorie eingegangen werden muss. Die spezifische Historizität literarischer Gattungen ist mit synchronisch angelegten Gattungskonzepten ebenso wenig zu beschreiben, wie ihr mit rein terminologischen Strategien beizukommen ist. Gattungswandel und Gattungskonstanz müssen vielmehr Gegenstand genuin literarhistorischer und literaturtheoretischer Forschungen sein. Im gattungstheoretischen Teil des Buches werden entsprechend der dreiteiligen Gliederung im ersten Kapitel allgemeine kommunikationstheoretische Aspekte der Konstitution von Gattungen, die universalistisch angelegten Begriffe des ›Modus‹ (Genette) und der ›Schreibweise‹ (Hempfer), der ›kommunikativen Dimensionen‹ (Raible u.a.) sowie der ›poetogenen Strukturen‹ (Zymner) diskutiert. Ferner wird das Verhältnis von Gattungen und Medien untersucht. Im zweiten Kapitel werden literatursoziologische Fragen thematisiert: neben der Diskussion der älteren Begriffe der ›Gebrauchsform‹ und der ›Textsorte‹ und einer Einbeziehung der neueren Konzeptualisierungen von ›Diskurstraditionen‹ (Koch/Oesterreicher) und ›kommunikativen Gattungen‹ (Thomas Luckmann) werden drei gattungstheoretisch besonders relevante Aspekte hervorgehoben: die institutionelle Anbindung von Gattungen, ihre ideologische Signifikanz und die gesellschaftliche Zuschreibung kultureller beziehungsweise ästhetischer Wertigkeit. Im Blick auf den letzten Punkt wird in Abgrenzung zur geläufigen literaturwissenschaftlichen Wertungsdiskussion ein Wertbegriff zugrundegelegt, der die Frage gesellschaftlicher Funktionalität und ästhetischer Wertigkeit jenseits der überkommenen Konzeptionen ästhetischer Autonomie flexibel aufeinander beziehbar machen soll. Auf dem so abgesteckten Feld kommunikationstheoretischer und sozialer Aspekte der Gattungstheorie wird schließlich im dritten Kapitel des gattungstheoretischen Teils die Abgrenzung eines genuin literarischen Gattungsbegriffs vorgenommen, der auf das Prinzip der Historizität gegründet wird.

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Historische Gattungstopik des Sonetts

Eine mehrperspektivische Betrachtungsweise kennzeichnet vor dem Hintergrund dieser Überlegungen auch die Systematik der Auseinandersetzung mit der

14 Gattungsgeschichte des Sonetts. Dafür steht das Konzept einer ›Gattungstopik‹ ein. Ein wesentliches Ziel der Darstellung bildet dabei die Historisierung und damit die Relativierung des romantisch-idealistischen Sonettparadigmas – ein überfälliger Schritt, der für sich genommen noch keinen besonderen Neuigkeitswert besitzt. Indem das Gattungskonzept somit nicht auf eine wesenhafte Bestimmung im Sinne des romantischen Sonettentwurfs rekurriert, wird eine gleichwertige Würdigung der vormodernen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ausprägungen der Form ermöglicht. Dies setzt eine grundsätzlich flexible Gattungsbeschreibung voraus. Ein Sonettkonzept aber, das die vormoderne Sonettvielfalt zu integrieren vermag, tut sich schließlich auch sehr viel leichter mit der Beschreibung der modernen, avantgardistisch-experimentellen Sonettformen, die ebenfalls aus dem engen Schema von vier und vier und drei und drei Versen ausbrechen. Diese moderne Geschichte der Form wird hier zwar nicht mehr entfaltet, sie liegt aber unmittelbar im Horizont der vorgestellten Konzepte. Eine Historisierung des Gattungskonzepts bedingt, dass nicht nur die Gedichtform selbst als wandelbar betrachtet wird, sondern insbesondere auch deren poetologische Reflexion, die Gattungspoetik. Das System der Gattung wird als zweigleisig betrachtet. Es besteht einerseits aus der Abfolge der intertextuell aufeinander bezogenen Textexemplare und andererseits aus der historischen Reflexion darauf. Nicht nur die Gedichte wandeln sich in ihrer Erscheinungsform, auch ihre Poetik wandelt sich. Diese muss als ein integraler Bestandteil der Gattungsgeschichte beschrieben werden. Gattungsgeschichtler haben dies natürlich schon immer gewusst, doch es ist gattungstheoretisch bislang kaum verankert. Die historische Gattungspoetik vollzieht den Wandel der Gattung nicht nur nach, indem sie ihn nachträglich beschreibt, sie ist selbst aktiv und einflussreich an diesem Wandel beteiligt. Historische Ausprägungen der Form sind maßgeblich von historischen Gattungskonzepten beeinflusst. In diesem Sinn wird zu zeigen sein, wie sehr die Auffassung des Sonetts als eines Epigramms, die im Zusammenhang mit der generellen Epigrammmode im 16. Jahrhundert auf breiter Front aufkam, die Charakteristik der Sonettform verändert und geprägt hat. Nicht zuletzt ist sie für die Entwicklung von völlig neuen Reimschemata in Frankreich und England verantwortlich. Auf diese Bedeutung der historischen Gattungspoetik für die Gattungsgeschichte selbst nimmt das Konzept einer ›Gattungstopik‹ Bezug. Unter Topik versteht man in der alten Rhetorik eine Systematik zum Auffinden von Beweisen und Argumenten. Ihr Verfahren ist die multiple Perspektivierung von Themen nach Maßgabe mehr oder weniger bestimmter, dabei aber durchaus heterogener ›Suchformeln‹, ihr Telos die möglichst umfassende Aufschließung eines Gegenstandsbereichs.26 Es eignet dem sowohl ein Anspruch ——————— 26

Stellvertretend für die Forschungsliteratur seien genannt: Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a.M. 1976; Wilhelm SchmidtBiggemann: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983.

15 auf umfassende Beschreibung als auch ein Wissen um die Partialität der jeweiligen Perspektiven. Bezogen auf die Gattungsgeschichte soll der Begriff einer Topik der historischen Diversifikation des Gattungskonzepts und der Gattungsgestalt Rechnung getragen. Beschrieben werden historisch divergente Modelle der Gattung, die einer jeweils sehr unterschiedlichen Logik und sehr unterschiedlichen Begründungszusammenhängen angehören können, und die trotzdem zugleich im Rahmen einer historischen Kontinuität zu verorten sind. So gibt es beispielsweise keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den numerischen Regeln, die die ursprüngliche Sonettform am sizilianischen Kaiserhof des 13. Jahrhunderts bestimmten, und den Vorstellungen einer epigrammatischen Sonettform, wie sie im 16. Jahrhundert diskutiert wurde. Andererseits gibt es einen komplizierten, mittelbaren Zusammenhang zwischen den mathematisch-geometrischen Sonettvorstellungen der Romantik und den numerologischen Spekulationen der mittelalterlichen Sonetterfinder. Diese Bezüge sind im Einzelnen zu rekonstruieren, und sie sind für die Gattungskonstitution ganz entscheidend. Eine Gattungstopik des Sonetts entwirft mithin eine historische Theorie der Gattungsvorstellungen und Gattungsmodelle in ihrem Wechselspiel mit dem Wandel der literarischen Texte selbst. Diese Geschichte erweist sich als ausgesprochen diskontinuierlich. Sie gruppiert sich um poetologische Umbrüche und Gravitationszentren, nach deren Charakteristik die ›topische‹ Analyse zu fragen hat. Die Zahl und Auswahl relevanter Topoi einer Gattung kann prinzipiell offen gedacht werden und sie kann je nach Gegenstandsbereich universalistisch, institutionell oder diskursbezogen begründet sein, solange sie sich im Kontext von historischen Gattungskonzeptionen legitimiert. Daraus ergibt sich auch, dass sie umso differenzierter ausfallen wird, je enger der historische Rahmen der Analyse gezogen wird. Von einer Typologie ist die topische Analyse darin unterschieden, dass sie in ihrer historischen Ausrichtung nicht auf einen systematischen Zusammenhang zielt. Sie beansprucht nicht die systematische Ausschöpfung eines Gegenstandsbereichs, sondern eine historische. Die historische Entwicklung aber ist in gewissem Sinn eine anarchische. Es gibt kein Gattungsgesetz, von dem aus vorauszusagen wäre, in welcher Weise sich eine literarische Gattung entwickeln kann. Letztlich kann man mit medialen und textuellen Traditionen sehr vieles anstellen. Eine Gattungsgeschichte kann historische Diskontinuitäten und Brüche hervorbringen, die die transhistorische Identität der Gattung extrem strapazieren. Gerade auch dies liegt im Fokus einer historisch-topischen Untersuchung gattungsgeschichtlicher Prozesse. Es bildet den entscheidenden Vorteil gegenüber Gattungskonzepten, die im Dienst klassifikatorischer Stringenz oder terminologischer Präzision auf die historische Flexibilität ihrer Begrifflichkeit verzichten. Die gattungstopischen Untersuchungen zur Geschichte der Sonettgattung im zweiten Teil dieses Buches gehen bis auf den Ursprung der Form im 13. Jahrhundert zurück. Sie richten sich ferner auf die humanistisch-frühneuzeitliche Verwandlung des Sonetts im Zeichen der klassizistischen Imitatio- und der Epigrammpoetik sowie schließlich auf die Entwicklung der romantischen Sonettkonzeption im 18. Jahrhundert. Dabei lässt sich das heterogene Gattungsver-

16 ständnis an der Relevanz der unterschiedlichen Analogiebildungen zu anderen Gattungen – zur Kanzone im Mittelalter, zum Epigramm in der Frühen Neuzeit, zum Lied im Zeitalter der Aufklärung – und der daraus resultierenden Einmischung von neuen Gattungsmerkmalen in den verschiedenen Epochen ablesen. Die am Gattungswandel orientierte gattungstopische Perspektive bedingt, dass Transfer- und Übergangsphänomene stärker in den Blickpunkt rücken als die ›klassischen‹ Sonettwerke der großen Autoren. Ziel ist keine repräsentative Gattungsgeschichte, sondern eine modellhafte Studie der historischen Gattungsentwicklung und Gattungsvielfalt. Insofern erhalten Giacomo da Lentini und Guittone d’Arezzo mehr Aufmerksamkeit als Dante und Petrarca, Martin Opitz, Klamer Schmidt und Gottfried August Bürger größere als Goethe. Ronsard und Shakespeare werden nur gestreift, da auch sie typischerweise weniger zum Formenwandel als zur Formenfestigung beigetragen haben. Da zum Sonettwerk dieser Autoren zahlreiche Spezialstudien vorliegen, hätte eine angemessene Berücksichtigung zudem den Rahmen dieser Arbeit erheblich ausweiten müssen. Die Sonettauffassung des ersten Jahrhunderts seiner Geschichte lässt sich in diesem Sinn an seiner Beziehung zur strukturell und historisch vorgängigen Gattung der provenzalischen Kanzone festmachen. Von dieser grenzt sich das Sonettschema einerseits in seinem Ursprung ab, die Variabilität und spielerische Kombinatorik der Kanzonenform wirkt andererseits aber auch wieder auf die neue Gattung zurück. Die formale Beschreibung des frühen Sonetts folgt in den ersten Poetiken noch recht exakt derjenigen der Kanzone, so dass das Sonett in seiner frühesten Ausprägung als Sonderform einer mittelalterlichen Stollenstrophe beschrieben werden kann. In der Frühen Neuzeit wird das Sonett im Gegensatz dazu unter dem Einfluss der humanistischen Poetik und mit der Rezeption durch andere Nationalliteraturen zunehmend mit dem antiken Epigramm identifiziert. Dies bewirkt einschneidende Veränderungen der Sonettdichtung auf allen relevanten Ebenen der Gestaltung. Auch für die Aufnahme des Sonetts in der deutschen Literatur ist dieses Paradigma maßgeblich. Es bestimmt die Gattungstradition bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Für gattungsgeschichtliche Entwicklungen sind grundsätzlich nicht nur formale Parameter wichtig, es können Parameter auf den verschiedensten textuellen und kontextuellen Ebenen signifikant werden. Auch diskursgeschichtliche Faktoren spielen dabei eine nennenswerte Rolle. Beim Sonett stellt sich dies besonders vielschichtig dar, da es durch seine primär formale Konstitution thematisch offen ist, so dass sich für eine Vielzahl von Sonett-Themen eigene Traditionen entwickeln. Prominent zu nennen wäre als früheste diskursive Tradition die Minnethematik. Eine ebenfalls wichtige Rolle spielt die Entfaltung heilsgeschichtlich-narrativer Strukturen, die eng mit der wiederum formal relevanten Zyklusbildung im Sonett zusammenhängt. Zu erinnern ist auch an die enge Korrelation bestimmter formaler Sonderformen – so etwa die des bereits im 13. Jahrhunderts auftauchenden Schweifsonetts mit scherzhaft-burlesken Themen. Einen ganz eigenen Traditionszusammenhang bildet der sich im 16. Jahrhundert herausbildende Petrarkismus, der poetologische, thematische, stilistische und formale Merkmale eng verknüpft und potenziert. Der Petrarkismus

17 entfaltet im Rahmen der Gattungstradition des Sonetts eine Wirkung, die in ihren Ausläufern bis in die Gegenwart reicht, und die als integraler Teil einer Gattungsgeschichte verstanden werden soll. Der Zusammenhang von Gattung und petrarkistischem Diskurs steht deshalb exemplarisch im Mittelpunkt des Abschnitts über das deutsche Sonett im 17. Jahrhundert. Im Zeitalter der Aufklärung tritt das Sonett schließlich in seiner Bedeutung zunächst zurück, da es so stark mit der nun verabschiedeten imitatorischen Tradition der Poetik assoziiert war, doch zeigen sich Versuche einer rationalen Erklärung seiner Struktur, die zum Teil noch beim Epigramm, vor allem aber beim Modell des Liedes ansetzen. Die Analogie des Sonetts zum Lied führt zunächst zu einer Liberalisierung seiner formalen Bestimmungen, sie führt aber letztendlich auch zu jener strophischen Auffassung der Sonettgliederung, die die Grundlage für den romantischen Entwurf einer klassischen Sonettform bildet, und die die nachfolgende Gattungsgeschichte des modernen Sonetts nachhaltig geprägt hat. Am Beginn des 19. Jahrhunderts steht schließlich eine doppelte Formauffassung: einerseits das musikalische Klangobjekt, andererseits der klassische Körper der fest gegliederten Form. Die topische Untersuchung der Gattungsgeschichte des Sonetts hätte an der Schwelle zur modernen Sonettdichtung, die um das Jahr 1800 mit dem poetologischen Entwurf des neuen Sonettparadigmas bei August Wilhelm Schlegel erreicht ist, neu anzuheben. Die Fülle und Vielfalt, die die Sonettdichtung in den beiden folgenden Jahrhunderten auszeichnet, und die sie im Anschluss an ihre Aufwertung durch die romantische Gattungspoetik wieder ins Zentrum der lyrischen Entwicklung bringt, müsste den Gegenstand einer eigenen Studie bilden. Kennzeichnend für diese Entwicklung sind unter anderem Aspekte der formalen Artifizialität. Mit der romantischen Sonettpoetik ist der genuine Kunstcharakter des Sonetts ins Zentrum der Gattungsbetrachtung gerückt und sowohl theoretisch als auch formal zum Ausdruck gebracht worden. Die entsprechenden Grundlagen werden im letzten Kapitel dieser Arbeit dargestellt. Im 19. Jahrhundert diversifizieren sich diese Bedingungen erneut in den verschiedenen europäischen Literaturen. Die romantische Aufwertung des Sonetts führt unmittelbar zum historischen Rückgriff auf die reichhaltigen nationalen Traditionen und damit zu einer neuen heterogenen Entwicklung der Form. Es ist ein Ziel dieser Arbeit, auch dafür Begriffe, Perspektiven und historische Grundlagen bereitzustellen.

ERSTER TEIL Theorie medialer Gattungen

1

Universalistische Aspekte

1.1

Historische Gattungstrias und Redekriterium

Fragt man nach universellen Voraussetzungen der Bildung von künstlerischen und außerkünstlerischen Gattungen, so wird die Antwort anthropologische Gegebenheiten thematisieren: beispielsweise die Sprachfähigkeit, die Fähigkeit der menschlichen Hand, Zeichen und Objekte zu gestalten, oder die Möglichkeit, mithilfe des menschlichen Körpers Geschehnisse, Handlungen und Rede wiederzugeben. Anthropologische Gegebenheiten und mediale Bedingungen der Kommunikation bilden einen Voraussetzungsrahmen, der im weitesten Sinn für die Bildung von kommunikativen und künstlerischen ›Gattungen‹ relevant ist. Manche dieser Bedingungen, insbesondere die sprachlichen Aspekte, sind in der Gattungstheorie der überkommenen Poetik diskutiert und auf Begriffe gebracht worden. Das Verhältnis solcher universeller Bedingungen zu den konkret überlieferten poetischen Gattungen wurde dabei unterschiedlich konzeptualisiert. Je stärker der historische Wandel und die kulturelle Varianz künstlerischer Gattungen in der Moderne in den Blick geriet, desto prekärer erschien die Annahme, dass das System überkommener Gattungen auf allgemeingültige Grundlagen gestellt werden könne. Insbesondere betrifft dies die klassische Annahme, dass sich das System der literarischen Gattungen, um das es zuvörderst immer ging, gleichsam naturwüchsig in eine Trias epischer, lyrischer und dramatischer Formen aufteilen lasse. Obgleich dieses Modell längst nicht mehr überzeugt, wird es zu propädeutischen Zwecken in literaturwissenschaftlichen Einführungen bis heute fortgeschrieben. Trotz aller Gegenargumente scheint ihm eine basale Plausibilität und Klassifikationsfunktion zu inhärieren. Zu einem großen Teil beruht diese Plausibilität allerdings darauf, dass das literarische Feld seit langem mehr oder weniger nach eben diesen Kategorien sortiert wird, so dass es sich um eine durch Tradition erzeugte Plausibilität handelt, die gerade keine universelle Geltung beanspruchen kann. Man geht deshalb heute in aller Regel davon aus, dass allgemeingültige Voraussetzungen literarischer und künstlerischer Gattungsbildung auf einer höheren theoretischen Ebene angesiedelt werden müssen, so beispielsweise auf der Ebene einer allgemeinen Kommunikationstheorie. Auch in den neueren Auseinandersetzungen mit den Grundlagen der Gattungskonstitution tauchen Bedingungen auf, die man aus der traditionellen Diskussion kennt, Fragen der Medialität etwa oder das aristotelische Redekriterium, das zur Unterscheidung erzählender und dramatischer Gattungen herangezogen wird: ob nämlich in einem Text ein Erzähler spricht, oder ob der Text die

22 handelnden Figuren selbst sprechen lässt. Sowohl die Medialität als auch das Redekriterium waren bereits für die Unterscheidung der Trias von Epos, Lyrik und Drama zentral, so dass eine historische Klärung des Verhältnisses von derartigen universellen Differenzierungskriterien und historischen Gattungskonstellationen gefragt ist. Dabei ist durchaus strittig, wie sich das Verhältnis in der historischen Genese darstellt und welche Folgerungen daraus für den Stellenwert der Gattungstrias beziehungsweise einer allgemeinen Gattungstheorie zu ziehen sind. So hat Gérard Genette in seiner Introduction à l’architexte das antike Redekriterium des ›Modus‹ für seine narratologischen Anliegen fruchtbar gemacht, indem er dessen enge Verknüpfung mit der klassischen Gattungstrias als ein poetologisches Missverständnis und einen historischen Kategorienfehler erwies.1 Demgegenüber plädiert er dafür, die aristotelische Unterscheidung eines ›diegetischen‹ Berichtsmodus und eines ›mimetischen‹ Darstellungsmodus, die in etwa der modernen erzähltheoretischen Unterscheidung von ›telling‹ und ›showing‹ entspricht, von der Einteilung der Gattungen in erzählende und in dramatische Formen getrennt zu halten. Historisch haben diese Kategorien nämlich vielfältig ineinandergespielt. Der von Genette reklamierte Kurzschluss von Gattung und Modus kommt recht deutlich in der Goetheschen Unterscheidung von historischen ›Dichtarten‹ und universalistischen ›Naturformen der Dichtung‹ zum Ausdruck. Dabei führt Goethe die Naturformen ausdrücklich ein, um der mangelnden Systematik der historischen Genres im Dienst einer »rationelleren Anordnung« abzuhelfen.2 Für diese Genres – er nennt etwa Epopöe, Idylle, Lehrgedicht, Ode, Roman, Satire – gilt nämlich, wie es Wolfgang Kayser formuliert, dass die »Prinzipien der Gruppenbildung völlig verschiedener Art sind«,3 indem sie im einen Fall formal, im anderen thematisch oder funktional sind und sich keiner klassifikatorischen Ordnung fügen. Demgegenüber schlägt Goethe vor, dass es »nur drei echte Naturformen der Poesie« gebe: »die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.«4 Er bezeichnet diese ›Naturformen‹ in der Folge auch als »innere[] notwendige[] Uranfänge« im Unterschied zu den »äußeren zufälligen Formen« der historischen Genres.5 Zur systematischen Verunklarung der Unterscheidung trägt bei, dass Goethes wesenhafte Modi des ›klar Erzählenden‹ oder des ›persönlich Handelnden‹ – die auf die antike Unterscheidung von Diegesis und Mimesis zurückgehen – unmittelbar mit Begriffen wie ›Epos‹ und ›Drama‹ gleichgesetzt werden, die auf historisch gewordene Gattungen zielen. Für die grundlegenden ›Naturformen‹ muss aber gelten, dass sie in verschiedenen historischen Gattun——————— 1 2

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Genette: Architext. In den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans; Johann Wolfgang Goethe: Werke. Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. München 121981, Bd. 2, S. 187. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft [1948]. Tübingen, Basel 81962, S. 330. Goethe, Bd. 2, S. 187. Goethe, Bd. 2, S. 189.

23 gen repräsentiert sein können: »Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken« (187). Es handelt sich um übergeordnete Qualitäten, die hier mit historischen Gattungsnamen bezeichnet werden.6 Daraus ergibt sich dann die scheinbare Paradoxie von Aussagen wie: »Im französischen Trauerspiel ist die Exposition episch, die Mitte dramatisch, und den fünften Akt, der leidenschaftlich und enthusiastisch ausläuft, kann man lyrisch nennen« (188). Die Vorstellung einer hinter den Einzelgattungen stehenden systematischen Gattungstrias wurde im idealistischen 19. Jahrhundert philosophisch ambitionierten Begründungsversuchen unterzogen.7 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sie kanonisch. Karl Viëtor spricht von »menschliche[n] Grundhaltungen zur Wirklichkeit«, Wolfgang Kayser hält das Prinzip der Gattungstrias für »sicher und sachgemäß«.8 Den qualitativen Charakter der ›Grundhaltungen‹ arbeitet Emil Staiger heraus, indem er eine substantivische von einer adjektivischen Verwendung unterscheidet. Während erstere – die überlieferten Bezeichnungen Epos, Lyrik und Drama sowie die Vielfalt der Einzelgattungen – lediglich ein ›Fach‹ bezeichnen sollen, eine extensionale Menge von Texten also, gleichsam ›Textsorten‹ avant la lettre, wird die adjektivische Verwendungsweise qualitativ bestimmt: »Die Adjektive lyrisch, episch, dramatisch dagegen erhalten sich als Namen einfacher Qualitäten, an denen eine bestimmte Dichtung Anteil haben kann oder auch nicht.«9 Eine solch ›adjektivische‹ Erläuterung der modalen Kategorien wird noch von Alastair Fowler zur Erläuterung der Unterscheidung von ›kinds‹ und ›modes‹ herangezogen.10 Staiger begründet seine ›einfachen Qualitäten‹ in Anlehnung an Heidegger ›fundamentalanthropologisch‹. Es soll sich um »literaturwissenschaftliche Namen für allgemeine Möglichkeiten des Menschen« (253) handeln, um wesenhafte und damit universelle Grundhaltungen des Daseins.11 Einen entscheidenden Schritt in der Diskussion um die Grundlegung der Gattungslehre vollzieht demgegenüber Gérard Genette, indem er die qualitativen Kategorien auf die Unterscheidung von Diegesis und Mimesis in der anti——————— 6

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Stefan Trappen zeigt, inwiefern die elementaren Gattungen in der idealistischen Vorstellung selbst als wesenhaft und damit als unveränderlich verstanden werden; Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001, S. 221–224. Auf Hegel, Vischer und Jean Paul verweist Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 334; den spekulativ-essentialistischen Charakter betont insgesamt Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers. Tübingen 1981. Karl Viëtor: Die Geschichte literarischer Gattungen [1931]. In: Viëtor: Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1952, S. 292–309, hier: S. 292; Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 334. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik [1946]. Zürich 71966, S. 237. »The terms for kinds, perhaps in keeping with their obvious external embodiment, can always be put in noun form (›epigram‹; ›epic‹), whereas modal terms tend to be adjectival«; Fowler, S. 106. Für eine Diskussion des terminologischen Status der Unterscheidung von Dichtarten und Dichtweisen vgl. Zymner: Gattungstheorie, Kap. 8, S. 157–171.

24 ken Poetik zurückführt. Auf diese Weise löst er sie prinzipiell von ihrer Identifikation mit der Gattungstrias. Genette zielt auf eine historische Fundierung seiner Erzähltheorie unter Rekurs auf die modale Differenz von ›Berichten‹ und ›Darstellen‹. In einem historischen Durchgang durch die Geschichte der Poetik rekonstruiert er die Assoziation dieser modalen Differenzierungskriterien mit den poetischen Gattungen als die Geschichte eines Irrtums und einer Verwechslung. Für das Theoriedesign beharrt er darauf, dass sich die historischen Gattungen der Poesie nicht als Unterkategorien der qualitativen Modalbegriffe verstehen lassen und dass folglich die universalen Modi – also die Differenz von ›Berichten‹ und ›Darstellen‹ – und die historischen Gattungen – also die Bestimmung von ›Roman‹ oder ›Tragödie‹ – kategorial getrennt gehalten werden müssen. Stefan Trappen hat darüberhinaus gezeigt, dass die Modalkategorien in der vormodernen Poetik Teil eines in der antiken Dialektik begründeten Differenzierungsverfahrens sind, das der Bestimmung von einzelnen Gattungen systematisch vorausliegt.12 Grundlegend dafür ist die Poetik des Aristoteles.13 Dort wird eine Reihe von qualitativen Differenzierungskriterien herangezogen, die Aristoteles ›Diaphora‹ nennt, also ›Unterscheidungen‹. Diese Unterscheidungen dienen dazu, den Gegenstandsbereich der Poetik abzustecken und zu untergliedern. Die erste, der Poetik noch vorausliegende ist die von Mimesis und NichtMimesis. Dieses Kriterium der ›Nachahmung‹ oder ›Darstellung‹ erfüllt eine ähnliche Funktion, wie die moderne Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Texten:14 sie trennt für Aristoteles die Dichtung von Sachtexten, also etwa von Lehrdichtungen, und bildet ein elementares Kriterium der Poesie. Nicht nur die Dichtung ist aber durch Mimesis bestimmt. Um andere Darstellungsarten wie die Malerei oder den Tanz von der Poesie abzugrenzen, wird ein Diaphoron der Medialität herangezogen. Gemäß dieser Unterscheidung der ›Medien‹ der Darstellung15 lässt sich für Aristoteles die Dichtung von Malerei, Flötenspiel oder Tanzkunst absetzen, da nur sie sprachlich verfasst ist: als ihre ›Medien‹ werden Rhythmus, Melodie und Vers- oder Prosasprache genannt. Die weiteren Diaphora – nach ›Gegenständen‹ und ›Modus‹ – dienen dazu, die poetischen Gattungen untereinander zu differenzieren. Sie sind es, für die sich Genette interessiert.16 Hinsichtlich der Gegenstände wird nach den handelnden Personen ——————— 12

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Er rekonstruiert dies vor allem anhand der frühneuzeitlichen Poetik von Julius Caesar Scaliger; vgl. Trappen, S. 53–68. Vgl. insgesamt auch Heinrich F. Plett: Gattungspoetik in der Renaissance. In: Renaissance-Poetik. Hg. von H.F. Plett. Berlin 1991, S. 147–176. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, Kap. 1–3, S. 4–11 (1447a–1448b). Vgl. für deren narratologische Bedeutung etwa Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 22000, S. 9–19. Fuhrmann übersetzt hier ›Mittel‹, Halliwell wählt ›media‹; Aristotle: Poetics. Ed. and translated by Stephen Halliwell [...]. Cambridge, Mass. 1995, S. 29. Trappen wirft Genette vor, er habe die Systematik der Diaphora verkannt und das dritte Kriterium übergangen, wodurch seine gesamte Argumentation verfehlt sei; Trappen, S. 56 Anm. 70. Diese Kritik ist überzogen, denn Genette verweist ausdrücklich auf alle »drei

25 der poetischen Dichtungen unterschieden, ob also bessere, ähnliche oder schlechtere Helden dargestellt werden. Dieses Kriterium erlaubt die Unterscheidung von Tragödien und Komödien oder von Epen und Parodien und ist somit für die Differenzierung von poetischen Gattungen relevant. Es gilt laut Aristoteles aber auch für die Unterscheidung von Genera anderer Künste wie der Malerei. Das dritte für die Poesie relevante Kriterium ist schließlich der ›Modus‹, das heißt die Unterscheidung der Redeweisen, die Aristoteles von Platon übernimmt. Diese platonische Unterscheidung von Diegesis und Mimesis ist nur für die sprachlichen Künste anwendbar und erlaubt die Differenzierung von erzählenden und dramatischen Gattungen, von Drama, Epos und Dithyrambos.17 Der Modus wird damit zum wichtigsten Kriterium der Gattungsdifferenzierung. Insgesamt kennt Aristoteles mithin drei Diaphora der mimetischen Künste: das ›Medium‹, den dargestellten ›Gegenstand‹ und den ›Modus‹. In der frühneuzeitlichen Poetik bilden diese eine systematische Trias und heißen ›versus‹, denn für die Poetik wird das Medium zum Verskriterium, ›res‹ und ›modus‹.18 Das Kriterium des Modus ermöglicht drei verschiedene Umsetzungen in literarischen Gattungen. In Platons Politeia werden Diegesis und Mimesis erstmals unterschieden.19 Die ›Mimesis‹ fremder Rede im Sinn des Rollensprechens kennzeichnet die dramatischen Gattungen der Tragödie und der Komödie. ›Diegesis‹, das heißt einfaches Berichten ohne dialogische Elemente, findet sich laut Platon im Dithyrambos.20 Eine dritte Möglichkeit besteht bei Platon in der Kombination beider Formen, die den Erzählerbericht mit der Darstellung von dialogischer Figurenrede verbindet. Dies gilt für das Epos und für andere erzählende Gattungen. Die modalen Differenzierungskriterien ermöglichen also die Unterscheidung von drei Möglichkeiten der poetischen Redeweise und damit von drei Typen von Gattungen: dem rein monologisch-berichtenden Dithyrambos, den szenisch-darstellenden Formen der Tragödie und der Komödie und der diegetisch-mimetischen Mischform des epischen Erzählens.21 Genette führt nun vor, wie dieses System der Modi oder Sprechweisen im Lauf der Geschichte der Poetik zum System der als Gattungen verstandenen ——————— 17

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Kriterien«. Er stellt dazu fest, dass das Diaphoron der medialen ›Mittel‹ für die Differenzierung der poetischen Gattungen irrelevant sei; Genette: Architext, S. 19. Fuhrmann sieht darin ein Defizit in der systematischen Stringenz bei Aristoteles. Dies ist aber nicht zwingend, wenn man die Diaphora als prinzipiell offene Differenzierungsmöglichkeiten sieht. Sie begründen dann eben kein geschlossenes Klassifizierungssystem; Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ›Longin‹. Eine Einführung. Darmstadt 21992, S. 19. Vgl. Trappen, S. 53–68. Platon 393: Der Staat [Politeia]. In: Platon: Sämtliche Werke. Hg. von Erich Loewenthal. 8. durchges. Aufl. der Berliner Ausgabe von 1940. Heidelberg 1982, Bd. 2, S. 5–407 (II 327A–621D), hier: S. 90–94. Vgl. dazu Genette: Architext, S. 15–17; auch Friedrich Sengle: Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre. Stuttgart 21969, S. 22. Aristoteles sieht demgegenüber nur zwei Möglichkeiten vor, indem er den gemischten Modus streicht und das Epos der Diegesis zuschlägt, während der Dithyrambos verschwindet; vgl. dazu die Bemerkungen von Genette: Architext, S. 29–31.

26 Trias von Epik, Lyrik und Dramatik umgedeutet wurde.22 Dabei findet sich historisch immer wieder eine Dreigliederung von Gattungen, die mithilfe der drei Kombinationsmöglichkeiten der Modi unterschieden werden. Dies gilt im Mittelalter für die Lehre des Diomedes23 ebenso wie in der Renaissancepoetik beispielsweise für Antonio Sebastiano Minturno.24 Genette beschreibt eine graduelle Überblendung und Verschiebung des modalen Diaphorons hin zur modernen triadischen Gattungsvorstellung. Vollzogen wird diese für ihn erst bei Charles Batteux, da erst dieser die Lyrik an die Stelle des Dithyrambos setze und sie als eine Art der Mimesis bestimme, nämlich als die Darstellung von Affekten.25 Irene Behrens sah die Gattungstrias erstmals bei Minturno formuliert.26 Bereits dieser integriert den lyrischen ›Melos‹ in die modale und mediale Differenzierung der Gattungen, indem er sie als die Darstellung von Affekten und Sitten in Versen und mit Gesang und Tanz bestimmt.27 Hier kann man den kategorialen Unterschied der traditionellen dialektischen Diaphoralehre zur Vorstellung einer Gattungstrias von Drama, Epos und Lyrik noch recht gut nachvollziehen, da die Zuordnung von Gattungen und Modi in kontingenter Weise erfolgt. Während nämlich die ›szenischen‹ Dichtarten bei Minturno als rein mimetisch-darstellend bestimmt werden, sind die ›epischen‹ sowohl mimetisch als auch narrativ-mimetisch gemischt. Die ›melischen‹ Dichtarten – und hier ist die moderne Lyrik, insbesondere der Canzoniere Petrarcas, im Blick – verfügen nach Minturno über alle drei Modalkombinationen: sie können sowohl monologisch-narrativ als auch mimetisch-darstellend als auch aus beidem kombiniert sein. Modusdifferenzierungen und Gattungen sind also in kontingenter Koppelung aufeinander bezogen und bilden keine hierarchischen Inklusionsbe——————— 22

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Die Gradualität dieses Vorgangs betont bereits Claudio Guillén: Literature as System. In: ders: Literature as System. Essays Toward the Theory of Literary History. Princeton 1971, S. 375–419, hier: S. 396. Diomedes Grammaticus: Artis grammaticae libri 3. Nachdruck Hildesheim 1961; dazu Genette: Architext, S. 33f; Trappen, S. 59f. Antonio Sebastiano Minturno: L’arte poetica (1564). München 1971, S. 3; zuvor bereits in der lateinischen Poetik des Minturno: De Poeta (1559). München 1970. Genette: Architext, S. 42. Batteux erfährt an dieser Stelle etwas viel der Ehre, denn tatsächlich ist schon bei Aristoteles von der Mimesis von Charakteren, Affekten und Handlungen die Rede, so unter Bezug auf die Tanzkunst; Aristoteles: Poetik, S. 4/5 (1,1447a). Entsprechend findet man dies bei Minturno: »Le cose, che ad imitar prendiamo, sono i costumi, gli affetti, & i fatti delle persone«; Minturno: L’arte poetica, S. 2. Auf die maßgebliche Rolle von Batteux verweist auch Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968, S. 64–82. Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle/S. 1940, S. 87. Die genaue Argumentation bei Minturno ist Genette entgangen, da er sich an die verknappte und irreführende Darstellung von Behrens hält. Bei Minturno heißt es zur Lyrik: »Ma qual‹ è la Melica? M. Quella, che col dire in uersi, e col canto e col ballo insieme uedere si fà & udire«; Minturno: L’arte poetica, S. 5. Vgl. zur Überlegenheit der Konzeption Minturnos bereits Sengle: Vorschläge, S. 22f.; außerdem Guillén, S. 390ff.; Hempfer: Gattungstheorie, S. 156–160; Zymner: Gattungstheorie, S. 20–23.

27 ziehungen. Genette rekonstruiert dies als kreuzklassifikatorisches Verfahren.28 Gattungen sind insbesondere keine klassifikatorische Subkategorie des Modus. Die kategoriale Differenz der traditionellen, dialektisch begründeten Diaphoralehre zur modernen Systematik der Gattungstrias hat Stefan Trappen nochmals herausgearbeitet. Dabei unterstellt er Genette und anderen eine Tendenz, die Trias durch den Rückbezug auf die antike Moduslehre gleichsam zu hypostasieren und selbst Opfer eines »verzerrenden Rückblicks« zu werden.29 Der Dissens gründet im unterschiedlichen Erkenntnisinteresse beider Ansätze. Während Genette den antiken Modusbegriff in seiner Differenz zur modernen Gattungstrias in systematischer Absicht rekonstruiert, möchte Trappen vor allem die moderne Trias dekonstruieren, so dass er deren Inkompatibilität zu den antiken Diaphora betont.30 Er sieht in der Trias im Gegensatz zum antiken Modell eine kategoriale Neukonzeption des Zeitalters der Romantik, die mit apriorisch-essentialistischen Gattungskonzepten arbeitet. In diesem Sinn soll ein poetisch wertvoller Gattungstext innerlich und wesenhaft von den Merkmalen der Gattung durchdrungen sein: »Diese durchgreifende, alle, aber auch wirklich alle Ebenen eines Gedichts umfassende Prägung wird als Resultat der ›Gesetze‹ der Gattungen begriffen, die in jedem Poem wirken.«31 Die essentialistische Gattungslehre der idealistischen Poetik ist für heutige Überlegungen zu universellen Voraussetzungen literarisch-künstlerischer Gattungen aus mehreren Gründen nicht mehr anschlussfähig. Sie wird weder der kulturellen und historischen Vielfalt der Erscheinungsformen noch der modernen Mediensituation gerecht. Anders ist dies für die aristotelischen Differenzierungskriterien beziehungsweise ›Diaphora‹, wie die fortdauernde Relevanz des modalen Redekriteriums für die Gattungstheorie oder auch für die Konzeptualisierungen der Narratologie im Anschluss an Gérard Genette zeigt.

1.2

Dimensionen der Kommunikation

Ein universalistisches Fragen muss in einem strengen Sinn universalistisch ausgerichtet sein, das heißt, es muss konsequent auf die Bedingungen der menschlichen Kommunikation über kulturelle und historische Differenzen hinweg zielen. Es ist dann allerdings damit zu rechnen, dass über solche anthro——————— 28 29

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Genette: Architext, S. 21. Tatsächlich spricht Genette davon, dass es sich bei Batteux’ Ableitung der Trias um eine »Überinterpretation« der antiken Quellen handele, wo es »um etwas ganz anderes« gehe; Genette: Architext, S. 14. Vgl. den Vorwurf gegenüber Irene Behrens, Klaus Scherpe und Genette bei Trappen, S. 15, zu Genette auch S. 201 Anm. 123. So wird er nicht müde, die Affinität der triadischen Konzeptionen von Diomedes, Minturno oder Batteux zur romantisch-idealistischen Gattungstrias zu bestreiten, während andere Theoretiker hier stets einen genetisch-konzeptionellen Zusammenhang zu rekonstruieren versuchten; vgl. Trappen, S. 59f. (Diomedes), 15 Anm. 46 (Minturno), S. 126–130 (Batteux). Trappen, S. 221.

28 pologische Voraussetzungen der Kommunikation nur elementare und für Gattungsfragen vermutlich wenig interessante Auskünfte möglich sind. Insbesondere dürften die so zu ermittelnden universellen Voraussetzungen wenig Signifikantes über die historisch-kulturellen Variationsspielräume kommunikativer und künstlerischer Gattungen aussagen. Fasst man die genannte Universalitätsbedingung streng, dann erweisen sich die meisten interessanten Merkmale der Gattungsbildung kommunikativer und künstlerischer Ausdrucksweisen als historisch-kulturell wandelbar. Verfolgt man unter diesen Vorzeichen die triadische Konstruktion des Epischen, Lyrischen und Dramatischen zurück zu ihrem modalen Ursprung, so stellt sich nicht mehr die Frage nach der universellen Geltung der Trias, sondern vielmehr die nach dem Stellenwert der modalen Dimension der Literatur. Die althergebrachte Opposition der modalen Redeweisen des Diegetischen und Mimetischen ist in eine allgemeine kommunikationstheoretische Analyse zu überführen, die allerdings keine triadische Gestalt mehr annehmen wird.32 Die Frage nach möglichen ›Differenzierungskriterien für Gattungen‹ (Hempfer) ist verbunden mit der Frage nach einer allgemeinen Typologie. Es sind dazu verschiedene Vorschläge gemacht worden, die jedoch angesichts der Komplexität des Gegenstandsbereichs systematisch nicht sehr elaboriert sind und spekulativ bleiben. So heterogen sie einerseits erscheinen, finden sich doch andererseits gewisse Konstanten, die immer wieder genannt werden. Hans Robert Jauß hat die Frage nach Universalien im Blick auf die strukturelle Analyse epischer Formen zu beantworten gesucht, indem er vier Modalitäten der Narration, der Darstellungsform, der Bedeutungsebenen und der gesellschaftlichen Funktion unterschied.33 Was hier auf Modus, Form, Semantik und Funktion zielt, wird in den entsprechenden Katalogen immer wieder auf die eine oder andere Weise einbezogen. Klaus W. Hempfer hat die historischen Vorschläge für solche Differenzierungskriterien in systematischer Perspektive gesichtet und neben Kriterien wie denen des Textumfangs oder der äußeren Form vor allem die der pragmatisch zu bestimmenden Aussagemodi herausgestellt, an die er seinen Begriff der Schreibweise zu binden sucht.34 Es handelt sich bei den in Rede stehenden Kriterien um grundlegende poetologische Determinanten, für die eine einheitliche Begrifflichkeit und Theorie nicht oder nur sehr partiell zur Verfü——————— 32

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Einen triadischen Versuch macht noch Jürgen Petersen, wenn er die Gattungstrias aus den »drei Komponenten der Wirklichkeitssprache« deduziert, nämlich dem Sprechenden, dem der Monolog und damit die Lyrik entspricht, dem Angesprochenen, dem der Dialog und damit die Dramatik entspricht, und dem Sachbezug, dem die Epik bzw. das Erzählen entsprechen soll: Jürgen H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. Berlin 1996, S. 110ff. Triadisch argumentiert auch Wolfgang Lockemann: Textsorten versus Gattungen oder Ist das Ende der Kunstwissenschaft unvermeidlich? In: GRM 24 (1974) 284–304, S. 294. Auch Zymner hält in pragmatischer Hinsicht daran fest; Rüdiger Zymner: Texttypen und Schreibweisen. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hg. von Thomas Anz: Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart 2007, S. 25–80, bes. S. 29. Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: GRLMA, Vol. I (1972), S. 107–138, hier: S. 114–118. Hempfer: Gattungstheorie, S. 153–180.

29 gung steht. Ihre prinzipielle Heterogenität fasst der Begriff Hugo Stegers, der von ›Dimensionen der Kommunikation‹ spricht, wenn er sich auf funktionale, regionale, soziale, mediale, historische und sozial-situative Aspekte bezieht. Bei ihm steht eine soziolinguistische Perspektive im Vordergrund und manche literarisch relevanten Momente bleiben unberücksichtigt.35 Von Diskurseigenschaften oder Diskursebenen, die er in Anlehnung an Charles W. Morris in semantische, syntaktische und verbale – auf die Zeichenmaterialität bezogene – einteilt, spricht Tzvetan Todorov. Gérard Genette schlägt zur Beschreibung der literarischen Landschaft vor, inhaltliche, modale und formale Parameter heranzuziehen, die relativ konstant und transhistorisch sind.36 Knapp ist auch Dominique Combes Liste ›formaler‹ Determinanten der Gattungen, in der sie mediale, modale, formale und stilistische benennt.37 Differenzierter ist Wolfgangs Raibles an Steger anschließende Unterteilung in sieben Dimensionen von Merkmalen für Gattungen. Diese umfassen 1) die Kommunikationssituation, 2) den Objektbereich, also eine inhaltliche Dimension, 3) die ›Ordnungsstruktur‹, die man auch als die formale Dimension bezeichnen könnte, 4) das Wirklichkeitsverhältnis, also ein Fiktionalitätskriterium, 5) das Medium, 6) die sprachliche Darstellungsweise,38 was der Modalität bei Genette entspricht und schließlich 7) das Verhältnis zu anderen Texten, also ein Intertextualitätskriterium.39 Es ist wichtig, den theoretischen Ort dieser Überlegungen festzuhalten. Die Poetik gründet ihre Begriffe hier auf eine allgemeine Kommunikationstheorie, die selbst noch nicht hinreichend systematisiert erscheint bzw. nicht in befriedigender Weise an eine literaturwissenschaftliche Gattungstheorie angeschlossen ist. Der theoretische Ort der metapoetischen Kommunikationsbedingungen, ——————— 35

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Prinzipiell konvergieren die für die Klassifikation literarischer Gattungen relevanten Aspekte mit allgemein texttheoretischen, gleichwohl führt die unterschiedliche Perspektive zu anderen Gewichtungen. Obwohl die genannten Aspekte literarischer Gattungen auch texttheoretisch relevant sind, werden sie in diesem Rahmen wenig beachtet. Der Vorschlag zu einer textlinguistischen »Mehrebenenklassifikation« von Wolfgang Heinemann umfasst beispielsweise Funktionstypen, Situationstypen, Verfahrenstypen, Text-Strukturierungstypen und prototypische Formulierungsmuster und ließe sich vom Erklärungsanspruch unmittelbar an die Diskussion anschließen. Die für literarische Zusammenhänge wichtigen Aspekte der Medialität und der Modalität sind allerdings nicht berücksichtigt: W. Heinemann, Dieter Viehweger: Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen 1991, S. 145–169. Hugo Steger: Über Textsorten und andere Textklassen. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Berlin 1983, S. 25–67, hier: S. 36; Tzvetan Todorov: The Origin of Genres. In: Todorov: Genres in Discourse. Translated by Catherine Porter. Cambridge 1990, S. 13–26, hier: S. 18; Genette: Architext, S. 95f. Dominique Combe: Les genres littéraires. Paris 1992, S. 155f. Hierhin gehört auch die narratologische Unterscheidung narrativer, deskriptiver und argumentativer Texttypen, die von Seymour Chatman eingeführt wurde; S. Chatman: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca, N.Y. 1990, S. 115. Wolfgang Raible: Was sind Gattungen? Eine Antwort aus semiotischer und textlinguistischer Sicht. In: Poetica 12 (1980) 320–349, hier: S. 342–345; die ›siebte‹ Dimension, also das Intertextualitätskriterium, wurde erst nachträglich hinzugefügt: Ders.: Wie soll man Texte typisieren?, S. 69. In diesem Aufsatz werden alle sieben Dimensionen nochmals im Zusammenhang dargestellt.

30 deren Reihe man sich zunächst offen denken kann, ist ein prinzipiell anderer, als der von historischen Gattungen der Poetik, wie sie das Korpus der Tragödien oder das der Sonette darstellt, und auch ein anderer, als der von übergeordneten Klassifikationsbegriffen wie Drama oder Lyrik.40 Die historisch-literarischen Einzelgattungen jedenfalls sind nicht eindeutig auf die dimensionalen Bedingungen der allgemeinen Poetik, auf Modus, Medium, Form, Thema oder Stil oder auch auf solche der allgemeinen Kommunikationstheorie abzubilden. Diese stellen keine Oberbegriffe dar, sondern Aspekte, die in einer mehrdimensionalen Matrix zu fassen sind, in der die historischen Gattungen jeweils punktuell bzw. kombinatorisch, das heißt in einer bestimmten historischen Erscheinungsform verortet werden können.41 Die Trennung der metapoetischen kommunikationstheoretischen Dimensionen vom Begriff der historischen Gattung ist demnach grundlegend. Diese Dimensionen und ihre Parameter sind für den Gegenstandsbereich des Literarischen universalpoetisch zu analysieren, was in Disziplinen wie der Medientheorie, der literarischen Semantik, der Narratologie geschehen kann. Sie stellen Kriterien und Typologien zur näheren Beschreibung historischer Gattungen bereit, die jedoch in ihrer historischen Wandlungsfähigkeit nicht an solche Kriterien gebunden werden können. Historische Gattungen sind prinzipiell nicht universalpoetisch bzw. anthropologisch oder kommunikationstheoretisch zu fixieren. Insofern haben Untersuchungen zur Universalpoetik und solche zur Gattungsgeschichte einen unterschiedlichen Stellenwert. Erstere sind metapoetisch und universell, letztere poetisch und historisch.

1.3

Aussagemodi, Schreibweisen, poetogene Strukturen

Bei der Analyse kommunikationstheoretischer Dimensionen des Literarischen bewegen wir uns in einem Bereich universeller Bedingungen literarischer Gattungsbildung. In diesen Zusammenhang gehören die intensiven Bemühungen um den Begriff der Schreibweise innerhalb der neueren Gattungstheorie, der ausdrücklich auf eine Fixierung universeller Gattungsaspekte abzielt.42 Der ——————— 40 41

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Als bloßen »Sammelbegriff« bezeichnet im Anschluss an Staiger auch Hempfer die Begriffe Epik, Lyrik und Dramatik: Hempfer: Gattungstheorie, S. 224. Auf dem grundsätzlichen strukturellen Vorteil eines an Aristoteles gewonnenen kreuzklassifikatorischen Systems gegenüber einer hierarchisch-pyramidalen Klassifikation besteht Genette. Er exemplifiziert diesen Vorteil im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit dem Entwurf Hempfers: Genette: Architext, S. 90ff. Die Differenz zwischen der Ebene der universellen Dimensionen und derjenigen der wandelbaren Gattungen hebt auch Raible hervor: Wie soll man Texte typisieren?, S. 72. Theodor Verweyen, Gunter Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung. Darmstadt 1979, S. 110f.; Rüdiger Zymner: Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt. Paderborn 1995, S. 61 Anm. 124; ders.: Gattungstheorie, S. 172–190; jeweils unter Berufung auf Hempfer: Gattungstheorie, S. 223.

31 Begriff wurde von Klaus Hempfer eingeführt, um »zwischen einer historisch variablen und einer absolut oder relativ konstanten Komponente der ›kommunikativen Kompetenz‹ zu unterscheiden«.43 Es handelt sich also bei der Schreibweise um eine metapoetische bzw. allgemeine kommunikationstheoretische Kategorie. Damit verbunden war die Überzeugung, mittels der exakteren Verfahren der modernen Linguistik und Kommunikationstheorie auch den literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauch sinnvoll regulieren zu können. Die Analogie zwischen linguistischen Unterscheidungen – so der zwischen langue und parole (222) oder derjenigen der generativen Transformationsgrammatik zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur (225) – und der Unterscheidung zwischen generischen Invarianten und historischen Gattungen sollte dies unterstreichen.44 Der kritische Punkt der Theorie der Schreibweisen liegt in der Festlegung von Bedingungen zu ihrer Identifikation und damit in der methodischen Rechtfertigung ihres universellen Stellenwerts. Erst die systematische Anbindung einzelner Schreibweisen an kommunikationstheoretische Kategorien vermag ihren überhistorisch-universellen Charakter zu fundieren, und gerade in dieser Hinsicht stößt man wiederholt auf den Verzicht, »die gewonnenen Ergebnisse in eine allgemeine Texttheorie zu integrieren.«45 Schon Hempfer hatte eine solche Anbindung nur an einer einzigen Stelle beispielhaft vorgeführt, nämlich hinsichtlich des Redekriteriums, das eine Weiterentwicklung der aristotelischen Aussagemodi des Diegetischen und des Mimetischen unter linguistischpragmatischen Voraussetzungen darstellt. Er gründet die Modi des Berichts und der Darstellung auf eine berichtende und eine performative »Sprechsituation« im Sinne der Sprechakttheorie, um diesen beiden Sprechsituationen dann die narrative und die dramatische Schreibweise zuzuordnen.46 Wichtig ist die Struktur des Arguments: Schreibweisen werden als universelle konstituiert, indem sie unmittelbar von metapoetischen Kategorien allgemeiner Kommunikation abgeleitet werden. Ihre theoretische Dignität hängt wesentlich von dieser Ableitung ab. Es handelt sich dabei nicht um die Abstrahierung möglichst invarianter ——————— 43 44

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Hempfer: Gattungstheorie, S. 223. Man hat diese Analogiebildung mit Recht als bloß metaphorische kritisiert: Verweyen/ Witting: Die Parodie, S. 110. Kritisch zuvor bereits Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz und R. Warning. München 1976, S. 279–333, hier: S. 281 Anm. 3; vgl. die Replik: Klaus W. Hempfer: Schreibweise2. In: RLW, Bd. 3 (2003), Sp. 391–393, wo von »transhistorischen Invarianten« die Rede ist. Zymner verwendet einen weniger spezifischen Begriff der Schreibweise im Sinne von »medienspezifischen – auf Schrifttexte bezogenen – Ausprägungen allgemeiner, gestaltgebender oder prägender Verfahren«; Zymner: Texttypen und Schreibweisen, S. 25. Auch auf Hempfer beziehen sich Neumann/Nünning, S. 2 und 5. Gunther Witting: Über einige Schwierigkeiten beim Isolieren einer Schreibweise. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG Würzburg 1986. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 274–288, hier: S. 275; ähnlich Hempfer: »Es versteht sich von selbst, daß an dieser Stelle nicht der Aufbau einer Theorie der Sprechsituationen versucht werden sollte«; Hempfer: Gattungstheorie, S. 162. Hempfer: Gattungstheorie, S. 162f..

32 Gattungsmerkmale einer Klasse von narrativen Texten. Das allerdings wird nahegelegt, wenn Schreibweisen als »generische Tiefenstrukturen« bezeichnet werden (162). Wolfgang Raible hat seinen Überlegungen zu den ›Dimensionen‹ des Literarischen den Vorschlag angefügt, dass man von Gattungsbezeichnungen im eigentlichen Sinn nur sprechen sollte, »wenn die betreffenden Bezeichnungen Modelle sind, die mindestens aus fünf der sechs genannten Dimensionen Merkmale enthalten«, andernfalls sollte man von Gruppenbezeichnungen sprechen, wie etwa im Fall des Epischen.47 Dieser Vorschlag ist rein terminologischer Natur, doch macht er darauf aufmerksam, dass Modelle spezifischer Gattungen durch komplexe Merkmalsbündel gekennzeichnet sind, was sie von generelleren Begriffen unterscheidet. Entsprechend dazu hat Todorov zwischen elementaren und komplexen Gattungen unterschieden.48 Umgekehrt hat Hempfer vorgeschlagen, von primären Schreibweisen nur dann zu sprechen, wenn diese nur auf eine Sprechsituation gegründet seien. Daraus folgt, dass es sich bei Hempfers sekundären Schreibweisen – er nennt etwa die satirische, komische oder groteske Schreibweise (163) – um eine Annäherung an Textsorten oder Gattungsmodelle handelt, da sie eine höhere Merkmalskomplexion aufweisen. Zumindest scheint die klare begriffliche Trennung zwischen beiden Bereichen gefährdet zu sein. Zur Klärung trägt es bei, wenn man diese definitorisch-klassifikatorisch erstellten Kategorien nicht als sekundäre Schreibweisen, sondern mit Todorov als systematische Gattungsmodelle oder einfach als Textsorten bezeichnet. Ihre historische Geltung ist nämlich nicht die Folge ihrer universellen sprachtheoretischen Fundierung, sondern die ihrer definitorischen Weite. Der Vorschlag einer strengeren Formulierung von Bedingungen für die Bestimmung von universellen poetischen Schreibweisen sollte dann den zusätzlichen Effekt haben, einer Inflationierung des Begriffs entgegenzuwirken. Der Begriff der Schreibweise lässt sich sinnvoll auf die Unterscheidung Gérard Genettes zwischen Modus und Gattung zurückbeziehen, von der eingangs die Rede war. Genette gründet seinen Modusbegriff auf das aristotelische Redekriterium, und er unterscheidet einen narrativen von einem mimetischen Modus. Dies entspricht der Unterscheidung von Schreibweisen durch Hempfer. Wie dieser versteht Genette die Modi als linguistisch fundierte Kategorien von einem höheren Universalitätsgrad als Gattungen.49 Allerdings besteht Genette darauf, dass es sich bei Modi und Gattungen um unterschiedliche Register handelt, die in keinem Verhältnis der Inklusion stehen.50 Genette bevorzugt eine an Aristoteles angelehnte kreuzklassifikatorische Matrix, die die freie Kombinatorik von Parametern des Modus, der Form und der Thematik erlaubt. In eine ——————— 47

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Raible: Was sind Gattungen?, S. 346; später verallgemeinert Raible diese Überlegung in dem Sinne, dass Gattungsbezeichnungen allgemeiner oder präziser und differenziertern sein können wie andere Bezeichnungen auch; Raible: Wie soll man Texte typisieren?, S. 69. Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, S. 17. Genette: Architext, S. 86, Anm. 1, S. 91. Entsprechend hatte auch schon Guillén, S. 387f., argumentiert.

33 solche Matrix sind die Einzelgattungen eingeschrieben. Sie sind nicht als Unterarten von Modalbegriffen aufzufassen, da dies zu systematischen Widersprüchen führen würde: Es gibt Modi, z.B. den Bericht; es gibt Gattungen, z.B. den Roman; die Beziehung zwischen Gattungen und Modi ist komplex und beruht wahrscheinlich nicht, wie Aristoteles vermuten läßt, auf einer Relation der Inklusion. Die Gattungen können die Grenze des Modus ignorieren (Ödipus bleibt, auch wenn er erzählt wird, immer noch tragisch), so wie die Werke selbst die Gattungsregeln ignorieren können, aber vielleicht auf eine andere Art. Wir wissen jedoch auch, daß ein Roman mehr als Erzähltes und folglich 51 keine besondere Art des Erzählens, ja nicht einmal eine besondere Art von Erzählung ist.

Von einer derartigen Inklusionsbeziehung schien Klaus Hempfer auszugehen, wenn er eine implizit hierarchische Reihe bildet, bei der den übergeordneten Schreibweisen bzw. Modi und Typen als Sub-Modi die historischen Gattungen und Untergattungen untergeordnet werden.52 Während die Einführung von Submodi wie der Ich-Erzählung und auch die von Untergattungen wie die des pikarischen Romans sinnvoll ist, haben die modalen und die Gattungskategorien nach Genette einen unterschiedlichen Status: »Kurzum, wenn der ›Typus‹ ein Sub-Modus ist, so ist doch die Gattung kein Sub-Typus, genau da bricht die Reihe der Inklusionen ab« (93).53 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die grundsätzliche Kritik einordnen, die Gottfried Willems am Ansatz Hempfers geübt hat.54 Er fasst Hempfers Rede von Tiefenstrukturen und generischen Invarianten als das Postulat von ›Naturgesetzen‹ am Grunde literarischer Gattungen auf und sieht folglich darin keinerlei Fortschritt gegenüber den Aporien der herkömmlichen Gattungstheorie. Wenn diese Tiefenstrukturen von Hempfer tatsächlich als übergeordnete Klassifikationsbegriffe aufgefasst würden, so dass der Roman als eine Art des Narrativen erschiene, wäre der Vorwurf berechtigt. Fasst man das Narrative dagegen als einen universellen Modus, dessen sich Romane mehr oder weniger stark bedienen können, so trifft der Vorwurf nicht. Die narrative Schreibweise darf dann aber auch kein notwendiges Merkmal der Romangattung bilden. In Weiterentwicklung der Theorie der Schreibweisen hat Rüdiger Zymner ein Konzept der ›poetogenen Strukturen‹ vorgeschlagen, das sich anschickt, ——————— 51 52

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Genette: Architext, S. 86. Genette: Architext, S. 90f. Auf einem Workshop zur »Gattungstheorie« im Mai 2008 an der Universität München wies Klaus Hempfer diese Interpretation seiner Unterscheidungen im Sinne einer Klassenhierarchie allerdings als ein »Missverständnis« zurück. Die Problematik, universalistisch konzipierte kommunikative Modi als klassifikatorische Oberbegriffe für Gattungen zu fassen, stellt sich auch für Monika Fluderniks Konzeption von ›Makrogenres‹, die sie zur Grundlegung der Narratologie entwirft; vgl. M. Fludernik: Genres, Text Types, or Discourse Modes? Narrative Modalities and Generic Categorization. In: Style 34 (2000) H. 2, S. 274–292, bes. S. 280ff; vgl. dazu auch: Ansgar und Vera Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen: Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hg. von A. und V. Nünning. Trier 2002, S. 1–22, bes. S. 9. Willems, S. 93 Anm. 86.

34 eben jene Brücke zwischen anthropologisch-universellen Bedingungen und der Konstitution historisch-poetischer Gattungen zu schlagen, von der hier die Rede ist.55 Zymner versteht unter poetogenen Strukturen Merkmale der Alltagskommunikation – er spricht von Strukturen der ›Nichtkunst‹ –, die sich als besonders »poesiewirksam« erwiesen haben,56 und meint damit beispielsweise das Erzählen oder das Phänomen von Rhythmus und Reim. Indem er die poetogenen Strukturen in der Alltagskommunikation verankert, entspricht er der hier erhobenen Universalitätsbedingung. Zugleich arbeitet das Kriterium des ›Poetogenen‹ allerdings mit einer distinkten Vorstellung von ›Poetizität‹, deren Universalität zweifelhaft erscheinen muss.57 Ich halte die Vorstellung jedenfalls für falsch, dass es spezifische kommunikative Strukturen gebe, die per se und a priori ›poetogen‹ seien, also in besonderer Weise poesiegeeignet. Eine solche Vorstellung führt unmittelbar zurück zu einer normativen Poesieauffassung, die sich am historisch und kulturell Überkommenen orientiert, denn dann wären ja wohl das Narrative und das rhythmische und reimende Sprechen besonders poetisch, weil auf ›poetogene Strukturen‹ gegründet. Ich halte es im Gegensatz dazu für zwingend, davon auszugehen, dass prinzipiell alle kommunikativen Strukturen und Bedingungen und alle menschlichen Äußerungsmöglichkeiten ästhetisch wirksam beziehungsweise poetogen sein können. Nichts Menschliches ist der Kunst fremd, muss das Prinzip lauten. Aus diesem Grund ist die Frage nach den grundlegenden Bedingungen der Poesie eine Frage nach der menschlichen Kommunikation selbst und sollte prinzipiell unabhängig von Erwägungen zur Poetizität oder Ästhetik bleiben. Von der Bestimmung einzelner Modi, Schreibweisen oder poetogener Strukturen ist demnach zu fordern, dass sie in universalistischer Perspektive auf anthropologischer oder kommunikationstheoretischer Grundlage isoliert werden und dass sie in keiner fixierten Beziehung zu Gattungsbegriffen stehen. In den Bereich einer solchen Theorie gehören dann auch die Versuche einer überhistorischen Grundlegung der traditionellen Hauptgattungen, also beispielsweise die klanglich-musikalische Dimension der Sprache, die man als den Ursprung der Lyrik zu fassen versucht, oder die mimetisch-darstellende Dimension, die für das Drama wesentlich erscheint.58 Hier wäre jeweils die Theorie einer akus——————— 55 56

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Zymner: Gattungstheorie, S. 168 und 188–190. Rüdiger Zymner: Poetogene Strukturen, ästhetisch-soziale Handlungsfelder und anthropologische Universalien. In: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Hg. von R. Zymner und Manfred Engel. Paderborn 2004, S. 13–29, hier: S. 27. Zymners Trennung von ›Dichtkunst‹ und ›Nichtkunst‹ ist offenbar seinen strukturalistischen Voraussetzungen geschuldet und rekurriert auf eine Art Jacobsonsches Poetizitätskriterium. Dessen modern-autonomieästhetische Schlagseite enthüllt die Beschränkung auf eine ›Literatur‹, deren »geglückte Anfänge jedenfalls für die deutsche Literatur nach verbreiteter Meinung im 18. Jahrhundert zu suchen sind.« Eine solche Konzeption hat einen Universalitätsanspruch erst gar nicht erhoben; Zymner: Poetogene Strukturen, S. 28. Vgl. zu Gesang, Klang und Rhythmus als einem Grundphänomen der Lyrik für die neuere Gattungslehre beispielsweise Bernhard Asmuth: Aspekte der Lyrik. Mit einer Einführung in die Verslehre. Opladen 71984, S. 125–139; durch eine medienorientierte Betrachtungs-

35 tisch-klanglichen oder einer mimetisch-darstellenden Schreibweise zu entwerfen, wie dies in dem von Rüdiger Zymner und Manfred Engel herausgegebenen Sammelband ansatzweise versucht wurde.59 Es ist noch eine Anmerkung zu den Begriffen des Modus und der Schreibweise erforderlich.60 Die im Deutschen gebräuchlich gewordene Bezeichnung ›Schreibweise‹ scheint im Unterschied zum international üblichen Begriff des ›Modus‹ medienspezifisch auf Schrift bezogen zu sein und die Modi des Gesprochenen zu vernachlässigen. Wenn sich Hempfer dann allerdings auf das ›Redekriterium‹ in sprechakttheoretischer Reformulierung bezieht, scheint dies wiederum nicht streng zu gelten und auch nicht intendiert zu sein. Der Begriff der Schreibweise kann eingedenk der doppelten Medialität von Literatur zwischen Oralität und Literalität dann als ein übergreifender Begriff beibehalten werden, wenn impliziert wird, dass er einen Index auf die gesprochene Sprache besitzt.61 Klarer wäre dagegen generell sprachbezogen von ›Redeweise‹ oder ›Redemodus‹ zu sprechen. Die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Medialität geht über die Problematik von Mündlichkeit und Schriftlichkeit allerdings hinaus, so dass eine medientheoretische Erweiterung der Gattungsdiskussion erforderlich ist, die einige grundlegende Modifikationen der traditionellen gattungstheoretischen Diskussion nötig macht.62 Eine terminologische Konsolidierung ist hier aus literaturwissenschaftlicher Sicht noch nicht recht auszumachen. Für den Gegenstandsbereich der Literatur stellt sich im medienwissenschaftlichen Kontext zunächst die Frage nach der medialen Bestimmung des Literarischen, die komplizierter ist, als es auf den ersten Blick scheint.

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weise relativiert bei Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart 1995, S. 24–41; vgl. auch András Horn: Theorie der literarischen Gattungen. Ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft. Würzburg 1998, S. 19–43. Im Rahmen ihres ›Mehrkomponentenmodells‹ der lyrischen Gattung diskutiert Eva Müller-Zettelmann auch die lyrischen Klangstrukturen: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst. Heidelberg 2000, S. 91–96. All diese Überlegungen sind in eine Gattungskonzeption der Lyrik integriert und werden nicht universalistisch fundiert. In den neueren Darstellungen werden die Merkmale allerdings kaum noch als notwendige Gattungsmerkmale aufgefasst. Während das Konzept der ›poetogenen Strukturen‹ eine solche anthropologisch begründete Fragestellung anzustoßen versuchte, bleiben die Einzelergebnisse des Tagungsbandes in ihren Einsichten heterogen. Vermutlich sind die aufgeworfenen Fragen zu grundlegend und komplex, um sie im Rahmen eines Tagungsprojekts angehen zu können. Vielmehr sind hier fundierte Einzelstudien und übergreifende Forschungsprojekte zu den jeweiligen Aspekten erforderlich; vgl. Anthropologie der Literatur. Hg. Zymner 2004. Vgl. zum Begriff des Modus im übrigen auch Fowler, der ›Modus‹ als eine Art akzidentielle Gattungseigenschaft beschreibt, wie sie etwa im Begriff des ›lyrischen Dramas‹ zum Ausdruck kommt. Ein solches akzidentielles Einkreuzen sekundärer Gattungsbegriffe, die hier sehr stark an Staigers Begriffsgebrauch erinnert, ist allerdings wenig klar und potenziert die Probleme; Fowler, S. 106ff. Vgl. dazu unten, »Die Medialität der Literatur«, S. 40ff. Vgl. auch die entsprechenden Bemerkungen von Gymnich/Neumann, S. 43.

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1.4

Mediencodes und Medienkanäle

Die Abgrenzung der Literatur über die Dimension der Medialität – sei damit nun Rede, Schrift oder Sprache gemeint – ist nach diesen Überlegungen problematisch, doch spielt die Medialität der Literatur eine entscheidende Rolle, wenn der Gegenstand in den weiteren Kontext einer Medienkommunikationstheorie eingeordnet werden soll. Die hier interessierende Vermittlung medientheoretischer Überlegungen mit den klassischen gattungstheoretischen Konzepten ist weitgehend ungeklärt und stellt damit ein zentrales Theoriedefizit dar. Dieses Defizit ist nicht zuletzt eines der Anwendbarkeit. Während auf der Ebene der umfassenden Theoriebildung etwa im Rahmen der Systemtheorie Niklas Luhmanns universalistische Konzepte entwickelt werden, die im Sinne einer ›Medienkulturwissenschaft‹ für die Literaturwissenschaft spezifiziert wurden,63 ist eine Integration solcher Konzepte auf der mittleren Ebene zwischen Theorieentwurf und historischer Anwendung ein weitgehend offenes Problem.64 Im folgenden werden medientheoretische Konzepte in dem Maß herangezogen und diskutiert, wie sie für die gattungstheoretischen Überlegungen im Bereich der Literatur relevant erscheinen. Dabei soll neben der gattungsgeschichtlichen auch die medienwissenschaftliche Anschließbarkeit prinzipiell gewährleistet werden. Zunächst einmal ist der Medienbegriff selbst äußerst vielschichtig und meint in unterschiedlichen Disziplinen Unterschiedliches.65 In der geläufigsten Bedeutung ist damit der publizistische Begriff der Massenmedien gemeint, der von Gerhard Maletzke bestimmt wurde als »technische Instrumente oder Apparate, mit denen Aussagen öffentlich, indirekt und einseitig an ein disperses Publikum verbreitet werden«.66 Dies meint ein spezifisches sozialhistorisches Faktum und keine universelle kommunikationstheoretische Dimension. Vor allem bezieht er sich auf Techniken und auf Institutionen der modernen Kommunikationsindustrie. Allgemeiner definiert Roland Posner ein Medium als ein »System von ——————— 63

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Vgl. z.B. Siegfried J. Schmidt: Medien, Kultur: Medienkultur. In: Medien und Kultur. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposium der Universität Lüneburg. Hg. von Werner Faulstich. Göttingen 1991, S. 30–50; Jörg Schönert: Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft – Medienkulturwissenschaft. Probleme der Wissenschaftsentwicklung. In: Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Hg. von Renate Glaser und Matthias Luserke. Opladen 1996, S. 192–208. Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992, bes. S. 21–27. Vgl. dazu Helmut Schanze: Medienkunde für Literaturwissenschaftler. München 1974; Fred Inglis: Media Theory. An Introduction. Oxford, Cambridge, Mass. 1990; Werner Faulstich: Medientheorien. Göttingen 1991; Daniela Kloock, Angela Spahr: Medientheorien. Eine Einführung. München 1997; Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung. Hamburg 2006. Gerhard Maletzke: Einführung in die Massenkommunikationsforschung. Berlin 1972, S. 35f.; vgl. dazu Schanze: Medienkunde, S. 27ff.; Faulstich, S. 102–111; für eine Kritik: Roland Posner: Nonverbale Zeichen in öffentlicher Kommunikation. In: Zeitschrift für Semiotik 7 (1985) 235–271, S. 154f.

37 Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen, das den in ihm erzeugten Zeichenprozessen bestimmte gleichbleibende Beschränkungen auferlegt«.67 Über diese Bestimmung differenziert er Medienbegriffe unterschiedlicher Systemzusammenhänge, z.B. biologische, die nach Kriterien der Sinnesmodalität (visuell, akustisch, usw.) unterschieden werden, technologische nach den verwendeten Apparaten, soziologische nach Institutionen oder codebezogene nach dem Code.68 Dabei zielt die gebräuchliche Rede von einem Medium wie Radio auf bestimmte Konstellationen dieses Feldes, so etwa auf eine bestimmte Übertragungstechnik (Rundfunk), die eine bestimmte Codierung (analoge Schallaufzeichnung) für eine bestimmte physische Kontaktmaterie (Radiowellen) nutzt, um auf bestimmte Sinnesorgane (Ohr) einzuwirken, und zwar im Rahmen einer entsprechenden Institution (Rundfunkanstalt). Eine für die Gattungsdiskussion nützliche begriffliche Vereinfachung dieser Zusammenhänge stellt die überkommene informationstheoretische Unterscheidung von Code und Kanal dar.69 Sie beruht ursprünglich auf dem mehrgliedrigen Modell der Informationsübermittlung von Shannon und Weaver.70 Für unsere Zwecke interessiert vor allem die Frage, in welcher Weise sich die materiale Beschaffenheit von Übertragungskanälen, also der Trägermaterialien, auf die Wahl von Codes und damit eben auch von Gattungen auswirkt. Der Code meint eine Zeichenkonvention der Kommunikanten, der Kanal den natürlichen oder technischen Träger der Signale (den sekundären Träger, z.B. das Papier) oder auch die physischen Signaleigenschaften (den primären Träger, z.B. die Tintenschrift),71 die man auch in ›materielle‹ und ›energetische‹ Träger unterteilen kann.72 Der Begriff des Mediums wird sowohl für die physischen Sekundärträger als auch für die Primärträger und schließlich noch für die verwendeten Codes (z.B. die Schrift als Zeichensystem) gebraucht. Diese Mehrdeutigkeit des Medienbegriffs soll im folgenden explizit gemacht werden, indem von einem

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Posner, S. 255. Posner, S. 255–258. Insgesamt nennt Posner sechs verschiedene Medienbegriffe, außer den genannten ist das noch der physikalische (Kontaktmaterie) und ein kulturbezogener (Textsorte). Dass Gattungen und Textsorten hier als Medien erscheinen, wird von Posner nicht weiter ausgeführt und von mir hier nicht weiterverfolgt. Eine ähnliche Begriffsverwendung kehrt im Rahmen der Luhmannschen Medienkonzeption wieder. Hans-Joachim Flechtner: Grundbegriffe der Kybernetik. Eine Einführung. Stuttgart 51970, S. 20f.; auch: Schanze: Medienkunde, S. 23f. Claude E. Shannon, Warren Weaver: The mathematical theory of communication. Urbana, Ill. 1998 [1949]; Flechtner, S. 16–24, bes. S. 19f. Flechtner, S. 159. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. Stuttgart 1985, S. 130; Flechtner, S. 143f.; Hans J. Wulff: Medium und Kanal. In: Papiere des Münsteraner Arbeitskreises für Semiotik 10 (1979) 38–67; Karin Böhme-Dürr: Technische Medien der Semiose. In: Semiotik. Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Hg. von Roland Posner, Klaus Robering, Thomas A. Sebeok. 1. Teilbd., Berlin, New York 1997, S. 357–384, hier: S. 363–365.

38 zweipoligen Medienbegriff ausgegangen wird, der einerseits Codes und andererseits Kanäle bzw. Kanalsysteme umfasst.73 Im Anschluss an seine Konzeption ›symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien‹, die gesellschaftliche Phänomene wie Macht und Geld, Wahrheit und Liebe erfassen sollen, hat Niklas Luhmann einen sehr abstrakten Medienbegriff entworfen, der auf den verschiedensten Ebenen der Kommunikation zur Anwendung kommen kann. ›Medium‹ wird dabei korreliert mit dem Begriff der ›Form‹ und wird bestimmt als der »Fall loser Kopplung von Elementen«, während Formen »in einem Medium durch feste Kopplung seiner Elemente« gewonnen werden.74 Daraus folgt, dass ein Medium Formen generiert, die auf einer nächsten Ebene selbst wiederum als Medium auftreten können. Diese anspruchsvolle Konzeption abstrahiert von materialen Übertragungsmedien und Kanälen und generiert einen stark universalisierten Medien- und Codebegriff. Die Möglichkeiten und Grenzen einer Umsetzung eines solchen Medienbegriffs auf so unterschiedlichen Ebenen wie der Sprachtheorie, der Gattungstheorie oder der Ästhetik ist noch kaum abzuschätzen.75 Die entsprechenden Diskussionen waren bei Luhmann vor allem auf ›Codierungsfragen‹ des Kunstsystems konzentriert, werden aber verschiedentlich weiterentwickelt.76 Das elastische Begriffspaar von Medium und Form läuft dabei allerdings Gefahr, einer Inflationierung zu unterliegen, wenn es auf jeden denkbaren Gegenstand anwendbar wird. Die extreme Generalisierung der Theorie kann dazu führen, dass man zunehmend hinter bereits erreichte Differenzierungsstandards der entsprechenden Disziplinen zurückfällt. Insofern wirkt die Applikation des Medien- und Formbegriffs auf sprach- und gattungstheoretische Gegenstandsbereiche so lange fragwürdig, als dem keine spezifische Explikation auf gegenstandsnäherem theoretischem Niveau mehr entspricht.77 Alle erwähnten Medienbegriffe sind literaturwissenschaftlich relevant. Gattungstheoretisch steht nun die Frage im Vordergrund, inwiefern literarische Gattungen – und damit die Literatur – selbst mediengebunden sind bzw. welchen Einfluss die Medialität etwa bei Medienwechseln auf Gattungen nimmt.78 ——————— 73 74 75

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Wolfgang Raible spricht von ›Kombinationsmedien‹ und von ›Trägermedien‹, um die entsprechende Differenz zu fassen; Raible: Wie soll man Texte typisieren?, S. 66f. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 168f. Faulstich, S. 15f.; zum Konzept von Parsons: Stefan Jensen: Talcott Parsons. Eine Einführung. Stuttgart 1980, S. 164ff.; zu Luhmann: Harro Müller: Systemtheorie und Literaturwissenschaft. In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus-Michael Bogdal. Opladen 21997, S. 208–224. H. Müller, S. 218f. In diesem Sinn enttäuscht auch die Anwendung der Medium/Form-Dichotomie auf den Werk-Begriff bei Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, S. 48ff. Es sind Fragen, die auch Siegfried J. Schmidt für besonders interessant hält, nämlich solche »nach (Medien-)Gattungen, Medienwechsel und seinen Auswirkungen auf Medienfunktionen, der Rolle der Materialität von Medien, medienspezifischer Formen von Narrativität und Fiktion, Wandlungen von Produktions- und Rezeptionsbedingungen u.a.m.«; Schmidt: Medien, Kultur, S. 48. Für die Bedeutung des Medienwandels für die historische Entwick-

39 Zunächst einmal umschreibt die Medialität in einem gewissen Sinn den literaturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich, und zwar über das Medium gesprochener und geschriebener Sprache, an das das Verständnis von Literatur gebunden ist. Literatur ist ein sprachliches Phänomen, wenn auch nicht ausschließlich. Andererseits kann Literatur und können literarische Gattungen sowohl mündlich als auch über ganz unterschiedliche technische Übertragungskanäle wie Manuskript, Buch, Zeitschrift, Rundfunk verbreitet werden. Die Beschreibung der spezifischen Medialität der Literatur legt eine Bezugnahme auf die Unterscheidung von Code und Kanal nahe, das heißt auf eine zweipolige Fassung des Medienbegriffs. Jörg Schönert spricht von ›Medialitäten‹ in bezug auf Schrift, Druck, Bild, gestaltete Objekte, Bilderfolgen/bewegte Bilder, Körperausdruck und Körperbewegung und Musik und im Unterschied dazu von ›Medien‹, in denen diese Medialitäten umgesetzt werden: im Buch, in der Zeitung/Zeitschrift, in Graphik, Malerei, Plastik, Fotografie, im Hörfunk, Film, Fernsehen, Video, auf der Bühne, in der szenischen oder technisch reproduzierten Vermittlung von Musik.79 Die Beispiele entsprechen der Unterscheidung von Code und Kanal. Für die Qualifizierung der Medialität literarischer Gattungen empfiehlt sich die Verwendung eines Medienbegriffs mittlerer Reichweite, der in diesem Sinn auf die historische Medienkommunikation bezogen bleibt. Dabei interessiert vor allem die Zuordnung von unterschiedlichen Zeichensystemen bzw. Codes zu bestimmten Kommunikationskanälen. Es sollen Aussagen der Art gemacht werden, dass der materielle Zeichenträger Papier als Kanal graphisch-visuelle Codes wie Bilder und Schriften aufnehmen und damit auch kombinieren kann oder dass Schriftcodes auf Papier und durch zusätzliche Codierung auch telegraphisch, im Fernsehen oder im Internet übermittelt werden können, nur mühsam buchstabierend aber per Telefon. Um solche Aussagen machen zu können, eignet sich die bereits zitierte Mediendefinition von Posner, gemäß der ein Medium bestimmt wird als ein »System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen, das den in ihm erzeugten Zeichenprozessen bestimmte gleichbleibende Beschränkungen auferlegt«. Vor diesem Hintergrund kann man nun vereinfachend Codes und Kanäle unterscheiden. Der Begriff des Codes kennt innerhalb der Semiotik ähnlich differierende Definitionen, wie der des Mediums. So bezeichnet er im engeren Sinn eine Zuordnungsrelation zwischen Zeichen- oder Elementmengen – eine Übersetzungsregel –,80 in anderer Bedeutung lediglich einen Zeichenvorrat bzw. ein System von Elementen.81 Man kann so von einem (Medien-) Code als einem System von Elementen sprechen, das einem (Übertragungs-) Kanal zugeordnet ——————— 79 80

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lung des Gattungssystems vgl. Helmut Schanze: Zur Konstitution des Gattungskanons in der Poetik der Renaissance. In: Renaissance-Poetik. Hg. Plett 1991, S. 177–196. Schönert, S. 204. »Thus a code is a set of substitution equations comprising the interface component of a translation algorithm«; Gavin T. Watt, William C. Watt: Codes. In: Semiotik. Hg. Posner u.a. 1997, S. 404–414, hier: S. 404. Nöth, S. 179f.

40 werden kann, dessen Beschränkungen möglicher Elemente der Code gerecht wird. Bezüglich weiterer Codes, die dem gleichen Kanal gerecht werden, kann man sagen, dass die Codes kanaläquivalent sind.82 Im obigen Beispiel gilt dies für Schrift und Bild. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass diese Redeweise von technischen Spezifikationen weitgehend absieht, indem sie die zusätzlichen Codierungen, die das Kanalsystem vornimmt, also im Fall der elektronischen Medien die Binärcodes zur elektrischen Übertragung von Schrift oder die Digitalisierung von Bildern und Tönen in dem Maße vernachlässigt, als diese für die Frage der Gattungskonstitution keine unmittelbare Relevanz gewinnen.83 Wie das Beispiel Hypertext zeigt, kann eine solche Relevanz allerdings jederzeit eintreten, indem entsprechende Möglichkeiten eines Mediums ausgenutzt werden. Auf der Ebene einer geringeren, sinnlich noch unmittelbar erfahrbaren Codierung sind solche Möglichkeiten denn auch in entsprechendem Maße relevant, wie im Fall von Bildern die Unterschiede einer Codierung als Zeichnung, Gemälde, Holzschnitt oder Kupferstich deutlich werden lassen. Nicht die tatsächliche Materialität der Kanäle wird zum Ausgangspunkt von Gattungen, sondern das sinnlich erfahrbare Substrat der Codes, das von diesen generiert wird. Der Codebegriff ist in dieser Fassung asemantisch formuliert und kümmert sich nicht um Bedeutungen. Er bezeichnet einen Vorrat von Elementen, die erst durch einen Akt der signifikanten Zuordnung Zeichencharakter gewinnen. Hier interessiert lediglich, dass ein solch allgemeiner Codebegriff sowohl digitale als auch analoge Codes fassen kann, also sowohl Sprachcodes als auch graphische Codes oder Geräusche, wie sie auf Schallträgern übermittelt werden können. Ich fasse Kommunikationsmedien also als eine zweipolige Einheit aus (Medien-) Code und (Übertragungs-)Kanal. Gemäß dieser Unterscheidung basiert die Medialität der Literatur und der literarischen Gattungen in einer noch zu qualifizierenden Weise auf gesprochenen und geschriebenen sprachlichen Codes und kann über unterschiedliche Übertragungskanäle wie Manuskripte, Bücher, Reden, Gesangsvorträge, Theateraufführungen oder Rundfunkübertragungen übermittelt werden.

1.5

Die Medialität der Literatur

Ein Grundvoraussetzung der literarischen Medialität stellt das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit dar. Eine Beschränkung des literaturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs auf schriftliche Textzeugnisse ist sowohl ——————— 82 83

Vgl. die Rede von einer ›Komplementarität der Medien‹, auf die Posner verweist: Posner, S. 258 und 264 Anm. 33; zu ›kanalgerechten Codes‹: Flechtner, S. 145. Koch schlägt vor, die elektronische ›Tiefenschicht‹ nichtgraphischer Repräsentation als ›Submedium‹ zu bezeichnen, da sie dem Rezipienten nicht direkt gegenübertritt; Peter Koch: Graphé. Ihre Entwicklung zur Schrift, zum Kalkül und zur Liste. In: Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes. Hg. von P. Koch und Sybille Krämer. Tübingen 1997, S. 43–81, hier: S. 76.

41 angesichts des breiten Fundaments mündlicher Dichtung als auch angesichts der Wiederkehr des Gesprochenen in den modernen technischen Medien unangemessen. Dann aber stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von mündlichen zu schriftlichen Sprachäußerungen, das dem Verhältnis von mündlichen und schriftlichen literarischen Äußerungen vorausliegt. Zahlreiche literarische Gattungen haben ihren Ursprung in oralen Traditionen, und so ist die Frage nach der Bedeutung des Mediensprungs in die Schrift zentral. Die Debatte um das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist alt und sie hat durch die medienwissenschaftliche Wende der Kulturwissenschaften neue Brisanz erhalten. Sie ist zugleich verwickelt und umfasst sehr unterschiedliche Aspekte. Gemäß einer tief verwurzelten opinio communis, die bis auf Aristoteles zurückverfolgt wurde, sah man das Wesen der Schrift lange Zeit vor allem in ihrem Verweischarakter auf die gesprochene Sprache begründet. Man verstand die Schriftzeichen ausschließlich als Verweise auf gesprochene Laute oder Worte, was ihre eigene Medialität vernachlässigbar erscheinen ließ. Seit längerem ist dagegen die Bedeutung der geschriebenen Sprache als einer eigenen Existenzform von Sprache stärker in den Vordergrund getreten.84 Schrift muss demnach nicht in jedem Fall auf gesprochene Sprache verweisen. Sie kann sowohl in ikonischer als auch in konventioneller Weise redeunabhängig referieren, wofür die Geschichte der Schrift zahlreiche Beispiele liefert. Im Anschluss an Konrad Ehlich hat Hartmut Günther dies in einem Modell dargestellt, in dem sowohl das Schrift- wie das Lautzeichen eine referentielle Beziehung zur Objektwelt unterhält, zu der eine Wechselbeziehung des Schriftzeichens zum Lautzeichen hinzutritt. Er bezeichnet dies als die ›Ambivalenz‹ des schriftlichen Zeichens.85 In ähnlichem Sinn beschreibt Elisabeth Feldbusch die ›Phonetisierung‹ der Schrift als die nachgeordnete Schaffung einer Zuordnung zwischen Schriftzeichen und Laut bzw. Graphem und Phonem, die das Wesen der Schrift als einer eigenständigen Existenzform von Sprache nicht beeinträchtigt.86 Einen anderen Weg hat Peter Koch eingeschlagen, indem er terminologisch zwischen graphischen Aufzeichnungen und Schrift in einem engeren Sinn unterscheidet. Linien, Bilder und nichtikonische Marken als körperexterne, statische mediale Praktiken bezeichnet er als Graphé im Unterschied zur Phoné – dem Laut. Beides sind anthropologische primi dati.87 Während die Phoné primäres Medium der menschlichen Sprache ist, bildet die Graphé ein davon unabhängiges Verfahren materialer Aufzeichnung. Koch verfolgt nun die historische Entwicklung der graphischen Aufzeichnungsverfahren bis zu dem Punkt, an dem die Graphé sprachliche Zeichen (und nicht nur Konzepte) und schließ——————— 84 85

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Elisabeth Feldbusch: Geschriebene Sprache. Untersuchungen zu ihrer Herausbildung und Grundlegung ihrer Theorie. Berlin 1985, S. 384 und passim. Hartmut Günther: Charakteristika von schriftlicher Sprache und Kommunikation. In: Schrift, Schreiben, Schriftlichkeit. Arbeiten zur Struktur und Entwicklung schriftlicher Sprache. Hg. von Klaus B. Günther und H. Günther. Tübingen 1983, S. 17–39, hier: S. 25 und 39. Feldbusch, S. 384. Koch: Graphé, S. 47ff.

42 lich sogar ganze sprachliche Texte zu notieren erlaubt.88 Erst an dieser Stelle spricht er von Schrift.89 Diese Differenzierung ermöglicht eine Antwort auf den Phonozentrismus-Vorwurf: auf anthropologischer Ebene, wenn also Schrift in Wahrheit die Graphé meint, rennt dieser Vorwurf offene Türen ein, da die graphische Aufzeichnung als anthropologische Gegebenheit ein eigenständiges und primäres Medium kommunikativer Praxis darstellt; für Schrift als historische Innovation dagegen, bei der die graphischen Zeichen auf die Lautsprache verweisen, ist der Primat der Phoné unanfechtbar (60).90 Neben dieser auf die Sprach- und Schriftentwicklung bezogenen Argumentation berührt die Frage nach dem Verhältnis von Schrift- und Lautsprache ein strukturelles Problem.91 Literaturwissenschaftlich ist vor allem dieses relevant. Strukturell kann man einen Mischcharakter aller Schriftsysteme zwischen Lautrepräsentation (Logographie) und Bedeutungsrepräsentation (Ideographie) nachweisen, dessen einfachste Ebene darin besteht, dass alphabetische Schriftsysteme nicht nur mit Graphemen arbeiten, die auf die Lautebene der Sprache bezogen sind, sondern auch mit Bedeutungszeichen, die unter Umgehung der Lautebene referieren, z.B. ›2CV‹, das in unterschiedlichen Sprachen unterschiedliche Lautnamen trägt, die auf das eigenständig bedeutungsvolle Schriftzeichen (im Sinne von Ideogramm) verweisen.92 Außerdem gilt, dass eine Alphabetschrift, die zunächst lautbezogen ist, prinzipiell immer auch weiteren semiotischen Prozessen offen steht, die diese Lautrepräsentation überlagern können. Gerade in künstlerischen Verwendungsweisen geschieht dies oft, indem Schriftzeichen etwa als Bildelemente verwendet werden wie in visueller Poesie oder in schriftmagischen Praktiken.93 Die Komplexität dieser Verhältnisse legt es nahe, auch für die Frage mündlicher und schriftlicher Literatur auf eindimensionale Formeln zu verzichten und weder einen phonozentrischen noch einen grammazentrischen Literaturbegriff ——————— 88

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Vor allem unter Bezug auf die Arbeiten von Denise Schmandt-Besserat: Before Writing. Vol. I: From Counting to Cuneiform. Foreword by William W. Hallo. Austin, Tx. 1992, und Harald Haarmann: Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt a.M., New York 21991; vgl. Koch: Graphé, S. 50ff. Koch: Graphé, S. 58; Anm. 32 für eine Kritik an Feldbusch. Vgl. zum Primat der gesprochenen Sprache vor der geschriebenen außerdem Günther, S. 17f.; Wolfgang Klein: Gesprochene Sprache – geschriebene Sprache. In: LiLi 59 (1985) 9–35, hier: S. 9; Peter Koch, Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: RJb 36 (1985) 16–43, hier: S. 25f.; Helmut Glück: Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie. Stuttgart: Metzler 1987, S. 32. In einer eingängigen Studie hat Helmut Glück die Geschichte der Autonomie- und der Abhängigkeitstheorien zum Verhältnis der schriftlichen zur mündlichen Sprachform innerhalb der Sprachwissenschaften dargestellt. Seine Arbeit zeigt insgesamt, dass sowohl die Abhängigkeits- wie die Autonomiethese bestimmte Aspekte des Verhältnisses wiedergibt, das wiederum selbst Teil einer sozialen Praxis und damit auch der historischen Veränderung ist; Glück, S. 57–110. Glück, S. 27 und 107. Glück, S. 203–250, behandelt Beispiele dafür unter dem Titel »Sekundäre Funktionen der geschriebenen Sprachform«.

43 zu forcieren. Wie man sprachwissenschaftlich von zwei Existenzformen der Sprache bzw. von einer mündlichen und einer schriftlichen Sprachform ausgehen kann, deren wechselseitige Beziehung in ihrer Komplexität zu analysieren bleibt, so empfiehlt es sich auch für die Literatur und die literarischen Gattungen, von zumindest zwei literarischen Codes auszugehen, die in unterschiedlicher Weise interdependent sind, von mündlichen und von schriftlichen Literaturformen. Schriftlichkeit und Mündlichkeit stellen demnach je eigene Existenzformen des Literarischen dar, die in starker, aber qualifizierter Weise interdependent sind, ohne aufeinander reduzierbar zu sein. Eine solche Betrachtungsweise erlaubt die angemessene Berücksichtigung medialer Spezifika der jeweiligen Codes. So kann man sagen, dass die beiden Existenzformen der Sprache Codes im Medium des akustischen und des optischen Kanals darstellen, die kanaläquivalent zu anderen Arten von auditiv bzw. visuell wahrnehmbaren Codes sind.94 Dies wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass kommunikative face-to-face-Konstellationen durch eine relativ umfassende mehrkanalige Kommunikation gekennzeichnet sind, die stets auch Intonation und Gestik, StimmModulation und Körperbewegung sowie alle weiteren Ausdrucksmöglichkeiten und Sinneswahrnehmungen umfasst, die in einer Situation der interpersonalen Präsenz möglich sind.95 Eine Kommunikation der interpersonalen Präsenz ist in diesem Sinne stets multimedial, wobei der Begriff hier keine apparativen Medien impliziert wie bei der geläufigen Verwendung, sondern auf die Vielzahl der aktiven Sinnesmodalitäten bezogen ist.96 Die Umcodierung des derart ganzheitlich sprachbezogenen Verhaltens zur medialen Übermittlung bildet nun einen Filter, der die Elemente auf solche beschränkt, die vom jeweiligen Medium unterstützt werden. Eine sehr starke Abstraktion von allen nonverbalen und außersprachlichen Momenten stellt beispielsweise die Umcodierung des Sprechbaren in diskrete – digitale –97 Schriftzeichen dar. Eine andersgeartete Beschränkung der codierbaren Elemente findet bei technischen Medien statt, die den akustischen Kanal analog unterstützen, die also die Kommunikation sämtlicher akustischer Phänomene stimmlicher, natürlicher und artifizieller Natur von Sprache über Gesang und Musik bis hin zu Geräuschen übermitteln können, andere aber nicht. Zur Beschränkung der kommunizierbaren Elemente treten medienspezifische Ergänzungen hinzu, die man als kanaläquivalent bezeichnen kann: im Fall der aufs Akustische beschränkten gesprochenen Sprache wären dies andere ——————— 94 95

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Klaus Landwehr: Der optische Kanal. In: Semiotik. Hg. Posner/Robering/Sebeok 1997, S. 288–294; Gerhard Strube, Gerda Lazarus: Der akustische Kanal. Ebd., S. 294–300. Klein, S. 17ff. (zum Wegfall der Prosodie) und S. 19ff. (zur Situationsgebundenheit); Posner, S. 236–244 (für eine Einteilung der Arten des sprachbezogenen Verhaltens); Riccardo Luccio: Body behavior as multichannel semiosis. In: Semiotik. Hg. Posner u.a. 1997, S. 345–356. Posner, S. 255. Zur Unterscheidung digital vs. analog Schanze: Medienkunde, S. 42ff.; im Anschluss an Flechtner, S. 145f.

44 akustische Phänomene bzw. Codes, die über den gleichen Kanal übertragen werden können. Man hat diese unterteilt in mediale Codes – die auch in der interpersonalen Kommunikation vorkommen, im Fall akustischer Medien also etwa Musik – und in medienspezifische Codes – die dort nicht vorkommen, wie etwa akustische Verfremdungen.98 Daraus ergeben sich komplexe Kombinations- und Gestaltungsmöglichkeiten, die medienspezifisch sind und wiederum nur bedingt in andere Medien überführt werden können. Entsprechend gilt dies für geschriebene Sprache. Sie ist in ihrer lautabbildenden – phonographischen – Funktion durch die Möglichkeiten des Schriftcodes eingeschränkt. Zugleich kommt sie im Rahmen ihres Aufzeichnungsmaterials bzw. ihres Kanals in Kontakt mit andersgearteten kanaläquivalenten Codes. Auf Papier beispielsweise können Symbole und Bilder, Graphien und Ornamente, Begriffszeichen oder ikonische Zeichen wiedergegeben und mit der geschriebenen Sprache kombiniert werden.99 Als medienspezifische Codes kommen mikro- und makrotypographische Gestaltungsmittel hinzu.100 Nicht zu vergessen ist die technische Spezifizität des Trägermaterials selbst, etwa die Papiersorte und die technische Verarbeitung, was ebenfalls eine Codefunktion annehmen kann, indem z.B. eine bestimmte Wertigkeit signifiziert wird. Die geschriebene Sprache – und mit ihr die Literatur – tritt mit all diesen Phänomenen in Kontakt und geht Kombinationen mit ihnen ein. Neben Gestaltungsfragen, zu denen auch die graphische Anordnung lyrischer Texte gehört, muss man nur an die gewaltige Bedeutung von Bild-Text-Kombinationen innerhalb der Landschaft der Printmedien denken. Die ebenfalls zu nennende visuelle Poesie bildet im Vergleich dazu sogar nur ein Randphänomen. Im Rahmen von Übertragungsmedien können also prinzipiell verschiedene Codes übertragen und damit auch kombiniert werden. Solche Kombinationen können nicht eigentlich als multimediale Kommunikationen bezeichnet werden. Deshalb muss grundsätzlich zwischen mehrkanaligen ›multimedialen‹ Medien wie Fernsehen oder Multimedia-PCs und mischcodierten Kommunikationen unterschieden werden.101 Irina O. Rajewsky unterscheidet drei Phänomenbereiche des ›Intermedialen‹ und spricht neben dem ›Medienwechsel‹, also beispielsweise Verfilmungen, und ›intermedialen Bezügen‹, also beispielsweise einer ›filmischen Schreibweise‹, hier von ›Medienkombinationen‹.102 Diese ——————— 98 99

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Karin Böhme-Dürr: Wie wirken medienspezifische Darstellungsformen auf Leser, Hörer und Zuschauer? In: Zeitschrift für Semiotik 9 (1987) 363–395, hier: S. 364. Vgl. für eine Analyse solcher Wechselwirkungen z.B. Michael Titzmann: Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Hg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1990, S. 368–384. Böhme-Dürr: Wie wirken medienspezifische Darstellungsformen?, S. 369–371 und passim. Posner, S. 258ff., legt den Begriff ›multimedial‹ auf den Einbezug mindestens zweier Sinnesmodalitäten fest und bezeichnet die Kombination von Codes nicht als multimedial; eine Terminologie für die von mir so genannten Mischcodierungen bietet er nicht an. Raibles bereits erwähnte ›Kombinationsmedien‹ meinen »Sprache in der Kombination mit Metrum, Rhythmus, Musik, Mimik, Gestik«, bleiben in ihrem genauen Anwendungsbereich aber noch unklar; Raible: Wie soll man Texte typologisieren?, S. 66f. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen, Basel 2002, S. 15–18.

45 werden bestimmt als »die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die in ihrer Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-) Konstitution des Gesamtprodukts beitragen.« (S. 15). Der Hinweis auf die Präsenz der Materialität ist noch dahingehend zu ergänzen, dass es sich häufig gerade um die Präsenz distinkter medialer Codes in ein und demselben Trägermedium handelt. Solche Kombinationen beherrschen die moderne Medienlandschaft, wie die Kombination von Rede und Musik im Rundfunk, von Schrift und Bild in den Printmedien, von Rede, Geräusch und bewegtem Bild in Film und Fernsehen und schließlich von all diesen Codes im Internet oder auch auf dem Theater zeigt. Vor diesem Hintergrund ist nun aber die enge theoretische Fixierung des Begriffs der Literatur auf die geschriebene Sprache obsolet. Gerade gattungstheoretisch wird augenscheinlich, dass zahlreiche Gattungen auf der Basis von Medienkombinationen, von Misch- und Mehrfachcodierungen entstehen. Ich verstehe unter Mischcodierungen hier die Kombination unterschiedlicher Codes innerhalb einer Kommunikation wie bei Bild-Text-Gattungen, unter Mehrfachcodierungen die Überlagerung von Codes innerhalb einer Kommunikation wie die Verwendung von geschriebener Sprache zur bildlichen Darstellung in visueller Poesie. Zusammenfassend kann man beide Varianten als pluricodierte Mediengattungen im Unterschied zu unicodierten bezeichnen – in Anlehnung an den verschiedentlich gebrauchten Begriff der ›Plurimedialität‹.103 Zu den Pluricodes zählen die Lieder mit sprachlichem und musikalischem Code, die Dramen mit ihrem Bezug zu einer gleichsam multimedialen (mehrkanaligen) Aufführungssituation, die mehrere Sinnesmodalitäten und diesbezügliche Codes einbezieht. Diese Gattungen entziehen sich gerade wegen der damit ——————— 103

Rajewsky, S. 15. Für Pluricodephänomene wird auch der Begriff der Intermedialität verwendet, der in Analogie zur Intertextualität oft auf medienübergreifende Phänomene aller Art zielt, beispielsweise auf die Thematisierung oder die Evokation medienfremder Codes wie außersprachlicher auditiver oder visueller Phänomene in geschriebener Sprache. Vgl. ebd., S. 6–10; Thomas Eicher: Was heißt (hier) Intermedialität? In: Intermedialität: Vom Text zum Bild. Hg. von Thomas Eicher und Ulf Bleckmann. Bielefeld 1994, S. 11– 28; weitere Veröffentlichungen zum Thema: Dick Higgins: Horizons: The poetics and theory of intermedia. Carbondale, Ill. 1984; Approaches to Poetry. Some Aspects of Textuality, Intertextuality and Intermediality. Ed. by János S. Petöfi and Terry Olivi. Berlin 1994; Peter Wagner: Introduction: Ekphrasis, Iconotexts, and Intermediality – the State(s) of the Art(s). In: Icons – Texts – Iconotexts. Essays on Ekphrasis and Intermediality. Ed. by P. Wagner. Berlin, New York 1996, S. 1–42; Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster 1996; Joachim Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Hg. von Jörg Helbig. Berlin 1998, S. 14–30; Wilhelm Füger: Wo beginnt Intermedialität? Latente Prämissen und Dimensionen eines klärungsbedürftigen Konzepts. In: Ebd., S. 41–57; Werner Wolf: Intermedialität: Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär. Hg. von Herbert Foltinek. Wien 2002, S. 163–192; Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft. Hg. von Erika Greber und Roger Lüdeke. Göttingen 2004.

46 verbundenen Möglichkeiten zu MehrfachcoCHRISTIAN MORGENSTERN dierungen tendenziell der Verschriftung, so dass hier typischerweise Zusatzcodes wie Notenschriften und Regieanweisungen hinzutreten müssen. Dazu zählen aber auch Bild-TextGattungen wie die mischcodierten Embleme oder die mehrfachcodierte visuelle Poesie, alle Arten illustrierter Texte oder betexteter Bilder, Comics, untertitelte Filme und vieles mehr. Dass solche Beispiele am Rand der Zuständigkeit der literaturwissenschaftlichen Disziplin zu liegen scheinen, hat eher mit deren Geschichte zu tun, als dass es systematisch zu begründen wäre. Literarische Gattungen sind gemäß einer allzu engen opinio communis rein sprachlicher Natur, wobei Sprache dann lediglich dasjenige wäre, was geschriebene mit gesprochener Sprache gemeinsam hat. Daraus folgte dann, dass Literatur in diesem engen Sinn prinzipiell umcodierbar wäre, das heißt, dass sie von der Rede in die Schrift und zurück übersetzbar wäre, sie wäre ›medium transferable‹ (John Lyons).104 Diese Bestimmung ist allerdings zirkulär, da Literatur vorab auf jenes verschriftbare Substrat beschränkt wurde, das per definitionem zwischen gesprochener und geschriebener Sprachform transferierbar ist. Im Fall von pluricodierten Gattungen der Literatur ist diese Transferierbarkeit verständlicherweise nicht gegeben. Ein Beispiel kann erläutern, dass es nicht ratsam erscheint, für Literatur oder literarische Gattungen auf einem sprachlichen Unicode zu beharren. Dieter Lamping definiert die Gattung des lyrischen Gedichts ohne große historische Rücksichten als ›monologische Versrede‹.105 Entsprechend wird Exemplaren ohne einen solchen Redecharakter die Gedichtform abgesprochen, so etwa Christian Morgensterns Fisches Nachtgesang. Der Text besteht bekanntlich aus ebenjener Überschrift und einer Folge graphisch angeordneter ›–‹- und ›‰‹Zeichen.106 Er befindet sich in einer Sammlung mit dem Titel Galgenlieder, das heißt in einem Lyrikband, und wird in Anthologien und Schulbüchern regelmäßig als Gedicht geführt. Dieses ›Gedicht‹ ist ein gutes Beispiel für Pluricodierung auf mehreren Ebenen. Der Titel weist es als ein Gesangsstück aus und negiert dies zugleich, da Fische als stumm gelten. Der Hinweis auf die Nacht ——————— 104

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Für John Lyons ist ›medium transferability‹ eine für die menschliche Sprache charakteristische Eigenschaft; John Lyons: Language and Linguistics. An Introduction. Cambridge, Mass. 1981, S. 11; auch Koch: Diskurstraditionen, S. 56. D. Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 1989, S. 31. Christian Morgenstern: Galgenlieder. Berlin 1930, S. 13. Vgl. auch A.J.A. van Zoest: Eine semiotische Analyse von Morgensterns Gedicht »Fisches Nachtgesang«. In: LiLi 4:16 (1974) 49–67.

47 erscheint als eine Inanspruchnahme der Tradition des romantischen Lieds, mithin genau jener Tradition, die exemplarisch unter die Bestimmung eines lyrischen Gedichts zu fallen hätte. Die verwendeten nichtsprachlichen Notationszeichen weisen in die gleiche Richtung, denn es sind solche der metrischen Notation, also metapoetische Zeichen, was allerdings ebenfalls durchkreuzt wird, insofern die Zeichen in der Anordnung von Fisches Nachtgesang metrisch sinnlos bleiben. Es handelt sich also um einen metrischen Notationscode, dessen Zeichen gewöhnlich auf Sprechsilben verweisen, hier aber keiner erkennbaren Syntax folgen und deshalb über das Faktum hinaus, metrischen Notaten zu gleichen, keinen Sinn ergeben, metaphorisch gesprochen also ebenfalls stumm bleiben. Der Text besteht aus einer Überschrift aus Sprachzeichen und einem Korpus aus anderen Zeichen. Insofern ist er mischcodiert. In beiden Teilen ist die Referenz problematisch. Auf einer weiteren Bedeutungsebene sind nun die syntaxlosen metrikartigen graphischen Zeichen in der stilisierten Gestalt eines Fisches angeordnet, so dass die ›‰‹-Zeichen als Abbildung von Schuppen erscheinen können, eine Referenz, die durch den Titel gestützt wird. Das digitale Silbentypzeichen ist also zugleich wahrnehmbar als analoges graphisches Bildelement. Insofern ist der Text auch mehrfachcodiert. Lässt man sich auf solche Bildwahrnehmung ein, so ergeben sich nach Art eines Vexierbildes weitere Lesarten bzw. Wahrnehmungsmöglichkeiten, die Gesetzmäßigkeiten der Figur- und Formenwahrnehmung folgen und die die Wahrnehmung zum oszillieren bringen.107 So lassen sich weitere Figuren erkennen, indem man z.B. in ‰ und  die Abbildung von geöffneten und geschlossenen Mündern erkennt, was wiederum auf Fische bezogen werden kann, oder jeweils drei solcher Zeichen als fröhliches Gesicht mit zwei Augen  und einem Mund ‰ oder als trauriges mit zwei Augen ‰ und einem Mund  versteht. Und nicht zuletzt ist der Text auch auf ganz unübersehbare Weise das Bild eines Gedichts. Damit macht es den intermedialen Charakter der Literatur zwischen Schriftcode, Graphé oder Bildcode, Sprech- und Gesangscode zum Thema und führt genau das vor, was die Definition des lyrischen Gedichts als Versrede zu negieren sucht. Gattungstheoretisch zeigt dies sehr anschaulich, dass sogar eine Gattung, die so eindeutig auf Rede festgelegt zu sein scheint, wie das lyrische Gedicht, zum Codewechsel fähig ist, dass man sie also nicht an ihr Medium fesseln kann (außer es wäre um Definitionen zu tun, deren Anwendung keinen Anspruch auf historische Angemessenheit erheben wollte). Es ließe sich ganz im Gegensatz dazu mit guten Gründen sogar die These vertreten, dass Fisches Nachtgesang eines der lyrischsten aller lyrischen Gedichte ist. Ist der Literaturbegriff also kaum wirklich sinnvoll auf Sprache zu begrenzen, so wird man doch sagen, dass Literatur sprachbasiert ist. Angesichts der sich rasant entwickelnden Medienlandschaft ist auch dies nur eine recht willkür——————— 107

Zum Begriff: Friedrich W. Block: The form of the media: The intermediality of visual poetry. In: Semiotics of the Media. State of the Art, Projects, and Perspectives. Ed. by Winfried Nöth. Berlin, New York 1997, S. 713–730, hier: S. 721; Hinweise zu Gestaltwahrnehmung bei Böhme-Dürr: Wie wirken medienspezifische Darstellungsformen, S. 374ff.

48 liche disziplinäre Grenzziehung, die mit einer bestimmten historischen Medienkonstellation verbunden ist. Moderne Medien sind auf diese Grenze nicht mehr angewiesen, und so machen sie an ihr nicht mehr halt. Insofern ist eine medienwissenschaftliche Einbettung der traditionellen Literaturwissenschaft konsequent und nötig. Die Sprachorientierung der Literaturwissenschaft erscheint in diesem Rahmen als eine disziplinäre Konvention zur Markierung eines Gegenstandsbereichs, der bestimmte analytische Verfahren erfordert. Aus den Überlegungen folgt, dass literarische Gattungen qua disziplinärer Grenzziehung und also gemäß einer längerfristigen kulturellen Übereinkunft sprachbasiert sind, dass sie aber medial affine, das heißt im gleichen Medium übermittelbare kanaläquivalente Codes kombinieren können: Theater-, Filmoder Bild-Text-Gattungen sind Beispiele. Die verwendeten Medien selegieren die für Kommunikationsgattungen verwendbaren Codes. Die Gattungen sind in je spezifischer Weise mediengeneriert: das Medium persönlichen Vortrags generiert Vortragsgattungen, graphische Medien generieren Bild- und Textgattungen, akustische Medien generieren Musik- und Redegattungen und auch audiovisuelle und interaktive Medien generieren ihre je spezifischen Gattungen. Ferner gilt, dass Gattungen Medien überschreiten können. Dies gilt für sprachliche und damit für die literarischen Gattungen weitgehend, da diese qua Mündlichkeit oder Schriftlichkeit in all den Kommunikationsmedien repräsentierbar sind, die diese Codes unterstützen: Gedichte kann man sprechen, mit Hand schreiben, in Bücher oder Zeitschriften drucken, im Theater oder im Radio, im Film oder im Fernsehen rezitieren, aber auch im Internet publizieren. Literarische Gattungen sind also bereits aufgrund ihrer sprachlichen Konstitution grundsätzlich in ›Medienwechsel‹ im Sinne Rajewskys108 involviert. Man könnte hier von ›Plurikanalfähigkeit‹ sprechen. Jedes Medium stellt mit seinen Kanälen dabei einerseits einen Filter dar, andererseits stellt es zusätzliche Codes zur Kombination zur Verfügung. Das rezitierte Gedicht ist nicht mehr anschaubar, dafür wird ihm Stimme und Intonation verliehen. Insofern ist die intermediale Transferierbarkeit stets eine qualifizierte und beschränkte. Embleme entstanden, als man Epigramme in Büchern mit Bildern kombinieren konnte. Doch man kann Embleme nicht im Radio vortragen, Epigramme schon, nicht mehr allerdings als ›Inschrift‹. Die literarischen Gattungen sind demnach hinsichtlich ihrer Medialität 1) definitionsgemäß sprachbasiert, 2) in ihrem verschriftbaren Substrat alternativ mündlich und schriftlich codierbar und wechselseitig übersetzbar, 3) hinsichtlich der verwendbaren Codes kanalabhängig, 4) pluricodefähig, das heißt je nach Medium mit kanaläquivalenten Codes kombinierbar, und 5) intermedial bedingt transferierbar, insofern die von der Gattung verwendeten Codes von den jeweiligen Medien unterstützt werden. Mit diesen Hinweisen ist zunächst nur ein Verhältnis von Gattungen und Medien bestimmt, das kein inklusives ist. Weitere intermediale Verknüpfungen wie Einfluss oder Intertextualitätsfragen sind in anderen theoretischen Kontexten ——————— 108

Rajewsky, S. 16.

49 zu platzieren, da nicht in gleicher Weise auf die Ebene einer allgemeinen Medientheorie bezogen.109 Nichts ist hier zu einer Medientypologie und zur Charakterisierung einzelner Medien gesagt. Für die differenten Merkmale gesprochener und geschriebener Sprache, die auch für die entsprechenden literarischen Gattungen gelten, sollen die fundamentalen Unterschiede, die meist diskutiert werden, an dieser Stelle zumindest erwähnt sein. Wolfgang Klein unterscheidet Unterschiede der Sinnesmodalität, visuell gegenüber auditiv, von solchen der Zeitlichkeit, Flüchtigkeit des Wortes gegenüber Dauerhaftigkeit der Schrift, und solchen der Strukturierung, räumlich gegenüber zeitlich.110 Die Merkmale hängen zusammen. Am stärksten diskutiert wurde die Gegenständlichkeit und Dauerhaftigkeit schriftlicher Äußerungen im Unterschied zur Flüchtigkeit des gesprochenen Worts.111 Auch letzteres fixiert bereits etwas in der Zeit als ›Fermaten der Aufmerksamkeit‹, was in der Schrift unbegrenzt ausgedehnt werden kann.112 Diese ›Externalisierung‹ von Wissen (und auch kognitiver Prozesse)113 ermöglicht eine Dissoziation von Sprachproduzent, Sprachprodukt und Sprachrezipient, die Konrad Ehlich als ›zerdehnte Sprechsituation‹ bezeichnet hat114 und die die von Koch und Oesterreicher beschriebenen Konstellationen einer Sprache der Distanz bis hin zur jahrhundertelangen Archivierung erweitert.

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Dies diskutiert unter anderem Eicher. Klein, S. 16. Günther, S. 32. Jens Brockmeier: Literales Bewußtsein. Schriftlichkeit und das Verhältnis von Sprache und Kultur. München 1998, S. 226f.; der Ausdruck ›Fermaten der Aufmerksamkeit‹ nach Hans Hörmann: Psychologie der Sprache. Berlin 21977. Klein, S. 10. Konrad Ehlich: Text, Mündlichkeit, Schriftlichkeit. In: Geschriebene Sprache – Funktion und Gebrauch, Struktur und Geschichte. Hg. von Hartmut Günther. Forschungsberichte des Instituts für Phonetik und Sprachliche Kommunikation der Universität München 14 (1981) 23–51, hier: S. 39. Kritisch dazu: Wulf Oesterreicher: Revisited: die »zerdehnte Sprechsituation«. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130:1 (2008) 1–21.

2

Soziale Aspekte

2.1

Die Sozialität der Gattungen

Die Heterogenität der Gattungsbegriffe wird im Rahmen der vorliegenden Diskussion auf drei Aspekte bezogen, auf universale Aspekte der Kommunikation, auf soziale Aspekte und auf solche literarischer Historizität. Die sozialen Aspekte wurden oben (S. 11) auf Coserius ›partikuläre Ebene‹ der Texte und Texttraditionen abgebildet. In den Zusammenhang der sozialen Aspekte der Gattungstheorie gehören demnach alle Gattungskonzeptionen, die sich auf situative Kontexte von Texten beziehen, angefangen von traditionellen literatursoziologischen Entwürfen über die Konzeption von Textsorten bis hin zu umfassenden sozialwissenschaftlichen Beschreibungsmodellen des Literaturbetriebs. Insofern umgreifen die sozialen Aspekte zumindest zwei mögliche Perspektiven: einerseits die Wechselbeziehung von semiotischen und sozialen Systemen, andererseits die Verortung der Kontextbedingungen des Literarischen innerhalb gesellschaftstheoretischer Modelle. Ersteres entspricht einer eher literaturwissenschaftlichen Perspektive, letzteres einer eher sozialwissenschaftlichen. Aus Sicht der Gattungstheorie dringen sozialwissenschaftliche Analysen zum ›Feld‹ oder ›System‹ der Literatur in ihren Aussagen selten zu gattungsrelevanten Fragestellungen vor, da sie in aller Regel kein Instrumentarium zur Analyse von Textstrukturen besitzen, die für die Gattungskonstitution grundlegend sind. Es muss deshalb nicht überraschen, dass man in den entsprechenden Untersuchungen meist nur zufällige Bemerkungen zur Gattungsfrage antrifft, während sich das Interesse in der Hauptsache auf Bedingungen des ›Literaturbetriebs‹ richtet. Klaus Hempfer hat im Blick auf den ›struktural-funktionalen Entwurf‹ der Münchner Forschergruppe Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900 die prinzipielle Frage aufgeworfen, ob mit einer solchen Konzentration auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen »die potentielle Relation von literarischer Sinnkonstitution und sozialen Gegebenheiten erfaßt« werden könne.1 Dabei ist festzuhalten, dass gerade dieser Entwurf sich mit der Übernahme des Parsonsschen AGIL-Modells um eine tief gestaffelte Differenzierung von Funktionen bemüht und der Gattungsproblematik einen systemati——————— 1

Klaus W. Hempfer: Schwierigkeiten mit einer »Supertheorie«: Bemerkungen zur Systemtheorie Luhmanns und deren Übertragbarkeit auf die Literaturwissenschaft. In: Literatursysteme – Literatur als System. Hg. von Friederike Meyer und Claus-Michael Ort. Frankfurt a.M. 1990, S. 15–36, hier: S. 17, auch Anm. 4.

51 schen Ort im ›System literarischer Institutionalisierungen‹, das ein Subsystem des ›Sozialsystems Literatur‹ bildet, zuweist.2 Der generelle Befund bestätigt sich gerade auch im Hinblick auf die beiden zur Zeit profiliertesten theoretischen Entwürfe für die Analyse des institutionellen Rahmens von Literatur: das Konzept des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu und das des literarischen Systems bzw. des Kunstsystems von Niklas Luhmann.3 Beide Ansätze haben inzwischen verschiedene literaturbezogene Studien angeregt, allerdings sind Aussagen zur Gattungsproblematik kaum entwickelt worden.4 Paradoxerweise sehen sich gerade die sozialwissenschaftlichen Theorieentwürfe mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich an den traditionellen ästhetischen Autonomiepostulaten abzuarbeiten, sobald sie generelle Funktionszuweisungen zu formulieren versuchen. Dies kann dann in eher ideologiekritisch-negierender oder in systemtheoretisch-affirmierender Weise geschehen. Im Rahmen des Luhmannschen Systementwurfs steht beispielsweise die Besetzung des ›symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums‹ im Zentrum einer Diskussion, die unmittelbar in die klassische ästhetische Theoriebildung hineinführt. Einer entsprechenden Systemnotwendigkeit scheinen alle Entwürfe zu unterliegen, die die Stellung der Literatur aus der Sicht gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen zu beschreiben und daraus Aussagen über literarische Sinnsysteme abzuleiten versuchen.5 ——————— 2

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Friederike Meyer, Claus-Michael Ort: Konzept eines struktural-funktionalen Theoriemodells für eine Sozialgeschichte der Literatur. In: Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Hg. von Renate von Heydebrand, Dieter Pfau und Jörg Schönert. Tübingen 1988, S. 85–171, S. 136 und öfter. Vgl. den Abschnitt »Soziologie des literarischen Feldes« in Andreas Dörner, Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen 1994, S. 123–163. Eine Ausnahme bildet Dietrich Schwanitz, doch trägt er kaum etwas zur vorliegenden Problematik bei, da er sich auf Kategorien der alten Gattungstrias bzw. – in unserer Sprachregelung – auf die Modi des Erzählens und der Dramatik bezieht. Er bestimmt in diesem Sinn Lyrik als »monologische Selbstrepräsentation einsamer Bewußtseinszustände«, den Romanerzähler als sich frei »über die Grenze zwischen Kommunikation und Bewußtsein hin und her« bewegend und das Drama als »Simulation sozialer Kommunikationen«, also im Sinne einer Trias aus diegetischer Lyrik, diegetisch-mimetisch gemischtem Erzählen und mimetischem Drama. In einem dritten Teil wird die Interpretation von Einzelwerken systemtheorisch rekonstruiert; Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma. Opladen 1990, S. 100. Dies gilt auch für Siegfried J. Schmidts Grundlegung einer empirischen Literaturwissenschaft, die ausführlich eine spezifische ›Ästhetik-Konvention‹ entwirft, das Schlagwort ›Gattung‹ im Register allerdings nicht führt; S. J. Schmidt: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft. Bd. 1: Der gesellschaftliche Handlungsbereich Literatur. Braunschweig, Wiesbaden 1980, S. 92. Entsprechendes ist für die Studie zum ›Literatursystem‹ im 18. Jahrhundert zu konstatieren: sie hält zwar generelle Funktionsbestimmungen bereit (S. 20ff.), bietet zur Bedeutung von Gattungsfragen aber keine systematischen Hinweise; S. J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1989. Vgl. dazu Reinhold Viehoff: Empirische Literaturwissenschaft – ein neues Paradigma? In: IASL 8 (1983) 240–252; auf Schmidts in anderem Kontext vorgetragene »Skizze einer konstruktivistischen Mediengattungstheorie« wird noch gesondert eingegangen (vgl. unten: S. 70, Anm. 54).

52 Ich beschränke mich im folgenden auf die Diskussion von Entwürfen, die spezifische Aussagen für die Konzeption der literarischen Gattungen bereithalten. Diese gehen in der Regel aus eher literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen hervor. Dabei ist anzumerken, dass der Gattungsbegriff in der Vergangenheit nicht selten eine Schlüsselrolle spielte, wo es um die Korrelation literarischer Phänomene und gesellschaftlicher Gegebenheiten ging. Mehr als auf der Ebene des einzelnen Werks wird die gesellschaftliche Verfasstheit von Literatur nämlich auf der Ebene des jeweiligen Gattungscharakters sichtbar. Gattungsanalysen greifen deutlicher als andere werkbezogene Fragestellungen über den Einzeltext hinaus und bieten Anknüpfungspunkte für allgemeine gesellschaftstheoretische Überlegungen. Als Gattungsexemplare sind Einzelkommunikationen in prinzipieller Weise in soziale Funktionszusammenhänge integriert. Man hat deshalb bereits früh davon gesprochen, dass Gattungen einen ›Sitz im Leben‹ haben, was sich im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie zu einer außerordentlich erfolgreichen Metapher entwickelt hat.6 Der Hinweis auf die lebensweltliche Relevanz und Fundierung von Gattungskategorien hat sich auf fruchtbare Weise verbunden mit den Bemühungen um eine ›Historisierung der Gattungspoetik‹ und ›Verzeitlichung des Formbegriffs‹,7 wie man sie mit den Namen Georg Lukács, Walter Benjamin und Peter Szondi verbinden kann. Daran kann unmittelbar nicht mehr angeschlossen werden, da diese Konzeptionen in der Regel mit geschichtsphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen verknüpft waren, die einen nicht weniger normativen Gestus transportieren, als die regelpoetische, klassizistische oder klassisch-romantische Gattungstheorie. Wo diese einen normativen Gattungsbegriff zugrundelegen, gehen jene beispielsweise von der Feststellung einer »apriorischen Heimat der einzelnen Gattungen« aus,8 die in der Regel als harmonische Einheit von Inhalt und Form vorgestellt wird.9 Damit wird explizit ——————— 6

7 8 9

Das Schlagwort prägte Hermann Gunkel, der für die alttestamentarischen Gattungen die Bedeutung ihres ›Sitzes im Volksleben‹ hervorhob und der damit ihren sozialen und situationsbezogenen Ort meinte: H. Gunkel: Die israelitische Literatur. In: Die Kultur der Gegenwart. Teil 1,7: Die orientalischen Literaturen. Berlin, Leipzig 1906, S. 51–102, hier: S. 53; außerdem: C. Kuhl, G. Bornkamm: Formen und Gattungen. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2 (1962), Sp. 996–1005, bes. Sp. 998; Jauß: Theorie der Gattungen, S. 130; Andreas Wagner: Gattung und ›Sitz im Leben‹. Zur Bedeutung der formgeschichtlichen Arbeit Hermann Gunkels (1862–1932) für das Verstehen der sprachlichen Größe ›Text‹. In: Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik. Hg. Michaelis/Tophinke 1996, S. 117–129; Klaus Grünwaldt: Hermann Gunkel und der »Sitz im Leben«. In: Anthropologie der Literatur. Hg. Zymner 2004, S. 324–337. Jauß: Theorie der Gattungen, S. 121. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied, Berlin 21963, S. 34. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950). Frankfurt a.M. 81971. Gegen eine derartige Vorstellung von ›Gattungsheimat‹ und ›Gattungsentstehung‹ wendet sich Walter Benjamins Konzept des ›Ursprungs‹ als eines transitorischen Geschehens: W. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a.M. 21982, S. 28; zum Gattungsbegriff Benjamins vgl. Heinz Schlaffer: Walter Benjamins Idee der Gattung. In: Textsorten

53 auf die Geschichtlichkeit von historischen Gattungen hingewiesen, doch wird diese nicht als eine offene Kategorie konzipiert, sondern in ein geschichtsphilosophisches Modell integriert. Neuere Versuche zur Historisierung des Gattungsbegriffs wurden von Hans Robert Jauß und von Wilhelm Voßkamp aus hermeneutischer und aus sozialhistorischer Perspektive formuliert. Die Betonung des Prozesscharakters literarischer Gattungen bildet die Voraussetzung für die Analyse ihres sozialen Charakters, die von der Ablösung von überhistorisch-idealistischen Gattungsvorstellungen abhängt. Hans Robert Jauß hat eine umfassende Bestandsaufnahme der Diskussion vorgenommen, die sowohl universalistischen wie sozialhistorischen Bedingungen Rechnung zu tragen versucht. Den Gattungswandel beschreibt er nicht mehr als evolutionistisches »Schema von Wachstum, Blüte, Verfall«,10 sondern als einen offenen »Prozess fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung« (119) oder im Blick auf systemtheoretische Formulierungen als einen Wechsel von Systementfaltung und Systemkorrektur (119 Anm. 22). Der systemtheoretische Zugriff soll dabei die Möglichkeit bieten, literarhistorische Gattungsentwicklungen zugleich in ihrer sozialen Funktionalität und in ihrer relativen Eigendynamik zu beschreiben.11 Im Hinblick auf eine ›sozial- und funktionsgeschichtlich‹ ausgerichtete Gattungstheorie hat Wilhelm Voßkamp Gattungen als ›literarisch-soziale Institutionen‹ bestimmt.12 Im Begriff der Institution sollen dabei zugleich systemtheoretisch beschreibbare gesellschaftliche Ordnungs- bzw. Selektionsleistungen als ›Festwerden von dominanten Strukturen‹ und als »dynamischer, zur Zukunft hin offener Prozess in jeweils konkreten historischen Kommunikationssituationen« angesprochen sein.13 Sowohl der historisch-prozesshafte als auch der gesellschaftlich-funktionsbezogene Aspekt sind damit berücksichtigt. Obgleich Voßkamp es nicht so verstanden wissen will, betont der Begriff der Institution das Moment sozialer Fixierung. Man hat kritisiert, dass die Konzeption der Gattung als ›Institution‹ einen Kurzschluss literarischer und sozialer Kategorien darstellt, insofern die Gattungen selbst unmittelbar als ›komplexitätsreduzierende Selektionen‹ und damit als soziale Systeme aufgefasst werden.14 Auch wurde ——————— 10 11 12

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und literarische Gattungen. 1983, S. 281–290; außerdem Thomas O. Beebee: The Ideology of Genre. A Comparative Study of Generic Instability. University Park, Penn. 1994, S. 257ff. Jauß: Theorie der Gattungen, S. 118. Martin Raether: Probleme der literarischen Gattungen. In: Zeitschrift für Romanische Philologie 89 (1973) 468–476, hier: S. 472. Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozialund funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Hg. von Walter Hinck. Heidelberg 1977, S. 27–42, hier: S. 30; ders.: Methoden und Probleme der Romansoziologie. Über Möglichkeiten einer Romansoziologie als Gattungssoziologie. In: IASL 3 (1978) 1–37. W. Voßkamp: Gattungen. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hg. von Helmut Brackert und Jörn Stückrath. Reinbek 51997, S. 253–269, hier: S. 258. Bernhard Jendricke: Sozialgeschichte der Literatur. Neuere Konzepte der Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Zur Standortbestimmung des Untersuchungsmodells der Münchener Forschergruppe. In: Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der

54 der sozialwissenschaftlich ›unscharfe‹ Institutionenbegriff eingeklagt.15 Es stellt sich die Frage, ob die Analogie zwischen Gattungs- und Institutionenbegriff, die den Nexus zwischen Text- und Sozialsystemen herzustellen beansprucht, eine mehr als metaphorische Bedeutung erlangen kann und – das letztlich ist entscheidend – ob sie einen Zugewinn an Einsichten liefert, ohne spezifische Eigenschaften von Gattungen zu verdecken. Fasst man Institutionen mit Peter L. Berger und Thomas Luckmann als die reziproke Typisierung habitualisierter Handlungen durch Typen von Handelnden, so hängt das Zustandekommen der Institution davon ab, dass Akte und Akteure typisiert werden, also Eheschließungen und Standesbeamte bzw. Priester, Hinrichtungen und Henker.16 Damit wird eine spezifische Differenz zu Gattungen als einer Typisierung von Texten deutlich, die nicht in gleicher Weise konstitutiv an institutionell Handelnde gebunden ist. Den namhaft zu machenden Unterschied repräsentieren Friederike Meyer und Claus-Michael Ort in ihrem Theoriemodell als den von ›literaturbezogenen Institutionen‹ und ›literarischen Institutionalisierungen‹. Letztere werden bestimmt als »der genuin ›literarische‹ Bereich der Rezeption und Produktion literarischer Texte, der Bildung und Erhaltung von gattungs- oder auch genrespezifischen Konventionen, der Bildung und Reproduktion ästhetischer Wertstandards und motivational verankerter Einstellungsmuster gegenüber Literatur.«17 Zur Klärung des Verhältnisses von Institutionen- und Gattungsbegriff ist dies außerordentlich nützlich, wenn es die Gattungsfrage auch auf sich selbst zurückwirft, indem es ihr einen Systemort zuweist, dessen nähere Beschreibung einer »zukünftigen ›Theorie des literarischen Handelns‹« (ebd.) anheimgestellt bleibt. Mit dieser systemtheoretisch gegründeten Unterscheidung wird die entscheidende Differenz von Institutionen des ›Literaturbetriebs‹ und Konventionen der Textklassifikation begrifflich festgehalten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die hier zunächst pauschal aufgeworfene Frage nach der Sozialität der Gattungen eher auf semiotischer als auf sozialwissenschaftlicher Basis zu beantworten ist. Die unmittelbare Identifikation des textbezogenen Konzepts der Gattung mit sozialwissenschaftlichen Kategorien wie ›Institution‹ oder ›sozialem System‹ führt weniger zu Klärungen, als dass es Vermittlungsschritte und damit wesentliche Aspekte der semiotischen Signifikanz von Gattungen ausblendet. Die Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des ›Literatursystems‹ liefert zugleich keinen unmittelbaren Zugang zur Erklärung von Gattungsstrukturen und ihrer Funktion. Wir ——————— 15 16

17

Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Hg. von Renate von Heydebrand, Dieter Pfau und Jörg Schönert. Tübingen 1988, S. 27–84, hier: S. 55. Gottlieb Gaiser: Literaturgeschichte und literarische Institutionen. Meitingen 1993, S. 88. »Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution«; Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Frankfurt a.M. 1980, S. 58. Meyer/Ort, S. 136.

55 wenden uns deshalb den eher gattungsorientierten Konzeptionen zu, zunächst vor allem der Diskussion um den Begriff der Textsorte.

2.2

Textsorten und Texttypen

Neben den sozial- und rezeptionsgeschichtlichen Ansätzen zielen auch sprachtheoretische Überlegungen auf die Beschreibung des Sozialcharakters von Gattungen. Im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine Neuformulierung literaturwissenschaftlicher Fragestellungen auf linguistischer Grundlage hat es zahlreiche Modelle gegeben, den überkommenen Gattungsbegriff durch einen linguistisch fundierten Textsortenbegriff zu ersetzen. Verbunden damit war einerseits die Absicht, gegen die überkommene bürgerliche Autonomieästhetik den literaturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich über die klassischen poetischen Gattungen hinaus auf profane Textzeugnisse wie Gebrauchsformen, Sachliteratur, usw. auszudehnen, und andererseits, die soziale Bedingtheit und Einbettung der einzelnen Gattungen qua Textsorte analysierbar zu machen.18 Insofern stellt die Einführung des Textsortenbegriffs einen Paradigmenwechsel dar, der einen Wandel sowohl im Gegenstandsbereich wie in der analytischen Perspektive bedingt. Es handelt sich dabei zweifellos um die folgenreichste konzeptionelle Innovation auf dem Gebiet der neueren Gattungstheorie. Der Begriff der Textsorte hat heute häufig den älteren Begriff der Gattung einfach verdrängt, so dass man von der Textsorte des Romans ebenso spricht wie von der des Kochrezepts oder der Vorlesung. Nicht immer allerdings sind dabei die weitreichenden Implikationen präsent, die die Anwendung eines systematisch begründeten Begriffs wie der Textsorte auf einen historischen Gegenstand wie den Roman mit sich bringt. Textsortenanalysen haben einen pragmatisch-kommunikationstheoretischen Charakter. Textklassen werden über bestimmte gemeinsame Merkmale definiert und in ihrer sozialen Funktionalität sowie in deren Auswirkung auf spezifische Textklasseneigenschaften analysiert. Insofern handelt es sich um systematische Gattungsbegriffe. Ihre Merkmale entstammen den gleichen Dimensionen, die oben für die Kommunikation allgemein diskutiert wurden. So spricht WolfDieter Stempel von ›Kommunikationskomponentensorten‹, »die durch Kombi——————— 18

Auf diesen Hintergrund hat Wolfgang Raible noch einmal ausdrücklich hingewiesen: »[...] viele assoziieren mit ›Gattung‹ nur literarische, u. U. sogar nur durch die Gattungspoetik konsekrierte Texte. Da jedoch Patentschriften, Leitartikel oder Schulaufsätze sicher im gleichen Maße Mustern gehorchen wie etwa der pikareske Roman, war ein allgemeinerer Begriff nötig, der sowohl literarische wie nicht-literarische Textgattungen umfaßt«; Raible: Wie soll man Texte typisieren?, S. 59 Anm. 2. Der Formulierung »im gleichen Maße« ist hier zu widersprechen. Ich werde Schulaufsätze als institutionelle Gebrauchsform bestimmen und pikarische Romane als historische Gattung. Es handelt sich um Typen von Gattungen, die auf sehr unterschiedliche Weise »Mustern gehorchen«.

56 nation Textsorten konstituieren können«,19 und die analog zu den genannten kommunikationstheoretischen Dimensionen erscheinen: aufgezählt werden pragmatische Diskursbedingungen, eine Unterscheidung von direkter und narrativer Rede, kompositorische Verfahren und Sprechhaltungen, sozialsprachliche Codes, Inhalte, Rezeptions- und Darbietungskomponenten (177). Augenfällig wird dabei stets ein gewisser Erklärungs- und Anschlussbedarf hinsichtlich des traditionellen Gattungsbegriffs, da nämlich die literarischen Gattungskategorien vom Begriff der Textsorte theoretisch abgedeckt werden sollen. Der Anspruch, einen grundlegenden literaturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel herbeizuführen, konnte aus heutiger Sicht nicht eingelöst werden. Nur selten wird inzwischen noch von einer prinzipiellen Äquivalenz von Textsorten- und Gattungsbegriff ausgegangen.20 Dem widerspricht es, dass der Begriff der Textsorte in literaturgeschichtlichen Zusammenhängen als die vermeintlich modernere Alternative zugleich um sich greift. Dem linguistischen Paradigma inhärent ist das Absehen von historischen Determinanten und die Analyse von im weiten Sinne sozialen und pragmatischen Bedingungen von Kommunikationsgattungen. Diese methodische Verschiebung blendet den historischen Aspekt zugunsten des sozial-situativen Aspekts systematisch aus. Dies bringt fixierte Formen der Alltagskommunikation wie das Arztrezept oder das Kochrezept in den Blick, kann allerdings zu literarisch-historischen Gattungen aufgrund von deren starker geschichtlicher Dimension und prekärer gesellschaftlicher Funktionalität nur sehr begrenzte und kaum wirklich relevante Auskünfte erteilen. Vor allem bezüglich des historischen Prozesscharakters literarischer Gattungen bleibt die Textsortenanalyse stumm bzw. auf die überkommenen Aporien zurückgeworfen: »Nun sind zweifellos auch Texte derselben literarischen Gattung Exemplare einer Textsorte – und zwar solche, die nicht nur eine, sondern offensichtlich eine größere Zahl von Invarianten aufweisen.«21 Der Anspruch, über den Textsortenbegriff zu einer Klärung des Begriffs der historischen Gattung zu gelangen, der zugleich von problematischen Begriffsvorgaben entlastet werden soll, führt genau umgekehrt dazu, den Begriff der Textsorte mit den traditionellen gattungstheoretischen Aporien zu behaften, also mit den Fragen nach Invarianten im Prozess des historischen Wandels.22 Der Begriff der Textsorte wird problematisch an genau der Stelle, wo er an die ——————— 19 20

21 22

Wolf-Dieter Stempel: Gibt es Textsorten? In: Textsorten. Hg. Gülich/Raible 1975, S. 175– 179, Diskussion: S. 180–183, hier: S. 176. Immer wieder wurde im Rahmen der Textsortendiskussion auf die ›Sonderstellung‹ der literarischen Gattungen hingewiesen: Stempel, S. 179; Weinrich, S. 161–169, Diskussion: S. 170–174; Steger: Über Textsorten, S. 39; Steger: Sprachgeschichte als Geschichte der Textsorten/Texttypen und ihrer kommunikativen Bezugsbereiche. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hg. von Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 2 Teilbde., Berlin, New York 1984f., Teilbd. 1 (1984), S. 186–204, hier: S. 187; Eckard Rolf: Die Funktionen der Gebrauchstextsorten. Berlin, New York 1993, S. 125. Raible: Was sind Gattungen?, S. 339. Hempfer: Gattungstheorie, S. 177–180.

57 klassische Begrifflichkeit angeschlossen werden soll, um die literarischen Gattungen erfassen zu können. Dies ist nicht eigentlich überraschend, denn eine Verzeitlichung des Gattungsbegriffs kann nicht mehr geleistet werden, wenn die Dimension der Zeit wie im Textsortenbegriff systematisch ausgeblendet wird. Was die Analyse von Gattungen als Textsorten leistet, ist eine Befragung ihrer sozialen und situativen Voraussetzungen, soweit sie sich linguistisch-pragmatischen Kategorien erschließen. Dazu bezieht sich die Textsortenlehre zumeist auf sprechakttheoretische Bestimmungen von Kommunikationen als Sprechhandlungen.23 Eine Übertragung solcher Analysen auf konkrete gattungstheoretische Fragestellungen hat dennoch kaum stattgefunden. Die systematische Rückführung von Gattungsbezeichnungen auf sprechakttheoretisch spezifizierbare Grundlagen hat Tzvetan Todorov in seinem zitierten Aufsatz im Ansatz skizziert, um gleichfalls die Anbindung der Gattungsfrage an den Alltagsdiskurs zu unterstreichen. Dabei entsprechen seine Sprechakte in ihrem universalen Charakter partiell den Modi Genettes: [...] is there any difference at all between (literary) genres and other speech acts? Praying is a speech act; prayer is a genre (which may be literary or not): the difference is minimal. But to take another example, telling is a speech act, and the novel is a genre in which something is definitely being told; however, the distance between the two is considerable. Finally, there is a third case: the sonnet is surely a literary genre, but there is no verbal activity such as »sonneting«; thus genres exist that do not derive from a simpler speech 24 act.

Auch Todorov will den literarischen Gattungen soziale Gebrauchsformen zugrundelegen. Er bezieht sich dazu auf die Theorie der Sprechakte. Wie er selbst zeigt, enthält diese Ableitung aber einen kategorialen Sprung, wenn sie Gattungen mit Sprechakten identifiziert. Beten/Gebet, Erzählen/Roman, aber welcher Sprechakt entspricht dem Sonett? Die Schwierigkeit ist nicht bloß eine der Zuordnung, sondern sie ist grundsätzlicher Natur, da sie bei der Ableitung literarischer Gattungen von universellen Kommunikationsmerkmalen bewusst auf historische Kategorien verzichtet. Aus diesem Grund produziert sie Normierungen – der Roman als Erzählung – und Erklärungslücken – das Sonett. Als Folgerung ist daraus zu ziehen, dass literarische Gattungen so wenig mit Sprechakten zu identifizieren sind, wie mit Schreibweisen, Modi oder Textsorten. Todorov allerdings zieht diesen Schluss nicht, sondern er schlägt vor, die Gattungen als komplex transformierte Sprechakte zu bestimmen. Damit bewegt er sich nicht mehr streng auf der Ebene einer allgemeinen Poetik und seine Sprechakte sind zugleich nicht mehr die logisch-universellen, die man bei Aus-

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So bestimmt Barbara Sandig gebrauchssprachliche Textsorten als »Handlungsschemata«; Barbara Sandig: Zur Differenzierung gebrauchssprachlicher Textsorten im Deutschen. In: Textsorten. Hg. Gülich/Raible 1975, S. 113–124, Diskussion: S. 135–143, hier: S. 113; vgl. auch Rolf, bes. S. 79f. Todorov: The Origin of Genres, S. 20; darauf bezieht sich noch Pyrhönen, S. 113.

58 tin und Searle findet.25 Es ergeben sich zahlreiche Probleme, da beispielsweise Romane selbst wiederum aus zahlreichen eingebetteten Sprechakten bestehen.26 Die kategoriale Gleichsetzung von kommunikationstheoretischen und historischen Konzepten macht das Unterfangen hoffnungslos, das angeregt war von einem Interesse, den ›Abgrund‹ von Literatur und Nichtliteratur zu überbrücken, indem es zeigte, dass die literarischen Gattungen letztlich in der menschlichen Rede gründen (26). Aufgrund der genannten Schwierigkeiten ist verschiedentlich auf die Differenz von ›praktischem‹ und ›literarischem‹ Bereich, von ›reproduktivem‹ und ›schöpferischem‹ Einzeltext27 und von Textsorten- und Gattungsbegriff hingewiesen worden.28 Dies ist nicht gleichbedeutend mit einem Verzicht auf eine gesellschaftlich-funktionale Einbindung literarischer Gattungskategorien. Es ist aber festzuhalten, dass diese nicht über eine unmittelbare Identifikation historisch-literarischer Gattungskategorien mit kommunikationstheoretischen Kategorien erreicht werden kann. Eine solche Kategorie aber ist die Textsorte. Sie ist definiert über pragmatisch-funktionale Bestimmungen, die einen überhistorischuniversellen Charakter haben. Der Begriff der Textsorte weist aber nicht nur im Blick auf historische Gattungskonzepte ein Erklärungsdefizit auf, das in seiner synchronischen Konstitution begründet ist, er bleibt auch in systematischer Hinsicht unbefriedigend, insofern die Grundlagen zu einer Identifikation von Textsorten unklar geblieben sind. Textsorten erscheinen in beliebiger Weise in Form von Merkmalskombinationen konstruierbar, doch verflüchtigt sich gerade durch diese Beliebigkeit ihr empirisches Fundament. Sie sind weder auf historische noch auf linguistische oder soziologische Bedingungen beschränkt. Dies hat dazu geführt, dass eine von Horst Isenberg zusätzlich eingeführte Unterscheidung weitgehend akzeptiert wurde: die von ›Textsorte‹ und ›Texttyp‹. Wegen ihrer systematischen Bedeutung sei diese Unterscheidung hier zitiert: Den Ausdruck Textsorte verwenden wir als bewußt vage gehaltene Bezeichnung für jede Erscheinungsform von Texten, die durch die Beschreibung bestimmter, nicht für alle Texte zutreffender Eigenschaften charakterisiert werden kann, unabhängig davon, ob und auf welche Weise diese Eigenschaften im Rahmen einer Texttypologie theoretisch erfaßbar sind. Im Unterschied hierzu gebrauchen wir den Terminus Texttyp als eine theoriebezogene Bezeichnung für eine Erscheinungsform von Texten, die im Rahmen einer Texttypologie 29 beschrieben und definiert ist.

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Todorov: The Origin of Genres, S. 24; eine entsprechende Kritik an Todorovs Vorschlägen bei Beebee, S. 265; grundlegend: John L. Austin: How to do things with words. The William James Lectures. Ed. by J. O. Urmson and Marina Sbisa. Oxford 21982; John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a.M. 1971. Todorov: The Origin of Genres, S. 26. Stempel, S. 178. Weinrich, S. 161; Steger: Über Textsorten, S. 39. Horst Isenberg: Grundfragen der Texttypologie. In: Ebenen der Textstruktur. Hg. von Frantisek Danes und Dieter Viehweger. Berlin (DDR) 1983, S. 303–342, hier: S. 308.

59 Isenberg unterwirft in der Folge seiner Argumentation nun den Texttyp strengen Systematisierungsbedingungen, die in der Konsequenz zu universellen kommunikationstheoretischen Textklassifikationen führen sollen. In durchaus verwandter Perspektive war auch Wolfgang Raible von der Analyse von Textsorten zu der von kommunikativen Dimensionen übergegangen. Für den Begriff der Textsorte ergibt sich dabei allerdings eine begriffliche Beliebigkeit, die ihn sowohl von historischen wie von empirischen Bedingungen abkoppelt. Textsorten erscheinen demnach als beliebige Textklassifikationen, zuweilen auch im Sinne von Alltagsklassifikationen.30 In diesem Sinn bestimmt etwa Raymund Wilhelm seinen Begriff der Flugschrift als ein ›klassifikatorisches Konstrukt‹, wobei die Textsorte als ein Ordnungsbegriff keiner historischen Begründung mehr bedarf. Sie wird vielmehr ›willkürlich‹ definiert, um dann zu untersuchen, welche historischen Gattungen sich in einer derartigen Textsorte der Flugschrift finden und wie sie sich entwickeln.31 Der Anspruch auf historische Adäquatheit, den eine solche Untersuchung gleichwohl erheben muss, bleibt diesem Konzept der Textsorte äußerlich. Es dient heuristischen Zwecken, ohne mit der Begriffsbildung bereits eine explizite Antwort auf die Frage zu beanspruchen, was die historische Bedeutung dieser Art von Flugschrift gewesen sei. Dies ist methodisch durchaus stringent und markiert auf sehr klare Weise eine fundamentale Differenz von Textsorten- und Gattungsbegriff. Damit ist nicht nur die historische Signifikanz des Textsortenbegriffs negiert, sondern zugleich die soziale: eine Textsorte ist ein beliebig definierbares Konstrukt zur Isolierung von Textklassen, das sich heuristisch nutzen lässt, ohne damit bereits einen Anspruch auf empirische bzw. historische Adäquatheit zu erheben. Der Textsortenbegriff ist damit in einer Weise neutralisiert, die ihn transparent und vielfach verwendbar, aber auch wenig aussagekräftig erscheinen lässt.

2.3

Kommunikative Gattungen und Diskurstraditionen

Die Universalisierung und Neutralisierung des Textsortenbegriffs hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass sowohl aus sozialwissenschaftlicher wie aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Vorschläge gemacht wurden, um zu aussagekräftigeren Gattungsbegriffen zu gelangen. Erwähnt werden sollen in diesem Zusammenhang der von Thomas Luckmann, Susanne Günthner und Hubert Knoblauch entwickelte Begriff der ›kommunikativen Gattung‹ und der von Peter Koch und Wulf Oesterreicher vorgeschlagene Begriff der ›Diskurstradition‹. Mit beiden Konzeptionen ist der Anspruch verbunden, die Gattungsbildung als ein grundlegendes soziales und kommunikatives Geschehen zu fassen, das in ——————— 30

31

Heinemann/Viehweger, S. 144; vgl. auch den Tagungsband: Textsorten, Textmuster in der Sprech- und Schriftkommunikation. Festschrift zum 65. Geburtstag von Wolfgang Heinemann. Hg. von Roger Mackeldey. Leipzig 1990. Raymund Wilhelm: Italienische Flugschriften des Cinquecento (1500–1550). Gattungsgeschichte und Sprachgeschichte. Tübingen 1996, S. 19f.

60 lebensweltliche Zusammenhänge eingebunden ist und historischen Veränderungen unterliegt. Der Zugang ist nicht mehr primär klassifikatorisch oder definitorisch, sondern empirisch bzw. historisch. Bemerkenswert daran ist, dass diese Begriffsbildungen nicht mehr wie im Fall der Textsorte aus einer Auseinandersetzung mit den traditionellen literarischen Gattungskonzepten hervorgegangen sind und dass sie auch nicht mehr wie diese von statischen, schriftlich-monologisch konstituierten Textgebilden ausgehen, sondern dass sie Ernst machen mit einer Orientierung an konkreten sozialen Interaktionssituationen, die den literarischen Modellen vorausliegen.32 Thomas Luckmann verankert die Konzeption der kommunikativen Gattung in einem wissenssoziologischen, anthropologisch-lebensweltlich fundierten Kontext. Er unterscheidet zwei Grundtypen kommunikativen Handelns: von Fall zu Fall aufgebaute, in eigener Regie durchgeführte Kommunikationshandlungen und solche, die sich in weitgehend voraussagbarer Typik an vorgefertigten Mustern ausrichten. Wenn solche Gesamtmuster als Bestandteile des gesellschaftlichen Wissensvorrats zur Verfügung stehen und im konkreten kommunikativen Handeln typisch erkennbar sind, spricht Luckmann von ›kommunikativen Gattungen‹.33 Als grundlegende Funktion solcher kommunikativer Gattungen erscheint die Entlastung von Routineproblemen kommunikativen Handelns: Kommunikation unterliegt somit den Gesetzen der Habitualisierung des Gewohnheitshandelns und die Grundfunktion kommunikativer Gattungen besteht in der Lösung rekurrenter kommunikativer Probleme durch typische Muster und Gattungen.34 Dabei zieht auch Luckmann eine Analogie zu gesellschaftlichen Institutionen: letztere versteht er als Lösungen für Probleme gesellschaftlichen Lebens, während es sich bei kommunikativen Gattungen um mehr oder minder wirksame und verbindliche Lösungen von spezifischen kommunikativen Prob——————— 32

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Susanne Günthner, Hubert Knoblauch: »Forms are the food of faith«. Gattungen als Muster kommunikativen Handelns. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46 (1994) 693–723, hier: S. 699. Neben den Arbeiten von Luckmann folge ich den Untersuchungen von Günthner und Knoblauch, die neben einer differenzierten Analyse der Strukturebenen kommunikativer Gattungen eine Verortung des Ansatzes im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Diskussion zum Kommunikationsbegriff vornehmen. Vgl. auch: Dies.: Culturally Patterned Speaking Practices – The Analysis of Communicative Genres. In: Pragmatics 5 (1995) 1–32; dies.: Die Analyse kommunikativer Gattungen in Alltagsinteraktionen. In: Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik. Hg. Michaelis/Tophinke 1996, S. 35–57. Thomas Luckmann: Allgemeine Überlegungen zu kommunikativen Gattungen. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hg. Frank u.a. 1997, S. 11–18, S. 11f.; auch ders.: Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen. In: Kultur und Gesellschaft. Hg. von Friedhelm Neidhard, M. Rainer Lepsius, Johannes Weiß. Opladen 1986 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft. 27.), S. 191–211; sowie ders.: Kommunikative Gattungen im kommunikativen ›Haushalt‹ einer Gesellschaft. In: Der Ursprung von Literatur, Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650. Hg. von Gisela Smolka-Koerdt, Peter M. Spangenberg und Dagmar Tillmann-Bartylla. München 1988, S. 279–288. Günthner/Knoblauch: »Forms are the food of faith«, S. 693 und S. 700.

61 lemen handeln soll. Damit bleibt begrifflich eine Ebenendifferenz von Gattungen und Institutionen gewahrt.35 Zur Analyse kommunikativer Gattungen wird unterschieden zwischen der ›Binnenstruktur‹, die die Festigung der Beziehung von kommunikativer Funktion und semiotischen ›Bausteinen‹ meint, und der ›Außenstruktur‹, worunter die Beziehung zwischen kommunikativen Handlungen und Sozialstruktur (der Struktur gesellschaftlicher Institutionen und sozialer Schichtung) verstanden wird (12f.). Zur Binnenstruktur gehören alle formalen und ›rhetorischen‹ Bedingungen von der Prosodie über sprachliche Varietäten, Gliederungsmerkmale bis hin zu textuellen ›Superstrukturen‹.36 Die Außenstruktur beschreibt die Einbettung solcher semiotischer Strukturen in soziale Kontexte, wobei mit zahlreichen Beispielen vor allem die Bindung an soziale Milieus und an spezifische institutionelle Bereiche hervorgehoben wird.37 Kommunikative Gattungen sind damit genau an der Stelle angesiedelt, an der Hermann Gunkel den ›Sitz im Leben‹ verortete, doch beziehen sie sich in keiner Weise mehr auf literarische Gattungen, sondern – wie ihr Name sagt – auf deren alltagssprachliche Vorläufer. Sie erfüllen damit auch einen wichtigen Impetus der Textsortenkonzeption, ohne allerdings deren primär klassifikatorischen Zugriff zu verfolgen und auch ohne deren Wertungsimpuls, an dem sich die negative Abkunft der Textsortenkategorie von der literaturwissenschaftlichen Gattungslehre erkennen lässt. Mit einem ähnlich grundsätzlichen theoretischen Anspruch haben Peter Koch und Wulf Oesterreicher ein Konzept der ›Diskurstradition‹ vorgeschlagen, das ausdrücklich jene historischen Dimensionen sprachlicher Entwicklungen thematisieren soll, die jenseits der gleichfalls historischen Entwicklung von Einzelsprachen liegen. Das Konzept wird an die bereits vorgestellte Unterscheidung von drei Ebenen des Sprachlichen bei Eugenio Coseriu angeschlossen (s. Seite 11), die die universale Sprechtätigkeit, die historische Einzelsprache und den aktuellen Diskurs betraf. Hier soll der Bereich der Diskurstraditionen nun die mittlere ›historische‹ Ebene der Einzelsprachen »doppeln«.38 Die Historizität von Diskurstraditionen wird damit unterschieden von derjenigen der Einzelsprachen, deren Grenzen sie grundsätzlich überschreiten. Als Diskurstraditionen gelten Textsorten, Gattungen, Stile, rhetorische Genera, Gesprächsformen, Sprechakte usw. wie »Beipackzettel, Sonett, Manierismus, Prunkrede, Talk——————— 35 36 37

38

Luckmann: Allgemeine Überlegungen, S. 12. Günthner/Knoblauch: »Forms are the food of faith«, S. 706. Knoblauch schiebt zwischen diese beiden Ebenen noch eine »situative Realisierungsebene« hinzu, da die dialogische Realisierungsform mündlicher Rede eine eigene Analyseebene erfordert. Auf dieser Ebene sollen beispielsweise Rituale der Kontaktaufnahme und -beendigung, Begrüßung, usw. untersucht werden; Günthner/Knoblauch: »Forms are the food of faith«, S. 708; zur Außenstruktur: S. 711–715. Koch weicht hier ohne nähere Diskussion von Coserius Entwurf ab, der ausdrücklich Texttraditionen auf der ›unteren‹ »partikulären« Ebene situiert: »Außerdem sind Texte situationell bedingt, was für die Einzelsprachen nicht gilt, und sie folgen auch gewissen nicht-einzelsprachlichen ›Texttraditionen‹: so sind z.B. Erzählung, Bericht usw. allgemeine, nicht einzelsprachlich definierbare Textarten«; Coseriu: Die Lage in der Linguistik, S. 368; vgl. Koch: Diskurstraditionen, S. 45.

62 show, Lehnseid usw.« (45). Als Diskurstraditionen sollen zudem Fachsprachen und Jugendsprachen interpretiert werden, als ›spezielle‹ Diskurstraditionen werden Gattungen und Stile bestimmt (51f.). Während die einzelsprachbezogenen Sprachregeln von Sprachgemeinschaften getragen werden, sind Diskursregeln auf kulturelle Gruppen bezogen: Berufsgruppen, literarische Strömungen, politische Bewegungen usw. (49). Hier wird sichtbar, inwiefern der sprachwissenschaftlich fundierte Begriff in eine ähnliche Richtung zielt, wie der sozialwissenschaftliche der kommunikativen Gattung.39 Beiden gemeinsam ist auch die Zurückweisung des Textsortenbegriffs40 und der Anspruch, die Generizität literarischer Gattungen zu umfassen.41 Das Konzept der Diskurstraditionen ist ausdrücklich auf die Problematik historischen Wandels bezogen. Es unternimmt einen sprachwissenschaftlichen Konzeptualisierungsversuch sprachlicher Wandlungsprozesse jenseits der Entwicklung der Einzelsprachen. Dabei tauchen analoge Fragestellungen zur literaturwissenschaftlichen Gattungsdiskussion auf. Hinsichtlich der überzeitlichen Gültigkeit von Gattungskonzepten (bzw. solchen für Diskurstraditionen) wird eine möglichst avancierte Position ergriffen, insofern die diachronische Identität einer Gattung lediglich im Sinne von Wittgensteins Begriff der ›Familienähnlichkeit‹ oder im Sinne ›prototypikalischer Effekte‹ verstanden wird.42 Dies impliziert eine Zurückweisung konstanter Gattungsmerkmale irgendwelcher Art: »Wir müssen damit rechnen, dass am Ende einer Filiation eine erheblich andere diskurstraditionelle Realität steht (z.B. EFGH [...]) als am Anfang (z.B. ABCD), obwohl die historische Kontinuität über den Zeitraum t hinweg stets wirksam war.« (60). Jedes einzelne Merkmal einer Diskurstradition kann sich zu jeder Zeit ändern, nicht aber alle zugleich, so dass eine kontinuierliche Entwicklung im Sinne einer ›kausalen Kette‹43 gegeben bleibt, obwohl sich nach einem längeren Zeitraum prinzipiell alle Merkmale verändert haben können. Damit ist die Problematik der ›Kerneigenschaften‹ und auch die der ›Dominan——————— 39 40 41 42

43

Hinweise bei Oesterreicher: Zur Fundierung, S. 22, S. 24ff. Oesterreicher: Zur Fundierung, S. 21; Koch: Diskurstraditionen, S. 53; Günthner/ Knoblauch: Die Analyse kommunikativer Gattungen, S. 54. Oesterreicher: Zur Fundierung, S. 31. Koch: Diskurstraditionen, S. 59 Anm. 25 und S. 60 Anm. 26 unter Bezug auf Wilhelm, S. 14–16 und Werner Strube: Sprachanalytisch-philosophische Typologie literaturwissenschaftlicher Begriffe. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG Würzburg 1986. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 35–49, hier: S. 41–45. Auf den Begriff der Familienähnlichkeit rekurrieren an zentraler Stelle auch Zymner: Texttypen und Schreibweisen, S. 30–34, und Gymnich/ Neumann, S. 36f. Die Assoziation zur ›causal chain theory of reference‹ findet sich bei den Theoretikern der Diskurstradition nicht; vgl. stellvertretend Saul A. Kripke: Name und Notwendigkeit. Frankfurt a.M. 1981 [engl. 1972]; Hilary Putnam: The meaning of ›meaning‹. In: Putnam: Mind, Language and Reality. Philosophical Papers, Vol. 2. Cambridge, Mass. 1975, S. 215–271; außerdem: Eigennamen. Dokumentation einer Kontroverse. Hg. von Ursula Wolf. Frankfurt a.M. 1985.

63 ten‹ von Gattungen ausgeräumt und doch ein Konzept der diachronen Gattungskontinuität gewahrt.44 Bei dieser Konzeption bleibt dennoch ein wesentliches Moment der historisch-literarischen Gattungen unberücksichtigt, das zugleich einen wichtigen Unterschied zu Diskurstraditionen und kommunikativen Gattungen ausmacht: ihr ausdrückliches Durchgreifen durch die Zeit durch intertextuelle Referenzen. Ein ›Sonett‹ thematisiert mit seinem Gattungsetikett solche Historizität selbst, und zwar jenseits habitualisierter Diskurstraditionen und ihrer Wandlungsprozesse. Es greift dabei unmittelbar durch die Zeit hindurch auf Petrarcas oder auf Shakespeares Sonette und auf deren Kontext zurück. Dies macht einen wesentlichen Unterschied zwischen literarischen und kommunikativen Gattungen aus, auf den im folgenden Abschnitt über die historischen Aspekte der Gattungen eingegangen wird. Ob diese Aspekte für Diskurstraditionen und deren Wandel eine Rolle spielen, sei dahingestellt; zumindest werden sie geeignet sein, bestimmte Arten von Diskurstraditionen von anderen Arten zu differenzieren. Die Entwicklung von Konzeptionen kommunikativer Generizität in anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen erscheint für die literaturwissenschaftliche Gattungstheorie als eine Befreiung, die es erlaubt, die eigene Spezifizität schärfer bestimmen zu können, ohne die Soziolinguistik und Soziologie mitgenerieren zu müssen und sich damit einer unangemessenen disziplinären Überforderung auszusetzen. Es ist von zentraler Bedeutung für die Theorie der literarischen Gattungen, dass sie einerseits im Rahmen einer allgemeinen Theorie kommunikativer Generizität verortet werden kann, um so andererseits ihre literarisch-historische Spezifizität herausarbeiten zu können. Es kann nicht ihre Aufgabe sein, das Geschäft der Soziologie und der Linguistik zu betreiben, doch bildet eine systematische Verkopplung mit diesen Disziplinen die Voraussetzung für die adäquate Fassung eines literaturwissenschaftlichen Konzepts literarischer Gattungen.

2.4

Drei Hinsichten der Sozialität von Gattungen

Mit der Ausweitung des Gattungsbegriffs auf alltagssprachliche Kommunikationshandlungen, die sowohl mit dem Textsortenbegriff wie mit den Begriffen der kommunikativen Gattung und der Diskurstradition vorgenommen werden, ist in einem gewissen Sinn die Einlösung der metaphorischen Rede vom ›Sitz‹ der Gattungen ›im Volksleben‹ vollzogen. Für Hermann Gunkel bildeten die vornehmlich mündlichen Kommunikationsgattungen geradezu den ›lebendigen‹ Hintergrund des Gattungsgeschehens, einen institutionalisierten sozialen Ort, in den die Gattungen ursprünglich eingebettet sind: ——————— 44

Auf invariante ›Kerneigenschaften‹ rekurrieren auch Gymnich/Neumann, S. 37, mit ihrer Unterscheidung von ›konstitutiven‹ und bloß ›typischen Merkmalen‹.

64 Wer also eine antike Gattung verstehen will, hat zunächst zu fragen, wo sie ihren Sitz im Volksleben habe: den Rechtsspruch z.B. zitiert der Richter vor Gericht zur Begründung der Entscheidung, und das Siegeslied singen die Mädchen beim Einzug des siegreichen Heeres. Sehr häufig wird auch die Gattung durch einen Stand getragen, der über ihre 45 Reinheit wacht: so die »Tora« von den Priestern, die »Weissagung« von den Propheten.

Gunkel beschreibt hier gewissermaßen einen Schnittbereich von kommunikativen Gattungen und literarischen bzw. biblischen Gattungen, der ihren gemeinsamen Entstehungsgrund bezeichnen soll. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass beides nicht grundsätzlich gleichzusetzen ist. Kommunikative Gattungen sind nur in bestimmten Fällen ein sinnvoller Gegenstand genuin literaturwissenschaftlicher Untersuchung und damit als literarische Gattungen zu beschreiben. Sie umfassen Liebesbriefe und Nachrichten auf Anrufbeantwortern, amtliche Formulare und Verhöre, Einkaufszettel und Arzneiverschreibungen, Tagebucheintragungen und Lyrikveröffentlichungen. Auch im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs wird man nicht alle davon unterschiedslos als literarische Gattungen betrachten wollen. Es macht gerade die Stärke eines Konzepts kommunikativer Gattungen aus, dass es die Diskussion um die literarischen Gattungen vom Vorwurf der Normativität und Ausgrenzung weiter kommunikativer Bereiche entlastet, indem es die kommunikative Generizität insgesamt einer sozialwissenschaftlichen Analytik erschließt. Gunkels Hinweis zeigt aber auch, dass literarische Gattungen tatsächlich in einer qualifizierten Beziehung zu kommunikativen Gattungen stehen, und zwar sowohl in historischer wie in aktueller situativer Hinsicht. Historisch ist von einer Abstammungskonstellation auszugehen, durch die beispielsweise die literarische Gattung der Hymne auf konkrete Situationen der hymnischen Preisung von Helden zurückgeführt werden kann oder die literarische Gattung des Epigramms auf konkrete in Stein gehauene Inschriften an antiken Monumenten. Gattungstheoretisch interessant bleibt dabei die Frage, inwiefern man Gattungen nun mit solchen kommunikativen Entstehungskonstellationen verknüpfen darf, indem man diese als einen gleichsam zeitenthobenen ›Ursprung‹ konzipiert, dem beispielsweise eine Identität von Form und Inhalt entsprechen soll. Walter Benjamin hat mit seinem Konzept des Gattungsursprungs als eines selbst wiederum transitorischen Durchgangs nicht zuletzt einer solchen ›Verdinglichung‹ von Gattungen entgegenzuarbeiten versucht (vgl. S. 30, Anm. 9). Das jedoch betrifft die Historizität der Gattungen, auf die im folgenden Kapitel eingegangen werden soll. In situativer und damit sozialer Hinsicht sind literarische Gattungen als aktuelle Kommunikationshandlungen selbst Teil kommunikativer Gattungen. Die Veröffentlichung eines Romans beispielsweise ist in diesem Sinn Teil des kommunikativen Haushalts unserer Kultur. Man kann Romane demnach unabhängig von ihrer historischen Signifikanz als kommunikative Gattungen unserer Kultur beschreiben, die einen Teil unseres Alltags bilden. Für hymnische Preislieder gilt dies markanterweise nicht, obwohl es sich dabei zweifellos um eine ——————— 45

Gunkel, S. 53.

65 literarische Gattung handelt. Für akademische Laudationes dagegen scheint es zu gelten, auch wenn diese einer strikten Formalisierung unterliegen und kaum primär als literarisch gelten. Es zeigt sich, dass literarische Gattungen eine historische und eine aktuelle Dimension besitzen, die zu unterschiedlichen Fragestellungen führen. In aktueller Hinsicht kann man sie auf die kommunikativen Gattungen als Teil des kommunikativen Haushalts der jeweiligen Kultur beziehen. Literarische Gattungen müssen allerdings nicht immer im gleichen Sinn ›lebendig‹ sein wie kommunikative Gattungen, sie können durchaus völlig ungebräuchlich geworden sein. Da sie jedoch in den Archiven und damit innerhalb der literarischen Tradition fortbestehen, behalten sie gleichwohl Signifikanz. Es ist diese Differenz, auf die ich mit der Unterscheidung von sozialen und historischen Aspekten literarischer Gattungen ziele. Für den aktuellen sozialen Aspekt literarischer und anderer Kommunikations- und Mediengattungen – ihre ›Außenstruktur‹ im Sinne Luckmanns – unterscheide ich im folgenden drei Hinsichten: 1. die institutionelle, 2. die ideologische und 3. die auf den kulturellen, speziell den literarisch-künstlerischen bzw. ästhetischen Wert bezogene. Um Mediengattungen in kommunikativer Hinsicht zu bestimmen, ist demnach – erstens – ihre Gebundenheit an Institutionen zentral, die die erforderlichen kommunikativen Konstellationen der Öffentlichkeit generieren.46 Öffentliche Kommunikation ist als Kommunikation der Distanz (im Sinne von Koch / Oesterreicher47), sofern sie kontinuierlich stattfinden soll, an die Bereitstellung entsprechender kommunikativer Rahmenbedingungen und Kommunikationsmedien gebunden und damit, auch wegen des technischen Aufwands, in der Regel auf institutionalisierte Verfahren angewiesen. Der Begriff der Mediengattung kann also den Begriff der institutionalisierten Kommunikationsgattung weiter spezifizieren, indem sie diesen auf Medieninstitutionen im publizistischen Sinne bezieht. Die Gebundenheit öffentlicher Kommunikation an bestimmte gesellschaftliche Institutionen gilt nicht nur für den Literaturbetrieb, sondern beispielsweise auch für Medienkommunikationen nicht-schriftlicher Art wie das Fernsehen oder das Theater und für solche im Rahmen nicht genuin medienbezogener Institutionen wie religiöser, politischer, staatlicher oder wirtschaftlicher (Kultgemeinschaften, Höfe, Ämter, Schulen, Wirtschaftsbetriebe, usw.). Über die Analyse der institutionellen Position lässt sich die Untersuchung der gesellschaftlichen Funktionalität der unterschiedlichen institutionalisierten Kommunikationsgattungen konkretisieren und in präzisierte sozialhistorische Fragestellungen überführen (siehe auch den folgenden Abschnitt). Zweitens sollen in ideologischer Hinsicht Wertsetzungen betrachtet werden, die im Rahmen von Medienkommunikationen in Bezug auf den sozialen Raum vorgenommen werden. Insofern beispielsweise literarische Texte implizit oder ——————— 46

47

Soziale Milieus und gesellschaftliche Institutionen bilden nach Luckmann die Bezugspunkte kommunikativer Gattungen: Luckmann: Allgemeine Überlegungen, S. 13; Günthner/ Knoblauch: »Forms are the food of faith«, S. 711–715; vgl. oben, S. 61, Anm. 37. Vgl. Koch/Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz.

66 explizit Position beziehen und Interessen einzelner sozialer Gruppen artikulieren, entfalten sie Ideologie und damit soziale Signifikanz. Diese Signifikanz ist unabhängig von der institutionellen Position der Medienkommunikation. Ein literarischer Autor wird institutionell den Marktmechanismen des Literaturbetriebs unterliegen, er kann jedoch ideologisch die gleichen Mechanismen scharf kritisieren. Beides schließt sich nicht aus, es kann allenfalls – wenn es sich z.B. um einen Bestsellerautor handelt – ein Problem der Glaubwürdigkeit aufwerfen. Bislang war von literarischen Gattungen die Rede, ohne dabei auf künstlerische Wertvorstellungen zu rekurrieren. Die Doppeldeutigkeit des Literaturbegriffs, der zugleich einen medialen und einen ästhetisch wertenden Aspekt besitzt, blieb ausgeklammert. Ästhetische Wertungsprozesse bilden – drittens – allerdings ein entscheidendes Moment der sozialen Signifikanz von Medienkommunikationen. Das ist keine Besonderheit von Medienkommunikationen; alles soziale Handeln unterliegt Wertungsprozessen. Im Bereich der künstlerischen Kommunikation beziehen sich die Wertungen in der Regel auf Werke, doch können sie auch auf die Schöpfer der Werke – die Künstler – und auf den Typus der Werke – die Gattungen – bezogen sein oder ausstrahlen. So bilden sie Kraftfelder aus, die zu Wertübertragungen führen: Werke eines Autors profitieren insgesamt von der Hochschätzung seiner anderen Werke; Gattungen profitieren vom Wert, der einzelnen Exemplaren zugeschrieben wird, umgekehrt profitieren einzelne Gattungsexemplare von der Wertschätzung der Gattung. Gattungsgeschichtlich ist vor allem die gattungsbezogene Wertzuschreibung bedeutsam, die unter anderem von der Wertung einzelner Gattungsexemplare beeinflusst wird. Um solche Prozesse untersuchen zu können, bedarf es eines Wertbegriffs, der nicht auf fixierten Merkmalen beruht und also ontologisch fundiert ist. Vielmehr sind die Wertungsprozesse als gesellschaftliche Handlungen zu thematisieren, in denen einzelnen Werken oder Gattungen Werte zugeschrieben werden. Prinzipiell gilt, dass solche Wertungen universell anwendbar sind, das heißt, dass sie nicht auf einen vorab eingegrenzten Bereich ästhetischer Gegenstände beschränkt sind. Entsprechend liegt auch der ästhetische Wert von Gattungen nicht fest, sondern er ist historischen Wandlungen unterworfen. Betrachtet man künstlerisch-ästhetische Werte als Zuschreibungen, die anhand wandelbarer Wertmaßstäbe vorgenommen werden, so sind sie zu trennen von den zuvor behandelten Fragen der Zweckhaftigkeit bzw. der institutionellen Position von Mediengattungen. Von der Vermischung dieser Aspekte ist die gesamte Diskussion um die literarischen ›Gebrauchsformen‹ betroffen, die sich stets einem Rechtfertigungsdruck gegenüber ästhetischen Prinzipien ausgesetzt sah. Aus heutiger Sicht empfiehlt sich eine strikte Trennung. Erst dies ermöglicht es anzuerkennen, dass prinzipiell alle kommunikativen Bereiche unabhängig von ihrer institutionellen Einbindung und ihrer damit einhergehenden Zweckgebundenheit offen sind für ästhetische Wertungsvorgänge. Dies gilt für klassische Künste wie die Architektur ebenso wie für moderne Medienphänomene, für Werbespots oder Musikvideoclips, Internet-Homepages oder ZeitschriftenLayout, Predigten und Vorlesungen, Konsumartikeldesign oder den anspruchheischenden Roman.

67

2.5

Gebrauchsformen, Kommunikationsgattungen, Mediengattungen

Bezogen auf die traditionelle Gattungstheorie nimmt die Konzeption institutionalisierter Mediengattungen die theoretische Stelle der sogenannten Gebrauchsformen ein. Im Unterschied zu diesem Begriff ist der hier vorgeschlagene allerdings grundsätzlich sozialwissenschaftlich formuliert, während der Begriff der Gebrauchsform letztlich noch im Kontext der klassisch-romantischen Gattungstrias als ein Korrektiv eingebracht wurde. Schon terminologisch zeugt die Rede von Zweck- oder Gebrauchsformen von der Auseinandersetzung mit den autonomieästhetischen Postulaten und der Bemühung um eine Ausweitung des Literaturbegriffs. Friedrich Sengles entsprechende Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre schlossen an ältere Diskussionen um eine Ergänzung der Gattungstrias durch eine vierte Gattung didaktischer Literatur an.48 Das Konzept der Gebrauchsformen zielt auf eine Erfassung jener historischliterarischen Gattungen, die im Rahmen der Trias von Epik, Lyrik und Dramatik wegen ihrer Zweckgebundenheit unberücksichtigt blieben. Genannt werden Gattungen wie »die Biographie und die Autobiographie, der Dialog, die Rede, die Predigt, das Tagebuch, der Aphorismus, der Brief, der Essay und die anderen Formen der Publizistik, die verschiedenen Formen der wissenschaftlichen Literatur« (12), die mit ihrer Kategorisierung als Gebrauchsformen in ein Spannungsfeld ästhetischer Theoriebildung hineingestellt werden, das ihnen im Grunde äußerlich ist. Entsprechend unterscheidet Horst Belke reine, literarisierte und literarische Gebrauchsformen. Als ›reine Gebrauchsformen‹ bestimmt er solche, »die ohne literarische Ansprüche und Zielsetzungen ausschließlich praktisch-okkasionellen Zwecken dienen«, als literarisierte gelten solche, »die literarische Elemente zur Erreichung praktischer Zwecke gezielt einsetzen.«49 Die – wider Willen – autonomieästhetische Grundlage der Bestimmung der Gebrauchsformen wird gerade daran deutlich, dass sie in expliziter Absetzung von einem Ästhetizitäts- bzw. Literarizitätskriterium vorgenommen wird. Im Unterschied dazu unternimmt Johannes Schwitalla den Versuch einer lebensweltlich-pragmatischen Bestimmung von Gebrauchs- und Alltagstexten. Sie bleiben damit unabhängig von der Bestimmung poetischer Texte, die über einen nicht weiter explizierten ›ästhetisch-semantischen Kode‹ eingebettet sein sollen, der an Postulate der Deviationsästhetik erinnert.50 Auch der Unterschied im ›Weltbezug‹ differenziert Gebrauchstexte und literarische Texte aber auf der Basis semantisch-pragmatischer Merkmale. Solche Unterscheidungen machen es grundsätzlich prekär, einen dezidierten Gebrauchstext als literarisch wertvollen Text einzustufen. Auf die hier implizit fortgeschriebene Entgegensetzung ——————— 48 49

50

Sengle: Vorschläge, S. 15. Horst Belke: Literarische Gebrauchsformen. Düsseldorf 1973, S. 8. Unter »literarischen Gebrauchsformen« versteht Belke solche Gebrauchsformen, die in die ›fiktionale‹ Literatur eingegangen sind, wie z.B. der Brief im Fall des Briefromans (ebd.). Johannes Schwitalla: Was sind ›Gebrauchstexte‹? In: Deutsche Sprache (1976) H. 1, S. 20–40, hier: S. 30.

68 von Zweckcharakter und Poetizität hat bereits Klaus Weissenberger hingewiesen und als Ausweg bezüglich der gleichen Gattungen von ›nicht-fiktionaler Kunstprosa‹ gesprochen, um die Aspekte des Wirklichkeitsbezugs und der Literarizität vorbehaltlos korrelieren zu können.51 Dabei wird nun allerdings vom Zweckcharakter konzeptionell völlig abgesehen, indem auf das Kriterium der Nicht-Fiktionalität rekurriert wird. Weissenberger beharrt damit auf einer genuin ›literarischen‹ Perspektive auf die Gattungen der Autobiographie, der Predigt, des Briefs, usw., »um an Hand der Transzendierung der teleologischen Funktion den Grad der Literarität [...] zu demonstrieren« (4). In diesem Sinn handelt es sich aber nicht mehr um eine Analyse ihrer lebensweltlichen, pragmatischen oder kommunikativen Funktion, sondern um ihre Adaption von Merkmalen des Literarischen, durch die sie sich dieser Kontexte gerade zu entheben scheinen. Der theoretische Rahmen des hier zugrunde gelegten Konzepts institutionalisierter Kommunikations- und Mediengattungen ist insofern ein anderer, als das Konzept nicht als Teil einer historisch argumentierenden Gattungstheorie entworfen ist. Es soll nicht neben den traditionellen Gattungsbegriffen stehen, vielmehr ist es in keiner Weise überhaupt auf poetische Gattungen bezogen. Anstatt Gebrauchsformen mit literarischen Wertbegriffen zu konfrontieren, sollen sie vielmehr als Kommunikations- und Mediengattungen zunächst ausschließlich in ihrem sozialen – und das heißt an dieser Stelle: institutionellen – Kontext verortet werden. So wird die komplexe Frage nach dem Zweck und der Funktion jener Gattungen oder Gebrauchsformen dahingehend vereinfacht und konkretisiert, dass sie auf die Frage nach ihrem jeweiligen institutionellen Ort zurückgeführt wird. Institutionen generieren in diesem Sinn Gattungen. Legt man den Institutionenbegriff von Berger und Luckmann zugrunde, wonach Institutionen die reziproke Typisierung habitualisierter Handlungen durch »Typen von Handelnden« sind,52 so ergeben sich die entsprechenden institutionalisierten Kommunikationsgattungen aus jenen Handlungstypen, die von institutionell Handelnden reziprok typisiert werden. Erinnert man hier nun noch die oben angeführte Mediendefinition von Posner (oben, S. 36), nach der ein Medium ein System zur Zeichenproduktion und -distribution darstellt, das den in ihm erzeugten Zeichenprozessen bestimmte gleichbleibende Beschränkungen auferlegt, so kann man die institutionelle Typisierung von Kommunikation als eine solche Beschränkung verstehen, so dass die institutionalisierte Kommunikationsgattung als ›Mediengattung‹ zu bezeichnen ist. Eine solche Bestimmung erfasst kaum historische Gattungen wie das Sonett, das Epos oder die Novelle, die heute weniger eine mediale als eine bloß noch akademische Rolle spielen, dagegen erfasst es Predigt und Beichtgespräch als ——————— 51

52

Klaus Weissenberger: Einleitung. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa. Hg. von K. Weissenberger. Tübingen 1985, S. 1–6, hier: S. 2; er bezieht sich dabei auf Rolf Tarot: Mimesis und Imitatio. Grundlagen einer neuen Gattungspoetik. In: Euphorion 64 (1970) 125–142. Berger/Luckmann, S. 58.

69 spezifische Kommunikationsgattungen katholischer Pfarrer, die Vorlesung als eine von Hochschullehrern im Rahmen der Universität, den Leitartikel als eine Mediengattung von Journalisten eines Zeitungsverlags oder auch den Kriminalroman als Gattung eines Literaturverlags, auf die Handlungen von Autoren und Lektoren typisierend und selegierend bezogen sind. Der analytische Bezug auf die Institution erlaubt es, die diffuse Frage nach der gesellschaftlichen Funktion bestimmter Kommunikationsgattungen, die je nach Fragehorizont und -perspektive zu anderen Antworten führt, zu konkretisieren. Während nämlich die Funktion einer Vorlesung für unterschiedliche Zuhörer individuell unterschiedlich sein mag, ist sie institutionell in jedem Fall expliziert und der empirischen Untersuchung offen.53 Der Vorschlag, die lebensweltliche Einbettung von Mediengattungen zunächst mit ihrem institutionellen Ort zu identifizieren, kann hier nicht umfassend entfaltet und in seinen systematischen Konsequenzen erörtert werden. Er hat vor allem systematische Gründe, zielt aber auch auf die praktischen Forschungsgegebenheiten. Der institutionelle Ort von Mediengattungen lässt sich jeweils recht präzise angeben und bildet eine informative Basis zur Bestimmung ihrer sozialhistorischen Bedingungen. Er differenziert spezifische Gattungstypen, sofern diese eben einer institutionellen Typisierung unterliegen. So lässt er sich auf rhetorische Gattungen wie die Gerichtsrede oder die politische Beratungsrede beziehen oder auf poetische Gattungen wie das Hochzeitsgedicht, kaum aber direkt auf historische Gattungen wie das Sonett. Ein Sonett kann als Gelegenheitsgedicht institutionell typisiert sein, indem es als Hochzeitswunsch einem Brautpaar dargebracht wird. Das gleiche Gedicht erfährt eine weitere institutionelle Typisierung, wenn es in einem Gedichtband abgedruckt wird, der als solcher einen literarischen Wertanspruch erhebt. Der literarische Wert erscheint hier als ein Merkmal der institutionellen Typisierung, dessen Ort das entsprechende Verlagsprogramm darstellt: Gedichtbände sind in der Regel nach explizit ›poetischen‹ Kriterien selegiert. Es ist für die vorliegende Konzeption zentral, dass sich die institutionalisierte Kommunikations- und Mediengattung neutral zu Fragen künstlerischer Wertigkeit verhält. Ein solcher Wertanspruch ist institutionalisierbar wie jedes andere Merkmal von Kommunikationsgattungen. Für Predigten beispielsweise gilt ein institutionalisierter moralischer Wertanspruch, für literarische Publikationsorte und die damit selegierten Gattungen ein institutionalisierter ästhetischer; für das Korpus des Gedruckten insgesamt jedoch gilt ein solcher nicht. Es folgt daraus nun für die literarischen Gattungen, dass als institutionalisierte Literaturgattung nur gilt, was in der gegebenen Kultur tatsächlich institutionell typisiert und selegiert wird. Historische Gattungen fallen als solche nicht unter dieses Kriterium. Vielmehr wird man sich zur Identifikation von institutionalisierten Gattungen um Verlagsprogramme, Spartenbildungen und ähnliches kümmern. Während auf diese Weise Sonett und Novelle nicht erfasst werden, geraten Verlagssparten wie Lyrikbände und Belletristik in den Blick, in denen ——————— 53

Eine funktionale Textsortenklassifikation hat Rolf vorgelegt.

70 auch historische Gattungen verortet und das heißt veröffentlicht werden können. Für die Typisierung und Selektion spielen deren historische Gattungsbedingungen allerdings keine feststehende Rolle. Kein Lektor wird sich heute kritisch dafür interessieren, welchen Regeln das ›Sonett‹ seines Autors auf welche Weise folgt, doch er wird eine Vorstellung davon haben, wie Texte aussehen müssen, die als Lyrik auf den Markt gebracht werden können. Er lehnt tagtäglich die Veröffentlichung von Texten ab, die »nicht in das Programm des Verlags passen«. Dies sind die konkret nachvollziehbaren (und erforschbaren) ›Sanktionen‹ (Voßkamp), die gesellschaftlich auf die Konstitution von Gattungen ausgeübt werden. Für das Verhältnis von institutionalisierten Mediengattungen zur künstlerischen Wertigkeit ergibt sich grundsätzlich, dass solche Wertkategorien in unterschiedlicher Weise zur Grundlage institutioneller Selektionen werden und dass somit Mediengattungen Wertansprüche implizieren können. Es handelt sich um einen deutlich gewandelten analytischen Standpunkt gegenüber der Rede von Gebrauchsformen, die solche Wertansprüche entweder nicht erheben oder die sie lediglich ›zweckorientiert‹ einsetzen sollten. Eine Mediengattungstheorie, die ähnliche theoretische Ansprüche erfüllen soll, wie die hier vorgeschlagenen Konzepte, hat Siegfried J. Schmidt skizziert.54 Schmidt möchte mit seiner Skizze einerseits die gattungstheoretische Universalien-Einzelwerk-Alternative auflösen und andererseits die gesamte Medienlandschaft in den Blick nehmen. Er geht dabei von einer kognitionspsychologischen und damit eher rezeptionstheoretischen Konzeptualisierung aus und spricht von ›kognitiven Handlungs-Schemata‹, die auf intersubjektiver Invarianzbildung beruhen, also wiederum auf einem stabilisierten Merkmalskatalog für Gattungen (167). Die ›Empirie‹ richtet sich entsprechend auf die Ermittlung von Gattungsbezeichnungen etwa in Filmzeitschriften und auf ein damit verbundenes Gattungswissen von Aktanten. Betrachtet man das Ergebnis der beigefügten Erhebung, so handelt es sich hier um Gattungsbezeichnungen, die weniger als relevante Mediengattungen anzusprechen sind, denn als vielfältige deskriptive Etiketten zur Charakterisierung ihres Gegenstands.55 Entsprechend wenig kann es verwundern, dass Schmidt bemerkt, dass »nach Auskunft von ›Fernsehleuten‹ Gattungsprobleme in ihrer Praxis kaum eine Rolle spielen, weil es im Medienalltag eher um Probleme der Ressortierung von Medienangeboten im Programm bzw. in der Organisationsstruktur geht.« (264). Darin ——————— 54 55

Siegfried J. Schmidt: Skizze einer konstruktivistischen Mediengattungstheorie. In: SPIEL 6 (1987) 163–205. Im Anhang findet sich ein »Verzeichnis aller Gattungsbezeichnungen in deutschen Illustrierten, Film- und Video-Zeitschriften« mit 467 Einträgen. Unter dem Buchstaben ›B‹ findet man »Bahn-Filme, romantische Ballade, Ballett, Ballett-Märchen, Bericht, BestsellerVerfilmung, Beziehungsfilm, Big-Budget-Film, Biographie« usw. Die rein deskriptive Funktion solcher Bezeichnungen ist offensichtlich; Schmidt: Skizze, Anhang 1, S. 200–205, hier: S. 201; auch: Ders., Siegfried Weischenberg: Mediengattungen, Berichterstattungsmuster, Darstellungsformen. In: Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Hg. von Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg. Opladen 1994, S. 212–236.

71 scheint mir eine grundsätzliche Problematik eines Gattungsbegriffs zum Ausdruck zu kommen, der in psychologisierender Verlängerung der Rede von ›Erwartungshorizonten‹56 auf der Basis von ›kognitiven Schemata‹ verankert werden soll und der sich in schließlich doch recht konventioneller Weise an ›Invarianzbildungen‹ orientiert, auf die sich das Konzept der Mediengattung gerade nicht einlassen muss.57 Von kognitiven Schemata und Invarianzen muss Schmidt auch deshalb ausgehen, weil er alle verwendeten und verwendbaren Gattungsbezeichnungen erklären will, also auch historische wie ›Ballade‹, die wir für unser Konzept gerade ausgeschlossen haben. Die institutionalisierte Kommunikations- und Mediengattung in unserem Sinn soll sehr direkt dem entsprechen, was hier als der Alltag von Fernsehleuten beschrieben wird, die institutionelle Verortung von Medienprodukten und ihre Zuordnung zu Programmsparten und damit Programmplätzen, die die Mediengattungspraxis nicht nur im Fernsehen sondern beispielsweise auch im Verlagswesen ausmacht. Thomas O. Beebee hat dies folgendermaßen ausgedrückt: »Genre is getting your song played on the country music station – or not.«58 Eine Unterstützung unserer Überlegung, die Analyse von Mediengattungen an institutionelle Selektionshandlungen zu binden, bilden auch die konkreten Forschungsprobleme von historischen Untersuchungen zu Mediengattungen. Es zeigt sich nämlich empirisch recht schnell, dass den Phänomenen mit der definitorischen Festlegung von bestimmten Merkmalen im Sinne einer literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie nicht gut beizukommen ist. In ihrer umfangreichen Untersuchung zum Feuilleton der Frankfurter Zeitung in der Weimarer Republik hat Almut Todorow entschieden »die Erschließung der Textwelt des Feuilletons und die Rückbindung der Einzeltexte in das Ensemble des Mediums Feuilleton und in die Zeitung« gefordert.59 Sie weist darauf hin, dass nur eine medien- und institutionenbezogene Zugehensweise zu einer ›angemessenen Feuilletonerschließung‹ führen kann, während beispielsweise die Diskussion um die literarischen Gebrauchsformen den medialen Aspekt weitgehend unbeachtet gelassen habe (34). Während die Konzeptionen der Textsorten und der Gebrauchsformen aufgrund ihrer gattungstheoretischen Abkunft vor allem durch die Zurückweisung ästhetischer Wertungskategorien und damit durch eine Auseinandersetzung mit dem literarischen Kanon angestoßen waren, nimmt die Konzeption institutionalisierter Mediengattungen den Gebrauchscharakter von Gattungen der Medien——————— 56 57

58 59

Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Ders: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a.M. 1970, S. 144–207, hier: S. 173ff. Vgl. zu einer »prototypentheoretischen« Konzeption von Texttypen als »ideal cognitive models« (ICM) Doris Tophinke: Zum Problem der Gattungsgrenze – Möglichkeiten einer prototypentheoretischen Lösung. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hg. Frank u.a. 1997, S. 161–182, hier: S. 170ff.; unter Bezug auf George Lakoff: Women, fire, and dangerous things. What categories reveal about the mind. Chicago, London 1987, S. 157ff. Beebee, S. 277. Almut Todorow: Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik: zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung. Tübingen 1996, S. 33, 38 und passim.

72 kommunikation selbst in den Blick. Die institutionelle Perspektive erschließt wesentliche Aspekte medialer Kommunikation. So stellt sich die Frage nach den überzeitlichen Invarianzen von Gattungen in völlig veränderter Weise. Sofern diese Frage eine Problematik der historischen Gattungen betrifft, stellt sie sich für die institutionalisierten Mediengattungen überhaupt nicht. Vielmehr wird die ›Identität‹ von Gattungen von der Institution selbst gewährleistet, doch stellt die Frage sich selten in scharfer Weise. Im Grunde ist sie akademischer Natur und entspringt den Systematisierungsbemühungen von Gattungstheoretikern. Sie ist im Sinne von Berger und Luckmann Teil der ›Legitimierung‹ von institutioneller Ordnung und für die Medieninstitutionen erst in sekundärer Weise relevant.60 Die Medieninstitution orientiert sich an den Reproduktionsbedingungen der Institution, für die die Identität des Programms und damit der angebotenen Gattungen lediglich eine Funktion darstellt. Es gibt Verlage, für die ihre Reputation und die Identität ihres Programms ein gewichtiges Argument darstellt, für andere wiederum hat dies keinerlei Bedeutung. In jedem Fall sind die Medieninstitutionen nur in zweiter Linie an der Identität der Gattungen interessiert, in erster Linie dagegen an der eigenen Persistenz. Insofern ist die Sanktionsgewalt, die sie über Gattungen ausüben, nicht unbedingt konservierender Natur, sie ist vielmehr in ökonomischer Perspektive auf Absatzchancen und auf Marktentwicklungen orientiert, die die Persistenz eines Verlags gewährleisten. Dies wiederum kann sich auf die Gattungsgestalt auch innovierend auswirken. Als historisches Beispiel kann dafür die Entstehung der Emblematik dienen. In diesem Fall hat der Wunsch des Verlegers nach der Illustration eines Epigrammbuchs gattungskonstituierend gewirkt. Dafür waren keine normativen Gattungsvorstellungen leitend, sondern der Wunsch nach Ausschöpfung der neuen medialen Möglichkeiten des Buchdrucks im Dienst ökonomischer Absatzchancen. Demgegenüber erscheinen die Gattungsnormen als nachträgliche Bestimmungsversuche angesichts einer eigendynamischen kulturellen Entwicklung. Interessanterweise geht diese Modellbildung nicht von der prosperierenden Emblematik selbst aus, sondern von der älteren nicht-buchbezogenen Impresenkunst, deren Eigenart und Wert gegen die nun erfolgreichere Emblematik durch die Entwicklung einer genuinen Impresentheorie abgesichert wird. Deren Bestimmungen speisen in der Folge dann paradoxerweise auch die Emblemtheorie.61 Für die gattungsgeschichtliche Untersuchung bildet die institutionelle Einbindung von Gattungen einen wichtigen Untersuchungsgegenstand. Der institutionelle Ort einer institutionalisierten Kommunikations- und Mediengattung ist ——————— 60 61

›Legitimierung‹ wird bestimmt als ›sekundäre‹ Objektivation von Sinn; Berger/Luckmann, S. 98–138, hier: S. 98. Ohne hier auf die reiche Forschungsliteratur zu verweisen seien stellvertretend genannt: Dieter Sulzer: Traktate zur Emblematik. Studien zur Geschichte der Emblematiktheorien. Hg. von Gerhard Sauder. St. Ingbert: Röhrig 1991; Ingrid Höpel: Emblem und Sinnbild. Vom Kunstbuch zum Erbauungsbuch. Frankfurt a.M. 1987.

73 ihr wichtigstes Bindeglied zu konkreten sozialen Gegebenheiten. Gattungsgeschichtlich ist dieser institutionelle Ort notwendigerweise Wandlungen unterworfen oder gar durch völlige Diskontinuität gekennzeichnet, wenn Gattungen über große Zeiträume hinweg oder in ganz unterschiedlichen Kulturen perpetuiert werden. Insofern ist das Verhältnis von Gattung und Institution auch gattungsgeschichtlich von großer Bedeutung.

2.6

Ideologien der Gattung

Neben der institutionellen Eingebundenheit von Mediengattungen sind sie selbst als Bedeutungsträger auf die sie umgebende gesellschaftliche Wirklichkeit bezogen. Dieser Bezug lässt sich als ein Wertbezug beschreiben.62 Man kann dazu ausgehen von den ›außerästhetischen Werten‹, die Jan MukaĜovský im Kunstwerk repräsentiert sieht. MukaĜovský entwickelt diese Überlegung im Zuge seiner Bemühung, den ästhetischen Wert des Kunstwerks weder auf formal- noch auf inhaltsästhetische Momente zu reduzieren, sondern die formalästhetischen Anforderungen an den Beziehungsreichtum der Elemente mit den heteronomen Aspekten des Wirklichkeitsbezugs im Kunstwerk zu vermitteln. Den Wirklichkeitsbezug beschreibt er als einen Wertbezug, der nicht allein in der beispielsweise von einem Roman mitgeteilten (historischen) Wirklichkeit zu finden ist, sondern der die Wirklichkeit des Lesers betrifft: Um den Roman, der den Leser gefesselt hat, legt sich nicht nur eine Wirklichkeit, sondern es häufen sich viele Wirklichkeiten an; je tiefer das Werk den Leser eingenommen hat, desto größer ist der Bereich der ihm geläufigen und für ihn existentiell bedeutsamen 63 Wirklichkeiten, zu denen das Werk eine sachliche Beziehung gewinnt.

Diese Beziehung unterhält das Kunstwerk zu den Wirklichkeiten, »die dem Leser und mittelbar seinem ganzen Universum als Gesamtheit von Werten zugänglich sind« (89f.), wobei der Begriff des Werts teleologisch definiert ist als »Fähigkeit einer Sache, der Erreichung eines bestimmten Ziels zu dienen«.64 ——————— 62 63

64

Vgl. die entsprechenden Bemerkungen bei Neumann/Nünning, S. 14. Jan MukaĜovský: Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten [1936]. In: MukaĜovský: Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt a.M. 1970, S. 7–112, hier: S. 89. MukaĜovský, S. 36; vgl. zu MukaĜovskýs Wertkonzept auch die Darstellungen bei Mojmír Grygar: Die Theorie der Kunst und der Wertung im tschechischen Strukturalismus. In: Beschreiben, Interpretieren, Werten. Das Wertungsproblem in der Literatur aus der Sicht unterschiedlicher Methoden. Hg. von Bernd Lenz und Bernd Schulte-Middelich. München 1982, S. 156–181; Monika Schrader: Theorie und Praxis literarischer Wertung. Literaturwissenschaftliche und -didaktische Theorien und Verfahren. Berlin, New York 1987, S. 179– 192; Rainer Grübel: Zum Entwurf des ästhetischen Wertes in den ästhetischen Theorien von Michail Bachtin, Jan MukaĜovský und Roman Ingarden. In: Issues in Slavic Literary and Cultural Theory. Hg. von Karl Eimermacher. Bochum 1989, S. 59–92, speziell S. 70– 79; Renate von Heydebrand, Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik, Geschichte, Legitimation. Paderborn 1996, S. 276–284.

74 Die ›ästhetische Funktion‹ des Kunstwerks wird dabei nicht als ein formales Moment gedacht, sie ist vielmehr gerade darin zu sehen, dass sie die mitteilende Funktion ›dominiert‹ und derart verwandelt, dass sich der ›sachliche Bezug‹ auf den außerästhetischen Werthorizont richtet. Dabei machen die außerästhetischen Werte die Substanz des Kunstwerks aus: Das Kunstwerk bietet sich letzten Endes als eine tatsächliche Ansammlung von außerästhetischen Werten dar und als nichts anderes als gerade diese Ansammlung. [...] Fragen wir in diesem Augenblick, wo der ästhetische Wert geblieben ist, dann zeigt es sich, daß er sich in die einzelnen außerästhetischen Werte aufgelöst hat und eigentlich nichts anderes ist als eine summarische Bezeichnung für die dynamische Ganzheit ihrer gegenseitigen Beziehungen. Die Unterscheidung eines »formalen« und eines »inhaltli65 chen« Gesichtspunkts bei der Erforschung des Kunstwerks ist also unrichtig.

Das Ästhetizitäts-Kriterium ist in formalistischer Weise an den Beziehungsreichtum des Kunstwerks geknüpft. Das Konzept der ›außerästhetischen Werte‹ – die diesen Namen tragen, da sie im Kontext einer Konzeption des ästhetischen Werts stehen – lässt sich als Grundlage des gesellschaftlichen Bezugs von Kunstwerken und darüberhinaus von Medienkommunikationen insgesamt auffassen. Der Bezug auf ›außerästhetische‹ oder besser: auf soziale Werte kann auch zu Gattungen mit mitteilender Funktion hinzutreten und macht nach MukaĜovský geradezu deren mögliche ›ästhetische Funktion‹ aus: In dem Fall jedoch, in dem wir die sprachliche Äußerung eines Berichts als Werk der Dichtung mit vorwiegend ästhetischer Funktion verstehen, ist das Verhältnis zur Äußerung mit einem Mal verändert, und der ganze Bau der sachlichen Bezogenheit der Äußerung gewinnt einen neuen Aspekt. [87]

Der gesellschaftliche Wertbezug ist im Unterschied zu Konzeptionen des referentiellen Wirklichkeitsbezugs zudem nicht an Mediengattungen mit ›mitteilender Funktion‹ und an die ›thematischen Künste‹ gebunden. MukaĜovský führt vor, dass er auch für die ›athematischen Künste‹ wie die Musik und die Architektur in Ansatz gebracht werden kann, insofern sie eine »Grundeinstellung zur Wirklichkeit« (92) repräsentieren. In diesem Zusammenhang ist allerdings auch festzuhalten, dass ein derartiger Bezug auf einen sozialen Werthorizont nicht allein für Werke mit ästhetischer Funktion angenommen werden darf, sondern dass er prinzipiell auch für nichtästhetische Kommunikationen vorauszusetzen ist. Die Kennzeichnung außerästhetische Werte weist gerade darauf hin, dass beispielsweise literarische und philosophische Werke auf einen gemeinsamen Werthorizont verweisen, was sie in dieser Hinsicht vergleichbar macht. Der Bezug findet lediglich in einer anderen Art und Weise statt. Das Konzept des außerästhetischen Wertbezugs ist deshalb geeignet, den gesellschaftlichen Bezug unterschiedlicher Kommunikations- und Mediengattungen auch unabhängig von einer möglichen ästhetischen Funktion zu erfassen und analytisch zu integrieren. ——————— 65

MukaĜovský, S. 103.

75 Der in Auseinandersetzung mit autonomieästhetischen Postulaten vorgenommene Versuch, den wertenden Bezug von Kunstwerken auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ästhetisch fruchtbar zu machen, ohne sich zugleich inhaltsästhetischer Reduktionen zu bedienen, verbindet dieses Konzept MukaĜovskýs mit Michail Bachtins Entwurf der Dialogizität. Eine lebendige Äußerung, die sinnvoll aus einem bestimmten historischen Augenblick, aus einer sozial festgelegten Sphäre hervorgeht, muß notwendig Tausende lebendiger Dialogstränge berühren, die vom sozioideologischen Bewußtsein um den Gegenstand der Äußerung geflochten sind, muß notwendig zum aktiven Teilnehmer am sozialen Dialog werden. Sie entsteht ja aus ihm, aus diesem Dialog, als seine Fortsetzung, als eine Replik 66 und nähert sich dem Gegenstand nicht von irgendeiner beliebigen Seite.

Das ›Wort‹ im Roman weist auf diese Weise unmittelbar auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit und damit auf einen Werthorizont zurück, in den es ›lebendig‹ verwoben bleibt. Bachtins Konzept des intertextuellen Charakters aller Rede stellt damit einen Wirklichkeitsbezug her, der auch hier dem Kunstwerk eine spezifische Dignität verleihen soll. Nicht unähnlich zu MukaĜovský bildet auch bei Bachtin die Vielfalt von sozial ›lebendigen‹ Sprachen, die im Kunstwerk repräsentiert sind, einen spezifischen ästhetischen Wert, der hier als ›Dialogizität‹ bestimmt wird. Im Unterschied allerdings zu MukaĜovský wird dieser ästhetische Wert von Bachtin gattungstheoretisch akzentuiert und zur Auszeichnung bestimmter literarischer Gattungstraditionen (des dialogischen Romans) genutzt. Die Rede von außerästhetischen Werten ist zunächst sehr allgemein gehalten und verlangt im Blick auf konkrete historische Analysen nach Präzisierungen des Bezugsbereichs. Wenn MukaĜovský in diesem Zusammenhang von Handlungszielen spricht, so sind weitere Vermittlungsschritte vorzusehen, um diese ›Werte‹ gesellschaftlich in einer Weise zu konkretisieren, die ihrer Präsenz in Medienkommunikationen entspricht. Die außerästhetischen Werte können sich auf partielle oder auf fundamentale Werte einer gegebenen Gesellschaft beziehen und nehmen häufig weltanschaulichen Charakter an. Dies legt eine wissenssoziologische Weiterentwicklung der Begrifflichkeit nahe. Werte meinen im Rahmen einer mehr oder weniger öffentlichen Kommunikation weniger individuelle Handlungsziele als komplexe gesellschaftliche und damit institutionelle Zusammenhänge. Peter L. Berger und Thomas Luckmann unterscheiden in ihrer Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit die Ebene der Institutionalisierung von der der Legitimierung dieser institutionellen Ordnung. Bei der Legitimierung handelt es sich um eine »‚sekundäre‹ Objektivation von Sinn«, die eine »neue Sinnhaftigkeit« produziert, »die dazu dient, Bedeutungen, die den ungleichartigen Institutionen schon anhaften, zu Sinnhaftigkeit zu integrieren«.67 Dazu gehört ein kognitives und ein normatives Element: ——————— 66 67

Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt a.M. 1979, S. 170. Berger/Luckmann, S. 98f.

76 Wissen und Werte (100). Die Legitimation geschieht auf unterschiedlichen Ebenen von einfachen sprachlichen ›Objektivationen menschlicher Erfahrung‹ und praxisnahen Lebensweisheiten bis zum Entwurf von expliziten ›Legitimationstheorien‹ für bestimmte institutionelle Ausschnitte (101) und zu ›symbolischen Sinnwelten‹68 als synoptischen Traditionsgesamtheiten, die die verschiedenen Sinnprovinzen integrieren und die institutionale Ordnung insgesamt als symbolische Totalität überhöhen (102). Mit symbolischen Sinnwelten sind umfassende Sinnentwürfe gemeint, die im Grunde kein ›Außen‹ mehr erlauben, da sie »als die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit« verstanden sind (103). An der Legitimation der symbolischen Sinnwelten und ihrer institutionellen ›Sinnprovinzen‹ arbeiten theoretische ›Stützkonzeptionen‹ wie die Theologie oder die Wissenschaft (112ff.), aber auch jene ästhetisch-medialen Objektivationen, die einen signifikanten sozialen Wertbezug aufweisen. Man kann also sagen, dass ein wesentlicher Aspekt der Sozialität von Medienkommunikationen und damit auch von Mediengattungen in ihrem spezifischen Bezug auf die Legitimation von institutioneller Ordnung, von symbolischen Sinnwelten und ihren Stützkonzeptionen gesehen werden kann. Damit ist ein umfassender Begriff des sozialen Wertbezugs gewährleistet, der sich von der bei MukaĜovský zu konstatierenden Konzentration auf den ästhetischen Wert freihalten kann und der eine Integration von unterschiedlichen kulturellen Phänomenen jenseits dieser Frage gewährleistet. Mit dieser Integration des heteronomen Wertbezugs literarischer und anderer Medienkommunikationen in einen wissenssoziologischen und institutionentheoretischen Kontext steht nun ein analytisches Vokabular bereit, das bereits recht unmittelbar auf konkrete gattungsgeschichtliche Zusammenhänge bezogen werden kann. Der Bezug auf symbolische Sinnwelten, theoretische Konzeptionen und die Legitimation einzelner Institutionen und umfassender institutioneller Ordnungen bildet einen zentralen Bestandteil der Analyse der semantisch repräsentierten sozialen Signifikanz gattungsgeschichtlicher Prozesse. Die Bestimmung des Gesellschaftsbezugs von Medienkommunikationen im Sinne einer ›Legitimation‹ gesellschaftlicher Ordnung ist natürlich in mehrfacher Hinsicht pauschal und bedarf weiterer Differenzierung. Weder auf seiten der Kommunikation noch auf der der Gesellschaft haben wir es mit einem homogenen Gebilde zu tun. Die Gesellschaft auf der einen Seite ist in unterschiedliche Institutionen mit konfligierenden Interessen aufgespalten. Die Kommunikation auf der anderen Seite muss – zumal als ein ästhetisch konstruiertes Sinngebilde – nicht einheitlich bestimmte Institutionen oder Interessen repräsentieren, sondern sie kann diese auch in ein spannungsreiches Verhältnis setzen. Inwiefern dies geschieht, ist nicht Sache der theoretischen Diskussion, sondern der konkreten historischen Analyse. Begrifflich kann man die Legitimation einzelner Institutionen oder partieller Interessen als Ideologie bezeich——————— 68

Unter ›symbolisch‹ werden Verweisungen auf andere Wirklichkeiten als die der Alltagserfahrung verstanden; Berger/Luckmann, S. 102, vgl. die Definition auf S. 42.

77 nen und das Verhältnis divergierender sozialer (außerästhetischer) Werte innerhalb einer Medienkommunikation als dessen Dialogizität. Der Ideologiebegriff impliziert traditionell eine gewisse Partialität von Interesse und einen Bezug auf gesellschaftliche Machtkonflikte, was seine politische Färbung ausmacht. Ins Spiel gebracht wird er zumeist als Instrument einer kritischen Perspektive, weshalb die entsprechenden Diskussionen um die epistemologische Frage kreisen, von welchem Standpunkt aus Ideologien kritisiert werden können: der Ideologiebegriff soll als Instrument von Ideologiekritik dienen.69 Insofern handelt es sich um einen politischen Begriff. In historischer Hinsicht kann man sich darauf beschränken, Ideologie als ein Differenzphänomen zu bestimmen, das durch die Partialität der Perspektive konstituiert wird. So beziehen Berger und Luckmann den Begriff auf Wirklichkeitsbestimmungen, mit denen sich ein konkretes Machtinteresse verbindet.70 In diesem Sinn sollte man das Christentum nicht als Ideologie des Mittelalters bezeichnen, da es die Grundlage für alle Gesellschaftsmitglieder und alle Wirklichkeitsentwürfe bildete. Ideologie unterscheidet sich demnach von einem allgemeinen Kulturbegriff im Sinne von grundlegenden »Ideen, Überzeugungen und Werten des gesellschaftlichen Lebens«.71 Betrachtet man die unterschiedlichen Ideologiebegriffe, die Terry Eagleton diskutiert, so wird ein Bemühen erkennbar, dem Begriff seine politische Schärfe zu erhalten, indem man ihn nicht nur auf Überzeugungen von gesellschaftlich relevanten Klassen oder Gruppen, sondern auf solche von »herrschenden« Gruppen »im Kontext oppositioneller Interessen« bezieht (39f.). Institutionentheoretisch gewendet kann man anstelle von ›herrschenden Gruppen‹ davon sprechen, dass es sich bei Ideologien um die Legitimation spezifischer gesellschaftlicher Institutionen im Kontext symbolischer Sinnwelten handelt.72 Einen differenztheoretisch akzentuierten Ideologiebegriff hat Thomas O. Beebee mit dem Konzept der Gattung in Verbindung gebracht. Er versteht unter Gattung ihren sozialen ›Gebrauchswert‹ und sieht sich damit in Übereinstimmung mit Konzeptionen des philosophischen Pragmatismus.73 Aus ihrem Charakter als Gebrauchswert folgt ihr ideologischer. Unter Bezug auf Ross Chambers, der sich wiederum an Althusser orientiert, bestimmt Beebee Ideologie als eine ›Positionierung von Subjekten‹ hinsichtlich des Systems, das sie produziert.74 Ideologie, die durch die Umpositionierung von Subjekten Macht schafft, muss dann notwendigerweise den unterschiedlichen Subjekten unterschiedlich ——————— 69 70 71 72

73 74

Vgl. für einen Überblick Peter V. Zima: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik. Tübingen 1989, S. 17–59; Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart 1993, S. 7–41. Berger/Luckmann, S. 102, vgl. die Definition auf S. 132. Eagleton, S. 38, zitiert als der allgemeinste mögliche Ideologiebegriff, der Affinitäten zu einem erweiterten Kulturbegriff besitzt. Unterschlagen habe ich hier das Moment des ›falschen Bewußtseins‹ bzw. der ideologischen »Verzerrung und Entstellung der Wirklichkeit«, das für die historische Analyse keine Rolle spielt; Eagleton, S. 40. Beebee, S. 14, auch: Anm. 26. Beebee, S. 15.

78 erscheinen. Es ergibt sich ein »ideological split«. So wird ein Terminus, den Marx zum Instrument des Falschen gemacht hatte, in einen kontrollierten Perspektivismus verwandelt: Ideologie variiert wie Interpretation unendlich, aber nicht willkürlich je nach der Perspektive derjenigen, die daran teilhaben. In einem zweiten Schritt erscheint dieses perspektivistische Element eines totalisierenden Systems als ›Geräusch‹.75 Es empfiehlt sich, auch hier wiederum an die Stelle der Rede von gesellschaftlichen ›Subjekten‹ und ihrer Position von den Rollensubjekten der Institutionen auszugehen.76 Ideologien beziehen sich im Grunde nie auf einzelne Subjekte, und dies ist in dieser Diskussion auch nicht gemeint. Ihre ›Positionierung‹, die als ›Macht‹ beschrieben werden kann, findet in jedem Fall über die Positionierung von Institutionen statt. Der ideologische split, die Perspektivierung der Ideologie, ist auf die Heterogenität und die Spannungsverhältnisse der institutionellen Ordnung zu beziehen, durch die die ›Positionierung‹ von Institutionen und die damit vorgenommene Manifestation von Macht an ihrer Außenseite oder in ihrem Rücken mit Notwendigkeit jene Konflikte generiert, die hier mit dem informationstheoretischen Begriff des Geräuschs gekennzeichnet wurden. Als Manifestation von Macht ist die Ideologie der Kommunikation in jedem Fall ein dynamisches Geschehen, das immer wieder neue ›Antworten‹ generiert. Wie nun wirkt sich das auf die Wirklichkeit von Gattungen aus? Medienkommunikationen sind als Gattungen institutionell verortet. Als Träger sozialer Werte sind sie an der Legitimierung und ›Positionierung‹ von Institutionen und institutioneller Ordnung beteiligt. Sie vermögen es dabei auch, die gesellschaftlichen Spannungen, unterschiedlichen Perspektiven und damit das ideologische ›Geräusch‹ aufzunehmen und wiederzugeben. Aussagen darüber sind in abstrakter gattungstheoretischer Hinsicht allerdings weitgehend fruchtlos, sie bedürfen der Konkretion der historischen Untersuchung. Auch diese Überlegungen zur Ideologie von Medienkommunikationen und Gattungen zielen auf einen spezifischen Effekt, der erst bei der historischen Tradierung zur Wirkung kommt. Es handelt sich bei den sozialen Werten und Ideologien um eine Umsetzung von ›lebendiger‹ Sozialität öffentlicher kommunikativer Akte. Werden nun solche Gattungen tradiert und in andere kulturelle und historische Kontexte transferiert, so verstärkt sich das ideologische Geräusch. Werte und Ideologien haften den Gattungen an und machen in gewandelten Kontexten spezifische ›Antworten‹ erforderlich. Gattungen sind Ideologieträger über kulturelle und epochale Grenzen hinweg. Sie aufzugreifen erfordert also eine produktive Auseinandersetzung mit ihrem überkommenen Werthorizont und ideologischen Ballast. Dies stellt ein äußerst signifikantes Moment der Historizität von Mediengattungen dar.

——————— 75 76

Beebee, S. 15; auch: Anm. 27 mit Bezug auf Eagleton. Zum Begriff der Rolle in diesem Zusammenhang: Berger/Luckmann, S. 76ff.

79

2.7

Der Wert der Gattung

Neben dem institutionellen Ort von Medienkommunikationen und neben ihrem Bezug auf gesellschaftliche Werte – ihrer ideologischen Signifikanz – bildet die Wertung, denen Medienkommunikationen seitens der Gesellschaft unterzogen werden, einen weiteren Aspekt ihrer Sozialität, der sich gattungsgeschichtlich bemerkbar macht. Man könnte dies mit einem heute geläufigen Wort als ihre Evaluation im kulturellen Prozess bezeichnen. Insofern Gattungen Kommunikationen klassifizieren, schaffen sie die Bedingungen für die Übertragung solcher Wertungen: das Epos genoss als Gattung über lange Zeit höchste Wertschätzung, weil es von der Wertschätzung der Werke Homers profitierte. Um solche Prozesse begrifflich fassen zu können, ist ein Blick auf die literaturwissenschaftliche und ästhetische Wertungsdiskussion angezeigt. Im Zentrum der traditionellen Auseinandersetzungen um die literarische Wertungsproblematik steht die Frage nach den Kriterien für Ästhetizität und nach ihrer überhistorischen Gültigkeit. Dabei handelt es sich um eine Kernfrage der allgemeinen Poetik, die zu beantworten eher der philosophischen Ästhetik zukommt, als dass man sie im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie befriedigend behandeln könnte. Ich habe deshalb bisher eine Strategie der Ausklammerung verfolgt. Dies geschah nicht, um einem theoretischen Problem aus dem Weg zu gehen, sondern in der Absicht, das Begriffsfeld von jeder Oppositionsbildung freizuhalten, deren eines Glied durch ein Ästhetizitätskriterium gebildet würde, das als eine Art black box zu fungieren hätte. In der Auseinandersetzung mit MukaĜovský lag ein solches Konzept allerdings schon bedenklich nahe, weshalb die fundierende Relation zwischen der ›ästhetischen Funktion‹ und den außerästhetischen Werten gekappt wurde. Dies soll nun nicht heißen, dass man die Frage des ästhetischen Werts in gattungsgeschichtlicher Hinsicht vernachlässigen könnte. Dies ist keinesfalls so, denn der ästhetische, literarische oder kulturelle Wert spielt für die Einschätzung und Tradierung von Gattungen eine zentrale Rolle. Niemand wüsste zu sagen, ob heute auch nur ein einziges Sonett geschrieben würde, wenn damit nicht eine Bezugnahme auf ein wertheischendes Muster verbunden wäre. Es kommt nun darauf an, die Frage des ästhetischen Werts von einer der allgemeinen Poetik zu einer solchen der Literatur-, Medien- und Gattungsgeschichte zu wenden. Nicht die Frage ihrer möglichen überhistorischen Kriterien, wie sie unter anderem auch MukaĜovský beschäftigt, ist relevant, sondern die ihrer Rolle im Rahmen historischer Tradierungsprozesse von Gattungen. Für eine historische Wertungsanalyse ist die Frage überhistorischer Kriterien der Ästhetizität dysfunktional. Die historisch vorgenommenen Wertungen selbst sind konkret rekonstruierbar, was in zahlreichen Rezeptionsgeschichten zu verfolgen ist. Die Wertung kultureller Zeugnisse ist ein alltäglicher sozialer Vorgang, der nicht nur ästhetische oder literarische Objekte betrifft, sondern die Gesamtheit der kommunikativen Objektivationen im öffentlichen Raum. Ästhetische Wertung ist nur ein Teilbereich umfassender gesellschaftlicher Wertungsprozesse, für die die moralische, wissenschaftliche und ökonomische Wertung

80 weitere markante Beispiele abgeben. Die kulturelle Wertung bildet unverzichtbare Wegweiser im Dickicht der Medienkommunikation, ohne die schlechterdings jede Orientierung verloren ginge. Gewertet wird in institutionalisierter Form von der Kritik, der Wissenschaft, den Medieninstitutionen selbst, von Preisverleihern, Archiven, Schulen, usw.77 Wertung findet diskursiv und durch aktives Selektionshandeln statt und gerinnt zum wandelbaren Kanon.78 Sie bildet – mit Luhmann gesprochen – die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sozialer Systeme und damit ein universelles Kulturphänomen. Für eine historisch-analytische Perspektive auf kulturelle Gegebenheiten ergibt sich daraus die Forderung, die Signifikanz jener ›Wertigkeit‹, die der Komplex gesellschaftlichen Wertungshandelns beständig generiert und erneuert, zu erschließen. Sofern Gattungen Anschlusskommunikationen darstellen, spielen Fragen der Wertigkeit bei ihrer Fortschreibung eine herausragende Rolle. Eine solche Fragestellung unterscheidet sich im Ansatz von den Diskussionen um ›ästhetische Wertung‹, die sich primär auf die Objektivierbarkeit von Wertungsaussagen richtet. Dies gilt auch noch für deren sprachanalytische Wendung, die sich um die Klärung der sprachlichen Verwendungsweise von Wertausdrücken und Werturteilen bemüht.79 Das Verhältnis von Werturteilen und Wertmaßstäben – von Wertungen und Werten (12) – spielt im Kontext einer historischen Analyse von Wertungsprozessen allenfalls eine sekundäre Rolle, so dass auch die begrifflichen Klärungen, die in vornehmlich methodologischen Zusammenhängen entwickelt wurden, und die die neueren Arbeiten zur Wertungsfrage beherrschen, für unsere Zwecke nicht allzu dienlich sind. Für die Feststellung der historischen Wertigkeit von Gattungen ist vielmehr der Wert als eine relationale Eigenschaft thematisch. Als solche ist der Wert keine fixe Größe; er gerinnt gewissermaßen in einem dynamischen Wertungsprozess und ist historisch wandelbar. Er ist darin prinzipiell dem ökonomischen Wert vergleichbar. ——————— 77

78

79

Eine Liste ästhetischer Wertungsprozesse von verdeckten impliziten Wertungen bis zu den professionalisierten Formen bietet Barbara Herrnstein Smith: Value/Evaluation. In: Critical Terms for Literary Study. Ed. by Frank Lentricchia and Thomas McLaughlin. Chicago, London 21995, S. 177–185, S. 182. Vgl. für die Unterscheidung der Werthandlungstypen ›Urteil‹ und ›Selektion‹: Heydebrand/Winko, bes. S. 78–110; weitere Literatur: R. v. Heydebrand: Wertung, literarische. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl., Bd. 4 (1984) 828–871; Jochen Schulte-Sasse: Literarische Wertung. Stuttgart 21976; Siegfried J. Schmidt: Literarische Wertung. Zur Reformulierung eines Problems im Rahmen der Empirischen Literaturwissenschaft. In: Lyrik – Erlebnis und Kritik. Hg. von Lothar Jordan, Axel Marquardt und Winfried Woesler. Frankfurt a.M. 1988, S. 186–211; Simone Winko: Wertungen und Werte in Texten. Axiologische Grundlagen und literaturwissenschaftliches Rekonstruktionsverfahren. Braunschweig 1991; dies.: Literarische Wertung und Kanonbildung. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 1996, S. 585–600; vgl. zudem auch oben, S. 38, Anm. 64. Zum Begriff ›analytische Werttheorie‹ im Gegensatz zur ›substantialistischen‹: Winko: Wertungen und Werte, S. 27ff.

81 Traditionelle Wertdefinitionen bemühen sich im Gegensatz dazu um eine Rückführung des Wertbegriffs auf mehr oder weniger objektive Faktoren. MukaĜovský spricht beispielsweise davon, dass der Wert die Fähigkeit einer Sache bezeichnet, der Erreichung eines bestimmten Ziels zu dienen.80 Ralph Barton Perry bestimmt den Wert eines Dings danach, ob es Gegenstand eines Interesses ist.81 Charles W. Morris schließt daran und an die Wertdefinition des philosophischen Pragmatismus bei George H. Mead und John Dewey an und spricht von der Eigenschaft eines Gegenstands oder Sachverhalts im Verhältnis zu einem gegebenen Interesse – der Eigenschaft nämlich, auf befriedigende Weise eine Handlung abzuschließen, deren Vollendung einen Gegenstand erfordert, der derartige Interessen befriedigt.82 Es ist verschiedentlich auf die zirkuläre Struktur solcher Bestimmungen hingewiesen worden.83 ›Ziele‹ und ›Interessen‹ sind jedenfalls intentionale Sachverhalte, die schlecht objektivierbar sind, da sie selbst wiederum über voraussetzungsreiche Verfahren erschlossen werden müssen und zudem auf Wertkategorien zurückverweisen. Dies gilt selbst dann noch, wenn man wie Barbara H. Smith möglichst neutral von einer ›allgemeinen Bezeichnung für eine Vielzahl verschiedener positiver Effekte‹ spricht, deren »Positivität« ebenfalls wieder erklärungsbedürftig erscheint.84 In gattungsgeschichtlicher Hinsicht interessiert nun weniger der intentionale Aspekt von Werten als die Tatsache, dass Werte objektiv manifestiert werden. Man kann den intentionalen Aspekt – dass der Wert beispielsweise einem Interesse an dem Gegenstand korrespondiert – auch umgekehrt als Korrelat seiner objektiven Manifestation auffassen. In diesem Zusammenhang erscheint die handlungstheoretische Formulierung bei Morris aufschlussreich. Der Wert einer Sache kommt demnach in einem Präferenzverhalten zum Ausdruck.85 Ein solches Präferenzverhalten stellt die Manifestation eines korrespondierenden Interesses dar und bringt damit einen Wert zum Ausdruck. Der Wert einer Sache entspräche dann umgekehrt einer qualitativen (unterschiedlich gewichteten) Akkumulation von Selektionen. An einem solchen Konzept irritiert die Tatsache, dass der Wert als Korrelat von Präferenzverhalten einen unangemessen objektiven und manifesten Charakter gewinnt. Nicht Rechnung getragen ist damit – wie übrigens in den genannten Positionen zur Werttheorie auch – dem eigentümlich imaginären Charakter der Wertigkeit, der ihrer spezifischen Zeitdimension entspringt. ›Wert‹ bezeichnet nicht einen bereits objektiv manifestierten Nutzen, sondern vielmehr einen ——————— 80 81 82 83 84 85

MukaĜovský, S. 36. Ralph Barton Perry: Realms of Value. A Critique of Human Civilization. Cambridge, Mass. 1954, S. 1–14, bes. S. 2f. Charles William Morris: Ästhetik und Zeichentheorie. In: Morris: Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik und Zeichentheorie. München 1972, S. 95. Winko: Wertungen und Werte, S. 31; Smith: Value/Evaluation, S. 178; vgl. auch: Smith: Contingencies of Value. Alternative Perspectives for Critical Theory. Cambridge, Mass. 1995. Smith: Value/Evaluation, S. 180. Charles William Morris: Zeichen, Wert, Ästhetik. Einleitung von Achim Eschbach. Frankfurt a.M. 1975, S. 221; vgl. auch: Schrader, S. 209.

82 Vorgriff auf zukünftigen Nutzen, der entsprechendes Präferenzverhalten zu leiten vermag. Auf diesen zeitlichen Index weist Mead bereits hin, wenn er den Wert als »the future character of the object in so far as it determines your action to it« bezeichnet.86 Werte in diesem Sinn dienen der Handlungsanleitung und sind deshalb zukunftsorientiert. Man kann den Wert als antizipierte Selektion verstehen. »Was würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?« erscheint als paradigmatische Wertfrage. Die darin zum Ausdruck kommende Antizipation macht den imaginären Charakter aus, der Werten anhaftet. Die Rede der Börsianer von der ›Phantasie‹ (Zinssenkungsphantasie, Fusionsphantasie), die sich in Aktienkursen niederschlage, und die damit dokumentierte Anfälligkeit des Werts für Gerüchte, bringt dies treffend zur Sprache. An der Börse wird Zukunft gehandelt. Zugleich bleibt diese antizipatorische Phantasie an den Vollzug von Selektionshandlungen zurückgebunden, die den Wert punktuell manifestieren. Bezogen auf das Börsenbeispiel wird dies augenfällig an der Tatsache, dass der ›Kurs‹ der Aktie jeweils nachträglich ›festgestellt‹ werden muss. In der Rede vom Kurs kommt die zeitliche Dimension des Werts recht plastisch zum Ausdruck. Ein anderes Beispiel bildet die Differenz von Wert und Preis: Auch der Preis ist eine quantitative Feststellung des Werts, der von diesem zu unterscheiden ist.87 Dieser selbst bleibt imaginär und markiert seine Rolle in der Bewertung des Preises, ob dieser über oder womöglich auch unter dem imaginierten Wert angesiedelt sei. Der realisierte Preis vermag den Wert punktuell zu manifestieren, nicht aber für den Wiederholungsfall zu identifizieren. Der Begriff der Antizipation ist mehrdeutig, denn er umfasst unterschiedliche Arten des ›Vorgreifens‹, sowohl rein diskursive als auch aktive. Jeder Handlung eignet im Grunde ein antizipatorisches Moment, insofern kann man sagen, dass jede Handlung wertgeleitet ist und Werte generiert. Mit dieser Mehrdeutigkeit vermag der Begriff abzudecken, was die Wertungstheorien als Typen von Wertungen differenziert haben. Ich werde mich deshalb mit der relativen Unschärfe dieses Begriffs begnügen, die der historischen Analyse eine gewisse Weite der Fragestellung erlaubt, da sie zu einem weit gefassten Begriff des Werts führt. Als Vorteil erscheint es dabei, mit diesem weiten Begriff ein Instrumentarium zu besitzen, um das Gewicht unterschiedlicher Wertungen zu differenzieren. Selektionen setzen auf Verlässlichkeiten im Sinne von Anschlussselektionen und erhöhen damit zugleich deren Wahrscheinlichkeit, das heißt sie generieren Wert. Dieser Wert ist als Präferenzverhalten punktuell manifestiert, als Antizipation aber zugleich nicht quantitativ zu erfassen. Geschehen solche Selektionen autoritativ bzw. institutionell, so ist der Output an Wert größer: Lobt der Kritiker ein Werk, so antizipiert er Selektionen und erhöht zugleich ihre Wahrscheinlichkeit in ungleich stärkerem Maß, als dies ein ——————— 86

87

George Herbert Mead: Mind, self, and society from the standpoint of a social behaviorist. Ed. and with an introd. by Charles W. Morris. Chicago 1974, S. 5 Anm. 4, sowie die Einleitung von Morris, S. xxxi Anm. 20. Vgl. dazu insgesamt Klaus Lichtblau: Wert/Preis. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1976ff., Bd. 12 (2005), S. 586–591.

83 privates Urteil tun kann. Insofern ist er an der Generierung des Werts maßgeblich beteiligt; er hat den Wert jedoch nicht ›in der Hand‹, da auch er ihn nur antizipieren kann. Sagt er »Meisterwerk«, so greift er auf einen Kanonisierungsprozess vor, der ihn erst noch bestätigen muss, den er zugleich aber in Gang setzt. Der häufig konstatierte Skandal solcher Wertung wird nicht dadurch bewirkt, dass der Kritiker irren kann, sondern dadurch, dass er zugleich den Wert objektiv beeinflusst und generiert. Als Wert bleibt die Antizipation gleichwohl darauf angewiesen, durch Anschlussselektionen bestätigt zu werden, da der Vollzug von Anschlussselektionen wiederum selbst antizipatorisch ist und Antizipationshandeln beeinflusst. Können wir mit diesem Konzept dem zugleich imaginären und manifesten Charakter des Werts Rechnung tragen, so weist die Einbeziehung der Dimension der Zeitlichkeit umgekehrt zurück auf die Tradition. Erfolgversprechende Antizipationen können nur unter Bezug auf ein Wissen um Kontinuitäten vorgenommen werden. Insofern ist die Tradition in ihren unterschiedlichen Facetten der mächtigste gesellschaftliche Wertspeicher, nicht allerdings als ›totes Kapital‹ im Sinn einer abgelagerten Totalität, sondern nur insofern, als sie antizipatorisch relevant ist. Der hier avisierte Wertbegriff greift auf Vorschläge des philosophischen Pragmatismus zurück und ist angeregt von der ›kulturökonomischen‹ Analyse von Wertungsprozessen bei Boris Groys, die ihrerseits ihre Wurzeln in der Innovationsästhetik der formalistischen und strukturalistischen Schule hat. Der Wertbegriff wird von Groys auf die gesellschaftlichen Hierarchien und das kulturelle Gedächtnis bezogen: Von jeder Kultur läßt sich sagen, daß sie hierarchisch aufgebaut ist, so daß alles in ihr einen Wert hat, der durch die Stellung in der kulturellen Werthierarchie bestimmt wird. In erster Linie bildet das, was als organisiertes oder strukturiertes kulturelles Gedächtnis bezeichnet werden kann, eine solche Hierarchie. In der Kultur unserer Zeit sind das die Bibliotheken, Museen und andere Archive. Dieses materialisierte kulturelle Gedächtnis befindet sich in der Obhut verschiedener ebenfalls hierarchisch gegliederter Institutionen, die dafür sorgen, daß es unversehrt bleibt, daß neue, relevante Kulturmuster ausgewählt, 88 aber auch Kulturmuster entfernt werden, die als veraltet oder weniger relevant gelten.

Groys geht von einem kulturellen Wertbestand aus und analysiert in der Folge die Prozesse der Umwertung dieser Werte im Sinne einer Kulturökonomie, die den Wert ebenfalls als einen Relationalbegriff fasst: »Der Wert eines kulturellen Werkes wird durch sein Verhältnis zu anderen Werken und nicht durch sein Verhältnis zur außerkulturellen Realität, nicht durch seine Wahrheit und nicht durch seinen Sinn bestimmt« (13). Diese ökonomische Herangehensweise an den kulturellen Wert distanziert die epistemologischen und ethischen Ansprüche, die mit kulturellen Werten in der Regel verbunden werden, und führt zu einer interessanten Analyse der ästhetischen Wertungsprozesse vor allem im Blick auf die avantgardistische Moderne. ——————— 88

Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Essay. München 1992, S. 55.

84 Die Innovation operiert nicht mit den außerkulturellen Dingen selbst, sondern mit den kulturellen Hierarchien und Werten. Die Innovation besteht nicht darin, daß etwas zum Vorschein kommt, was verborgen war, sondern darin, daß der Wert dessen, was man immer schon gesehen und gekannt hat, umgewertet wird. [13f.]

Die Relationierung des Werts zu überkommenen Werten lenkt den Blick auf die Tradition, die den Wert spendet: »Wertvoll ist der Anschluss an eine wertvolle Tradition« (16). Von der Tradition erbt das Neue seinen Wert: »Das Neue unterscheidet sich also vom bloß Differenten dadurch, dass es in eine Beziehung zum wertvollen und im gesellschaftlichen Gedächtnis aufbewahrten Alten gestellt wird« (44); in den Worten von T. S. Eliot: »its fitting in is a test of its value«.89 Was befähigt die Tradition nun, Werte bereitzustellen und Wert zu verleihen? Im institutionentheoretischen Kontext erscheinen Traditionen als die zeichenhaft objektivierten Sedimente des Wissens einer Gemeinschaft, durch die Erfahrungen übertragen werden.90 Sie betreffen außerinstitutionelle und vor allem institutionelle Sachverhalte. Als verfestigte Handlungs- und Rollenmuster entwickeln Institutionen per definitionem eine überindividuelle Perpetuierungstendenz und damit zugleich ein traditionsgenerierendes Moment. Insofern rechnet jede Institution mit einem Anschlusshandeln, das die eigene Identität darstellt und perpetuiert: Institutionen sind systematisch durch einen Selbsterhaltungstrieb gekennzeichnet, der daran kenntlich wird, wie schwer die Abschaffung dysfunktional gewordener Institutionen in der Praxis ist. Da dabei Ordnungen verkehrt werden, erscheint solche Abschaffung als revolutionär. Es folgt nun aus der inneren Perpetuierungstendenz der Institutionen die Werthaltigkeit ihrer Traditionen. Institutionen sind in ihren Traditionen auf Dauer gestellte Handlungsmuster, die als solche werthaltig sind. Dieser Zeithorizont der kulturellen und damit auch der ästhetischen Wertigkeit bildet die Voraussetzung der überhistorischen Relevanz von Traditionen, in denen Zukunft antizipierbar wird. Da wir von kulturellen, von ökonomischen und moralischen, von ästhetischen und von literarischen Werten sprechen, ist es nötig, Werte zu differenzieren und zu klassifizieren. Dies ist jeweils bereits dadurch gegeben, dass sie auf spezifische gesellschaftliche Systeme oder – konkreter noch und enger gefasst – auf Institutionen bezogen sind. Dieser Bezug erlaubt es, von einer primär inhaltlichen Bestimmung von überhistorischen Wertmaßstäben oder axiologischen Werten91 zugunsten der Analyse historisch-gesellschaftlicher Wertprozesse abzusehen. Die Wertung von Objekten verändert sich historisch in Abhängigkeit von veränderlichen Wertmaßstäben, die an die veränderliche Legitimierung ——————— 89 90 91

Thomas Stearns Eliot: Tradition and the Individual Talent. In: Eliot: The Sacred Wood. Essays on Poetry and Criticism. London 71950 [zuerst: 1920], S. 47–59, hier: S. 50. Berger/Luckmann, S. 72f. Den ›axiologischen Wert‹ explizieren von Heydebrand und Winko im Gegensatz zum ›attributiven Wert‹ als den Wertmaßstab, der ein Objekt als wertvoll erscheinen läßt; Heydebrand/Winko, S. 40.

85 von Institutionen geknüpft sind. So hängt beispielsweise die Wertschätzung von Sonetten historisch von den jeweils in Ansatz gebrachten poetologischen Wertmaßstäben ab, die wiederum an den Wandel und die Ausdifferenzierung derjenigen Institutionen gebunden sind, die Typisierungen poetischer Texte vornehmen. Dies ist somit nicht an ein ›Ästhetizitäts-Kriterium‹ eines autonomen Literatursystems gebunden, sondern es ist gleichfalls denkbar im Rahmen höfischer, schulischer oder kirchlicher Institutionen. Eine Konzeption poetischer oder künstlerischer Wertmaßstäbe darf sich nicht an moderne Autonomiekonzeptionen binden; sie muss vielmehr einer Geschichte der Künste Rechnung tragen, die in Zeiten zurückreicht, in der sie nicht prinzipiell von ›außerkünstlerischen‹ Funktionen unterscheidbar war. Die Kategorie des künstlerischen Werts interessiert hier im Hinblick auf die Geschichte der Gattungen. Wertungen beziehen sich auf einzelne Werke, doch sie beziehen sich auch auf Gattungen, die nicht zuletzt der Assoziation und dem Transfer von Wertzuschreibungen dienen. Versteht man Wertungen als die Antizipation von Präferenzhandlungen, so bilden sie geradezu ein Aggregat der Gattungsbildung, insofern sie Wiederholungen des Wertvollen nahe legen. Umgekehrt inhäriert damit dem Gattungsexemplar in seinem Gattungsbezug ein entsprechender Wertanspruch. Der Wert der Gattung ist der Motor der Gattungsgeschichte. Ihn zu verfolgen, muss ein zentrales Anliegen der Gattungsgeschichtsschreibung sein. Die Betrachtung des Gattungswerts erlaubt eine dynamische Beschreibung der historischen Relevanz von Gattungen, die einer merkmalsorientierten Gattungstheorie vollständig entgehen muss. Auch für die sozialhistorische und institutionentheoretische Gattungstheorie bietet erst die werttheoretische Ergänzung eine Perspektive, der Historizität der Gattungen systematisch Rechnung zu tragen, die sich in ihrer Perpetuierung über historische und kulturelle Grenzen und Gräben hinweg manifestiert, die doch unmittelbar zum gesellschaftlichen Funktionsverlust der entsprechenden Gattungen führen muss. Nur unter Einbeziehung der spezifischen poetischen Wertschätzung der Gattung ist angemessen zu beschreiben, warum heute immer noch und wieder Sonette geschrieben werden. Dies geschieht nicht, weil man damit institutionellen Regeln entspricht, sozialhistorische Bedürfnisse bedient oder Üblichkeiten folgt. Eine solche Betrachtungsweise bliebe markanterweise statisch und hohl. Erst der Blick auf die spezifische Wertigkeit der Gattung und auf die damit verbundenen Wertmaßstäbe lässt das Aufgreifen der historischen Gattung signifikant erscheinen. Mit dem Konzept des Gattungswerts gelingt die systematische Erschließung der historisch-dynamischen Dimension von Gattungen. Ohne die Zuschreibung einer entsprechenden transhistorischen Wertigkeit vergangener Kulturgüter ist eine Fortschreibung ihrer Muster im Sinne historischer Gattungen undenkbar. Die Wertschätzung der Tradition im Rahmen aktueller gesellschaftlicher Institutionen und ihrer jeweiligen Wertmaßstäbe und Wertsysteme manifestiert dagegen deren konkrete Funktionalität und eröffnet der Theorie der kommunikativen, medialen und künstlerischen Gattungen erst ihre genuin historische Dimension.

3

Literarische Historizität

3.1

Die rekursive Bestimmung der Gattung

Während bisher um der Universalität willen ganz allgemein von Mediengattungen die Rede war, soll im folgenden zur Vereinfachung der Argumentation nur noch auf literarische Gattungen Bezug genommen werden. Auf die Abgrenzung wird dabei kein besonderes Gewicht gelegt, man kann sie sich zugleich medientheoretisch und systematisch – Literatur als schriftlich dokumentierte Sprachkunst – und institutionentheoretisch und historisch – Literatur als Gegenstand der Institutionen des ›Literatursystems‹ – begründet vorstellen, wobei allfällige Unschärfen in kauf genommen sind. Die Übertragbarkeit der Argumentation auf andere Medien- und Kunstformen ist prinzipiell unterstellt, wird aber nicht mehr expliziert. Dass die Gattungshistorizität auch in außerliterarischen Zusammenhängen in vergleichbarer Weise relevant ist, wird vorausgesetzt. Die Diskussion ist zu einem Punkt gelangt, an dem das zentrale Argument der vorliegenden Untersuchung zu platzieren ist. In Abgrenzung von den universellen kommunikationstheoretischen und den sozialen und institutionellen Aspekten sollen die genuin historischen Aspekte von Gattungen begrifflich erschlossen werden. Dies führt zugleich zur Isolierung eines Typs von Gattungen, der primär über den Aspekt der Historizität zu bestimmen ist. Das heißt nicht, dass die unterschiedlichen Aspekte sich nicht durchdringen. Vielmehr zeigt sich, dass bestimmte traditionelle Gattungskategorien in unterschiedlichen Hinsichten beschreibbar sind. Betrachtet man das Beispiel der Lyrik, so ließe sich eine solche Gattung sowohl in medialer als in institutioneller Hinsicht und hinsichtlich ihrer Historizität bestimmen, wobei jeweils andere Aspekte und damit letztlich auch unterschiedliche Textkorpora erfasst werden. In kommunikationstheoretisch- medialer Hinsicht wäre beispielsweise eine ›lyrische‹ Gattung isolierbar, die über die lautliche Textur der Sprache, das heißt über rhythmische und klangliche Strukturen und über deren skripturale und graphische Entsprechungen operiert. Eine solche Gattung wäre universell konturiert und über weite kulturelle Differenzen hinweg beschreibbar. In sozialer Hinsicht ist eine lyrische Gattung isolierbar, die im Rahmen bestimmter literarischer Institutionen typisiert wird und spezifische Funktionen erfüllt. Eine solche Gattung ist an den jeweiligen institutionellen Raum gebunden und nicht in beliebiger Weise überhistorisch und interkulturell identifizierbar. ›Lyrik als Stimmungsausdruck‹ wäre ein solches Konzept, das an eine bestimmte institutionell verankerte Poetik geknüpft ist und das sich entsprechend historisch überholt bzw. kaum in anderen Kulturen vorkommt. Emil Staigers Gattung des ›Lyrischen‹ war zwar ›fun-

87 damentalpoetisch‹ und also mit universalistischem Impetus entworfen, blieb aber an kulturspezifische Wertmaßstäbe geknüpft. Wilhelm Voßkamps Entwurf des ›Bildungsromans‹ ist ein anders gelagertes Beispiel, das in expliziter Weise an spezifische institutionelle Gegebenheiten in einer bestimmten historischkulturellen Situation gebunden ist. In historischer Hinsicht bezeichnet ›Lyrik‹ im Unterschied dazu nun eine Gattung, die sich auf eine spezifische lyrische Tradition bezieht. Dieser Traditionsbezug macht die Eigenheit dessen aus, was man gewöhnlich als historische oder literarische Gattungen bezeichnet. Es ist bemerkenswert, dass der Kunstcharakter bzw. die künstlerische Wertigkeit von Texten und anderen medialen Objekten diesem Traditionsbezug und damit der Historizität zu korrelieren scheint. Kunst ist in ihrem kulturellen Wertanspruch historisch dimensioniert, und es gibt Gründe, die Frage des künstlerischen Werts oder der Ästhetizität in eine systematische Beziehung zur spezifischen historischen Referenz der entsprechenden Objekte zu stellen. Obgleich dies, wie mehrfach bereits konstatiert, nicht den primären Gegenstand dieser Untersuchung bilden soll, ist ein Seitenblick auf die entsprechende kunstphilosophische Diskussion erhellend, da hier im Unterschied zur Gattungstheorie Überlegungen in dieser Richtung bereits angestellt wurden und eine grundlegende Begrifflichkeit erarbeitet ist. Dem in der ästhetisch-künstlerischen Wertung angelegten Traditionsbezug Rechnung zu tragen, wird von Diskussionen zu einer ›historistischen‹ Bestimmung des Kunstwerk-Status nahegelegt. In seiner Rekonstruktion von ›Definitionen der Kunst‹ unterscheidet Stephen Davies funktionalistische, ›prozeduralistische‹ – das sind vor allem institutionentheoretische – und historistische Zugänge.1 Während funktionalistische Zugänge spezifische ästhetische Funktionen zu isolieren versuchen, was einen universalistischen Akzent setzt, bestimmen institutionentheoretische Definitionen der Kunst lediglich den sozialen Kontext, innerhalb dessen Objekten ein Kunstwerk-Status zuerkannt wird, ohne dass sie generelle Aussagen über dessen Eigenschaften erlauben würden. Seit den achtziger Jahren wurde nun verstärkt versucht, die historische Referenz von Kunstwerken auf die künstlerische Tradition als ein konstitutives und differenzierendes Merkmal von Kunst zu beschreiben. Solche ›historistischen‹ Theorien sind mit verschiedenen Modellen kombinierbar, insofern sie Kunst ›rekursiv‹ zu definieren versuchen. Unter einer rekursiven Definition der Kunst ist ein Modell verstanden, das die historische Referenz von Kunstwerken auf die künstlerische Tradition zum entscheidenden Merkmal erhebt. So spricht Richard Wollheim davon, dass wir zunächst bestimmte Objekte als originäre oder primäre Kunstwerke herausgreifen, dann einige Regeln aufstellen, die bei sukzessiver Anwendung auf die originären Kunstwerke uns (innerhalb gewisser grober Grenzen) alle nachfol——————— 1

Steven Davies: Art, definition of. In: Routledge Encyclopedia of Philosophy. General Editor: Edward Craig. London 1998, Bd. 1, S. 464–468; vgl. auch: Steven Davies: Definitions of Art. Ithaca NY, London 1991.

88 genden oder abgeleiteten Kunstwerke liefern.2 Die Nähe dieser Überlegungen zu den gattungstheoretischen Problemen ist offenkundig, insofern man die ›Kunst‹ insgesamt als eine sehr weit gefasste Gattung auffassen kann. Für den Gattungsbegriff selbst liegt die Bedeutung rekursiver Strukturen und historischer Referenzen sogar deutlicher zutage, als im Fall des Kunstbegriffs selbst. Eine rekursive Bestimmung der Kunst oder einer Kunstgattung erfordert zwei Teile: die Identifikation einer spezifischen Tradition einerseits und die Festlegung von Ableitungsregeln andererseits.3 Beide Teile sind kritisch und können unterschiedlich spezifiziert werden. Unter der Überschrift einer ›historischen Definition der Kunst‹ hat Jerrold Levinson in einer Reihe von Aufsätzen beispielsweise eine rekursive Theorie propagiert, die die historische Relation als intentionale bestimmt: »A work of art is a thing intended for regard-as-a-workof-art: regard in any of the ways works of art existing prior to it have been correctly regarded.«4 Die Relation besteht demnach in der Absicht, etwas in einer Weise als Kunstwerk zu betrachten, wie ältere Kunstwerke auch bereits ›zu Recht‹ betrachtet wurden. Levinson hält diese Art von Historizität für ein genuines Merkmal von Kunst: [...] the conviction that the only common core of art applicable to art-making today and two thousand years ago, and to any activities and artifacts of other cultures we recognize without strain as evidencing art-making – is one which makes historical reference or connectedness, that is, reference or connectedness to predecessor works, activities, modes 5 of reception, internal to the idea of art-making itself.

Es leuchtet unmittelbar ein, dass zumindest unsere Vorstellung von Kunst eng verbunden ist mit der Vorstellung einer historischen Bezogenheit und eines historischen Bewusstseins, das dem Kunstschaffen inhäriert. Dies gilt für die Kunst von Homer bis heute, allerdings scheint es weniger für Kunst im Kontext kultischer Repräsentation zu gelten. Festhalten lässt sich, dass die Historizität der Kunst ein Merkmal von hoher Signifikanz darstellt, das bei ihrer theoretischen Beschreibung eine zentrale Rolle spielen sollte. Weitere historistische Definitionen beziehen sich auf einen gemeinsamen allgemeinen Stil (James Carney), auf die Herstellbarkeit einer narrativen Kontinuität (Noel Carroll) oder auf die Funktion anerkannter Kunstformen (Robert Stecker).6 Grundsätzlich sind die rekursiven Definitionen mit einem ähnlichen ——————— 2

3 4

5

6

Richard Wollheim: Art and its Objects. Second Edition. With Six Supplementary Essays. Cambridge, Mass. 1980, § 60, S. 143; auch: Ders.: Objekte der Kunst. Frankfurt a.M. 1982, S. 13–145, hier: S. 136. Davies: Art, definition of, S. 467. Jerrold Levinson: Defining Art Historically. In: British Journal of Aesthetics 19 (1979) 232–250, hier: S. 234; außerdem: Ders.: Refining Art Historically. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 47 (1989) 21–33. Jerrold Levinson: Extending Art Historically. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 51 (1993) 411–423, hier: S. 412; vgl. auch die Diskussion von Levinson in Davies: Definitions of Art, S. 169ff. Diese Vorschläge diskutiert Davies: Art, definition of, S. 467; J. D. Carney: Style Theory of Art. In: The Pacific Philosophical Quarterly 72 (1991), 272–289; N. Carroll: Historical

89 Dilemma konfrontiert, wie es sich schon den institutionentheoretischen Bestimmungen stellte, nämlich Kriterien anzugeben, nach denen die Übertragung des Kunstwerk-Status bzw. die Referenz auf die Tradition vorgenommen wird. Gibt man solche Kriterien an, so wird die institutionelle bzw. historische Definition überflüssig, gibt man sie nicht an, so wird sie zirkulär und leer.7 Wenn etwas ein Kunstwerk nur innerhalb einer von vielen möglichen künstlerischen Traditionen ist, dann ist der Begriff der Kunst nicht vollständig erklärt, solange keine Basis bereitgestellt wird, um künstlerische Traditionen von anderen historisch kontinuierlichen kulturellen Prozessen oder Praktiken zu unterscheiden und um eine künstlerische Tradition von der anderen zu trennen.8 Die Debatte erhellt, dass man die Last der Erklärung nicht einer historischen Referenz übertragen kann, ohne dass man Angaben macht, worauf und auf welche Weise zu referieren sei. Die Rahmenbedingungen sind allerdings im Fall der Kunstdiskussion weniger klar als in dem der Gattungstheorie. Im Kunstbegriff treffen Gattungsprobleme und Wertungsprobleme in uneindeutiger Weise zusammen; der Kunstbegriff ist wie der emphatische Literaturbegriff zumindest doppeldeutig. Für den Begriff der Gattung gilt dies nicht. Zumindest hatte ich im vorigen Kapitel dafür plädiert, den Wert der Gattung als ein Attribut zu analysieren, das der Gattung nicht intrinsisch ist. Außerdem beschreibt die Gattung eine Pluralität. Es gibt vielerlei Gattungen, künstlerische und nichtkünstlerische. Der Typ der historischen Gattung wird gerade dadurch identifiziert, welche spezifische Gattungstradition aktualisiert wird. Ein Sonett lässt sich auf nicht-zirkuläre Weise als die Aktualisierung von Mustern der historischen Sonett-Tradition definieren, wobei der Terminus der ›Aktualisierung‹ noch erklärungsbedürftig ist. Es ist sehr viel unklarer, ein Kunstwerk als die Aktualisierung von Mustern der Kunsttradition zu bestimmen. Das hängt zum einen mit der ungeklärten Pluralität dieser ›Kunsttradition‹ zusammen, zum anderen mit dem ihr unterstellten ästhetischen Wert. Während nämlich die – nennen wir es – ›mechanische‹ Aktualisierung eines Sonetts jedenfalls ein Sonett sein wird, wird die mechanische Aktualisierung eines großen Kunstwerks kaum ein großes Kunstwerk sein. Daran wird kenntlich, dass es sich bei Werten nicht um Objekteigenschaften handelt, sondern um antizipatorische Zuschreibungen, die sich nicht einfach kopieren lassen. Verlassen wir also die kunsttheoretischen Debatten, um uns wieder der genuinen Gattungstheorie zuzuwenden. Die Bestimmung historischer Gattungen ist in jedem Fall rekursiv vorzunehmen. Die Gattungshistorizität beruht auf Rekursivität und historische Gattungen sind gerade durch ihre Rekursivität von anderen Gattungstypen unterscheidbar. Ein Sonett ist weder ein universeller ———————

7 8

Narratives and the Philosophy of Art. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 51 (1993) 313–326; Robert Stecker: Historical Functionalism or the Four Factor Theory. In: British Journal of Aesthetics 34 (1994) 255–265. Eine entsprechende Kritik an der Institutiontheorie bei Richard Wollheim: Die Institutionentheorie der Kunst. In: Ders: Objekte der Kunst, S. 149–157, hier: S. 155. Davies: Art, Definition of, S. 467.

90 kommunikativer Modus wie das Erzählen noch eine aktuelle kommunikative Gattung oder Gebrauchsform wie der Geschäftsbrief, sondern es ist eine historische Gattung, die den entscheidenden Teil ihrer Identität durch ihren Bezug auf eine spezifische literarische Tradition gewinnt.

3.2

Historischer Ort und rekursiver Index der Gattungen

Eine gewisse Problematik liegt in der Abgrenzung institutionalisierter Gebrauchsformen – hier des Geschäftsbriefs – von aktualisierten historischen Gattungen, da einerseits Gebrauchsformen jeweils auch eine Geschichte haben und andererseits auch solche historischen Gattungen einen aktuellen institutionellen Ort besitzen. Gleichwohl erscheint die Historizität des Geschäftsbriefs in anderem Licht, als die des Sonetts, und auch sein institutioneller Ort ist anders geartet. Dies legt eine Unterscheidung nahe zwischen dem jeweiligen historischen Ort einer Gattung und ihrem historischen Index. Wird heute ein Sonett geschrieben, so ist sein aktueller historischer Ort in seiner institutionellen Position gegeben, beispielsweise in einer Lyrikveröffentlichung. Zugleich exponiert ein solches Sonett einen markanten historischen Index, indem es mehr oder weniger stark auf die Geschichte der Gattung verweist. Im Fall des Sonetts ist dieser Index stets deutlich, da es so gut wie ausschließlich durch den historischen Rekurs motiviert ist. Der jeweilige historische Ort von Gattungen ist identisch mit der gesellschaftlichen Situierung, die im letzten Kapitel vor allem als institutionelle, als ideologische und als wertbezogene beschrieben wurde. In diachroner Hinsicht hat diese soziale Verortung eine Geschichte, das heißt, sie unterliegt sozialem Wandel und ist zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten unterschiedlich zu beschreiben. Davon unterschieden werden kann der historische Index einer Gattung, der nicht sozialer, sondern semantischer Natur ist. Er stellt einen historischen Verweis auf fremde Kontexte dar: das Schreiben eines Sonetts impliziert und erfordert das Bewusstsein einer historischen Differenz, die mit der Gattung konstatiert wird. Insofern ist für das Sonett ein historischer Index relevant, der für den Geschäftsbrief gewöhnlich nicht aktualisiert wird und irrelevant bleibt. In dem Maße nun, in dem der historische Index einer Gattung signifikant wird, kann man von einer ›historischen Gattung‹ sprechen, ohne damit historische Gattungen als einen Gegentypus zu kommunikativen und institutionellen Gattungen zu entwerfen. Einen historischen Index weisen im Prinzip alle kommunikativen Gattungen auf. Berger und Luckmann hatten darauf hingewiesen, dass bereits mit der Weitergabe habitualisierter Handlungsmuster an nachfolgende Generationen ein Motivationsverlust dieser Muster einhergeht, der diese erst als Traditionen greifbar macht. Insofern ist die institutionalisierte Gattung selbst bereits durch eine spezifische Fremdheit gekennzeichnet, die sie als traditionelle ausweist und die somit einen historischen Index generiert. Da die Tradition ›gelehrt‹ werden muss, unterliegt sie stets einer rekursiven Bestimmung und auch einer gewissen

91 Theoriebildung. Dies zeigt, dass das Moment der Historizität graduell gefasst werden muss und dass es eine differentielle Qualität besitzt. Gattungskommunikation ist grundsätzlich nicht spontan. Von historischen Gattungen in einem engeren Sinn wird man jedoch erst dann sprechen, wenn diese differentielle Qualität sich zur institutionellen Diskontinuität auswächst, wenn also Gattungen aktualisiert werden, die nicht mehr das Übliche reproduzieren, sondern die auf Fremdes rekurrieren. Solche historischen Gattungen erscheinen also als ein Handlungstyp der Diskontinuität, der selbst stets in einem aktuellen institutionellen Kontext stattfindet. In diesem Sinn erfährt die historische Gattung eine zusätzliche Identifikation über ihre historische Perspektive; man kann sie als eine ›Gattung zweiter Ordnung‹ bezeichnen. Festmachen kann man diese zusätzliche Perspektive an der Art und Weise, in der die Gattung die historische Differenz manifestiert. Somit geht es nicht darum, die historische Gattung von institutionellen Gattungen abzugrenzen; es geht um einen zusätzlichen Aspekt solcher institutioneller Gattungen. Dieser zusätzliche Aspekt lässt sich als die Manifestation einer historischen Differenz zur Inanspruchnahme einer spezifischen Wertigkeit bestimmen. Die mit der historischen Differenz manifestierte Diskontinuität kann beschrieben werden als ein signifikanter Selektionsakt, dem eine Pluralisierung von Handlungsmöglichkeiten vorausgegangen ist. Historische Gattungen in diesem Sinn korrespondieren einer sekundären Pluralisierung von Möglichkeiten, während institutionalisierte Gattungen als habitualisierte zunächst eine Reduktion von Möglichkeiten darstellen. Die Pluralisierung von Handlungsmöglichkeiten setzt die institutionelle Typisierung von Handlungen schon voraus und stellt also ein spätes Stadium institutioneller Entwicklung dar. Den Anstoß zu solcher Diskontinuität wird in der Regel die Notwendigkeit zur Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen geben. Um Handlungstypen und damit Traditionen jedoch ändern zu können, sind Alternativen erforderlich, die man vor allem aus fremden Kontexten gewinnen kann. Die Historizität in diesem Sinn wird gattungsgeschichtlich genau dann relevant, wenn sie eine Pluralisierung von Möglichkeiten durch aktualisierenden Rückgriff auf situationsfremde historische oder kulturelle Muster bewirkt. Das Merkmal literarischer Historizität lässt sich demnach nicht einfach im historischen Alter einer Gattung erkennen. Wer heute einen Brief schreibt, ergreift eine jahrtausendealte Gebrauchsform bzw. Mediengattung, ohne dass deren Geschichte für seine aktuelle Handlung in besonderer Weise relevant wäre. Sie unterliegt einer mehr oder weniger unmittelbaren Kontinuität. Wer ein Sonett schreibt, setzt sich damit in einer anderen Weise der Geschichtlichkeit aus. Die Historizität erscheint in diesem Fall als ein signifikanter Akt der Aktualisierung, der sich auf eine Diskontinuität bezieht und dem somit eine spezifische Willkür anhaftet. Die historische Gattung erscheint als historisch gerade in ihrem Moment der differentiellen Fremdheit und der mangelnden Usualität; sie bezeichnet ein Moment des Luxus. Sie meint gerade nicht, dass eine Gattung eine Geschichte hat, denn die hat jede Gattung. Sie erinnert vielmehr, dass diese Geschichte eine vergangene und fremde ist. Nur in diesem Sinn ist die histori-

92 sche Gattung ein ›interessantes‹ Argument und nur in diesem Sinn bezeichnet sie einen signifikanten Aspekt im Gebrauch kommunikativer Gattungen. Versteht man die Historizität von Gattungen als die Manifestation von Differenz in der arbiträren Aktualisierung des Fremden, so impliziert dies, dass solches im Rahmen einer aktuellen institutionellen Konstellation geschieht, in die die historische Gattung als Alternative eingebracht wird. Ohne einen institutionellen Rahmen für Lyrik wäre kein Ort zum Schreiben von Sonetten. Insofern bildet die Historizität keinen Gegensatz zu institutionellen Gebrauchsformen, sondern einen zusätzlichen Aspekt. Jeder habitualisierte Gebrauch kann prinzipiell durch historische Aktualisierungen überformt werden. So kann der Briefschreiber die Historizität der Gattung in sein Tun einbinden, indem er ›historische‹ – und das heißt ungebräuchliche – Merkmale einer fremden Briefkultur aufgreift. Er kann dies beispielsweise durch die Verwendung altertümlicher Grußformeln tun. Interessanterweise vollzieht sich damit ein Prozess, den man als ›Literarisierung‹ bezeichnen kann. Erfahrbar bleibt dies jedoch nur so lange, als die Differenz als solche festgehalten wird und wahrnehmbar ist. Historische Gattungen und institutionelle Gebrauchsformen bilden keinen Gegensatz, sondern unterschiedliche Ebenen und aufeinander bezogene Aspekte der Textklassifikation. Die Gattung ›Roman‹ beispielsweise spielt in der heutigen Literaturlandschaft eine prominente Rolle, sie ist institutionell vielfach verankert. Lektoren identifizieren sich damit, Buchreihen werden durch sie konstituiert und der Buchhandel stellt spezielle Verkaufsflächen dafür bereit. Ein Roman kann sich nun zugleich auf historische Muster der Gattung beziehen und die diskontinuierliche Historizität der Romangattung reflektieren. Wenn er dies tut, wird auch er eine gesteigerte ›Literarizität‹ und damit Wertigkeit in Anspruch nehmen, für die ein solches Muster einsteht. Gleichwohl bleibt er in die Institutionen des romanproduzierenden Gewerbes eingebunden. Die Gattung ›Sonett‹ ist institutionell nicht in gleicher Weise verankert. Es hängen keine Arbeitsplätze daran. Sie stellt allenfalls eine Möglichkeit dar, einen Text als Exemplar der Gattung ›Lyrik‹ auszuweisen, für die wiederum ein institutioneller Ort nachweisbar ist: ein schmales Regal im Buchladen, kleine Verlagsreihen, relativ große Aufmerksamkeit der Kritik, namhafte kulturelle Auszeichnungen, die einen erhöhten Wertanspruch dieser Mediengattung dokumentieren, für den wiederum ihre historische Dimension einsteht. Ein Sonett ist dagegen als Gattung allein identifiziert aufgrund solcher historischer Signifikanz, die literarische Wertansprüche zu transportieren vermag. Das Sonett stellt heute also eine unter vielen Möglichkeiten dar, die Historizität und damit den literarischen Wertanspruch der Mediengattung ›Lyrik‹ zum Ausdruck zu bringen. Das situationsübergreifende Moment der Wahrnehmung von Gattungsdifferenz und damit der Pluralisierung von Handlungsmöglichkeiten ist nicht unbedingt an die mediale Distanzkommunikation der Schrift gebunden, doch wird sie durch diese erheblich erleichtert. Während der Ausgriff auf fremdkulturelle Kontexte oder auf solche anderer Institutionen grundsätzlich auch durch persönlichen Kontakt und unmittelbares Kennenlernen möglich wird, ist der historische Ausgriff in vergangene Zeiten an objektivierende Medien gebunden, wo er den Raum der oralen ›Erinnerung‹ verlässt. Damit also historische Gattungen in

93 einem engeren Sinn aktualisiert werden können, müssen Muster in objektivierter Form, das heißt als Medienartefakt, überliefert sein. Prototypen solcher Medienartefakte sind Schriftdokumente, aber auch Gemälde, Skulpturen und Denkmäler, die in der Zeit persistieren. Die moderne Medienwelt hat mit ihren Aufzeichnungsmöglichkeiten die Persistenz- und Überlieferungsfähigkeit von Kommunikation beträchtlich erweitert und damit auch die Möglichkeiten ihrer situationsenthobenen Aktualisierung. Man kann heute nicht mehr nur Texte und Bilder zitieren, sondern auch Filme und Klänge und im Zusammenhang damit die individuelle Gestik von Personen oder ihre stimmliche Ausdrucksweise. Dies macht deutlich, wie weitgehend die Aktualisierbarkeit als Voraussetzung historischer Gattungen an die mediale Objektivierbarkeit geknüpft ist. Das prominenteste Beispiel solcher Objektivierung bildet die Schrift.

3.3

Intertextualität und Systemreferenz

Im Blick auf das rekursive Moment der historischen Gattungen erschließt sich unmittelbar ihr transformatorischer Charakter, der sich einem definitorischen Zugriff in der Regel versperrt. Gemeint ist damit die Tatsache, dass sich Gattungen im Lauf ihrer Geschichte unabhängig von einzelnen Merkmalen, Funktionen und sozialen Zuordnungen in einer Weise wandeln können, die ihre Identifikation über die Zeit hinweg problematisch macht. Dabei ist zu sehen, dass eine solche Identifikation überhaupt erst im Fall der in einem engeren Sinn historischen Gattungen interessant ist. Die Frage nach der historisch übergreifenden Gattungsidentität des Geschäftsbriefs wirkt dysfunktional und erscheint als nutzlose Begriffsakrobatik. Für das Sonett konstituiert die Frage seiner überhistorischen Identität allerdings geradezu das Gattungskonzept. Das liegt darin begründet, dass dieses vornehmlich rekursiv durch seinen Bezug auf eine bestimmte Tradition identifiziert wird, während man einen Geschäftsbrief vor allem über seine institutionelle Funktionalität identifizieren wird. Man kann an dieser Stelle daran erinnern, dass die Identifikation von Gattungen eine qualifizierte kognitive Leistung darstellt, die nicht allein aus der Perspektive der Texte, sondern bevorzugt aus der der Rezipienten zu analysieren ist. János S. Petöfi hat aus textlinguistischer Sicht darauf insistiert, dass sowohl der Textbegriff selbst als auch der Begriff der Intertextualität in Abhängigkeit eines entsprechenden Rezeptionsakts zu fassen ist:9 Für uns ist Textualität keine inhärente Eigenschaft verbaler Objekte. Ein Produzent oder ein Rezipient betrachtet ein verbales Objekt als Text, wenn er glaubt, daß dieses verbale Objekt ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes ist, das einer tatsächlichen oder

——————— 9

An Petöfis Konzept schließt unmittelbar die monographische Intertextualitätsstudie von Susanne Holthuis an: S. Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993.

94 angenommenen kommunikativen Intention in einer tatsächlichen oder angenommenen 10 Kommunikationssituation entspricht.

Ein solcher Blick vermag zu erläutern, inwiefern die Identifikation historischer Gattungen qua einer überhistorischen Identität eine spezifische Rezeptions- und Interpretationsleistung darstellt, die für Gattungstypen wie die institutionellen Gebrauchsformen zumeist keine Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Bedingungen der Rekursivität von Merkmalen als die wichtigste Grundlage der Identifikation einer historischen Gattung. Die Rekursivität von Merkmalen stellt im weitesten Sinn eine Instanz der Intertextualität dar, insofern sind Gattungen prinzipiell ein intertextuelles Phänomen. Der Begriff der Intertextualität ist zu einem weitgreifenden literaturwissenschaftlichen Grundbegriff avanciert, der in den verschiedensten Kontexten als deskriptiver Begriff eingesetzt wird. Gegenüber seiner philosophisch und sprachtheoretisch akzentuierten Verwendung im Umfeld der Bachtin-Rezeption des Poststrukturalismus sind inzwischen aus eher strukturalistischer und hermeneutischer Perspektive systematische Eingrenzungen und Differenzierungen vorgenommen worden, die den Begriff zu einem deskriptiven literaturtheoretischen Konzept weiterentwickelten.11 Im Rahmen der ausufernden For——————— 10

11

János S. Petöfi: Explikative Interpretation – interpretatives Wissen. In: Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung. Hg. von János S. Petöfi und Terry Olivi. Hamburg 1988, S. 184–195, hier: S. 184. Vgl. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman [Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman, dt.]. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. 3 Bde. Hg. von J. Ihwe. Frankfurt a.M. 1972, Bd. 3, S. 345–375; über Bachtin informiert Michael Holquist: Dialogism. Bakhtin and his World. London, New York 1990; wichtige frühe Beiträge zur Intertextualität sind: Jonathan Culler: Presupposition and Intertextuality. In: Modern Language Notes 91 (1976) 1380–1396; Laurent Jenny: La stratégie de la forme. In: Poétique 27 (1976): Intertextualités, S. 257–281; Michael Riffaterre: La syllepse intertextuelle. In: Poétique 40 (1979) 496–501; vgl. für die Rezeption in Deutschland zunächst vor allem die Arbeiten von Renate Lachmann: Dialogizität und poetische Sprache. In: Dialogizität. Hg. von R. Lachmann. München 1982, S. 51–62; dort weitere Literatur; außerdem: Dies.: Intertextualität als Sinnkonstitution. Andrej Belyjs »Petersburg« und die ›fremden‹ Texte. In: Poetica 15 (1983) 66–107; dies.: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Das Gespräch. Hg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning. München 1984, S. 133–138; Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Dialog der Texte: Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Hg. von Wolf Schmid und Wolf-Dieter Stempel. Wien 1983, S. 7–26; als Standardwerk etabliert hat sich der Sammelband: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen 1985; eine Bibliographie bietet Udo J. Hebel: Intertextuality, allusion, and quotation. An international bibliography of critical studies. New York 1989; weitere Sammelbände sind: Intertextuality. Theories and practices. Ed. by Michael Worton and Judith Still. Manchester, New York 1990; Influence and Intertextuality in Literary History. Ed. by Jay Clayton and Eric Rothstein. Madison, Wisc. 1991; Intertextuality. Ed. by Heinrich F. Plett. Berlin, New York 1991; Intertextuality. German literature and visual art from the Renaissance to the twentieth century. Ed. by Ingeborg Hoesterey and Ulrich Weisstein. Columbia, S.C. 1993; Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber. Frankfurt a.M. 1994.

95 schungsliteratur ist dieser Prozess mehrfach ausführlich dargestellt worden.12 Interessant am Intertextualitätsbegriff erscheint vor allem die Verbindung eines universalistischen sprach- und literaturtheoretischen Konzepts mit einer übergreifenden Charakterisierung zentraler literarischer Phänomene, für die traditionell eine Vielzahl heterogener Begriffe zuständig waren. Diese Universalität des Begriffs – deren Nützlichkeit von »Anti-Intertextualisten« (Plett) auch immer wieder bezweifelt wurde13 – hat Anregung zu Systematisierungsversuchen gegeben, die auch in eher traditionellen textanalytischen Zusammenhängen applizierbar sind. Als Ausgangspunkt einer Korrelation von Intertextualitäts- und Gattungstheorie bieten sich die begrifflichen Differenzierungen an, die Manfred Pfister in Auseinandersetzung mit den frühen Debatten vorgeschlagen hat.14 Er versteht sein Modell als einen Vermittlungsversuch zwischen den eher globalen und den enger gefassten Konzeptualisierungsversuchen der Intertextualität, indem es von einer weitgefassten Intertextualität ausgeht, die durch ein Bündel von Kriterien ›skaliert‹ wird (25–30). Es handelt sich dabei um Kriterien der Referentialität (›use‹ oder ›mention‹), der Kommunikativität (Grad der Erkennbarkeit), der Autoreflexivität (Grad der Thematisiertheit), der Strukturalität (punktuelle oder strukturelle Bezüge), der Selektivität (Prägnanz der Bezüge) und der Dialogizität (Spannungsreichtum). Dieser Aufriss von Aspekten der Intertextualität erweist sich gerade auch im gattungstheoretischen Zusammenhang als nützlich, denn er gibt einen konkreten Fragenkatalog an die Hand, der im Hinblick auf die Intertextualität der Gattungen informativ ist. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das Gattungsphänomen insgesamt als ein intertextuelles System beschreibbar ist, da es durch intertextuelle Bezüge geradezu konstituiert wird. Umso überraschender erscheint es, in wie geringem Maß Intertextualitäts- und Gattungstheorie bislang aufeinander bezogen wurden. Ulrich Suerbaum hat in seinem Beitrag zum Sammelband von Broich und Pfister darauf hingewiesen, dass wir uns Gattungen gewöhnlich nicht als feingesponnene Netze von Beziehungen zwischen einzelnen Texten vorstellen, sondern dass wir ihren Zusammenhang eher auf einen Code, einen Satz von Regeln und Konventionen, eine Gattungsgrammatik zurückführen. Die Intertextualität der Gattung erscheint im Vergleich dazu äußerst vielschichtig und deskriptiv nur schwer zu erfassen. Umgekehrt sieht sich die Theorie der Intertextualität bei den Gattungen mit einem Phänomen konfrontiert, das sich auf einer ›mittleren Ebene‹ zwischen ——————— 12

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14

Forschungsübersichten beispielsweise bei Ottmar Ette: Intertextualität: Ein Forschungsbericht mit literatursoziologischen Anmerkungen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 9 (1985) 497–522; Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a.M. 1990, S. 51–87; Holthuis, S. 12–28. Heinrich F. Plett: Intertextualities. In: Intertextuality. Hg. Plett 1991, S. 3–29, hier: S. 4; vgl. auch Hans-Peter Mai: Bypassing Intertextuality. Hermeneutics, Textual Practice, Hypertext. Ebd., S. 30–59. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Hg. Broich/ Pfister 1985, S. 1–30.

96 Einzeltextreferenz und ubiquitärer Intertextualität bewegt und somit die Interessengebiete der Intertextualisten bislang nicht wirklich berührt hat.15 Während die Beschreibung von Gattungen als Regelsystemen einen vornehmlich normativen Impuls vermittelt und die historische Gattungsdynamik nicht wirklich erfassen kann, isoliert das Konzept der Gattungsintertextualität diesen Wandel als konkrete Relation von Text und Prätext. Für die Historizität der Gattung rückt das Konzept geradezu ins Zentrum des Interesses. Es ist ein wichtiges Anliegen dieser Untersuchung, die Möglichkeiten zu erkunden, die historische Dynamik von Gattungen in ihren intertextuellen Relationen zu beschreiben. Dazu ist zunächst eine nähere Qualifikation derjenigen Typen von Intertextualität erforderlich, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, um in einem zweiten Schritt fragen zu können, inwiefern sich die Extensionen von Intertextualität und von Gattung überschneiden und bedingen. Für die Frage der Gattungsintertextualität ist einerseits die Unterscheidung der Prätexttypen Einzeltext und System bzw. Textkorpus zentral, andererseits die von unterschiedlichen Verweisungstypen, wie sie Referenz oder Aktualisierung bzw. Reproduktion darstellen können. Die Unterscheidung von Einzeltextund Systemreferenz ist im Rahmen der Intertextualitätsdebatte terminologisch unterschiedlich gefasst worden. So entspricht ihr in gewissem Sinn Gérard Genettes Kategorie der Architextualität des Textes als der Gesamtheit von allgemeinen und übergreifenden Kategorien – Diskurstypen, Äußerungsmodi, literarische Gattungen, usw., denen jeder einzelne Text angehört.16 Diese ›Systemzugehörigkeit‹, die die Architextualität beschreibt, ist im Rahmen einer Typologie ›transtextueller‹ Relationen situiert. Unter den Oberbegriff der Transtextualität ordnet Genette einen engeren Begriff der Intertextualität (als die effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text)17 sowie die Begriffe der Paratextualität (Textumgebungsbeziehung) (11), Metatextualität (Kommentarbeziehung) (13) und Hypertextualität (Texttransformation) (14ff.). Im Rahmen der Hypertextualität spielt die Unterscheidung von Einzeltext und Textkorpus eine wichtige Rolle, denn auf ihr fußt die von Transformation und Imitation als einer von Einzeltextbeziehung und Stilbeziehung, wobei Stil als Merkmalskomplex eines Textkorpus aufgefasst ist, das heißt »als Gattung« (108f.). Die Unterscheidung von Einzeltext- und Systembezug wird hier also als explanandum von Relationstypen herangezogen, wird allerdings selbst nur knapp erläutert und als Differenz gesetzt: »Nur einzelne Texte lassen sich parodieren; nachahmen lässt sich hingegen nur eine Gattung (ein, so klein er auch sein mag, als Gattung behandelter Korpus) – aus dem einfachen, ohnehin allgemein bekannten Grund, dass nachahmen verallgemeinern bedeutet.« (112). ——————— 15 16

17

Ulrich Suerbaum: Intertextualität und Gattung: Beispielreihen und Hypothesen. In: Intertextualität. Hg. Broich/Pfister 1985, S. 58–77, hier: S. 59f. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 1993, S. 9; zur näheren Aufgliederung der Architextualität: Genette: Architext, S. 100–103. Genette: Palimpseste, S. 10.

97 Die Frage, ob unter Intertextualität auch Systemreferenzen und damit Gattungscharakteristika verstanden werden sollen, ist umstritten. Vor allem Klaus W. Hempfer hat insistiert, dass Intertextualität als Einzeltextbezug terminologisch von Systembezügen getrennt werden sollte.18 Er sieht darin geradezu die Voraussetzung für die Formulierbarkeit eines Intertextualitätsbegriffs, der von den Universalisierungen der Kristevaschen Vorgaben frei ist. Demgegenüber hat Manfred Pfister daran erinnert, dass beide Phänomene fließend ineinander übergehen, da auch Systeme durch einzelne Texte konstituiert werden.19 Hempfer wiederum kontert mit einem Vergleich zum natürlichen Sprachsystem, für das gleichfalls die Strukturen von ihren Aktualisierungen zu unterscheiden seien.20 Dieses Argument impliziert mit dem Sprachvergleich allerdings eine weitgehende ›Naturalisierung‹ des Systembegriffs und mit ihm des Begriffs der Gattung.21 Darin liegt insofern auch eine Konsequenz, als Hempfer als Beispiele für Gattungssysteme vor allem auf Schreibweisen bzw. Modi wie das Narrative, die Satire oder die Parodie zurückgreift und nicht auf den historischen Aspekt der Gattung. Insofern wäre schon definitionsgemäß zuzugestehen, dass eine ›Aktualisierung‹ der narrativen Schreibweise, die als universalistische Kategorie gefasst ist, nicht als Intertextualität beschrieben werden sollte. Für historische Gattungstraditionen allerdings gilt dieses Argument nicht. Das Verfassen eines Sonetts besteht nicht nur in der Aktualisierung universeller Schreibweisen, das heißt es unterliegt nicht nur den kommunikativen Dimensionen, sondern es stellt vor allem einen motivierten Bezug auf ein historisch konkretes Textkorpus dar, dem solche Universalität grundsätzlich abgeht. Hempfers Argument, der Autor müsse gar nicht wissen, was er tut (18), gilt wohl für Modi und Schreibweisen, für historische Gattungen gilt es keinesfalls. Niemand kann ein Sonett oder einen Roman schreiben ohne zu wissen, was ein Sonett oder ein Roman ist. Er kann dagegen erzählen, ohne sich je darüber Rechenschaft gegeben zu haben. ——————— 18

19 20

21

Klaus W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis. Tel Quel und die Konstitution eines Nouveau Nouveau Roman. München 1976, S. 53–55; ders.: Überlegungen zu einem Gültigkeitskriterium für Interpretationen und ein komplexer Fall: Die italienische Ritterepik der Renaissance. In: Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag. Hg. von Klaus W. Hempfer und Gerhard Regn. Wiesbaden 1983, S. 1–31, hier: S. 14–18. Pfister, S. 17. Klaus W. Hempfer: Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard). In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. von Michael Titzmann. Tübingen 1990, S. 7–43, hier: S. 16. Heather Dubrow bezeichnet den verbreiteten Vergleich des Verhältnisses von Gattung und Exemplar mit dem von langue und parole zurecht als ›deterministisches Mißverständnis‹; sie schlägt dagegen vor, es eher mit dem von Sprache und Slang zu vergleichen: H. Dubrow: Genre. London 1982, S. 106; vgl. Hempfer: Gattungstheorie, S. 222; analog zu Dubrow argumentieren bezüglich des Vergleichs von Gattung und Sprache Fowler, S. 49; und Deborah L. Madsen: Rereading Allegory: A Narrative Approach to Genre. New York 1994, S. 22f.

98 Hempfers Argument für eine strikte Trennung von Intertextualität und Systemaktualisierung ist also umso stichhaltiger, je universeller das entsprechende System ist. Für Textsysteme allerdings, die historisch geworden sind und kulturellem Wandel unterliegen, ist eine Abgrenzung von Einzeltext- und Systemreferenz nicht in gleicher Schärfe zu treffen. Dies gilt etwa für ›Stile‹ und für historische Gattungen; es gilt auch für Hempfers Beispiel des Petrarkismus, dessen ›Stil‹ kaum auf informative Weise von den zugrundeliegenden Einzeltextbezügen zu abstrahieren ist. Diesen Übergang beschreibt Manfred Pfisters Kriterium der ›Selektivität‹ graduell als die Prägnanz der intertextuellen Verweisung. Demnach ist ein Bezug auf einen einzelnen Text selektiver und damit in höherem Maße intertextuell, als ein solcher auf ein System von Texten, wie es etwa eine Gattung darstellt. Aus Sicht der Gattungsintertextualität ist nun beides relevant: ein Text kann als Gattungsexemplar ausgewiesen sein, indem er hochselektive Referenzen vollzieht – beispielsweise im Sinn einer Kontrafaktur eines einzelnen Texts22 –, er kann sich aber auch auf unspezifische Referenzen beschränken, wie es etwa das abstrakte Reimschema eines Sonetts darstellt. Man kann letzteres als die Aktualisierung eines Systems bezeichnen, doch ist zu bedenken, dass im Fall historischer Textkorpora mit einem Bündel von mehr oder weniger selektiven Referenzen – einer Mischung von Einzeltext- und Systemreferenzen – zu rechnen ist, was die klare Trennung erschwert. Manfred Pfister weist auf den graduellen Charakter der Unterscheidung hin: Ein einzelner literarischer Text hat so selbst Systemcharakter und ist gleichzeitig die Aktualisierung übergreifender Systeme wie etwa der Gattung, und die Gattung ist ein System und gleichzeitig die Aktualisierung abstrakterer Systeme wie der der überhistorischen 23 Schreibweise oder der Sprache.

3.4

Das intertextuelle Profil der historischen Gattung

Bezieht sich die Diskussion um Einzeltext- und Systemreferenz auf die Elementtypen der intertextuellen Relation, so orientieren sich andere Taxonomien am Typus der Relation. Susanne Holthuis vergleicht in diesem Sinn die Unterscheidung verschiedener Theoretiker und findet Parallelen etwa in Charles Grivels Taxonomie von Ableitungen, Verweisen, Variationen und Serien und in Renate Lachmanns Differenzierung einer Kontiguitäts- und einer Similaritätsrelation der Intertextualität.24 Als ›Haupterscheinungsformen der Intertextualität‹ ——————— 22

23 24

Vgl. zur Kontrafaktur: Theodor Verweyen, Gunter Witting: Parodie, Palinodie, Kontradiktio, Kontrafaktur. Elementare Adaptionsformen im Rahmen der Intertextualitätsdiskussion. In: Dialogizität. Hg. Lachmann 1982, S. 202–236; dies.: Die Kontrafaktur. Vorlage und Verarbeitung in Literatur, bildender Kunst, Werbung und politischem Plakat. Konstanz 1987. Pfister, S. 19. Holthuis, S. 46ff.; Charles Grivel: Serien textueller Perzeption. Eine Skizze. In: Dialog der Texte. Hg. Schmid/Stempel 1983, S. 53–84; Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 60f.

99 bestimmt János S. Petöfi die typologische und die referentielle intertextuelle Relation, an die auch Holthuis ihre Analyse anschließt: Eine typologische intertextuelle Relation besteht zwischen zwei Texten, wenn sie von irgendeinem bestimmten Gesichtspunkt aus untersucht die gleichen Eigenschaften aufweisen. Eine referentielle intertextuelle Relation hingegen besteht zwischen zwei 25 Texten, wenn der eine Text auf irgendeine Weise auf den anderen referiert.

Damit ist eine recht allgemeine Ebene der Differenzierung erreicht. Es handelt sich um die Differenzierung einer eigenschaftsbezogenen Ähnlichkeitsrelation und einer verweisenden referentiellen Relation. Zeichentheoretisch kann man dem die Peircesche Unterscheidung von Ikonizität und Symbolizität zugrundelegen, linguistisch die von use und mention, auf die Pfister verweist.26 Kreuzt man diese Typologie nun mit der Unterscheidung von Einzeltext- und Systemreferenz, so gewinnt das Modell an Komplexität. Zugleich zeigt sich, dass Systemreferenz nicht mit einer eigenschaftsbezogenen ›typologischen‹ bzw. ikonischen Verweisung zu verwechseln ist. Die in die Felder eingetragenen Namen intertextueller Relationstypen sind provisorisch und orientieren sich zum Teil an der Terminologie Genettes. Die Typenzuordnung weicht dagegen grundsätzlich von der Einteilung bei Holthuis ab:27 Prätexteinheit Zeichenrelation IKONISCH

(use) SYMBOLISCH

(mention)

TEILTEXT

EINZELTEXT

TEXTKORPUS (SYSTEM)

Intertext (z.B. Zitat)

Hypertext (z.B. Parodie)

Gattungstext

Zitatmarkierung

Titelnennung

Gattungsbezeichnung

Die symbolisch-referentielle Intertextualität im Sinn von mention und von Pfisters ›Kriterium der Referentialität‹, die von Holthuis’ Begriffsgebrauch ab——————— 25

26 27

János S. Petöfi, Terry Olivi: Schöpferische Textinterpretation. Einige Aspekte der Intertextualität. In: Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung. Hg. von János S. Petöfi und Terry Olivi. Hamburg 1988, S. 335–350, hier: S. 336. Pfister, S. 26; John Lyons: Semantics. Vol. I. Cambridge, Mass. 1977, S. 5–10. Holthuis differenziert nicht deutlich zwischen der Unterscheidung der Texteinheiten Einzeltext und Textkorpus bzw. System einerseits und der Unterscheidung der ikonischen und symbolischen bzw. typologischen und referentiellen Relation andererseits. Infolgedessen identifiziert sie ›typologische Intertextualität‹ unmittelbar mit Systemaktualisierung. Dies wiederum führt dazu, dass als ›typologisch‹ vor allem Gattungsrelationen beschrieben werden (da diese Textkorpora darstellen), so dass in diesem Rahmen die gesamte Fragestellung der Texttypologie behandelt wird. Dies überfordert die Kategorie der Intertextualität. Außerdem besetzt es die Systemstelle zur Beschreibung ›ikonischer‹ oder ›reproduzierender‹ Intertextualität (im Sinne von use statt mention). In der Konsequenz behandelt sie als ›referentielle Intertextualität‹ vornehmlich solche Typen, die eindeutig ikonisch sind und Prätexte ›reproduzieren‹ wie beispielsweise das Zitat. Zugrunde liegt also nicht – wie behauptet – ›Referenz‹ im Sinne von ›Benennung‹ (mention), sondern die Tatsache, dass es sich bei Zitaten um Einzeltextbezüge handelt. Der verwendete Referenzbegriff wird trotz entsprechender Einlassungen nicht klar; Holthuis, S. 89–94.

100 weicht, lässt sich als Metatextualität bezeichnen:28 sie erfordert eine explizite ›Benennung‹ des Referenten, im Fall des Zitats einen Herkunftsverweis, im Fall eines ganzen Texts dessen ausdrückliche Erwähnung, in der Regel durch Nennung des Titels, im Fall eines Textkorpus dessen Identifikation beispielsweise durch eine Gattungsbezeichnung. Nun spielt für eine mögliche Typologie nicht nur die Unterscheidung der Metatextualität und eine nähere Bestimmung der Texteinheit des Prä- oder Referenztexts eine Rolle, sondern auch die Texteinheit des (Phäno-)Texts. Die intertextuelle Verweisung kann hier nämlich im Paratext zu finden sein – beispielsweise als Zitatmotto –, sie kann ein Teil des Textes sein – etwa ein zitiertes oder modifiziertes Gedicht innerhalb eines größeren Textes – oder sie kann den Text insgesamt bilden. Die eingetragenen Instanzen der ›Inter-‹ oder ›Transtextualität‹ (Genette) sind lediglich Beispiele: Prätexteinheit Phänotexteinheit

TEILTEXT

EINZELTEXT

TEXTKORPUS (SYSTEM)

TEILTEXT

ein Zitat

ein zitiertes Gedicht in einem Roman

ein Topos

GANZTEXT

ein aus einem Zitat gebildeter Text

die Parodie eines bestimmten Textes

ein Sonett als Gattungsparodie

PARATEXT

ein Zitatmotto

die Parodie eines bestimmten Vorworts

die Parodie der Herausgeberfiktion

Dass auch damit eine mögliche Typologie nicht annähernd ausgeschöpft ist, zeigt die zusätzliche Differenzierbarkeit in metatextuelle und textuelle Bezüge und das ganze Feld der intertextuellen ›Treue‹, das heißt der Register, die die möglichen Transformationen der Intertexte bestimmen.29 Bestimmte Kombinationen in dieser Korrelation von Texteinheiten sind offensichtlich selten und stellen Sonderfälle dar, andere sind klassisch. Dass ein Teiltext wiederum zum Teiltext wird, ist der Normalfall des Zitats, dass einem Teiltext ein Textkorpus zugrunde liegt bzw. genauer: ein Textkorpus aus Teiltexten, ist der Fall des Topos und des Motivs. Dass Ganztexte als Teiltexte aufgegriffen werden, ist aus quantitativen Gründen selten und funktioniert in der Regel nur für kurze Texte wie Gedichte und für Sammeltexte wie Zyklen. Entsprechend speziell ist die Aufnahme eines Teiltexts als Ganztext: ein Liedtext, dem ein Bibelzitat zugrunde liegt, wäre ein gutes Beispiel. Paratexte haben in der Regel zahlreiche metatextuelle Bestandteile und benennen Prätexte und Gattungen meistens namentlich. Man kann sie allerdings auch selbst als textuelle Einheiten ansehen, dann kommen Paratextgattungen wie Vor- und Nachworte oder ›Waschzettel‹ ——————— 28 29

Vgl. Pfister, S. 26. Zu den ›Registern der stilistischen Nachahmung‹, für die er ein spielerisches, ein satirisches und ein ernstes vorsieht, wodurch Pastiche, Persiflage und Nachbildung unterschieden werden, siehe Genette: Palimpseste, S. 112ff. (Kap. XVIff.).

101 in den Blick und es sind Paratextparodien denkbar. In solcher Perspektive steht dann allerdings nicht mehr ihr Paratextcharakter im Zentrum der Untersuchung. Die Berücksichtigung weiterer relevanter Faktoren, also etwa der Metatextualität und der Register, würde zu einer Vervielfältigung solcher Tabellen führen. Der Entwurf einer solchen Systematik ist hier nicht thematisch, weshalb ich mich wieder der Frage nach der spezifischen Intertextualität historischer Gattungen zuwende. Auf Anhieb leuchtet ein, dass Gattungstexte durch einen ikonischen Bezug auf ihre Prätexte gekennzeichnet sind. Sie verwenden ihre Vorlagen im Sinne von use und im Gegensatz zu mention, und sie reproduzieren bzw. aktualisieren sie. Dabei dienen vor allem strukturelle Äquivalenzen zu ihrer Identifikation. Die Rede von Aktualisierung hat hier den Vorteil, die jeweilige Differenz zur Vorlage ebenfalls zu erfassen. Für Gattungstexte spielt außerdem die Frage der Texteinheit eine Rolle: man wird nämlich davon ausgehen, dass Gattungstexte sich als ganze, das heißt als geschlossene Einheit auf ihre Prätexte beziehen. Die Aktualisierung eines Prätexts als Teiltext ist ein Zitat oder eine Anspielung, die Aktualisierung eines oder mehrerer Prätexte als Textganzes lässt sich dagegen als Gattungstext beschreiben. Hier ist einem Missverständnis vorzubeugen. Die Texteinheit ist keine intrinsische Objekteigenschaft. Oben war darauf hingewiesen worden, dass Texte als Einheiten wahrgenommen werden, und dass dies den Textcharakter ausmacht. Nur in diesem Sinn ist hier von Texteinheiten die Rede.30 Daraus folgt, dass auch Gattungen Rezeptionsformen sind, die unter anderem die Identifikation entsprechender Einheiten voraussetzen. Ohne eine solche Abgrenzung von Einheiten ist keine Identifikation von Gattungen möglich. Die Analyse des Intertextualitätstypus von Gattungsexemplaren legt es nahe, dass die Aktualisierung von Gattungen daran gebunden ist, dass Prätexte als Texteinheit aktualisiert werden. Ob man von Gattungen erst dann sprechen soll, wenn als Prätext ein Textkorpus fungiert, das selbst den gleichen Bedingungen gehorcht, ließe sich festlegen, wäre aber eine reine Definitionsfrage. Mit ›Aktualisierung‹ ist auf die rekursiven Strukturen verwiesen, die Gattungstexte kennzeichnen. Insofern impliziert der Begriff immer ein abstrahierbares Regelsystem, auch wenn es sich um einen zu aktualisierenden Einzeltext handelt. In der Aktualisierung werden implizit Strukturen abstrahiert, da es Entsprechungen und Abweichungen des Texts zum Prätext gibt. Welche Strukturen dies sind, lässt sich theoretisch nicht determinieren. Während beim Sonett verschriftete akustische Strukturen im Vordergrund stehen, sind es beim Bildungsroman narrative und thematische. Dies generell determinieren zu wollen, liefe auf die starre Festlegung bestimmter Merkmale für Gattungen hinaus. Auch für die Intertextualität der Gattung soll jedoch gelten, dass die Gattung über sie nicht ——————— 30

Vgl. für eine Diskussion des Textbegriffs und struktureller wie funktionaler Abgrenzungsversuche von Texteinheiten Rolf, S. 1–50. Ich beziehe mich dagegen auf den rezeptionsorientierten Textbegriff Petöfis (siehe oben, S. 93).

102 schlechtweg identifizierbar ist, sondern dass sie ein komplexes Argument darstellt, das pragmatischen Kontexten im sozialen Raum unterworfen ist. Entscheidend soll nun sein, dass die Bezugnahme auf einen sozialen Kontext der Gattungsdetermination es erlaubt, die Gattungsintertextualität nicht nur auf einen ›kleinen gemeinsamen Nenner‹ rekursiver Strukturen zu beziehen, der die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Gattungsidentifikation ausmachte. Dies entspräche einer strukturellen Gattungsdefinition, die sich als illusorisch erwiesen hat. Vielmehr wird es möglich, die Intertextualität der Gattung als ein komplexes Geflecht aus System- und Einzeltextbezügen zu verstehen, das insgesamt an der Gattungskonstitution teilhat. Man kann in diesem Zusammenhang vom Intertextualitätsprofil eines Gattungstexts sprechen.31 Eine solche Perspektive macht es möglich, nicht nur die vermeintlich ›hinreichenden‹ Gattungsmerkmale in den Blick zu nehmen, sondern auch die kontingenten Bezüge, die mit der Gattungsidentifikation gleichwohl immer zu tun haben. Folgendes ist gemeint: Ein Sonett kann hinreichend dadurch bestimmt sein, dass es ein bestimmtes Reimschema aktualisiert. Seine Gattungscharakteristik ist aber auch dadurch bestimmt, dass es eine Vielzahl von Referenzen auf die Gattungstradition enthält, indem es beispielsweise auf Muster von Petrarca anspielt und entsprechende Motive transportiert. Dies gehört entschieden zum intertextuellen Gattungsprofil dieses Gedichts und ist nicht arbiträr. So ist es etwa denkbar, dass ein intensiver Traditionsbezug dieser Art dazu dienen könnte, formale Entsprechungen zu reduzieren. Oskar Pastior setzt beispielsweise unter dem vexierhaften Titel Oskar Pastior Francesco Petrarca 33 Gedichte Petrarca-Sonetten eigene Prosaadaptionen entgegen, die die Frage der Gattungsentsprechung zumindest zur Diskussion stellen.32 Es gibt – so meine These – keinen prinzipiellen Grund, diese Texte nicht als Sonette zu beschreiben. Man wird sie deshalb nicht als Sonette bezeichnen wollen, weil dies allen geläufigen Konventionen der Sonettidentifikation entgegenstünde und somit die Terminologie durcheinander brächte, doch wäre es denkbar, dass eine intensive PastiorNachfolge in der neueren Lyrik diese Konventionen schwächen würde, so dass wir schließlich doch der Vorstellung von Prosa-Sonetten zuzustimmen bereit wären. Entschieden wird dies nicht von strukturellen Vorgaben, sondern von begrifflichen Konventionen, die im Rahmen sozialer Prozesse vorgenommen werden.33 Daraus soll nun folgen, dass zum intertextuellen Profil eines Gattungstexts nicht nur die vermeintlich ›notwendigen und hinreichenden‹ Merkmale oder Strukturen zu zählen sind, sondern dass Gattungen auf struktureller und inter——————— 31 32

33

In bezug auf epochale Wandlungen spricht Ulrich Suerbaum von ›Intertextualitätsprofilen‹; Suerbaum, S. 73. Oskar Pastior: Francesco Petrarca 33 Gedichte. München, Wien 1983; dazu Stefan Matuschek: »Im Unerreichbaren heillos verheddert«. Oskar Pastiors ›Petrarca-Projekt‹. In: Arcadia 29 (1994) 267–277. Vgl. Thomas O. Beebees Studie zum ›Prosagedicht‹: The Birth of the Prose Poem from the Spirit of Japanery. In: Beebee, S. 113–147.

103 textueller Ebene als überdeterminiert zu beschreiben sind. Die vermeintlich kontingenten Merkmale tragen nämlich zu einem erheblichen Teil zum Gattungsprofil bei; zudem sind sie als kontingente gar nicht eindeutig auszumachen. Für eine gattungsgeschichtliche Untersuchung bilden sie ein wesentliches Substrat, das es erlaubt, eine reiche Beschreibung zu erstellen, die über die reine Gattungsidentifikation hinausgeht. So kann man für das Pastior-Beispiel feststellen, dass hier ein reiches intertextuelles Profil vorliegt, das den Verzicht auf die Sonettform perspektiviert: Der Titel und weitere Paratexte wie das Nachwort referieren auf Petrarca; die Prätext-Sonette sind den Pastior-Texten parallelisiert und im italienischen Original abgedruckt; dessen Gedichte transformieren diese Prätexte im Sinn einer sehr freien Anverwandlung; sie sind wie die Sonette nummeriert und auf Einzelseiten angeordnet und bilden einen 33teiligen Zyklus aus entsprechenden Prosagedichten, mithin liegen markante Strukturrekurrenzen vor. Obgleich man mit guten Gründen nicht wird sagen wollen, dass es sich bei Pastiors Petrarca-Adaptionen um Sonette handelt, wird man zugestehen müssen, dass sie Teil der Gattungsgeschichte des Sonetts sind – und zwar ein besonders interessanter. Während die Gattungsbezeichnung eine Frage der konventionellen und gattungstheoretisch zu reflektierenden Begriffsbildung darstellt, ist die Frage der Zugehörigkeit zur Gattungsgeschichte nicht arbiträr, da vom intertextuellen Profil des Pastior-Projekts vorgegeben. Zumindest soll Gattungsgeschichte im folgenden auf diese Weise verstanden werden. Das intertextuelle Profil von Gattungen lässt sich noch weiter erläutern. So hat auch Ulrich Suerbaum bereits darauf hingewiesen, dass die Entwicklung von Gattungen häufig als ein Wechselspiel von Einzeltext- und Systemreferenzen beschrieben werden muss. In der Phase der Neukonstitution einer Gattung hat man es in der Regel mit Einzeltextreferenzen zu tun, die sich häufig sogar auf Texte eines einzelnen Autors beziehen, die als Reihe vorgestellt werden. Er zeigt dies am Beispiel des Kriminalromans bei Poe und Conan Doyle und an dem der ›Robinsonade‹ bei Defoe. Es gilt, wie unten zu sehen sein wird, auch für das Sonett, für das ebenfalls in der Anfangsphase kleine intertextuelle Reihenbildungen einzelner Autoren nachzuweisen sind.34 Systemaktualisierungen sind demgegenüber auf das Vorhandensein eines komplexeren Systemzusammenhangs angewiesen, und das heißt zunächst einmal, auf das einer größeren Zahl von Texten, die als Gattung identifizierbar sind, und auf die man qua Gattung mit geringerer Selektivität verweisen kann. Man kann daran Überlegungen zur Funktionalität der Einzeltextreferenz anschließen. Sie wird vor allem in Zeiten des Gattungswandels an Interesse gewinnen, da sie ein höheres Maß an Intertextualität zu bieten vermag. Selektive Intertextualität vermag Gattungssysteme zu stabilisieren, da sie dasjenige Verfahren darstellt, durch das solche Systeme generiert werden. Sie gewinnt deshalb an Bedeutung in Phasen der Konstitution und der Verwandlung von Gattungen bzw. Textsystemen. Die bloße Systemreferenz muss sich demgegenüber ——————— 34

Suerbaum konnte dies für das Sonett noch nicht sehen und nennt dieses gerade als ein Gegenbeispiel; Suerbaum, S. 73.

104 stärker auf die Stabilität des Systems verlassen, um die intertextuelle Intensität entsprechend reduzieren zu können.35 Zur Stabilisierung von Gattungen qua Textsystemen können allerdings auch andere Verfahren beitragen: beispielsweise die textinterne Dialogizität von Bachtinschen ›Sprachen‹ oder die Autoreferentialität des Gattungsstatus, die eine Metaebene in den Diskurs des einzelnen Textes einzieht. Suerbaum spricht von ›perspektivierender Intertextualität‹, wenn ein System von kulissenhaft gestaffelten Prätexten dem Text »den Anschein der Tiefe verleiht«.36 Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang die Tatsache, dass äußerst vielfältige Verfahren daran beteiligt sind, Texte als historische Gattungsexemplare auszuweisen. Eine erschöpfende Systematik solcher Verfahren ist theoretisch zumindest zur Zeit nicht zu leisten, und sie wird es wahrscheinlich auch in Zukunft nicht sein, da sie den Horizont einer umfassenden Texttheorie aufrufen müsste, für die befriedigende und operationalisierbare Modelle nicht zur Verfügung stehen. Die Intertextualität der historischen Gattung lässt sich als motivierter Identifikations- und Klassifikationsakt beschreiben, der sich heterogener Verfahren bedient. Die zentrale Referenzkategorie solcher Identifikationsakte bildet der Wert der historischen Mustertexte: Gattungstexte vermitteln einen Anspruch auf historisch übergreifende Gattungszugehörigkeit, der ›literarische Wertigkeit‹ impliziert. Dies ist möglich, weil sich die Identifikation von Gattungstexten über Merkmale, Kontexte und Werte ausdehnt. Sie ist gleichsam kontextuell kontaminiert.37 Ein Sonett zu schreiben heißt nicht nur, bestimmte Systemmerkmale wie ein Reimschema zu aktualisieren, sondern auch, den Text den Implikationen einer historischen Poetik auszusetzen, ihn mit Themen und Kontexten zu konfrontieren und eine bestimmte Wertigkeit zu beanspruchen. Dieser umfassende Komplex lässt sich nicht auf einen theoretischen Algorithmus abbilden, doch konturiert er das intertextuelle Profil von Gattungstexten und garantiert dessen Signifikanz. Der Wert der Gattung bildet gleichzeitig den sozialen Ursprung historischer Gattungen, denn er macht es erst interessant, Gattungstexte zu verfassen, die abgelebten Mustern folgen. Das intertextuelle Profil der Gattung erscheint in dieser Perspektive als eine Funktion ihrer sozialen Wertigkeit. Die Spannung von Wert und Fremdheit der historischen Gattung bildet das Momentum ihrer intertextuellen Perspektivierung und konstituiert in der Gattungsidentität ihre historische Differenz. Das intertextuelle Profil der historischen Gattung lässt sich entsprechend als das Verhältnis von Wert und Differenz im intertextuellen Verweisungskontext bestimmen. Das erlaubt es, die Gattungsgeschichte historisch zu konturieren, da ——————— 35 36 37

Vgl. die entsprechenden Überlegungen bei Suerbaum, S. 73 und 77. Suerbaum, S. 64. Vgl. zur Übertragung von Ideen und der gelebten ›Umgebung‹ eines Kunstwerks über Formen: Rosalie L. Colie: Shakespeare’s ›Living Art‹. Princeton, N.J. 1974, S. 10f.; dazu auch Dubrow, S. 97. Tophinke spricht neuerdings in ähnlichem Zusammenhang von ›kultureller Expressivität‹: Doris Tophinke: Zwei Aspekte der Texttypik: Funktionalität und kulturelle Expressivität – ein historisches Fallbeispiel. In: Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik. Hg. Michaelis/Tophinke 1996, S. 101–115, hier: S. 103.

105 sie von Wertungsakten durchzogen ist und aus Wertungsakten besteht. Gattungsgeschichte ist somit nicht als die Abbildung einer homogenen Textklassifikation im Sinne etwa der historisch übergreifenden Gesamtheit der Sonette zu fassen. Vielmehr verfolgt sie Prozesse der Hierarchisierung, der Identifikation und der Abwehr, die sich auf unterschiedlichen Diskursfeldern abspielen und die als soziale Prozesse zu beschreiben sind.

3.5

Die Differenzen der Gattung

Die Einsicht, dass literarische Gattungen nicht als die Aktualisierung von Systemen und also auch nicht als ein Bündel von notwendigen und hinreichenden Merkmalen zu beschreiben sind, sondern dass sie das Setzen von Differenzen implizieren, kann als ein Topos der neueren Gattungstheorie gelten. Alastair Fowler hat in seinem opus magnum zu den Gattungen der Literatur dezidiert darauf hingewiesen, dass sich (historische) Gattungen prinzipiell der Definition verweigern, da definitorische Verfahren ihrer logischen Natur nicht angemessen seien.38 Sie stellen entsprechend auch keine ›Klassen‹ oder ›Mengen‹ dar, für die eindeutige Zugehörigkeitsbedingungen formuliert werden können. Werner Strube argumentiert bezüglich der Begriffslogik mit ähnlicher Stoßrichtung, dass es neben der klassifikatorischen Verwendungsweise von Gattungsbegriffen andere Verwendungsweisen gibt – historiographische, typologische, lexikographische –, die weniger strengen, oder besser: anderen Regeln folgen.39 Wiederholt wird in diesem Zusammenhang neuerdings auf Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit hingewiesen, der sich darauf bezieht, dass »diesen Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam« ist, sondern dass sie »mit einander in vielen verschiedenen Weisen verwandt« sind.40 Als eine Weiterentwicklung solcher nichtklassifikatorischer Modellbildungen können die Konzeptualisierungen von kognitiven Schemata im Rahmen der ›Mediengattungstheorie‹ von Siegfried J. Schmidt, das ›Mehrkomponentenmodell‹ der Lyriktheorie von Eva MüllerZettelmann und der ›prototypentheoretische‹ Entwurf ›idealer kognitiver Mo——————— 38 39

40

Fowler, S. 40. W. Strube: Zur Klassifikation literarischer Werke, Zusammenfassung: S. 140–143; vgl. für viele andere die Zurückweisung einer ›mengentheoretischen‹ Auffassung von Textgattungen im Sinn einer Merkmalsliste: Tophinke: Zum Problem der Gattungsgrenze, S. 164; Madsen, S. 15–19; zu Fragen der Begriffslogik durchweg auch: Zymner: Gattungstheorie, insbes. S. 82–104. Ludwig Wittgenstein: Schriften. Band 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 41980: Philosophische Untersuchungen, § 65, S. 324; darauf beziehen sich zustimmend beispielsweise: Fowler, S. 42; Strube: Zur Klassifikation literarischer Werke, S. 136; Beebee, S. 252f.; Wilhelm, S. 14– 16; Koch: Diskurstraditionen, S. 60; Andreas Wittbrodt: Wie definiert man ein Sonett? Gattungstheoretische Überlegungen zur Verwendung von logischen Begriffen und Familienähnlichkeitsbegriffen. In: Compass 3 (1998) 52–79; Zymner: Texttypen und Schreibweisen, S. 30–34.

106 delle‹ aufgefasst werden, den u.a. Doris Tophinke im Anschluss an George Lakoff und an neuere kognitionswissenschaftliche Modelle vorgeschlagen hat.41 Nun ist auch ›Familienähnlichkeit‹ ein ahistorischer Begriff, der sich auf eine Pluralität von Ähnlichkeiten bezieht, die unabhängig von der Historizität literarischer Gattungen verstanden sind. Er stellt somit für sich genommen keine Lösung des gattungstheoretischen Problems dar. So kann man darauf hinweisen, dass die Familienähnlichkeit keine Ausschlussbedingungen kennt. Es können keine Bedingungen angegeben werden, warum ein Text einer Gattung nicht angehören sollte.42 Fowler benennt entsprechend als Grundlage solcher Ähnlichkeiten für die Literatur die literarische Tradition. Peter Koch deutet in diesem Zusammenhang eine Art causal chain theory of reference an, um die diachronische Gattungsidentität zu beschreiben.43 Im Unterschied dazu habe ich eine Pluralisierung von systematisch verknüpften Gattungsbegriffen vorgeschlagen, so dass für die verschiedenen Aspekte unterschiedliche Modellbildungen möglich werden. Für die historischen Aspekte wird eine rekursive bzw. historistische Modellbildung vorgeschlagen, die sich auf die literarische Reihe und ihr intertextuelles Profil bezieht. In diesem Kontext werden theoretische Konzepte relevant, die neben der Gattungsidentität die Differenzbildung als konstitutives Signum historischer Gattungen betrachten. Als ein locus classicus des Differenzkriteriums von Gattungen kann die formalistische Konzeption der literarischen Reihenbildung gelten. Sie identifiziert dieses Differenzkriterium als ›Normdurchbrechung‹ unmittelbar mit der ästhetischen Funktion und überführt damit ein spezifisch modernes Prinzip der Innovationsästhetik in eine allgemeine Theorie der Gattungen. Dies bleibt an den Entwurf einer singulären und homogenen Normvorstellung gebunden, gegen die allein das Kunstwerk sich profilieren kann. In der rezeptionsästhetischen Aufnahme dieses Prinzips bei Hans Robert Jauß erscheint es wieder im Konzept der ›ästhetischen Distanz‹: Die Art und Weise, in der ein literarisches Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens die Erwartungen seines ersten Publikums einlöst, übertrifft, enttäuscht oder widerlegt, gibt [178] offensichtlich ein Kriterium für die Bestimmung seines ästhetischen Wertes her. Die Distanz zwischen Erwartungshorizont und Werk, zwischen dem schon Vertrauten der bisherigen ästhetischen Erfahrung und dem mit der Aufnahme des neuen Werkes geforderten »Horizontwandel«, bestimmt rezeptionsästhetisch den Kunstcharakter eines literarischen Werks: in dem Maße, wie sich diese Distanz verringert, dem rezipierenden Bewußtsein keine Umwendung auf den Horizont noch unbekannter Erfahrung abverlangt 44 wird, nähert sich das Werk dem Bereich der ›kulinarischen‹ oder Unterhaltungskunst.

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42

43 44

Müller-Zettelmann, besonders S. 15–19; Tophinke: Zum Problem der Gattungsgrenze, S. 168–171; generell und mit kritischen Überlegungen: Zymner: Texttypen und Schreibweisen, S. 30–34. So argumentiert Earl Miner: Some Issues of Literary Species, or Distinct Kind. In: Renaissance Genres. Essays on Theory, History, and Interpretation. Ed. by Barbara Kiefer Lewalski. Cambridge, Mass. 1986, S. 24. Fowler, S. 42; Koch: Diskurstraditionen, S. 59–61. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 177f; auch Jauß: Theorie der Gattungen, S. 119.

107 Im homogenenen Entwurf des ›Erwartungshorizonts‹ wie in der Aufnahme des Jacobsonschen Begriffs der Gattungsdominante werden Gattungen zwar nicht mehr als überhistorische Klassen gefasst, doch erscheinen sie als im historischen Moment jeweils distinkt.45 Man hat dies als ›single period genres‹ bezeichnet, denen weiterhin die Vorstellung zugrunde liege, dass Texte zu Gattungen ›gehören‹ und dass Gattungen in Texten lokalisiert seien.46 Die Identifikation von ästhetischer Distanz und ästhetischem Wert – der auf diese Weise als unabhängig von einer konkreten Wertschätzung objektivierbar aufgefasst ist – kann dabei als das Relikt eines modernistischen Mythos gelten. Jüngere gattungstheoretische Entwürfe wie die unabhängig voneinander 1994 erschienenen Bücher von Thomas O. Beebee und von Deborah L. Madsen, die sich selbst als ›post-poststrukturalistisch‹ positioniert,47 bemühen sich um eine Radikalisierung des differenztheoretischen Ansatzes in sozialhistorischer Perspektive. Beide plädieren dafür, den Gattungscharakter nicht mehr im Text zu lokalisieren, sondern ihn als einen Diskurseffekt zu beschreiben, dem die Wahrheitsbehauptungen des Texts, zu denen seine Gattungsbehauptungen zählen, zugrunde liegen (ebd.). Der Gattungscharakter erscheint so als ein Prozess im sozialen Diskursraum und als ein pluralisiertes Konzept. Man bezieht sich dabei gern auf die Kritik des Konzepts der Gattung als einer ›Einheit‹, die Jacques Derrida formuliert hat. Dieser ist allerdings noch sehr auf ein normpoetisches Gattungsmodell fixiert, wie ja überhaupt die dekonstruktivistische Argumentation davon abhängt, mit dem Rücken zur alten Metaphysik argumentieren zu können. Es wird stets ein metaphysischer Horizont evoziert, der oft nicht den Stand der wissenschaftlichen Diskussion repräsentiert, um die Möglichkeit wissenschaftlicher Begriffsbildung überhaupt in Frage zu stellen.48 So will Derrida das ›Gesetz der Gattung‹ darin sehen, dass eine Grenze gezogen wird, der dann Normen und Verbote folgen; eine wenig subtile Übertreibung, die wohl auf Frankreichs Grand Siècle zugetroffen haben wird, nicht so einfach aber auf die Diskussionen der modernen Gattungstheorie. Derrida zielt damit allerdings ausdrücklich auf die strukturalistischen Bemühungen eines Gérard Genette und auf seine Unterscheidung von Modus und Gattung.49 Unabhängig davon ist vor allem die Kritik des ›Reinheitsprinzips‹ der Gattung beachtet worden.50 I shall attempt to formulate, in a manner as elliptical, economical, and formal as possible, what I shall call the law of the law of genre. It is precisely a principle of contamination, a

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Zur ›Einheit‹ des Erwartungshorizonts Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 197; zur Gattungsdominante ders: Theorie der Gattungen, S. 112. Diese Kritik formuliert Madsen, S. 15f. Madsen, S. 7. Eine detaillierte Analyse und scharfe Kritik dieses Vorgehens bei Hempfer: Poststrukturale Texttheorie, S. 13–65. Derrida: The Law of Genre, S. 56. Auf diese Passagen von Derrida beziehen sich ausnahmslos zustimmend Adena Rosmarin: The Power of genre. Minneapolis 1985, S. 168, Anm. 8; Combe, S. 147; Beebee, S. 278f.; Madsen, S. 25.

108 law of impurity, a parasitical economy. In the code of set theories, if I may use it at least figuratively, I would speak of a sort of participation without belonging – a taking part in 51 without being part of, without having membership in a set.

Die evozierte Paradoxie hängt argumentativ von einem klassenlogischen Konzept der ›Gattungszugehörigkeit‹ ab, das inzwischen weitgehend nicht mehr vertreten wird. Aus dieser Zurückweisung des Konzepts der Gattung als einer Klasse folgt nun mit Blick auf Derrida ein Prinzip der ›generischen Instabilität‹,52 das besagt, dass Gattungen prinzipiell ›nicht exklusiv‹ sind53 und dass Texte immer Gattungstexte in mehrfacher Hinsicht sind. I submit for your consideration the following hypothesis: a text cannot belong to no genre, it cannot be without or less a genre. Every text participates in one or several genres, there is no genreless text; there is always a genre and genres, yet such participation never amounts 54 to belonging.

Während Derrida sich der klassenlogischen Sprache – belong without belonging – bedient, um entsprechende Paradoxien zu erzeugen, richtet sich das Interesse post Derrida systematisch auf den ›multigenerischen Text‹.55 Beebee bezieht sich auf Saussures Differenzprinzip, das besagt, dass die Sprache nur Differenzen ohne positive Terme kennt, und unterlegt dieses dem Begriff der Gattung: »Genre is a system of differences without positive terms.«56 Insofern wird die Teilhabe der Texte an mehreren Gattungen zentral. Die meisten Werke müssen demnach in mehr als einer Gattungshinsicht analysiert werden, damit ihre Botschaften irgendeinen wirksamen Sinn oder Wert haben (265). Damit gerät auch für Beebee als das Medium solcher Differenzierung das intertextuelle Profil der Texte ins Zentrum: »But to think of genre as a system of differences, we must obviously focus our attention on the borders between genres, because it is precisely there, in their differences, that genres exist« (257). Anders ausgedrückt: Rock and not country, folk and not rock: to say a work’s genre is to say what it is not. Rather than seeing fiction as something in and of itself, we judge it by its nonrelatedness to the world, by the nonillocutionary force of its speech acts. The novel is a kind of biography which does not allow us to sue. Oddly, though, when we go to name fiction’s opposite, the only general term we have for it (in English), »nonfiction,« also denotes a lack. It is this lack, rather than a presence, which »establishes« the genre, like the double lack that established the genre of the prose poem. [263].

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Derrida: The Law of Genre, S. 59. Beebee, S. 268. Madsen, S. 25. Derrida: The Law of Genre, S. 65. Madsen, S. 14. Beebee, S. 256 ; das Saussure-Zitat: »[...] dans la langue il n’y a que des différences sans termes positifs«; Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Paris 1969 [1915], S. 166. Beebee bezieht sich im folgenden auch ausführlich auf Walter Benjamins Trauerspiel-Buch, dem er einen entsprechenden nicht-klassifikatorischen, differentiellen Gattungsbegriff zuschreibt; Beebee, S. 258.

109 Aus dem Prinzip der Differentialität, der mangelnden Exklusivität und Distinktheit der Gattungen und ihrer Bezeichnungen folgt eine Zurückweisung der Hierarchisierung von Gattungsbegriffen, wie sie immer wieder diskutiert wurde.57 Da Epigrammsonette und Liebessonette jeweils Sonette sind und diese wieder der Lyrik angehören, scheint es nahezuliegen, zwischen Gattungen und Untergattungen zu unterscheiden oder gar ganze Gattungshierarchien zu entwerfen, was aber der bisherigen Diskussion nach in widerspruchsfreier Weise gar nicht gelingen kann.58 Wenn die Dichtung in Epik, Lyrik und Dramatik unterteilt wäre, in welches Fach gehörte dann die Pastoraldichtung? Hierarchien ergeben sich jeweils dann mit logischer Konsequenz, wenn zur Identifikation einer Gattung selbst wiederum Gattungsbegriffe herangezogen werden, wenn man also das Sonett als ein ›Gedicht‹ bestimmt oder den Bildungsroman als einen ›Roman‹ und diesen wiederum als ›Epik‹. Gattungshierarchien sind also ein Teil der Theoriebildung. Sie sind Ergebnis eines Systematisierungsinteresses, vermögen allerdings die Gattungsdynamik nicht wirklich abzubilden. Ein Sonett kann zugleich der Bukolik zugehören und ein politisches Pamphlet sein. Solche Zusammenhänge widersetzen sich jeder schlüssigen Hierarchisierung. Hierarchische Gattungsklassifikationen sind allerdings selbst ein Teil der Gattungsgeschichte, insofern sie die Theoriebildung zu den Gattungen weitgehend geprägt haben. Nur als historische Klassifikation ist beispielsweise die Trias von Epik, Lyrik und Drama heute noch zu beschreiben, dann allerdings mit höchster Signifikanz. Jenseits solcher historischer Klassifikationen der Poetik – Sonette sind Lyrik – und jenseits der erwähnten unmittelbaren Inklusionsbeziehungen – Liebessonette sind Sonette – sind Gattungskonzepte prinzipiell nicht hierarchisch zu systematisieren, vielmehr durchdringen sie sich wechselseitig in vielfacher Weise. Als das Mittel zur Beschreibung jenes Systems von Differenzen, als das die Gattungen erscheinen, nutzt Beebee das intertextuelle Profil und den literari——————— 57

58

Als ein ›Sprachspiel‹ hat Werner Strube eine solche Klassifikation literarischer Werke beschrieben, während er für die Gattungsgeschichtsschreibung ein anderes Sprachspiel voraussetzt, für das er die ältere Tradition ins Auge fasst, die mit einer ›essentialistischen Definition‹ arbeitet: Strube: Zur Klassifikation literarischer Werke, S. 105ff., S. 139. Zur Bewältigung der Heterogenität der Gattungsbegriffe schlägt Alastair Fowler eine Unterscheidung in vier Gattungskategorien vor, die nicht-klassifikatorisch gedacht sind: Arten, Unterarten, Modi und Bauformen (constructional types); Fowler, S. 55. So werden Unterarten für ihn durch attributive – vor allem thematisch-motivische – Spezifizierung gebildet: es gibt allgemeine Oden, Hochzeits- und Geburtstagsoden (112). Thematische Spezifizierungen kommen dann vor allem auf der Ebene der Unterarten zum Zuge, während die Ebene der Arten stärker von formalen Kategorien bestimmt wird. Da die Gattungsbegriffe jedoch nicht als Klassen gedacht sind, sind die Unterarten offen konstruierbar. Sie regen zu immer feineren Unterteilungen und zu weiteren Unterebenen an: Die Unterart des Elisabethanischen Liebessonetts kann man so nach Fowler typologisch untergliedern in Schwellensonette, Psychomachien, Liebessymptomologien, Blasons, Kusssonette, Cupido-Sonette, Trennungssonette, Sprödigkeitsklagen und Liebesabsagen (112f.). Die offene Konstruierbarkeit der Fowlerschen ›Unterarten‹ stellt eine wichtige Einsicht dar, doch erscheint die Trennung von Arten und Unterarten entlang der Unterscheidung von Form und Thema insgesamt willkürlich und nicht wirklich konsequent darstellbar (ebd.).

110 schen Vergleich, ein methodisches Verfahren, das auch der vorliegenden Untersuchung als Leitlinie dient. So erweist sich die Erfindung des Sonetts am Hof Kaiser Friedrichs II. als eine mehrfach motivierte Differenzbildung zur provenzalischen Kanzone: das Sonett ist eine Kanzone ohne Strophen und also ohne Gesang; seine Reimordnung ist nicht frei variierbar wie die der Kanzone, sondern numerisch fixiert. Zugleich thematisiert es ausdrücklich eine andere Liebe, ohne mythische Vergottung und ohne personalen Dienst. Das Sonett profiliert sich in solchen intertextuell perspektivierten formalen und diskursiven Differenzen als ein anderes Gedicht, und es kann gerade auf diese Weise Träger eines anderen Gebrauchs und einer anderen Ideologie werden. Eine rekursive Bestimmung historischer Gattungen hat bereits Todorov vorgeschlagen. Er stellt fest, dass Gattungen stets aus anderen Gattungen entstehen: »Where do genres come from? Quite simply from other genres. A new genre is always a transformation of an earlier one, or of several: by inversion, by displacement, by combination.«59 Man kann sie mit Beebee auch in Walter Benjamins Umschreibung des ›Ursprungs‹ von Gattungen (im Unterschied zur ›Entstehung‹) erkennen:60 Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in 61 seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein.

Der Rekursivität und Differentialität historischer Gattungen entspricht ein gleichsam poröser, transparenter und pluralisierter Gattungsbegriff, der zu seiner Bestimmung jeweils eines Dritten bedarf, einer Basis, wie es Beebee formuliert.62 Für Todorov sollte dies der Sprechakt sein, doch ein ahistorisches Prinzip muss letztlich die Rekursivität der Gattung wieder zurücknehmen.63 Jauß fokussierte die Gattungsdynamik auf einen homogenisierten Erwartungshorizont, was an den modernen Mythos des Gegensatzes von homogener Sozialität und inkommensurabler Individualität qua ästhetischer Wertigkeit gebunden blieb, dabei aber grundsätzlich eine historisierte Perspektive eröffnete, von der aus die Differentialität der Gattung beschreibbar war. Adena Rosmarin hält diese rezeptionsbezogene Grundlage der Gattungstheorie in ihrem Buch The Power of Genre für zu vage, und möchte sie der Begriffsbildung des Kritikers zuweisen.64 Sie empfiehlt für die kritische Praxis die Verwendung explizit definierter theoretischer Gattungsbegriffe, da Gattungen nicht ›in den Texten‹ zu lokalisieren seien, sondern als ein heuristisches Mittel des Kritikers zu gelten hätten (48f.). Dieser Vorschlag ist weitgehend kritisch aufgenommen worden, da er die rekursive Bestimmung der Gattung unterminiert. Auch wird die Figur ——————— 59 60 61 62 63 64

Todorov: The Origin of Genres, S. 15. Beebee, S. 267f. Benjamin, S. 28. Beebee, S. 265. Todorov: The Origin of Genres, S. 20f.; vgl. oben: S. 57; kritisch dazu auch: Beebee, S. 264ff. Rosmarin, S. 35f. zu Jauß.

111 des Kritikers selbst nicht historisiert, sie bleibt vielmehr sozial isoliert, weshalb Beebee von einem ›scholastischen‹ Zugang spricht.65 Rosmarin macht die Gattung zu einer arbiträren Festlegung des einzelnen Kritikers. Man kann jedoch festhalten, dass ihr Bezug der hermeneutischen Horizontmetapher auf den theoretischen Diskurs des Kritikers grundsätzlich durchaus historisierbar ist und dass dies dem ›Diskurs‹ der Gattung einen wesentlichen Aspekt hinzufügt. Beebee, dessen Theoretical Postlude66 zu den lesenswertesten Abschnitten der jüngeren Gattungstheorie gehört, fundiert die rekurrente Bestimmung der Gattung im Unterschied dazu konsequent im sozialen Raum. Er bezieht das ›System von Differenzen‹, das die Gattung konstituiert, wie oben bereits dargestellt (vgl. S. 77) auf ihren praktischen ›Gebrauchswert‹ und auf einen daran geknüpften perspektivischen Begriff der Ideologie. Die ›Pragmatik‹ der Gattungen konstituiert eine Art ›Diskursökonomie‹ der Gebrauchswerte (274), in einem Zitat von Fredric Jameson: »Genres are institutions, or social contracts between a writer and a specific public, whose function it is to specify the proper use of a particular cultural artifact.«67 Beebees Zugang verbindet wesentliche Aspekte, die auch hier zugrundegelegt worden sind, und es gelingt ihm, die Verwurzelung literarischer Gattungen im sozialen Diskursraum mit ihren fundamentalen pragmatischen und politischen Implikationen zum Ausgangspunkt einer ›pragmatischen‹ Gattungsbetrachtung zu nehmen, ohne der Gefahr eines Reduktionismus zu verfallen. Der offene Gattungsbegriff erlaubt dabei ansatzlos die Erschließung historischer Wandlungsprozesse, da ›Merkmale‹ keinen definitorischen Stellenwert mehr besitzen, sondern jeweils pragmatisch fundiert bleiben, in einem markanten Beispiel: »Genre is form, then, only in the way the 6:00 P.M. train is not substance (for everything can be changed about it) but the form of its use« (277). Das Beispiel konstatiert auf prägnante Weise die These, dass Gattungen prinzipiell alle ihre Merkmale verändern können. Der 6-Uhr-Zug kann um sieben fahren und durch einen Bus ersetzt werden, er kann sogar nach dem 7Uhr-Zug fahren; seine Identität wird gewährleistet durch seine ›Gebrauchsform‹, für die allerdings eine soziale Institution einsteht. Solche Institutionalität kennen historische Gattungen nicht. Doch auch sie beruhen auf sozialen Übereinkünften, auf dem Diskurs von Schreiber und Öffentlichkeit, der ihre Identität fokussiert. Es ist der ›Horizont‹ der Rezeption, die ›Klassifikation‹ des Kritikers und des Philologen, die integriert, wo Gattungen im Spiel der Differenzen destabilisiert sind und unkenntlich und unbrauchbar zu werden drohen. Historische Gattungen funktionieren in einem diskursiven System, das ihre Identität gewährleistet, indem es ihnen eine eigene Theorie bereitstellt. Die Theorien der Gattungen bilden insofern einen integrativen Bestandteil ihrer Identität in der historischen Differenz. ——————— 65 66 67

Beebee, S. 253f.; kritisch auch: Madsen, S. 19. Beebee, S. 249–283. Fredric Jameson: The Political Unconscious: Narrative as a Socially Symbolic Act. Ithaca, N.Y. 1981, S. 106; vgl. Beebee, S. 277.

112

3.6

Die Theorien der Gattung

Der Anteil der Poetik und Gattungstheorie an der Gattungsgeschichte ist bislang kaum systematisch berücksichtigt worden. Seine Bedeutung liegt allerdings auf der Hand. Es ist keine Gattungsgeschichte der Tragödie zu schreiben ohne Rekurs auf die aristotelische Poetik, und zwar gerade weil diese mehr ist als eine deskriptive Bestandsaufnahme der vorliegenden strukturellen Rekurrenzen von Textexemplaren. Sie leistet anderes, das man gemeinhin als ihr normatives Moment bezeichnet und durch das sie selbst an zentraler Stelle in die Geschichte der Gattung eingeht. Die Theorien der Gattung liefern nicht nur die verzerrten Bilder ihrer Gegenstände, sie generieren solche Gegenstände auch selbst, indem sich die Textproduzenten nicht nur an den vorliegenden Texten, sondern auch an den Metatexten der Poetik orientieren. Der Zusammenhang ist nicht als ein rein logischer und einsinnig hierarchischer zu beschreiben, auch er besitzt einen zeitlichen Index, indem Metatexte auf Texte folgen, aber auch Gattungstexte wiederum auf die Metatexte. Insofern ist die produktive Rolle der Poetik im Rahmen der Gattungsgeschichte eine genuine Funktion ihrer Historizität. Auch befassen sich Poetiken bevorzugt mit historischen Gattungen, indem sie sich auf deren gefährdete Identität und Instabilität konzentrieren. Man kann das ›System‹ einer historischen Gattung entsprechend auf zwei Pole beziehen: auf die Textrekurrenzen bzw. die intertextuelle Reihe einerseits und auf ihre Theorie andererseits, mithin auf eine implizite und auf eine explizite Poetik. Um dafür den Begriff zu gewinnen, ist zunächst ein Rückblick auf einige systematische Überlegungen angezeigt. Bereits Tzvetan Todorov bezieht die transformatorische Dynamik der historischen Gattung auf die beiden genannten Pole. Er unterscheidet einen diskursiven und einen metadiskursiven Aspekt. Auf der diskursiven Ebene handelt es sich bei Gattungen um die Rekurrenz bestimmter Eigenschaften des Diskurses. Damit ist ihre textliche Basis bezeichnet, die allerdings zu unspezifisch ist, um eine Gattung im umfassenden Sinn bestimmen zu können. Dazu kommt nun als metadiskursiver Aspekt ein historischer Diskurs, der solche Rekurrenzen als Gattungen identifiziert. Todorov spricht hier von Institutionalisierung: Genres are thus entities that can be described from two different viewpoints, that of empirical observation and that of abstract analysis. In a given society, the recurrence of certain recursive properties is institutionalized, and individual texts are produced and perceived in relation to the norm constituted by that codification. A genre, whether literary 68 or not, is nothing other than the codification of discursive properties.

Die Zweigliedrigkeit des Begriffs der historischen Gattung soll einerseits bestimmt sein durch die Rekurrenz bestimmter Merkmale bei unterschiedlichen Texten, das entspricht also in gewissem Sinn ihrem intertextuellen Profil, andererseits durch die institutionelle Kodifikation solcher Rekurrenzen. Hier ist der ——————— 68

Todorov: The Origin of Genres, S. 18.

113 institutionelle Metadiskurs über Gattungen primär am Bild einer Normpoetik im Sinn der Festschreibung von Merkmalen orientiert. Es ist jedoch zweifelhaft, ob sich die institutionelle Gattungspflege tatsächlich generell in der Form einer normierenden Poetik vollzieht und nicht vielmehr in Form einer sozialen und kulturellen Praxis, die auf offenere Weise beschrieben werden muss. Der Doppelcharakter historischer Gattungen beruht nicht auf einer logischen Relation, die die Reduktion des einen Elements auf das andere erlauben würde. Wir haben es einerseits mit bestimmten Gattungsvorstellungen zu tun, die man als systematische Gattungsmodelle beschreiben kann, und andererseits mit Gattungsexemplaren, die bestimmten Gattungen explizit oder implizit und auch mehr oder weniger eindeutig zugeordnet werden. Die Relation zwischen beiden Elementen macht im wesentlichen das aus, was wir als historische Gattung bezeichnen. Diese Relation ist beidseitig intentional gerichtet und zeitlich indiziert: einerseits zielen Gattungsmodelle beschreibend auf alle bislang anerkannten Gattungsexemplare, andererseits orientieren sich neue Gattungsexemplare an genau dieser zweigliedrigen Gattungswirklichkeit: am Modell der Gattung, seiner explizierten ›Poetik‹, vor allem aber an ihren bislang bekannten Exemplaren.69 Zumeist wurde diese Beziehung als eine von Regel und Erfüllung gedacht. Dabei wird jedes neue Gattungsexemplar als Konkretisation des Modells gefasst, durch das die Gattung eigentlich repräsentiert wird. Eine hierarchische Beziehung zwischen Modell und Exemplar bleibt jedoch auf jeden Fall statisch, da es die Affirmation des Modells durch das Exemplar als Normalfall setzt und die Differentialität der Texte selbst unterschlägt. Dass das Modell aber die Gattungsentwicklung zwingend determiniert, ist Ausweis einer Normpoetik, die historisch zwar eine gewisse Rolle spielte, die aber nicht als Normalfall der literarischen Gattungsentwicklung angesetzt werden darf. Die Zweigliedrigkeit des Gattungssystems – sein intertextuelles und sein metatextuelles Profil – lässt sich nun zeitlich indizieren und zur Grundlage einer konsequenten Historisierung machen. Sowohl intertextuell als auch metatextuell eignet ihm das Moment der Historizität, sofern sich die Texte und die Poetiken mehr oder weniger ausdrücklich auf den historischen Horizont der Gattung beziehen, die sie repräsentieren. Integriert man der historischen Gattung auf diese Weise ihre eigene Theorie, so vollzieht man theoretisch nach, was jede Gattungsgeschichte immer schon praktiziert hat. Nicht selten produzierte dies allerdings begriffliche Spannungen, wo ein überhistorisches Gattungskonzept zugrunde lag, das mit den vielfältigen historischen Modellen der gleichen Gattung nicht übereinzubringen war. Dies spiegelt sich beispielsweise in dem Unverständnis wieder, das die romantisch inspirierten modernen Gattungsge——————— 69

Für Todorov sind historische Gattungen stets auch systematische Gattungen, nicht aber ungekehrt. Er bindet den Gattungsbegriff an dieser Stelle an den gattungstheoretischen Diskurs, wenn er von Gattungen nur bei Textklassen sprechen will, »that have been historically perceived as such«; Todorov: The Origin of Genres, S. 17, auch Anm. 9; Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. München: Hanser 1972, S. 16ff.

114 schichten gegenüber der historischen Auffassung des Sonetts als eines Epigramms bekundeten. Mit der historischen Poetik stellt sich eine weitere Verbindung von Gattungen zur institutionellen Wirklichkeit der Gesellschaft her. Dieses institutionelle Moment der Gattungstheorie ist zu unterscheiden von der oben behandelten institutionellen Einbindung von Kommunikationsgattungen beispielsweise in Medieninstitutionen. Claudio Guillén hat darauf hingewiesen, dass die Poetik stets ins Bildungssystem integriert war.70 Aus dieser Tatsache lassen sich ganz bestimmte Folgerungen ziehen. So kann man daraus unmittelbar ihre historisch nachweislich starke Tendenz zur Systematisierung ableiten. Schon aus Gründen der pädagogischen Vermittlung ist eine Abgrenzung und Strukturierung des Gegenstandsbereichs der Poetik erforderlich, die über reine Reihenbildungen hinausgeht. Ein Herzstück solcher Systematisierungen bilden von jeher die Gattungstheorien, die im Kern genau dies leisten: Abgrenzung und Strukturierung des Gegenstandsbereichs der Poetik. Sie sind darin jedoch nicht autonom, denn sie unterliegen der Bedingung, die poetischen Zeugnisse der Vergangenheit und Gegenwart in angemessener Weise zu berücksichtigen. Die Poetik unterliegt einem Sachbezug und einem Systembezug, indem sie ihren eigenen Gegenstandsbereich bestimmt. Dieser Gedanke lässt sich wiederum auch analytisch fruchtbar machen, indem er zu einer Berücksichtigung des institutionellen Ortes von Poetiken und Gattungstheorien anleitet, der wiederum in die Beschreibung des historischen Systems einer Gattung einzubeziehen ist. In welcher Weise dies historisch relevant ist, hat Brigitte Schlieben-Lange bezüglich des Gattungssystems der altokzitanischen Lyrik vorgeführt. Sie unterscheidet ebenfalls zwischen einer Ebene der Textproduktion, die in veränderlichen traditionellen Techniken überliefert wird und die Todorovs Diskursebene entspricht, und einer Ebene der Kategorisierung, die davon in mancher Hinsicht unabhängig bleibt.71 Thesenhaft weist sie auf die möglichen präterminologischen und terminologischen Verwendungen von Gattungsbezeichnungen hin, von denen nochmals die Systematisierungen abzuheben sind, bei denen es sich um kategoriale Reinterpretationen unter möglichst einheitlichen Gesichtspunkten handelt. Die Ausdifferenzierung und Systematisierung der Gattungskategorisierung hängt zusammen mit einer ›Professionalisierung‹ der Theoriebildung, das heißt, dass die Lehrbarkeit der professionellen Aktivitäten ein höheres Maß an Explizitierung notwendig macht (95). Zurückgewendet auf die Geschichte der Kategorisierung ergeben sich dabei unterschiedliche Präferenzen, die mit Phasen der Professionalisierung in Verbindung gebracht werden können: In einem ersten Professionalisierungsschub waren der Vortrag und seine Modalitäten entscheidend: hier richtet sich die Kategorisierung vor allem auf die medialen Aspekte der Trobadorlyrik. In der Spätphase geht es dann vorrangig um die Verwaltung der bereits

——————— 70 71

Er verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf Ernst Robert Curtius: Guillén, S. 380. Brigitte Schlieben-Lange: Das Gattungssystem der altokzitanischen Lyrik: Die Kategorisierungen der Dichter und der Poetologen. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hg. Frank u.a. 1997, S. 81–99, S. 84.

115 bestehenden Texte und deren Archivierung: In dieser Phase werden die Gattungsbezeichnungen dann zu Ordnungsprinzipien der nun einsetzenden Tradition der Trobadorlyrik für 72 andere Sprachgemeinschaften und spätere Generationen.

Da nachfolgende Gattungstexte sich nicht nur auf die Traditionen der Textproduktion beziehen, sondern auch auf solche Kategorisierungen, ist der Anteil der Kategorisierung und Theoriebildung an der Gattungsgeschichte bedeutsam. Dabei wirkt die wachsende Explizitheit gleichsam als ein Katalysator und die Verankerung im Bildungssystem als ein Multiplikator, was die historische Relevanz der Theoriebildung noch unterstreicht. Ein wichtiger Nebeneffekt dieser Einsicht besteht auch in der unmittelbaren hermeneutischen Operationalisierbarkeit dieses Modells. Gattungstexte und Gattungspoetiken bilden im wesentlichen den tatsächlichen historischen Überlieferungsbestand, soweit dieser unmittelbar referentiell und nicht bloß kontextuell auf die historische Gattung bezogen ist. Der analytische Bezug auf die Geschichte der Theoriebildung hat dem Entwurf eines ›Erwartungshorizonts‹ einiges an historischer Konkretion voraus. Im Vergleich erscheint dieser als ein Konstrukt, das noch dazu einer unangemessenen Homogenisierung unterzogen wurde. Dass Gattungen sich homogenen gesellschaftlichen Erwartungen gegenübersehen, trifft wohl im Fall institutioneller Gebrauchsgattungen zu, im Fall historisch-literarischer Gattungen aber allenfalls im strikten Geltungsbereich einer Normpoetik und also nur in Einzelfällen. Auch Adena Rosmarins Versuch, die Gattung als die heuristische Kategorie des Kritikers zu isolieren, kann hier angeschlossen werden.73 Die Gattung ist mehr als diese Kategorie, denn sie ist auf ein Feld struktureller Rekurrenzen bezogen. Sie ist auch nicht das Handwerkszeug eines einzelnen Kritikers, denn sie ist Element eines historischen Diskurses der Gattung und damit eines Gattungssystems. Die institutionalisierte Gattungstheorie wirkt im Rahmen des Systems der Gattung als eine Art backup des instabilen und transformatorischen Charakters der Gattung. Es war oben festgestellt worden, dass Gattungen prinzipiell keine Distinktheit und Exklusivität besitzen und dass ihre Merkmale mehr oder weniger arbiträr sind. Daraus folgt, dass es keinen Algorithmus geben kann, der Texte auf Gattungen abbildet oder sie diesen zuweist. Gleichwohl ist Gattungszugehörigkeit nicht beliebig. So wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass sie sich heuristisch im Rahmen der Kategorisierungen des Kritikers ergibt (Rosmarin), dass es sich um ein Rezeptionsphänomen handelt (Petöfi), dass sie einem diskursiven Prozess zugeordnet werden muss (Madsen). Diesen Prozess bildet der gesellschaftliche Gattungsdiskurs. Texte werden als Gattungstexte betrachtet, gebraucht und anerkannt sowohl im Rahmen des intertextuellen Gattungsprofils nachfolgender Gattungstexte als auch im Metadiskurs der Gattungstheorien und assoziierter kritischer Diskurse. Umgekehrt treten Texte mit ›Wahrheitsbehauptungen‹ und ›Gattungsbehauptungen‹ auf (Madsen), die sich im ——————— 72 73

Schlieben-Lange, S. 96. Rosmarin, S. 26; auch oben: S. 110.

116 Rahmen des Gattungsdiskurses zu bewähren haben. Auf diese Weise kann die Frage der Gattungszugehörigkeit und auch die der relevanten Gattungsmerkmale gleichsam in die Dimension der Zeit gehoben und pragmatisch und historisch verankert werden. Man kann im Rahmen eines solchen Modells nun beispielsweise auch die Frage der ›notwendigen‹ oder ›dominanten‹ Gattungsmerkmale behandeln. Dazu zählen Fragen nach der Bindung von Gattungen an bestimmte Schreibweisen: Ob also der Roman grundsätzlich narrativ und die Tragödie dramatischszenisch sein muss, ob das Sonett einem akustischen Modus und einer signifikanten graphischen Schreibweise verpflichtet ist. Gemäß einer pragmatisch fundierten Gattungstheorie sind alle diese Fragen zu verneinen. Allerdings ist die Gattung einem Gattungsdiskurs verantwortlich, der diese Fragen weitgehend bejaht und ihre Stabilisierung gewährleistet. Beziehen sich Einzelwerke auf eine bestimmte Gattungstradition, widersprechen aber zugleich deren in relevanten Gattungsmodellen formulierten konstitutiven Merkmalen, sind zwei Möglichkeiten denkbar: die Anpassung des Gattungsmodells oder die Aussortierung des Exemplars. Das Aufgeben der konstitutiven Schreibweise – also beispielsweise die Vorlage eines Prosasonetts – schließt nun aber die erste Möglichkeit nahezu aus, und es müsste sehr starke Gründe geben, das Gattungsmodell einem solchen Exemplar generell anzupassen. Dass eine bestimmte Schreibweise konstitutiv für eine historische Gattung ist, lässt sich demnach dem korrespondierenden historischen Gattungsmodell zuschreiben, ohne dass man daraus Notwendigkeiten oder ›Naturgesetze‹ ableiten müsste. Es ergeben sich allenfalls sehr hohe Wahrscheinlichkeiten, dass man das Gattungsmodell des Sonetts nicht einem Text wird anpassen wollen, der dessen konstitutive Schreibweise missachtet und sich demnach nicht formal zu erkennen gibt. Diese Wahrscheinlichkeit ist eine pragmatische der kulturellen Ökonomie, sie ist keine universalpoetische. Im Fall der historischen Gattungen, für die mit einem elaborierten Apparat an Theoriebildung zu rechnen ist, wird man nun historisch feststellen können, dass sowohl die Gattungsmodelle als auch die diesen korrespondierende Textproduktion tiefgreifenden Wandlungen unterliegt, die bis hin zum Austausch von zentralen Gattungsmerkmalen geht. Ein solcher Austausch markiert grundsätzliche historische Paradigmenwechsel. Dies gilt etwa für den Schritt der aristotelischen Poetik, Dichtung insgesamt nicht mehr auf ein Verskriterium und damit auf ein Kriterium der Medialität zu gründen, sondern ein Kriterium einzuführen, das Dichtung als Handlungsfiktion (Mimesis) bestimmt und damit sowohl die nichtfiktionale Lyrik als auch die Lehrdichtung aus dem Bereich der Poesie auszuscheiden. Einschneidend war entsprechend auch der Schritt, Sonette nicht mehr wie eine Kanzone als von Wiederholungen geprägte Stollenstrophe zu beschreiben, sondern ihnen das antike Epigramm mit bestimmten Reimformen zugrundezulegen. Solche Wechsel begründen historisch weitgreifende Topoi einer Gattung, die nicht primär nach ihrem gemeinsamen Gattungsbezug und ihrer überhistorischen Identität befragt werden sollten, sondern die im gleichen Maß hinsichtlich ihrer jeweiligen historischen Dignität und ihren diskursiven, sozialen und kommunikativen Kontexten zu bestimmen bleiben.

ZWEITER TEIL Historische Gattungstopik des Sonetts

1

Das Sonett als Stanze: Die mittelalterliche Tradition

1.1

Ursprungsfragen: Der Streit um Strambotto und Kanzone

Die Frage nach dem historischen Ursprung einer Gattung ist aus gattungstopischer Sicht nicht die entscheidende. Gleichwohl stellt sie eine zentrale Frage dar, da von ihrer Beantwortung immer wieder die Bestimmung von Gattungsmerkmalen abhängig gemacht wurde, nicht zuletzt in normativer Weise. Im Grunde ist die ihr zugemessene Bedeutung eine Implikation des transhistorischen Gattungskonzepts selbst: Wenn es eine transhistorische Identität gibt, die im intertextuellen Profil der Gattung präsent sein soll, dann muss diese bereits am Ursprung der Gattung greifbar sein. Das Konzept der Gattung selbst fordert die Einbeziehung der ältesten Exemplare, die als Urtexte eine besondere Dignität besitzen. Im Fall des Sonetts liegt dieser Ursprung deutlicher vor Augen, als bei jenen Gattungen, die auf orale oder kultische Traditionen zurückgehen wie das Epos oder die Tragödie. Dennoch sind die Zeugnisse auch hier am Anfang rar, sie verlieren sich im Ungeschriebenen, und ein Verstehen des Sinns dieser neuen Form erschließt sich nicht geradewegs. Die Diskussion über die Ableitbarkeit des Sonetts von älteren Formen hat eine lange Tradition, sie erschöpfte sich jedoch schließlich in Aporien und kam für längere Zeit zum Erliegen. Neuere Forschungen erlauben allerdings inzwischen ein differenzierteres und durch neue Fragestellungen bereichertes Bild.1 ——————— 1

Wichtige literaturgeschichtliche Überblicksdarstellungen, z.T. mit weiterführenden Literaturangaben bieten Adolf Gaspary: Die sicilianische Dichterschule des dreizehnten Jahrhunderts. Berlin 1878; Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a.M. 1964, S. 16–41; Gianfranco Folena: Cultura e poesia dei Siciliani. In: Storia della Letteratura Italiana I: Le Origini e il Duecento. Hg. von Emilio Cecchi und Natalino Sapegno. Mailand 1965, S. 275–347; Antonio Enzo Quaglio: I poeti della »Magna Curia« siciliana. In: Emilio Pasquini, A.E. Quaglio: Il Duecento. Dalle Origini a Dante. Bd. I,1, Bari 1971, S. 169–240, speziell zum Sonett: S. 186; Ulrich Mölk: Die sizilianische Lyrik. In: Neues Handbuch für Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus von See. Bd. 7: Europäisches Hochmittelalter. Hg. von Henning Krauß. Wiesbaden 1981, S. 49–60; Francesco Bruni: La cultura alla corte di Federico II e la lirica siciliana. In: Storia della civiltà letteraria italiana. Hg. von Giorgio Bárberi Squarotti. Bd. I: Dalle origini al Trecento. Turin 1990, Bd. I, S. 211–274, zum Sonett: S. 256– 261; Roberto Antonelli: La scuola poetica alla corte di Federico II. In: Federico II e le scienze. Hg. von Pierre Toubert und Agostino Paravicini Bagliani. Palermo 1994, S. 309–323; Furio Brugnolo: La Scuola poetica siciliana. In: Storia della letteratura italiana. Hg. von Enrico Malato. Bd. I: Dalle Origini a Dante. Rom 1995, S. 265–337, zum Sonett: S. 320–324.

120 Das Sonett liegt nach dem ersten Drittel des Duecento unvermittelt als fixierte Form in 35 Exemplaren vor, von denen der größte Teil einem einzigen Autor zugeschrieben wird, der heute allgemein als Erfinder des Sonetts gilt: Giacomo da Lentini, ein hoher Beamter am sizilianischen Hof Kaiser Friedrichs II., dessen Wirken zwischen 1233 und etwa 1245 bezeugt ist und der als »il notaio« – der Notar – bezeichnet wurde.2 Man hat es also mit einem festen Textkorpus und einem präzisen Entstehungsort zu tun; die dort wirkenden Autoren sind namentlich bekannt, wobei eine einzelne Persönlichkeit hervorragt, und doch erledigt auch dies nicht die Rekonstruktion des Entstehungsprozesses und seines literarhistorischen Sinns. Das Verstehen dieser unverhofften Kreation bleibt abhängig von der Wahrnehmung von Affinitäten zu anderen Formen und von intrinsischen Merkmalen, von der Interpretation des Verhältnisses formaler und inhaltlicher Elemente, von späteren Kommentaren und Fortschreibungen der Form, vom Einbeziehen sozialhistorischer und kulturgeschichtlicher Kontexte. Die infragestehenden Texte selbst bieten dazu allerdings eine nur schmale Datenbasis. Die Grundlage aller Diskussionen zur Frage des Sonettursprungs bildet seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts ein Aufsatz von Ernest Hatch Wilkins mit dem Titel The Invention of the Sonnet, der 1915 zuerst gedruckt wurde und der stark überarbeitet 1959 als Titelaufsatz eines Sammelbandes neu erschien.3 Wilkins versammelt alle relevanten Argumente der älteren Forschung und diskutiert sie kritisch im Zusammenhang. Er benennt definitiv Giacomo als den Erfinder, allerdings noch auf einer schmaleren Basis von Sonetten, die diesem zugeschrieben werden konnten.4 Er diskutiert anhand der vorliegenden Texte sehr detailliert die zwei wichtigsten älteren Entstehungshypothesen, nämlich die Ableitung des Sonetts aus der provenzalischen Kanzone oder aus dem strambotto bzw. genauer aus seiner sizilianischen Form, der canzuna, einer definitiv erst später belegten volksliedhaften Form aus acht Versen mit der Reimfolge A B A B A B A B . Wilkins weist die These zurück, dass es sich beim Sonett um eine Kombination zweier Formen handele, also eines strambotto aus acht und eines aus sechs Versen, doch er entscheidet sich vehement für die These, es sei ——————— 2 3 4

Roberto Antonelli: Introduzione: Dati culturali e biografici. In: Giacomo da Lentini: Poesie. Hg. von R. Antonelli. Bd. 1, Rom 1979, S. IX–LXXIV, hier: S. XIV. Ernest H. Wilkins: The invention of the sonnet. In: Wilkins: The invention of the sonnet and other studies in Italian literature. Rom 1959, S. 1–39. Wilkins geht von 15 eindeutig zugeschriebenen Sonetten aus und nimmt ferner noch vier Sonette, die in den beiden Tenzonen enthalten sind, an denen Giacomo da Lentini beteiligt ist, als gleichzeitige hinzu, so dass er zu einem Korpus von 19 Sonetten kommt: Wilkins, S. 14f. Antonelli hat in seiner Ausgabe 22 Zuschreibungen von Einzelsonetten plus drei Sonette in den Tenzonen (die fünf weitere Gedichte anderer Autoren enthalten) sowie zwei zweifelhafte Zuschreibungen: das Korpus beläuft sich also auf mindestens 25 Sonette: Antonelli: Introduzione, S. XXVII; vgl. Christopher Kleinhenz: The Early Italian Sonnet: The First Century (1220–1321). Lecce 1986, S. 37; grundlegend für die Beschreibung des überlieferten Textkorpus und der einzelnen Autoren ist Ernest F. Langley: The Extant Repertory of the Early Sicilian Poets. In: Publications of the Modern Language Association 28 (1913) 454–520.

121 ein strambotto plus eine frei erfundene Ergänzung. Diese Ableitung des Sonetts aus dem strambotto gilt inzwischen als überholt, doch der große Einfluss seiner Arbeit und ihr autoritativer Status haben dazu geführt, dass die strambottoThese verschiedentlich immer noch ihre Präsenz behauptet.5 Interessant an der Assoziation des Sonetts mit dem strambotto ist heute allenfalls noch die Faszination, die von dieser These ausging, denn sie gibt einen Hinweis darauf, inwiefern Ursprungshypothesen zum Sonett stets auch ein Medium der poetischen Selbstvergewisserung darstellen und ein je eigenes Bild der Form entwerfen. Die Ableitung des Sonetts vom volksliedhaften strambotto ist romantischen Ursprungs und wurde von Nicolò Tommaseo (1802–1874) aufgebracht. Das artifizielle Sonett sollte damit an eine Volksliedform geknüpft werden. Für Leandro Biadene, dem wir das materialreiche Standardwerk zur frühen Sonettkunst in der Breite und Vielfalt ihrer Formen verdanken, hängt ——————— 5

Vgl. als Referenzstellen für den deutschen Bereich: keine Aussage zur Ursprungsfrage macht Mönch; Friedrich, S. 31f., hebt bereits eindeutig die Abhängigkeit von der Kanzonenstrophe hervor; lapidar unter Hinweis auf entsprechende italienische Forschungsarbeiten tut dies auch Wilhelm Theodor Elwert: Italienische Metrik. München 1968, S. 111f.; Fechner weist Wilkins’ Auffassung in einer eigenständigen Argumentation zurück und nennt Affinitäten zur Kanzonenstrophe: J.-U. Fechner: Zur Geschichte des deutschen Sonetts. In: Das deutsche Sonett. Hg. Fechner 1969, S. 19–35, bes. S. 20–22; Wolfgang Mohr erwähnt die vom Kanzonenbau abgeleitete Sonett-Terminologie der frühen Poetik des Antonio da Tempo, ohne sich zur Ursprungsfrage zu äußern: W. Mohr: Romanische Versmaße. §13: Sonett. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3 (1977), S. 576– 578; Schlütter gibt die Argumente stark verkürzt nach Wilkins wieder und hält die Alternativen unentschieden nebeneinander, wodurch sich ein Übergewicht der strambotto-These ergibt: Schlütter: Sonett, S. 1f.; Mölk bezieht sich ausschließlich auf die Kanzone: Mölk: Die sizilianische Lyrik, S. 51; Jürgen Kühnel nennt die Herkunft »umstritten«, erwähnt aber, dass »heute« die Ableitung von der Kanzonenstrophe »bevorzugt« wird: J. Kühnel: Sonett. In: Metzler-Literatur-Lexikon. Stuttgart 21990, S. 432f.; Alfred Behrmann rekurriert ebenfalls auf die Kanzonenform: A. Behrmann: Variationen einer Form: das Sonett. In: DVjS 59 (1985) 1–28, S. 1f., während Peter Weinmann die Kanzonen-Ableitung ausgerechnet unter Bezug auf Wilkins für widerlegt hält, sich aber positiv nicht weiter äußert: P. Weinmann: Sonett-Idealität und Sonett-Realität. Neue Aspekte der Gliederung des Sonetts von seinen Anfängen bis Petrarca. Tübingen 1989, S. 21 Anm. 28. Volker Meid nennt beide Alternativen ohne Präferenz: V. Meid: Sonett. In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy u.a. Bd. 14, Gütersloh, München 1993, S. 383; Raoul Schrott übernimmt im Einleitungsessay seiner deutschen Übertragungen von Sonetten Giacomos nochmals unbesehen die These von Wilkins: R. Schrott: Giacomo da Lentino oder Von der Erfindung des Sonetts. 13. Jahrhundert. In: Schrott: Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren. Frankfurt a.M. 1997, S. 391–412, hier: S. 396f.; Schrott überträgt 14 Sonette und die acht der beiden Tenzonen; Kemp, Bd. 1, S. 46, dagegen bleibt indifferent. Auch die englische Einführung von John Fuller folgt Wilkins bis in die Wortwahl und erwähnt die Kanzone nicht: J. Fuller: The Sonnet. London 1972, S. 4f.; ebenso Paul Oppenheimer: The Origin of the Sonnet. In: Comparative Literature 34 (1982) 289–304, hier: S. 302; das Buch von Michael R.G. Spiller verweist dagegen selbstverständlich auf die Kanzone: The Development of the Sonnet. An Introduction. London, New York 1992, S. 4f.; ebenso Germaine Warkentin: sonnet, sonnet sequence. In: The Spenser Encyclopedia. London 1990, S. 662–665, hier: S. 662; und die an den italienischen Literaturgeschichten orientierte Darstellung von Jonathan Usher: Origins and Duecento. In: The Cambridge History of Italian Literature. Hg. von Peter Brand und Lino Pertile. Cambridge 1996, S. 3–38, speziell S. 11f.

122 daran geradezu die nationale Identität des Sonetts: »Se esso non fosse che una stanza di canzone aulica la sua italianitá non sarebbe che accidentale.«6 Wilkins gestattet sich eine Imagination, wie es gewesen sein könnte: I believe, explicitly, that Giacomo, stirred by the poetic and the musical beauty of the canzuna as he had heard it sung by Sicilian peasants, was moved to make use of the canzuna as the basis of an artistic lyric stanza; that he therefore adopted the form of the canzuna for the first part of his stanza; and that he then – conceivably in a flash of inspiration, but more probably through a process of experimentation – devised his sestet, consisting of two tercets, and rhyming CDECDE, without reference to any pre-existing 7 form.

Bestechend an dieser Vorstellung ist die Kombination zentraler Elemente romantischer Poetik: das Sonett erscheint als Volkslied und als genialische Schöpfung eines Einzelnen. Deutlich wird durch diesen Kontext der strambotto-These ihre Verwurzelung in Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Für die Arbeit von Wilkins gilt deshalb im Positiven wie im Negativen, dass sie eine Quintessenz der Forschungen und der assoziierten Vorstellungen des vorletzten Jahrhunderts bildet. Für die heutige Auseinandersetzung mit der Sonettform kann daran nicht mehr unbesehen angeknüpft werden.

1.2

Das melodische Schema der Kanzone und die ›Erfindung‹ des Sonetts

Dass eine Form wie das Sonett aus zwei anderen addiert sein oder dass eine Liedform willkürlich verlängert werden könnte, um ein so dezidiert zweiteiliges Gebilde wie das Sonett hervorzubringen, ist schon von der Sache her schwer vorstellbar. Der Vorbehalt gegen die Ableitung des Sonetts aus der Kanzonenform mochte umgekehrt mit deren höfisch-artifiziellem Charakter zusammenhängen. Vergessen machte dies, dass sich auch auf dem Weg über die Kanzone eine allerdings sehr vermittelte Verbindung zu volkstümlichen musikalischen Formen herstellt. Eine lebensweltliche Anbindung der Sonettform, die die strambotto-These offenbar leisten sollte, ist letztlich auch auf diesem Weg herzustellen, doch soll es darum hier nicht primär gehen. Die Bauform der Kanzone wurzelt in musikalischen Erfordernissen. Die Dichtungsentwicklung bei den Trobadors und Trouvères bietet zugleich bereits deutliche Anzeichen einer Literarisierung dieser Form.8 Das wird ersichtlich anhand einer Vernachlässigung der musikalischen Ausarbeitung, die weitgehend konventionell am ——————— 6 7 8

Leandro Biadene: Morfologia del sonetto nei secoli XIII – XIV. In: Studi di Filologia Romanza 4 (1889) 1–234, hier: S. 22. Wilkins, S. 38. Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei James Anderson Winn: Unsuspected Eloquence: A History of the Relations between Poetry and Music. New Haven 1981, S. 76–87; grundlegend ist Hendrik van der Werf: The chansons of the troubadours and trouvères. A study of the melodies and their relation to the poems. Utrecht 1972.

123 improvisierten Liedervortrag orientiert bleibt, während der Text der Kanzonen eine extrem kunstvolle Elaboration erfährt, die zahlreiche intertextuelle Strategien umfasst.9 Das 13. Jahrhundert erlebt neben der Blüte der Minnedichtung auch die Erfindung der Polyphonie und der Motette und damit die Entwicklung einer hochartifiziellen allegorisierenden Kompositionskunst.10 Im Kontrast macht dies das Abfallen der Trobadormusik sehr deutlich. Hendrik van der Werf vermutet deshalb, die textlich-formale Elaboration der Dichtung der Trobadors und Trouvères könne neben ihrem sozialen Hintergrund auch einen mediengeschichtlichen besitzen und den allmählichen Übergang der oralen Dichtungstradition, die von Improvisation und Erinnerung lebt, ins Medium der Notation und der Schrift, für das Form und Struktur zunehmend wichtig werden, markieren.11 Für die Dichtungspraxis der Trobadors ist die artifizielle Elaboration der Kanzonentexte, ihrer Reimschemata und Sinngefüge äußerst wichtig, während die überlieferten Melodien konventionell sind und jede verfeinerte formale Ausarbeitung vermissen lassen.12 Die sorgfältige und kunstvolle Gestaltung der Texte lässt vermuten, dass dabei im einen oder anderen Fall das Schriftmedium zum Einsatz kam, während die überlieferten Melodien wie erinnerte Improvisationen wirken, die keinerlei Anspruch auf ›Komposition‹ erheben können und auch keinerlei Notation zu ihrer Ausarbeitung bedurften.13 Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass die Italiener zunehmend nur noch die Dichtung übernahmen, weniger aber die musikalische Tradition, und dass sie im 13. Jahrhundert zu ihren eigenen Gedichten dieser Art möglicherweise keine Melodien mehr verfassten.14 So sind auch für das Sonett in seiner frühen Zeit keinerlei Vertonungen nachgewiesen, so dass dieses – vor allem auch durch seine strenge Formalisierung – in noch wesentlich stärkerem Maße als die provenzalische Kanzone als genuin literarische Form erscheint. Insofern lässt sich auch hier die formale ——————— 9

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Grundlegend dafür ist Jörn Gruber: Die Dialektik des Trobar. Untersuchungen zur Struktur und Entwicklung des occitanischen und französischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts. Tübingen 1983. Einen knappen Einblick gibt Karlheinz Schlager: Ars nova, oder: Der Griff nach der Zeit. Zur Musik im 14. Jahrhundert. In: Das 14. Jahrhundert. Krisenzeit. Hg. von Walter Buckl. Regensburg 1995, S. 145–152. van der Werf, S. 73 und passim; dazu bestätigend Winn, S. 83–85. van der Werf, S. 63ff. van der Werf, S. 70; vgl. zur umstrittenen Frage der ›Improvisation‹ der Trobadordichtung J. Gruber: Singen und Schreiben, Hören und Lesen als Parameter der (Re-)produktion und Rezeption des Occitanischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts. In: LiLi 15:57/58 (1985) 35–51; Dietmar Rieger: Chantar und faire. Zum Problem der trobadoresken Improvisation. In: Zeitschrift für Romanische Philologie 106 (1990) 423–435. Winn, S. 85; Mölk: Die sizilianische Lyrik, S. 53; vgl. auch: Aurelio Roncaglia: Sul divorzio tra musica e poesia nel Duecento italiano. In: L’Ars Nova italiana del Trecento. Bd. 4: Atti del terzo congresso internazionale sul tema »La musica al tempo del Boccaccio e i suoi rapporti con la letteratura«. Certaldo 1978, S. 365–397; eine Gegenposition vertritt Joachim Schulze: Sizilianische Kontrafakturen. Versuch zur Frage der Einheit von Musik und Dichtung in der sizilianischen und sikulo-toskanischen Lyrik des 13. Jahrhunderts. Tübingen 1989; siehe auch unten, S. 153, Anm. 106.

124 Entwicklung unter anderem auf Prozesse des Medienwandels beziehen: auch und gerade das Sonett vermag den Vollzug einer Literarisierung der älteren oralen Dichtungstradition zu bezeichnen. Diese These macht die genauere Analyse der Äquivalenz zur Kanzone und zu deren musikalisch-melodischen Bauelementen zusätzlich aufschlussreich. Für den Rückbezug der Sonettform auf die Form der Kanzone sprechen einige Gründe, die man zum Teil schon bei Wilkins aufgeführt findet:15      

die Dichtung der Sizilianer rekurriert auf unterschiedlichen Ebenen auf das Vorbild der okzitanischen Dichtung der Trobadors, nämlich hinsichtlich von Gattungen, Themen und Motiven; die Sizilianer haben außer Sonetten selbst vor allem Kanzonen geschrieben; unter den ersten Sonetten bilden einige Tenzonen und damit einen Dialog verschiedener Dichter – bei den Okzitanern waren Tenzonen solche Kanzonen, in denen der Dialog auf die einzelnen Strophen verteilt war; isolierte Kanzonenstrophen sind schon bei den Okzitanern als coblas esparsas nachgewiesen; spätere Sonderformen des Sonetts wie das sonetto doppio oder das sonetto caudato folgen ähnlichen Erweiterungsregeln, wie sie bei der Kanzone zu beobachten sind; die frühesten Poetiken verwenden zur Beschreibung der Sonettform die gleiche Terminologie wie für die der Kanzone.

Die Grundlage der Rückbeziehung des Sonetts auf die Kanzone bildet ihre Strukturäquivalenz.16 Roberto Antonelli hat über diese allgemeine Parallelität hinaus jetzt sowohl eine interne Kontinuität zwischen kombinatorischen Schemata und Techniken in der Kanzone und im Sonett des Notars als auch eine externe Kontinuität von den metrischen Verfahren Giacomos im Sonett zur Tradition der Trobadors beschrieben.17 Bevor darauf einzugehen ist, soll der Bau der Kanzonenstanze im Hinblick auf ihre konstruktive Gesetzlichkeit betrachtet werden. Diese unterscheidet sich grundsätzlich von der des Sonetts. Um diese Differenz festzuhalten, werfe ich einen Blick auf die Poetik der Kanzone und auf ihren musikalischen Kontext. Die älteste Poetik, die sich theoretisch mit dem Bau der Kanzone befasst, ist Dantes De vulgari eloquentia (ca. 1303), deren geplanter Teil über das Sonett und andere Formen mittleren Stils unvollendet blieb. Er definiert die Poesie als fictio rethorica musicaque poita, als Worterfindung gemäß der Regeln von Rhetorik und Musik (De vulg. II,4,2).18 An späterer Stelle weist er auf die mögliche Unabhängigkeit der Kanzonen, ballate und Sonette19 von der Musik hin, ——————— 15 16 17 18 19

Wilkins, S. 26f. Antonelli: Introduzione, S. XIII. Er bietet eine neue gründliche Diskussion der metrischen Fragen in: Roberto Antonelli: L’»invenzione« del sonetto. In: Cultura Neolatina 47 (1987) 19–59, hier: S. 56. Dante Alighieri: De vulgari eloquentia. Ed. and translated by Steven Botterill. Cambridge 1996; im folgenden zit.: De vulg. Dante fasst diese drei Formen an dieser Stelle unter einem weiten Begriff des cantio zusammen; er zählt also das Sonett zu den Gesangsformen bzw. cantiones in einem weiteren Sinn, von dem er aber die Kanzonenform im engeren Sinn unterscheidet. De vulg. II,8,6–7.

125 denn eine reine Melodie ohne Text werde nicht als Kanzone bezeichnet, ein schriftlich fixierter Text werde aber auch unabhängig von einer Vortragssituation Kanzone genannt (De vulg. II,8,5).20 Insofern beruhen diese Dichtungsformen nach Dante auf musikalischen Regularitäten, ohne selbst in jedem Fall Musik zu sein. Sie tragen gewissermaßen eine musikalische Spur, die bei der Bestimmung ihrer Form relevant bleibt. Dante bestimmt die Kanzone als Abfolge gleichgebauter Stanzen ohne Wiederholungsteil (responsorium) mit einheitlichem Gegenstand und im tragischen Stil (De vulg. II,8,8). Er stellt sodann Beziehungen zwischen dem Kanzonenbau und der begleitenden Melodie her: Wir sagen, daß jede Stanze zur Aufnahme einer Melodie abgestimmt ist. Dennoch sind Unterschiede zu erkennen. Manche gehen nach einer fortlaufenden Melodie bis zum Schluss, das heißt ohne die Wiederholung von Melodieteilen und ohne diesis – als diesis bezeichnen wir den Übergang von einer Melodie zur anderen (im Italienischen nennen wir 21 das volta).

Diesen ersten Typ setzt Dante an die erste Stelle und gibt ihm so einen gewissen Vorrang.22 Man kann dies als eine Stanze mit durchgespielter Melodie bezeichnen. Die negativen Bestimmungen verweisen jedoch auf die vorausgehende Bedeutung von melodischen Wiederholungen und Übergängen: Manche Stanzen gestatten aber eine diesis: und es kann keine diesis in unserem Sinn geben, ohne daß ein Melodieteil wiederholt würde, sei es vor oder nach der diesis oder beides. Steht die Wiederholung vor der diesis, hat die Stanze pedes, und zwar gewöhnlich zwei, sehr selten auch drei. Steht die Wiederholung nach der diesis, hat die Stanze versus. Steht vorher keine Wiederholung, so sagen wir, daß die Stanze eine frons hat, steht nachher 23 keine, hat sie eine sirma bzw. eine cauda.

Deutlich wird in dieser Bestimmung, inwiefern die Binnenstruktur der Kanzonenstanze ursprünglich von musikalischen Gegebenheiten bestimmt wird, nämlich von melodischen Wiederholungen und Wechseln. Dabei ergeben sich Einheiten durch die Wiederholung melodischer Phrasen, die wiederum eine Diesis als den Übergang zu einer weiteren melodischen Einheit bedingen. Zunächst ——————— 20 21

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Vgl. für diese Diskussion Winn, S. 85. »Dicimus ergo quod omnis stantia ad quandam odam recipiendam armonizata est. Sed in modis diversivicari videntur. Quia quedam sunt sub una oda continua usque ad ultimum progressive, hoc est sine iteratione modulationis cuiusquam et sine diesi – et diesim dicimus deductionem vergentem de una oda in aliam (hanc voltam vocamus, cum vulgus alloquimur) – [...].« De vulg. II,10,2. Er verweist an der gleichen Stelle darauf, dass Arnaut Daniel diesen Typ in fast allen seinen Kanzonen verwendet habe; Daniel ist der von Dante am höchsten geschätzte Kanzonendichter, den er sich selbst zum Vorbild genommen hat. »Quedam vero sunt diesim patientes: et diesis esse non potest, secundum quod eam appellamus, nisi reiteratio unius ode fiat, vel ante diesim, vel post, vel undique. Si ante diesim repetitio fiat, stantiam dicimus habere pedes; et duos habere decet, licet quandoque tres fiant, rarissime tamen. Si repetitio fiat post diesim, tunc dicimus stantiam habere versus. Si ante non fiat repetitio, stantiam dicimus habere frontem. Si post non fiat, dicimus habere sirma, sive caudam.« De vulg. II,10,3–4.

126 handelt es sich um eine einfache musikalisch-liedhafte Grundstruktur, die aus einer melodischen Phrase, ihrer Wiederholung und dem Übergang zu einer neuen Phrase besteht.24 Dieser melodischen Grundstruktur entsprechen nun die Strukturelemente der Kanzone. Man unterscheidet in italienischer Terminologie den Aufgesang ohne Wiederholung als fronte, den Melodiewechsel als volta und den Abgesang als sìrima oder sirma. Fronte oder sirma können nach Dante durch eine Wiederholung ersetzt sein: Die wiederholten Elemente anstelle der fronte nennt er pedes, die anstelle der sirma versus.25 Im Italienischen ist von piedi und volte die Rede. Betrachtet man nun im Verhältnis dazu den musikalischen Bau der Kanzonen der Trobadors, so bevorzugen diese eine Abfolge melodischer Zeilen nach einem Schema A B A B X , was der beschriebenen Struktur des Gedichts entspricht; AB repräsentiert dabei eine melodische Phrase aus zwei Teilen, die zueinander im Verhältnis von antecedens und consequens stehen und die nicht unabhängig stehen können; X ist ein frei komponierter Teil variabler Länge.26 Variationen erlauben sowohl die Erweiterung der einzelnen Phrasenelemente nach dem Schema A B C A B C X als auch die Vervielfältigung der Phrasen nach dem Schema A B A B A B X . Die Grundlage dieser recht großen Variabilität bildet demnach ein Schema, das eine Abfolge von melodischen Wiederholungen und Wechseln sowie die Wiederholungen dieser Wechsel – da es sich um Strophengebilde handelt – reglementiert. Die Anzahl und Art dieser Wiederholungen ist formal dagegen nicht festgelegt, bleibt aber dadurch recht begrenzt, da sie den Restriktionen des akustischen Gedächtnisses Rechnung tragen muss, das eine gewisse zeitliche Nähe der Wiederholungen und der Melodiewechsel verlangt: das eine garantiert die Eingängigkeit, das andere verhindert das Übermaß an Monotonie. Was man derart musikalisch erläutern kann, findet sich in den Regularitäten der Kanzonenstanze wieder. Die Reimschemata der Kanzonen weisen weitgehend die gleichen Variationsmuster auf wie die Melodieführungen, also Wiederholungen der piedi und der volte, und zwar eher zwei als drei, wie Dante schrieb. Das Grundmuster der Kanzonenstanze lautet entsprechend dem der Melodieführung A B A B X . Variationen vervielfältigen die Zahl der piedi und weisen drei oder vier piedi auf – A B A B A B X – oder sie vervielfältigen die Zahl der Verse pro piede – A A B A A B X – A B C A B C X .27 Abweichend davon ist die häufig zu findende Inversion der Reime, die zum ›verketteten‹ (das heißt umschlingenden oder Block-) Reim führende Spiegelung A B B A X , die einer Wiederholung der musikalischen Phrasen entgegensteht und die möglicherweise von durchgespielten Melodien begleitet wird.28 Nicht die Zahl ——————— 24 25 26 27 28

Vgl. Spiller, S. 4. Eine gründliche Beschreibung der Kanzonenstrophe findet man bei Elwert: Italienische Metrik, §§ 79–81, S. 105–110. Hier folge ich van der Werf, S. 63f. van der Werf, S. 60. So eine Vermutung van der Werfs: The chansons of the troubadours and trouvères, S. 64.

127 der Verse oder der Reime oder ihre Beschaffenheit gibt hier also die Regel, sondern ein potenziertes Repetitionsschema. Hendrik van der Werf weist darauf hin, dass zahlreiche Beobachtungen zum Verhältnis von Dichtung und Musik bei den Trobadors und Trouvères Parallelen aufweisen zu den westeuropäischen Volksliedtraditionen.29 Während sich die Texte der Kanzonen einer solchen Zuordnung entziehen – und darin liegt ihre entschiedene Eigenständigkeit –, scheint der Vergleich hinsichtlich der Musik angemessen zu sein. So findet sich im Volkslied ebenfalls die freie Variation von Melodien und Rhythmen zu gleichen Texten. Einzelne Sänger variieren die Melodien ihres Repertoires oft, was der Überlieferung der Kanzonen mit unterschiedlichen Melodien entspricht. Und ähnlich wie bei den Trobadors steht auch bei solchen Sängern – bis hin zu modernen Liedermachern – ihre Fähigkeit zum Vortrag von lyrics gegenüber ihren musikalischen Fähigkeiten im Vordergrund. Die Variation von Versart und Strophenformen bildet ein konstitutives Merkmal der trobadoresken Kanzonendichtung, und darin unterscheidet sie sich grundsätzlich vom späteren Sonett. Man hat die Sorgfalt, die auf komplizierte Reimtechniken verwendet wurde, als eine Art Integritätsschutz vor Veränderungen durch improvisierende Reproduktion verstanden. Dazu zählen auch die mannigfachen Techniken einer Verknüpfung der einzelnen Kanzonenstrophen durch Verkettung und geregelte Reimumstellung, wodurch ein Auslassen oder Vertauschen von Strophen unmöglich gemacht wird. Zugleich gilt der Ehrgeiz der Trobadors der Erreichung eines Höchstmaßes an Variation, was am metrischen Repertorium eindrucksvoll abzulesen ist.30 Das Repetitionsschema der Kanzonenstanze macht keine Festlegungen hinsichtlich der Länge der Verse, der Stanze oder der Kanzone insgesamt; allerdings ergeben sich Regularitäten auch hier durch Konventionen des Gesangsvortrags. Im Unterschied zur sehr viel komplexeren späteren Kanzonenform bei den Italienern, vor allem bei Petrarca, bevorzugen die Trobadors und Trouvères in wahrscheinlich 2/3 aller Kanzonen isometrische Stanzen, in denen alle Verse die gleiche Silbenzahl besitzen.31 In diesen wiederum überwiegen sieben- bzw. acht- oder zehnsilbige Verse. Die Länge der Stanzen liegt meist zwischen sieben und zehn Versen, mehr als die Hälfte davon haben acht Verse. Zugleich mit der sehr großen Variationsbreite zeigen sich also auch Präferenzen. Etwa 1000 Kanzonen in István Franks Répertoire métrique weisen ein Schema A B B A X auf, 300 davon haben A B B A C C D D .32 Kanzonenstrophe und Sonett entsprechen sich durch strukturelle Äquivalenz. Die Gliederung der Kanzonenstrophe als einer Stollenstrophe mit Auf- und ——————— 29 30

31 32

van der Werf, S. 72. Ulrich Mölk: Die provenzalische Lyrik. In: Neues Handbuch für Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus von See. Bd. 7: Europäisches Hochmittelalter, S. 19–36, hier: S. 23; István Frank: Répertoire métrique de la poésie des troubadours. 2 Bde., Paris 1953–1957. Die folgenden Angaben nach van der Werf, S. 63. Vgl. I. Frank; van der Werf, S. 60, 63; eine Auswertung bei Antonelli: L’»invenzione«, S. 52.

128 Abgesang, piedi und volte bildet die Grundlage der Gliederung des Sonetts in zwei Teile und in piedi und volte, ohne dass der musikalische Sinn dieser Gliederung noch eine Rolle spielte. Darüberhinaus gibt es umfassende intertextuelle Bezüge des Sonetts zur Kanzonendichtung in Thematik, Motivik, Sprache und Metrik. Aufgrund der zahlreichen gemeinsamen Merkmale kann die Ableitung des Sonetts von der Kanzone heute kaum noch bezweifelt werden. Fundamental sind gerade vor diesem Hintergrund aber auch die Differenzen: der Verzicht auf die musikalische Einbindung, den strophischen Charakter und auf die konstitutive Variabilität der Form. Nicht von der Kanzone ableitbar ist die strenge formale Festschreibung, die man immer schon als ein konstitutives Merkmal des Sonetts betrachtet hat.

1.3

Probleme der metrischen Ableitbarkeit des Sonetts von der Kanzonenstrophe

Was nun sind die zentralen Formbedingungen des frühen Sonetts? Im Vergleich mit der Kanzone liegt der wichtigste Unterschied in seiner formalen Fixierung.33 Diese grundlegende Differenz ist in der Vergangenheit als ein Hauptargument gegen die Abhängigkeit des Sonetts von der Kanzone angeführt worden.34 Während die Kanzone einem musikalisch inspirierten Schema von Wiederholung und Wechsel folgt, das grundsätzlich auf Erweiterbarkeit und Variabilität angelegt ist, erscheint das Sonett am Beginn als fixes isometrisches Schema aus Elfsilblern mit acht alternierend reimenden Versen A B A B A B A B und nach einem Reimwechsel sechs weiteren mit zwei oder drei alternierenden Reimen, also entweder C D C D C D oder C D E C D E , in wenigen Fällen ist noch die Form C C D C C D belegt. Die Fixierung selbst ist entscheidend.35 Während ——————— 33

34 35

Marco Santagata beschreibt die Erfindung des Sonetts als »un gesto che rivoluziona il panorama metrico di tradizione provenzale. Concentrazione vs iteratività teoricamente illimitata, direzionalità del discorso vs segmentazione parattatica, diversità delle misure strofiche vs isostrofismo rigoroso: ecco alcune delle opposizioni più frequenti segnalate fra il sonetto e la tradizione che fa perno sulla canzone trobadorica.« Marco Santagata: Dal Sonetto al Canzoniere. Ricerche sulla preistoria di un genere. Padua 1979, S. 121. Vgl. unter Verweis auf Welti, Biadene und Foresti: Wilkins, S. 29–31. Dies stellt den einfachsten und grundlegenden Einwand gegen neuere Versuche dar, angesichts der wandelbaren Gattungsgeschichte das Prinzip der Varianz geradezu zum Konstituens der Sonettform zu machen. Was immer es an Varianz gegeben hat, die Entstehung des Sonetts ist angesichts eines tatsächlich auf Variation ausgerichteten Gattungsumfelds entscheidend als ein Akt der formalen Fixierung zu begreifen; vgl. Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln 2002, S. 568ff.; zuvor bereits dies: Wortwebstühle oder: Die kombinatorische Textur des Sonetts. Thesen zu einer neuen Gattungskonzeption. In: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Hg. von Susi Kotzinger und Gabriele Rippl. Amsterdam 1994, S. 57–80; vgl. zur Variabilität als wesentlichem Strukturgesetz der Gattung der Kanzone Erich Köhler: Zur Metrik der Trobadors: »Vers« und Kanzone. In: GRLMA, Vol. II, Tome 1, Fasc. 3 (1987), S. 45–176, hier: S. 111.

129 nämlich das Gattungssystem der Provenzalen vornehmlich von ihren Themen und Situationen determiniert wurde – Kanzone als hohes Liebeslied, Sirventes als satirisches Spottgedicht, Pastorela als schäferliches Verführungsgedicht, Tenzone als dialogisches Streitgedicht – erlaubt der dominante formale Aspekt des Sonetts bald die Aufnahme sehr unterschiedlicher Themen. Die Gattungsidentität des Sonetts stellt sich als eine formale und nicht als thematische dar. Dies selbst ist bereits eine bemerkenswerte Innovation.36 Die thematische Ausweitung bildet allerdings erst einen zweiten Schritt. Die Sonette des Giacomo da Lentini zeigen zwar ein interessantes Spektrum, doch sind sie ausschließlich in einem gehobenen Stil abgefasst und ganz weitgehend dem Thema der Liebe gewidmet.37 Auch dies kann man als ein Argument für den Bezug auf die Kanzone betrachten, an die es also auch thematisch und stilistisch anschließt. Das Sonett fixiert die Form hinsichtlich des Verses, des Gedichtumfangs, der inneren Proportion und der Ordnung des Reims. Die Achsenverschiebung, die darin zum Ausdruck kommt, macht zu einem wesentlichen Teil das Verblüffende dieses poetischen Auftritts aus. Dass es jeder ›naturwüchsigen‹ intertextuellen, durch Variation und Konzentration bestimmten literarischen Entwicklung widerspricht, lässt die These einer genuinen Erfindung nahezu unausweichlich erscheinen.38 Von Beginn an ist das Sonett ein Kunst-Objekt. Im Fall der Entstehung des Sonetts liegt der eigenartige Fall vor, dass man zwar den Urheber kennt, nicht aber das Ereignis selbst.39 Wie nun stellt sich die formale Gestalt des frühen Sonetts dar? Von den Sizilianern selbst sind keinerlei Manuskripte überliefert, so dass alle Handschriften der frühesten Sonette bereits eine toskanische Rezeptionsstufe vom Ende des 13. Jahrhunderts darstellen, die sich durch deutliche sprachliche Überformungen auszeichnet. Auch die graphische Gestaltung dieser Sonette stammt somit aus dieser späteren Phase. Die Überlieferung unterliegt also bereits dem Eindruck der enormen Diversifikation der Form, die die spätere sogenannte sikulo-toskanische Lyrik und vor allem das Werk des Guittone d’Arezzo (ca. 1230–1294) auszeichnen. Verstärkt gilt dies für die frühesten poetologischen Auseinandersetzungen mit dem Sonett, die erst im 14. Jahrhundert nachweisbar sind. Als gewiss älteste Manifestation der Gattung ist damit der Text der Gedichte selbst in seiner metrischen und rhetorischen Gestalt zu sehen.40 Hingewiesen wurde bereits auf die große Homogenität der frühen Sonette, die der Diversifikation der Form vorausliegt. Sie zeichnet sich durch einheitliche Versart und Verszahl und ein festes Verhältnis der beiden Teile des Sonetts ——————— 36 37 38 39 40

Spiller, S. 2. Mit zwei Ausnahmen behandeln alle Sonette Giacomos das Thema der Liebe: vgl. Kleinhenz: The Early Italian Sonnet, S. 38. So die inzwischen wohl einhellige Auffassung: Antonelli: Introduzione, S. XIV. So Antonelli: L’»invenzione«, S. 20. Friedrich, S. 24f.; grundlegend: Gianfranco Folena u.a.: Überlieferungsgeschichte der altitalienischen Literatur. In: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. Bd. II: Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Literatur. Zürich 1964, S. 319–537, zur sizilianischen Lyrik: S. 368–392.

130 aus. Damit ist der grundsätzliche Unterschied zur provenzalischen und sizilianischen Kanzone benannt: an die Stelle eines offenen Variationsschemas musikalischer und artifizieller Natur tritt ein numerisch fixiertes isomorphes Schema, das Variation nur noch sehr eingeschränkt für das innere Reimschema der Volten zulässt, und auch dafür kennt Giacomo im wesentlichen nur zwei Varianten. Als wichtige neue Merkmale des Sonetts gegenüber der Kanzone erscheinen demnach      

die Isolierung als Einzelstanze; die Ausweitung des Umfangs der Stanze (sowohl der Vers- als der Stanzenlänge); die Isomorphie der Stanze, das heißt die Fixierung der Proportion und des Umfangs; die Isometrie der Verse, das heißt die Fixierung der Verslänge; die Wiederholung von Reimmodulen und eine Tendenz zur inneren Zweiteiligkeit in den beiden Teilen des Sonetts; eine gegenläufige Integration der beiden Sonett-Teile durch systematische rhetorische 41 Verklammerung (lexikalisch, phonetisch, semantisch).

Darin ist strukturelle Intelligenz zu erkennen, eine Mathematisierung der Stanze, die sich nach Prinzipien der Vereinheitlichung auf dem Wege von Reduktion und Multiplikation richtet. Zugleich beschreiben die Merkmale eine Geometrisierung, denn sie betreffen ganz wesentlich die graphische Gestaltung des Gedichts. Nicht zuletzt beschreiben sie einen Vorgang der Literarisierung: Während die innere Dualität der beiden Teile des Sonetts noch als graphische Entsprechung der melodischen Wiederholung gelten kann, sind Isolierung, Isometrie und Isomorphie Merkmale, die für einen rezitativen und auditiven Medienkontext dysfunktional sind. Graphisch allerdings sind diese Merkmale von hoher Signifikanz. Eine gesonderte Beachtung verdient die Verklammerung der beiden Teile des Sonetts. Der Vergleich mit dem Kanzonenschema hat gezeigt, dass die Aufteilung in piedi und volte das Erbe einer musikalischen Vergangenheit ist, die im Sonett ihre alte Funktion im Grunde eingebüßt hat. Gebunden war dieses musikalische Erbe an den melodischen Wechsel und an die Wiederholung von Melodieteilen. Die Isolation der Sonettstrophe eliminiert nun allerdings diese Wiederholung und bringt damit das wesentliche Moment der Integration der beiden Stanzenteile zum Verschwinden: bei einer einzigen Strophe fallen die beiden ursprünglich durch ihre Wiederholung in der Strophenfolge verknüpften Teile auseinander und bleiben unverbunden. Darauf antwortet beim Sonett ein formales Prinzip, das nicht in sein Regelwerk eingegangen ist, das aber seit den frühesten Sonetten nachweisbar ist und das gleichsam strukturell erzwungen ist: die Verklammerung der beiden Teile durch verbale, phonetische und auch durch semantische Mittel, die die Einheit der Stanze nochmals eigens zum Ausdruck bringen. Das metrische Regelwerk leistet dies von sich aus nicht, da es den ——————— 41

Dies hat Aldo Menichetti in seiner Studie gezeigt und als konstitutives Merkmal gegenüber der ›zentrifugalen‹ Kraft, die die beiden Teile im Sonett trennt, hervorgehoben: »Fra ottava e sestina esiste sempre un collegamento lessicale significativo.« A. Menichetti: Implicazioni retoriche nell’invenzione del sonetto. In: Strumenti critici 11:1 (1975) 1–30, S. 28.

131 Reimwechsel vorsieht, doch erfüllt bereits die Durchreimung von Oktett und Sextett die Tendenz zur Verklammerung der beiden Teile. Diese Verklammerung ist in einer Reihe von Arbeiten zur frühen Sonettkunst inzwischen systematisch aufgezeigt worden, und man kann sie im Laufe der Gattungsgeschichte immer wieder vorfinden. Kleinhenz hat statistisch nachzuweisen versucht, dass die Verklammerung der beiden Teile des Sonetts von Giacomo da Lentini zu Petrarca signifikant abnimmt, was er auf die schwindende Bedeutung der ursprünglichen Konkurrenz mit der Kanzone zurückführt, mithin also auf die Festigung des Gattungskonzepts des Sonetts selbst.42 Man kann die unterschiedlichen Verfahren der Verknüpfung von Oktett und Sextett geradezu als »Sonettklammer« bezeichnen. Die Isomorphie des Sonetts im Gegensatz zur Kanzone ist der entscheidende erklärungsbedürftige Sachverhalt. Er ist auch dadurch nicht hinreichend motivierbar, dass man von der zufälligen Iteration einer bestimmten Stanzenform beispielsweise in einer Tenzone ausgeht. Dass Sonette in Tenzonen die Rolle der Stanzen erfüllen, hat immerhin zu entsprechenden Spekulationen eingeladen: Man könne die Tenzone zwischen dem Abate di Tivoli und Giacomo da Lentini, von der unten noch die Rede sein wird, im Grunde als eine Kanzone aus fünf Stanzen zu betrachten, schreibt etwa Roberto Antonelli, und Cristina Montagnani diskutiert den Sachverhalt als ein mögliches Entstehungsszenario des Sonetts.43 Da die Form der Tenzone qua Kanzone zu einer Fortschreibung von Reimschemata anregt, kann man darin tatsächlich eine Anregung zu deren Fixierung sehen. Die erwähnte Tenzone Giacomos generiert durch die Fortschreibung bereits fünf isomorphe Exemplare der Strophenform des Sonetts. Dennoch erläutert dies nicht, warum ein solches Schema auch außerhalb einer bestimmten Tenzone wieder aufgegriffen werden sollte, warum es also zum Gattungsmuster einer neuen Einzelstanze wurde. Letzteres stellt vielmehr eine besondere Auszeichnung eines solchen Strophenschemas dar und bleibt besonders zu motivieren. Ein wichtiges Argument gegen die Ableitung des Sonetts von der Kanzone bestand in dem Hinweis, dass das Sonett keiner bekannten Kanzonenstanze entspreche.44 Roberto Antonelli ist dem metrischen Zusammenhang von Sonett und Kanzone in einer detaillierten Studie nachgegangen, die in ihrer Präzision ——————— 42

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Kleinheinz: The Early Italian Sonnet, S. 75; Hinweise zur Verklammerung der beiden Sonett-Teile außer in der genannten Arbeit von Menichetti auch bei Santagata, S. 57–113, und bei Antonelli: L’»invenzione«, S. 55 (Giacomo da Lentini). Antonelli: Introduzione, S. XIII–XIV; vgl. auch die Überlegung von Leo Spitzer und nochmals von Kleinhenz, man könne Giacomos Sonette als große Kanzone aus SonettStanzen oder als Sonett-corona begreifen: L. Spitzer: Una questione di punteggiatura in un sonetto di Giacomo da Lentino (e un piccolo contributo alla storia del sonetto). In: Cultura Neolatina 18 (1958) 61–70, hier: S. 65; C. Kleinhenz: Giacomo da Lentini and the Advent of the Sonnet: Divergent Patterns in Early Italian Poetry. In: Forum Italicum 10 (1976) 218–232, hier: S. 230; auch: Santagata, S. 117; sowie Cristina Montagnani: Appunti sull’origine del sonetto. In: Rivista di letteratura italiana 4 (1986) 9–64, bes. S. 60–63. Wilkins, S. 29f.

132 erstmals wieder das Niveau der Diskussion von Wilkins erreicht hat. Dabei macht er eine Reihe von grundsätzlichen Beobachtungen, ohne allerdings alle Widersprüche ausräumen zu können. Auch er gelangt insgesamt nicht über mehr oder weniger gut abgestützte Hypothesen und Vermutungen hinaus. Antonelli spricht von einer ›externen Kontinuität‹ der metrischen Verfahren des Notars hinsichtlich derer der Trobadors, und er stellt dabei fest, dass sich Giacomo in einer großen Nähe zur formalen Technik vor allem zeitgenössischer provenzalischer Dichter oder solcher, die unmittelbar vor ihm selbst schrieben, bewegt, deren Verfahren er geradezu kopiere.45 Als ›interne Kontinuität‹ bezeichnet er das Verhältnis der poetischen Verfahren der Kanzonen und Sonette des Notars selbst, die ebenfalls deutliche Parallelen aufweisen (56). Die wichtigsten Merkmale bilden eine allgemeine Tendenz zur Verlängerung der Stanzen im Vergleich zu den Trobadors und eine Neigung zur Ausbildung von inneren Symmetrien und zur Kombinatorik von Reimschemata und Silbenformeln. Die Vergrößerung des ›Raums‹ der Stanzen durch Ausweitung mittels der Verwendung längerer Verse und durch Verlängerung der Stanzen insgesamt kann dabei ganz pragmatische Gründe haben, die sich aus der Isolierung von Einzelstanzen ergeben: die einzelne Stanze benötigt mehr Raum, um eine gewisse Komplexität fassen zu können. Dies wiederum kann man im Zusammenhang mit ihrer dialogischen Verwendung und ihrer inneren dialektischen Bewegung sehen, die man in den Sonetten und Tenzonen des Notars beobachtet hat (46). Die Tendenz zur äußeren Ausweitung der Stanze erscheint demnach im Zusammenhang mit dem verstärkt disputatorisch-gelehrten Duktus im Inneren als zwar sehr allgemeine, aber gut nachvollziehbare historisch-poetische Begründung jener Entwicklung, die zum Sonett hinführt (54). Das Fehlen von konkreten Vorbildern für das Sonett unter den Kanzonen der Trobadors ist für Antonelli kein gültiges Argument gegen dessen Ableitung von diesen, da Giacomo in die Schemata seiner Vorlagen mit kombinatorischer Phantasie eingriff. Er vergleicht deshalb nicht die vollständigen Kanzonenschemata, er isoliert vielmehr einzelne Reimmodule, die sich beim Notar auf eine überschaubare Anzahl reduzieren lassen. In den Kanzonen sind dies mit wenigen Ausnahmen sechs einfache oder wiederholte Module: A A – A A B – A B A – A B A C – A B B A – A B C – A B C D ( 5 8 ) . Die kombinatorische Analyse von Sonetten und Kanzonen führt gleichwohl nicht zu einer eindeutigen Antwort auf die Frage, wie man sich die metrische Genese des Sonetts auf dieser Basis definitiv vorzustellen habe. Alle Sonette Giacomos haben zweireimige alternierende piedi A B A B A B A B . Die Volten vollziehen analog zur Kanzone einen Reimwechsel und sind in neun Fällen ebenfalls zweireimig alternierend C D C D C D . Vierzehn Sonette sind dreireimig alternierend C D E C D E . Die beiden Ausnahmen betreffen Reimübernahmen aus den piedi, die man bei Kanzonen als chiave oder ——————— 45

Genannt werden beispielsweise Jacopo Mostacci, Perdigon und Lanfranco Cigala; Antonelli: L’»invenzione«, S. 45.

133 concatenazione bezeichnet,46 und können von diesen beiden Varianten abgeleitet werden. Im einen Fall nimmt die dreireimige volta den ersten Reim der piedi auf: A C D A C D ; im zweiten Fall werden die Reime der piedi fortgeführt, es gibt also keinen Reimwechsel und es entsteht ein zweigeteiltes Sextett mit Paarreimen: A A B A A B . Es handelt sich um das Sonett Eo viso – e son diviso – da lo viso, das in den ersten beiden piedi und der ersten volta mit je vierfachen reichen Binnenreimen auf viso und im weiteren mit zwei- und dreireimigen arbeitet und dessen Reimschema dieser seiner experimentellen Textur geschuldet ist: a a A a B a a A a B a a A B a A B a a A b A B a A A B .47 Deutet man dieses Sonett als lautliches Experiment mit weitgehenden Reimübernahmen und Binnenreimen, so kann man den Sextettreim ableiten, ohne ein drittes Reimschema für Giacomos Sonette annehmen zu müssen, wenn man bei der dreireimigen Form C D E C D E C = D = A und E = B setzt. Derartige Verfahren der Reimübernahme in die volte finden sich bei den Sizilianern in insgesamt fünf Sonetten, und zwar die dreireimige Form A B A B A B A B C D E C D E mit einer Reimübernahme in den Varianten C = A bei Giacomo da Lentini, C = B bei Rinaldo d’Aquini, E = B bei Pier della Vigna, D = A bei Jacopo Mostacci und schließlich die diskutierte Form von Eo viso – e son diviso. Bestimmt man also die Reimübernahme als ein ursprüngliches Sonettmerkmal, so lassen sich die frühen Reimschemata auf zwei Varianten reduzieren, C D C D C D und C D E C D E .48 Was die Ausweitung der Verse betrifft, so ist die Verwendung isometrischer Stanzen bei den Trobadors durchaus sehr verbreitet, etwa die aus acht Zehnsilblern bei den unmittelbaren Vorläufern des Notars, nicht jedoch eine aus endecasillabi. Die ausschließliche Verwendung von endecasillabi führt zu ungewöhnlich langen Perioden und auch die Gesamtzahl der vierzehn Verse liegt am oberen Ende der üblichen Länge von Kanzonenstanzen. So bevorzugen die Provenzalen in coblas Strophen mit einer Länge zwischen sechs und zehn Versen, während die Sizilianer auch hier bereits häufig längere Versarten zwischen elf und vierzehn Silben gebrauchen.49 Eine Tendenz zum zweigeteilten Bau von piedi und volte zeichnet auch die Kanzonen des Giacomo da Lentini aus, so beispielsweise a b a b C d b d b C / ——————— 46 47 48

49

Elwert: Italienische Metrik, § 79.5, S. 106. Die tiefgestellten Kleinbuchstaben bezeichnen die Binnenreime; zum Reimschema dieses Sonetts auch Antonelli: L’»invenzione«, S. 56. Eine Liste aller sizilianischen Sonette mit Angaben zu den Manuskripten, Autoren und Reimschemata findet sich bei Langley, S. 492–496, die hier zugrundegelegte Auszählung der Reimschemata auf S. 517–519. Die Auszählung von Istvàn Frank zeigt, dass in Kanzonen der Trobadors Stanzen von sieben oder acht Versen am beliebtesten waren, wobei der Variationsspielraum wie grundsätzlich bei der Kanzone sehr groß war; bei den Sizilianern dagegen finden sich gegenüber etwa 47 Kanzonen mit einer Strophenlänge zwischen sieben und zehn Versen ca. 53 mit einer Länge zwischen elf und 14 Versen, wobei die mit 14 Versen häufig sind, beispielsweise in zwei Exemplaren des Notars (bei allen Sizilianern finden sich insgesamt 14 Exemplare); Antonelli: L’»invenzione«, S. 53.

134 e e f f G h h i i G 50 (Madonna, dir vo voglio) oder a a b c c b / d e d e F g h g h F (Guiderdone aspetto avere).51 Oft ist dabei die sirma länger als die piedi. Eine Canzonetta aus isometrischen Siebensilblern reimt a b c a b c / d d c (Meravigliosamente); eine andere mit variablen chiavi a b a b / x x y z z y 52 (Dolce coninzamento). Eine Kanzone aus isometrischen Elfsilblern mit coblas unissonans nach provenzalischer Manier hat das Schema A a B A a B / b C C D D (Ben m’è venuto prima cordoglienza). Man kann sehen, dass der Weg zum Sonett hier tatsächlich weniger weit ist, als Wilkins glauben machen wollte. Alle Elemente des Sonetts liegen vor, allerdings ist keine dieser Stanzen so umfangreich und zugleich so kompakt wie das Sonett. Was das Reimschema des Oktetts angeht, so muss die Frage offen bleiben, ob man die alternierende Versfolge A B A B A B A B beim Sonett als zwei- oder viergeteilte lesen will. Peter Weinmann hat in einer empirisch weit ausgreifenden Arbeit gezeigt, dass es bis zum Ende des 14. Jahrhunderts weder in Poetiken, noch gemäß der Metrik, Graphie, Rhetorik oder anderer objektivierbarer Merkmale Hinweise auf eine Zweiteilung der piedi im Sinn von Quartetten gibt, und dass vielmehr durchweg vier piedi markiert werden.53 Da sich diese Argumentation nicht auf Dokumente der Sizilianer selbst beziehen kann, ist auch sie nicht im letzten zwingend, wenn auch ihre Zurückweisung der romantischen Rückprojektion einer grundsätzlich zweigeteilten Sonettoktave wichtig ist. Für Antonelli liefert umgekehrt der Vergleich mit Beispielen der Trobadors Hinweise auf eine Zweiteilung der Oktave, allerdings ist auch diese Argumentation nicht zwingend. Grundsätzlich sind bei den Trobadors piedi A B A B und A B B A verbreitet und es finden sich auch achtversige piedi A B A B A B A B . Antonelli hält die Interpretation des Oktetts im Sinne zweier Module A B A B im Blick auf die metrische Tradition der Trobadors und die zugrundeliegende Tendenz zur Verlängerung der Stanze für naheliegend und gelangt so zur Annahme einer Vierteilung der frühesten Sonette nach dem Muster [(2+2)+(2+2)] + [3+3].54 Dagegen steht inzwischen allerdings die Analyse Weinmanns, die auf der Basis der Sonett-Tradition des 13. und 14. Jahrhunderts das Vorherrschen einer Sechsteilung des Sonetts nach dem Muster (2+2+2+2) + (3+3) aufzeigen konnte. Schwieriger ist zweifellos die Interpretation des Sextetts, da hier verschiedene Varianten vorliegen, für die nicht einmal die Priorität eindeutig geklärt werden kann. Hinsichtlich des Vorrangs der beiden fundamentalen Reimschemata der Volten findet sich bereits bei Wilkins eine ausführliche Diskussion. Mit rein quantitativen Argumenten – 56% C D E C D E ; 36% C D C D C D – lässt sich eine ——————— 50

51 52 53 54

Großbuchstaben bezeichnen Elfsilbler, Kleinbuchstaben in der Regel Siebensilbler, tiefgestellte Kleinbuchstaben bezeichnen Binnenreime (in der Ausgabe von Contini stehen diese in Klammern). Die Beispiele finden sich mit Analyse in: Poeti del Duecento. Hg. von Gianfranco Contini. 2 Bde., Mailand 1960, S. 51–54, 58–60. Stanze 1 hat die sirma: C C B D D B ; 2: C C B C C B ; 3: A A C D D C ; 4: B B A B B A . Weinmann, S. 19 und passim. Antonelli: L’»invenzione«, S. 47–51.

135 Entscheidung nicht treffen. Auch Wilkins konstatiert lediglich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Ursprünglichkeit der dreireimigen Variante C D E C D E . 55 Eine große Rolle spielen bei seiner Argumentation ästhetische Erwägungen, deren Beweiskraft eingeschränkt bleiben muss. Im Hintergrund steht auch hier außerdem stets die romantische Privilegierung dieser Form seit August Wilhelm Schlegel. In unvoreingenommener Sicht könnte die zweireimige Variante als die einfachere erscheinen, wenn man sie nicht als zweigeteiltes sondern als dreigeteiltes Sextett interpretierte, wie es etwa Wilkins diskutiert. Für ihn besteht die Alternative zwischen einem dreigeteilten Sextett C D C D C D und einem zweigeteilten C D E C D E . Da nun sowohl die frühen Handschriften als auch die ersten Poetiken von einer Zweiteilung des Sextetts ausgehen und für eine Dreiteilung keine Hinweise existieren, schlägt das Pendel nach Wilkins zugunsten des dreireimigen zweigeteilten Sextetts C D E C D E aus.56 Aufgrund der inneren Dualität seiner Teile kann das Sonett dieses Typs wie die Verdoppelung einer einfachen Stanze A B A B C D E wirken. Im Blick auf die Verlängerung der Kanzonensirma bevorzugt Antonelli nach ausführlicher Diskussion eine solche Perspektive.57 Für die Reimmodule A B C (bzw. C D E ) und A A B kann er vielfältige Beziehungen zur Trobadortradition nachweisen. Problematisch ist allerdings die Zuordnung des zweireimig alternierenden Schemas C D C D C D , da es sich nicht in zwei identische Teile auflösen lässt und deshalb nicht nach dem gleichen Verfahren beschreibbar ist. Eine Dreiteilung C D C D C D , die Wilkins und andere sehen wollen,58 erschwert die präzise metrische Ableitung von der Kanzonentradition, um die sich Antonelli bemüht, und erscheint ihm deshalb sehr viel weniger ökonomisch.59 Eine Zweiteilung C D C D C D ist asymmetrisch und von anderer struktureller Komplexität, als die anderen Varianten.60 Es hat eine gewisse Plausibilität, das Schema als Ergebnis einer Überlagerung zweier Strukturen zu betrachten: von zweireimiger ——————— 55 56 57

58

59 60

Wilkins, S. 21–25; er geht noch von einem Verhältnis von 13 : 6, das heißt von 68 % C D E C D E und 32 % C D C D C D aus. Wilkins, S. 22. Antonelli erwägt zunächst die alternative Variante der Anfügung einer tornada-artigen Ergänzung der sirma nach dem Muster A B A B A B A B A A B + A A B , für das er ein Beispiel von Lanfranco Cigala anführt. Er hält schließlich eine Überlagerung oder einen Einfluß dieses tornada-Schemas auf das der Verdoppelung von piedi und volte für nicht ausschließbar; Antonelli: L’»invenzione«, S. 55. Vgl. vor allem den folgenden Abschnitt; die Verfechter einer numerologischen Analyse bevorzugen die zweireimige Form als ursprüngliche, so Simeon K. Heninger Jr. und Wilhelm Pötters. Antonelli: L’»invenzione«, S. 55. So weist Antonelli darauf hin, dass eine zunächst zu erwartende Verdoppelung des Moduls c d c zu C D C C D C eine Asymmetrie der C -Reime gegenüber den D -Reimen bewirken würde, der man nur durch Reiminversion im zweiten Terzett begegnen könne: C D C D C D . Dieses Argument müsste dann allerdings auch für die Form C C D C C D gelten. Außerdem kommt eine Inversion von Reimen sonst in den Sonetten dieser Zeit nicht vor, wie die unten formulierte Sonettregel zeigt.

136 Alternation C D C D C D einerseits und Zweiteilung der sirma bei festliegendem Umfang C D C D C D andererseits. Ob die Zweiteilung der sirma ursprünglich ist oder Ergebnis einer graphischen oder metrischen Überlagerung, die möglicherweise historisch später hinzugetreten ist, lässt sich aus heutiger Sicht nicht entscheiden. Insgesamt hängt diese Diskussion von derart komplexen Vorannahmen ab, dass man auf diesem Weg kaum zu sicheren Aussagen über die präzise Genese der Reimschemata gelangt.

1.4

Die Rekonstruktion einer kombinatorischen Sonettregel

Die Schwierigkeiten einer präzisen Ableitung des Sonetts von überlieferten Kanzonenschemata, die sehr stark auf den Faktor der Tradition setzt, ermuntert zu einem Experiment: dem Versuch nämlich, die herausgearbeiteten formalen Bedingungen auf möglichst konzise Weise in einer Regel zusammenzufassen. Dies kann deutlich machen, wie hoch die formale Komplexität dieser ersten Sonettform tatsächlich ist. Trotz einer reichhaltigen Diskussion dieses Themas ist dies bislang nicht mit Entschiedenheit versucht worden. Die Analyse Antonellis lässt die überlieferten Reimschemata sehr heterogen erscheinen. Gleichwohl kann man zeigen, dass diese vollständig mittels einfacher Wiederholungsregeln beschreibbar sind. Eine solche Beschreibung lässt die wesentlichen Merkmale der frühen Sonettmetrik in ihrem unterschiedlichen Gewicht hervortreten. Dazu ist lediglich dreierlei erforderlich: die Festlegung eines kombinatorischen Tableaus, zwei Elemente und eine Regel. Für alle zu erklärenden Sonette gilt das Gesetz des Isomorphie, durch das das Tableau festgelegt wird: ein Sonett besteht aus acht plus sechs Versen in zwei Reimblöcken. Es kommen zwei Reimmodule zur Anwendung, die nach einer einzigen Regel kombiniert werden: 61

TABLEAU:

zwei im Reim unterscheidbare Versblöcke aus endecasillabi zu acht und sechs Versen;

ELEMENTE:

zwei Reimmodule:

REGEL:

Die beiden Versblöcke des Tableaus werden jeweils durch die Wiederholung eines der Reimmodule gebildet.

(I) (II)

AB ABC;

Aus der Regel folgt, dass für den Block aus acht Versen nur Modul I verwendet werden kann, da acht nicht durch drei teilbar ist; also gibt es genau eine Lösung: A B A B A B A B . Für das Sextett können beide Module verwendet werden; es ergeben sich zwei Lösungen: C D C D C D ; C D E C D E . Die Durchreimung im Sextett (A C D A C D ; A A B A A B ) ist zulässig, Permutationen der Art A B B A oder C D E E D C sind dagegen ausgeschlossen. ——————— 61

Dass der Abgesang nicht die Struktur des Aufgesangs wiederholen darf, ist bereits eine Regel der provenzalischen Kanzone; Mölk: Die provenzalische Lyrik, S. 24.

137 Diese Regel führt exakt zu den Reimschemata der Sonette der Sizilianer. Bemerkenswert ist die Erklärbarkeit der Reimschemata beider Teile des Sonetts durch eine einzige Regel. Abweichende Schemata in der Oktave beispielsweise erforderten die Einführung von Vierermodulen, da acht das Produkt von 2 × 2 × 2 ist: also a b b b , a b b a , a b a c , a b c d oder ähnliches von sehr viel höherer Komplexität, wie sie die Sizilianer in ihren Kanzonen durchaus häufig verwenden. Vierermodule allerdings hätten keinerlei Ort im Sextett aus 2 u 3 Versen. Bei den verwendeten Modulen fällt auf, dass sie im Inneren keinen kombinatorischen Verfahren folgen, denn dazu fehlen die Module a b b und alle Formen der Permutation (b a , a b a , b a c , usw.). Es finden sich vielmehr nahezu ausschließlich die alternierenden Formen a b und a b c . Demgegenüber fällt die Form a a b heraus, die Antonelli für eine grundlegende hält.62 Oben wurde bereits gezeigt, inwiefern sie von der dreireimigen Form a b c bzw. c d e ableitbar ist. Die Verwendung dieses Moduls kann im übrigen als ein zwingendes Resultat des dort durchgeführten Experiments erscheinen, ein durchgereimtes Sonett mit lediglich zwei Reimen zu verfassen: dazu kommt Modul I (a b ) nicht in Frage, da es nicht mehr von den piedi unterscheidbar wäre (A B A B A B A B A B A B A B ). Diese Beschreibung ist lehrreich. Sie zeigt, dass die Reimschemata als sehr viel weniger heterogen angesehen werden können, als dies die Forschung bislang nahelegt. Vor allem ist die Einfachheit und Eleganz verblüffend, mit der sich das metrische Formenspektrum des gesamten frühen Sonettkorpus aus wenigen Prämissen rekonstruieren lässt, die zudem allein auf die Grundzahlen Zwei und Drei zurückführbar sind. Angesichts der Tatsache, dass die alternativen Erklärungen keineswegs weniger hypothetisch sind, dafür aber von sehr viel komplexeren Voraussetzungen ausgehen, erscheint die Formulierbarkeit dieser Regel als ein starkes Argument. Sie weist auf die vorrangige Bedeutung der Isomorphie bzw. des Sonett-Tableaus aus acht und sechs Versen hin. Daraus folgt die nachrangige Bedeutung der Fragen der inneren Gliederung in couplets oder Quartette bzw. in couplets oder Terzette, die die Forschung über Jahrzehnte beschäftigt haben. Vielmehr ergeben sich aus dem Einsetzen der Module jeweils Gliederungen, die nicht starr sind. Auch die Fragen nach der Ursprünglichkeit der einzelnen Schemata – A B A B A B A B C D C D C D oder A B A B A B A B C D E C D E – treten zurück. Die Vorrangigkeit des Tableaus gegenüber den Modulen – der Isometrie und Isomorphie gegenüber der Variabilität von piedi und volte – stellt ferner die entscheidende Abweichung vom Kanzonenschema dar. All dies gibt dem Aspekt der Konstruktion ein deutliches Gewicht gegenüber dem der Tradition. ——————— 62

Antonelli hält das Sextettschema C C D C C D neben C D E C D E wegen seiner modularen Ableitbarkeit von trobadoresken Modellen für mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich, weniger dagegen C D C D C D : Antonelli: L’»invenzione«, S. 59. Mein Vorschlag deckt sich demnach besser mit den quantitativen Verteilungen der Schemata in den überlieferten Sonetten.

138 Eine Lösung der Ursprungsfragen rückt mit dieser systematisierenden metrischen Analyse näher. Die Frage verschiebt sich tendenziell von der metrikhistorischen Ableitung zur numerischen Konstruktion. Erklärungsbedürftig ist weniger das Reimschema oder die innere Gliederung der beiden Sonett-Teile, da sich beides befriedigend mittels Wiederholungsregeln ableiten lässt. Erklärungsbedürftig ist vielmehr die entscheidende numerische Ordnung des Sonetts in einer Einzelstanze aus acht plus sechs endecasillabi sowie die auffällige metrische Sparsamkeit. Dazu ist den metrikhistorischen Diskussionen aber nichts mehr zu entnehmen.

1.5

Die Numerologie des sizilianischen Sonetts

Die Isomorphie des Sonetts lässt sich mittels metrisch-kombinatorischer Ableitung von der Kanzonenstanze nicht motivieren, auch in dieser Hinsicht lässt die Untersuchung von Antonelli wichtige Fragen offen. Außermetrische Motive möchte er zwar ausdrücklich nicht ausschließen, doch fordert er dafür präzise kulturgeschichtliche Ableitungen und demonstrierbare Verbindungen mit der Geschichte der Metrik.63 Eine solche Forderung ist berechtigt und gleichzeitig nicht leicht einzulösen. Ob sie eine hinreichende Begründung dafür darstellt, solche außermetrischen Erwägungen gar nicht erst in Betracht zu ziehen, erscheint angesichts der ebenfalls hypothetischen Natur der metrisch-kombinatorischen Ableitungen zumindest fraglich. Antonellis Auseinandersetzung mit dem Vorschlag von Pötters jedenfalls ist von pauschaler Zurückweisung gekennzeichnet und lässt sich auf dessen Argument in keiner Weise ein 64 Allegoresen der Form sind immer wieder vorgenommen worden, um der spezifischen Gestalt des Sonetts einen Sinn zu unterlegen. Neben seiner metrischen Ableitung von historisch früheren Formen, wie sie bisher besprochen wurden, bleiben nicht viele Möglichkeiten einer solchen Motivierung. Wo sie sich auf die Form selbst richtet, ist sie auf die Ausdeutung rein formaler Proportionen verwiesen, mithin auf eine Numerologie des Sonetts. Eine solche hat allerdings eine implizite Tendenz, im Sinne vermeintlich überzeitlicher Gattungsregeln aufgefasst zu werden. Diese Implikation ist jedoch nicht zwingend. Eine Numerologie lässt sich durchaus auch als historische verstehen, also etwa als das entscheidende Movens bei der ›Erfindung‹ des Sonetts. Damit würde die Numerologie einen bestimmten historischen Topos der Form abgeben, sie könnte in anderen geschichtlichen Zusammenhängen durchaus vergessen oder als irrelevant betrachtet werden. Der erfolgreichste numerologische Allegoretiker des Sonetts war zweifellos August Wilhelm Schlegel. Seine Ausdeutung der Form war von epochaler Durchschlagskraft. Das Grundelement seiner Deutung bildete allerdings nicht ——————— 63 64

Antonelli: L’»invenzione«, S. 59. Antonelli: L’»invenzione«, S. 19 Anm. 1.

139 die Zahl, sondern das antagonistische Prinzip von Verbindung und Trennung, das er auf die Reimordnung des Sonetts projizierte. Aus diesem Antagonismus leitete er die numerischen Verhältnisse ab. Er betonte das Zahlenverhältnis der Verse von 4 : 3 zwischen Oktett und Sextett des Sonetts, indem er es auf die geometrischen Figuren des Quadrats und des Dreiecks bezog. Die entscheidende Wirkung seiner Interpretation war die Privilegierung einer ganz bestimmten Sonettgestalt – eine Forcierung der Isomorphie gewissermaßen – und ihre überzeitliche Festschreibung. Schlegels Zugriff verstand sich selbst als eine Rekonstruktion der klassischen Gestalt des Petrarca-Sonetts. Sie erhob keinen Anspruch auf eine Erklärung der ursprünglichen Herkunft des Sonetts. Die elaborierteste und zugleich riskanteste Numerologie des Sonetts hat vor einiger Zeit Wilhelm Pötters vorgelegt, indem er das Sonett als die metrische Umsetzung der Quadratur der Kreises deutete.65 Sein Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Ableitung des Sonetts von der Kanzone die Rigidität seiner Struktur nicht zu erklären vermöge und dass dem Aspekt der willkürlichen Kreation größere Bedeutung beigemessen werden müsse. Hier kann darauf verwiesen werden, dass der Hof Friedrichs II. ein intellektuelles und künstlerisches Zentrum ersten Ranges darstellte und dass der Kaiser persönlich gerade für Fragen der Astrologie und der Mathematik größtes Interesse bekundete. Er hielt am Hof zwei prominente Astrologen und war bekannt mit Leonardo Fibonacci aus Pisa, dem führenden Mathematiker seiner Zeit, der sich selbst mit außergewöhnlichem Erfolg um die Berechnung der Kreiszahl S bemühte.66 Außer Zweifel steht darüberhinaus die grundsätzliche Bedeutung numerischer Ordnung für die mittelalterliche Ästhetik gerade im 13. und 14. Jahrhundert.67 Um seine Theorie zu entfalten, legt sich Pötters auf eine bestimmte Ursprungsgestalt des Sonetts fest, was bereits eine starke und ungedeckte Hypothese darstellt, die den bisherigen Befunden durchaus widerspricht. Pötters macht diese Ursprungsgestalt an der Graphie fest. In dieser Argumentation ist ——————— 65

66

67

Wilhelm Pötters: La natura e l’origine del sonetto: Una nuova teoria. In: Miscellanea di studi in onore Vittore Branca. Bd. 1: Dal Medioevo al Petrarca. Florenz 1983, S. 71–78; erweitert als: Wilhelm Pötters: Nascita del sonetto. Metrica e matematica al tempo di Federico II. Ravenna 1998; die Bedeutung des Ansatzes unterstreicht Warkentin, S. 662; zustimmend auch: Simeon K. Heninger jr.: The Origin of the Sonnet. ›Form as Optimism‹. In: Ders: The Subtext of Form in the English Renaissance: Proportion Poetical. University Park, Penn. 1994, S. 69–118, hier: S. 79 Anm. 22; spöttisch äußert sich dagegen – ohne zu argumentieren – Pierre Blanc: Sonnet des origines, origine du sonnet: Giacomo da Lentini. In: Le Sonnet à la Renaissance des origines au XVIIe siècle. Hg. von Yvonne Bellenger. Paris 1988, S. 9–18, hier: S. 11 Anm. 3. Heninger, S. 70; für Leonardo Pisanos Bemühungen um die Kreisquadratur: Johannes Tropfke: Geschichte der Elementarmathematik in systematischer Darstellung mit besonderer Berücksichtigung der Fachwörter. Bd. 4: Ebene Geometrie. Berlin 31940, S. 279; unter Bezug auf Friedrich II: Rashed Roshdi: Fibonacci e la matematica araba. In: Federico II e le scienze. Hg. Toubert/Bagliani 1994, S. 324–337; Paolo Bussotti: Fibonacci und sein ›Liber quadratorum‹. In: Kaiser Friedrich II. (1194–1250). Welt und Kultur des Mittelmeerraums. Mainz 2008, S. 234–249. Pötters: La natura e l’origine del sonetto, S. 74.

140 ihm Simeon K. Heninger jr. gefolgt. Sonette wurden in den frühen Handschriften bekanntlich in Langzeilen aus je mindestens zwei endecasillabi geschrieben – die bereits genannten Reproduktionen geben dafür die Beispiele. So erhielt im Oktett jeweils ein piede eine Zeile. Für die Volten sind mehrere Graphien überliefert. In den ältesten Handschriften erhielt jede volta zwei Zeilen, indem der dritte Vers eine neue Zeile bildete.68 Die Graphie repräsentiert also eine Zweiteilung der volte (Typ I): 5. 6. 7. 8.

xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxE~ xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxE~.

xxxxxxxxxD~ xxxxxxxxxD~

Gleiches gilt für eine zweite Variante, die die Halbzeile voranstellt (Typ II): 5. 6. 7. 8.

xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxD~ xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxD~

xxxxxxxxxE~ xxxxxxxxxE~.

Diese Graphie bleibt unabhängig vom Metrum, obwohl sie – wie hier zu erkennen – analog zum dreireimigen Sextett gegliedert ist. Eine dritte Variante schiebt die Zeilen des Sextetts jeweils zu Doppelversen zusammen und hat demnach nur drei Zeilen (Typ III): 5. 6. 7.

xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxE~ xxxxxxxxxD~

xxxxxxxxxD~ xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxE~.

Diese Art zu schreiben bildet nun offensichtlich die metrische Struktur des dreireimigen Sextetts nicht mehr ab, sondern führt zu einer Gegenläufigkeit von Graphie und Metrik, die man tatsächlich in den Handschriften beobachten kann. Weinmann hat deshalb und aus anderen Gründen ausdrücklich davor gewarnt, graphische und metrische Strukturen in eins zu setzen.69 Pötters allerdings schließt unmittelbar von der Graphie auf die Metrik, indem er unterstellt, dass ——————— 68

69

Vgl. z.B. den Codex »L«: ms. Laurenziano Rediano 9, Biblioteca Laurenziana, Florenz; Beschreibung des Codex und Reproduktion von Beispielseiten in Folena: Cultura e poesia dei Siciliani, S. 304/305, 339f.; Weinmann, S. 72–74, Analyse der Sonettgraphie S. 44; und Lino Leonardi: Nota al testo. In: Guittone d’Arezzo: Canzoniere. I sonetti d’amore del codice Laurenziano. Hg. von L. Leonardi. Turin 1994, S. 261–278, hier: S. 265–267 – und den Codex »P«: ms. B.R. 217, Biblioteca Nazionale, Firenze; Beschreibung in Folena, S. 339, Beispielseiten mit Kanzonen in Folena, S. 304/305, 307, 321, mit Sonetten in Weinmann, S. 67–68, Analyse der Sonettgraphie S. 39, 43. Manche Codices schreiben auch alle drei Verse einer volta in eine Zeile oder sie brechen die Zeile mitten im Vers; vgl. Weinmann, z.B. S. 44 und Abb. S. 73 (zu ms. Laur. Red. 9) oder S. 49 mit Abb. S. 88–90 (zu ms. CCCCXLV, Biblioteca Capitolare, Verona). Weinmann hat allerdings ein eigenes Interesse an der Unabhängigkeit von Metrik und Graphie: er argumentiert gegen eine Quartettstruktur der piedi des frühen Sonetts und in diesem Zusammenhang gegen die unmittelbare Ableitung einer solchen Quartettstruktur aus der Reimverkettung A B B A A B B A , die seit Guittone d’Arezzo nachweisbar ist, während die Markierung von Quartetten unmittelbar erst am Ende des 14. Jahrhunderts auftaucht; Weinmann, S. 31 u. ö.

141 diese siebenzeilige Graphie, die er für ursprünglich hält, das zweireimige Sextett impliziert. 5. 6. 7.

xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxC~

xxxxxxxxxD~ xxxxxxxxxD~ xxxxxxxxxD~.

Wie man sieht, zeigt die Graphie vom Typ III tatsächlich eine deutliche Affinität zum zweireimigen Sextett. Offensichtlich ist auch, dass sie im Vergleich zu den Varianten mit Halbzeilen ästhetisch gelungener ist, insofern eine große graphische Ökonomie und Symmetrie erreicht ist. Dies nun ist die Graphie, die der Codex V (Vat. lat. 3793) und damit der umfangreichste Codex des 13. Jahrhunderts sowie der wichtigste Codex des Canzoniere Petrarcas (Vat. lat. 3195) aufweisen; in seinem ›Skizzenbuch‹ (Vat. lat. 3196) verwendet Petrarca neben diesem teilweise auch Typ I.70 Daraus schließt Pötters nun, daß diese Graphie »raffigura lo stato versificatorio primitivo del sonetto, dato che Giacomo da Lentini ha ›inventato‹ il sonetto come composizione di 7 distici rimati abababab cdcdcd.«71 Der Schluss auf Giacomo da Lentini und auf die Ursprünglichkeit dieser Form und dieses Reimschemas ist waghalsig und lebt allein von dessen ästhetischer Plausibilität. Warum aber beispielsweise diese rigide graphische Struktur gleich zu Anfang von einem gleichursprünglichen dreireimigen metrischen Schema überlagert worden sein soll, wird nicht einmal erörtert, was auf eine gewisse Leichtfertigkeit der Argumentation hindeutet. Die oben vorgeschlagene modulare metrische Regel ist der Prämisse von Pötters allerdings durchaus kompatibel, so dass seine Vereinfachung der metrischen Verhältnisse die Gültigkeit der Argumentation nicht grundsätzlich in Frage stellt. Pötters geht davon aus, dass das Sonett ursprünglich folgende graphische (und metrische) Gestalt hatte:

——————— 70

71

Vgl. für die Analyse Weinmann, S. 43 und 69–71, S. 53–55 und 105–109, außerdem weitere Beispiele für diese Graphie (zu den Codices auch unten, S. 192, Anm. 202); Pötters bezieht sich allein auf Vat. lat. 3195 und Vat. lat. 3196. Heninger argumentiert entsprechend auf der Basis der Manuskripte Vat. lat. 3793 für die Frühzeit und Vat. lat. 3195 für Petrarca; auch er schließt von der Graphie auf die Ursprünglichkeit des zweireimigalternierenden Reimschemas in der sirma bei Giacomo da Lentini; Heninger, S. 74–76. Weinmann hat sich leider in seiner Studie nicht für die Struktur der sirma interessiert. Eine quantitative Untersuchung des Verhältnisses von Graphie und Metrik in der sirma wäre für die vorliegenden Fragen von großem Interesse gewesen. Pötters: La natura e l’origine del sonetto, S. 73.

142

xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxC~

xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxD~ xxxxxxxxxD~ xxxxxxxxxD~

11

11

1 2 3 4 5 6 7 = 22/7 = ʌ

Sieben Zeilen mit je zwei elfsilbigen Versen bilden das graphische Schema des Sonetts, an das Pötters seine numerologische Analyse anschließt. Er kann nun zeigen, dass das Verhältnis von 22 Silben zu 7 Verszeilen den Grundzahlen der mathematischen Kreisberechnung entspricht. So ergibt die Division von 22/7 einen Näherungswert der Kreiszahl S, nämlich 3,14286... – während S tatsächlich 3,14159... ist. Nach der Näherungsberechnung des Archimedes oszilliert S zwischen den Werten 223/71 und 22/7,72 während das Mittelalter im Wert 22/7 den ›Schlüssel für das Kreiskalkül‹ sah und den Näherungscharakter der archimedischen Relation oft vergaß.73 Daraus lassen sich nun weitere numerische Relationen mathematisch ableiten: Wählt man 7 als Radius eines Kreises, so beträgt der Umfang des Halbkreises 22, da der Kreisumfang 2Sr ist; die Fläche dieses Kreises ist entsprechend der Formel Sr2 identisch mit dem Produkt von 22 x 7 = 154. Dies wiederum ist identisch mit der Gesamtzahl der Silben im Sonett, was Pötters ›die evidenteste numerische Übereinstimmung von Sonett und Kreis‹ nennt.74 Letztere Berechnungen sind Taschenspielereien, doch ein Datum sind die Beobachtungen von Pötters allemal. Der Bezug lässt sich dabei sogar einfacher und schlüssiger darlegen, als Pötters selbst dies tut. Denn es bedarf gar nicht des problematischen Rückbezugs auf die graphische Repräsentation des Sonetts in sieben Zeilen. Pötters hat nämlich nicht bemerkt, dass Archimedes im zweiten Satz von Die Kreismessung schreibt: »Der Kreis hat zum Quadrat seines Durchmessers nahezu ein Verhältnis wie 11 : 14«.75 Archimedes selbst benennt also unmittelbar das Verhältnis von Silben- und Verszahl im Sonett – und dieses Verhältnis ist unabhängig von jeder Graphie. Diese numerische Übereinstimmung ist nicht ohne Eindruck.76 Pötters schießt allerdings über das Ziel hinaus, wenn er zusammenfassend den Horizont seiner These benennt: ——————— 72 73 74 75 76

Eugen Beutel: Die Quadratur des Kreises. Leipzig 21920, S. 14–18. Tropfke, Bd. 4, S. 280; Pötters bezieht sich auf die Auflage von 1921, Bd. 4, S. 195–238, hier S. 210–214; vgl. Pötters: La natura e l’origine del sonetto, S. 75. Pötters: La natura e l’origine del sonetto, S. 76. Beutel, S. 15. Nicht uninteressant erscheint der Hinweis darauf, dass die Dichtung des Giacomo da Lentini neben der Erfindung des Sonetts auch eine innovative Behandlung der Metrik der Kanzone aufweist. Ein markantes Merkmal ist neben einer besonderen Form der Binnenreimung die sogenannte ›Kontexierung‹ von settenari und endecasillabi, das heißt die feste modulare Verknüpfung von Sieben- und Elfsilblern in den piedi der Kanzone. Eine numerologische Deutung wurde m.W. dafür noch nicht erwogen und auch auf die mögliche Ent-

143 Il sonetto e un cerchio: la perfetta unione di punti polari, la connessione delle antitesi, la conciliazione degli opposti, «reines Ebenmaß der Gegensätze”, come lo definisce A.W. 77 Schlegel nel suo sonetto dedicato a «Das Sonett”.

Dass nun ausgerechnet August Wilhelm Schlegel und der Geist des romantischen Sonettklassizismus hier auftaucht, gehört ins Kapitel Wirkungsgeschichte, das an dieser Stelle nicht aufgeschlagen werden soll. Pötters’ These hat für sich, dass sie eine starke Begründung für die Isometrie und die Fixiertheit des Sonettumfangs bietet, die sich zudem kulturgeschichtlich gut einbinden lässt. Immerhin kann die große Bedeutung der numerologischen Ästhetik im hohen Mittelalter nicht in Frage stehen und für die Magna Curia Friedrichs II. wäre eine solche Kunstübung durchaus erwartbar. Im Gattungsumfeld des Sonetts muss man nur an die numerologische Signifikanz von Dantes Vita nuova denken – ganz zu schweigen von der Divina commedia oder gar den anderen Künsten, von scholastischen Spekulationen oder der Entwicklung der lullischen Kombinatorik, die ebenfalls ins 13. Jahrhundert fällt.78 Allerdings lässt die Zirkelthese des Sonetts, wie man sie abgekürzt nennen kann, eine Reihe von wichtigen Fragen offen, indem sie lediglich den äußeren Umfang des Sonetts erklärt – sieben Zeilen à 22 Silben bilden das Explanandum der Hypothese, nicht mehr und nicht weniger. Sie motiviert damit einen signifikanten Teil des oben gesetzten Sonett-Tableaus, das als konstitutive Grundlage des frühen Sonetts ein Schema aus acht plus sechs endecasillabi isoliert. Die archimedische Relation vermag die Gesamtzahl der Verse zu motivieren, nicht dagegen ihre innere Aufteilung. Die These von der Quadratur des Kreises legt einen Seitenblick auf eine andere Variante der trobadoresken Kanzone nahe, der man eine ähnliche Intentionalität zugesprochen hat. Gemeint ist die Sestine, die der von Dante und Petrarca besonders geschätzte Trobador Arnaut Daniel erfunden hat (Lo ferm voler qu’el cor m’intra) und die von Dante und Petrarca besonders gepflegt wurde. Sie übertrifft das Sonett noch an formaler Elaboration: sechs isometrische Stanzen à sechs endecasillabi verwenden dieselben sechs Reimworte in einer komplexen und fixierten permutierenden Reihenfolge.79 Die letzte Stanze kehrt dabei am Ende zum ersten Reimwort zurück und ein commiato aus drei Versen nimmt noch einmal alle Reimworte auf. Auf ganz andere Weise stellt auch diese ——————— 77 78

79

sprechung zu den Versverhältnissen des Sonetts ist bislang nicht hingewiesen worden; Schulze: Sizilianische Kontrafakturen, S. 227–236. Pötters: La natura e l’origine del sonetto, S. 77. Vgl. Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 21992; Pötters selbst hat eine ebenfalls umstrittene numerologische Analyse des Canzoniere Petrarcas vorgelegt, die er als Bestätigung seiner These versteht; Wilhelm Pötters: Chi era Laura? Strutture linguistiche e matematiche nel »Canzoniere« di Francesco Petrarca. Bologna 1987. Ausführlich wird die Form anhand einer Wiedergabe der Sestine Arnaut Daniels und mit einer ›quadratischen‹ grafischen Darstellung erläutert von van der Werf, S. 60–63; knapper von Elwert: Italienische Metrik, § 82, S. 110f.; die Reimfolge der sechs Stanzen der Sestine lautet: ABCDEF; FAEBDC; CFDABE; ECBFAD; DEACFB; BDFECA.

144 Form eine Quadratur des Kreises dar, indem das ›Quadrat‹ aus 6 x 6 Versen in seinen strengen Reimwortpermutationen einen ›Kreis‹ beschreibt, der zu seinem Anfang zurückkehrt.80 Dies impliziert in diesem Fall den Verzicht auf die Aufgliederung der Stanzen in fronte und sirme, was für das Sonett nicht gilt. Margaret Spanos hat auf Dantes Interesse an der Frage der Quadratur des Kreises hingewiesen. So schließt die Divina Commedia in einem mystischen Schlussbild des Anblicks der drei ›Kreise‹ der Trinität und der Sprecher verweist zur Erläuterung seiner poetischen Sprachnot auf das Unvermögen des Mathematikers, den Kreis zu berechnen (Paradiso 33, 133–138). Ihre Deutung von Dantes Sestine Al poco giorno e al gran cerchio d’ombra verweist auf die mystische Natur der Form und auf ihre Eignung zum Ausdruck der problematischen Einheit von Gegensätzen wie der Welt der Natur und des Geistes.81 Diese Allegorese formaler Artifizialität kann als eine flankierende Stützung für die Angemessenheit derartiger Lesarten dienen. Solange numerologische Analysen ihre Beobachtungen nicht auf Quellenmaterial stützen können, das ihre Zuordnungen explizit deckt, können sie Glaubwürdigkeit nur erlangen, wo sie umfassende und unwahrscheinliche Erklärungen zu bieten haben. Wo sich solche Analysen beim Sonett auf die grundlegenden Zahlenverhältnisse beschränken, wird dies schwer, denn deren Evidenz wie ihre Symbolik ist von beinahe schon tautologischer Natur. Dass die innere Gliederung des Sonetts ein Verhältnis von 4 : 3 darstellt, steht jederzeit einer umfassenden Allegorese offen, an der es wenig zu bezweifeln gibt. Sie ergänzt allerdings – das ist zu konstatieren und kaum abweisbar – die archimedische Herleitung des äußeren Umfangs durch eine der inneren Gliederung. Paul Oppenheimer bringt das Sonett mit dem numerologischen Schöpfungsmythos in Platons Timaios (32ff.) und mit den architektonischen Proportionslehren der Renaissance in Verbindung; er verweist in diesem Zusammenhang auf die harmonische Relation von 6 : 8 : 12 und gelangt – mithilfe der 12 – absurderweise zu einer Auszeichnung der englischen Sonettform. Das ist gewaltsam, auch wenn es Verbindungen zur Harmonielehre und zur Musik der Sphären herstellt.82 Simeon K. Heninger weist dies denn auch zurück und konzentriert sich auf das Verhältnis von 4 : 3, wobei er zeigen kann, dass die ›Vier‹ für die vier Elemente und damit für die Ausdehnung der Welt steht, während die ›Drei‹ die Seele und die Prinzipien des Göttlichen repräsentiert (auch dafür: Timaios 32ff.): »And as the readers proceed through the sonnet, passing from quatrain to tercet (or from octave to sestet in the fourteen-line scheme), they proceed from this world toward heaven.«83 Problematisch ist daran, dass Henin——————— 80

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Auf die numerologischen Implikationen weist Margaret Spanos hin: The Sestina: An Exploration of the Dynamics of Poetic Structure. In: Speculum 53 (1978) 553–557; vgl. auch: Marianne Shapiro: Hieroglyph of Time. The Petrarchan Sestina. Minneapolis 1980. Spanos, S. 551–554. Oppenheimer, S. 302–304. Heninger, S. 77.

145 ger den derart angelegten elevatorischen Charakter als intrinsisches Merkmal der Form selbst begreifen möchte: Finally, note that the form alone makes this statement, quite apart from the semantics of the verbal system. Regardless of what the language of the sonnet might say, its form guarantees redemption and proves the forcefulness of providence. The form of the quatorzain is unmitigately optimistic. [78]

Damit aber kommt auch hier wiederum ein essentialistisches Gattungsmerkmal ins Spiel. Dass das Sonett einen intrinsischen elevatorischen Charakter haben soll, scheint für die Auseinandersetzung mit seiner langen Gattungsgeschichte keine hilfreiche Vorannahme zu sein. Darin steckt allerdings ein Gedanke, der seiner großen Allgemeinheit wegen schwer zu leugnen ist: Das Schreiben eines Sonetts bedeutet Anerkennung oder Konfrontation mit einem strengen Regelsystem, dessen Ordnungsanspruch prima vista bestätigt wird. Dass dieser allerdings stets einer der mystischen Elevation sein sollte, scheint trotz aller Numerologie nicht zwingend und aus gattungstheoretischen Erwägungen obsolet. Erika Greber hat neuerdings eine Beziehung der Gattungspoetik des Sonetts mit der lullischen ars combinatoria hergestellt. Die Frage eines unmittelbaren Einflusses von Lullus auf Giacomo da Lentini fällt dabei aus, da dieser erst am Ende des 13. Jahrhunderts schrieb.84 Grebers These ist vor allem eine zur Gattungstheorie und erst in zweiter Linie eine zur Numerologie des Sonetts. Sie verwendet einen sehr weiten Begriff von Kombinatorik, der im Grunde alle formalen Gesichtspunkte des Sonetts einbegreifen soll, von der Erfindung der Form bis zur Reimpermutation, von der Graphie zur Variabilität, von der Untergliederung zur Zyklenbildung, von Klangphänomenen bis zur Intertextualität.85 Bewähren kann sich dies jedoch nur in jedem Einzelfall, denn Kombinatorik verlangt – wenn der Begriff distinkt bleiben soll – die Ausschöpfung von Permutationen, Kombinationen und Variationen in einem fixierten Rahmen. Die Voraussetzung bildet in jedem Fall eine vorgängige Festlegung einer begrenzten Zahl von Elementen. So kann beispielsweise die Erfindung des Sonetts wie oben vorgeführt im Licht eines kombinatorischen Vorgehens erscheinen. Allerdings ist gerade dabei sichtbar geworden, dass für die früheste Sonettform nicht bloß allgemein kombinatorische, sondern sehr viel strengere Iterationsregeln zur Anwendung kommen, die das Sonett vom variablen Charakter der Kanzone gerade unterscheiden. Die Reimvariationen mögen in einer späteren Phase »kombinatorisch exhaustiv« sein,86 doch wäre dies im Einzelfall als formbil——————— 84

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Vgl. zur Kombinatorik des Rámon Llull: Tomás und Joaquín Carreras y Artau: Historia de la filosofía española: Filosofía cristiana de los siglos XIII al XV. 2 Bde. Madrid 1939– 1943; Erhard Wolfram Platzeck: Raimund Lull, sein Leben, seine Werke, die Grundlage seines Denkens (Prinzipienlehre). 2 Bde. Rom, Düsseldorf 1962–64; für ihre Bedeutung im 16. und 17. Jahrhundert Schmidt-Biggemann; für eine literaturwissenschaftliche Anwendung Vf.: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992, S. 285–289 und passim. Greber: Textile Texte, S. 583; Greber: Wortwebstühle, S. 63 und passim. Greber: Textile Texte, S. 572; Greber: Wortwebstühle, S. 62.

146 dendes Prinzip jeweils zu erweisen. Die oben zitierte Form der Sestine etwa ist in einem strengen Sinn kombinatorisch angelegt. Kombinatorik ist sicher ein zentrales Element der Sonettpoetik und wahrscheinlich ein unmittelbares Resultat jeder rigiden formalen Konzeption. Es ist das Verdienst von Erika Greber, auf die durchgreifende Bedeutsamkeit des kombinatorischen Moments für die Gattungsgeschichte des Sonetts aufmerksam gemacht und dem zahlreiche Erscheinungen zugeordnet zu haben. Die kombinatorische Variation zum konstitutiven Gattungsmerkmal zu machen, ist allerdings voreilig. Schwieriger noch erscheint die Anwendung auf großflächige literarhistorische Prozesse. Da sich Greber selbst gegen essentialistische Gattungskonzeptionen ausspricht, sollte auch der kombinatorische Aspekt des Sonetts nicht zur Grundlage einer solchen gemacht werden.87 Vielmehr ist es aufschlussreich, die durchaus wechselhafte Relevanz kombinatorischer Verfahren innerhalb der Gattungsgeschichte zu verfolgen. Welche Befunde gibt nun die Numerologie des Sonetts preis? Die Ordnung des Sonetts ist offenbar durch numerische Prinzipien geprägt, die vielfältige allegorische Anschlussmöglichkeiten bieten. Ihr prinzipieller und allgemeiner Charakter führt solche Ausdeutungen allerdings schnell ins Unverbindliche oder in Unstimmigkeiten, wo diese die Gattung insgesamt betreffen sollen. Auch die Numerologie hat ihren angemessenen Ort bei der Analyse des einzelnen poetischen Texts, denn dieser erst kann das abstrakte Schema der Form semantisch und damit auch numerologisch und allegorisch füllen. Als These ist eine Numerologie des Sonetts für die Frühzeit folglich nur hinsichtlich der ursprünglichen Erfindung der Form durch Giacomo da Lentini interessant. Hier ist es plausibel, die innovative Isomorphie der Form mit numerologischen Prinzipien in Verbindung zu bringen. Pötters’ Vorschlag verblüfft in dieser Hinsicht in seinem archimedischen Kern (und nicht in seinen komplexeren Annahmen zur Graphie etc.) durch Evidenz, bringt aber lediglich eine Teilklärung bezüglich des äußeren Gedichtumfangs. Erwägungen hinsichtlich grundlegender Zahlenproportionen von 2, 3, 4 und 7 sind kaum von der Hand zu weisen und durch entsprechende numerologische Bemühungen am Stauferhof Friedrichs II. historisch auch gut motivierbar. Eine Tendenz zur numerischen ›Objektivierung‹ einer poetischen Form entspräche im übrigen den Befunden, die die Untersuchung der Behandlung des höfischen Liebesmodells durch Giacomo da Lentini ergeben hat (vgl. das folgende Kapitel). Die kommunikative Dislozierung, die Verschriftlichung und Trennung von der Musik, die Kritik des personalen poetischen Minnedienstes zugunsten eines objektivierten universellen Liebesdiskurses weisen in die gleiche Richtung, wie die aufgrund universeller numerischer Prinzipien fixierte Festigung der poetischen Form. Das Sonett besitzt qua seiner Isomorphie ein numerologisches und damit sowohl

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Vgl. Greber: Textile Texte, S. 568.

147 kombinatorisches als auch allegorisches Potential wie kaum eine andere poetische Form.88 Mit den Namen Pötters, Heninger und Antonelli verbindet sich eine neue Kontroverse um die Erklärung des Sonettursprungs, die derjenigen um strambotto oder Kanzone an Grundsätzlichkeit nicht nachsteht. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Modelle ganz Unterschiedliches leisten und geradezu komplementäre Defizite aufzuweisen haben: numerologisch lässt sich die Verszahl, Verslänge und das Verhältnis der zwei Teile des Sonetts motivieren – Isomorphie und Isometrie also –, und es konnte oben gezeigt werden, dass auch die metrische Gestalt und Variabilität von den gleichen Zahlenverhältnissen abhängt; metrikgeschichtlich und kombinatorisch dagegen gibt es partielle Erklärungen zur Reimordnung und zur inneren Gliederung, kein Argument dagegen für die Isomorphie. Dass beide Motive sich überlagert haben könnten, ist nicht ausschließbar und erlaubt insgesamt die differenzierteste Erläuterung der Gestalt des frühen Sonetts. Als Resultat der Diskussion der Fragen zur frühesten Sonettform und ihrer Entstehung steht eine Reihe von formalen Feststellungen.       

Die Sonettform entspricht in ihrer Grundstruktur einer einzelnen Kanzonenstanze, die aus gleichförmigen piedi und volte zusammengesetzt ist. Als Einzelstanze ist sie im Vergleich zur Kanzone durch eine Ausweitung des Umfangs in Verslänge und Verszahl gekennzeichnet. Das Sonett ist isomorphisch, das heißt es besitzt eine feste Verszahl und Zweiteilung in acht plus sechs Verse (Oktett und Sextett). Das Sonett ist isometrisch, das heißt es besitzt eine feste Silbenzahl der Verse aus endecasillabi. Das Sonett kennt lediglich zwei Reimmodule aus zwei und aus drei Reimen: a b und a b c . Die Reimmodule werden in piedi und volte jeweils unverändert wiederholt. Der reimtechnischen Zweiteilung wirkt systematisch eine rhetorische Verklammerung entgegen, die zu Durchreimungen und zu Klang- und Wortverknüpfungen der beiden SonettTeile führt.

Als wichtigstes Merkmal der Sonettform tritt in dieser frühesten Zeit die ungewöhnlich strenge Fixierung der Form und ihre große Ökonomie hervor. Dies stellt eine entschiedene Neuerung dar, die sich nicht von vorausliegenden Traditionen ableiten lässt. Daraus folgt geradezu zwingend, dass konstruktive Erwägungen bei der ›Erfindung‹ eine starke Rolle gespielt haben müssen. Zu berücksichtigen sind dabei vor allem numerische und graphische Prinzipien, die die Abhängigkeit der Sonettform von der Schriftlichkeit nahe legen. Die strenge Mathematik des Sonetts impliziert zugleich seine Disposition zu kombinatorischen Verfahren. Das Verhältnis der historischen Ableitung zur poetischen Konstruktion kann als eines der Überlagerung gedacht werden. Dass sich die Konstruktion des neuen Gedichts tradierten poetischen Materials bedient, ist naheliegend und im ——————— 88

Mönch: Das Sonett, S. 35, versuchte, den Sachverhalt auf den Punkt zu bringen, dass die Sonettstruktur »nichts Willkürliches, sondern geistig Bedeutungsvolles« sei; das ist – in idealistischem Vokabular – kein wesentlich anderer Schluss.

148 Fall der thematischen Auseinandersetzung mit der Trobadordichtung auch konkret nachzuvollziehen. Geht man bei der Sonettkonstruktion nun nicht mehr allein von den piedi und volte der Kanzone aus, sondern ebenso von der numerischen Gestalt aus acht plus sechs Versen und von einer systematisch reduzierten Reimordnung aus bloß zwei und drei Reimen, wie es die angestellten systematischen Erwägungen nahe legen, so erscheinen die Fragen der inneren Gliederung der Teile nach piedi und volte bloß noch sekundär.

1.6

Provenzalischer Minnediskurs und sizilianische Objektivierung der Liebe

Innovation kommt häufig dann zustande, wenn kulturelle Errungenschaften in fremde Kontexte versetzt werden, wo sie unter konkreten Anpassungsdruck geraten. Die Übernahme der poetischen Sprache der Trobadors, ihrer Formen und ihrer Gegenstände, durch die Dichter der Magna Curia des Stauferkaisers Friedrichs II. stellte eine weitgehende kulturelle und soziale Entwurzelung dieser Sprache dar. Um diese Übertragung – und damit auch die Innovation der Sonettdichtung – qualifizieren zu können, ist eine Charakterisierung der entsprechenden Differenzen von provenzalischer und sizilianischer Dichtung und ihrer jeweiligen Kontexte erforderlich. Dies führt im Fall des Liebesdiskurses zurück auf die alte Debatte um die sozialgeschichtliche Signifikanz des Konzepts der höfischen Minne. Einen Ausgangspunkt dieser Diskussion bildet die trobadoreske Rede vom Minnedienst und dessen spirituelle Überhöhung und mithin die grundlegende Metaphorisierung der höfischen Liebesthematik mittels religiös und feudal geprägter Begriffe. Auf der Ebene der Texte kann man von einer Überblendung unterschiedlicher Diskurse sprechen. In einer kritischen Zusammenschau der älteren Forschung hat Rainer Warning Kernpunkte dieser Überblendung benannt: Die Analogie zur christlichen Dienstkonzeption manifestiert sich zunächst in der Ferne der Herrin, in ihrer Unerreichbarkeit, in ihrer Idealisierung zu einem summum bonum, dem Verehrung gebührt. Als Konnotatoren dieses summum bonum fungieren Lexeme oder lexematische Einheiten, die auch im christlichen Bereich entsprechend besetzt sind, so die bona domna oder auch das abstrakte mielhs, das sie inkarniert (Mielhs-de-be als Senhal bei Bertran de Born), so die Elemente des Schönheitskatalogs, die auf die scholastische Schönheitsmetaphysik zurückgehen, so die der Dame zugeschriebenen Kräfte der Erneuerung, vor allem aber das Motiv der Abwesenheit, die amor lonhdana, die Opposition zwischen dem leeren ›Hier‹ der Sprechsituation und dem erfüllten ›Dort‹ ihrer Anwesenheit. Entsprechendes gilt für den Rollenpart des Liebhabers selbst: Liebe als Heilsweg, als Martyrium, die Paradoxien von Hoffnung und Furcht, von Freude und Schmerz, das 89 gewollte Leiden, die Gnade der Herrin sind hier die zentralen Konnotationen.

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Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hg. von Chris-

149 Parallel dazu lässt sich die Analogie des höfischen Liebesdiskurses zum feudalen Vasallendienst entfalten, an die die sozialgeschichtliche Ausdeutung der Minnekonzeption vornehmlich angeschlossen hat.90 Erich Köhler bezieht die Rede vom Minnedienst in unmittelbarer Weise zurück auf das Feudalverhältnis selbst und deutet sie als Ausdruck konkreter Interessengegensätze spezifischer sozialer Gruppen, vor allem des ›niederen Rittertums‹ im Verhältnis zur feudalen Herrschaft.91 Dies führt unter anderem zu einer Identifikation bestimmter literarischer Gattungen mit konkreten sozialen Trägergruppen, wobei die Tendenz zu einer hypothetischen Modellierung des historischen Feldes gemäß den interpretatorischen Vorgaben der Texte unverkennbar ist. Zu Recht ist demgegenüber auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, eine sozialgeschichtliche Interpretation des Minnesangs nicht vornehmlich anhand der Texte selbst, sondern unter Bezug auf die bekannten historischen Fakten vorzunehmen.92 Unabhängig von der Beschreibbarkeit solcher historischer Fakten bleibt grundsätzlich zu klären, in welcher Weise die fiktionale Semantik der poetischen Texte auf historische Kontexte bezogen werden kann, auf die sie einerseits verweist, ohne dass andererseits die fiktionale Semantik im Sinne einer unmittelbaren Wiedergabe einer konkreten sozialen Realität verstanden werden könnte. Hier erweist sich die Übertragung von poetischen Rollen auf den realen Autor und darüberhinaus auf spezifische soziale ›Trägerschichten‹ als ein »kruder Reduktionismus« 93, in dessen Hintergrund ein überholtes autorzentriertes ———————

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toph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 120–159, hier: S. 138f. Warning verweist hier auf die ältere, »theologisch« ausgerichtete Forschung: Eduard Wechssler: Frauendienst und Vasallität. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 24 (1902) 159–190; Wechssler: Das Kulturproblem des Minnesangs. Studien zur Vorgeschichte der Renaissance. Halle 1909; Dimitri Scheludko: Religiöse Elemente im weltlichen Liebeslied der Trobadors. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 59 (1935) 402–421; Scheludko: Über die Theorien der Liebe bei den Trobadors. In: Zeitschrift für Romanische Philologie 60 (1940) 191–234; Eugen Lerch: Trobadorsprache und religiöse Sprache. In: Cultura Neolatina 3 (1943) 214–230; Leo Pollmann: Die Liebe in der hochmittelalterlichen Literatur Frankreichs. Frankfurt a.M. 1966; vgl. außerdem auch William D. Paden jr.: The Troubadour’s Lady: Her Marital Status and Social Rank. In: Studies in Philology 72 (1975) 28–50. In knapper Weise umreißt auch Ursula Liebertz-Grün die Merkmale des Liebesbegriffs: »Darstellung der Minne als (Vasallitäts-) Dienst, Dominanz der Dame, Unterwürfigkeit des Mannes, Einseitigkeit und Unerfülltheit der Liebe, ihre Illegitimität und soziale Exklusivität, Liebe, auch die unerfüllte und ›unglückliche‹ als Wert und als Ursache individueller und gesellschaftlicher Vollkommenheit«; U. Liebertz-Grün: Zur Soziologie des »amour courtois«. Umrisse der Forschung. Heidelberg 1977, S. 67. Erich Köhler: Die Rolle des niederen Rittertums bei der Entstehung der Trobadorlyrik. In: Köhler: Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania. München 3 1984, S. 9–27. Liebertz-Grün, S. 113 und öfter, die Auseinandersetzung mit den Thesen Köhlers auf S. 97–111. Vgl. zuvor bereits Ursula Peters: Niederes Rittertum oder hoher Adel? Zu Erich Köhlers historisch-soziologischer Deutung der altprovenzalischen und mittelhochdeutschen Minnelyrik. In: Euphorion 67 (1973) 244–260. Warning: Lyrisches Ich, S. 142. Kritisch zu Köhlers Thesen u.a. auch Hempfer: Schwierigkeiten mit einer »Supertheorie«, S. 16 und Andreas Kablitz: Intertextualität als Substanzkonstitution. Zur Lyrik des Frauenlobs im Duecento: Giacomo da Lentini, Guido

150 Lyrikverständnis sichtbar wird.94 Im Gegensatz zur Fixierung auf den fiktiven Rollenträger und dessen unmittelbare soziale Referentialisierung wurde darauf hingewiesen, dass das Minnekonzept insgesamt Wertvorstellungen der höfischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt, und dass nichts sicherstellt oder auch nur wahrscheinlich macht, dass die Darstellung der ›Minne als Dienst‹ gleichsam selbstredend auch von Dienenden konzipiert worden sei (114). Der Hinweis auf einen umgreifenden Werthorizont der Adelsgesellschaft insgesamt erlaubt demgegenüber eine grundlegendere und stärker institutionenorientierte Perspektive. Das attraktive Identifikationsangebot der höfischen Lyrik war jedenfalls untrennbar mit der Forderung verbunden, den Hof als normensetzende und adelig-ritterliche Vorbildlichkeit erst ermöglichende Instanz zu akzeptieren. [117]

In solcher Sicht kommen nun beispielsweise Hypothesen in den Blick, die auf die Differenz der höfischen Minnekultur zur repressiven Sexualmoral und Weltfeindlichkeit der Kirche hinweisen, über die diese wiederum erheblichen Einfluss auf die dynastischen Interessen des Adels ausübte.95 Betrachtet man den Minnediskurs als das Korrelat eines institutionenbezogenen Wertsystems, so muss man seine Rollenangebote nicht zwingend auf konkrete Individuen oder soziale Gruppen hin referentialisieren, um dem Diskurs gesellschaftliche Signifikanz zuzusprechen. Zugleich bleibt der in Rede stehende erotische Affekt als ein ›eigentlicher‹ Gegenstand der Texte erhalten. Rainer Warning spricht in diesem Sinn davon, dass die fin’amor das sexuelle Begehren »für den Aufbau einer sozialen Formation« zu nutzen sucht, »in welcher joi, also die Lust der sexuellen Erfüllung in einer vollkommenen Partnerschaft ein höchster gesellschaftlicher Wert bleibt.«96 Das Liebeskonzept erscheint als der Katalysator eines Wertsystems, das der Institution des feudalen Hofes – in dessen festlicher Geselligkeitskultur es seinen ›Sitz im Leben‹ hat97 – Identität und erhöhte Dignität verschafft. Sowenig eine solche ›funktionale‹ Perspektive98 zur Beantwortung von Fragen der personalen Referentialisierbarkeit in bestimmten Texten beitragen kann, ——————— 94 95

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Guinizelli, Guido Cavalcanti, Dante Alighieri. In: Poetica 23 (1991) 20–67, hier: S. 27f. Anm. 12. Liebertz-Grün, S. 114. Liebertz-Grün, S. 117; Warning: Lyrisches Ich, S. 120f.; zum Konflikt von kirchlichen und dynastischen Interessen auch Jack Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa. Frankfurt a.M. 1989, S. 116–171. Warning: Lyrisches Ich, S. 121. Warning entfaltet in seinem Aufsatz im Anschluss an Jurij Lotman, Roland Barthes, Umberto Eco und Karlheinz Stierle ein Konzept der poetischen Konnotation, das sich um eine Verkoppelung von linguistisch-semantischen und sozialwissenschaftlichen Begriffen wie ›Ideologie‹, ›Wertsystem‹ und ›Legitimation‹ bemüht, und das prinzipiell auf die hier favorisierte institutionentheoretische Begrifflichkeit abbildbar ist; vgl. ebd., S. 133–138. Auf die Bedeutung der Hoffeste weisen sowohl Liebertz-Grün als auch Warning eigens hin; Liebertz-Grün, S. 120; Warning: Lyrisches Ich, S. 121. Im Gegensatz zu einer ›genetischen‹: Warning: Lyrisches Ich, S. 142.

151 stellt sie doch das Problem der sozialgeschichtlichen Signifikanz in ein mehrdimensionales Koordinatenfeld, das keine unmittelbare Entsprechung von poetischer Rolle und sozialem Interesse mehr unterstellen muss. So werden nach Andreas Kablitz die Metaphern des Liebesdienstes nicht als der Ausdruck konkreter Konfliktsituationen aufgefasst, sondern »als Instrument der Konzeptualisierung des erotischen Verhältnisses mittels eines verfügbaren Sozialmodells«.99 Hinzuzufügen wäre, dass der gesellschaftlich prekäre Bereich des erotischen Begehrens selbst wiederum Gegenstand institutioneller Einflussnahmen und funktionaler Träger spezifischer Werte ist. Der Vorteil einer solchen doppelten Sicht auf die Camouflage des Begehrens einerseits und auf dessen ideologische Besetzung andererseits besteht in einer interpretatorischen Offenheit, die zugleich auf der Oberfläche und in den Tiefenschichten der Texte zu operieren vermag. Sie kann so dem erotischen Diskurs der Lyrik sein Recht lassen und ihn zugleich hinsichtlich seiner sozialen Signifikanzen befragen. Insofern sollte man die metaphorische Relation von erotischem und politischem Diskurs nicht einsinnig auflösen und also weder den Liebesdiskurs als bloße Metapher des Sozialen noch die Feudalsprache zum bloßen explanandum des Begehrens stilisieren. Ein interpretatorischer Realismus hätte darauf zu beharren, dass im poetisch-fiktionalen Diskurs alle Glieder der tropisch-allegorischen Relation die Fähigkeit zur Referenz besitzen und dass also sowohl der Diskurs der Liebe gleichsam unvermittelt zur Sprache des Sozialen wird, wie umgekehrt die elaborierten gesellschaftlichen Diskurse der Macht, der Religion oder der Gelehrsamkeit zu variablen Ausdrucksmitteln des Begehrens mutieren können. Allegorietheoretisch gesprochen hieße dies, die doppelte Referenz der beiden Glieder der allegorischen Rede festzuhalten100 und den Minnediskurs kontextrelativ sowohl erotisch als auch sozial, politisch, religiös oder gelehrt für gesättigt und entsprechend referentialisierbar zu erachten. Methodisch führt diese Einsicht einerseits zur interpretatorischen Zurückhaltung, andererseits aber zu einer gesteigerten Entfaltung der möglichen Analogiebeziehungen und Referenzpunkte der poetischen Sprache. So erscheint es durchaus sinnvoll, im Fall einzelner Texte deren mögliche Referenz auf historisches Personal – beispielsweise in einem panegyrischen Sinn – zu erörtern. Liebertz-Grün etwa hat vorgeschlagen, die Rolle adeliger Frauen als möglicher Adressatinnen und auch Auftraggeberinnen der Minnelyrik zu untersuchen.101 Über solche konkreten Anknüpfungspunkte hinaus allerdings ist die sozialhistorische Signifikanz der Minnekonzeption in ihrem spezifischen Wertsystem festzumachen und in seiner institutionellen Funktion zu erörtern. Der Charakter dieses Wertsystems ist durch die Analyse seiner sprachlichen Ausgestaltung und seines ›intertextuellen Profils‹ zu bestimmen. ——————— 99 100 101

Warning zustimmend: Kablitz: Intertextualität, S. 28 Anm. 12. Zum Doppelsinn der Allegorie Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie und Symbol. Göttingen 2 1988, S. 30f. Liebertz-Grün, S. 118f.

152 Die Erörterungen zur sozialgeschichtlichen Ausdeutung der Minnekonzeption können hier nicht zu einer Beschreibung ihrer Merkmale in einem weiteren historischen Rahmen fortgeführt werden. Dazu steht eine umfangreiche Forschungsliteratur bereit. Zu diskutieren waren vielmehr die methodischen Präliminarien, die in ganz analoger Weise für die Charakterisierung der sizilianischen Sonettdichtung gelten. Wie bereits bei der Diskussion der formalen Merkmale der frühesten Sonette ist auch für deren diskursive Kennzeichnung vom Vergleich mit der provenzalischen Minnekonzeption auszugehen, um Veränderungen im Werthorizont beschreiben und in ihrer möglichen Analogie zu institutionellen bzw. sozialgeschichtlichen Veränderungen erörtern zu können. Zu diesem Zweck soll im folgenden zunächst die historische Differenz knapp markiert werden, um sodann einige Sonettbeispiele Giacomos da Lentini hinsichtlich ihrer Behandlung der Minnethematik zu diskutieren. Schließlich werden die Ergebnisse in den Kontext der bisherigen Forschungsdiskussion gestellt. Während die provenzalische Trobadordichtung an verschiedenen feudalen Höfen Südfrankreichs gepflegt wurde,102 hatte die sizilianische Dichtung in italienischer Sprache ihre Heimat am kaiserlichen Hof. Friedrich II. baute diesen in den fraglichen Jahrzehnten zum Mittelpunkt eines zentralisierten Beamtenstaates mit für die Zeit ungewöhnlichen Verwaltungsstrukturen aus; es war der ›am wenigsten feudale Hof in Europa‹, da die kaiserliche Politik sich um eine Zurückdrängung der Feudalstrukturen und um eine Entmachtung der Feudalherren bemühte.103 Zugleich war Friedrich bemüht, die Machtstellung des Kaisertums gegenüber den Ansprüchen der Kirche auszubauen und zu behaupten. Die Träger der Dichtung waren die Machthaber selbst: der Kaiser, seine Söhne und führende Funktionsträger des Staates, unter ihnen ›der Notar‹ Giacomo da Lentini. Die Zeit ihrer größten politischen Machtentfaltung war zugleich die Blütezeit ihrer Lyrik. Um nun festzustellen, inwiefern Merkmale dieser Dichtung auf diese institutionelle und kulturelle Konstellation bezogen werden können, ist eine Beschreibung ihrer typischen diskursiven Momente erforderlich. Die Poeten der Magna Curia orientieren sich mit der Trobadordichtung an der dominierenden volkssprachigen und zugleich höfischen Lyriktradition der Zeit, die sie unter sehr veränderten kulturellen und sozialen Bedingungen rezipieren. Dass sie dies nicht in provenzalischer Sprache tun, wie dies etwa zumeist an norditalienischen Fürstenhöfen geschah,104 sondern in einem dafür erst zu entwickelnden italienischen Idiom, das durch zahlreiche Provenzalismen aufgewertet wurde und einen höfischen Anstrich erhielt, stellte eine imponie——————— 102 103 104

So »z.B. die Höfe des Herzogs von Aquitanien, des Grafen von Toulouse, der Vizegrafen von Narbonne, Limoges, Ventadorn und Turenne etc.« Liebertz-Grün, S. 113. So Folena: Cultura e poesia dei Siciliani, S. 279. Ein neuerer Manuskriptfund hat jetzt in Abweichung zu bisherigen Auffassungen deutlich gemacht, dass in Norditalien bereits am Ende des 12. Jahrhunderts und mithin vor den Sizilianern Dichtungen im volgare vorgelegen haben.

153 rende Kulturleistung dar, die vermutlich auf den Impuls des Kaisers selbst zurückzuführen ist.105 Als ein wesentliches Merkmal dieser Transformation ist zunächst die Veränderung des institutionellen und damit auch des situativen sozialen Kontexts der Trobadordichtung zu verzeichnen, womit eine deutliche Reduktion der Gattungsvielfalt verbunden ist. Die Dichtung der Sizilianer verliert tendenziell den Kontakt zur Spielmannstradition und zur entsprechenden Aufführungssituation.106 Einige der Sonette des Giacomo da Lentini sind in zwei Tenzonen eingebunden, das heißt in dialogische Streitgedichte in provenzalischer Manier.107 Bei den Trobadors waren Tenzonen dialogische Kanzonen, manchmal mit gleichreimenden Stanzen (coblas unissonans), die zwischen verschiedenen Sängern aufgeteilt waren. Das Auftreten des Sonetts als Tenzonenelement hat nun Einfluss auf die Behandlung seiner Gegenstände. Wichtig ist auch in diesem Zusammenhang das Wegfallen des situativen Kontexts: der gesellschaftlich spielerische Charakter der provenzalischen Streit-Tenzonen wird durch den gehobenen Stil und den Mangel an echter oder fingierter Spontaneität stark rationalisiert. Mit der Tenzone knüpfen die Sizilianer an die Tradition der Minnedispute an, doch steht nicht die Qualität des Minnedienstes im Zentrum der ——————— 105

Mölk: Die sizilianische Lyrik, S. 49ff. Interessant für diese Zusammenhänge ist auch die umfangreiche biographische Literatur zu Friedrich II.; noch immer ergiebig ist das ältere Werk von Ernst Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite. Stuttgart 21991; knapp informieren Hans Martin Schaller: Kaiser Friedrich II. Verwandler der Welt. Göttingen 1964; Herbert Nette: Friedrich II. von Hohenstaufen, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek 111997 (zuerst 1975); neuer ist: David Abulafia: Herrscher zwischen den Kulturen: Friedrich II. von Hohenstaufen. Berlin 1991; Wolfgang Stürner: Friedrich II. Teil 1: Die Königsherrschaft in Sizilien und Deutschland 1194–1220. Darmstadt 1992; Teil 2: Der Kaiser 1220 bis 1250. Darmstadt 2000; vgl. auch: Ders.: Kaiser Friedrich II. Herrschaftskonzeption und politisches Handeln. In: Kunst im Reich Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen. Bd.1: Akten des internationalen Kolloquiums im Rheinischen Landesmuseum Bonn 2. bis 4. Dezember 1994. Hg. von Kai Kappel, Dorothee Kemper und Alexander Knaak. München 1996, S. 11–20; sowie ders: Die Herrschaftsvorstellung Kaiser Friedrichs II. In: Kaiser Friedrich II. (1194–1250). Hg. Fansa/Ermete 2008, S. 30–39. 106 Für das Sonett bleibt der unmittelbare situative Kontext und das konkrete Verhältnis zur Musik unklar. Letztlich muss auch für den sizilianischen Hof von der Fortdauer der höfischen Repräsentationsfunktion der Dichtung ausgegangen werden. Die umstrittene These, dass auch Sonette noch gesungen wurden, vertritt vor allem Schulze: Sizilianische Kontrafakturen, bes. S. 1–35; vgl. für einen kritischen Überblick über die Diskussion: Roncaglia: Sul divorzio tra musica e poesia; Erich Kleinschmidt: Minnesang als höfisches Zeremonialhandeln. In: Archiv für Kulturgeschichte 58 (1976) 35–76; Nino Pirrotta: I poeti della Scuola siciliana e la musica. In: Yearbook of Italian Studies 4 (1980) 5–12; sowie Schulze: Der singende Kaiser. In: Kaiser Friedrich II. (1194–1250). Hg. Fansa/Ermete 2008, S. 200–208. 107 Vgl. Erich Köhler: Tenzone. Partimen (»Joc partit«). In: GRLMA, Vol. II, Tome 1, Fasc. 5 (1979), S. 1–32; Salvatore Santangelo: Le tenzoni poetiche nella letteratura italiana delle origini. Genf 1928; Sebastian Neumeister: Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen. München 1969; Patricia Hagan: The Medieval Provençal »Tenso«: Contribution for the Study of the Dialogue Genre. New Haven, Conn. 1975; Rüdiger Schnell: Zur Entstehung des altprovenzalischen dilemmatischen Streitgedichts. In: GRM 33 (1983) 1–20; Dietmar Rieger: Formen trobadoresker Streitkultur. Zwei Liedinterpretationen. In: RF 106 (1994) 1–27.

154 Fragestellung. Es kommt vielmehr gerade in den Tenzonen eine fundamentalere Distanz zum Ausdruck, indem Giacomo die Liebesdichtung selbst in Frage stellt und revidiert. Ein genauerer Blick auf die erwähnte Tenzone zwischen Giacomo da Lentini und dem Abate da Tivoli kann dies verdeutlichen. Das erste Sonett des Abate Oi deo d’amore, a te faccio preghera ist eine konventionelle Liebesklage, auf die Giacomo mit einem grundsätzlichen poetologischen und zugleich theologischen Einwand reagiert. Sein Sonett nimmt keine Reimworte des Abate auf, doch greift es im Incipit auf das Reimwort D des 10. Verses des Abate zurück, der davon sprach, dass er vom Pfeil Amors getroffen und ›verwundet‹ sei: »m’hai feruto«. Giacomo antwortet: GIACOMO DA LENTINI Feruto sono isvariatamente: Amore m’à feruto, or per che cosa? cad io vi saccia dir lo convenente di quelli che del trovar no ànno posa: ca dicono in lor ditto spessamente c’amore à deitate in sé inclosa; ed io sì dico che non è neiente ca più d’un dio non è né essere osa. E chi lo mi volesse contastare, io li l[o] mostreria per [q]uia e quanto, come non è più d’una deitate. In vanitate non voglio più stare: voi che trovate novo ditto e canto, 108 partitevi da ciò, che voi peccate.

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Verwundet bin ich auf vielfältige Weise: | Amor hat mich verwundet, jedoch aus welchem Grund? | damit ich Euch das Rechte sage über diejenigen, | die beim Dichten die falsche Einstellung haben: | weil sie in ihren Reden immer wieder davon sprechen, | dass die Liebe eine Gottheit in sich beschließe; | ich aber sage, dass es eine solche nicht gibt, | weil mehr als ein Gott nicht ist und nicht zu sein wagt. || Und wer das mir gegenüber in Frage stellen wollte, | dem demonstrierte ich mit quia und quanto, | dass es mehr als eine Gottheit nicht gebe. | Ich will nicht länger in Eitelkeit verharren: | Ihr, die ihr neue Rede und Gesang dichtet, | löst Euch von dem, durch das ihr sündigt.

Giacomos Sonett mit dreireimiger volta (das heißt A B A B A B A B C D E C D E ) überführt die Klage über das ›Verwundetsein‹ von der Liebe in einen gelehrten Disput über die Liebesdichtung selbst. Es wird ein Gegensatz entfaltet zwischen einem ›falschen‹ trovare und einem rechten, für das Giacomo in seinem Sonett eine direkte imperativische Anleitung gibt. Er tritt entschieden als poetologisch——————— 108

Text der Tenzone nach: Giacomo da Lentini: Poesie. Hg. von Roberto Antonelli. Rom 1979, S. 239ff.; in der Graphie hebe ich lediglich die volta hervor. Nach den an den späteren Handschriften und Poetiken gewonnenen Einsichten von Weinmann könnte man zusätzlich die einzelnen pedes und die voltae bezeichnen, was der verbreiteten Markierung durch Majuskeln Rechnung tragen würde; vgl. Weinmann, bes. S. 43–46. Keinesfalls sollten frühe Sonette nach romantischem Vorbild strophisch viergeteilt dargestellt werden, wie es in den meisten Anthologien – allerdings nicht mehr in kritischen Ausgaben – noch immer der Fall ist.

155 moralische Instanz auf, die das falsche Dichten angreift und einem ›neuen‹ Dichten das Maß setzt. Er setzt damit exakt an einer der Schnittstellen der metaphorischen Relation ein, indem er der prekären Mythisierung der Liebe in der Gestalt des Gottes Amor mit einem christlichen Dogma und mit scholastischen Beweisverfahren entgegentritt.109 Die Tradition der Minnedichtung wird damit geradezu unter wissenschaftlichen Rechtfertigungsdruck gestellt, zugleich wird mit dem Hinweis auf »novo ditto e canto« ausdrücklich ein poetologischer Anspruch mit deutlich normativen Akzenten formuliert.110 Die Antwort des Abate tritt nun in Fortführung der A - und E - Reime mit dem Vorwurf auf, dass Giacomo wohl persönlich von Liebe nichts verstehe, da er sie sonst nicht theologisch abqualifizieren würde und an ihrer Macht nicht zweifelte: »Che s’Amor vi stringesse coralmente, / non parlereste per divinitate / [in]anzi credereste veramente / che[d] elli avesse in sé gran potestate.«111 Dies provoziert eine Antwort über die Qualität der persönlichen Liebe des Giacomo: GIACOMO DA LENTINI Cotale gioco mai non fue veduto, c’aggio vercogna di dir ciò ch’io sento, e dottone che non mi sia creduto, però c’ogn’om ne vive a scaltrimento; pur uno poco sia d’amor feruto sì si ragenza e fa suo parlamento, e dice: «Donna, s’io non aggio aiuto, io me ›nde moro, e fonne saramento». Però gran noia mi fanno menzonieri, sì ›mprontamente dicon lor menzogna, ch’eo lo vero dirialo volontieri; ma tacciolmi, che no mi sia vergogna, ca d’onne parte amoro[so] pensieri intrat’è in meve com’agua in ispugna.

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Vgl. für die Analogie zur scholastischen disputatio Elias L. Rivers: Certain Formal Characteristics of the Primitive Love Sonnet. In: Speculum 33 (1958) 42–55, bes. S. 53f.; Ulrich Mölk: Le sonnet ›Amor è un desio‹ de Giacomo da Lentini et le problème de la genèse de l’amour. In: Cahiers de Civilisation Médiévale 14 (1971) 329–339, bes. S. 333ff.; J. Schulze: Die sizilianische Wende in der Lyrik. In: Poetica 11 (1979) 318–342, hier: S. 328ff.; außerdem: Kleinhenz: The Early Italian Sonnet, S. 66; vgl. auch unten, S. 159. Eine ähnliche Tendenz findet man in einer Kanzone Giacomos, die als ›Dekonstruktion‹ der trobadoresken Bitte um die ›Gnade‹ (merzede) der Dame gelten kann, die der Notar hier für abgenutzt und bedeutungslos erklärt. Christopher Kleinhenz interpretiert die Kanzone Amor non vole ch’io clami als Ausdruck einer poetologischen Reflexion auf eine Erneuerung der trobadoresken Lyrik, deren Erfüllung er in der Erfindung des Sonetts erkennen will; Kleinhenz: Giacomo da Lentini, S. 219–222; als ›ironischen Gegen-Gesang zum amor-fino der Trobadors‹ qualifiziert Folena die Dichtung der Sizilianer; Folena: Cultura e poesia dei Siciliani, S. 312. Der Text der Tenzone auch in: Poeti del Duecento, S. 85; eine sehr freie – nicht immer ganz sinngemäße – deutsche Versübertragung der gesamten Tenzone bietet Schrott, S. 416–420; Analysen finden sich unter anderem bei Santangelo, S. 76–121 (der eine Erweiterung der Tenzone vorschlägt) und bei Kleinhenz: The Early Italian Sonnet, S. 64–68.

156 Ein solches Widerspiel wurde noch niemals gesehen | dass es mir Scham bereitet zu sagen, was ich fühle, | und fürchte, dass man mir nicht glaube, | weil jedermann in der Lüge lebt; | wo einer, der nur ein wenig von der Liebe verwundet ist | sich herausputzt und daherschwätzt, | und sagt: »Herrin, wenn ich keine Hilfe erhalte, | werde ich sterben, das schwöre ich«. || Deshalb verdrießen mich solche Lügner derart, | wenn sie ihre Lügen unumwunden aussprechen, | dass ich ihnen gerne das Wahre sagen würde; | doch ich 112 schweige, damit mir keine Scham werde, | weil von jeder Seite [Liebe] Gedanken | in mich eingedrungen sind wie Wasser in den Schwamm.

Wieder ist die präzise Konstruktion des Sonetts auffällig, das in Bildern und Begriffen ein klares Argument vorführt. Das Sonett verklammernde Schlüsselbegriffe bilden die Lüge und Heuchelei einerseits – »scaltrimento« und »menzogna« (v. 4, 9, 10) – und die Wahrheit – »lo vero« (v. 11) – andererseits. Dabei geht es um die Wahrhaftigkeit des Gefühls, das in einer in Formeln erstarrten Minnedichtung, die hier sogar im Zitat vorgeführt und als affektierte Übertreibung gekennzeichnet wird, verloren gegangen ist. Die Verlogenheit erscheint allerdings als eine allgemeine, der ›jedermann‹ unterliegt – »ogn’om ne vive a scaltrimento« (v. 4) –, so dass die Aussprache des Gefühls – »dir ciò ch’io sento« (v. 2) – zum grundsätzlichen Problem wird. Dafür steht als weiterer Klammer- und Schlüsselbegriff die ›Scham‹ – »vergogna« (v. 2, 12). Scham bereitet es, die Liebe auszusprechen, weshalb sich der Protagonist dieses Gedichts zum Schweigen entschließt – »tacciolmi, che no mi sia vergogna« (v. 12).113 Die Zurückweisung der Sprache der Liebe ist eine Zurückweisung ihrer spezifischen Metaphorisierung – als Gott Amor einerseits und als individuelles Dienstverlangen andererseits –, die allerdings sogleich einer neuen Metaphorisierung Platz macht. Die Schlusswendung des Sonetts enthält mit dem Bild des Schwamms ein Zitat aus einer provenzalischen Kanzone,114 wobei die Bedeutung des »amoro« in der vorletzten Zeile grammatisch nicht ganz klar ist: bezieht es sich auf die Richtung (»parte amoro[so]«), auf die Gedanken (»amoro[si] pensieri«), oder ist es substantivisch zu verstehen (»Amor ò pensieri«)? In jedem Fall drückt das Abschlussbild eine Universalisierung und Psychologisierung des Liebesgefühls aus, die sich von der werbenden Andichtung der Dame in der Minnelyrik unterscheidet. Nicht das personale Verhältnis des Minnedienstes steht im Mittelpunkt, sondern ein tendenziell universalisierter Liebesbegriff, der sich durch umfassendes Gefühl auszeichnet. Der Dichter tritt nicht als ein Fordernder auf, ——————— 112

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Die Übersetzung ist nicht eindeutig, da die Stelle lediglich in zwei gleichermaßen unklaren Varianten überliefert ist. Der Codex Vat. Lat. 3793 lautet: »cadongni partte amoro pemsieri. / edentre meue comagua inspungna«; Chig. L. VIII 305 dagegen: »enon(n)e parteamor penseri. / intrate inme chomagua inispungna«; vgl. Giacomo da Lentini, Bd. 1, S. 260; die grammatische Zuordnung von amor bzw. amoro bleibt unklar. Die Lesart von Kleinhenz scheint nicht nur bei diesem Sonett tendenziell ›petrarkistisch‹ überformt zu sein, wenn er »his lady« erwähnt. Für Giacomo ist es hier wiederum gerade charakteristisch, überhaupt keine Dame zu adressieren, sondern vom Wesen der Liebe und von den Dichtern zu sprechen; Kleinhenz: The Early Italian Sonnet, S. 67. Vers 29–30 der Kanzone Mainta gens von Peirol lautet: »Per tot lo cor m’intra l’amors, / Si com fai l’aigu’en l’esponja«; Poeti del Duecento, S. 86 Anm.

157 sondern als ein von Liebe Erfüllter, als ein von Liebe Eingenommener. Zurückgedrängt ist die Asymmetrie des Minneverhältnisses, an deren Stelle ein definitives Wissen – »lo vero« – tritt, das den Charakter eines normativen Universalismus annimmt. Dies kommt im übrigen auch in der klaren Autoritätsverteilung der Tenzonen zum Ausdruck, in denen Giacomo geradezu als ein Lehrer auftritt. Eine solche Lesart wird durch das Abschlusssonett des Abate bestätigt, das nun völlig unvermittelt anhebt, die Liebe und die Poesie des Giacomo da Lentini zu preisen, deren Vorhandensein er soeben noch abgestritten hatte: »ser Giacomo valente [...] per vostro amor ben amo Lentino«. Den Ausschlag dafür hat eben die genannte Liebesrede gegeben: »Lo vostro detto, poi ch’io l’ag[g]io adito, / più mi rischiara che l’aire sereno«.115 Dieser »detto«, diese Rede kontrastiert wiederum mit den oben kritisierten ditti jener Trobadors, die Amor zu einer Gottheit gemacht haben und die Sprache der Liebe zur Lüge.116 Den raisonnierenden Gestus teilen auch die Sonette außerhalb der Tenzonen. Sie befassen sich meist mit den Topoi der Liebe und führen diese einer Analyse zu, die ebenfalls von ›wissenschaftlichen‹ Auffassungen gekennzeichnet ist, von der die Minneklage verdrängt wird. Ein Beispiel sei noch gegeben, das die für die spätere petrarkistische Tradition weiter virulenten Motive der Sonne, der Augen, des Spiegels, des Pfeils, des Feuers und des Herzens enthält. GIACOMO DA LENTINI Sì come il sol che manda la sua spera e passa per lo vetro e no lo parte, e l’altro vetro che le donne spera, che passa gli ochi e va da l’altra parte, così l’Amore fere là ove spera e mandavi lo dardo da sua parte: fere in tal loco che l’omo non spera, passa per gli ochi e lo core diparte. Lo dardo de l’Amore là ove giunge, da poi che dà feruta sì s’aprende di foco c’arde dentro e fuor non pare; e due cori insemora li giunge, de l’arte de l’amore sì gli aprende, e face l’uno e l’altro d’amor pare.

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So wie die Sonne, die ihren Strahl aussendet | und die durch das Glas geht, ohne es zu brechen, | und wie jenes andere Glas, das die Frauen spiegelt, | das durch die Augen geht auf deren andere Seite, | so verwundet Amor dort, wo er hinstrahlt | und den Pfeil seinerseits hinschickt: | er verwundet an einer Stelle, die man nicht erwartet, | er geht durch die Augen und zerbricht das Herz. || Der Pfeil Amors, dort wo er trifft, | fühlt sich, sobald er verwundet, | wie Feuer an, das innen brennt und außen nicht erscheint; | und bindet zwei

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Poeti del Duecento, S. 87. Im zweiten Sonett der Tenzone, Vers 5: ca dicono in lor ditto spessamente / che amore [...].

158 Herzen zusammen, | lehrt sie so von der Kunst der Liebe, | und macht den einen und den 117 anderen in der Liebe gleich.

Deutlich ist die klare Strukturierung der beiden Vergleichselemente des Sonnenstrahls und des vom Spiegel zurückgeworfenen Blicks in den ersten beiden Verspaaren und des Liebespfeils in den folgenden beiden. Beschrieben wird die Liebesmechanik: Liebe dringt durch die Augen, die unversehrt bleiben, ins Herz, das verwundet wird. Rhetorisch erscheinen Quartette markiert: »Sì« – »così«, aber auch die couplets. Im Sextett wird das Pfeilmotiv als Sonettklammer wörtlich wieder aufgegriffen – »lo dardo de l’Amore« – und der Liebesschmerz seinerseits auf den im ersten Teil evozierten Gegensatz von innen und außen bezogen: Liebe brennt im Inneren und ist außen nicht zu sehen. Überraschend ist das Wiederaufgreifen des Herzensmotivs im zweiten Terzett, das mit dem Zerbrechen des Herzens in Vers 8 kontrastiert – »lo core diparte« : »due cori insemora li giunge« (v. 12) –, und das das Walten der Liebe als eine Vereinigung beschreibt, die einer Lehre unterliegt – »l’arte de l’amore« (v. 13).118 Ganz klar ist hier wieder der Verzicht auf die Adresse an die Dame; vielmehr bemüht sich auch dieses Gedicht um ein objektives Raisonnement.119 Gegeben wird eine Psychologie der Liebe in amormythologischen Bildern, deren Pointe am Schluss die Wechselseitigkeit der Liebesbindung bezeichnet: auch dies wiederum in Differenz zur trobadoresken Vorgabe des grundsätzlich einseitigen Minnedienstes. Diese Pointe hat ihr formales Äquivalent in der Identität der Reimworte »spera« für das Spiegeln und »parte« für das Trennen, sowie in der volta der gegenläufigen Begriffe »giunge« für das Verbinden, »aprende« für das Lernen und »pare« für die Gleichheit der Liebenden.120 Wie für den provenzalischen Minnediskurs gibt es auch für die formalen und diskursiven Merkmale der sizilianischen Lyrik und ihre möglichen Zusammenhänge eine längere Forschungsdiskussion. Hugo Friedrich ging davon aus, dass es sich bei den diskursiven Elementen um die bloße formale Variationen der immergleichen Gegenstände handelte, deren Behandlung er mit den Stichworten ——————— 117 118 119

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Die Übersetzung ist eine Modifikation der Prosaübersetzung von Schrott, S. 528. Vgl. für die inneren lexikalischen und phonetischen Bezüge dieses Sonetts Menichetti, S. 15. Kleinhenz bezieht den Spiegel auf die Dame, die die Strahlen der Liebe reflektiere. Eine solche Gleichsetzung kann ich im Text nicht erkennen. Der Plural ›Frauen‹ in »che le donne spera« weist vielmehr auf eine allgemeine Eigenschaft des Spiegels hin und nicht auf die einer bestimmten Dame; vgl. Kleinhenz: The Early Italian Sonnet, S. 48f. Anhand dieses Sonetts hat Raoul Schrott eine syllogistische Analyse vorgenommen. Die Probleme, die er in der Bestimmung der Vergleichspunkte von Sonnenstrahl und Liebespfeil sieht, dass nämlich Glas und Spiegel nicht brechen während das Herz verwundet wird, ergeben sich erst aus der systematischen Suche nach der syllogistischen Struktur. Es handelt sich um einen einfachen Vergleich: Wie die Sonne durchs Glas und der Blick durch den Spiegel geht und ins Innere der Augen fällt, geht der Pfeil durch die Augen, die unversehrt bleiben, ins Herz; Analogon ist das Eindringen in ein Inneres. Schrott hält im übrigen irrtümlich Friedrich Schlegel für den Entdecker des logisch-syllogistischen Aspekts des Sonetts. Sein Beitrag enthält manche Pointierungen, die seinem essayistischen Charakter geschuldet sind; vgl. Schrott, S. 404–412, bes. S. 408f.

159 »Kunsthaftigkeit« und »Manierismus« belegte.121 Er beschrieb bereits die Veränderung des Liebesdienstes, der »zugleich entspannter wie menschlich universaler wurde«, und führt dies auf den »Unterschied im Gesellschaftsgefüge« zurück.122 Dem entsprach für das Sonett der Hinweis auf die vermeintlich syllogistische Struktur, die als eine Eigentümlichkeit der Form selbst aufgefasst wurde: Das Sonett ist lyrischer Syllogismus, wenn auch nicht in allen Fällen, so doch in den meisten. Es behielt diesen Charakter auch bei, als seine Schrittfolge seltener eine solche der Begriffe, vielmehr der seelischen Vorgänge wurde. Im Voranschreiten bis zur überraschenden Pointe näherte es sich später dem antiken Epigramm an und wurde dann oftmals auch so genannt. [33]

Die disputatorische Natur vieler Sonette als syllogistische zu bezeichnen, schließt Unterschiedliches kurz. Sowohl der argumentative wie der disputatorische oder der syllogistische Charakter mancher Sonette der Sizilianer wird offenbar durch die interne Strukturiertheit und die äußere Begrenzung der Form begünstigt; zu einem Wesensmerkmal der Gattung und selbst zu einem bloß dominanten sollte man nichts davon erheben, denn die Form selbst steht dafür nicht ein. Die Analogie des Sonetts zum Syllogismus darf schon aus methodischen Erwägungen nicht als ein intrinsisches Gattungsmerkmal aufgefasst werden. Für die Sonette Giacomos zeigen die Beispiele tatsächlich einen deutlich argumentativen Charakter, der sich einerseits in klaren, von Bildern und Begriffen strukturierten Kontrasten ausspricht, und der andererseits kunstvoll in die interne Strukturiertheit des Sonetts eingepasst ist.123 Ulrich Mölk hat die formalen und diskursiven Merkmale der frühen Sonette sowohl interpretatorisch aufgezeigt als auch in einen weiteren kulturellen Zusammenhang zu stellen versucht. Er charakterisiert für die Sonette eine forma mentis, die im Analysieren, Definieren, im Prüfen und Wägen der Vorgaben und Argumente besteht und deren soziale Verwendungsweise die Disputation mit dem Ziel einer argumentativen Harmonisierung darstellen soll. Darin erkennt er im Anschluss an Erwin Panofsky einen habitus, der mit der Entwicklung einer zunehmend städtischen Bildungskultur zu tun haben soll.124 Wichtige Argumente dafür bilden der nicht mehr feudale sondern nunmehr städtisch——————— 121 122 123

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Friedrich, S. 25; zu einer Kritik: Schulze: Die sizilianische Wende der Lyrik, S. 337f. Anm. 49. Friedrich, S. 26. Vgl. für detaillierte Analysen des Verhältnisses von Syntax, Logik und Rhetorik einerseits und metrischer Sonettstruktur andererseits Spitzer; Menichetti; Santagata, S. 57–113: »Connessioni intratestuali nel sonetto e nella canzone del Duecento«; Kleinhenz: The Early Italian Sonnet, S. 35–77: »The Sonnets of the Scuola Siciliana«. Mölk: Le sonnet Amor è un desio, S. 333f.; unter Bezug auf Erwin Panofsky: Gotische Architektur und Scholastik. Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter. Hg. von Thomas Frangenberg. Köln 1989; Mölk benutzt die französische Übersetzung des englischen Originals, Paris 1967; vgl. zum Begriff des habitus das Nachwort von Pierre Bourdieu zur französischen Panofsky-Ausgabe und dessen veränderte deutsche Fassung in Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Übs. von Wolfgang Fietkau. Frankfurt a.M. 1974, S. 125–158, sowie das Nachwort von Frangenberg zur deutschen Panofsky-Ausgabe, S. 115–130.

160 zentralistische Charakter des kaiserlichen Hofes und die universitäre Schriftbildung der Beamten bzw. Poeten, die diesen Hof denjenigen kulturellen Entwicklungen zuordnet, die für das 13. Jahrhundert charakteristisch sind: der Entwicklung von Universitäten und scholastischer Philosophie, von Stadt und gotischem Kathedralbau. Mölk zeigt konkrete Analogien in der Theorie der Wahrnehmung und der Liebe zwischen den Sonetten Giacomos und der Summa Theologiae des Thomas von Aquin auf, um diesen Zusammenhang weiter zu erhärten. Fraglos ist die Sonettcharakteristik der sizilianischen Schule damit in einen sehr weiten und vornehmlich geistesgeschichtlich gekennzeichneten Horizont gestellt, doch ist mit dieser Parallele eine aussagekräftige Erläuterung des Zusammenhangs von fixierter Sonettform, argumentativer Behandlung der Gegenstände und übergreifenden kulturgeschichtlichen Kontexten hergestellt. Diesen Kontexten hinzufügen lässt sich der Hinweis auf die Tatsache, dass die Entwicklung der sizilianischen Dichtung zeitlich zusammenfällt mit der revolutionären Ausweitung des Laienschriftwesens in Italien gerade im ersten Drittel des Duecento. Wolfgang Raible führt das Beispiel des Archivio dello Stato di Siena an, das für das 12. Jahrhundert insgesamt 500 schriftliche Dokumente nachweist, für das 13. Jahrhundert aber 16.509, wobei zwischen den Jahren 1220 und 1240 eine Vervielfachung der Produktion zu verzeichnen ist.125 Die Dekaden, in denen das Sonett erfunden wird, sind Dekaden einer allgemeinen Explosion der Laienschriftkultur im italienischen Raum. Dies gilt in besonderem Maß gerade auch für den kaiserlichen Hof, an dem dieses hervorgebracht wurde. Die Regierung Friedrichs II. zeichnete sich entscheidend durch ihre durchgreifende Juridifizierung der gesamten Staatsverwaltung aus, die in einer ausgedehnten schriftlichen Gesetzgebung umgesetzt wurde. Die Autoren dieser Gesetze waren zugleich die Erfinder des Sonetts. Dass dessen geometrischnumerologische Konstruktion eine Affinität zum Medium der Schrift besitzt, erhält dadurch eine zusätzliche kulturelle Signifikanz. Eine dezidiert sozialgeschichtliche Fundierung der sizilianischen Minnekonzeption hat Henning Krauß im Anschluss an die Arbeiten von Erich Köhler zu geben versucht. Er unterstreicht den Hinweis auf die gewandelten politischen Ambitionen der kaiserlichen Herrschaft und auf deren Differenz zu den überkommenen Feudalstrukturen.126 Auch er verfällt dann jedoch stärker noch als Köhler in eine Personalisierung der fiktionalen Rollenverhältnisse, indem er den Huldigungscharakter der Gedichte unmittelbar auf das reale Verhältnis der ——————— 125

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Wolfgang Raible: Orality and Literacy. In: Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Hg. von Hartmut Günther und Otto Ludwig. Teilbd. 1, Berlin 1994 (Handbuch der Sprach- und Kommunikationswissenschaften, Bd. 10,1), S. 1–17, hier: S. 15; vgl. stellvertretend für den gesamten Komplex mit zahlreichen Literaturhinweisen: Hagen Keller: Vom ›heiligen Buch‹ zur ›Buchführung‹. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992) 1– 31, bes. S. 5f.; vgl. zum Verhältnis von Sonetterfindung und Schriftlichkeit auch Santagata, S. 125ff. Henning Krauß: Gattungssystem und Sitz im Leben. Zur Rezeption der altprovenzalischen Lyrik in der sizilianischen Dichterschule. In: LiLi 2:11 (1973) 37–70, hier: S. 44–47.

161 kaiserlichen Beamten zu ihrem Herrscher bezieht. So identifiziert er den Beamtenadel als die relevante ›Trägerschicht‹ der Dichtung, die »sich in radikaler Abhängigkeit vom Kaiser« befunden habe (47). Insofern bleibe »die Analogie von Frauendienst und Herrendienst« auch hier gültig (53). Darauf wird nun die thematische Entpolitisierung im Wegfall entsprechender Gattungen (Sirventes) und die Beschränkung auf zeitenthobene Diskurse wie den der Liebe bezogen. Speziell zieht Krauß das Motiv des Engels (in Giacomos Sonett Angelica figurata) und die damit verbundene spirituelle Überhöhung der Dame heran, um eine unmittelbare Referenz auf die Person des Kaisers nachzuweisen (52–65).127 Während eine solche ›sozial-allegorische‹ Interpretation der sizilianischen Minnedichtung der nämlichen Kritik unterliegt, wie die der provenzalischen, ist die geistesgeschichtliche Perspektive im Anschluss an Ulrich Mölk weiterverfolgt worden. So hat Joachim Schulze die Liebeskonzeption in einem weiteren literarhistorischen Kontext als eine »sizilianische Wende der europäischen Lyrik« beschrieben, die eine Verschiebung von der Partnerbezogenheit der provenzalischen Minnekonzeption hin zu einem verstärkt ›objektiven Wissen‹ vollzieht: An die Stelle der Liebesethik mit Werten wie Ausdauer in der Werbung, Treue und Höfischkeit als Aufgaben des lyrischen Ich tritt die Liebesphilosophie mit den Grund128 werten der Erkenntnis und der Wahrheit.

Dieser Zug zum Raisonnement und zur Verwissenschaftlichung der Liebeskonzeption ist auch in den oben diskutierten Beispielen deutlich geworden. Schulze erklärt ihn ausdrücklich nicht aus der gesellschaftlichen Situation der Dichter (328), die weiterhin eine höfisch-gesellige war und die eine partnerorientierte Liebesdichtung durchaus erlaubte. Er bezieht sie vielmehr mit Panofsky und Mölk auf den gewandelten Bildungshorizont und damit auf den Kontext der scholastischen Disputatorik (329–333) und bezeichnet die sizilianische Wende als einen »Übergang von einem höfisch-ethisch orientierten zu einem scholastisch-philosophisch orientierten habitus« (333). Mit dieser Konstellation bringt er nun auch das Erscheinen des Sonetts in einen unmittelbaren Zusammenhang, das wegen seiner Kürze »eher für die Beleuchtung innerer Zustände und Einstellungen geeignet« sei, »die von der aktiven Bezugnahme auf die Partnerin gelöst und für sich interessant werden« (334). Diese Stilisierung der ›sizilianischen Wende‹ zu einem epochalen Ereignis ist von Andreas Kablitz insofern kritisiert worden, als auch die spätere Lyrik und gerade Petrarca sich immer wieder durch Partnerbezogenheit auszeichnet, so dass man eine durchgehende

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128

Anschließen läßt sich daran der zur Klärung der ›psycho-politischen Bedingungen‹ formulierte Vorschlag von Pierre Blanc, die Gedichte vollends wörtlich in Bezug auf ›die Kaiserin‹ zu lesen. Texthinweise lassen sich auch dafür nicht erbringen; vgl. Blanc, S. 11. Schulze: Die sizilianische Wende der Lyrik, S. 332.

162 Linie »zum ersten modernen, weil subjektiven Lyriker« auf solche Weise nicht ziehen könne.129 Einige Merkmale können nun zusammengefasst und verallgemeinert werden. In den Liebessonetten des Giacomo da Lentini ist eine Tendenz der Entpersönlichung und Objektivierung der Liebesthematik zu konstatieren, die verstärkt didaktische Züge annimmt.130 So fehlt jede konkrete Bestimmung der Dame; der Gebrauch von senhals (Verstecknamen) ist äußerst selten.131 Darin kommt eine Ent-Situationierung und Dislozierung der Liebesthematik zum Ausdruck: nicht mehr die kultische Bekräftigung eines personalen Verhältnisses wird im Minnediskurs vollzogen, vielmehr findet geradezu eine explizite Infragestellung dieser kultischen Bekräftigung statt und im Gegenzug eine gelehrte Objektivierung des gleichen Diskurses unter Bezug auf scholastische Argumentationsverfahren. Das Liebesverhältnis hat »den Charakter eines Rechtsverhältnisses verloren«,132 anstelle des Minnedienstes bildet die Liebespsychologie und die Liebesordnung den neuen Horizont.133 Man kann diese Objektivierung des Liebesdiskurses durchaus mit der formalen Innovation der Sonetterfindung selbst in Verbindung bringen. In ihrer Fixierung auf der Basis numerischer und damit universeller Prinzipien kann diese ihrerseits als ein Vorgang der formalen Objektivierung beschrieben werden. Diese Analogie ist seit langem gesehen und thematisiert worden. Die hier vorgenommene Analyse der frühesten Sonettform hat ihre Plausibilität noch unterstrichen. Das Sonett tritt in seinem ›Ursprung‹ – der Benjaminsche Ausdruck erscheint hier angebracht – bereits als eine Poesie der Differenz auf, die von einem Unterschied und einer Distanzierung des Überlieferten ausgeht, die sowohl in diskursiver wie in formaler Hinsicht zum Ausdruck gebracht ist. Dieser form- und diskursgeschichtliche Komplex, der die sizilianische Lyrik und damit den Moment der Sonettentstehung kennzeichnet, lässt sich in seiner Tendenz als eine ›Poetik der Objektivität‹ bestimmen. Dies impliziert gerade nicht den ——————— 129 130

131 132 133

Kablitz: Intertextualität, S. 25f. Anm. 11; das Zitat: Schulze: Die sizilianische Wende der Lyrik, S. 342. Vgl. auch Kleinhenz: Giacomo da Lentini; entsprechend der interpretatorische Befund von Schrott: »Im Zusammenhang mit den Minneliedern seiner Zeit ist dies das Erstaunliche und Neue am Sonett: es objektiviert seine Emotion, wo die trobadoreske Poetik vom Expressiven, dem Appell, der Anrede und der Apostrophe der Geliebten lebt, die bei da Lentino namenlos, ja körperlos bleibt wie das Ich: keine Personen, sondern Figuren, Begriffe in der logischen Operation einer Schlussfolgerung.« Schrott, S. 406. Folena: Cultura e poesia dei Siciliani, S. 288. Mölk: Die sizilianische Lyrik, S. 56. Dies bestätigen zahlreiche Analysen anderer Gedichte Giacomos; vgl. die allgemeine Charakterisierung bei Folena: Cultura e poesia dei Siciliani, S. 281; Quaglio: I poeti della »Magna Curia« siciliana, S. 186; zu Unterschieden der Liebesauffassung Muriel Kittel: Humility in Old Provençal and Early Italian Poetry. Resemblances and Contrasts. In: Romance Philology 27 (1973/74) 158–171; zum Sonett als Vorprägung stilnovistischer Tendenzen der Idealisierung der Liebe im Sinne einer religiös inspirierten Elevation und als idealer Form zur Präsentation intellektuell verfeinerter Liebessentimente: Kleinhenz: Giacomo da Lentini, S. 226–230.

163 Beginn lyrischer Subjektivität, wie ihn Schulzes Schlagwort einer ›Wende‹ evoziert. Zu den sozial- und kulturgeschichtlichen Anknüpfungspunkten einer solchen Poetik der Objektivität ist in der bisherigen Diskussion bereits einiges gesagt worden. Methodisch sind neben der konkretistischen Sozialallegorese (Köhler, Krauß) und der Vorstellung eines epochalen habitus (Panofsky, Mölk) sowohl linguistische als auch sozialwissenschaftliche (Warning, Schulze)134 Korrelationen hergestellt worden, die allesamt auf eine Analogie von poetischer Struktur und kultureller, sozialer und politischer Konstellation zielen. Eine solche Korrelation lässt sich im Kontext der vorliegenden Untersuchung unter Bezug auf die oben vorgetragene Theorie der gesellschaftlichen Institutionen und ihrer Legitimierung im Rahmen symbolischer Sinnwelten beschreiben, insofern man in einer Universalisierung und Zentrierung des Wertsystems in ganz grundsätzlicher Weise eine Legitimierung von imperialen Herrschaftsansprüchen im Kontext der institutionellen Konkurrenz von Feudalherren, Kirche und Kaisertum erkennen kann. Auf dieser Ebene kann der poetische Wertanspruch, der institutionelle Ort und die ideologische Signifikanz der sizilianischen Sonettdichtung in eine produktive literar- und kulturhistorische Beziehung gebracht werden. Eine Entfaltung dieser Zusammenhänge liegt nicht mehr im unmittelbaren Aufgabenbereich dieser Untersuchung. Ihre Anknüpfungspunkte sind bekannt und wurden angesprochen. Im folgenden soll zu den Elementen dieser symbolischen Sinnwelt einer ›imperialen Ästhetik‹ jedoch ein weiterer kulturgeschichtlich interessanter Baustein hinzugefügt werden, der an die Ergebnisse der Formanalyse des Sonetts anknüpft und der zugleich einen Faden aufnimmt, der seit Panofskys Hinweis auf den gotischen Kathedralbau kaum in schlüssiger Weise präzisiert wurde. In Fortführung, doch auch im Gegensatz zu dieser sehr abstrakten Analogie soll der Versuch gemacht werden, die Konstruktion des Sonetts mit der äußerst markanten und kunstgeschichtlich vieldiskutierten Herrschaftsarchitektur Friedrichs II. in Verbindung zu bringen, wie er sie beispielhaft im apulischen Castel del Monte verwirklicht hat. Die Kontexte jener Poetik der Objektivität können durch die Erörterung einer imperialen Baukunst erhellt werden, die der gleichen institutionellen Situation entsprungen ist und die damit ein Stein gewordenes Modell darstellt, das dem kleinen Schriftkunstwerk des Sonetts in jedem Sinn näher liegt, als die gotische Kathedrale Frankreichs.

1.7

Imperiale Ästhetik: Sonettform und Architektur am Hof Friedrichs II.

Der Vergleich zum architektonischen Monument bezieht sich hier nicht wie bei Panofsky und Mölk auf einen kulturhistorisch ausgreifenden Begriff des habitus ——————— 134

Warning bezieht sich unter anderem auf die Begriffe ›Konnotation‹ und ›Wertsystem‹, Schulze auf die Sprechakttheorie und den Luhmannschen Systembegriff; Schulze: Die sizilianische Wende der Lyrik, S. 319–322.

164 und auch nicht primär auf ein allgemein gefasstes Wertsystem, sondern sehr konkret auf die Grundlagen der Baugeometrie und auf deren mögliche Entsprechung zur numerischen Konstruktion des Sonetts. Numerologische Analogien dieser Art sind methodisch riskant und nur unter Vorbehalt vorzunehmen, pauschal zurückweisen sollte man sie gleichwohl gerade im gegebenen kulturellen Kontext nicht. Für das Sonett sind solche Analogien wiederholt angestellt worden, ohne zunächst zu schlüssigen Ergebnissen zu gelangen. Die Untersuchung von Heninger verweist in der Absicht solcher Analogiebildung etwa auf zahlreiche numerologisch signifikante Beispiele aus unterschiedlichen Kontexten, nahezu ausnahmslos aber aus späteren historischen Zusammenhängen, was kaum überzeugend und selten adäquat ist.135 Die im Folgenden vorgestellten Querbezüge zur staufischen Herrschaftsarchitektur können demgegenüber ein sehr viel höheres Maß an historischer und systematischer Evidenz beanspruchen. Dies wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass der Grundgedanke eines Vergleichs der numerischen Sonettproportionen mit den baugeometrischen Merkmalen des staufischen Castel del Monte unabhängig von meinen hier vorliegenden Überlegungen in einem zeitgleich entstandenen Aufsatz von Giovanella Desideri auf ähnliche Weise formuliert und in einen umfassenden ideengeschichtlichen Horizont gestellt wurde.136 Ihre noch wenig bekannten Thesen habe ich im Folgenden jeweils dokumentiert. Die imperiale Ästhetik der architektonischen Selbstdarstellung der Magna Curia zeichnet sich durch eine weitestgehend rationale Konstruktion und durch eine Geometrisierung der Formen aus, die deutliche Parallelen zu den Formbedingungen zeigt, die für das Sonett rekonstruiert wurden. Heinz Götze hat diese Bedingungen in seinen Arbeiten zur Baugeometrie von Castel del Monte deutlich herausgearbeitet. Er benennt die kunsthistorisch bemerkenswerte Stellung dieser Architektur, indem er von zwei Beobachtungen ausgeht: 1. von der so offenkundigen Verschiedenheit dieser von zisterziensischen Meistern gebauten Architektur gegenüber allen anderen zeitgenössischen Bauwerken. Diese Einmaligkeit ist zwar oft festgestellt, aber (vor Götze) nie erklärt oder begründet worden; 2. von den streng geometrisch-stereometrischen Formen, deren Ordnung durch ein vielfach 137 gegliedertes Symmetriesystem charakterisiert wird.

——————— 135

136

137

So bezieht er sich mehrfach auf den Kontext des neuplatonischen Denkens der Renaissance, er nennt Dante und Spenser, den Bodenplan einer Kirche aus 14 Quadraten, Illustrationen zur Quadratur des Kreises aus dem 16. Jahrhundert, die Anlage der Fensterrose der Kathedrale von Lausanne aus dem 13. Jahrhundert, Bramantes Plan für St. Peter in Rom aus dem Jahr 1505, die Medici-Kapelle von Michelangelo in San Lorenzo sowie verschiedene Beispiele moderner Kunst und Literatur; vgl. Heninger, S. 77, 80, 99f., 101–106. Giovanella Desideri: »Et orietur vobis timentibus nomen meum sol iustitiae«. Ripensare l’invenzione del sonetto. In: Critica del testo 3 (2000) H. 2, S. 623–663. Die hier vorgetragenen Überlegungen waren Teil meiner Habilitationsschrift von 2001 und sind unabhängig von den im Kern ähnlichen Thesen von Desideri entwickelt worden. Heinz Götze: Die Baugeometrie von Castel del Monte. In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Heidelberg 1991, Bericht 4, S. 9.

165

Abb. 1: Castel del Monte: Ostansicht mit Hauptportal

Götze versucht zu zeigen, inwiefern die Einmaligkeit der architektonischen Konzeption nahezu vollständig von ihrer numerologisch inspirierten rationalgeometrischen Konstruktion abzuleiten ist. Genau in diesem Aspekt deckt sich das literarhistorische Phänomen der Sonettentstehung mit dem kunsthistorischen. Diese grundlegende Feststellung ist zunächst noch wichtiger als die naheliegende Möglichkeit, konkrete numerische oder formale Entsprechungen zwischen dem Bauwerk und den Gedichten aufzuzeigen. Die Vorrangigkeit der geometrischen Konstruktion vor den historischen Abhängigkeiten gilt für beide Phänomene in eminenter Weise, denn in beiden Fällen ist die Ableitbarkeit im Rahmen von Traditionen stark eingeschränkt, der Konstruktionscharakter dagegen evident. Sie können insofern als das ästhetische Äquivalent eines exzeptionellen Herrschaftsanspruchs erscheinen. Man geht im übrigen davon aus, dass der Kaiser selbst als schöpferischer Anreger im Hintergrund sowohl der innovatorischen literarischen Bemühungen um eine volkssprachige italienische Dichtung als auch um die imperiale Architektur gestanden hat. Die Parallelität im konstruktiven Impuls ist damit personell und zugleich institutionell fokussierbar. Besonders interessant für den Vergleich ist die Analyse der Formensprache der Hauptwerke der staufischen Architektur Süditaliens in ihrer hohen Zeit zwischen 1230 und 1250 – es ist exakt die Zeit der Sonettentstehung. Es gelingt Götze hier, eine große Zahl von Bauwerken auf wenige geometrische Grundformen zurückzuführen. Den Ausgangspunkt bilden dabei Quadrat und Kreis sowie die davon abgeleiteten Acht- und Sechzehnecke. Von diesen zweidimensionalen Grundrissformen gelangt man zu den zugehörigen Körpern: Prismen bzw. Zylinder und Pyramiden bzw. Kegel. Aus der Kombination und geometrischen Durchdringung dieser Körper lassen sich die Bauformen vollständig ableiten:

166 Es scheint von ausschlaggebender Bedeutung, daß dieser Formenkatalog vollkommen in sich geschlossen ist und nur bestimmte, zusammenhängende Gruppen stereometrischer Körper enthält. Abgesehen davon, daß wir uns damit weitab vom Katalog geometrischer Figuren der Gotik bewegen, der das Drei- und Fünfeck (Chartres) ebenso einschließt wie das Sechseck und das nichtquadratische Rechteck, beeindruckt hier eine hochentwickelte Entwurfskonzeption der klassischen Zeit hohenstaufischer Bauten, die sich ausschließlich zwischen Quadrat und Kreis bewegt mit ihren geometrischen und stereometrischen 138 Derivaten.

In diesem erstaunlich homogenen Formenkatalog erscheint ein Aspekt bedeutsam, dem Götze selbst keine besondere Aufmerksamkeit schenkt: die Mittelstellung des Oktogons zwischen Quadrat und Kreis (Abb. 2), die es zu einem Schritt bei der Annäherungsberechnung der Kreisgeometrie macht, die in Pötters’ Zirkeltheorie des Sonetts bereits die zentrale Rolle spielte. Bereits Götze hat auf zahlreiche numerologische Implikationen des Oktogons hingewiesen. Kunsthistorisch liegen Beziehungen zur Aachener Pfalzkapelle Abb. 2: Rotierende Quadrate und Friedrich Barbarossas und zum dortigen Oktogon (nach Heinz Götze) Achteckleuchter sowie zur achteckigen römisch-deutschen Kaiserkrone nahe, von den universellen zahlensymbolischen Zusammenhängen einmal abgesehen, außerdem sind Verbindungen zur Baukunst des islamischen Kulturkreises wahrscheinlich.139 Desideri geht darüber noch hinaus, indem sie eine allegorische Signifikanz der Zahlen Acht und Sechs im Sinne des Motivs der ›Gerechtigkeit‹ und des Rechts zu rekonstruieren sucht, die auf das konkrete Herrschaftsprogramm Friedrichs II. gemünzt sein soll. Sie bezieht sich dazu zunächst auf die Harmonielehre im Musiktraktat von Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii, der die besondere Bedeutung der Zahlen Acht und Sechs hervorhebt.140 Ferner verweist sie auf die numerologische Signifikanz der Achtzahl als eines traditionellen Symbols der Stabilität (S. 641) und auf die Bestimmung der Gerechtigkeit als eines Prinzips der Proportionalität in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles.141 Vor diesem Hintergrund deutet sie die Acht in Bezug auf den Kaiser als ein imperiales ——————— 138 139 140

141

Heinz Götze: Castel del Monte. Gestalt und Symbol der Architektur Friedrichs II. München 31991 (zuerst 1984), S. 103f. Vgl. die reichhaltig illustrierten Kapitel zu Achteck und Achtstern bei Götze: Castel del Monte, S. 109–133; zu möglichen orientalischen Vorbildern ebd., S. 49–60. Das Argument stammt von Aurelio Roncaglia: Note d’aggiornamento critico su testi del Notaro e invenzione del sonetto. In: In ricordo di Giuseppe Cusimano. Giornata di studio sul siciliano antico. Hg. von Giovanni Ruffino u.a. Palermo 1992, S. 9–25; Desideri, S. 637–639. Desideri, S. 642–644. Aristoteles bestimmt die Verteilungsgerechtigkeit als proportionale Gerechtigkeit: Eth. Nic. V,6,30.

167 Zeichen von Gerechtigkeit und Rechtlichkeit und damit als ein zentrales Motiv der kaiserlichen Herrschaftsausübung.142 Dazu passt dessen Bezeichnung als »sol mundi qui lucebat in gentibus«, als »sol justitie« und als »auctor pacis« in den berühmten Worten seines Sohnes Manfredi anlässlich des Todes Friedrichs II. (S. 657). In Bezug darauf verweisen die Zahlen Drei und Sechs dann auf die Trinität und Transzendenz, was sich als eine Überbietung und Vervollkommnung der irdischen, kaiserlichen Rechtspflege durch die göttliche Gerechtigkeit des Jüngsten Gerichts verstehen lässt (S. 655). Es ergibt sich mithin eine durchgreifende, universale Deutung des Verhältnisses 8 : 6. Indirekt erschlossene allegorische Ausdeutungen sind generell schwer zu erhärten und führen leicht zum Eindruck der Banalität oder der Überinterpretation. Desideris Vorschlag übertrifft dabei jedoch viele ältere Versuche in der Qualität der Grundlegung wie in der historisch-semantischen Konkretion. Methodisch ist gleichwohl festzuhalten: Während die allegorische Semantik von numerischen Verhältnissen oft nur Allgemeinheiten liefert und ohne explizite Zeugnisse einer historischen Allegorese nur begrenzt präzisierbar ist – was auch für Desideris Vorschläge gilt –, unterstreicht das doppelte Auftreten des Zahlenverhältnisses von Acht und Sechs in der Konstruktion des sizilianischen Sonetts und in der Baugeometrie der Architektur des Castel del Monte grundsätzlich eine diesem Verhältnis zugeschriebene numerologische Signifikanz im historisch-institutionellen Kontext des staufischen Kaiserhofs. Die Gemeinsamkeit der beiden kaiserlichen Hofkünste zeigt sich in einem radikalen geometrischen Formwillen, der in der Kunst der Epoche kaum seinesgleichen hat. Castel del Monte stellt den Höhepunkt der Baukunst Friedrichs II. dar. Seine Konstruktion fußt auf einer Vervielfachung der Figur des Achtecks, die die Außengestalt, den Innenhof und die acht vorgesetzten Türme prägt sowie zahlreiche architektonische Details im Inneren (Abb. 3, Abb. 4). Diese potenzierte oktogonale Struktur macht die Einzigartigkeit des Kastells aus. Es gibt für sie kunsthistorisch keine Entsprechung.

——————— 142

Desideri, S. 641–647, insbes. S. 647 u.ö. Sie verweist zudem auf die Symbolbedeutung der Palme als ›amor iustitiae‹, die sich in der Ausgestaltung von Castel del Monte als Ornament finde; ebd., S. 656.

168

Abb. 3: Castel del Monte: Axonometrische Darstellung des Erdgeschosses, Details schematisch

Abb. 4: Castel del Monte: Axonometrische Darstellung des Obergeschosses, Details schematisch

Bereits die Übereinstimmung im strikten geometrischen Zugriff, das Vorherrschen von Maß und Zahl vor den Merkmalen der überlieferten Tradition verbindet die architektonische und die poetische Form, doch es lassen sich auch in den konkreten numerischen Verhältnissen grundlegende Affinitäten nachweisen. Unübersehbar ist bereits die Tatsache, dass der Aufgesang des Sonetts in der Schreibweise in Langzeilen aus zwei mal vier Versen besteht, die man sowohl als ein doppeltes Quadrat als auch als Achteck interpretieren kann. Bautechnisch wird das Achteck aus zwei gegeneinander gedrehten Quadraten konstruiert (Abb. 2).143 Während die oktogonale Konstruktion des Kastells unter Baugeschichtlern stets große Aufmerksamkeit erfahren hat, wurde dem weniger markanten Vorkommen der Zahlen Drei und Sechs nur geringe Beachtung geschenkt. So spricht Götze davon, dass das Drei- oder Sechseck nur ausnahmsweise vorkomme, misst diesem Vorkommen aber keine numerologische Signifikanz zu.144 Gerade hier liegt aber die größte Affinität des architektonischen Monuments zu den Merkmalen des Sonetts: im Zusammenwirken der Zahlen Acht und Sechs als gemeinsames Konstruktionsprinzip.

——————— 143

144

Heninger zeigt eine Abb. 2 entsprechende Figur aus Oronce Finé: De quadratura circuli. In: Protomathesis. Paris 1532, fol. 91, die der von Götze beschriebenen geometrischen Konstruktion des Oktogons mittels zweier um 45° gegeneinander gedrehter Quadrate entspricht; Heninger, S. 97, Fig. 11. Götze: Castel del Monte, S. 104.

169

VIII

VII

VI

V

IV

III

II

I

Abb. 5: Castel del Monte: Abwicklungsdarstellung der Innenhoffassaden

Auffallend im Blick auf die Zahlen Drei und Sechs ist in diesem Zusammenhang die asymmetrische Anordnung der Portale im Innenhof (Abb. 5 bis Abb. 7). In die acht Wände des Hofs sind lediglich drei Portale eingelassen, die die Räume des Erdgeschosses erschließen. Durch das äußere Hauptportal gelangt man zunächst durch einen ersten Saal I und einen weiteren Saal II durch eines dieser drei inneren Portale in den Hof und von dort durch die beiden anderen in die sechs übrigen Räume III bis VIII, wobei jedes der beiden Portale in den mittleren von jeweils drei Räumen führt. Die Raumaufteilung im Erdgeschoß entspricht also nicht der oktogonalen Symmetrie von 2 + 2 + 2 + 2, sondern sie bildet drei Raumgruppen 2 + (3 + 3)145 mit je einem zugeordneten Portal zum Hof. Im Obergeschoß fehlt diese Erschließung und alle acht Räume sind untereinander verbunden. Hier öffnen sich wiederum drei prächtige Fenstertüren zum Hof, doch nicht über den Portalen in den Hoffassaden II, IV und VII, sondern um 90° verdreht (bzw. um die Achse der Fassade IV gespiegelt) in den Hoffassaden I, IV, und VI. Dadurch befindet sich nur in Fassade IV eine Fenstertür über einem Portal (Abb. 5, Abb. 7). Diese Fassade war zusätzlich über dem Portal mit einer (heute weitgehend zerstörten) Reiterstatue geschmückt, wodurch sie noch zusätzlich herausgehoben ist. Desideri weist darauf hin, dass die Wände im Innenhof neben den Portalen auch kleinere Fensteröffnungen besitzen, so dass sechs Fassaden je drei Öffnungen besitzen und zwei jeweils vier. Auch die Rundfenster im Erdgeschoss gibt es dabei genau dreimal. Die asymmetrische Gestaltung der Innenhofwände, die die Bauhistoriker stets irritiert hat, lässt sich numerologisch mithin schlüssig mittels der Zahlen Drei beziehungsweise Sechs sowie Vier beziehungsweise Acht motivieren: »tutto il castello si struttura su questi due numeri.« 146

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Die Klammern weisen darauf hin, dass die sechs Räume untereinander verbunden sind. Desideri, S. 651.

170

Abb. 6: Castel del Monte: Innenhof, Wände der Räume 1, 8 und 7

Abb. 7: Castel del Monte: Innenhof, Wände der Räume 6, 5 und 4

Die Türme sind innen entweder als achteckige Nebenräume geformt, wo zum Teil Toiletten untergebracht sind, und tragen im Erdgeschoß ein achtteiliges Gewölbe, oder sie sind als Treppenturm rund ausgeformt und tragen ein dreioder sechsteiliges Gewölbe.147 Die beiden Fronttürme 8 und 1 zu seiten des Hauptportals sind innen achteckig, von den restlichen sechs Türmen ist jeder zweite als Treppenturm ausgebildet (Abb. 3, Abb. 4), man gelangt über die drei Türme 3, 5 und 7 aus den Räumen IV, V und VIII ins Obergeschoß. Der herrschaftliche Raum IV besitzt also als einziger im Erdgeschoss einen Zugang vom Hof, einen Treppenaufgang und im Obergeschoß ein Fenster zum Hof. Ferner ist ihm die prächtigste Fassade vorgelagert. Bauhistoriker haben eine numerologische Motivation dieser Beobachtungen zur Signifikanz der Drei- und Sechszahl bislang kaum in Betracht gezogen. Auch wenn nicht leicht zu sagen ist, inwiefern sie numerologisch bedeutsam sind, gibt es kaum einen anderen einsichtigen Grund, warum die Laufwege des Kastells nicht symmetrisch angelegt sind und eben nicht jeder zweite Raum oder jeder vierte Raum ein Innenportal, eine Fenstertür und einen Treppenaufgang erhält, wie es aus der oktogonalen Anlage nach Symmetrieregeln unmittelbar folgen würde. Um zu belastbaren Aussagen zu kommen, bemühen sich neuere Forschungen anhand von Untersuchungen der Verteilung von Einrich——————— 147

Desideri ist zudem aufgefallen, dass die außen virtuell achteckigen Türme tatsächlich nur sechs Außenwände besitzen, da zwei ihrer Wände in die Mauern des Zentralbaus hineinragen und somit unsichtbar bzw. inexistent sind (Abb. 3, Abb. 4). Vgl. auch ihre Beobachtungen zu den Maßen des äußeren Hauptportals, das in ein Quadrat aus 6 x 6 Metern eingestellt ist, während das Tympanon 6 x 3 Meter misst; Desideri, S. 650.

171 tungselementen wie Treppen, verschließbaren Türen, Toilettenanlagen und Kaminen zum Beheizen um funktionale Klärungen.148 Wulf Schirmer nimmt für die verdrehte Anordnung der Fenstertüren die Änderung von Ordnungsvorstellungen während der Bauausführung an, was eine recht starke funktionalistische Hypothese darstellt:

Abb. 8: Castel del Monte: Dreirippengewölbe im Treppenturm 3, dem ›Turm des Falkners‹

Abb. 9: Castel del Monte: Dreiteiliges Andria-Fenster mit zweiteiligem Oberfenster in der Außenwand von Raum III

——————— 148

So erschließt das hervorgehobene Portal über Saal IV und einen Treppenaufgang zum darüberliegenden Saal mit Fenstertür vornehmlich einige beheizbare Räume mit Toiletten, aber auch einen Zugang zum Nebenportal ins Freie, was auf Zusammengehörigkeit und herrschaftliche Nutzung schließen läßt. Raum III im Obergeschoß mit Kamin und Toilettenanlage besitzt das einzige verbreiterte dreibogige Außenfenster des Kastells, das sogenannte ›Andria-Fenster‹ (Abb. 9) – die anderen sieben Außenfenster sind zweibogig. Die funktionale Aufteilung zeigt unter anderem, dass die Fenstertüren zum Hof jeweils die Wand einnehmen, die in den anderen Räumen für Kamine genutzt werden: im Obergeschoß gibt es drei Fenstertüren und fünf Kamine, deren Vorhandensein sich wechselseitig ausschließt. Zahlreiche Abbildungen und eine ausführliche Beschreibung des Gebäudes bietet auch Carl A. Willemsen: Castel del Monte. Das vollendetste Baudenkmal Kaiser Friedrichs des Zweiten. Frankfurt a.M. 21982; vgl. auch: Birgit Wagner: Die Bauten des Stauferkaisers Friedrichs II. – Monumente des Heiligen Römischen Reiches. Berlin 2005.

172

Abb. 10: Castel del Monte: Achtrippengewölbe im Treppenturm 2

Abb. 11: Castel del Monte: Sechsrippengewölbe im Treppenturm 7

Dieses würde zu vielen anderen Beobachtungen passen, die zeigen, daß bei Planung und Errichtung von Castel del Monte zur Vorstellung von einer über dem Oktogon gebildeten Idealgestalt die permanente Suche nach einer schlüssigen inneren Ordnung des Bauwerkes hinzugetreten ist, bei der Ordnungskategorien des Orients und des Abendlandes im Wider149 streit miteinander liegen.

Es erscheint schwer vorstellbar, dass funktionale Zwänge der ›inneren Ordnung‹ es tatsächlich vermocht haben sollen, den geometrischen Entwurf mit seinen Vielfachsymmetrien ästhetisch so stark zu beeinträchtigen, dass die Dreizahl der Portale und Fenstertüren und deren verdrehte Anordnung die Hofsymmetrien weitgehend zerstören konnte. Demgegenüber lässt sich feststellen, dass die Dreierordnung zwar keine ins Auge springende ästhetische Rolle spielt wie die oktogonale, dass sie aber vielfach präsent ist:150 Die Laufwege führen durch drei Innenportale und durch drei Treppenaufgänge mit Drei- oder Sechsrippenge——————— 149

150

Wulf Schirmer: Castel del Monte. Vermessungen, Untersuchungen, Beobachtungen. In: Kunst im Reich Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen. Bd.1: Akten des internationalen Kolloquiums im Rheinischen Landesmuseum Bonn 2. bis 4. Dezember 1994. Hg. von Kai Kappel, Dorothee Kemper und Alexander Knaak. München 1996, S. 35–40, hier: S. 40; ausführlicher: Wulf Schirmer, G. Hell, U. Hess, D. Sack und W. Zick: Castel del Monte. Neue Forschungen zur Architektur Kaiser Friedrichs II. In: Architectura 24 (1994) 185– 224; zuletzt: Wulf Schirmer: Castel del Monte. Forschungsergebnisse der Jahre 1990 bis 1996. Mainz 2000. Der erhaltene Rest eines Fußbodenmosaiks in Saal VIII des Untergeschosses besteht beispielsweise aus einem hexagonalen Muster: »Die Sechsecke in verschieden getönten Farben sind nicht wabenförmig geordnet, das heißt sie stoßen nicht mit ihren Seiten aneinander, sondern mit ihren Spitzen. Dadurch entstehen dreieckige Zwischenräume, die durch Aufteilung in weitere, jeweils kleinere Dreiecke ein Muster erzeugen, das man in der Fraktalen Geometrie als ›Sierpinski-Muster‹ bezeichnet«; Götze: Castel del Monte, S. 96f. und S. 100, Abb. 146 und 147.

173 wölben, um aus drei Fenstertüren zu blicken, so dass dem oktogonalen Grundriss eine dreigeteilte Semantik der Wege eingeschrieben ist, die optisch nahezu unsichtbar bleibt, da sie nur in den Fassaden des Innenhofs unmittelbar anschaulich wird, wenn man sich um die eigene Achse dreht. Dann allerdings zeigt sich diese Fassade in den Proportionen des Sonetts: In die achtfach gegliederte Hoffassade sind sechs Türöffnungen gemäß unterschiedlicher Symmetrieachsen eingelassen, drei als Portale im Erdgeschoß und drei als dagegen versetzte Fenstertüren im Obergeschoß (Abb. 5 bis Abb. 7). Dieses systematische Wechselspiel der Zahlen Drei, Sechs und Acht bietet offensichtlich die schlüssigste Erklärung der rätselhaften baugeometrischen Merkmale von Castel del Monte. Abschließend sollen nun die Hinweise auf die geometrische Konstruktion des Sonetts zusammengefasst werden, um ihre innere Stringenz nochmals sichtbar zu machen: Es ist oben festgestellt worden, dass die zweigliedrige Sonettform die stollenförmige Struktur der Kanzonenstanze mit Auf- und Abgesang reproduziert, dass sie aus dieser aber nicht abzuleiten ist. Vielmehr handelt es sich beim Sonett um eine numerische Homogenisierung und Geometrisierung dieser Form, durch die allein die fixierte Isomorphie des Sonetts erklärbar ist. Wilhelm Pötters hat mit seiner umstrittenen ›Zirkelthese‹ auf Beziehungen des Zeilen-Silbenverhältnisses des Sonetts zur archimedischen Bestimmung der Kreiszahl S und damit zum Problem der Quadratur des Kreises aufmerksam gemacht. Aus der Kreisberechnung lässt sich demnach der Gesamtumfang des Sonetts aus 14 Elfsilblern mathematisch ableiten. Motiviert werden damit sowohl die Versart als auch die Isometrie des Sonetts. Noch wichtiger erscheint die vollständige Reduzierbarkeit der Sonettproportionen auf die Grundzahlen Zwei und Drei. Aus diesen setzen sich die beiden Teile des Sonetts dem Umfang und der Metrik nach zusammen. Das Sonett umfasst 2 · 2 · 2 + 2 · 3 = 8 + 6 Verse. So kann es als Verdoppelung der Teile einer geläufigen Kanzonenstanze mit 4 + 3 Versen erscheinen. Dies hatte ich oben als Sonett-Tableau bezeichnet. Als metrische Module werden ausschließlich zweireimige und dreireimige Alternation a b und a b c verwendet. Somit lassen sich der äußere Umfang, die innere Proportion sowie die Reimschemata in beiden Teilen des Sonetts streng aus den Grundzahlen Zwei und Drei ableiten. Der innere Zusammenhang dieser unterschiedlichen Merkmale der frühen Sonettform ist bislang nicht mit Konsequenz erfasst worden. Eine Entsprechung hat dieser Zusammenhang im Grunde nur in der spekulativen Ableitung der Sonettform durch August Wilhelm Schlegel, der das hier formulierte Schema tatsächlich recht nahe kommt, denn auch er bezog sich auf Quadrat und Dreieck. Umso wichtiger ist die Kennzeichnung der Unterschiede. Schlegels Ableitung war idealistischer Natur und zielte auf eine überzeitliche Gattungsnorm, die er auf naturphilosophische Prämissen gründete. Sie bezog sich auf das Sonett Petrarcas und privilegierte die Reimform A B B A A B B A C D E C D E . Die hier vorgenommene Ableitung ist dagegen historischer Natur. Sie rekonstruiert die ästhetischen Implikationen, die bei der Erfindung des Sonetts am Hofe Kaiser Friedrichs II. im Spiel gewesen sind. Indem sie mit möglichst einfachen theoretischen Annahmen möglichst viele Aspekte des frühen Sonetts zu erklären versucht, stellt sie eine Hypothese dar, die historische Plausibilität

174 beansprucht. Den metrikhistorischen Ableitungen ist sie darin überlegen, dass sie zum einen die Affinitäten des Sonetts zur Kanzonenstrophe theoretisch integrieren kann, dass sie zum anderen aber jene dominanten Merkmale des Sonetts zu erklären vermag, die sich aus der Geschichte der Metrik nicht begründen lassen. Ulrich Mölk hat die Form des Sonetts in seiner Darstellung der sizilianischen Lyrik abschließend folgendermaßen charakterisiert: Das Sonett zeigt mit seinem gerundeten Bau und der scharfen Konturierung seiner Bauelemente, seiner gedanklichen Bewegung von These über Antithese zur Synthese, seiner analytischen und zur Harmonisierung drängenden Argumentation den Denkstil des Juristen und darüber hinaus die Denkform einer neuen Zeit, wie sie für die zeitgenössische Rhetorik, für die hochscholastische Philosophie und – nach Erwin Panofsky – für die 151 gotische Architektur bestimmend ist.

Dieser Versuch einer Beschreibung des Sonetts als einer kulturhistorisch signifikanten Manifestation von spezifischen Entwicklungen des 13. Jahrhunderts kann nun dahingehend präzisiert werden, dass die Differenz der imperialen, vor allem weltlichen Ästhetik des Kaisers, die sich signifikant auf antike und auch auf orientalische Vorbilder zurückbezog, zur primär kirchlich ausgerichteten Synthese von Gotik und Scholastik stärker betont werden sollte. So hat Georges Duby den Kontrast zwischen dem Mäzenatentum König Ludwigs des Heiligen von Frankreich und der Selbststilisierung Friedrichs als eines neuen Augustus, als der er sich in einer Statue in Capua darstellen lässt, wiederholt besonders hervorgehoben.152 Die imperiale Ästhetik des Staufers ist entsprechend nicht von gotisch-ekklesiastischer Vergeistigung geprägt, sondern von einer weltlichgelehrten Rationalität mit gleichfalls sakralem Anspruch. Gegenüber der Gotik der Kathedralen stellt sich eine nicht weniger universelle weltliche Herrschaftsästhetik zur Schau, die auf präzise beschreibbaren institutionellen Machtkonfigurationen beruht. In diesem Rahmen ist der Ursprung des Sonetts zu verorten. In seinem Bezug auf die Tradition der Trobadors erscheint dieses ideologisch nicht mehr feudal konturiert, sondern universalistisch und imperial, und nicht kirchlich, sondern von entschieden weltlicher Sakralität. Insofern ist nicht so sehr die gotische Kathedrale Frankreichs als eine unmittelbare kulturgeschichtliche Entsprechung von Sonettform und Sonettdiskurs zu sehen, viel eher jedoch jenes achteckige kaiserliche Kastell auf einem kegelförmigen Hügel Apuliens.

——————— 151 152

Mölk: Die sizilianische Lyrik, S. 57. Georges Duby: Das Europa der Kathedralen. Die Kunst des Mittelalters 1140–1280. Übs. von Karl Georg Hemmerich. Genf 1981 [reichhaltig illustriert], zu Friedrich II: S. 188– 197; leichter zugänglich ist die Ausgabe Duby: Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980–1420. Übs. von Grete Osterwald. Frankfurt a.M. 1980, mit weiteren Auflagen; außerdem Duby: Introduzione. In: Federico II e le scienze, S. 9–13.

175

1.8

Der große Innovator: Diversifikation der frühen Sonettform bei Guittone d’Arezzo

Im Vergleich mit der Isomorphie der frühesten Sonette stellt sich die Entwicklung der Form bereits im weiteren Verlauf des Duecento sehr differenziert dar. Rein quantitativ ist der Erfolg des Sonetts gewaltig und er geht einher mit zahlreichen experimentellen Entwicklungen sowohl in formaler wie in thematischer Hinsicht. Mit dem dolce stil novo bildet sich dann am Ende des Jahrhunderts auf dem Weg einer deutlichen formalen und thematischen Reduktion gleichsam eine Sonettklassik aus, die schließlich im Werk Petrarcas in mustergültiger Weise repräsentiert sein und die die Entwicklung der weiteren Sonettdichtung prägen wird. Die vielfältige Einsatzfähigkeit des Sonetts hing mit seiner formalen Konstitution und mit seiner Neuigkeit zusammen, durch die es nicht über eine lange Tradition an eine bestimmte Thematik gekoppelt war. Für die innovative Variabilität des Sonetts im Duecento steht vor allem das Werk des Toskaners Guittone d’Arezzo (ca. 1230–1294) ein, dessen Dichtung historisch unmittelbar an die der Sizilianer anschließt. Als er zu schreiben beginnt, ist die sizilianische Schule selbst noch aktiv, und Guittone hat wahrscheinlich noch in unmittelbarem Kontakt zu ihr gestanden.153 Auch hier ist die Innovationskraft wieder das Ergebnis eines Kultursprungs, diesmal vom sizilianischen Kaiserhof in die Welt der toskanischen Städte. Dabei finden neue Überlagerungen statt, insofern nicht nur die ersten Sonette ihren Einfluss ausüben, sondern zugleich norditalienische Aktualisierungen der okzitanischen Lyrik wirksam werden. Von Guittone führen Verbindungen zu venezianischen Fürstenhöfen, die ihrerseits unmittelbar auf die provenzalische Dichtung zurückgreifen.154 Guittone d’Arezzo ist der erste Sonettist mit einem wirklich umfangreichen Werk – neben 50 Kanzonen können ihm wenigstens 225 Sonette zugeschrieben werden –, das breit gefächert ist und in die verschiedensten Richtungen gewirkt hat.155 In seiner Zeit galt er als herausragender Dichter – ein »maestro dei poeti ——————— 153

154 155

Dies legt ein Widmungsgedicht an Mazzeo di Ricco nahe, das sich unmittelbar der metrischen Schemata des Notars bedient; vgl. auch für das folgende: Lino Leonardi: Introduzione. In: Guittone d’Arezzo: Canzoniere, S. XIV. Leonardi: Introduzione, S. XV. vgl. zu Guittone: Achille Pellizzari: La vita e le opere di Guittone d’Arezzo. Pisa 1906; Claude Margueron: Recherches sur Guittone d’Arezzo. Sa vie, son époque, sa culture. Paris 1966; Antonio Enzo Quaglio: I poeti siculo-toscani. In: Pasquini/Quaglio: Il Duecento. Bd. I,1, S. 243–335; Vincent Moleta: The Early Poetry of Guittone d’Arezzo. London 1976 [it. Übersetzung: Guittone cortese. Neapel 1987]; Francesco Bruni: Storia della lirica cortese nell’Italia dei comuni. In: Storia della civiltà letteraria italiana. Hg. von Giorgio Bárberi Squarotti. Bd. I: Dalle origini al Trecento. Turin 1990, T. 1, S. 295–317; Corrado Bologna: Poesia del Centro e del Nord. In: Storia della letteratura italiana. Hg. von Enrico Malato. Bd. I: Dalle Origini a Dante. Rom 1995, S 405–525, bes. S. 420–434; Paolo Cherchi: Omaggio a Guittone (1294–1994). In: Italica 72 (1995) 125–142; Guittone d’Arezzo nel settimo centenario della morte. Hg. von Michelangelo Picone. Florenz [1996]; Olivia Holmes: »S’eo varrò quanto valer già soglio«: The Construction of Authenticity in the ›Can-

176 nel volgare«156 –, der Vorbild einer ganzen Generation prädantesker Dichter des Duecento war, die gewöhnlich als guittoniani bezeichnet werden. Er wurde zudem von Guido Guinizelli, dem Vorbild der Dichter des dolce stil novo, als Lehrer gewürdigt. Die Stilnovisten grenzten sich dann ab und Dante sprach über ihn in der Divina Commedia ein Verdammungsurteil, das von Petrarca erneuert wurde, was die Bedeutung Guittones als des wichtigsten Repräsentanten der vorausliegenden Dichtungsepoche nur unterstreicht.157 Den unvoreingenommenen Blick auf diese Figur hat dies allerdings lange Zeit verstellt und noch heute ist die Forschung damit befasst, diese wirkungsmächtige literarhistorische Aburteilung zu korrigieren. Für die Geschichte der Sonettdichtung ist er einer der wichtigsten Innovatoren überhaupt, auf den zahlreiche Neuerungen formaler und inhaltlicher Art zurückzuführen sind, die die nachfolgende Gattungstradition entscheidend geprägt haben. Dazu zählen grundlegende metrische Innovationen und thematische Weiterungen, aber auch die so folgenreiche autobiographische Stilisierung und zyklische Anordnung der Sonettdichtung, die auf dem Weg über Dante und Petrarca den Petrarkismus kennzeichnete und so zu einem zentralen Gattungstopos avancierte.158 Diese formale Vielfalt unterscheidet seine Dichtung grundsätzlich von der der Sizilianer und macht Guittone d’Arezzo zu einer Schlüsselfigur für die Formentwicklung des Sonetts im Duecento. Vor einer Diskussion der spezifischen Weiterentwicklung der Sonettform selbst muss auf den erwähnten Kontext der autobiographisch-zyklischen Strukturierung seiner Sonette eingegangen werden. Guittones Dichtung ist in den ältesten lyrischen Codices italienischer Sprache überliefert, am wichtigsten ist der Florentiner Codex MS Laurenziano-Rediano 9, an dem sich die Edition von Francesco Egidi orientiert (vgl. oben, Seite 140, Anm. 68).159 Die Grundgliederung erfolgt hier nach Gattungen, zuerst stehen Briefe, dann die Kanzonen und zuletzt die Sonette. Dieser Codex stellt zugleich eine der wichtigsten Überlieferungen der vorhergegangenen Dichtung vor allem der sizilianischen Schule dar, deren Texte hier wie eine Ergänzung und Erläuterung zu denen Guittones in den lyrischen Teilen jeweils auf diese folgen.160 Eine solche gleichsam überbietende Anordnung ist dabei auch bereits für die Sonette Guittones selbst zu konstatieren, da hier auf einen ersten Teil Sonetti d’amor di Guittone d’Aresso (Egidi Nr. ——————— 156 157 158

159 160

zoniere‹ of Frate Guittone and Guittone d’Arezzo (MS Laurenziano-Rediano 9). In: Modern Philology 95 (1997) 170–199. Cherchi, S. 125. Im Purgatorio fällt sein Name im Zusammenhang mit der Prägung des Begriffs des dolce stil novo; Dante Alighieri: Purgatorio. Canz. 24,56. Ältere Darstellungen haben seine Bedeutung und den Stellenwert seiner Neuerungen in der Regel unterschätzt. Vgl. im deutschsprachigen Raum etwa die kurzen Skizzen bei Friedrich, S. 49; Heinz Willi Wittschier: Die italienische Literatur. Einführung und Studienführer. Tübingen 31985, S. 34; Giuseppe Petronio: Geschichte der italienischen Literatur. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Renaissance. Tübingen 1992, S. 70–72; noch Kemp übergeht ihn völlig. Guittone d’Arezzo: Le Rime. Hg. von Francesco Egidi. Bari 1940. Dass die Dichtung Guittones in dieser Anordnung geradezu als »fulfillment of earlier Italian literary history« erscheine, hat jetzt O. Holmes, S. 174, hervorgehoben.

177 1–138) die Sonetti di Frate Guittone d’Aresso (»Sonetti ascetici e morali« bei Egidi: Nr. 139–239) folgen;161 gleiches gilt für die Kanzonen. Die Modifikation des Autornamens zum geistlichen »Fra Guittone« markiert dabei ausdrücklich einen Konnex zwischen seiner biographisch bezeugten Konversion – im Jahr 1265 tritt Guittone in den Orden der Ritter der Jungfrau Maria (Milites Beatae Virginis Mariae) ein – und der Modifikation seines Schreibens im Sinne einer Abwendung von der Liebesdichtung und einer Hinwendung zu religiösen Gegenständen. Während man diese markante autobiographische Stilisierung in der älteren Forschung gewöhnlich einfach hingenommen hat, wird erst neuerdings deren textstrukturierende Bedeutung gesehen. Vorgestellt wird mit der Sammlung seiner Gedichte demnach eine ›ideale Autobiographie‹ im Sinne der Confessiones des Augustinus und damit eine rudimentäre heilsgeschichtlich strukturierte narratio, die der Ordnung der Texte aufgeprägt ist. Von einer narratio im Sinne einer ›Liebesgeschichte‹ kann man allerdings nicht ausgehen. Es handelt sich vielmehr um ein krudes vorher/nachher-Schema, das als ein didaktisches Konzept verstanden werden muss.162 Insofern lässt sich das dichterische Werk Guittones insgesamt als ein zyklisches lesen, das einer heilsgeschichtlich signifikanten Biographie korrespondiert. Diese Figur einer in Gedichten niedergelegten lebenslangen Passion von heilsgeschichtlicher Signifikanz aber ist es, die bei Dante und schließlich bei Petrarca zum poetischen Rang der Sonettgattung qua einer zyklischen Dichtung entscheidend beigetragen hat.163 Im gegenwärtigen Kontext ist bedeutsam, dass auch die formale Modifikation des Sonetts selbst dieser Signifikanz unterliegt, insofern die Sprengung der überlieferten Form zugleich den heilsgeschichtlichen und poetischen Umschlagpunkt im Sonettschaffen Guittones markiert. Die Liebessonette im ersten Teil des Werks stehen zumindest oberflächlich betrachtet in der mehr oder weniger engen Nachfolge der Sizilianer, indem sie den höfischen Liebesdiskurs im Rahmen der metrischen Vorgaben des Sonetts rekapitulieren.164 Diese Liebessonette der Frühphase der Überlieferung weisen sämtlich alternierende piedi A B A B A B A B auf; die weit überwiegende Zahl hat alternierende zweireimige Volten C D C D C D , einige wenige haben dreireimige C D E C D E . Die sogenannten ›asketisch-moralischen‹ Sonette im 2. Teil dagegen feiern die Hinwendung zu Gott in ›Sonetten‹ völlig neuer Art, die nicht nur mit Reimschemata ——————— 161

162 163

164

Guittone d’Arezzo: Le Rime, S. 137–208 und 209–267; der in der Edition von Egidi folgende Trattato d’Amore (Nr. 240–251) ist an anderer Stelle überliefert (siehe unten, S. 183, Anm. 182); vgl. auch Bruni: Storia della lirica cortese, S. 295. Zum Vorherrschen didaktischer Ordnungsprinzipien in der Zyklusbildung Guittones: Santagata, S. 128. Vgl. für diese Zusammenhänge vor allem O. Holmes, S. 174f. und öfter; die Betonung der zyklischen Struktur von Guittones Liebesdichtung liegt ebenfalls der neueren Edition Leonardis zugrunde: Guittone d’Arezzo: Canzoniere. Ich übergehe hier die genauere Analyse dieser Texte, mit der Holmes zu zeigen versucht, dass bereits die Liebessonette eine deutlich modifizierte – auch stärker sexualisierte – Liebesdarstellung aufweisen, die die These erlauben, dass nicht so sehr ein tatsächlicher Wandel der Liebes- und Lebensauffassung Guittones persönlich, sondern vielmehr die narrative Fingierung eines solchen Wandels zu konstatieren ist; vgl. O. Holmes, S. 177, 181.

178 experimentieren, sondern die das isomorphe Sonett-Tableau selbst, das heißt die Zahl und Art der Verse, modifizieren. Es entstehen zahlreiche ›hybride‹ Sonettvarianten, die eine Nachfolge zumindest bis ins 17. Jahrhundert erfahren sollten. Die zunächst wichtigste Neuentwicklung Guittones stellt das Doppelsonett dar, das mit einer ganzen Serie die asketisch-moralischen Sonette eröffnet. Diese Konfiguration legt die These nahe, dass die radikale Variation der frühen Sonettform im Zusammenhang einer semantischen Überbietungsbehauptung vollzogen wird: das Doppelsonett tritt als eine heilsgeschichtlich signifikante Überbietung der traditionellen Sonettform auf. Eine nähere Betrachtung der aus Sicht der ursprünglichen Sonettform hybrid erscheinenden neuen Formen erlaubt gewisse Hypothesen zur inneren Logik dieser Modifikationen und damit zur zeitgenössischen Formauffassung des Sonetts. Dabei handelt es sich um implizite Hinweise, die vor entsprechenden Formulierungsversuchen in den frühesten Poetiken situiert sind und die mit diesen deshalb auf informative Weise verglichen werden können. Guittones moralisch-asketische Sonette sind in mehrere mehr oder weniger zyklisch organisierte Gruppen gegliedert. Sie werden eröffnet von einer Reihe von 21 Doppelsonetten (Nr. 139–160 in der Edition von Egidi), es folgen drei Sonette mit der sogenannten Modifikation des Monte Andrea, das heißt mit zehnversigen piedi (A B A B A B A B A B C D C D C D ), die also entgegen dieser Namengebung wohl auch auf Guittone zurückgeht und die wie die Doppelsonette die sizilianische Sonett-Isomorphie sprengt.165 Erst im Anschluss daran finden sich wieder 75 traditionelle Sonette (Nr. 164–238), bei denen sich die formale Variation auf kleinere Innovationen im Reimschema beschränkt. Unter diesen befindet sich ein größerer allegorischer Zyklus zu den Lastern und Tugenden (Nr. 175–198, 199–202166), daran anschließend eine große Gruppe von Korrespondenzsonetten, die wiederum von einem Doppelsonett als risposta beschlossen werden (Nr. 199–239). Die Modifikation des isomorphen sizilianischen Sonett-Tableaus aus acht plus sechs endecasillabi beim Doppelsonett des Guittone d’Arezzo besteht in der Einfügung von gleichreimenden siebensilbigen settenari in die einzelnen piedi und volte, so dass etwa das sizilianische Sonett mit zweireimigen volte als Doppelsonett das Reimschema A a B A a B A a B A a B C c D d C D d C c D annimmt (die settenari sind hier durch kleine Buchstaben bezeichnet). Wie man sieht, entsteht so eine Art Echoeffekt, da die Reimworte jeweils nach wenigen Silben nochmals wiederholt werden. Verdoppelt wird also nicht das Sonett als ganzes Gedicht, sondern vielmehr der einzelne Reim. Vergegenwärtigt man sich die Schreibweise in Langzeilen, so wird die Logik der Modifikation auch graphisch – hier am Beispiel dreireimiger Terzette – anschaulich (die eingefügten settenari sind hervorgehoben): ——————— 165 166

Vgl. zur Modificazione di Monte Andrea unten, S. 181 Anm. 174. Vier Sonette bilden einen Übergang, denn sie sind an die carissimi confratelli gerichtet und nehmen nochmals auf das Tugend- und Lasterthema Bezug. Biadene sieht in ihnen eine Art commiato des Zyklus: Biadene, S. 121.

179 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxD~ xxxxxxxxxC~ xxxxxxxxxD~

· · · · · · · ·

xxxxxA~ xxxxxA~ xxxxxA~ xxxxxA~ xxxxxC~ xxxxxD~ xxxxxC~ xxxxxD~

· · · · · · · ·

xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxB~

· · · ·

xxxxxxxxxE~ · xxxxxxxxxE~ ·

Eine Weiterentwicklung des Doppelsonetts, die in der späteren Sonettpoetik des Antonio da Tempo als die normale vorgestellt werden wird und der auch Dantes Doppelsonette entsprechen,167 fügt jedem Terzett nur einen settenario bei und weist also die Form 1 1 - 7 - 1 1 - 1 1 oder 1 1 - 1 1 - 7 - 1 1 auf.168 5. xxxxxxxxxC~ · xxxxxC~ · xxxxxxxxxD~ · 6. xxxxxxxxxE~ ·

Die Variante 1 1 - 1 1 - 7 - 1 1 entspräche strukturell folgender graphischer Anordnung der volta: 5. xxxxxxxxxC~ · 6. xxxxxxxxxD~ · xxxxxD~ · xxxxxxxxxE~ ·

In den überlieferten Codices werden die Volten graphisch nicht konsequent in dieser Weise dargestellt, vielmehr scheinen sie in der Regel als jeweils eine umbrochene Langzeile vorgestellt zu sein. So werden die volte der Doppelsonette Guittones im codice Laurenziano ohne Berücksichtigung der Versgrenzen über zwei Zeilen geführt:169 5. 6. 7. 8.

xxxxxxxxxC~ · xxxxxC~ · xxxxx xxxxD~ · xxxxxD~ · xxxxxxxxxE~ · xxxxxxxxxC~ · xxxxxC~ · xxxxx xxxxD~ ·xxxxxxxxxD~ · xxxxxE~ ·

Der graphischen ›Einschiebung‹ der Siebensilbler in die Elfsilbler des Sonetts entspricht eine spezifische und sehr markante Klangqualität dieser Gedichte. Die eingeschobenen Kurzverse reimen jeweils auf den vorhergehenden, in späteren Sonderformen auch zuweilen auf den folgenden Vers. Der sich dadurch ergebende Echoeffekt wird im ersten der Doppelsonette Guittones noch dadurch potenziert, dass es zusätzlich doppelte Binnenreime und eine teilweise Durchreimung aufweist, die an das oben (S. 133) diskutierte Sonett Giacomos ——————— 167

168 169

Dante Alighieri: Vita nuova. Introduzione di Edoardo Sanguineti. Note di Alfonso Berardinelli. Mailand 121995, VII: O voi che per la via d’Amor passate (A a B A a B A a B A a B C D d C D C c D , S. 8f.) und VIII: Morte villana, di pietá nemica (A a B B b A A a B B b A C D d C C D d C , S. 10f.). Biadene, S. 44ff.; Antonio da Tempo: Delle rime volgari trattato, composto nel 1332. Hg. von Giusto Grion. Bologna 1869, S. 83–88. Nach Weinmann, S. 62 und Abb. 3.c: Laur. Red. 9, c. 124v., S. 74; dort auch weitere frühe Graphien der Doppelsonette.

180 da Lentini Eo viso – e son diviso – da lo viso erinnert. Das erste der religiösen Sonette gewinnt dadurch einen geradezu litaneiartigen Charakter. Es soll als Beispiel eines frühen Doppelsonetts entsprechend der zeitgenössischen Graphie hierher gesetzt sein:170 FRATE GUITTONE O Sommo bono e de bon solo autore, o vita, in cui vivendo alcun non more, o dolcezza, da cui onni dolzore, quando, quando, car meo bon segnore, Merzé, merzé, o vital vita mia: e sol sia – onni via – nel mio piacere Oh, s'io mai lo cor mio deggio savere, e gaudere – d'avere – tua manentia,

e de tutto valore for cui mort'è tuttore in cui dolz'è dolore, apprende nel meo core

e d'onore – datore – e di piacere; chi maggiore – o migliore – ten vita avere; da cui for, è – langore – onne gaudere, tutt'ardore – d'amore – in te cherere?

onn'altro ème n'obbria; voler teco e svolere;

e dolere, – a piacere – tu', bon me sia.

amor, te possedere, fia, amore, fia!

Cortesia – me dia – de te valere!

Die Verdoppelung des Sonettreims geht offenbar auf eine Potenzierung und Intensivierung der Klangdichte aus, auf eine Formalisierung des BinnenreimEffekts auf dem Weg einer Erweiterung der einzelnen piedi und volte. Das Reimschema ist hier A a a a B A a a a B A a a B A a a a B C c c c B b b b C B b b b C c c c B , ohne Berücksichtigung der Binnenreime lautet es A a B A a B A a B A a B C c B b C B b C c B und ist zurückführbar auf die einfache Sonettform A B A B A B A B C B C B C B . Das Doppelsonett respektiert bei Guittone die strengen Vorgaben der sizilianischen Sonettform und ergänzt sie durch eine Modifikation von ähnlich rigidem Zuschnitt. Dies vermag den Überbietungsanspruch zu unterstreichen, der thematisch und nach der zyklischen Anlage erhoben ist.171 Es berücksichtigt allerdings nicht die Vorgabe des isomorphen Sonett-Tableaus von 14 Versen, das oben für die Sonette der Sizilianer als primär beschrieben wurde.172 Guittones Doppelsonette folgen im Grunde streng dem einmal vorgegebenen Muster, indem sie sich auf alternierende Reime der piedi und weitgehend auf die zweireimige Variante der volte beschränken, nur zwei Beispiele haben ——————— 170 171

172

Dieses Sonett hat im übrigen keine ganz korrekten endecasillabi. Der Text folgt: Guittone d’Arezzo: Le Rime, S. 211 (Nr. 139). Vgl. zum Überbietungscharakter des Doppelsonetts und zur formalen Virtuosität dieses den christlichen Teil der Sonette Guittones einleitenden Gedichts Moleta: The early poetry of Guittone, S. 8; Kleinhenz: The early Italian sonnet, S. 102f. Die Vermutung, mit der wiederum konsequent isometrischen Einfügung von Siebensilblern bewege sich das Doppelsonett weiterhin im numerologischen Raum der Sonettspekulation, wäre allzu vage und wird widerlegt durch den Charakter der anderen Modifikationen bei Guittone und seinen Nachfolgern.

181 dreireimige volte (Nr. 145 und 156). In einem Fall (Nr. 160) findet die Reimdoppelung nur in den volte statt, so dass ein gleichsam ›halbes‹ Doppelsonett entsteht. Biadene führt diese Form als hybride: A B A B A B A B C c D d E C c D d E .173 Eine weitere grundlegende Änderung der Isomorphie stellt die sogenannte modificazione di Monte Andrea dar, die die piedi um zwei endecasillabi auf zehn Verse erweitert:174 A B A B A B A B A B C D C D C D (Nr. 161 und 163) bzw. mit volte C D E C D E (Nr. 162 und 247). Dazu findet sich eine Steigerung, die sowohl piedi als auch volte unterschiedlich um weitere Verspaare erweitert: A B A B A B A B A B A B C D C D C D C D (Nr. 248). Vermutlich am Anfang der Tradition des sonetto caudato steht ein Doppelsonett Guittones mit einer Fortsetzung der volte auf neuen Reimen: A a B A a B A a B A a B C c D d C D d C c D E e F f E (Nr. 157). Biadene nimmt an, dass die coda, die zeitgenössisch als ritornello bezeichnet wird, dem commiato der Kanzone entspreche, und unterstreicht dies durch den Hinweis, dass ein commiato in der Regel die Struktur einer volta der Stanze annehme.175 Genau dies geschieht hier in diesem sonetto doppio e caudato des Guittone d’Arezzo. Als gemeinsame Logik dieser sehr gezielten und angesichts des Spektrums möglicher Modifikationen doch auch sehr beschränkten Eingriffe in die Sonettstruktur kann festgehalten werden, dass sie durchweg an der vorgegebenen Ordnung von piedi und volte festgemacht sind. Im Fall des Doppelsonetts handelt es sich um eine systematische Erweiterung der Binnenstruktur von piedi und volte, im Fall der modificazione di Monte Andrea um eine Verlängerung der Gesamtstanze durch Anfügung weiterer piedi, in einem Fall auch um eine Ergänzung der volte. Im Fall des sonetto caudato erhält das Sonett eine Art commiato bzw. eine weitere volta mit unabhängigen Reimen. Alle Eingriffe verletzen die Isomorphie des sizilianischen Sonetts aus vier plus drei Doppelversen und wenden stattdessen – in durchaus eingeschränkter Weise – geläufige Variationsregeln der Kanzonenstanze auf das Sonett an. Verglichen mit den Verstößen gegen die Isomorphie der ursprünglichen Sonettform sind die Reimschemata bei Guittone weitgehend identisch mit denen der Sizilianer. Folgenreich allerdings sind vereinzelte Versuche einer Inversion der Reime sowohl in den piedi als in den volte. Ich hatte oben festgestellt, dass solche Inversion zur Beschreibung der Reimschemata bei den Sizilianern nicht angenommen werden muss. Guittone beginnt nun aber mit der Inversion von Reimen der piedi und transformiert die Reimordnung A B A B A B A B einmal zu A B A B B A A B (Nr. 241), zweimal symmetrisch zu A B B A A B B A (Nr. 230 und 245) und einmal über die Grenzen der piedi hinweg zu A B A A B B B A ——————— 173 174

175

Biadene, S. 52. Die Bezeichnung geht auf Biadene, S. 42–44, zurück, da die Form von dem Guittonianer Monte Andrea di Fiorenza in etwa 100 Beispielen überliefert ist; vgl. auch: Kleinhenz: The Early Italian Sonnet, S. 110f.; Weinmann, S. 135; zu Monte Andrea: Poeti del Duecento, Bd. I, S. 447–472, Franco Fabio: Guittone e i guittoniani. Neapel 1971, S. 198–211; Quaglio: I poeti siculo-toscani, S. 310–316). Biadene, S. 65–78, bes. S. 65f. und S. 76f.

182 (Nr. 246).176 Ähnliches erprobt er mit den dreireimigen volte, indem er C D E C D E zu C D E D E C (Nr. 214) und in zwei Fällen nach Art einer Spiegelung zu C D E E D C (Nr. 230 und 243) transformiert.177 Mit diesen Reiminversionen ist ein Prinzip in die Sonettform eingeführt, das in der Folgezeit enorm reüssierte. Als erfolgreichste Variante stellte sich dabei bekanntlich die Inversion jedes zweiten der vier piedi heraus, die zur symmetrischen Reimordnung des umschlingenden Reims und schließlich zur Gruppierung der piedi in zwei Quartette führte: A B B A A B B A . Wie Weinmann zeigt, ist diese Entwicklung allerdings erst am Ende des 14. Jahrhunderts vollzogen.178 Die Beschränkung dieser Analyse auf die Sonette des Guittone d’Arezzo und hier auf die formale Diversifikation, die in seinen religiösen Sonetten zu beobachten ist, erlaubt einen relativ kontrollierten Blick auf die strukturelle Logik dieser Entwicklung. Waren die ersten Sonette bei den Sizilianern durch die strikte Isomorphie von acht plus sechs endecasillabi und durch die Verwendung von nur zwei alternierenden Reimmodulen a b und a b c gekennzeichnet, wobei sich Variationen auf Experimente mit Binnenreimen und Durchreimungen beschränkten, so weichen Guittone und seine Nachfolger auf mehreren Ebenen von dieser Vorgabe ab. Die Modifikationen nutzen insgesamt bekannte Verfahren der Kanzonentradition für eine Variation des Sonettschemas. So wird die Isomorphie durch kontrollierte Erweiterungen und Hinzufügungen von piedi und volte in Richtung einer Heteromorphie des Sonetts überwunden: wichtige Resultate sind das Doppelsonett, die modificazione di Monte Andrea und das sonetto caudato oder Schweifsonett, die allesamt mehr als 14 Verse umfassen. Späteren Sonettpoetiken, die die Form am vierzehnzeiligen Tableau festmachen, werden diese Kreationen Mühe bereiten, und sie werden für mehr oder weniger hybrid erklärt werden. Ihre Modifikationen sind jedoch keine willkürlichen, sondern bewegen sich in einem recht klar abgesteckten Raum formaler Variation, wie ihn die Tradition der Kanzonendichtung vorgegeben hat, aus der das Sonett hervorgegangen war. Die Heteromorphie des frühen Sonetts im Duecento muss deshalb als ein integraler Bestandteil des Gattungskonzepts und der Gattungstopik betrachtet werden. Entsprechendes gilt für die Reimvariationen, die in der Folgezeit größere Akzeptanz genießen sollten. Hier sind es die Prinzipien der Inversion und in der Folge auch der Permutation der Reimstellung, die zur Diversifikation des Sonetts beitragen. Dies ist allerdings weniger auffallend und auch quantitativ weniger markant, als die Heteromorphie. Weitgehend folgen Guittones Sonette ——————— 176

177 178

Man kann diese letzte sehr ungewöhnliche Form als Ergebnis einer Reiminversion über piedi hinweg beschreiben; doch gewinnt die Form auch eine eigene Symmetrie: A B – A A B B – B A . Aus späterer Sicht gelten solche Varianten als hybrid; in eine ähnliche Richtung weist beispielsweise Guido Cavalcantis Form A B B B – B A A A ; vgl. Biadene, S. 30–33; Weinmann, S. 135; Poeti del Dolce Stil Novo. Hg. von Gianfranco Contini. Mailand 1991, S. 62 (Cavalcanti, Nr. VII); textidentisch mit: Poeti del Duecento. Hg. Contini. Zur Häufigkeit der Terzettvarianten insgesamt Biadene, S. 38f. Vgl. Weinmann, öfter.

183 den beiden sizilianischen Grundschemata mit alternierenden piedi und zweioder dreireimigen alternierenden volte. Die formalen Variationen stehen im Kontext einer grundsätzlichen ideologischen Abgrenzung vom höfischen Ethos der Sonettdichtung der Sizilianer, wodurch diese Formbewegung sowohl politisch-soziale als poetische Signifikanz erlangt.179 Hier entspricht der formalen Diversifikation eine Zurückweisung der weltlich-sakralisierten Liebeskonzeption der kaiserlichen Dichter und ihres gehobenen stilistischen Gestus. Die Gegenstände der Dichtung werden entsprechend weiter gefächert, sie sind satirisch und moraldidaktisch und behandeln politische und religiöse Gegenstände. Auf dieser Ebene ist ihre Innovationskraft mindestens ebenso wirkungsvoll, wie auf der formalen. Die Verbindung der Heteromorphie mit einer prinzipiellen Verweigerungshaltung gegenüber dem höfischen Ethos und dem ihm verbundenen Stilideal wird in den folgenden Jahrhunderten vor allem für das sonetto caudato aufrechterhalten, das zur typischen Form einer unabhängigen satirisch-burlesken Sonett-Tradition wird, und das somit gleichsam die Erinnerung an die schon frühe Diversifikation der Sonettform wach hält. Einer der wichtigsten Schritte, den die Sonettdichtung Guittones vollzieht, ist der einer Intensivierung der Gruppenbildung, das heißt der Übergang von der Tenzone aus drei bis fünf Sonetten zum großformatigen Zyklus, der bei Guittone in mehrfacher Hinsicht eine bedeutende Rolle spielt. Zum Teil sind seine zyklischen Anordnungen der Sonette dialogisch organisiert, wie in den Tenzonen und Korrespondenzsonetten, oder allegorisch-didaktisch, wie in den Insegnamenti d’Amore (Nr. 87–110),180 im Zyklus der Laster und Tugenden (Nr. 175–198, 199–202)181 oder in den an anderer Stelle überlieferten Gemäldesonetten des Trattato d’Amore (Nr. 240–251).182 Dabei handelt es sich um »la disposizione de la figura de l’Amore e de tutte le soe proprietà come porai entendere e per la figura vedere« (Nr. 240–251).183 Insgesamt zeigen diese Zyklen eine gedichtübergreifende Allegorisierung der Sonette in unterschiedlichster Hinsicht. Als die weitgreifendste Allegorisierung dieser Art ist in jüngerer Zeit die analog zur autobiographisch-heilsgeschichtlichen Stilisierung vor——————— 179

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Vgl. für ihre sozialgeschichtliche Zuordnung zum Aufschwung der bürgerlich-städtischen Kultur Eugenio Savona: Cultura e ideologia nell’età comunale: ricerche sulla letteratura italiana dell’età comunale. Ravenna 1975; Hinweis bei Santagata, S. 133. Es handelt sich um eine ironische Liebeslehre in Auseinandersetzung mit dem Traktat des Andreas Capellanus unter dem Titel Insegnamenti d’Amore (Guittone d’Arezzo: Le Rime, Nr. 87–110); vgl. dazu und zu einer generellen Analyse zyklischer Strukturen der Liebessonette Leonardi: Introduzione, S. XXIIIff.; Santagata, S. 131f.; Bruni: Storia della lirica cortese, S. 304. Die Sonette 199 bis 202 sind an Guittones confratelli gerichtet und bilden den Abschluss des Laster- und Tugend-Themas; Biadene, S. 121, fasst sie als eine Art commiato des Zyklus auf. Dieser Trattato d’Amore ist im Unterschied zu den anderen Sonetten nicht im Florentinischen Ms. Laur. Red. 9, sondern allein in einem Manuskript der Real Biblioteca Del Escorial überliefert; vgl. Guittone d’Arezzo: Le Rime, S. 289f.; auch: Biadene, S. 122. Guittone d’Arezzo: Le Rime, S. 268.

184 genommene Anlage der Lyrik Guittones insgesamt aufgefasst worden, die den Gedichten eine rudimentäre historisch-narrative Strukturierung unterlegt, durch die Guittone amoroso und Fra Guittone aufeinander bezogen sind. Dies deutet klar auf die heilsgeschichtlich perspektivierte zweigeteilte Anlage der späteren petrarkistischen Canzoniere-Tradition voraus. So finden sich beispielsweise in den Gedichten des Fra Guittone solche, in denen die Jungfrau Maria auftaucht oder gar zentral angerufen wird: in den späteren Kanzonen und in einem Sonett.184 Im Canzoniere Petrarcas wird dies später eine strukturbildende Rolle spielen, wenn die Geliebte Laura in der den Zyklus beschließenden Kanzone Vergine bella ersetzt wird durch die Gestalt der Maria (Canz. 366).185 Welchen Stellenwert besitzt nun die Diversifikation der Sonettform im Duecento für das Gattungskonzept? Es ist festzuhalten, dass sich diese Entwicklung zu den Formbedingungen der Sonetterfindung einerseits gegenläufig verhält, dass es diese aber andererseits nochmals zu wiederholen und zu überbieten versucht. Während bei den Sizilianern auf der Basis der Stollenstruktur der Kanzonenstanze eine isomorphe Fixierung der Versordnung mit numerologischer Signifikanz vorgenommen wird, die eine streng geregelte Form mit sehr eingeschränkten Varianten hervorbringt, führt die Diversifikation des Sonetts der Toskaner zu einer Wiederannäherung an Variationsmöglichkeiten der Kanzonentradition. Die Verstöße gegen die Isomorphie, gegen die Isometrie und die Einführung von Permutationen der Reimordnung markieren eine deutliche Absetzung vom sizilianischen Sonett, die zugleich durch eine ideologische und stilistische Absetzung auch semantisch besetzt ist. Gleichwohl ist die Isomorphie selbst als Prinzip nicht aufgegeben, denn auch die neuen Modifikationen unterliegen ihren jeweils eigenen Isomorphismen: die Struktur des Doppelsonetts liegt am Ende genauso fest, wie die des Sonetts selbst. In diesem Sinn bleibt die spezifische Differenz zur Kanzone gewahrt. Will man nun für diese Sachverhalte ein Modell finden, so scheint es weniger als eine Liberalisierung denn als ein Akt der Wiederholung beschreibbar zu sein: es werden auf der Basis der alten und der neuen Form wiederum neue isomorphe Strukturen konstruiert. Der Schritt zur Isomorphie des Sonetts wird damit nicht rückgängig gemacht, aber er wird pluralisiert. Die Sonettform wird auf der Basis von Variationsmöglichkeiten der Kanzonenstanze modifiziert, so dass veränderte, aber wiederum isomorphe Formen entstehen, die zudem als Sonettvarianten klassifiziert werden. Die Gattung des Sonetts verändert dadurch ——————— 184

185

Guittone d’Arezzo: Le Rime, Nr. 156 (Doppelsonett, S. 224); außerdem in den Kanzonen Nr. 27.43 (S. 66), 36.2 (Marienkanzone, S. 99), 49.26 (S. 132) und 50.6 (Fragment, S. 136). Francesco Petrarca: Canzoniere. Hg. von Marco Santagata. Mailand 1996, S. 1397–1416 (im folgenden auch zit. als Canz. mit Gedichtnummer). Vgl. dazu beispielsweise Bernhard König: Das letzte Sonett des ›Canzoniere‹. Zur architektonischen Funktion und Gestaltung der ›ultime rime‹ Petrarcas. In: Interpretation. Hg. Hempfer/Regn 1983, S. 239–257; Andreas Kablitz: »Era il giorno ch’al sol si scoloraro per la pietá del suo factore i nai«. Zum Verhältnis von Sinnstruktur und poetischen Verfahren in Petrarcas »Canzoniere«. In: RJb 38 (1988) 45–72.

185 ihr Gesicht. Sie kann nicht mehr einfach mit dem acht-plus-sechs-versigen Tableau identifiziert werden. Es müssen vielmehr weitere Variationsregeln hinzugenommen werden oder es muss ein Spektrum beschrieben werden, um der Pluralität bzw. der Heteromorphie der neuen Sonettformen gerecht werden zu können. Dabei ist zu erinnern, dass auch das ursprüngliche Sonett schon die beiden Prinzipien der formalen Fixierung und der Kombination zur Grundlage hatte. Das kombinatorische Prinzip der Variation im Rahmen einer Wiederholungsregel für Reimmodule ist nun auf die isomorphe Struktur selbst ausgedehnt worden. So können nun einzelne Verse und ganze piedi und volte hinzugefügt werden, während Reimmodule zusätzlich permutiert werden. In der Folge wird es zur Aufgabe der Sonettpoetik, diese komplizierter gewordene Logik der Form angemessen zu beschreiben und systematisch zu erfassen. Dem Gestus der Überbietung entspricht in gewissem Sinn auch die diskursive Entwicklung, die in eine parallele Diversifikation hineinführt. Der ursprüngliche Minnediskurs beruht formelhaft gesprochen auf einer Metaphorisierung von Liebe und Politik einerseits und von Liebe und Religion andererseits, mithin von anthropologischem Phänomen und sozialen Ordnungskonzepten, von Begehren und Herrschaft, von Affekt und Norm. Eine solche Metaphorisierung ruht einerseits auf basalen anthropologischen Prinzipien auf, gleichzeitig operiert sie mit einer grundsätzlich paradoxen Struktur. Die gegenläufigen Faktoren von erotischem Begehren und Sozialität sind hier gleichsam widersprüchlich zusammengezwungen, insofern Liebe als Metapher zugleich das Prinzip der sozialen und metaphysischen Ordnung wie das der Unordnung bezeichnet. Die Metapher der Liebesordnung steht zugleich für Begehren und für Gesellschaft, für Affekt und Norm, und behauptet eine paradoxe Identität dieser Faktoren. Dies bürgt für ihre flexible Anschließbarkeit an sehr unterschiedliche Kontexte und für ihre Ausdruckskraft und Erklärungsstärke. Sie ist zugleich immer schon prekär. Es ist nämlich keineswegs gesichert und auch nicht selbstverständlich, dass der erotische Affekt, wie ihn die lyrische Tradition versprachlicht, zur Beschreibung gesellschaftlicher Ordnungsmechanismen angemessen sein sollte, und ebenso gilt umgekehrt, dass solche Ordnungsvorstellungen nicht in der Lage sind, den gesellschaftlich geregelten und gelebten Ritualen des Erotischen und der Sexualität gerecht zu werden. Es wird also stets Gründe geben, die Metaphorisierungen von Begehren und Ordnung zurückzuweisen, und so ist der intertextuelle Anschluss an solche Metaphorisierungen sowohl als Bekräftigung und Reinstallation als auch als Negation möglich. Auf einer solchen Achse der Affirmation und/oder Negation der Metaphorisierung von Begehren und Ordnung bewegt sich der Liebesdiskurs im Sonett offenbar von Anbeginn. Im Minnediskurs der sizilianischen Hofdichter stand vor allem die Qualität der Ordnungskonzeption in Frage und es wurde an die Stelle der Metapher von der Minne als eines personalen Dienstverhältnisses die von der Minne als eines universellen Ordnungszusammenhangs gesetzt. Die Umbesetzung der Qualität implizierte dabei eine Affirmation der Metapher der Liebesordnung selbst. Im Fall Guittones nun wird die Metapher grundsätzlich in Frage gestellt, so dass die Bereiche des Begehrens und der gesellschaftlichen Ordnungskonzeption tendenziell auseinander treten. In dieser Negation wird

186 einerseits das Begehren auf sich selbst zurückverwiesen und erfährt entsprechend eine verstärkte Sexualisierung, andererseits wird der Ordnungsdiskurs explizit und verliert seine Haftung an den Liebesdiskurs, er wird politisch, religiös und moraldidaktisch. Vermittelt allerdings bleiben die beiden Tendenzen durch den intertextuellen Gattungsbezug selbst, durch den sie wechselseitig aufeinander bezogen sind, was darin zum Ausdruck kommt, dass das erotische Begehren als ebenso dringend wie wahnhaft erscheint, da es im Horizont seiner Entwertung steht, während der poetische Bezug auf die göttliche Ordnung zugleich an den Diskurs der Liebe gebunden bleibt, da er erst in der Abgrenzung von diesem seine Authentizität gewinnt. In dieser Negativität ist die Metapher der Liebesordnung am Ende dann doch fortgeschrieben und bestätigt worden.186

1.9

Die Beschränkung der Form im dolce stil novo

Mit dem ursprünglichen Sonettmodell der Sizilianer und mit der Diversifikation der Form im Anschluss an Guittone d’Arezzo ist der Horizont der Entwicklung der frühen Sonettform weitgehend abgesteckt. Ihre beiden Faktoren sind die isomorphe Fixierung einerseits und die Variationsregelung beziehungsweise Kombinatorik andererseits. Um die Formbedingungen des ›klassischen‹ italienischen Sonetts zu umreißen, das vor allem mit Petrarca verbunden ist, bleibt ein Vorgang der Kanonisierung zu beschreiben, durch den das formale Spektrum des Duecento-Sonetts in einer qualitativ bestimmten Weise wieder eingeschränkt wird. Die »Entwicklung hin zu einer Formbeschränkung«,187 die sich im dolce stil novo und bei Petrarca vollzieht, ist allerdings nicht so sehr als ein Rückgriff auf das sizilianische Sonett zu beschreiben, als vielmehr als eine motivierte Selektion auf der Basis von Experimenten Guittones und seiner Nachfolger. Dabei tritt die Reimpermutation, die bei Guittone eine untergeordnete Rolle spielte, in den Vordergrund, während die Heteromorphie zunehmend aufgegeben wird. Diese Entscheidung wird die Gattungsgeschichte sehr weitgehend beeinflussen, insofern die Permutation der Reime zum genuinen Variationsraum der Sonettform wird, während eine Abweichung vom vierzehnzeiligen Tableau bald als hybrid gilt. Unter dem dolce stil novo versteht man einen begrenzten Kreis von Dichtern in Bologna und vor allem in Florenz, die aus der Auseinandersetzung mit Guittone hervorgehen und die eine sehr gruppenbezogene, formal strenge und in der Sache idealistische Dichtung pflegen. Die wichtigsten Protagonisten sind als Vorreiter der im unmittelbaren Kontakt mit Guittone stehende Bologneser Guido Guinizelli (1230?–1274), vor allem aber der Florentiner Kreis um Guido ——————— 186

187

Olivia Holmes, S. 199 und öfter, hat besonders auf diese Dialektik von Guittones Dichtung hingewiesen, die ihre Authentizität stets aus ihrer Differenz zu einer vorangegangenen inauthentischen Dichtung zieht. Entsprechend spricht sie von der ›palinodischen Struktur‹ seines Werks, das über die Opposition von Wahr und Falsch operiert. Weinmann, S. 139.

187 Cavalcanti (1260?–1300), Dante Alighieri (1265–1321), Cino da Pistoïa (1270– 1336) und andere.188 Sozialgeschichtlich ordnet man sie wie schon Guittone der aufstrebenden Entwicklung der unabhängigen Stadtrepubliken zu, doch entwerfen sie im Unterschied zu diesem keine moralisch-lehrhafte und religiöse, sondern eine stilistisch stärker homogene, sich elitär gebende Literatur, die im Leitmotiv der gentilezza del cor das Ideal einer Bildungsaristokratie formuliert. Verbunden wird dies mit weitreichenden philosophischen Bezügen zum Liebestraktat des Andreas Capellanus, zur Minnedichtung der Provenzalen, zu aristotelisch-scholastischen und zu neuplatonischen Vorstellungen.189 Zum Medium dieser Vorstellungen wird das Minnekonzept, das zu einer philosophisch aufgeladenen Amormythologie entwickelt wird. Stilistisch und thematisch korrespondiert dies einer Zurückweisung der politischen und moraldidaktischen Elemente der Guittoneschen Reform und einer tendenziellen Rückwendung zum Vorbild der Sizilianer, sowohl zu einer deutlich sakralisierten Liebesauffassung als auch zu einer strengeren Formauffassung des Sonetts. Als Beispiel gebe ich hier ein bekanntes Sonett Guido Guinizellis mitsamt der Übersetzung von Hugo Friedrich wieder, das an das oben (S. 157) zitierte Sonett Giacomos da Lentini über das Eintreten der Liebe durch die Augen anschließt – was in der Poesie der Zeit bereits zum Topos geworden war. Als markanten Unterschied bemerkt man die nun weniger abstrakt-diskursive als konkret-szenische Gestaltung des Themas, die für die Liebesdichtung des dolce stil novo charakteristisch ist.190 Das Sonett steht am Anfang einer ganzen Tradition von Grußsonetten. GUIDO GUINIZELLI Lo vostro bel saluto e ‘l gentil sguardo che fate quando v'encontro, m’ancide: Amor m’assale e già non ha reguardo s'elli face peccato over merzede, ché per mezzo lo cor me lancio un dardo ched oltre ‘n parte lo taglia e divide; parlar non posso, ché ‘n pene io ardo sì come quelli che sua morte vede. Per li occhi passa come fa lo trono, che fer’ per la finestra de la torre e ciò che dentro trova spezza e fende; remagno como statua d’ottono, ove vita né spirto non ricorre, se non che la figura d’omo rende.

5

10

——————— 188 189

190

Vgl. die Textsammlung in Poeti del Dolce Stil Novo. Hg. von Gianfranco Contini. Mailand 1991. Auf eine weitergehende Charakterisierung dieser literaturgeschichtlichen Zusammenhänge verzichte ich und beschränke mich im folgenden ganz auf einige markante Verschiebungen in der Behandlung der Sonettform, das heißt vor allem der Reimordnung. Entsprechend gebe ich auch keine bibliographischen Hinweise, da diese entweder sehr extensiv oder völlig ungenügend ausfallen müßten. Die am einfachsten greifbare Einführung in den Bereich ist auch hier Friedrich, S. 49–83. Joan H. Levin: Rustico di Filippo and the Florentine Lyric Tradition. New York 1986, S. 64f.

188 Dein schönes Grüßen und Dein reiner Blick, | die beim Begegnen Du mir schenkst: sie morden. | Amor bekriegt mich, und er achtet’s nicht, | Ob er mir Qualen, ob er Gnaden bringt. | Er schleudert in das Herz mir einen Pfeil, | Der mittendurch es schneidet und zerteilt; | Sprechen – ich kann es nicht, in Peinen brennend | Gleich jenen, die ihr eig’nes Sterben sehn. || Er dringt durchs Auge, wie der Blitz das tut, | Wenn er ins Fenster eines Turmes schlägt | Und, was er drinnen find’t, zerfetzt und reißt. | Zu einer Messingstatue ward ich, | Darinnen weder Leben fließt noch Seele, | Und die nur außen noch ein Mensch 191 erscheint.

Vorgeschaltet ist hier in den ersten vier Versen die szenische Begegnung mit der direkt angeredeten donna und der amormythologische Kontext.192 Das Motiv vom Eindringen der Liebe durch die Augen ins Innere in Vers 9–11 entspricht dann in seiner strukturellen Bildlichkeit dem bei Giacomo da Lentini, desgleichen das Bild des das Herz mit brennender Wirkung zerstörenden Pfeils in Vers 5–8 (Guin., v. 9: »per li occhi passa« – Giac., v. 4: »che passa gli ochi«; Giac., v. 6: »mandavi lo dardo da sua parte« – Guin., v. 5f.: »me lancio un dardo / ched oltre ‘n parte«; Giac., v. 8: »passa per gli ochi e lo core diparte« – Guin., v. 5f.: »lo cor [...] taglia e divide«; Giac., v. 11: »foco c’arde dentro« – Guin., v. 7: »‘n pene io ardo«). Der Gegensatz von Innen und Außen, der Giacomos Sonett strukturiert, ist hier in der letzten volta in das Bild der vom blitzschlagartigen Liebespfeil erstarrten Messingstatue überführt. In formaler Hinsicht entspricht dieses Sonett einer der sizilianischen Hauptformen, es hat alternierende Reime in den piedi und dreireimig alternierende volte. Die piedi der fünfzehn Sonette Guinizellis halten sich durchweg an dieses sizilianische Schema. Differenzierter ist das Bild bei Guido Cavalcanti, bei dem die Permutation der Reimstellung eine wichtige Rolle spielt. Erst bei ihm findet sich die Permutation von piedi auf breiter Front, und zwar in einer Variante, die bei Guittone nur experimentell vorkam: der Inversion jedes zweiten piede, durch die eine symmetrische Reimstellung der piedi insgesamt entsteht: A B B A A B B A . Bekanntlich löst dieses Reimschema das alternierende in der Folge in seiner Vorrangstellung ab. Bezeichnet man es als ›umschlingenden‹ oder als ›Blockreim‹, so konstatiert man bereits die der Symmetrie inhärierende Tendenz zur Quartettbildung in den piedi. Es erscheint zunächst allerdings noch sinnvoll, die Konstruktion aus zweiversigen copulae und den permutierten Charakter präsent zu halten und der weiteren Entwicklung der Form nicht bereits sprachlich vorzugreifen. Es ist im folgenden also noch nicht von umschlingenden Quartettreimen oder von Blockreimen die Rede, sondern von symmetrisch permutierten Reimen a b b a a b b a im Unterschied zu alternierenden piedi A B A B A B A B . ——————— 191 192

Italienischer Text nach Poeti del Dolce Stil Novo, S. 32, Nr. VI [xiii]; Übersetzung: Friedrich, S. 72. Vgl. zum Grußmotiv und seiner weiteren Wirkung Warning: Imitatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie. In: Interpretation. Hg. Hempfer/Regn 1983, S. 288–317; Interpretationshinweise und zwei Sonette Guido Cavalcantis zum gleichen Motivbereich bei Friedrich, S. 73ff.; vgl. zum Thema auch Kemp, Bd. 1, S. 52ff.

189

Korrelation der Reimpermutation in piedi und volte 100% 80% andere perm/perm

60%

alt/perm perm/alt

40%

alt/alt 20% 0%

Guittone

Cavalcanti Guinizelli

Petrarca Dante, Vita nuova

Das sprachliche Beharren auf dem permutativen Charakter der Reimordnung a b b a a b b a rechtfertigt sich nicht zuletzt aus den Ergebnissen der oben angestellten Analyse der ursprünglichen sizilianischen Sonettform, das heißt aus der oben auf Seite 136 aufgestellten ›Regel‹ zu dieser Form, die ganz mit der Alternation bzw. Wiederholung von Reimmodulen a b und a b c auskommt und keine Permutation zulässt. Vor diesem Hintergrund wird das Auftreten der Permutation seit Guittone d’Arezzo signifikant und ihre Beachtung analytisch produktiv. Die Permutation von Reimmodulen sowohl in den piedi wie in den volte ist demnach zunächst als eine Abweichung von der Regel zu bewerten. In solcher Perspektive erscheint dann die permutierte symmetrische Ordnung A B B A A B B A in den piedi auf gleicher systematischer Stufe wie die ebenfalls symmetriebildende Permutation C D E E D C oder die einfache Inversion C D E D C E i n d e n volte. Daraus ergibt sich eine neue Fragestellung nach der Korrelation von Reimpermutationen in piedi und volte. So lässt sich bei den ausgewählten Sonetten des dolce stil novo – ich untersuche im folgenden die Reimschemata von Guinizelli, Cavalcanti und der Vita nuova Dantes und zum Vergleich die von Fra Guittone und Petrarca – eine Korrelation feststellen, die besagt, dass bei Alternation in den piedi nahezu regelmäßig auch die volte alternieren, während bei permutierten piedi alle Möglichkeiten für die volte offen bleiben, häufig aber diese dann auch permutiert sind. Eine Korrelation von Permutationen der piedi und volte kann man ansatzweise schon bei Guittone sehen. Von seinen drei Sonetten mit permutierten piedi hat eines auch permutierte volte (Legende in Tabelle: perm/perm); insgesamt gibt es drei Sonette mit permutierten volte. Eine gewisse Signifikanz liegt

190 darin wegen der insgesamt großen Zahl von Guittones Sonetten. Nur negativ ist die Bestätigung auch bei Guinizelli, da dieser weder in den piedi noch in den volte überhaupt Permutationen verwendet (Legende: alt/alt). Dagegen ist die Korrelation bei Cavalcanti und bei Dante signifikant. Bei Cavalcanti bestimmt die permutierte Reimordnung a b b a a b b a in den piedi bereits zwei Drittel der Sonette, der Rest ist bis auf eine Ausnahme alternierend.193 In Dantes Vita nuova kennzeichnet sie 72%, wobei ihre Verwendung im letzten Teil des dreigegliederten Werks 100% erreicht.194 Mit Petrarcas Canzoniere wird diese Reimordnung nahezu kanonisiert sein, denn sie beherrscht dort 303 der 317 Sonette, das sind 95,6 %. Cavalcantis Sonette mit traditionell alternierenden piedi haben bis auf eine Ausnahme (Nr. 29)195 auch alternierende volte C D C D C D oder C D E C D E (Legende: alt/alt). Die Vita nuova kennt nur fünf Sonette mit alternierenden piedi, und die haben alle C D E C D E . Umgekehrt haben von Cavalcantis in den piedi permutierten Sonetten 77,8% (21 von 27)196 auch permutierte volte, in der Vita nuova sind es 85% (17 von 20; Legende: perm/perm).197 Diese eindeutige Korrelation unterstreicht einen Zusammenhang von Alternation bzw. Permutation in piedi einerseits und volte andererseits in der Wahrnehmung der beiden Autoren des dolce stil novo und bietet ein nachträgliches Argument für die Signifikanz der oben vorgeschlagenen Beschreibung der ursprünglichen Sonettform auf der Basis der Alternation von Reimmodulen in piedi und volte. Im gegenwärtigen Zusammenhang lässt die hier ermittelte Korrelation die Vermutung zu, dass die Autoren mit der Wahl von alternierenden piedi und volte einen archaisierenden Effekt erzielen, da die Sonette so insgesamt einen ›regelgerechten‹ Charakter annehmen. Permutation in den piedi dagegen steht außerhalb eines solchen Traditionalismus und zieht entsprechend häufig auch eine freie Behandlung der volte nach sich, sei diese nun alternierend oder – ——————— 193

194

195

196

197

Zahlen zur Reimordnung der piedi bei Weinmann, Tabelle auf S. 134; um die Korrelation zu ermitteln, mußte allerdings eine erneute Auszählung vorgenommen werden. Zugrundegelegt wurde für Guittone die Ausgabe von Egidi, für Guinizelli und Cavalcanti die von Contini, für die Vita nuova diejenige von Sanguineti und Berardinelli. Für Petrarcas Canzoniere bietet die Ausgabe von Santagata eine umfassende tavola metrica: Petrarca: Canzoniere, S. 1569–1571. Weinmann wertet die drei materie der Vita nuova getrennt aus; in der ersten kennzeichnet die Permutation der piedi fünf von neun, in der zweiten vier von sieben, in der dritten alle neun Sonette. Una giovane donna di Tolosa: A B A B A B A B C D E D C E ; Poeti del Dolce Stil Novo, S. 95; vgl. für Cavalcanti auch die Ausgabe Guido Cavalcanti: Sämtliche Gedichte – Tutte le rime. Italienisch-Deutsch. Übs. und hg. von Tobias Eisermann und Wolfdietrich Kopelke. Tübingen 1990, hier: S. 76. Als in den piedi permutiert zähle ich hier auch das Ausnahmesonett Nr. 7, L’anima mia vilment’ è sbigotita, mit der Reimordnung A B B B B A A A C D D D C C ; dieses zeigt übrigens auf andere Weise ebenfalls eine Korrelation der Reimordnung von piedi und volte; Poeti del Dolce Stil Novo, S. 62. Hier gilt als permutiert die Form C D D C E E , und zwar über die volte hinweg, als nicht permutiert gilt dagegen C D C C D C , die am schlüssigsten als C D E C D E mit E = C beschrieben werden kann.

191 häufiger – ebenfalls permutierend. Wie die Tabelle zeigt, ist die Korrelation, die permutierte volte regelmäßig an permutierte piedi bindet, vor allem bei Cavalcanti und in der Vita nuova ausgeprägt. Bei Petrarca hat sie an Bedeutung verloren, insofern hier die permutierte Quartettform der piedi absolut dominiert, während die Permutation der volte an Bedeutung einbüßt und nur noch weniger als ein Viertel der Sonette kennzeichnet. Dies spiegelt eine Entwicklung wieder, die den permutierten Quartettreim A B B A A B B A kanonisch hat werden lassen, die aber in den Terzetten die traditionellen alternierenden Formen C D C D C D und C D E C D E gleichermaßen und deutlich bevorzugt (Legende: perm/alt). Damit ist die stilnovistische Tendenz zu einer Korrelation der Permutation in piedi und volte bei Petrarca einem kontrastierenden Schema gewichen, das an eine symmetrische Anlage von Quartetten die alternierende und damit asymmetrische Folge von Terzettreimen anschließt. Zur Grundlage der Sonettpoetik wird diese formale Kontrastbildung erst in der romantischen Poetik erhoben werden. Die frühen italienischen Poetiken des Sonetts dagegen bleiben bis in die Renaissance hinein an einem Modell der Variation von Sonettschemata orientiert.

1.10

Die italienischen Sonettpoetiken vom 14. bis 16. Jahrhundert

Die Poetiken des Sonetts werden erst an dieser Stelle betrachtet, da sie auch historisch erst später folgen und somit vor einer ähnlichen Beschreibungsaufgabe standen wie die vorliegende Darstellung. Da für die Poetiken ein Zwang zur Systematisierung besteht, der für die poetische Produktion nicht in gleicher Weise gilt, sind ihre Aussagen nicht einfach mit dieser gleichzusetzen. Gleichwohl bieten sie aber Hinweise auf die zeitgenössische Wahrnehmung der Form und sie wirken auf die poetische Produktion zurück. Der älteste theoretische Text, der auf das Sonett eingeht, ist der lateinische Kommentar des Florentiner Notars und Dichters Francesco da Barberino (1264– 1348) zu seinen Documenti d’Amore, der zwischen 1296 und 1312 entstanden ist und in dem unter anderem auch Dantes Divina Commedia erstmals erwähnt wird. Historisch ist davon auszugehen, dass sich die frühesten Poetiken auf eine Formentwicklung beziehen, der die Diversifikationen des Sonetts im Duecento und die Kanonisierungen des dolce stil novo bereits vorausliegen. Sie müssen also sowohl dem Phänomen der Fixierung als auch dem der Heteromorphie und der Reimpermutation Rechnung tragen. Francesco da Barberino bestimmt das Sonett folgendermaßen: Es gibt einfache Sonette, verkettete und doppelte. Die ersten reimen von der Mitte des pes zur Mitte des nächsten; die verketteten reimen vom Ende des pes zur Mitte des nächsten. Die doppelten Sonette haben in der Mitte des pes oder am Ende fünf oder sieben Silben

192 zusätzlich. Alle bestehen aus vier pedes und aus zwei mutae, die beide bekanntlich um 198 einen dritten Teil größer sind.

Francesco unterscheidet also drei Sonett-Typen, solche mit alternierenden und solche mit ›verketteten‹ Reimen in den pedes sowie Doppelsonette. Von allen gilt, dass sie aus vier pedes und aus zwei mutae bestehen. Dass die mutae »tertia sunt parte maiores«, also um einen dritten Teil größer sind, lässt sich auf ihren dritten Vers beziehen, da sie gegenüber den pedes, die aus nur zwei Versen bestehen, jeweils drei Verse besitzen. Peter Weinmann geht bei der Interpretation dieser Stelle davon aus, dass mit diesem ›dritten Teil‹ eine »Proportion« zwischen pedes und mutae beschrieben sei.199 Zusammenfassend formuliert er, das Sonett sei bei »Francesco primär nicht durch die Anzahl seiner Verse, sondern durch das Verhältnis seiner Teile zueinander« definiert. Es bestehe aus vier pedes und zwei mutae und »Die muta ist jeweils um ein Drittel größer als der pes.«200 Letzteres jedoch ist dem Text keineswegs zu entnehmen.201 Richtig ist die Feststellung, dass das Sonett aus vier pedes und zwei mutae besteht. Zu den mutae heißt es lediglich, dass sie um einen dritten Teil größer seien als die pedes. Es gibt keinen Grund, dies als ein proportionales Verhältnis aufzufassen, zumal die Bestimmung dann bereits für die Doppelsonette nicht mehr korrekt ist, die Barberino ja ausdrücklich einbezogen wissen will. Was die Reimstellung betrifft, so wird deren Modifikation in den piedi von Barberino bereits zur Klassifikation von Sonett-Typen herangezogen. Um die Stelle angemessen zu verstehen, ist sie auf die bereits erläuterte Graphie in

——————— 198

199

200 201

»¶ Sonitiorum alij simplices alij catenati. alii duplices. ¶ primi de medio ad medium habent rimas concordes per ordinem. ¶ secundi concordantem finem pedis cum fine medij. ¶ Tertij habent in pedis medio vel in fine .v. vel .vij. silabas plures. ¶ omnes .iiij.or pedum sunt et .ij. mutarum. que tertia sunt parte maiores scilicet utraque.« Francesco da Barberino: I Documenti d’Amore. Secondo i mss. originali. Hg. von Francesco Egidi. Bd. 2, Rom 1912, S. 262f.; meine Interpretation geht von Weinmann aus. Dieser bezieht sich auf eine noch ältere Edition von Partien des Kommentars bei Oreste Antognoni: Le Glosse ai ›Documenti d’Amore di M. Francesco da Barberino‹. In: Giornale di Filologia Romanza 4 [1883] 78– 98, dort das Zitat auf S. 95f.; vgl. auch Weinmann, S. 16. So sieht er im Fall des Doppelsonetts mit pedes A a B eine Unentschiedenheit »aus arithmetischen Gründen«, ob in den mutae ein oder zwei settenari eingeschoben werden sollten. Die erste Variante findet sich bei Dante, die zweite bei Guittone; alle Zitate: Weinmann, S. 17. Weinmann, S. 19. Peter Weinmann hat sich in seiner Untersuchung die vermeintlich ›proportionale‹ Bestimmung des Sonetts bei Francesco da Barberino als Modell für das frühe Sonett zu eigen gemacht, weil dessen Unterteilung in vier pedes und zwei mutae unmittelbar seiner These entspricht, nach der die ursprüngliche Sonettform noch keine Quartetteinteilung gekannt habe. Dass er das Modell aber zurückprojiziert und die Monte Andrea-Modifikation und das sonetto caudato zu quasi-hybriden ›experimentellen Formen‹ erklärt, erscheint unangemessen und für seine Argumentation im Grunde auch unnötig; Weinmann, S. 16f., S. 19 und S. 135.

193 Langzeilen zu beziehen. In zeitgenössischer Graphie erscheinen die piedi des alternierend gereimten Sonetts folgendermaßen:202 pes:

È Mitte

xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxA~

È Ende xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxB~

Darauf lässt sich die Erläuterung des Francesco beziehen. Wenn von der ›Mitte‹ und vom ›Ende‹ des pes gesprochen wird, ist jeweils die Langzeile aus zwei Versen gemeint. Die Halbzeile bezeichnet er später als versiculum, also als kleinen Vers.203 Das vorliegende Schema bildet somit ein ›einfaches‹ Sonett nach Francesco ab, denn es reimt in den pedes jeweils von der Mitte zur Mitte und vom Ende zum Ende. Die sonitii catenati, die ›verketteten‹ Sonette, verketten demnach den Reim vom Ende des pes zur Mitte des nächsten, was folgendes Schema der pedes ergibt:204 pes:

È Mitte

xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxB~

È Ende xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxA~ xxxxxxxxxB~ xxxxxxxxxA~

Gemeint ist folglich die permutierte Form und also der umschlingende Reim, der beim Blick auf die einzelnen pedes als eine Verkettung vom Ende zur Mitte, von B zu B und von A zu A , erscheint: A B B A A B B A . Francesco da Barberino geht auf das Sonett ausführlicher in einer späteren Glosse im neunten documento des siebten Teils ein, das eine kleine Abhandlung zur Metrik der Ballata, der Kanzone und des Sonetts enthält.205 Hier spricht er bezüglich der permutierten Reimform davon, dass die vier pedes wechselweise mit dem ›Ende der Mitte‹ reimen sollen: »concordantes invicem in fine mediorum«.206 ——————— 202

Vgl. oben, S. 140 Anm. 68. Francesco da Barberino, Bd. 3, S. 146f.; vgl. das Zitat in Anm. 206. »Et si primi pedis finem medij concordes cum fine finis secundi pedis et e contrario erit hec alia forma que multum bene sonat ad vocem.« Francesco da Barberino, Bd. 3, Rom 1913, S. 147; vgl. auch Antognoni, S. 97f.; Weinmanns Übersetzung lautet: »Und wenn du das Ende der Mitte des ersten pes mit dem Ende des Endes des zweiten pes übereinstimmen läßt – und in entgegengesetzter Weise –, dann wird es die andere Form, die sehr gut für die Stimme klingt.« Weinmann, S. 18 Anm. 20. 205 Francesco da Barberino, Bd. 3, S. 144–148. 206 Die Formulierung dieser zweiten Stelle bei Francesco ist in der von Weinmann verwendeten Edition korrumpiert, so dass er sie nicht kennt. Diese ältere Teilveröffentlichung von Oreste Antognoni aus dem Jahr 1883 enthält genau hier einen schwerwiegenden Lesefehler, durch den zwei ganze Sätze weggefallen sind: derjenige zur Reimstellung der Quartette und einer zu den mutae. Biadene hat bereits 1889 eine Emendation vorgeschlagen, durch die der zweite Satz nahezu korrekt ergänzt wurde. Das Fehlen des ersten Satzes zu den Quartettreimen war daraufhin aber nicht mehr erkennbar. Bereits Egidi gibt die Passage allerdings vollständig wieder, weshalb ich sie hier im Zusammenhang zitieren will: »Et si vis 203 204

194 Dass Francesco da Barberino neben dem alternierenden lediglich diesen permutierten Typ und das Doppelsonett anführt, entspricht dem Entwicklungsstadium zur Zeit des dolce stil novo, als sich die ›verkettete‹ Permutation als dominierende Reimform in den piedi durchgesetzt hatte. Die Unterscheidung von einfachen und verketteten Sonetten dokumentiert damit einerseits eine historische Entwicklung der Form, andererseits führt sie in ihrem systematisierenden Zugriff zu einer gewissen Kanonisierung, das heißt zu einer Unterscheidung von regelrechten und von hybriden Formen des Sonetts. Francesco weist allerdings darauf hin, dass weitere Varianten existieren.207 Im Rahmen der längeren metrischen Abhandlung taucht im weiteren eine Formulierung auf, die die oben statistisch festgestellte Korrelation der Permutation von piedi und volte ausdrücklich stützt, worauf bislang noch nicht hingewiesen wurde. Francesco sagt im Anschluss an seine bereits zitierte Beschreibung der ›zweiten Form‹ (A B B A ), dass diese es erforderlich mache, auch in den mutae eine ähnliche Umkehrung vorzunehmen, nämlich »revolutionem similem«.208 Damit werden die Anordnungsprinzipien der Reime in piedi und volte in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht: alternierenden Reimen im ersten Teil des Sonetts entsprechen ebensolche im zweiten Teil, während die Permutation der piedi zu A B B A eine Permutation auch der volte nach sich ziehen soll. Dies passt seiner inneren Logik nach zur oben gegebenen Ableitung der alternierenden sizilianischen Sonette aus einer übergreifenden Wiederholungsregel, die ebenfalls piedi und volte korreliert. Für die mutae wird von Francesco eine liberale Regelung angegeben, die zunächst besagt, dass es hier ausreichend sei, dass die Enden der drei Verse der mutae miteinander reimten.209 Ausführlicher beschreibt er dann in der späteren Glosse, dass die Verse des ersten Terzetts nicht untereinander reimen sollten, sondern jeweils von einem Terzett zum anderen, so dass es beim Gesang abwechselnd zusammenstimme.210 Überraschend ist der Hinweis auf den Gesang. Die Formulierung der ›wechselweisen Reimung‹ – »invicem concurrant« – ent———————

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facere sonitium. ista est una forma. fac unum pedem ad similitudinem duorum versiculorum ex regula .xv. et duorum dic primorum vel ex regula sequenti et multe sunt similes postea fac tres alios pedes ad illius pedis similitudinem concordantes invicem in fine mediorum. postea fac unam mutam ad similitudinem .xlve. regule vel .xlviiie. ita fac et secundam de quibus sufficit intervenire concordiam in finibus trium versiculorum.« Francesco da Barberino, Bd. 3, S. 146f. Bei Antognoni springt der Text vom ersten »similitudinem« direkt zum zweiten, vgl. Antognoni, S. 97; »et fac unam mutam ad similitudinem« lautet die Emendation bei Biadene, S. 36 Anm. 1; vgl. Weinmann, S. 19 und Anm. 21. »Sunt et alij plures modi qui non sunt pro novitiis«; Francesco da Barberino, Bd. 3, S. 148. »sed tunc opportebit te revolutionem similem facere in mutis«; Francesco da Barberino, Bd. 3, S. 147. Weinmann übergeht leider diese Darstellung vollständig. Vgl. den Schluss des Zitats in der vorigen Anmerkung, der übersetzt lautet: »Mache dann eine muta gemäß der 45. oder der 48. Regel. Mache auf die gleiche Weise noch eine zweite, für die es ausreicht, einen Reim an den Enden der drei Verse einzufügen.« Vgl. auch Weinmann, S. 24 Anm. 40. »semper faciens in versiculorum finibus conformitatem de muta ad mutam ut ad cantum invicem concurrant«; Francesco da Barberino, Bd. 3, S. 147.

195 spricht derjenigen für die permutierten pedes »concordantes invicem in fine mediorum«.211 Der Reim der mutae soll also ebenso ›im Wechsel‹ erfolgen, wie derjenige der permutierten pedes, und in beiden Fällen folgt ein Verweis auf den Klangeffekt: »que multum bene sonat ad vocem«, hieß es oben für die piedi AB BA. Wenn nun die Permutation in beiden Teilen des Sonetts tatsächlich ebenso im Zusammenhang zu sehen ist, wie es für die Alternation gezeigt werden konnte, ergibt sich daraus eine entscheidende Konsequenz für die Kombinatorik. Während nämlich das ›wechselweise‹ Reimen zwischen zwei pedes aus jeweils zwei Versen zwingend zum A B B A -Reim führt, ergeben sich bei zwei mutae aus jeweils drei Versen grundsätzlich mehrere Möglichkeiten des Reimwechsels. Genau dies kennen wir aus der Tradition der Sonettdichtung. So lässt sich die unterschiedliche kombinatorische Varianz in Quartetten und Terzetten erstaunlicherweise rein mathematisch ableiten. Sie beruht einzig und allein auf der erweiterten Verszahl der volte gegenüber den piedi. Bei den Reimvarianten der sizilianischen Sonette führte allein diese erweiterte Verszahl dazu, dass Alternation in den Terzetten sowohl zweireimig in der Form C D C D C D als auch dreireimig in der Form C D E C D E möglich war. Im Fall der Permutation der toskanischen Sonette ist es nun wieder diese unterschiedliche Verszahl, die in den piedi lediglich die Variante A B B A erlaubt, in den volte aber sehr viel mehr: C D E D C E , C D E D E C , C D E C E D , C D E E D C , C D E E C D . Die erhöhte Reimvariation der Terzette wäre eine rein mathematische Folge des Wunschs nach abwechselnder Anordnung der Reime aus Gründen des Klangs und ihrer Konstruktion aus drei Versen statt aus zweien. Nicht abzubilden vermag diese Regel die Tatsache, dass die Terzettreime in der Sonettpraxis weitgehend von ganz bestimmten Varianten dominiert werden, in den zweireimigen Terzetten von der symmetrischen Form C D C C D C (die der Form der piedi A B B A A B B A entspricht) und der Umkehrform C D D D C C , in den dreireimigen von der Spiegelform C D E E D C und der einfach invertierten Form C D E D C E .212 Das Feld der Permutation wird also zu einem formalen Experimentierfeld, wobei offenbar Formen gesucht werden, die nach Wahrnehmungsgesetzen wie dem der Analogie oder der Symmetrie verfahren. Zugleich entsteht aber eine fortgesetzte Dynamik der Variation, die die entstandenen kombinatorischen Möglichkeiten ausschöpft und die jeweiligen Beschränkungen der Variation immer weiter zurücknimmt und freiere Varianten einführt. So wird bald auch über die Terzette hinweg permutiert, was Paarreime wie C C D D E E oder C D C D E E ermöglicht, und schließlich finden sich auch Beispiele mit unregelmäßigen Reimverteilungen und mit reimlos bleibenden Versen wie CD C E C E , C D E C D C oder gar C D C E F E . Die von Francesco formulierte Regel fordert eine Reimentsprechung von einer volta zur anderen und schließt damit die Permutation über beide volte hinweg noch aus. Die Poetiken sind im weiteren jedoch gezwungen, der entgren——————— 211 212

Francesco da Barberino, Bd. 3, S. 146. Vgl. insgesamt die Auflistung bei Biadene, S. 36–40.

196 zenden Eigendynamik der Reimvariation, die eine Ausweitung der kombinatorischen Regeln impliziert, Rechnung zu tragen. Man kann dies bereits bei Antonio da Tempo feststellen. Die erste systematische und umfassende Poetik, die sich mit dem Sonett befasst, ist die Summa artis rithimici vulgaris (1329/32) des Antonio Da Tempo. Sie bildet bis ins Cinquecento den Referenztext der Sonettpoetik.213 Antonio schreibt als ein Zeitgenosse Petrarcas (1304–1374) und kann bereits auf ein komplettes Jahrhundert reger Sonettproduktion zurückblicken, mit dem dolce stil novo und dem Werk Dantes (1265–1321; Vita Nuova, 1293) als jüngstem Höhepunkt und den Formexperimenten Guittones und seiner Nachfolger als vorausliegendem umfangreichen Korpus. Entsprechend hat dieses Werk bereits den Charakter einer Bestandsaufnahme. Oft wird als Kuriosität zitiert, dass Antonio 16 unterschiedliche Sonettvarianten definiert.214 Zumindest spiegelt dies den Ehrgeiz größter Vollständigkeit in der Behandlung der Form. Das Sonett ist in zwei Teile geteilt, in pedes et voltae. Den ersten Teil nennt man gewöhnlich pedes und den zweiten voltae; der erste besteht aus acht Versen, die gewöhnlich jeweils als ein pes bezeichnet werden. Und die ersten beiden werden als eine Kopula bezeichnet und die nächsten beiden als zweite Kopula, und so weiter bis zu den voltae. Der zweite Teil wird in sechs Verse unterteilt, deren erste drei als eine volta 215 bezeichnet werden und die nächsten drei als die andere volta.

Im Vergleich zu Francesco da Barberino ergibt sich eine terminologische Verschiebung, auf die bereits Weinmann hingewiesen hat. Da Tempo bezieht den Ausdruck pes auf den einzelnen Vers und prägt für den Doppelvers, der bei Francesco diesen Namen trug, den Ausdruck copula. An Stelle der mutae spricht er von voltae. Insgesamt bleibt die Gliederung des Sonetts in vier copulae bzw. pedes und in zwei mutae bzw. voltae aufrechterhalten: (2+2+2+2) + (3+3).216 Auf der Basis des Reimschemas der pedes wird die Typologie der Sonettformen auch hier vorgenommen. Dabei ergibt sich eine weitere Veränderung in der Rangfolge der Typen. Nannte Francesco noch das alte alternierende Oktettschema der Sizilianer an erster Stelle mit der Bezeichnung simplex und das neuere permutierte Schema erst an zweiter als catenatus, so ist bei Da Tempo die neuere Form zum Standard aufgerückt. An erster Stelle und als sonettus ——————— 213

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Von Da Tempos Poetik sind zahlreiche Handschriften erhalten, es gibt zwei Übersetzungen ins Italienische und schließlich eine gedruckte Ausgabe, die 1509 in Venedig erschien; vgl. das Vorwort in Antonio da Tempo, S. 5–66, sowie Weinmann, S. 30. Behrens, S. 61; eine ausführliche Besprechung bietet Mönch: Das Sonett, S. 23–27; Schlütter: Sonett, S. 12f. »Dividitur in duas partes, scilicet in pedes et voltas. Nam prima pars communiter appellatur pedes, secunda appellatur voltae. Et prima subdivitur in octo versus, quorum quilibet communiter appellatur unus pes. Sed duo primi appellantur una copula, et alii duo secunda copula; et sic de caeteris sequentibus usque ad voltas. Secunda in sex versus subdivitur, quorum tres primi appellantur una volta, alii tres communiter appellantur alia volta.« Antonio da Tempo, S. 73. Weinmann, S. 19–22; vgl. auch Mönch: Das Sonett, S. 24, der irrtümlich unter der copula ein Reimpaar versteht.

197 simplex steht hier nun die permutierte oder ›gekreuzte‹ Form A B B A A B B A ,217 während die alte sizilianisch-alternierende Form A B A B A B A B unter der Bezeichnung sonettus dimidiatus an die dritte Stelle rückt (88f.). An zweiter Stelle taucht bereits das Doppelsonett auf, für das bei gleicher Grundstruktur ein Reim pro Kopula durch Hinzufügung eines siebensilbigen Verses verdoppelt wird, so dass sich als Versstruktur (3+3+3+3) + (4+4) ergibt. Dabei betont Da Tempo die strukturelle Entsprechung, da auch hier als Schema die Abfolge von vier copulae und zwei voltae bestehen bleibt. Die Arten des Doppelsonetts werden nach zwei Kriterien gebildet, der Reimstellung des zugrundeliegenden einfachen Sonetts und des Reimbezugs des eingeschobenen Settenars. Die Reimstellung kann alternierend (sonettus duplex successivus: A a B A a B ) oder permutiert sein (sonettus duplex cruciatus: A a B B b A ), der Reimbezug kann wie hier zum vorhergehenden Vers gehen oder aber zum folgenden (sonettus duplex in principium consonantus: A b B A b B ).218 Leandro Biadene hat gezeigt, inwiefern auch hier die Darstellung bei Da Tempo sehr selektiv ist, indem er über dessen Beispiele hinaus zahlreiche weitere geläufige Varianten nennt. So führt Biadene als ›Sekundärformen‹ (§ 2. Forme secondarie, S. 49–51) solche an, bei denen die Settenarien in den piedi nicht mit benachbarten Versen, sondern untereinander reimen: A b C C b A oder A b C A b C ; oder bei denen die Stellung von settenari und endecasillabi verändert wird: a B C a B C ; oder in den volte: C D D C D C C D .219 Als ›Hybridformen‹ (§ 3. Forme ibride, S. 52–54) behandelt er solche, die für piedi und volte Einfach- und Doppelsonett kombinieren (z.B. A B A B A B A B C c D d E C c D d E ). Als ›degenerierte Formen‹ (§ 4. Forme degenerate, S. 54–59) gelten ihm solche, die keine klare Unterscheidbarkeit von Quartetten und Terzetten jeweils gleichen Umfangs mehr erlauben. Hier schlägt bei Biadene deutlich die romantische Sonettpoetik durch, die beim Sonett zwei mal zwei gleichartige Versblöcke erkennen möchte. Dagegen verstoßen asymmetrische volte, die aus endecasillabi und settenari gemischt sind, wie z.B. C c D d C c D D oder C c D D d C C c D d E E . Als ›Spezialform‹ (§ 5. Forma speciale, S. 59–61) führt Biadene eine Sonettform an, die bei Da Tempo unabhängig vom Doppelsonett vorgestellt wird und die dort caudato heißt: das Anhängen kurzer Drei-, Vieroder Fünfsilbler an jeden piede und an jede volta, die in piedi und volte jeweils unabhängig miteinander reimen: A B c A B c A B c A B c CD C e D C D e .220 ——————— 217

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»Sonettus igitur simplex sive undenarius debet fieri cruciatus cum rithimis longis in cruce consonantibus, et diversificare rithimos pedum a rithimis voltarum; ut in hoc exemplo:« Antonio da Tempo, S. 76. Da Tempo führt nur die aufgezählten drei species an. Da es sich um zwei unterschiedliche Kriterien handelt, lassen sie sich jedoch frei kombinieren, so dass man auf vier Varianten kommen kann; Antonio da Tempo, S. 83–87; dazu knapp: Mönch: Das Sonett, S. 24; Weinmann, S. 24. Biadene, S. 49–51. Bei Da Tempo als sonettus caudatus und mit Fünfsilblern als sonettus quinquenarius caudatus (Antonio da Tempo, S. 89–92). Diese Form ist nicht zu verwechseln mit dem in

198 Es ist lehrreich zu sehen, wie das ursprünglich streng schematische Programm des Doppelsonetts ausgeweitet wird und Varianten hervorbringt, die auf unterschiedlichste Weise Settenarien in piedi und volte ergänzen, bis hin zur weitgehend freien Verteilung von settenari und endecasillabi. Alle Varianten rekurrieren auf die Sonettform, geraten aber in unterschiedlich starker Weise in Konflikt mit Merkmalen, die in diesem oder jenem Konzept des Sonetts für konstitutiv gehalten werden. Schon für sich genommen steht das Doppelsonett – beispielsweise in der Perspektive der Romantik oder der sizilianischen Praxis – gegen das vierzehnzeilige Sonett-Tableau. Die ›Sekundärformen‹ führen einen dritten Reim in jeden piede ein, die ›Hybridformen‹ mischen Sonett und Doppelsonett und verstoßen so gegen die Proportion von piedi und volte, die ›degenerierten‹ geben zum Teil die Identität von piedi und volte auf. Die Formgeschichte ist hier offenbar von einer zentrifugalen Kraft beherrscht, die jede formale Neuerung mehrfach iteriert und in ihren formalen Möglichkeiten durchspielt, wobei sie die Variation zum Teil bis zur Unkenntlichkeit treibt. Dieses Moment entspricht im Grunde Erika Grebers kombinatorischem Prinzip des Sonetts.221 Entgegen steht dem jedoch wiederum eine zentripetale Kraft, die in Konzentrationsbewegungen zum Ausdruck kommt, durch die bestimmte konstitutive Merkmale hervorgehoben und kanonisiert werden. Eine solche Funktion erfüllen literarische Setzungen wie beispielsweise das reduktive Programm der Sizilianer oder des dolce stil novo und auch die Systematisierungsbemühungen von Poetikern wie Francesco da Barberino und Antonio da Tempo. Diese Bewegungen ziehen dem System durch ihre Wertsetzungen, denen bestimmte Regeln zugrunde liegen, vorläufige Grenzen ein. Verglichen mit Francesco da Barberino bietet Da Tempo keine proportionale Bestimmung der beiden Teile des Sonetts, doch legt auch er eine fixe Stollenstrophe aus vier piedi und zwei volte zugrunde, die das Doppelsonett prinzipiell zu integrieren erlaubt. Die zugelassene Heteromorphie beschränkt sich bei beiden Poetikern auf die innere Gestaltung der piedi und volte, sie umfasst nicht deren Anzahl, die festgelegt bleibt. Die variable Beschreibung der Anzahl von piedi und volte aber wäre nötig, um eine gut dokumentierte Modifikation wie die Monte Andreas und andere heteromorphe Varianten der Guittonianer zu erfassen. Insofern täuscht auch der Variantenreichtum Antonios, denn er stellt eine klare Reduktion der empirisch beschreibbaren Sonettpraxis seiner Zeit dar. Die frühen Poetiken des Sonetts erweisen sich gegenüber der dokumentierten Sonettpraxis also bereits als normativ, wobei es möglich ist, dass die entsprechenden Varianten sich historisch bereits überlebt hatten, ebenso aber, dass die Poetiken eine jeweils eigene Gattungspolitik betreiben.222 Zugleich ist der nor——————— 221 222

späteren Zeiten sonetto caudato genannten Schweifsonett, das bei Da Tempo sonettus retornellatus heißt (S. 113ff.). Vgl. Anm. 35 und öfter. Wenn Weinmann, S. 135, die entsprechenden Beispiele Guittones als »hybride« und »experimentelle Formen, die kaum Nachahmer fanden« bezeichnet, übernimmt er ohne

199 mative Akzent auch dem Zwang zur Systematisierung geschuldet. Um die heterogene Formentwicklung beschreiben zu können, entwirft man ein fixes Schema, das nicht mehr auf der Zahl der Verse, sondern auf der Zahl bestimmter logischer Einheiten beruht, der pedes und voltae bzw. piedi und volte, deren Verszahl dann als variierbar betrachtet wird. Auf eine Variierbarkeit dieser logischen Einheiten selbst aber wird verzichtet, wodurch die Heteromorphie in ganz entscheidender Weise wieder eingeschränkt wird. Für die Reimordnung der volte gilt bei Antonio die Unterscheidbarkeit von den piedi (»diversificare rithimos pedum a rithimis voltarum«, S. 76); es werden vier Varianten vorgeführt. Die erste ist die zweireimig alternierende Form C D C D C D , die stillschweigend eingeführt wird (76). Als prima diversificatione taucht dann eine durchaus entlegene Form auf, die eine Permutation über alle sechs Verse erforderlich macht, wenn man sie von herkömmlichen Mustern ableiten wollte. Sie ist trotz ihrer Traditionslosigkeit sehr einfach und besteht in der Abfolge dreier unterschiedlicher Paarreime C C D D E E .223 Entsprechend werden sie als voltae duatae bezeichnet (77). Als secunda diversificatione voltarum erst folgt die dreireimige Alternation C D E C D E und schließlich als tertia und als quarta die geläufigsten permutierten Varianten C D E D C E und C D E E D C . Man gewinnt den Eindruck, als dominierten hier ästhetische oder Wahrnehmungsprinzipien bereits die Kombinatorik, über die die Variationen der Reimschemata erschlossen wurden. Die voltae duatae jedenfalls widersprechen dem Prinzip der Reimentsprechung zwischen den volte, das noch Da Barberino formulierte, doch zeichnet sie eine konstruktive Schlichtheit aus, die sie für Antonio da Tempo empfohlen haben muss. Auch für die Variierbarkeit der volte zeigt sich also eine restriktive Handhabung. Da Tempos Typologie bildet auch hier bei weitem nicht ab, was die Sonettpraxis der Zeit tatsächlich hervorgebracht hatte. Dabei ist gegenüber Da Barberino bei Da Tempo das Prinzip der Permutation eindeutig etabliert, ja es dominiert das Prinzip der Relationalität zwischen den volte, indem nun ohne weiteren Kommentar über das gesamte Sextett hinweg permutiert wird, ohne dabei auf Gesichtspunkte der Traditionalität Rücksicht zu nehmen. Die berühmten 16 Sonettvarianten Da Tempos sind demnach kein Ausweis für einen besonderen Sinn für formale Vielfalt innerhalb seiner Poetik. Diese Vielfalt war vielmehr der Sonettform selbst im ersten Jahrhundert ihrer Existenz eigentümlich geworden, und ihr wird nur mühsam von den Poetiken Rechnung getragen. Die Varianten Da Tempos operieren im übrigen auf ganz unterschiedlichen Feldern. Die Heteromorphie spielt dabei die geringste Rolle; nur hinsichtlich des Doppelsonetts wird ihr entsprochen. Auch die Reimschemata in piedi und volte werden relativ restriktiv behandelt. Die weiteren Typen sind auf unterschiedliche Merkmale gegründet; Da Tempos Typologie ist nicht homogen ———————

223

Not den normativen Gestus der Poetiken. Wünschenswert wäre demgegenüber eine rekonstruktive Untersuchung der Rolle der Poetiken vor dem Hintergrund der tatsächlichen zeitgenössischen Gattungsentwicklung. Biadene, S. 40, weist lediglich zwei Sonette mit diesem Schema bei Cino da Pistoïa nach.

200 angelegt.224 So folgen einige Varianten, die auf zusätzlichen Reimbedingungen beruhen, andere mischen volkssprachige mit lateinischen Versen, wieder andere beziehen sich auf die Variation der verwendeten Versmaße. Als letzte Variante schließlich wird das Schweifsonett angeführt. Auf dieser Basis lässt sich die Typologie neu sortieren: I. Heteromorphie der Sonettus retornellatus (Schweifsonett): Anfügen zusätzlicher 225 äußeren Sonettstruktur Verse am Sonettende (113) Heteromorphie der inneren Struktur von piedi und volte

Sonettus duplex (Doppelsonett): Einfügen von settenari in piedi und volte: A a B B b A A a B B b A (83); Sonettus duplex successivus: A a B A a B A a B A a B (85); Sonettus duplex in principium consonatus: A b B A b B A b B A b B (86); Sonettus caudatus: Anfügen von drei- bis fünfsilbigen Kurzversen an piedi und volte (89)

Reimordnung der piedi

Sonettus simplex: A B B A A B B A (74); Sonettus dimidiatus: A B A B A B A B (88)

Reimordnung der volte

Zweireimig: C D C D C D (76); Dreireimig: C D E C D E (78); Permutation der zweiten volta: C D E E D C (81); Permutation der zweiten volta: C D E D C E (79); Voltae duatae, Permutation über beide volte: C C D D E E (77)

II. Zusätzliche Reimbedingungen

Sonettus continuus (Durchreimung): z.B. A B B A A B B A A B A B A B (92); Sonettus incatenatus (Reimverkettung): Reimung der Anfangswörter jedes Verses mit dem letzten Wort des vorangegangenen (93); Sonettus repetitus: Wiederholung des Reimworts am Anfang des nächsten Verses (98); Sonettus retrogradus: rückwärts lesbare Verse; Reimung von Versanfang und -ende (99); Sonettus duodenarius: Reim auf dreisilbige parole sdrucciole; dadurch zwölfsilbige Verse (95); Sonettus duodenarius mixtus: Wechsel von zweisilbig reimenden Elfsilblern und dreisilbig reimenden Zwölfsilblern (96); Sonettus mutus: Reim auf einsilbige Wörter (106); Sonettus polysyllabus mutus: Reim auf die letzte Silbe mehrsilbiger Wörter (107)

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Mönch führt die 16 Typen auf fünf Gründe zurück: Zeilenanzahl, Reimanordnung, Versmaß, Reimworttyp und Mehrsprachigkeit; Mönch: Das Sonett, S. 27. In Klammern Verweis auf die Seitenzahl bei Antonio da Tempo.

201 III. Modifikation des Versmaßes

Sonettus septenarius (Siebensilbler-Sonett) (109); Sonettus septenarius polysyllabus brevis: dreisilbig reimendes sieben- oder achtsilbiges Sonett (110); Sonettus communis: Wechsel von settenari und endecasillabi oder Zwölfsilblern (112)

IV. Mehrsprachigkeit

Sonettus semiliteratus: Kombination von volkssprachlichen und lateinischen Versen (101); Sonettus metricus (Kombination von volkssprachlichen und lateinischen Versen und Versmaßen) (103); Sonettus bilinguus: Kombination von Versen zweier Volkssprachen (104)

Ein etymologisch interessanter Nebeneffekt dieser Betrachtung besteht in Da Tempos auffälligem Gebrauch des Worts ›Sonett‹. Die Namengebung der Typen erscheint nämlich nur dann sinnvoll, wenn man den Ausdruck ›Sonett‹ nicht auf die Einheit des Gedichts bezieht, sondern auf den einzelnen Reimklang. Nur auf dieser Basis erscheinen die Bezeichnungen auch sinnvoll übersetzbar. Insofern ist die Bezeichnung ›Doppelsonett‹ genaugenommen ein Missverständnis, da nicht das Gedicht insgesamt verdoppelt wird, sondern lediglich bestimmte Reimklänge. Die treffendere Bezeichnung, die auf die Reimverdopplung A a B A a B Bezug nähme, wäre ›Doppelklangsonett‹. Entsprechend ist Da Tempos sonetto caudato kein ›Schweifsonett‹, sondern ein ›Sonett mit Klangschweifen‹ ( A B c A B c ) . Als sonettus dimidiatus bezeichnet er das Sonett mit alternierenden piedi; übersetzen müsste man ›Halbklangsonett‹, da der Reimklang hier gegenüber der umschlingenden Form mit ihren Paarreimen reduziert erscheint. Dieses Verfahren gilt durchgängig: das sonettus continuus ist durchgereimt, sonettus incatenatus heißt ›Klangverkettung‹, repetitus verweist auf Klangwiederholung, retrogradus auf einen ›Umkehrklang‹ und das sonettus mutus ist ein Sonett mit stummem oder stumpfem Reimklang. Bezieht man die Untergruppen in die Zahl der Sonett-Typen ein, so handelt es sich hier bereits um wesentlich mehr als 16. Diese Zahl ist aber auch aus einem anderen Grund irreführend. Da die Unterscheidungen Da Tempos auf mehreren Ebenen angesiedelt sind – Mönch erkennt fünf, ich habe sieben Ebenen unterschieden –, die weitgehend frei kombinierbar sind, erreicht man auf kombinatorischem Weg eine sehr viel höhere Zahl differenzierbarer Varianten. Auf diese Kombinierbarkeit weist Da Tempo selbst immer wieder ausdrücklich hin: »Et potest fieri sonettus incatenatus duplex et simplex et dimidiatus et forte aliis modis, de quibus supra dictum est et infra dicetur« (94). Will man eine Summe des Charakters der frühen Sonettpoetik ziehen, so fällt vor allem ihr kombinatorischer Zug auf. Es wird ein Modell des Sonetts auf der Basis der Kanzonenstanze und ihrer Bezeichnungen entworfen, das sich vor allem durch deren Fixierung auszeichnet: vier copulae und zwei volte kennzeichnen die Stanze des Sonetts. Im zweiten Schritt wird auf diesem fixierten isomorphen Schema ein Katalog von Variationen entfaltet, der zum wesentlichen Teil der Sonettbeschreibung wird. Dieser Katalog umreißt eine Vielzahl

202 von Kombinatoriken: das Sonett wird in einer ganz ungewöhnlichen Weise beschrieben als zitatkombinatorisch,226 formkombinatorisch (piedi und volte), reimkombinatorisch, reimtypkombinatorisch, versmaßkombinatorisch und sprachkombinatorisch. Damit operiert die Sonettpoetik hier vor allem über zwei Achsen: über die strikte Fixierung der relativ frei variierbaren traditionellen Form der Kanzone einerseits und über die Kontrolle einer sich auf diesem fixierten Tableau entfaltenden Kombinatorik andererseits. Die zeitliche Erstreckung des Paradigmas der Stollenform des Sonetts lässt sich in Italien mindestens bis ins Cinquecento verfolgen, wo es in der Rezeption der anderen Nationalliteraturen von dem des Epigramms abgelöst wird. Hinsichtlich dieser Assoziation des Sonetts mit dem Epigramm melden bezeichnenderweise die italienischen Poetiker Widerspruch an. Dies hängt auch damit zusammen, dass sie einer Tradition von Sonettpoetik verpflichtet sind, die sich der Verbindung des Sonetts mit der Kanzonenform weit eher bewusst ist, als Autoren anderer Nationalliteraturen in ihrer Nachfolge. Sie pflegen den kombinatorischen Aspekt des Sonetts deshalb in einer Weise, wie man ihn später kaum noch findet. Dafür sollen hier nur zwei namhafte Beispiele herangezogen werden: die Poetica des Giovan Giorgio Trissino von 1529 und die Arte Poetica des Antonio Sebastiano Minturno von 1564. Trissinos Poetik bemüht sich um eine konsequente Systematisierung ihres Gegenstands, wie sie für das Cinquecento üblich geworden ist. Die Gedichtformen werden deshalb aus kleineren Einheiten zusammengesetzt. Bei diesen Einheiten handelt es sich zunächst um Buchstaben, Silben und Akzente, um die antiken Versfüße (hier jetzt: piedi) und um den Reim,227 bevor in der dritten Abteilung Reimmodule vom Reimpaar (coppia) bis zum Sechszeiler behandelt werden. Trissino geht nun tatsächlich kombinatorisch exhaustiv vor. Für das Terzett mit einem bis drei Reimen stellt er fünf Varianten vor: i. a b c ; ii. a b a ; iii. a b b ; iv. a a b ; v. a a a (S. 70). Für das Quartett mit bis zu vier verschiedenen Reimen kommt er auf 15 Kombinationen: i. a b b a ; ii. a b b c ; iii. a b b b ; iv. a b a b ; v. a b a c ; vi. a b a a ; vii. a b c d ; viii. a b c a ; ix. a b c b ; x. a b c c ; : xi. a a b c ; xii. a a b a ; xiii. a a b b ; xiv. a a a b ; xv. a a a a (S. 74). Während er sich hier also um eine vollständige Kombinatorik bemüht, bei der die Tradition nur noch an der Wahl des ersten Beispiels kenntlich wird (»per cZminciare da li più usitati«, 70), beschränkt er sich bei den nachfolgenden Fünfzeilern an Stelle der möglichen 52 auf »alcuni usitati exempi«, das heißt auf nur fünf gebräuchliche Vari——————— 226

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Antonio da Tempo spricht am Anfang seiner Diskussion des Sonetts davon, dass dieses anhand von Zitaten ausgewiesener Autoritäten kompiliert werde. Innerhalb seiner Darstellung weist er dann für alle Beispielsonette durchgängig die Quellen nach: »Et primo de sonettis, in quorum qualibet copula aut versu apposui exterius quasi in modum glossae quandam auctoritatem alicuius sancti aut prophetae aut doctoris aut poetae vel alicuius sapientis, quae omnia sunt aut verba sancta, aut moralia, vel notabilia.« Antonio da Tempo, S. 72. Giovanni G. Trissino: La poetica (I–IV). In: Trattati di Poetica e Retorica del Cinquecento. 2 Bde. Hg. von Bernard Weinberg. Bari 1970, Bd. 1, S. 21–158, hier: S. 44–64.

203 anten (75). Erst in der vierten Abteilung seiner Poetik kommt Trissino dann auf die Gedichtformen zu sprechen, an erster Stelle auf das Sonett. Das Sonett, heißt es, setze sich aus zwei Kombinationen zusammen, einer aus Quartetten und einer aus Terzetten. Erstere bezeichnet Trissino zur Vermeidung von Verwechslungen nicht mehr als piedi, sondern als base, letztere heißen volte. Die base sind nun beim Sonett zwei gleiche Quartette und die volte zwei gleiche Terzette, wobei er darauf hinweist, dass es in früherer Zeit Sonette mit drei base aus drei Quartetten gegeben habe, wovon man sich aber nicht beeindrucken lassen sollte: giudicZ che queste cZtali base nZn sianZ moltZ da imitare, perciò che ‘l Petrarca H Dante H lj’altri buoni autZri di quella Htà mai nZn usorZnZ nei lZrZ sZnetti se nZn due base H due volte; però faremZ (cZme ho dettZ) che ‘l sZnettZ propriamente habbia due base di 228 quaternarii H due volte di terzetti.

Ganz klar tritt hier nun das Sonett in der Gestalt auf, für die Dante und Petrarca als Musterautoren einstehen und explizit benannt werden. Quartette und Terzette werden als solche wahrgenommen; das Schema aus vier piedi und zwei volte taucht nicht mehr auf. Für die Quartette werden bekannte Formen beschrieben, so zwei Quartette der ersten Art A B B A oder zwei der vierten Art A B A B . Als davon abweichende Formen nennt er die invertierten (»Zbliqua«, das heißt ›ungeraden‹ oder ›schrägen‹) Kombinationen A B A B B A B A und das seltene Beispiel des Cino da Pistoïa, A B B B B A A A , sowie die Mischung der vierten und ersten Art: A B A B B A A B (99ff.). Für die volte gilt als Regel, dass die Kombinationen vollständig übereinstimmen müssten. Hervorgehoben werden C D E C D E , CD E D C E als invertierte Form, die ehrwürdige alternierende Form C D C D C D erscheint nun in der Terzett-Kombinatorik als invertierte, sowie C D C C D C , C D D C D D und C D D D C C . Für die weiteren Möglichkeiten verweist Trissino auf seine kombinatorische Tafel, das heißt tatsächlich auf eine exhaustive Kombinatorik (101). Der kombinatorische Zugriff wird fortgeführt in der Behandlung der Durchreimung von Quartetten und Terzetten (»Del cZngiungere le volte a le base«, S. 103) und der Kombination von endecasillabi und settenari, die hier gräzisierend als Trimeter und als Dimeter bezeichnet werden (»Del ponere dimetri nei sZnetti«, S. 104). In einem letzten Abschnitt geht Trissino unter anderem auf die heteromorphen Formen ein, wobei er sich an Antonio da Tempo orientiert. Dabei werden Doppelsonett und sonetto caudato (im Sinn Antonios) nur noch knapp beschrieben, die anderen Typen werden unter Verweis auf diesen nur noch erwähnt. Im Vordergrund steht der Hinweis, dass diese Arten von Sonetten seit Dante abgelehnt worden seien, da ihnen die nötige Anmut (vagheza) fehle (105f.). Bewusst ist Trissino auch die Abhängigkeit dieser Modifikationen des Sonetts von der Kanzone: »il che facevanZ anchZra ne le base de le canzZni« (106). Insofern erfüllt seine Poetik die oben aufgestellten Kriterien des Stollen——————— 228

Trissino, S. 99.

204 sonetts. Er beschreibt eine Kombinatorik von base und volte sowohl hinsichtlich ihrer internen Struktur wie ihrer äußeren Anordnung im Sonett, und er tut dies in Analogie zur Poetik der Kanzone. Mit den heteromorphen Modifikationen des Duecento hat er entsprechend keine großen formalen Probleme; vielmehr treten nun aber stilistische Bedenken hervor, die sich auf die Praxis der buoni autori und dabei vor allem auf Dante und Petrarca berufen. So werden als ebenfalls wenig anmutig auch die Schweifsonette in Verbindung mit den Namen Boccaccio und Burchiello erwähnt: »ma iZ nZn voljZ trattare de le cose che sZnZ state dai buoni autZri schifate« (106). Die Poetik Antonio Sebastiano Minturnos, L'arte poetica von 1564, lässt sich hier unmittelbar anschließen. Für Minturno ist die stilistische Qualifikation Teil der Gattungsbestimmung und dient in der Folge auch zur Begründung seiner Ablehnung der Identifikation des Sonetts mit dem Epigramm. Dazu weist er ausdrücklich auf den Aspekt der Fixierung im Sonett hin: Che cosa è dunque il Sonetto? M. Compositione graue e leggiadra di parole con harmonia di rime, e con misura di syllabe tessute sotto certo numero di uersi, e sotto certo ordine 229 limitata.

Eine ernste und anmutige Wortkomposition mit Reim und fixierten Versmaßen, Verszahlen und bestimmter Ordnung soll das Sonett sein. In Beziehung gesetzt wird es auch hier wieder zur Kanzone, von der es sich durch seine Begrenzung auf 14 Verse unterscheide (242). Die heteromorphen Formen werden an dieser Stelle mit dem Hinweis auf ihre Ungebräuchlichkeit sogleich marginalisiert. Bemerkenswert ist daran auch, dass die Tradition des burlesken Schweifsonetts aus dem Bereich der Sonettpoetik vollständig ausgeklammert bleibt, denn die ist weder grave noch leggiadra und beschränkt sich auch nicht auf 14 Verse. Auch in der Beschreibung der Teile des Sonetts weist Minturno auf die Parallelität zur Kanzone hin: »Quante, e quali sene danno à ciascuna stanza della Canzone; dico la Fronte, e la Sirima doppia« [...]: conciosiacosa, che’l Sonetto altro non sia, che una stanza di duo quartetti, e di duo terzetti. Percioche, benche la stanza le piû uolte habbia l’una parte doppia, e l’altra semplice; non però le si toglie, che l’una e l’altra doppia hauer non possa. [243]

Bei der Beschreibung der Reimordnung des Sonetts folgt Minturno weitgehend derjenigen Trissinos und bietet ebenfalls eine ausführliche Kombinatorik von Reimmodulen. Er bedient sich dabei dessen Unterscheidung von ›geraden‹ und ›ungeraden‹ Modulen, »ò per obliquo; qual’è, a’b’b’a: ò per diritto; qual’è, a’b’a’b« (243). Damit entspricht Minturno der hier gebrauchten Redeweise von alternierenden und permutierten Reimordnungen. Seine Besprechung der Quartett-Kombinationen ist relativ weitgehend, ich gebe die angeführten Formen hier in der Reihenfolge seiner Besprechung verkürzt als Liste wieder (243f.). ——————— 229

Minturno: L'arte poetica, S. 240.

205  ABAB ABAB

ABAB BABA  ABAB BAAB ABAB ABBA

 ABBA ABBA

ABBA BAAB  ABBA BABA ABBA ABAB

 ABBB BAAA AAAA BBBB

 ABAB BBAA ABAB AABB

 ABBA AABB

ABBA BBAA

Für die Terzette ist der Katalog noch umfangreicher als dieser. Minturno beantwortet im Anschluss daran die Frage nach dem Sinn solcher Variation ausdrücklich. Ob man sich nicht auf nur wenige Reimschemata beschränken solle? »Non certo, se la uarietâ diletta, & è propria del Melico, [...].« (245). Als Begründung wird nun jeweils der stilistische und gattungstheoretische Aspekt des Lyrischen (Melischen) angeführt, der wiederum besonders die Verbindung von Sonett und Kanzone unterstreicht. Man kann also sagen, dass die Sonettpoetik Minturnos die oben anhand der frühen Sonettistik und ihrer Poetik entwickelten Kriterien des Stollensonetts explizit zum Ausdruck bringt: den Bezug zur Kanzone, der nun interpretiert wird als lyrische Qualität, die Fixierung der Stanze und die kombinatorische Variierbarkeit der Form. Auch wenn die heteromorphen Varianten nun ausgeschlossen bleiben, ist die italienische Sonettpoetik des Cinquecento nach wie vor am Modell der Stollenstrophe ausgerichtet.

1.11

Das Stanzensonett als Gattungstopos

Die hier durchgeführte Analyse der frühen Sonettform hat sich besonders intensiv mit der Konstellation der Sonett-Erfindung auseinandergesetzt und in diesem Zusammenhang auch diskursgeschichtliche und sozialhistorische Überlegungen angestellt. Dies konnte in gleicher Intensität für die folgenden Epochen nicht eingelöst werden. Für die sikulo-toskanische Entwicklung und das Sonett des dolce stil novo musste es in dieser Hinsicht bei Andeutungen und Verweisen bleiben. Im Hinblick auf die Entwicklungen im Umfeld Petrarcas und in den darauf folgenden Jahrhunderten wird auf eine historische Darstellung an dieser Stelle verzichtet. Stattdessen soll anhand der erarbeiteten Befunde der Versuch unternommen werden, die historische Logik der Form des frühen italienischen Sonetts zu fassen und hinsichtlich ihrer fortdauernden Geltung zu befragen. Die Topik des frühen Sonetts wird in einer Reihe von Thesen entfaltet, die sich zunächst vor allem auf die Formgestalt selbst beziehen. Betrachtet man die ersten Jahrhunderte der Formgeschichte des Sonetts, so zeigt sich einerseits ein erstaunliches Panorama formaler Vielfalt, andererseits aber auch eine Kontinuität der Formbewegung. Aus der Sicht einer modernen Auffassung von der Gestalt des Sonetts sind es nicht zuletzt die heteromorphen Erscheinungsformen der Sonettkunst des Duecento, die die so rigide Form undefinierbar haben erscheinen lassen. Alle denkbaren Bestimmungen scheinen hier an irgendeiner Stelle widerlegt zu sein. Das Konzept der Gattungstopik begegnet dieser Schwierigkeit einer überhistorischen Gattungsbestimmung durch den Entwurf begrenzter historischer Profile.

206 Die Formbewegung des Sonetts ist bereits in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz als eine gegenläufige und mehrdimensionale zu sehen, so dass man zu ihrer Beschreibung am besten ein Modell wählt, das unterschiedliche Kräfte einbezieht, die einander wechselseitig bedingen. Der Bewegung lässt sich insofern eine Art Dialektik unterlegen. Ausgelöst wird diese Dialektik vom singulären Akt der Sonetterfindung selbst, der bereits entscheidende Widersprüche des Systems in sich beschließt: den Bezug auf eine literarische Tradition einerseits und ihre universalistische Fundierung andererseits. Einerseits ist das Sonett eine Variation der Kanzonenstanze und damit ist es auf eine historische Vieldeutigkeit, ein intertextuelles Profil, einen überkommenen Werthorizont bezogen. Andererseits aber bricht das Sonett in fundamentaler Weise mit der Tradition, indem es sich auf universelle Prinzipien gründet: auf die bestimmte Zahl und die bestimmte Regel. Wenn die oben entfaltete Analyse der ›Urszene‹ des Sonetts zutrifft, dann handelt es sich um die prinzipiengeleitete Einführung von Mathematik in Dichtung, und zwar nicht als Hilfswissenschaft, sondern als eine Instanz der Wahrheit und als selbstständiger Wert. Daraus ergibt sich ein Kontrast von Ästhetik und Geschichte und von Universalität und Tradition, der von enormer innerer Spannung und von hoher kultureller Kraft ist. Formal kann man das Kräftepaar von Ästhetik und Tradition wiederfinden im Gegensatz von Isomorphie und Heteromorphie, der die Entwicklung des Sonetts der ersten Jahrzehnte bestimmt. Beschreibt man das ›Ursonett‹ als die isomorphe Fixierung der Kanzonenstanze hinsichtlich Versmaß (= 11), Verszahl (= 14) und Reimgliederung (= 8+6), so inhäriert ihm von Beginn an ein Gesetz der Variation, das den Keim einer Kombinatorik in sich trägt: die Reimschemata sind streng reguliert, aber nicht einheitlich. Es gibt im zweiten Teil des Sonetts von Beginn an zwei verschiedene Möglichkeiten der Reimfolge, nämlich entweder zweireimige oder dreireimige Alternation (C D C D C D oder C D E C D E ), und dazu eine Reihe von Experimenten mit Binnenreimen und Durchreimungen, so dass das Prinzip der Variation der Form dem Sonett unabweisbar eingeschrieben ist. Das Prinzip der Variation ist, auch wo es der isomorphen Fixierung entgegenzustehen scheint, von zentraler Bedeutung. Erst durch dieses Prinzip nämlich gewinnt das Sonett seinen von Beginn an konstruktiven Charakter. Erst die geregelte Variation der Sonettstanze unterscheidet diese grundsätzlich vom einfachen Reimschema einer tradierten Form und macht sie zum intellektuellen Effekt auf mathematischer Basis: C D C D C D oder C D E C D E , C D C C D C oder C C D C C D , diese Form ist ein Spaß der Vernunft und ein Anspruch auf Ordnung, die auf den Intellektualismus der Kanzonenstanze zurückgeht und ihn radikalisiert. Sie verzichtet auf deren Liedhaftigkeit und melodische Repetition zugunsten einer formalen, mathematischen und graphischen Ästhetik. Das Sonett fixiert und variiert und es exponiert dabei die Kraft des Intellekts und die Möglichkeit einer rationalen Ordnung der Welt. Doch die Variation ist auch eine Zentrifuge, deren sich die dissoziierenden Kräfte der Geschichte bedienen. Im Werk des Guittone d’Arezzo ist zu sehen, wie sich der kulturelle Bedarf nach Widerspruch – den die Kräfte der Ideologie hervortreiben – verbündet mit diesem zentrifugalen Moment der Form, das dem

207 Sonett so eigentümlich ist. Dabei weist die Sonettvariation unmittelbar auf die Tradition zurück, denn der intertextuelle Konnex zur Kanzone ist präsent und steuert gleichsam deren Ausweitung. Als Guittone die Grenzen, die durch die ersten Variationsmuster des Sonetts gesetzt waren, zu überschreiten beginnt, tut er dies in systematischer Weise durch die Anwendung von Regeln der Kanzonenvariation. Die Pluralisierung des Sonetts geschieht also unter Heranziehung der Dignität dieser Tradition. Ihre Mittel sind die Zulassung der Permutation der Reimabfolge, wie sie in der Kanzone geläufig war, nicht aber im Sonett, das ursprünglich auf reine Alternation und Durchreimung beschränkt war. Noch markanter ist die Variation der inneren Ausformung und der äußeren Zahl von piedi und volte, die zu einer explosionsartigen Entfaltung von Sonettvarianten führte. Auch hier ist jedoch die große Kontrolliertheit dieser Eingriffe zu beachten. Das sonetto doppio oder ›Doppelklangsonett‹ knüpft an die Experimente mit Binnenreimen an, die man bei Giacomo da Lentini finden kann und formalisiert diese gleichsam durch die geregelte Einfügung von zusätzlichen gleichreimenden Siebensilbern in piedi und volte. Nach dem gleichen Prinzip verfahren andere heteromorphe Variationen, die sich stets durch kontrollierte Modifikation auszeichnen. Die Veränderung der Form und Zahl der piedi und volte im Sonett scheint aus späterer Perspektive an die Identität der Gattung rühren. Sie folgt gleichwohl einer klaren Logik, die das konstruktive Moment des Sonetts zurückbezieht auf seinen traditionellen Grund, ohne dieses konstruktive Moment dabei aber aufzugeben. Die Konzentration der Form im dolce stil novo bis hin zum Canzoniere Petrarcas impliziert eine Verschiebung von der Heteromorphie zur Permutation als dem einzigen noch akzeptierten Variationsmerkmal des Sonetts. Legitimiert wird die Permutation der alternierenden Reimordnung in der ersten Poetik des Sonetts von Francesco da Barberino nicht durch den Hinweis auf kombinatorische Verfahren, sondern durch den auf ihre klanglichen Qualitäten. Sowohl für die piedi als auch für die volte wird eine Abwechslung der Reimfolge befürwortet, weil diese beim Gesang gut klinge. Darin liegt ein geradezu evolutives Moment: Obwohl im Zuge des dolce stil novo die heterogenen Formexperimente des Duecento, die qualitative und quantitative Modifikation von piedi und volte, insgesamt zurückgenommen wird und damit eine Kanonisierung stattfindet, bleiben bestimmte Formen der Reimpermutation erhalten. Dadurch wird die traditionelle Alternation der Reime in beiden Teilen des Sonetts als verbindliches Muster aufgegeben. Als Grund für die Beibehaltung ›umgewechselter‹ Reime wird auf den Klang verwiesen, doch scheinen auch visuelle Motive der Gestaltwahrnehmung eine Rolle gespielt zu haben. So ist der Erfolg der permutierten piedi A B B A A B B A sicher auch aufgrund ihrer doppelten symmetrischen Gestalt zu erklären. Deutlicher erkennen lassen sich solche Prinzipien in den Terzetten, wo aus einer größeren Auswahl kombinatorischer Möglichkeiten Varianten wie C D E E D C oder C DC C D C mit der Zeit besonders erfolgreich sind. Aus der Beibehaltung der Permutation ergibt sich der kombinatorische Spielraum der Reimschemata in den Terzetten, der für die weitere Geschichte des Sonetts verbindlich und bedeutsam blieb. Man hat diesen größeren Spiel-

208 raum der Variation in den Terzetten später oft als ein kontrastives Merkmal der beiden Teile des Sonetts verstanden. Man kann diese Reimvarianz der Terzette allerdings auch als ein rein mathematisches Ergebnis der kombinatorischen Vorgaben erläutern: Die ›Abwechslung‹ der Reimfolge führt in den zweiversigen piedi rein rechnerisch zu erheblich weniger Möglichkeiten, als in den dreiversigen volte. Somit scheint die unterschiedliche Variationsbreite der klassischen Reimschemata in Quartetten und Terzetten paradoxerweise gerade aus ihrer ursprünglichen Gleichbehandlung in Fragen der Permutation zu resultieren. Aus dieser Festigung der permutierten Reimschemata des Sonetts folgen sowohl die Untergliederung des Oktetts in zwei Quartette als auch die freier variierenden Reimordnungen der Terzette. Dies führt offenbar zu einer insgesamt stärkeren Beachtung des Kontrasts der beiden Teile des Sonetts. Für die Reimschemata in Petrarcas Canzoniere scheint dieser Kontrast jedenfalls bereits als ein genuiner Beweggrund der Sonettgestaltung zu wirken. Als Bedingung, dass im Sonett die beiden Teile stets im Reim unterscheidbar sein müssten, kennzeichnete ein solcher Kontrast schon die früheste Sonettistik. Sehr dominant scheint es aber nicht gewesen zu sein, denn man hätte mit einem solchen Kontrastprinzip die alte alternierende Terzettreimung C D C D C D verteidigen sollen, die sich von permutierten Quartetten A B B A klar unterschieden hätte. Diese alternierende Terzettreimung spielt nun zwar für die Dichter des dolce stil novo keine Rolle, da sie die Terzettpermutation bevorzugen, doch kehrt sie bei Petrarca zurück und kennzeichnet die meisten seiner Sonette. Während sich also die umschlingende Reimung der Quartette von Cavalcanti über Dante zu Petrarca absolut durchsetzt, geht die Permutation der Terzette wieder deutlich zurück: in der Vita nuova findet sie sich bereits in 60% der Sonette, bei Petrarca sind jedoch wieder drei Viertel aller Terzette alternierend gereimt, wobei sich die zweireimige und die dreireimige Form die Waage halten. Das Sonett Petrarcas bevorzugt also die Formen A B B A A B B A C D C D C D (36%) und A B B A A B B A C D E C D E (38%), als drittbeliebteste Variante ist mit etwa 20% noch die an einer Stelle permutierte Form C D E D C E nennenswert vertreten. Keine dieser Terzettformen ist im Reim aber symmetrisch angelegt wie die Quartette, so dass der Reimkontrast hier tatsächlich zum poetischen Prinzip avanciert zu sein scheint. Als Prinzipien der frühen Sonettgestaltung sind also der intertextuelle Bezug auf die Tradition der Kanzone, die numerisch-mathematische Fixierung und die kombinatorische Variation der Form zu nennen. Diese Prinzipien umschreiben eine Dialektik von Universalität und Tradition, von der sich wesentliche Merkmale der frühen Sonettform ableiten lassen. Der Bezug auf die Tradition der Kanzone bürgt für die Unterteilung des Sonetts in eine Abfolge von piedi und volte und für deren Unterscheidung im Reim sowie für das gesamte intertextuelle Profil sowohl in diskursiver Hinsicht (Minnediskurs) wie in zahlreichen Formalien und Reimexperimenten (Binnenreime, Wortspiele). Auch die frühe Zusammenfassung von Sonetten zu Tenzonen und schließlich zu Zyklen von Gedichten, die an die Abfolge der Kanzonenstanzen erinnern, weist auf die provenzalische Tradition zurück. Im Interesse einer formalen Differenzierung und Absetzung von bestimmten Vorbildern dient der Bezug zur Kanzone immer

209 wieder als mögliche Inspirationsquelle für Modifikationen des Sonetts: die Prinzipien der Reimpermutation und der Modifikation der Form und Zahl von piedi und volte (Heteromorphie) entsprechen Traditionen der provenzalischen Kanzonendichtung. Die Fixierung der Form umfasst die Isolierung der Einzelstanze – sei es unter Bezug auf die coblas esparsas oder nicht – und die Festlegung des isometrischen Versmaßes aus endecasillabi sowie die isomorphische Festlegung des Sonett-Tableaus aus vier plus drei Doppelversen bzw. aus acht plus sechs Versen in unterscheidbaren alternierenden Reimen, für die mathematisch-numerologische Spekulationen den Grund gegeben haben dürften. Spätere kanonisierende Tendenzen zur Reduktion der Vielfalt von Sonettformen konnten sich einerseits jeweils auf die frühe Tradition strenger Sonettdichtung zurückbeziehen, andererseits griffen sie zu veränderten rationalen oder ästhetischen Kriterien. Dazu zählen auch Wahrnehmungsaspekte wie die Symmetrie- und Kontrastbildung, die zu einem wesentlichen Movens der romantischen Sonettpoetik werden sollten. Die Variation der Form kommt durch die Aufnahme zweier Reimmodule A B und A B C und durch Durchreimungen von Beginn an ins Spiel. Deren streng geregelte Verwendung lässt die Reimvariation in sehr reduzierter Form ins System eindringen und treibt damit ein kombinatorisches Programm hervor, das für das Sonett konstitutiv wird. In der streng geregelten Variation kommt der konstruktive Charakter des Sonetts unmittelbar zum Ausdruck. Aus der Sicht der frühen Sonettpoetik ist demnach nicht die romantische Frage nach der idealen Reimform des Sonetts interessant, vielmehr ist die Tatsache der geregelten Variation selbst das Spezifikum der Form.230 Dieses Prinzip der Variation trägt ganz erheblich zur formalen Diversifikation des Sonetts der Frühzeit bei. Unter Rückgriff auf die provenzalische Tradition werden entsprechende Regeln übernommen: die Permutation der Reimmodule in beiden Teilen des Sonetts, Reimexperimente wie die Versverkettung, Veränderungen im Versmaß, die innere und äußere Modifikation von piedi und volte und anderes mehr. Das Ergebnis der Untersuchung ist also eine dreidimensionale Konstellation aus Intertextualität, Mathematik und Kombinatorik, auf der sich die Geschichte der Sonettform als Stanze erhebt: der fundamentale intertextuelle Bezug zur Kanzone, die numerologische Fixierung der Form und ihre Variation durch Kombinatorik. Damit allerdings ist lediglich ein formales Gerüst umrissen, in dem sich die ästhetischen, ideologischen und diskursgeschichtlichen Bewegungen der Dichtung vollziehen. Inwiefern die grundlegenden Prinzipien mit spezifischen Werten besetzt und in ideologische Auseinandersetzungen einbezogen werden, ist oben am Beispiel der imperialen Ästhetik der Magna Curia Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen diskutiert worden. Es wäre für andere Ausprägungen der Formgeschichte in dieser Zeit in entsprechender Weise zu rekonstruieren. ——————— 230

Als ein Teilprinzip ist damit dem von Erika Greber vorgeschlagenen Gattungsprinzip des Sonetts prinzipiell Rechnung getragen; vgl. oben, Anm. 35 und öfter.

210 Eine Analogie kann man in der Geschichte des Minnediskurses der Frühzeit erkennen. Wo sich das Sonett in einem Feld aus Tradition und radikalem ästhetischem Universalismus positioniert, vollzieht der Minnediskurs Bewegungen in einem Kraftfeld aus Begehren und Ordnung und aus Affekt und Normativität, die sich diesem als durchaus affin erweisen. Eine Diskursgeschichte des mittelalterlichen Sonetts sollte diesen Verschränkungen von Minnediskurs und Formentwicklung nachgehen. Es zeigte sich bereits, dass Versuche der Versöhnung von Begehren und Ordnung, wie man sie bei den imperial gesinnten sizilianischen Poeten und im idealistischen dolce stil novo findet, die konzentrierte und in ihrer Vielfalt reduzierte Form des Sonetts mit ihrem universalistischen Anspruch suchen, während der Zweifel an derartigen Identifikationen, der auf den Mangel der Wirklichkeit hinweist und der zum moralisierenden Beharren neigt, eher den zentrifugalen Kräften der Tradition und der Vielgestalt der Formen folgt. Man wird ein solches Schema allerdings nicht starr durchführen dürfen, denn je mehr sich die Tradition anreichert, desto unberechenbarer sind die Umbesetzungen, die möglich werden, und desto vielfältiger die historischen Kräfte, die ins Spiel kommen.

2

Das epigrammatische Sonett der Frühen Neuzeit

2.1

Sonett und epigrammatisches Paradigma

»Sonnet n’est autre chose que le parfait épigramme de l’italien« – so wird die Interpretation des Sonetts als Epigramm von Thomas Sébillet 1548 erstmals in einer Poetik formuliert.1 Der Bezug der mittelalterlichen Strophenform auf die antike Gattung vermittelt dem Sonett eine völlig neue Qualität mit historisch weitreichenden Auswirkungen. In der Sache muss der Bezug zunächst willkürlich erscheinen, denn beide Formen haben ihrer Herkunft nach nichts miteinander gemein. Als Voraussetzung der Möglichkeit einer solchen Interpretation ist von zumindest drei Faktoren auszugehen: zum einen musste die überlieferte Poetik des Sonetts in ihrer Verbindlichkeit reduziert sein, zum zweiten musste die Epigrammform eine Präsenz gewonnen haben, die ihr in Bezug auf das Sonett Erklärungskraft verlieh, zum dritten musste ein spezifisches Systematisierungsinteresse der Poetik wirksam sein. Der erste Punkt ist offenbar erfüllt, als das Sonett im Zuge der humanistischen Bemühungen um volkssprachliche Dichtung vom Italienischen in andere Nationalsprachen einwandert. Der Kultursprung macht es dabei unvermittelt zur fremden Form, für die ein neuer Erklärungs- und Legitimationsbedarf besteht, gleichzeitig gerät die traditionelle Abkunft aus dem System der mittelalterlichen Strophenformen aus dem Blick. Man kann deshalb recht deutlich sehen, dass die Zuordnung zum Epigramm vor allem außerhalb Italiens Platz greift, während italienische Poetiker dagegen eher Vorbehalte äußern. Der zweite Punkt ist erfüllt, weil das Epigramm mit der Rezeption von Martial und der Griechischen Anthologie am Ende des Quattrocento zu einer weitverbreiteten Modeform aufgestiegen ist,2 der dritte Punkt ——————— 1 2

Thomas Sébillet: Art poétique francoys pour l’instruction des ieunes studieus (1548). Hg. von Félix Gaiffe. Paris 21932, S. 115. Die historische Entwicklung der Assoziation von Sonett und Epigramm ist im Detail nicht untersucht und allenfalls in den Grundzügen fixierbar. Während die programmatische Zuordnung in den Poetiken erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Frankreich vollzogen wird, muss von einer längeren dichtungspraktischen Vorlaufphase ausgegangen werden. Das italienische Sonett geriet mit den anderen lyrischen Kleinformen seit dem Quattrocento in den Bannkreis der humanistischen Epigramm-Rezeption. Die Rezeption der antiken Epigrammatik wirkte sich über die Zwischenstufe der neulateinischen Dichtung mit Verzögerung in den volkssprachlichen Formen aus. Grundsätzlich ist die Forschungslage zum neulateinischen Epigramm vor allem für das 16. Jahrhundert einer »der bemerkenswertesten weißen Flecken auf der Landkarte europäischer Dichtung«, Ulrich Schulz-Buschhaus: Das Madrigal. Zur Stilgeschichte der italienischen Lyrik zwischen Renaissance und Ba-

212 betrifft die zeitgenössischen Bemühungen um eine Systematisierung der Poetik im Zeichen der antiken Vorbilder und des antiken Gattungssystems. Im Jahr 1470 erschien in Rom der erste Druck der Epigramme des Martial, ca. 21 Ausgaben folgen bis 1500.3 Zum Ende des Jahrhunderts entwickelt sich die Martial-Rezeption zu einem konkurrierenden Paradigma zu den älteren Modellen, also der Nachahmung Catulls, der Elegiker Properz und Tibull sowie Ovids. Es entsteht ein regelrechter Paradigmenstreit zwischen Catull und Martial.4 Dabei vollzieht sich in der Nachfolge Martials eine zunehmende Pointierung und Schärfung im Sinne der argutia, weshalb man immer wieder in wenig glücklicher Weise vom ›Secentismo‹ des Quattrocento und von ›präbarocken‹ Strömungen gesprochen hat. Catull und Martial, die beide als Epigrammatiker gelten, werden gegeneinandergestellt als Vertreter von Lieblichkeit und Schärfe, von mel und sel, von lepor und argutia. Zentral formuliert dies in der Mitte des folgenden Jahrhunderts Julius Caesar Scaliger, wenn er Catulls Mangel an argutia tadelt: »Das Epigramm besitzt zwei spezifische Tugenden: Kürze und Scharfsinn. Während Catull diesen nicht immer gefolgt ist, ließ Martial sie nie vermissen.«5 Der Prozess der Epigrammatisierung der lyrischen genera mit seiner Tendenz zur scharfsinnigen Pointierung ist für das Quattrocento im einzelnen nicht nachgezeichnet.6 Zu konstatieren ist dabei das noch nicht entsprechend ausgeprägte Gattungsbewusstsein der Zeit. Geschrieben wurde Mischlyrik, die von zahlreichen Vorbildern beeinflusst wurde.7 Der Begriff des Epigramms ist in der Regel recht unspezifisch auf alle Arten von carmina bezogen.8 Entsprechend groß ist dann allerdings die Reichweite der sich zunehmend ausdifferenzierenden Epigrammrezeption. Auf das Interesse an Martial folgt die Entdeckung der ———————

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rock. Bad Homburg 1969, S. 163, »ein unzureichend erforschtes Gebiet«, Frank-Rutger Hausmann: Untersuchungen zum neulateinischen Epigramm Italiens im Quattrocento. In: Humanistica Lovaniensia 21 (1972) 1–35, hier: S. 1, »eine fast völlige terra incognita«, Jutta Weisz: Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1979, S. 13. Theodor Verweyen, Gunther Witting: Epigramm. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 1273–1283, hier : Sp. 1278; vgl. zur Martial-Rezeption Kurt-Henning Mehnert: Sal Romanus und Esprit Français. Studien zur Martialrezeption im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts. Phil. Diss. Bonn 1970. Schulz-Buschhaus: Das Madrigal, S. 149–154; mit Verweis auf das reichhaltige Material bei Guillaume Colletet: L’Art Poétique I: Traitté de l’Épigramme et Traitté du Sonnet. Hg. von P. A. Jannini. Genf 1965, S. 86–101: »De Catulle et de Martial« und »Divers jugemens pour Catulle et Martial«. »Epigrammata duae virtutes peculiares: brevitas et argutia. Hanc Catullus non semper est assecutus, Martialis nusquam amisit« (Übs. T.B.); Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Übs. und hg. von Luc Deitz und Gregor VogtSpira. Bd. 3, Stuttgart 1995, S. 206f. (III, 125, 170b); vgl. auch Schulz-Buschhaus: Das Madrigal, S. 152 und unten, S. 233. Frank Rutger Hausmann spricht zumindest 1972 noch davon, »daß der Zeitpunkt für eine Untersuchung der Rezeption einzelner Autoren und Sammlungen noch nicht gekommen ist.« Hausmann: Untersuchungen, S. 35. Hausmann: Untersuchungen, S. 9. Hausmann: Untersuchungen, S. 17.

213 Griechischen Anthologie. Manuskripte der Planudea kursieren bereits seit den sechziger Jahren, der Erstdruck erscheint 1494 in Florenz und es folgen zahlreiche weitere Editionen.9 Unter Papst Leo X. (1475–1521) verdrängt die Anthologie die Epigramme Martials als wichtigstes Vorbild. Die Epigramm-Mode zieht weite Kreise und dominiert als gesellige Übung in der Mitte des 16. Jahrhunderts.10 Die Pointentechnik des Epigramms bleibt zunächst auf den neulateinischen Bereich beschränkt. Die imitatorischen Räume von Volks- und Humanistensprache sind wohlgeschieden. Ulrich Schulz-Buschhaus spricht von einer gleichsam ›doppelten Ästhetik‹ der Lyrik dieser Zeit: »Die eine prägt pathetische italienische Sonette und Madrigale, die andere witzige lateinische Epigramme«.11 Frank Rutger Hausmann hat auf das sehr frühe Vorhandensein von argutia-Verfahren in der neulateinischen Epigrammatik hingewiesen. Erst mit deutlicher Verzögerung gelangt die satirisch-scherzhafte Pointierung des Epigramms im Stile Martials in die volkssprachlichen Formen. Eine genaue Scheidung von Einflusssphären für bestimmte Motivtraditionen scheint dabei kaum möglich zu sein. Zahlreiche Motive der volkssprachlichen Lyriktradition – beispielsweise bei Petrarca und seinen Imitatoren – finden sich ebenfalls bei den Anthologisten und haben ihre gemeinsamen Wurzeln bei antiken Autoren.12 Obgleich also detaillierte Studien zur Stil- und Motiventwicklung und zu deren Traditionslinien in der neulateinischen und volkssprachlichen Lyrik des 15. und 16. Jahrhunderts fehlen, zeichnet sich eine Grundkonstellation der Konfrontation älterer volkssprachlicher Muster mittelalterlicher Abkunft mit den neuentdeckten Epigrammtraditionen der Antike ab. Während einige dieser älteren Formen dabei zunehmend verschwinden und im Epigramm aufgehen, erleben andere eine grundlegende Erneuerung aus dem Geist des Epigramms, die ihnen eine Zentralstellung innerhalb der lyrischen Formen der Frühen Neuzeit sichert, die bis ins 18. Jahrhundert reicht. Zu nennen sind hier vor allem das Madrigal und das Sonett. Die Affinitäten zur Epigrammtradition lassen sich hier geradezu zu einem Spektrum auffalten und topisch verorten, was in den folgenden Abschnitten geschehen soll. Während man in der Sonettpraxis hinsichtlich des Epigramm-Einflusses auf detaillierte Textanalysen und auf stilistische, motivische und andere Kategorienbildungen angewiesen ist, lässt sich die Interpretation des Sonetts als Epigramm in der entsprechenden Gattungsdiskussion unmittelbar verfolgen und ——————— 9 10 11 12

James Hutton: The Greek Anthology in Italy to the Year 1800. Ithaca, New York 1935, S. 37–39. Hutton, S. 43. Schulz-Buschhaus: Das Madrigal, S. 161. Hutton, S. 46f., nennt als verwandte Motive bei Petrarca und den Anthologisten: die Liebesschiffahrt (5,190. 12,157), das Bild im Herzen (5,155. 274.), Liebe vergeht wie eine Blume (5,74. 12.235), Liebe wirft ihre Netze (5,100. 12,132), die alternde Kurtisane (5,204), Traum des Liebenden (5,2. 243), Verwundung und Heilung durch den Geliebten (5,225), goldene Locken als Fesseln (5,230), kein Raum mehr für die Pfeile der Liebe (5,98).

214 festmachen. Die poetologischen Erörterungen treten allerdings später auf als die genannten Einflüsse in der Dichtungspraxis selbst, so dass die Poetiken die Entwicklung bloß nachzuvollziehen scheinen. Auch dabei sind die entsprechenden nationalen Unterschiede festzuhalten, denn die poetologische Zuordnung von Sonett und Epigramm ist vor allem eine Sache der französischen Poetik, während aus Italien Widerspruch zu hören ist. Die Geschichte dieser Relation ist für die Poetiken wiederholt beschrieben worden, so dass man sich auf besser bereitetem Grund bewegt, als bei den dichtungspraktischen Entwicklungen.13 Eine allgemeinste Motivation der theoretischen Zuordnung des Sonetts zum Epigramm liegt in dem Erfordernis, im Zuge der Ausarbeitung der humanistischen Poetik eine Anbindung der überkommenen modernen Formen an die antiken Muster herzustellen, soweit man diese überkommenen Formen im Rahmen der imitatio-Poetik weiterverfolgen möchte.14 Diese Problematik stellt sich schon als die sprachliche Aufgabe, solche Formen im Lateinischen überhaupt zu benennen. Ausdrücklich findet sich die Anbindung des Sonetts an das Epigramm erst in der französischen Poetik seit der Mitte des Jahrhunderts. Das früheste Zeugnis bildet hier – regelmäßig zitiert – die Art poétique francoys pour l’instruction des ieunes studieus des Marotisten Thomas Sébillet von 1548:15 le sonnet suit l’épigramme de bien près, et de matière et de mesure; et quand tout est dit, le sonnet n’est autre chose que le parfait épigramme de l’italien, comme le dizain du 16 François.

Diese Zuordnung zum Epigramm geht bei Sébillet einher mit einer ausführlichen Behandlung der Epigrammform, die er als »le plus petit et premier œuvre de Pöésie« (103) bezeichnet, und die er einzeln nach Länge vom Zweizeiler bis zum douzain bespricht (105–113). Das Sonett wird so geradezu in die systematische Behandlung des Epigramms eingegliedert, indem es als Vierzehnzeiler auf die Zwölfzeiler folgt. Somit erscheint die Zuordnung des Sonetts als ein

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Sehr gründlich ist die Entwicklung der Epigrammpoetik rekonstruiert bei Hutton, S. 56–72; vgl. außerdem Jürgen Nowicki: Die Epigrammtheorie in Spanien vom 16. bis 18. Jahrhundert. Eine Vorarbeit zur Geschichte der Epigrammatik. Wiesbaden 1974. So die allgemein gehaltene und kritisch gemeinte Deutung bei Welti, S. 44: »Sie halfen sich endlich dadurch, daß sie das Sonett zum modernen Nachfolger des Epigramms machten und stillschweigend die Gesetze des letzteren auf das erstere übertrugen.« Als frühesten Beleg bezeichnet dies schon Hutton, S. 56: »Nothing like this statement occurs in Bembo’s Volgar Lingua (1525), in Daniello (1536), or in Trissino (1529, 1563); but it became a commonplace about 1550.« Fowler, S. 183, weist darauf hin, dass schon Lorenzo de Medici (1449–1492) eine Zuordnung von Sonett und Epigramm vorgenommen habe. Sébillet, S. 115; vgl. dazu Fechner: Permanente Mutation, S. 17; Joseph Leighton: Deutsche Sonett-Theorie im 17. Jahrhundert. In: Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Internationale Beiträge zum Problem von Überlieferung und Umgestaltung. Hg. von Gerhart Hoffmeister. Bern, München 1973, S. 11–36, hier: S. 31; Behrens, S. 104.

215 Nebeneffekt der neu entstehenden Epigrammpoetik. Maßgeblich sind entsprechend dafür die gleichen Traktate.17 Bei Thomas Sébillet trägt die Zuordnung nicht zuletzt einen patriotischen Akzent. Wenn nämlich das italienische Sonett qualitativ dem dizain der Franzosen entspricht, dann liegt in dem Import keine grundsätzliche Neuerung, was den denkbaren kulturpatriotischen Affekt gegen die ausländische Form überflüssig macht. Die Interpretation des Sonetts als Epigramm stellt also eine Legitimation in zweifacher Hinsicht dar: einerseits in humanistischer durch Rückführung auf die antike Poetik, zugleich aber in kulturpatriotischer Hinsicht durch implizite Zuordnung zur nationalen Tradition.18 Insofern ist die Epigrammatisierung des Sonetts auch ein Bestandteil der nationalen Aneignung der Form. In neulateinischen Poetiken des 16. Jahrhunderts wird die Sonettdichtung gern implizit unter den Epigrammen geführt, ohne dass sie deshalb eigentlich behandelt werden muss. Der wahrscheinlich früheste Beleg für eine Zuordnung von Sonett und Epigramm findet sich bei Benedetto Varchi, der bereits 1545 in seinen Florentiner Lezioni sul Petrarca diesen wegen seiner Kanzonen neben die »lirici« Pindar und Horaz stellt, wegen seiner Sonette aber eine Verwandtschaft zu den antiken Epigrammatikern erwägt. Irene Behrens’ Hinweis, es könne sich hierbei um die älteste Formulierung dieses Gedankens handeln,19 wird von Varchis Text gestützt, der das Ungewöhnliche des Vergleichs ausdrücklich thematisiert: Ma in quanto a’ sonetti si potrebbe per ventura più tosto annoverare tra i poeti d’epigrammi; benchè essendo le lingue diverse, e le maniere dei versi diversissime, non si possono fare queste congiunzioni così a punto, ed assegnare tutte quelle proporzioni e somiglianze che tra i Latini ed i Greci si vedono essere. Però nessuno può (che io creda) ritrovare in molte cose somiglianti la verità e dire affermatamente: ella sta così. Soweit sich aber [bei Petrarca] Sonette finden, könnte man ihn versuchsweise frech zu den Epigrammatikern zählen. Zwar handelt es sich um unterschiedliche Sprachen und um unterschiedlichste Versarten, so dass sich die Zuordnung nicht ganz exakt vornehmen und auf all die Verhältnisse und Ähnlichkeiten beziehen lässt, die sich zwischen den Lateinern

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Die ersten systematischen Epigrammabhandlungen sind die von Robortello und Sébillet, sowie dann die Poetik Minturnos und die der Theoretiker der Pléïade; vgl. Verweyen/Witting: Epigramm, Sp. 1273f. Die Frage nach der nationalen Herkunft der Sonettform spielt auch bei der Auseinandersetzung mit dem Dichtungsprogramm Du Bellays eine Rolle, so im 1550 in Lyon anonym erschienenen Le Quintil Horatian sur la Deffence et illustration de la langue françoise, als dessen Autor inzwischen Barthélémy Aneau gilt; vgl. Ulrich Mölk: Petrarkismus – Antiitalianismus – Antipetrarkismus. Zur französischen Lyrik des 16. Jahrhunderts. In: Sprachen der Lyrik. Festschrift für Hugo Friedrich zum 70. Geburtstag. Hg. von Erich Köhler. Frankfurt a.M. 1975, S. 547–559, hier: S. 549; auch in Jehan de Nostredames Lyoneser Schrift zu den Vitae der Trobadors von 1575 wird das Sonett in der Vorrede unter den Gattungen der provenzalischen Dichter genannt; Jehan de Nostredame: Les vies des plus célèbres et anciens poètes provençaux. Hg. von Camille Chabaneau. Genf 1970 (Wiederabdruck der Ausgabe Paris 1913), S. 10. Behrens, S. 82.

216 und Griechen finden. Es kann allerdings – dies ist meine Überzeugung – auch in vielen Fällen besserer Vergleichbarkeit niemand das Rechte mit Sicherheit herausfinden und 20 einfach sagen: So ist es!

Varchi stützt seine Überlegung mit einem skeptischen Hinweis bezüglich der Beweisbarkeit von Vergleichsoperationen überhaupt: Wo keine Gewissheit erreichbar ist, müssten auch unkonventionelle Überlegungen wie die Assoziation von Sonett und Epigramm erlaubt sein. Laut Bernard Weinberg bezeichnet Francesco Robortello Petrarcas Sonette 1548 in seinem Epigrammtraktat – der neben der Poetik Sébillets wegweisend ist – als ›Liebesepigramme‹.21 Julius Caesar Scaliger behandelt in seiner maßgeblichen Poetik von 1561 das Sonett überhaupt nicht, erwähnt aber im Epigrammkapitel mit spöttischem Tonfall die beliebten modernen Amatoria, denen man wohl die ›Überschrift‹, das heißt die inscriptio »nova epigrammata« anheften könne.22 Die Behauptung der Formäquivalenz zieht nun umgekehrt auch eine Diskussion der Differenzen nach sich, wobei die theoretische Behauptung einer höheren Stillage des Sonetts eine gewisse Affinität zum italienischen Sonettklassizismus der Bembisten und damit der Petrarkisten verrät. War Sébillet der Poetiker der Marotisten, so ist Jacques Peletier du Mans der Pléïade assoziiert. Er weist 1555 auf die größere Majestät und das philosophische Gewicht der Sonette hin, gesteht allerdings die gemeinsame argute Pointierung zu: Le Sonnet donq ét plus hautein que l’Epigramme: e à plus de majeste: e ét capable de discours grave, mes qui soèt brief: Car sa mesure ét limitee de quatorze vers: excete que quelques Italiens lui ajoutet un demi vers avec deus antiers a la fin: qu’iz apelet la Clef. Mes c’ét chose de peu de conte. Außi les notres ne se sont soucièz d’an user : vu méme que Petrarque n’an à point fèt d’autres que de quatorze. Il à de commun avec l’Epigramme, qu’il doèt se fere aparoèr illustre an sa conclusion. Mes il à de plus, qu’il doèt étre elabourè, [62] doèt santir sa longue reconnoessance, doèt resonner an tous ses vers 23 serieusement : e quasi tout filosofique an concepcions.

Die Bedeutung der Epigrammpointe wurde bereits bei Thomas Sébillet hervorgehoben, der darauf hinwies, ——————— 20 21

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Benedetto Varchi: Lezioni sul Petrarca. In: B. Varchi: Opere ora per la prima volta raccolte. Bd. II. Triest 1859, S. 439–507, hier: S. 441; Übs. T.B. F. Robortello: In librum Aristotelis de arte poetica explicationes. De epigrammate. Florenz 1548, Neudruck München 1968. Die Nennung Petrarcas ließ sich hier allerdings nicht verifizieren, die Kennzeichnung kann nur indirekt erfolgt sein. Weinbergs Hinweis bleibt ungesichert: Bernard Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance. 2 Bde., Chicago 1974, Bd. 1, S. 400f.; vgl. später auch Tasso und Pigna, dazu Rosalie L. Colie: ›Small Forms‹: Multo in Parvo. In: Colie: The Resources of Kind. Genre-Theory in the Renaissance. Hg. von Barbara K. Lewalski. Berkeley 1973, S. 32–75, hier: S. 68; Fowler, S. 183. Scaliger, Bd. 3, S. 208f. (III, 125). Jacques Peletier du Mans: L’Art poétique. Départi an deus livres. Genf 1971 (Nachdruck der Ausg. Lyon 1555), S. 61f.

217 que lés deuz vers derniers soient agus en conclusion [...]. Et est l’esperit de l’épigramme tel, que par luy le Pöéte rencontre le plus ou le moins de faveur : tesmoins Marot et Saingelais, singuliérement recommandés auz compaignies dés savans pour le sel de leurs 24 épigrammes.

Entsprechend scheint die Zurückhaltung auf italienischer Seite stärker zu sein, zumal hier eine engere Bindung an die älteren Erklärungsmodelle für das Sonett besteht. Minturno zählt 1564 in L’arte poetica systematisch die Unterschiede zwischen Sonett und Epigramm auf. Er weist das Epigramm im Gattungssystem der Epik zu – es sei »particella dell’epica« –, während das Sonett melisch sei und verwandt mit Kanzone und Lied. Das Epigramm erfordere weder Schönheit noch Eleganz – »ne vaghezza, ne leggiadria di composition« – sondern Scharfsinn – »agutezza di mottegio«. Die Topoi und Formeln des Sonetts glichen denen der Kanzone. Auch wenn es den gleichen Gegenstand wie die Epigramme behandele, sei doch der Stil ein anderer. Minturno empfiehlt die Beschränkung des Epigramms auf zwei oder vier Verse, längere Gedichte solle man als Elegien bezeichnen.25 Ausdrücklich stehen hier also bereits stilistische Konsequenzen der Zuordnungen zur Diskussion, wenn Minturno den mittleren melischen Stil für die Sonette verteidigt und ihre Verwandtschaft mit der Kanzone festhalten will. Wie sehr nationale Traditionen eine Rolle spielen, ist auch daran zu sehen, dass die Beschränkung auf vierzeilige Epigramme für die französische Form des dizain und die verwandten Formen, die Sébillet so ausführlich diskutiert, keinen Raum hat. Es wird ferner deutlich, dass die Zuordnung zum Epigramm in vielerlei Hinsicht Konsequenzen für die Sonettpoetik hat: von der Versform über die Reimordnung, der Stoffwahl über den Stil bis zur inneren Gliederung. Insofern bildet das Epigramm ein Paradigma der Sonettpoetik, das eine Abkehr vom Vorbild der Kanzone, vom Stilideal der elegantia und nicht zuletzt auch vom Musterautor Petrarca darstellt. Der Paradigmenwechsel betrifft insgesamt sowohl den sozialen Raum, in dem sich das Sonett bewegt, als auch das Themenspektrum, die stilistische Gestaltung und Einordnung. Diese Veränderungen können zwar nicht monokausal allein auf die Konzeption des Epigramm-Sonetts zurückgeführt werden, doch stehen sie allesamt in einer signifikanten Beziehung zu dieser. Eine wichtige Rolle auf verschiedenen Gebieten spielt dabei die Veränderung des medialen Fundaments, die mit der Epigramm-Assoziation einhergeht. Solange sich das Sonett im Horizont einer Poetik der Kanzone bewegte, blieb es trotz aller numerischen Fixierung auf einen zugrundeliegenden Modus der Oralität verwiesen. Das Epigramm dagegen ist auf prinzipielle Weise Schriftform. Es sollen im folgenden verschiedene Aspekte der Interpretation des Sonetts als Epigramm hervorgehoben werden. Bedeutsam sind der Schriftmodus, der Kasualcharakter und die Poetik der arguten Pointierung. ——————— 24

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Sébillet, S. 114. ›Salz‹ ist das Stilmerkmal des Martialschen Epigramms und Esprit am Epigrammschluss entspricht der argutia-Forderung. Diese frühe Formulierung des argutiaPrinzips ist oft übersehen worden. Minturno: L’arte poetica, S. 240–242; vgl. auch Fowler, S. 183.

218 Zuzuordnen sind dem eine ganze Reihe von formalen und inhaltlichen Veränderungen der Poetik des Sonetts.

2.2

Inschriftlichkeit als Gattungsmotiv des Sonetts

Im Fall des Epigramms war man sich des ursprünglichen inschriftlichen Verwendungszusammenhangs stets bewusst.26 Auf witzige Weise zeigt dies die Diskussion in den Poetices libri septem des Julius Caesar Scaliger von 1561, der detailliertesten und wirkungskräftigsten Auseinandersetzung der Zeit mit der Form des Epigramms. In dieser neulateinischen Poetik kommt die volkssprachliche Form der Sonette bezeichnenderweise nicht bzw. nur indirekt im Zusammenhang mit dem Epigramm vor. Der ›große Gesetzgeber‹ lässt sich in seiner Behandlung der Epigramme gleich zu Beginn eingehend über deren Schriftcharakter aus. Wie ist es zu erklären, daß, obwohl nicht nur alle Gedichte, sondern auch alle Bücher Aufschriften haben, das Wort epigramma im eigentlichen Sinne nur kurze Gedichtlein bezeichnet? Liegt es an der Kürze selbst, als ob das Gedicht gewissermaßen nichts außer seiner Aufschrift wäre? Oder waren es die Aufschriften, die man auf Statuen, Siegesmälern und Bildern als Würdigungen anbrachte, die man in der ersten und wahren Bedeutung des Wortes als Epigramme bezeichnete? Nun, es verhält sich wirklich so, daß das Gedicht 27 nichts als die Aufschrift auf der Statue ist.

Indem das Epigramm als inscriptio betrachtet wird, beinhaltet es einen Außenbezug auf ein Objekt, dem es jeweils eingeschrieben ist. Es steht damit nicht für sich selbst, sondern in einer Relation zum zeichentragenden Gegenstand. Dem Epigramm eignet aufgrund dieser Konstitution als Objekt-Aufschrift eine grundlegende Heteronomie. Diese betrifft seinen ursprünglichen Verwendungszusammenhang, nicht mehr aber in gleich unmittelbarer Weise sein neuzeitliches mediales Erscheinungsbild. Scaliger fährt fort: Wenn man es dagegen in ein Buch überträgt, ist das Gegenteil der Fall: Jetzt dient nämlich die Statue selbst als Aufschrift für das Epigramm, oder, genauer gesagt, nicht die Statue

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Auch wenn innerhalb der heutigen Gattungsdiskussion davon ausgegangen wird, dass »deren wichtigste Konstitutionsmerkmale (etwa Kürze) nicht monokausal aus dem inschriftlichen Verwendungszusammenhang erklärt werden können«, wurden sie historisch in Beziehung dazu gesetzt; Verweyen/Witting: Epigramm, Sp. 1273. »Cum omnium non solum poematum, sed etiam librorum exstent inscriptiones, quam ob causam epigrammatis vox brevibus tantum poematiis propria facta est? An propter ipsam brevitatem, quasi nihil esset praeter ipsam inscriptionem? | An quae statuis trophaeis, imaginibus pro elogiis inscribebantur, ea primo veroque significatu epigrammata sunt appellata? Ac sane ita est, ut ipsum poema sit statuae inscriptio.« Scaliger III, cap. 125, 169b/170a, S. 202. Die deutsche Übersetzung wurde auf der Grundlage des Textes von Luc Deitz leicht modifiziert; ebd., S. 203/205.

219 selbst, sondern eine Darstellung der Statue oder eines Bildes. »Welche Art von Aufschrift 28 soll das sein?« wird man fragen. Der Titel, den Martial ein lemma nennt.

Als literarische Gattung, deren Exemplare in Bücher gedruckt sind, wird der heteronome Charakter des Epigramms in einer Überschrift manifest, die den Bezug auf das Objekt, das ursprünglich als Trägermedium der Schrift figurierte, nunmehr sprachlich benennt. Ein Beispiel: Ausonius verfaßte jenes gefällige Gedichtchen für die Statue des Rufus. In diesem Fall ist das auf der Statue angebrachte Gedichtchen das Epigramm. Als er es aber in ein Buch abschrieb, überschrieb er es mit dem, was die Statue darstellt, das heißt mit dem Namen von Rufus: »Auf die Statue von Rufus«. Aber dies sind Betrachtungen für Leute 29 mit gewitzterem Verstand.

Diese Reflexion auf den Ursprung der Form leitet bei Scaliger die Diskussion der Eigenschaften des Epigramms ein. Als ein konstitutives Merkmal erscheint jener besondere Typ von Überschrift, der einen zugrundeliegenden Objektbezug des Epigrammtexts vertritt.30 Damit tritt der Schriftcharakter des Epigramms in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Die Formulierungen Scaligers heben den Bezug zum Buch, zur schriftlich vervielfältigten Veröffentlichung und damit zur Literarisierung des Epigramms hervor. Der im Medienwechsel vollzogenen Situationsenthebung – der Entfernung des Texts von seinem Trägerobjekt – korrespondiert dessen Substitution durch Lemma und imago. Unüberhörbar klingt in diesem Hinweis auf den imaginierten Charakter des Objekts die Praxis der Emblematik an, die im zeitlichen und systematischen Zusammenhang mit der Epigramm-Mode im 16. Jahrhundert entstanden ist.31 Im Fall des Emblems tritt zu Lemma und Epi——————— 28

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»Ubi vero in librum transfertur, e contrario fit; ipsa enim statua inscriptio est epigrammatis, haud sane statua ipsa, sed statuae sive imaginis imago. ›Qaenam ea est?‹ inquis. Titulus, quem lemma vocat Martialis.« Scaliger III, cap. 170a, S. 202/204. »Exempli gratia Rufi rhetoris statuae inscripsit lepidum illud poematium Ausonius. Hic ipsum poematium inscriptum epigramma est. Cum vero illud in libro descripsit, statuae imaginem, id est Rufi nomen inscripsit sic: In Rufi statuam. Verum haec ingeniis emunctioribus.« Scaliger III, cap. 170a, S. 204f. Die Epigramme auf den Rhetor Rufus, darunter mehrere auf seine Statue, finden sich im Epigrammbuch des Ausonius, Nr. 45–52; Decimus Magnus Ausonius: The Works of Ausonius. Hg. von R. P. H. Green. Oxford 1991, S. 78f., 398–400. Vgl. zur Abkunft der Emblematik vom Epigramm: Mario Praz: Studies in SeventeenthCentury Imagery. Rom 1964, S. 22ff.; Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 1964; Dietrich Walter Jöns: Das »Sinnen-Bild«. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. Stuttgart 1966; Hessel Miedema: The term ›emblema‹ in Alciati. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 31 (1968) 234– 250; Peter M. Daly: Literature in the Light of the Emblem. Structural Parallels between the Emblem and Literature in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Toronto 1979, S. 9; Höpel spricht vom »Emblem-Epigramm« bei Alciatus: S. 39–49, zu Scaliger: S. 193; Wolfgang Neuber: Locus, Lemma, Motto. Entwurf zu einer mnemonischen Emblematiktheorie. In: Ars Memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750. Hg. von Jörg Jochen Berns und W. Neuber. Tübingen 1993, S. 351–372, speziell S. 357 Anm. 21, der die Verbindung des epigrammatisch-emblematischen Lemmas

220 gramm nun buchstäblich eine pictura hinzu, die als das anschauliche Substitut des epigrammatischen Gegenstands aufgefasst werden kann. Unter medialem Gesichtspunkt ist die Emblematik ganz klar an den Buchdruck gebunden, da sie auf die drucktechnischen Möglichkeiten der Text-Bild-Kombination angewiesen ist. Ad illust. Maximil. ducem Mediol. Emblema I.

Concordia.

VI.

An den durleuchtigen, etc. Maximilian Hertzogen zu Mayland. I.

Einigkeyt.

VI.

Ein kind auß einer krummen schlang Entspringend, Hertzog ist dein schilt: Alexander fuert auch vorlang Zu sonder zeugnuß sollich bild, Wie selbs der got Iupiter mild Sein vater wer, vnd solcher art Irrunge bringt die natter wild, Auch Pallas also gporen ward.

Die Krawen halten sonderlich Vnder inn frid vnd eynigkeyt, Drumb malt man sy nit vnbillich Zu dem scepter der herlichkeyt: Dan yedes volcks einhelligkeyt Gibt vnd nimbt den herren iren gwalt, Wo die zerbricht, kumbt in gleych leyd, Drumb furst der deinen lieb erhalt.

Abb. 12: Zwei Embleme aus Andreas Alciatus’ Emblematum Libellus mit deutscher 32 Übersetzung von 1542.

Die Emblematik bediente sich von Beginn an ganz verschiedener Bildtraditionen und manifestierte damit ihre neuartigen medialen Möglichkeiten. Als eine der wichtigsten Quellen fungierten artifizielle Sinnbildtraditionen wie Heraldik, Hieroglyphik und Impresenkunst, zugleich traten jedoch unmittelbare Abbil———————

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zur mnemonischen Topik diskutiert. Für dichtungspraktische Interferenzen von Emblem und Epigramm, vor allem im Sinne einer späteren ›Emblematisierung‹ von Epigrammen vgl. Weisz, S. 67–70. Abbildungen und deutscher Text: Andreas Alciatus: Emblematum libellus vigilanter recognitus. Paris 1542, S. 5f. und 10f. [Bayer. Staatsbibl.: Res/L.eleg.m.33]. Vgl. auch den reprogr. Nachdruck der Ausgabe Paris 1542, Darmstadt 1980, S. 19f. und 29f.

221 dungen mythologischer und naturkundlicher Art hinzu, die diesen Traditionen fremd waren. In einer nicht unbedeutenden Zahl von Emblemen blieb dennoch die Darstellung eines Trägermediums der Epigrammschrift präsent. Zwei Embleme des Andreas Alciatus (Abb. 12) können dies illustrieren. Im ersten Beispiel gibt die pictura mit dem Wappenschild des Herzogs Maximilian nicht unmittelbar das Sinnbild selbst, sondern in Bezug auf die Trägerperson das Trägermedium des Sinnbilds und damit auch den potentiellen Schriftträger wieder. Noch deutlicher zeigt dies die pictura im zweiten Beispiel, das mit den Insignien des Zepters und der Krähen eine leere Tafel darstellt, die den Platz der Inschrift repräsentiert.33 Der Hinweis Scaligers auf den ursprünglichen epigraphischen Verwendungszusammenhang des Epigramms und auf dessen Präsentation in derartigen Gattungsexemplaren benennt den Versuch, den Mediensprung des BuchEpigramms durch Simulation des ursprünglichen Trägermediums zu kompensieren. Im Zusammenhang der Epigramm-Rezeption des 16. Jahrhunderts steht diese Herausstellung eines Trägermediums der Schrift allerdings weniger im unmittelbaren Kontext des Mediensprungs, sie ist vielmehr zum literarischen Motiv geronnen. Sowohl Epigramme wie Embleme sind im Medium des Buches zu vielfältigen anderen Bezugnahmen fähig. Das überlieferte bzw. simulierte steinerne Trägermedium der Epigrammschrift fasziniert jedoch als Motiv durch seine Fähigkeit, in besonderem Maße das Überdauern in der Zeit zu symbolisieren und der Schrift so eine verstärkte Dignität zu verleihen.34 Innerhalb der Gattungstradition des Sonetts findet sich das beschriebene epigrammatische und emblematische Strukturmodell der medialen Simulation des gegenständlichen Schriftträgers etwa im Epitaph-Sonett als Typus wieder, nicht aber nur da. Das folgende Beispiel eines in petrarkistischer Tradition35 ——————— 33

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Weitere Beispiele für die Darstellung von Bild/Text-Trägermedien finden sich im Emblemata-Handbuch unter den Rubriken »Stätten und Bauwerke« (vor allem Monumente, Obelisken und Säulen) und »Insignien und Kostbarkeiten« (vor allem Herrschaftszeichen): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Taschenausgabe. Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 1197– 1286. Entsprechend dazu dient auch die pictura des Emblems einer gesteigerten Beglaubigung der jeweiligen Wahrheit, was unter anderem im Bezug auf die hieroglyphisch-dialektischen Sinnbilder der Impresentradition, auf Naturwahrheiten oder auf mythologische Szenerien eine Rolle spielt. Im Fall der oben in Abb. 12 wiedergegebenen picturae wird kenntlich, inwiefern auch durch die bloß bildhafte Präsentation von dauerhaften Zeichenträgern dem Wort der Schein von ewiger Dauer verliehen werden kann. Aufschlussreich dazu sind auch die Hinweise von Thomas Althaus auf die materielle Qualität der zahlreichen Epigrammschriften in Lohensteins Arminiusroman als ›metaphorischer Ausdruck der Beständigkeit ihrer Geltung‹, und seine bündige Vermutung, »daß erst richtig gedacht ist, was im Epigramm gedacht ist.« Thomas Althaus: Epigrammatisches Barock. Berlin, New York 1996, S. 18 und S. 27. Vgl. zur Krankheit der Geliebten Canz. 31–34 und 184; Petrarca: Canzoniere, S. 174–188 und 804f. Ein Genesungsgedicht ganz anderer Form findet sich auch im ersten Buch der Silvae des Statius, I,4: Soteria Rutili Gallici; vgl. Publius Papinius Statius: Silvae. Hg. von E. Courtney. Oxford 1990. Zum Thema auch Wilhelm Kühlmann: Selbstverständigung im

222 stehenden Sonetts von Paul Fleming präsentiert ausdrücklich einen Akt der inscriptio und bringt dabei mehrere Trägermedien eines epigrammatisch objektivierten Texts zur Darstellung: PAUL FLEMING Nach dem Sie wieder gesund worden war. Nehmt diesen Danck von mir / jhr milden Götter / an / die ihr für unser Heyl aus treuer Vorsicht wachet. Amena/meine Lust / ist wieder frisch/und lachet, Amena / ohne die ich nicht gesund seyn kan. Was ihr ihr habt genutzt / das habt ihr mir getan. Ich auch war kranck in ihr. In ihr hab ich geachet. Und beyde habt ihr nun in ihr gesund gemachet. Drüm dancken beyde wir / und dencken ewig dran. Die Worte sprach ich ihr bey ihrem Schmertzen ein / die sie mit eigner Hand in dieses Tuch gestücket / und nach berühmter Kunst mit Farben hat geschmücket / das lasst für sie und mich euch stets ein Denckmal seyn: Ein Leib / in welchem sind zwo Seelen kranck gewesen / 36 ließ dieser hangen auff / nachdem er war genesen.

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Das Gedicht erscheint als poetische Danksagung und beschreibt eine epigrammatische Gabe qua inscriptio. Im Verlauf wird die Vergegenständlichung des Texts zum ›Denkmal‹ ausdrücklich vollzogen. Nicht nur gewinnt das Sonett selbst als schriftliche Dankesgabe epigrammhaften Objektcharakter, es enthält zugleich ein inschriftliches Epigramm mitsamt dessen Schriftträger als Pointe. Der Titel des Sonetts vertritt in diesem Fall nicht den Schriftträger, er ist vielmehr auf die Gelegenheit bezogen und lautet also nicht Auf ihr Leibtuch oder ähnlich. Die Funktion des ausdrücklich repräsentierten Schriftträgers ist recht deutlich: Der Dank wegen Gesundung der Geliebten ist in der ersten Gedichthälfte dem flüchtig erscheinenden Wort des Dichters anvertraut, was in Vers 8 die Beteuerung ›ewigen‹ Gedenkens erforderlich macht. Für diese Dauerhaftigkeit wird im zweiten Gedichtteil die Verschriftlichung und mediale Objektivierung samt ihrer arguten Pointierung aufgeboten. Das alte Motiv der erotischen Seelenwanderung bringt die Teilnahme des Liebenden zum Ausdruck, die im zweiten Teil das Schriftdenkmal als Gemeinschaftswerk hervorbringt. Die Doppelbedeutung von »Leib« (v. 13) für den Körper und für dessen Kleidungsstück macht das die Schrift tragende »Tuch« (v. 10) sowohl zum Medium der ———————

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Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytreus, Andreas Gryphius). In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Hg. von Udo Benzenhöfer und W. Kühlmann. Tübingen 1992, S. 1–29. Paul Fleming: Teütsche Poemata. 1642. Hildesheim 1969, S. 618 (die Hervorhebung des couplets im Original durch größere Schrifttype). Eine ähnliche Struktur findet man in den Sonetten An den Ort / da Er Sie erstlich ümbfangen (»Es müss‹ ein ewger Lentz mit steten Favoninnen«; S. 628) und An Filenen (»Itzt / itzt bereu‹ ich erst/was ich verbrochen habe«; S. 629).

223 Worte des Liebenden als auch zum materialen Attribut der Kranken: »Die Worte sprach ich ihr bey ihrem Schmertzen ein«. Diese Worte wandern durch ihren Körper und ihre Hände hindurch auf das Tuch, wo sie zum selbstgestickten »Denckmal« (v. 12) des Heilungsgeschehens erstarren. Mit diesem inschriftlich-epigrammatischen Zuschnitt wird ein erhöhtes Wahrheitsmoment der Rede suggeriert. Die Dauerhaftigkeit des poetischen Worts wird noch unterstrichen in der zusätzlichen Manifestation ihres Schriftcharakters. Man kann darin unter anderem ein Legitimationsproblem der poetischen Dignität sehen, da der Hinweis auf ihren poetischen Charakter die Dignität der Rede offenbar nicht hinreichend zu sichern vermag. Flemings Gedicht macht im Vergleich zum vornehmlich affektbezogenen petrarkistischen Modell den objektivierenden Zug deutlich, der dem Epigramm und dem epigrammatischen Sonett eignet. Der Träger dieser Objektivität ist das epigrammatische Objekt und seine Schrift, ihr sprachlicher Ausdruck ist die ingeniöse Pointe. Man wird darauf zu achten haben, die Inschriftlichkeit des frühneuzeitlichen Epigramms nicht wie von Scaliger vorgeschlagen als Ursprungsphänomen, sondern vielmehr als ein motivisches und multimedial einsetzbares Element zu betrachten, das bestimmte Konnotationen wie das der Dauerhaftigkeit in der Zeit bereitstellt. Die Rezeption des antiken Epigramms fand selbst bereits im Medium des Buchs statt, so dass die Reminiszenzen auf entsprechende Trägerobjekte zunächst nur als ein signifikantes Motiv der frühneuzeitlichen Epigrammatik zu betrachten sind und nicht mehr als ihr primäres Medium. Andererseits ermöglicht dieses Motiv der Inschriftlichkeit dem poetischen Text, materiale Präsenz in sozialen Situationen herzustellen: Epigramme können prinzipiell inskriptorisch auf Objekten angebracht werden, die sich als solche gegenständlich präsentieren lassen. Damit eignen sie sich in besonderer Weise zu repräsentativen Zwecken.

2.3

Kasualer Objektbezug und Heterogenität der Stoffe

Dem Objektbezug des Sonetts im Zeichen des Epigramms entspricht eine universelle Ausweitung seiner Gegenstände. Auch wenn darauf hinzuweisen ist, dass die Sonett-Tradition bereits im Anschluss an Guittone und an die burleskrealistische Tradition eine Vielzahl von Stoffen eroberte, so ist diese Ausweitung des Gegenstandsbereichs im 16. Jahrhundert mit der Epigrammatisierung in Verbindung zu bringen. Sie korrespondiert der Herauslösung des Sonetts aus dem Zykluskontext und der zunehmend objektbezogenen Themenwahl.37 Umgekehrt tritt damit die reduktionistisch-subjektbezogene Affektorientierung der parallel verlaufenden petrarkistischen Programmatik in den Hintergrund. Diese ——————— 37

Auf die deiktische Qualität des Epigramms ist immer wieder hingewiesen worden, beispielsweise von Wolfgang Preisendanz: Gattungshorizont des Epigramms und ›style marotique‹. In: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. Hg. von Wolf-Dieter Stempel und Karlheinz Stierle. München 1987, S. 279–300, hier: S. 285.

224 Verschiebungen sind nicht nur in der Sonettpraxis selbst zu beobachten, sie spiegeln sich auch signifikant in der gattungstheoretischen Diskussion wieder. So sieht Thomas Sébillet in stofflicher Hinsicht nur noch einen graduellen Unterschied zwischen Sonett und Epigramm, der vor allem im Hinblick auf Petrarca begründet erscheint. Ein gewisser Vorbehalt besteht für das Sonett lediglich noch gegen die scherzhaften Stoffe: Matiére de Sonnet. – Or pour en entendre l’enargie, sache que la matière de l’épigramme et la matière du Sonnet sont toutes unes, fors que la matière facécieuse est repugnante a la gravité du sonnet, que reçoit plus proprement affections et passions grèves, mesmes chés le 38 prince dés Poétes Italiens, duquel l’archétype dés Sonnetz a esté tiré.

Die Annäherung der stofflichen Möglichkeiten des Sonetts an die des Epigramms wirkt aus dem Grund universalisierend, weil das Epigramm keine Beschränkung im Gegenstandsbereich kennt. Das Epigramm sei ein Gedicht mit einer einfachen Vorführung einer Sache, Person oder Handlung, heißt es bei Scaliger: »cum simplici cuiuspiam rei vel personae vel facti indicatione« (204f.). Es ist also ein Gegenstandsbezug gegeben, der völlig offen ist; so viele Gegenstände es gibt, so viele Arten von Epigrammen: »Epigrammatum autem genera tot sunt quot rerum«. Diese Offenheit im Gegenstandsbereich ist eine Folge einerseits des Theoriemangels und andererseits der tatsächlichen stofflichen Breite der antiken Epigrammproduktion. Die Poetik des Epigramms steht dadurch quer zu gattungssystematischen Einteilungen sowohl stilistischer wie auch stofflicher Natur. Diese gattungssystematische Unsicherheit hat Jürgen Nowicki als ›Gattungsneutralität‹ bezeichnet.39 Sie tritt bereits deutlich bei Francesco Robortello zutage. Sein Epigrammtraktat, der an seinen Kommentar der aristotelischen Poetik anschließt, bestimmt das Epigramm als kleinen Teil der größeren poetischen Gattungen. Wie die Komödie und die Tragödie als Teil der größeren Epopöe bezeichnet werden könnten, sei das Epigramm ein Teil von diesen und damit als Imitatio, d.h. als Mimesis zu bestimmen.40 So kann Robortello die epigrammatische Stoffvielfalt zulassen, erklären und zugleich eine Anbindung der Epigrammpoetik an die aristotelische Systematik erreichen. Der Vorschlag ist systematisch trickreich und wurde in der Folge wiederholt aufgegriffen, denn er hält das gesamte stoffliche und stilistische Spektrum für das Epigramm zugänglich. Auch Minturno lehnt daran die Aufzählung der möglichen Epigrammstoffe an: »Manchmal wurde der Stoff aus der Geschichte, manchmal aus der Tragödie und der Komödie genommen, niemals aber aus der epischen Dichtung: das zeigen uns die Epigramme, [...].”41 Scaliger widerspricht zwar Robortellos ——————— 38 39 40 41

Sébillet, S. 116. Nowicki, S. 38–49; dort vor allem spanische Beispiele für diese Position. Robortello, S. 35: »Eorum omnium, quae ad methodum et artificium scribendi epigrammatis spectant, explicatio.« Hutton, S. 61; Weinberg, Bd. 1, S. 401. »Talvolta materia gli diede l’Historia; talvolta e la Tragedia, e la Comedia; nè una volta l’Epica Poesia: sicome ne’nsegnano gli Epigrammi, [...].« Minturno: L’arte poetica, S. 279; Hutton, S. 62f.

225 Auffassung, das Epigramm sei Teil einer größeren Dichtung,42 konstatiert aber ebenfalls seine modale, stoffliche und formale Neutralität: Das Epigramm kann jede Art von Dichtung enthalten: die dialogische oder dramatische, die erzählende und die aus diesen beiden zusammengesetzte. Die Zahl der epigrammatischen Gattungen entspricht der Zahl der Dinge; sie treten in ebenso vielen Versarten auf, wie es Versarten gibt; sie setzen sich aus ebenso vielen Wörtern und Gattungen, Arten, Formen, Figuren und Modi von Wörtern zusammen, wie es in jedem beliebigen Bereich einer Sprache, eines Stammes, eines Volkes oder einer Gemeinschaft Gattungen, Arten, 43 Formen, Figuren und Modi von Wörtern gibt.

Bei dieser Disposition der Epigrammpoetik seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ist klar, wie stark dies zur stofflichen Heterogenität auch der Sonettdichtung beitragen musste. Dabei handelt es sich bei den poetologischen Erörterungen allerdings im Grunde nur um den Nachvollzug dessen, was in der unmittelbaren imitatorischen Auseinandersetzung mit den antiken Epigrammtraditionen längst wirkungskräftig realisiert war. Um eine möglichst grundsätzliche Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Epigrammkonjunktur der Frühen Neuzeit zu geben, kann man zunächst auf sehr einfache Motive hinweisen. Der heteronome Objektbezug ist dem Epigramm gattungseigentümlich: Epigramme sind in aller Regel als Schriftobjekte auf Dinge, Ereignisse, Personen bezogen. Dies befähigt sie, sich unabhängig von weltanschaulichen Vorgaben an ganz verschiedene soziale Situationen anzupassen und damit eine skripturale Poetisierung von Sozialität zu bewirken, die sich objekthaft manifestieren lässt. Das Epigramm ist per se Kasualgedicht. Es durchdringt vom 15. bis zum 17. Jahrhundert deshalb als keineswegs nur literarische Mode die unterschiedlichen sozialen Räume von den Höfen über das Gelehrtenschrifttum bis in die städtische Bürgerwelt. Erst die Verbundenheit der Epigrammgattung mit dem gesellschaftlichen Ereignis macht dessen hervorstechende Rolle verständlich. Wenn sich der epigrammatische Text an die höfische Repräsentation und an die bedeutsamen Lebensereignisse der Gelehrten- und Bürgerwelt heftet, nimmt er eine prinzipiell weltliche Rolle ein. Damit ist er in einem allgemeinsten Sinn den säkularen Tendenzen, die der Frühen Neuzeit den Namen geben, adäquat. Das kasual verstandene Epigramm kann zum Gesellschaftsspiegel werden, es fügt sich der expandierenden höfischen und städtischen Kultur ein und vermag ihr den angemessenen Ausdruck zu geben. Indem es auf die übergeordnete Bedeutung des jeweiligen Ereignisses verweist, ver——————— 42

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»Quare non est verum epigramma esse maioris poematis partem,« / »Deshalb stimmt die Behauptung nicht, daß das Epigramm ein Teil eines längeren Gedichtes sei.« Scaliger, III, 125, S. 204/205. Übs.: Scaliger, III, 125, S. 204–207: »Recipit autem omne genus poeseos: GLDORJLțȩQ sive GUDPDWLțȩQ et GLȘJȘPDWLțȩQ et PLțWȩQ. Epigrammatum autem genera tot sunt quot rerum; tot versuum generibus explicantur quot sunt versuum genera; tot verbis verborumque generibus, speciebus, formis, figuris, modis componuntur, quot sunt in quocumque linguae nationis, populi, gentis ambitu genera, species, formae, figurae, modi verborum.«

226 leiht es den säkularen Ritualen sprachlichen Ausdruck. Eigentümlich ist der Gattung dabei der materiale und mediale Aspekt, der im letzten Abschnitt ermittelt wurde: indem das Epigramm explizit und ausgewiesenermaßen die Dauerhaftigkeit der Schrift manifestiert, kann es eine eigene, genuin poetische Dignität beanspruchen. Schon die oben gegebenen Beispiele entsprechender Schriftträger-Embleme unterstreichen dies. Als Objekt-Inschrift erhält das Epigramm einen konkreten Schrift-Ort im Raum der gesellschaftlichen Interaktion. Bezieht man diese performativen Zusammenhänge ein, so lassen sich auch anders gelagerte mediale Entwicklungen erläutern. Unter dem Gesichtspunkt der situativen Präsenz der Poesie im geselligen Raum sind vor allem auch die mündlichen Präsentationsformen relevant. So eignen sich epigrammatische Formen aufgrund ihrer Kürze und einfachen Handhabbarkeit auch hervorragend für die spontane Geselligkeit, für Improvisation und Unterhaltung der höfischen Gesellschaft.44 Auch die musikalische Vertonung literarischer Texte, die sich für epigrammatische Formen und auch für das Sonett beobachten lässt, verschafft dem Gedicht eine konkrete Aufführungssituation und Präsenz im Rahmen gesellschaftlicher Ereignisse. Sowohl die Objektivierung als Schrift wie die rezitative oder gesangliche Vorführung sorgen für mediale Präsenz im sozialen Raum, die anders als im Medium des Buchs situativ erfahrbar ist und damit repräsentatorischen Zwecken in besonderer Weise zu dienen vermag. Das Phänomen des Epigrammatismus muss als eine europaweite Erscheinung beschrieben werden, die die Frühe Neuzeit seit dem 15. Jahrhundert kennzeichnet, und es muss neben einer ideengeschichtlichen eine kultur- und sozialgeschichtliche Fundierung erfahren.45 Man kann in solcher Perspektive die Hinwendung der lyrischen Genera zum konkreten Situationsbezug, wie er in der Epigramm-Mode zum Ausdruck kommt, auch als einen Aspekt der umfassen——————— 44

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Derartige Funktionen der Epigramm-Mode der Frühen Neuzeit sind historisch immer wieder benannt worden; vgl. Friedrich Fuchs: Beitrag zur Geschichte des französischen Epigramms 1520–1800. In: Das Epigramm. Zur Geschichte einer inschriftlichen und literarischen Gattung. Hg. von Gerhard Pfohl. Darmstadt 1969, S. 235–283, hier: S. 238 und öfter. Althaus hat in seiner Arbeit zum ›epigrammatischen Barock‹ den Versuch unternommen, die Konjunktur der Epigrammform im Kontext der frühneuzeitlichen Entwicklung der Wissenssysteme als epochal signifikante zu beschreiben. Seine Bezugspunkte sind die katastrophalen Kriegsereignisse, auf die der ›Ordnungsgedanke des Barock‹ antwortet, eine »Dialektik von Ordnungsverlust und Ordnungsbestreben« (S. 18), und dem zugeordnet das »Zerbrechen der Erkenntnis«, das er bei Giordano Bruno und Francis Bacon, bei Descartes und Spinoza in unterschiedlicher Konturierung aufzeichnet. Sein systematischer Rückgriff auf die vielfach diskreditierte »allgemeine Rede vom Barock« (26) und auf die Epigrammtradition bleibt jedoch weitgehend auf die spezifisch deutschen Verhältnisse beschränkt; Althaus, vor allem Teil I: Zerbrochene Erkenntnis, S. 3–48; zum Barockbegriff: Wilfried Barner: Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel ›Barock‹. In: DVjS 45 (1971) 302–325; Herbert Jaumann: Die deutsche Barockliteratur, Wertung – Umwertung. Eine wertungsgeschichtliche Studie in systematischer Absicht. Bonn 1975; Klaus Garber: Europäisches Barock und deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts. Zur Epochen-Problematik in der internationalen Diskussion. In: Europäische Barock-Rezeption. Hg. von K. Garber. 2 Bde., Wiesbaden 1991, S. 3–44.

227 den Rhetorisierung der Poetik und der Wissenschaftslehre beschreiben, die sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts vollzieht. Dabei entwickelt sich gegenüber der singulären Wahrheitsbehauptung der alten metaphysischen Dogmatik an unterschiedlichen Stellen des kulturellen Systems der Blick für den politischgesellschaftlichen Nutzen, für die situative Angemessenheit, für bloß partielle, topisch konstruierbare Geltungsbereiche. Die weitgreifendste historische Konsequenz dessen ist schließlich die Durchsetzung des bloß noch partiellen, weil säkularen und rational begründeten Herrschaftsanspruchs der absolutistisch legitimierten Einzelstaaten. Die Schlagworte dieser neuzeitlichen Entwicklung lauten ›Politik‹ und ›Rhetorik‹, ihre Maximen sind der gesellschaftliche Nutzen und die situative Wirkung. Im Rahmen dieses holzschnittartigen Befunds kann man das deiktische Epigramm mit seinem vorausgesetzten Objektbezug und seiner bestimmten Wirkungsintention in grundsätzlicher und allgemeiner Weise in den Kontext epochaler Tendenzen einordnen.46 Leitlinie in sozialhistorischer Perspektive sollte es also sein, die Epigrammkonjunktur in Verbindung mit der Entwicklung der Kasualdichtung zu deuten.47 Die epigrammatische Mode der Frühen Neuzeit trägt entschieden dazu bei, Poesie in repräsentatorische gesellschaftliche Gebrauchszusammenhänge einzurücken. Man kann dies gerade am Beispiel des Sonetts gut verfolgen, da hier – weil es ein Sonett außerhalb der Epigrammatik gibt – Vergleichsmöglichkeiten bestehen, wie sie innerhalb der Epigrammgattung selbst nicht in gleicher Weise zur Verfügung stehen. Die Epigrammatisierung des Sonetts mit all ihren Begleiterscheinungen lässt es frei werden für den Gebrauch im Rahmen der gesellschaftlichen Gelegenheit. Der Kasualdichtung erwächst damit eine ihrer beliebtesten Formen. Eine einflussreiche frühe Instanz epigrammatisch pointierter und höfisch situierter volkssprachlicher Dichtung bildet das Werk der neapolitanischen Autoren Benedetto Gareth, genannt il Cariteo (1450–1514), Antonio Tebaldeo (1463–1537) und Serafino dall’Aquila (1466–1500).48 Wegen ihrer Verwen——————— 46

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Genannt sei hier nur die grundlegende Arbeit von Schmidt-Biggemann zur systematischen Rhetorisierung der Wissenschaftslehre im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts. Für die deutsche Barocktradition hat Barner auf die Bedeutung des höfisch-politischen Rhetorikideals zur Eröffnung ›eines zweckhaften rhetorischen Bereichs‹ für Bürgertum und Gelehrtenwelt hingewiesen; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 219. Die entsprechenden Ansätze in der Arbeit von Weisz sind ganz auf die deutsche Perspektive beschränkt. Sie sehen den Epigrammatismus vornehmlich als einen Bestandteil der Gelehrtenkultur. Der »antihöfische Trend« (S. 178), den sie beispielsweise konstatiert, hat dabei wenig mit der Gattung, umso mehr dagegen mit den spezifisch deutschen Verhältnissen zu tun, die sich gattungsübergreifend Geltung verschaffen; Weisz, S. 154–180. Vgl. insgesamt: Alessandro D’Ancona: Del secentismo nella poesia cortigiana del sec. XV. In: D’Ancona: Pagine sparse di letteratura e di storia, con appendice »Dal mio Carteggio«. Florenz 1914, S. 61–181; zur Tradition des Strambotto und zu Serafino: Barbara BauerFormiconi: Die Strambotti des Serafino dall’Aquila: Studien und Texte zur italienischen Spiel- und Scherzdichtung des ausgehenden 15. Jahrhunderts. München 1967; Mia Cocco:

228 dung von Motiven des petrarkischen Canzoniere hat man diese Dichter oft als früheste Verkörperung des Petrarkismus verstanden; man sprach vom ›primo petrarchismo‹.49 Der Einfluss dieser drei Autoren, der wichtigste ist Serafino, war in ganz Europa enorm. Für die Aufnahme des Sonetts in Frankreich durch Clément Marot und auch in England spielten die Strambotti und Sonette Serafinos eine herausragende Rolle.50 Beim Strambotto handelt es sich um eine sechsbzw. meistens achtzeilige Strophe, die zu musikalischer Begleitung gesungen wurde und die so in höfisch-gesellige Aufführungssituationen eingebunden war. Nicht nur formal sondern auch stilistisch ist die Nähe zur Epigrammdichtung deutlich. Die Strambotti zeichnen sich durch argute Pointierung und eine gesteigerte Bildlichkeit aus, die als ironische Überzeichnung erscheint.51 Serafino hat außer seinen rund 500 Strambotti auch 116 Sonette verfasst, die eine gleiche stilistische Behandlung aufweisen und unter den gleichen Bedingungen stehen. Auch sie dienten dem spielerischen gesellschaftlichen Umgang und waren höfische Gebrauchsdichtung. So betraf der weitaus größte Teil der Sonette Serafinos Widmungen auf Geschenke und auf bestimmte Anlässe (insgesamt 97).52 Die musikalische Vertonung von Sonetten im Rahmen der Madrigalmusik, die von Ronsard aufgegriffen wird und die die Welle des europäischen Petrarkismus durch das 16. Jahrhundert hindurch begleitet, nimmt hier ihren Ausgang.53 Auch sie steht im performativen Zusammenhang höfischer Aufführungssituationen. Mönch bezeichnet das gesungene Madrigal im Blick auf die

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La tradizione cortese ed il petrarchismo nella poesia di Clément Marot. Florenz 1978, darin Kap. IV: Petrarchisti maggiori del ‘400, S. 79–115. Beispielsweise bei Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik. Stuttgart 1973, S. 19; Leonard Forster: Petrarcas Dichtweise: Eine Einführung. In: Forster: Das eiskalte Feuer. Sechs Studien zum europäischen Petrarkismus. Kronberg/Ts. 1976, S. 9–47, S. 45; siehe dazu auch das folgende Kapitel. Zur Wirkung Serafinos vgl. Kap. 6: »Der literarische Ruhm des Serafino dall’Aquila«, in: Bauer-Formiconi, S. 119–137; zu Imitationen Serafinos bei Clément Marot: Pauline M. Smith: Clément Marot. Poet of the French Renaissance. London 1970, S. 143ff. Beliebt ist hier bereits die Naturalisierung von Metaphern, wie man sie mit der Barockdichtung identifiziert; Bauer-Formiconi, S. 92–96). Bauer-Formiconi, S. 98. Die Bedeutung der Musik für die Sonettdichtung der Schule von Tebaldeo und Serafino hat bereits Joseph Vianey hervorgehoben, J. Vianey: Les Origines du Sonnet régulier. In: Revue de la Renaissance 4 (1903) 74–93, hier: S. 78. Dass Ronsard und seine Nachfolger das Sonett wie Tebaldeo für Musik vorsahen, erklärt für ihn und für Frederick A. Spear die relative formale Fixierung durch die Beschränkung der Reimvarianten und den Wechsel des Reimgeschlechts; Vianey, S. 89; F.A. Spear: An Inquiry Concerning Ronsard and the Sonnet Form. In: Modern Language Notes 74 (1959) 709–711, hier: S. 709. Die Korrespondenz vier festliegender Reimschemata mit vier Modell-Liedern bei Ronsard, deren Ausführung keinerlei professionelle musikalische Fähigkeiten erforderte, trug nach Walsh zur Popularisierung des Sonetts in den höfischen Kreisen bei; Susan M. Walsh: Ronsard’s sonnetschemes again. A mise au point. In: Romance Notes 6 (1964/65) 168–174, hier: S. 169; etwas unbestimmt auch: François Jost: Le sonnet de Pétrarque à Baudelaire. Modes et modulations. Bern, Frankfurt a.M. 1989, S. 85.

229 deutsche Situation im 17. Jahrhundert geradezu als »Prunkstück barocker Repräsentation«.54 Als das Sonett bei Clément Marot und Mellin de Saint-Gelais nach Frankreich gelangt, rückt es hier unmittelbar in den Kontext der höfischen Gebrauchsdichtung ein und nimmt eine dementsprechende Gerichtetheit an. Es wird auch im Umfeld der Lyoner Autoren des frühen 16. Jahrhunderts nicht von der einheimischen Epigrammdichtung unterschieden. Wie diese wird es vor allem für den geselligen Gebrauch improvisiert und nicht unbedingt für den Druck vorgesehen.55 Marots Sonette sind seinen Épigrammes eingegliedert.56 Sie sind – abgesehen von den Petrarca-Übersetzungen – klar ereignisbezogen.57 Über die höfisch-gesellige Rolle der Epigrammdichtung im 16. Jahrhundert berichtet der Petrarca-Kommentator Lodovico Castelvetro, dass bei speziellen Einladungen der Modeneser Akademien jeweils ingeniöse Gesellschaftsspiele vorgeschlagen wurden, bei denen jeder Teilnehmer ein griechisches oder lateinisches Epigramm, ein Sonett oder ein Madrigal über eine der am Tisch anwesenden Personen verfassen musste.58 Mit der situativen Verwendung kommt darin wiederum die für selbstverständlich gehaltene Parallelität des Epigramms zu den volkssprachlichen Formen zum Ausdruck. Max Jasinski hat seinerseits in seiner Gattungsgeschichte Gebrauchsformen des von ihm so genannten Epigramm-Sonetts aufgelistet. Er nennt hier die galante höfische Adresse an die Dame, Geschenkbeigaben, Gedichte auf die Feier denkwürdiger Ereignisse und panegyrische Sonette.59 Neben der Identifikation von Sonett und Epigramm muss man allerdings zugleich ihre Konkurrenz im Blick behalten. Der Petrarkismus Pietro Bembos und seine Nachfolge in der französischen Pléïade wandte sich nicht zuletzt gegen den epigrammatisch-geselligen Stil der höfischen Tradition eines Serafi——————— 54 55 56

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Auf die wichtige Rolle der Sonette im Rahmen der Madrigalmusik des 16. Jahrhunderts hat Mönch aufmerksam gemacht; Mönch: Das Sonett, S. 82–90, bes. S. 84f., hier: S. 90. Leicester Bradner: Das neulateinische Epigramm des fünfzehnten Jahrhunderts in Italien. In: Das Epigramm, S. 197–211, hier S. 201. Max Jasinski: Histoire du Sonnet en France. Genf 1970 (Nachdruck der Ausg. Douai 1903), S. 38–40; Fuchs, S. 239ff.; C. A. Mayer: Le premier sonnet français: Marot, Mellin de Sainct-Gelais et Jean Bouchet. In: Revue d’histoire littéraire de la France 67 (1967), S. 481–493. Beispielsweise Nr. LXXI im 2. Buch der Epigramme: Pour le May planté par les Imprimeurs de lyon devant le Logis du Seigneur Trivulse; Clément Marot: Œuvres poétiques. Hg. von Gérard Defaux. 2 Bde., Paris 1996, Bd. 2, S. 280; Nr. LXXVIII: Response à deux jenes hommes, qui escripvoyent à sa louange (S. 283); Nr. XIX: Sonnet à Madame de Ferrare (S. 297). »E in ciascuna cena era proposto alcuno esercizio ingegnoso, come che ciascuno dovesse comporre Epigramma Greco, o Latino, o Sonetto, o Madrigale sopra alcuna, o alcune vivande recate in tavola, o che niuno potesse domandar da bere se non in quella lingua, che il Signor della cena prima domandava, nè domandare con quel modo di parlare col quale fosse stato domandato o da lui o da altri altra volta; [...].« Girolamo Tiraboschi: Biblioteca Modenese o notizie della vita e delle opere degli scrittori natii degli stati del serenissimo signor Duca di Modena. Bd. 1, Modena 1781, S. 5; vgl. auch Hutton, S. 43. Jasinski, S. 113–131.

230 no und Marot. Mit dem Sonett verbunden war hier das Programm einer stilistischen Anhebung im Sinne eines heroisch-pathetischen Stils, der die kunstbewusste imitatio vorbildlicher Autoren gegenüber der geselligen Kasualität in den Vordergrund stellte. Entsprechend fand das Epigramm hier kein besonderes Interesse, das Sonett trat mehr und mehr ins Zentrum. Der Effekt allerdings ist ein wechselseitiger. Das Sonett erliegt einer Epigrammatisierung im Geist der weltlichen Utilität der höfischen Kultur und wird zum geläufigen Gebrauchsgedicht. Im Gegensatz dazu wird mit ihm aber auch ein gegenüber der Epigrammatik erhöhter stilistischer Anspruch verbunden, der wiederum auf die höfische Kultur zurückwirken kann, die sich selbst im Verlauf des 16. Jahrhunderts in ausgeprägter Weise um Distinktion und Verfeinerung bemüht, wofür Baldessare Castigliones Il Cortigiano beispielhaft einstehen kann. Die Epigrammatisierung des Sonetts und der Petrarkismus bilden im 16. Jahrhundert offenbar ein spannungsreiches Wechselspiel aus durchaus heterogenen Motivationen, das insgesamt zur Sonettkonjunktur beigetragen hat.60 Beispiele für epigrammatisch-kasuale Sonette zu geben scheint angesichts der Breite dieser Entwicklung kaum möglich, ohne den Eindruck der Willkür zu erzeugen. Deshalb soll an dieser Stelle lediglich ein deutsches Beispiel angeführt werden, das die erwähnten Aspekte auf sehr plastische Weise in sich vereint. Eins der frühen deutschsprachigen Sonette ist das Sonnet. Die spiegelmacher an das Frawenzimmer, das sich in Georg Rodolf Weckherlins Triumf NEwlich bey der F. kindtauf zu Stutgart gehalten findet, der 1616 gedruckt wurde. Im Rahmen der Tauffeierlichkeiten, für die Weckherlin ein umfangreiches zeremonielles Programm entworfen hatte, das er wiederum in der feierlichen Festbeschreibung niederlegte, wird das Sonett an die Ehrengäste Friedrich V. von der Pfalz, den späteren Winterkönig, und seine Gattin Elisabeth Stuart gerichtet. Im Zusammenhang mit der Rezitation wird ein Tanz von Spiegelträgern mit reizvollen optischen Effekten aufgeführt. Der Gattung des Sonetts kommt dabei ein besonderer Rang zu, insofern die im wahrsten Sinne theatrale ›Aufführung‹ dieses Gedichts den ersten Festtag feierlich beschließt. So wird ein mit Kerzen bestecktes ›Spiegelhäuschen‹ aufgefahren, dem eine ›Nymfe‹ entsteigt, die einen Prosakommentar zu diesem Programmabschnitt verteilt, worauf ein Lied zum gleichen Thema gesungen wird. Im Anschluss daran treten die Spiegelmacher auf und das Sonett wird der adligen Gesellschaft in drei unterschiedlichen Sprachen als Niederschrift überreicht: Auß dem laden / stehend vor der Princessin still / kam ein weib / deren die vermumbte göter den spiegelkram anbefohlen / ihre haubtzier war weiß / mit spiegeln und gold besetzet / ihr klaid weisser atlas mit gold gestickt / ein spiegel hieng an ihrer gürtel. Dise gienge gleich gegen der Princessin / deren sie / wie auch dem Churfürsten / den Fürstin / Fräwlin / und dan den andern fürsten / grafen / herren und adelichem frawenzimmer /

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Vgl. zu diesem Zusammenhang von Epigramm, Sonett und höfischer Kultur Fuchs, S. 258. Auf die heroisierende Stiltendenz in Bembos Petrarkismus hat in einem klassischen Aufsatz Alfred Noyer-Weidner hingewiesen: Lyrische Grundform und episch-didaktischer Überbietungsanspruch in Bembos Einleitungsgedicht. In: RF 86 (1974) 314–358.

231 ordenlich / nach gethaner ehr volgendes sonnet / in Teutscher / Engelländischer / oder Frantzösischer sprach / nach ihrem willen / überraichte:

Sonnet. Die spiegelmacher an das Frawenzimmer. Nymfen / deren anblick mit wvnderbarem schein Kan vnser hertz zugleich hailen oder versehren; Vnd deren angesicht / ein spiegel aller ehren / Vns erfüllet mit forcht / mit hofnung / lust / vnd pein: Wir bringen vnsern kram von spiegeln klar vnd rein / Mit bit / jhr wollet euch zuspieglen nicht beschweren: Die spiegel / welche vns ewere schönheit lehren / Lehren euch auch zumahl barmhertziger zusein. So gelieb es euch nun / mit lieblichen anblicken Erleuchtend gnädiglich vnsern leuchtenden dantz / Vnd spieglend euch in vns / vns spiegler zuerquicken: Wan aber vngefehr ewerer augen glantz Vns gar entfreyhen solt / so wollet vns zugeben / Das wir in ewerm dienst fürhin stehts mögen leben.

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Da solches verrichtet / kerte sie umb in den laden / welcher sich widerumb hinweg 61 bewögete / und biß die schrift verlesen / gegen dem frawenzimmer über setzte.

Damit wird die mediale Differenz von gesungenem Lied (ohne Titel: »Warumb / jhr frawen vnd jungfrawen«) und geschriebenem Sonett, dessen Korrespondenzcharakter ein Titel manifestiert, auf mehreren Ebenen innerhalb einer geschlossenen Tanzaufführung in panegyrisch-repräsentatorischer Funktion inszeniert. Das Sonett ist als Schriftobjekt ein eigener Teil des höfischen Festakts, das eine den Augenblick überdauernde Memorabilität zu erzeugen vermag.62 Der Text selbst enthält zahlreiche petrarkistische Reminiszenzen, die in anlassbezogener Weise panegyrisch gewendet werden. Mit diesen wenigen Hinweisen ist die Rolle der Kasualität in der europäischen Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit nur anzudeuten. Angesichts der großen Bedeutung dieser Zusammenhänge und der immensen Menge an Texten steckt die wissenschaftliche Aufarbeitung – trotz des insgesamt gewachsenen Interesses und den zahlreichen Einzelstudien zur Gelegenheitsdichtung – in den Anfängen. Eine systematische Erörterung ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung steht aus. Dazu gehören die hier angestellten Überlegungen zum Zusam——————— 61

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Georg Rodolf Weckherlin: Triumf Newlich bey der F. kindtauf zu Stutgart gehalten. Stuttgart 1616, S. 9f.; auch in: Weckherlin: Gedichte. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1972, S. 14f.; vgl. zum Text des Sonetts unten, S. 314. Die höfische Inszenierung dieses Sonetts und den zugehörigen Festakt analysiert Nicola Kaminski ausführlich in ihrer ›politischen‹ Rekonstruktion der Weckherlinschen Dichtung. Wenn sie die Schriftlichkeit dieses Sonetts metaphorisch als »Tanzfläche der Poesie« versteht, ebnet sie die hier hervorgehobene mediale Differenz allerdings wieder ein: Nicola Kaminski: EX BELLO ARS oder Ursprung der »Deutschen Poeterey«. Heidelberg 2004, S. 113–202; das Sonett auf S. 118–120, S. 140–142 und S. 187f; das Zitat: S. 141.

232 menhang von gesellschaftlicher Kasualität und der Gattungsgeschichte spezifischer lyrischer Formen. Es bleibt zu beachten, inwiefern der Funktionszusammenhang der Kasualdichtung die spezifische Gattungsentwicklung von Epigramm und Sonett bis in die Determination der formalen Merkmale hinein beeinflusst.

2.4

Pointierung und rhetorische Kürzung als epigrammatischer Stil

Für den geselligen Gebrauch der epigrammatischen Gedichte spielt auch ihre witzige Pointenstruktur eine gewisse Rolle. Sie ist nicht durchweg zwingend, denn gerade in panegyrischen und gelegenheitsbezogenen Zusammenhängen ist sie nicht in jedem Fall angezeigt. Mit der Rezeption Martials und der Griechischen Anthologie wächst jedoch ihre Bedeutung. Die epigrammatische Pointierung eignet sich besonders zu satirischen Zwecken und kann damit das gesellige Interesse an sozialer Selbstvergewisserung einerseits und kurzweiliger Unterhaltung andererseits befriedigen. Das satirische Epigramm erscheint so als Komplement und als Kehrseite der laudativ-panegyrischen Funktionalität der Epigrammdichtung der Zeit.63 Die Pointierung gewinnt zunehmend Beachtung auch in den poetologischen Debatten, wo sie zu einem der wichtigsten Kennzeichen der Epigrammdichtung wird. Dafür ist vor allem die Poetik Scaligers von Bedeutung. So ist ein weiterer Blick in dessen Epigrammpoetik auch für die Sonettentwicklung aufschlussreich. Das Epigramm ist von jeher poetologisch unterbestimmt. Anders als das Sonett ist es formal nicht festgelegt, weder über die Anzahl der Verse noch über das Metrum, den Stil oder über Stoffbereiche. Wollen die Poetiker der überlieferten Epigrammtradition gerecht werden und gleichzeitig einen gewissen Systematisierungsgrad erreichen, müssen sie nach anderen Definitionsmerkmalen suchen. Dazu zählt zunächst einmal die medientheoretische Herleitung aus dem Inschriftencharakter, die man regelmäßig angeführt findet. Dazu zählt andererseits Robortellos Versuch, das Epigramm gattungsübergreifend als poetisches Element größerer Werke zu verstehen, das die unterschiedlichen Eigenschaften dieser größeren Werke annimmt. Wird dieser Vorschlag zwar der Vielfalt der Epigrammdichtung gerecht, so negiert er andererseits deren eigenständigen Gattungscharakter. In ausdrücklicher Abgrenzung von Robortellos Überlegung ist der Bestimmungsversuch Julius Caesar Scaligers vorgenommen. Er schlägt verschiedene Einteilungsmöglichkeiten für das Epigramm vor und formuliert Strukturgesetze. Nachdem er einleitend die oben (S. 218) zitierte Reflexion über den Inschriftencharakter des Epigramms anstellt, unterscheidet er nach strukturellen Kriterien einfache von zusammengesetzten Epigrammen. Das Epigramm sei ein kurzes ——————— 63

Zur Doppelfunktion von Panegyrik und Satire vgl. Fuchs, S. 244f., 257; Bradner, S. 209; zum Verhältnis von Epigramm und Satire in den deutschen Poetiken auch Weisz, S. 42

233 Gedicht mit einer einfachen Vorführung einer beliebigen Sache oder Person oder Handlung, oder eines, das aus Vorgaben etwas ableitet.64 Das einfache Epigramm zielt auf den deiktischen Charakter der inschriftlichen Formen der griechischen Tradition; Scaliger verweist diesbezüglich auf Inschriften auf Weihgeschenken. Mit der Analyse der zusammengesetzten Epigramme gibt er sodann ein Modell für den inneren Epigrammbau, an den sich alle nachfolgenden Schematisierungen nach logischen Kriterien anlehnen werden. Bei den zusammengesetzten handelt es sich demnach um eine logische Ableitung aus Voraussetzungen: »wobei dies entweder größer oder kleiner oder gleich oder verschieden oder entgegengesetzt ist.«65 Mit der Aufzählung von möglichen Deduktionsrichtungen wird der Systematisierungsakzent noch betont. Den beiden Varianten – dem einfach deiktischen und dem zusammengesetzt schlussfolgernden – entsprechen nun die beiden definitorischen Merkmale der Kürze und des Scharfsinns: »Die Kürze ist ein wesentliches Merkmal des Epigramms, während die geistreiche Zuspitzung seine Seele und gewissermaßen seine Form ist.«66 Die argutia erscheint also geradezu als formale Bestimmung des Epigramms und sie beruht auf einem Überraschungseffekt, der zustandekommt »entweder durch eine unerwartete oder durch eine der Erwartung zuwiderlaufende Schlussfolgerung.67 Deutlich wird der Zusammenhang des Konklusionsschemas mit der argutia. Somit dient die Unterscheidung einfacher und zusammengesetzter Epigramme nicht zuletzt der Ergänzung des rein inschriftlichen Charakters der Gattung durch komplexere Formen, für die vor allem das Vorbild Martials wegweisend ist. Als Modell installiert wird dieses durch die logische Aufbauanalyse, deren Ziel die formale Beschreibung des arguten Scharfsinns ist. Die Formel brevitas et argutia ist insofern weniger homogen, als sie zunächst erscheinen mag. Sie bemüht sich um eine formale Gattungsbeschreibung, die den heterogenen Mustern der Epigrammtradition annähernd gerecht wird.68 Vor allem wird damit aber eine poetologische Rechtfertigung und Auf——————— 64 65

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»Epigramma igitur est poema breve cum simplici cuiuspiam rei vel personae vel facti indicatione aut ex propositis aliquid deducens.« Scaliger III,125, S. 204,7–9. »Alia vero composita sunt, quae deducunt ex propositis aliud quiddam, idque aut maius aut minus aut aequale aut diversum aut contrarium.« Zitat und Übs.: Scaliger III,125, S. 204,21–23. Mehnert, S. 139f., verweist als mögliche Quelle auf die grundlegende aristotelische Aufgliederung der Rede in zwei Teile am Beginn seiner Rhetorik (1355 b,2) und auf die antike Topos-Lehre bei Cicero: Topica 3,11; in beiden Fällen handelt es sich allerdings nicht um eine systematisch exakte Übereinstimmung. »Brevitas proprium quiddam est, argutia anima ac quasi forma.« Scaliger III,125, S. 204,23f. »Argutia non uno modo comparetur, inexspectata aut contraria exspectationi conclusione.« Scaliger III,125, 206,23–26. Jürgen Nowicki argumentiert, dass der fehlende Gattungscharakter der antiken Epigrammatik die Ausbildung einer epigrammatischen Gattung im Sinne der modernen Literaturwissenschaft verhindert habe, und dass dies bereits in den frühneuzeitlichen Poetiken zum Ausdruck komme: »Es ist mithin Scaligers Verdienst, gegen Robortello die Selbständigkeit des Epigramms und seine Unabhängigkeit von den größeren Gattungen, aus denen es angeblich ein Ausschnitt sei, verteidigt zu haben. Zu einer wirklichen gattungstheoretischen Festlegung ist er jedoch noch nicht gelangt, ja konnte er nicht gelangen, da er seine Epi-

234 wertung des pointenorientierten Martialschen Epigrammtypus gegeben, der vor Scaliger wegen seines satirischen Charakters in aller Regel gegenüber dem lyrischen Stil Catulls abgewertet wurde.69 Scaliger konstatiert nochmals ausdrücklich die Merkmale der Gattungsneutralität im Sinne der modalen, stofflichen und metrischen Offenheit des Epigramms. Im weiteren werden zusätzliche Einteilungsmöglichkeiten der Epigramme vorgestellt, die stoffliche und stilistische Implikationen besitzen. So unterscheidet er Epigramme nach bestimmten Redeanlässen, das heißt nach rhetorischen Kategorien, denen wiederum bestimmte Stofftraditionen zugeordnet werden. Dem genus iudiciale entsprechen apologetische Epigramme, dem genus deliberativum im Sinne der Persuasion Bitt- und vor allem Epigramme der Liebeswerbung, dem genus demonstrativum die Ruhmes- und Grabinschriften.70 Damit wird der Tendenz der Epigrammdichtung zur Rhetorisierung der Poesie und zur anlassorientierten Gebrauchsdichtung auch theoretisch Rechnung getragen. In einem letzten Einteilungsvorschlag wird auf den Charakter des Epigrammwitzes rekurriert, der Catull und Martial als den beiden herausstechenden Musterautoren zugeordnet wird, und der zu einer eher stilistischen Einteilung anhand von Geschmacksmetaphern führt, die auf Martial selbst zurückgehen, der sich in einem Epigramm gegen eine bloß ›süße‹ Epigrammdichtung ohne Salz und Schärfe ausspricht.71 Die Süße Catulls (mel) wird von Scaliger mit ähnlichem Akzent als wenig wirkungsorientiert und als leichtsinnig und sorglos bezeichnet, während Martials Epigramme kraftvoll und beißend seien. Diese werden unterschieden in obszöne, solche voller Galle (fel), Essig (acetum) oder voller Salz (sal), das vorwiegend Lachen hervorrufe, ohne zu bissig zu sein. Ferner nennt Scaliger zugespitzte Epigramme (acutus), solche der Selbstansprache (sibi instantem appellare) sowie panegyrisch-laudative (nobilis ac generosa).72 Die argutia-Lehre wächst sich bis ins 17. Jahrhundert bekanntlich zu einer ästhetischen Leitkategorie aus, die das zeitgenössische Äquivalent zu späteren literarhistorischen Stilkategorien wie Barock oder Manierismus darstellt.73 Im ———————

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grammbestimmung mit der gesamten griechisch-römischen Epigrammatik in Einklang brachte, die, wie wir sahen, eines eigentlichen Gattungscharakters entbehrte und daher weder mit den Mitteln der aristotelischen noch denen der modernen Gattungspoetik definierbar ist.« Nowicki, S. 39–41, hier: S. 84. Mehnert, S. 141; weitere Belegstellen S. 49 Anm. 4. Scaliger, III, 125, S. 206,26 – 207,12. Marcus Valerius Martialis: Epigrams. With an English Translation by W.C.A. Ker. Cambridge, Mass. 1961, VII, 25, S. 438f.; Mehnert, S. 24f. Scaliger, III, 125, S. 212,2 – 214,8. Ulrich Schulz-Buschhaus: Barocke ›Rime sacre‹ und konzeptistische Gattungsnivellierung. In: Die religiöse Literatur des 17. Jahrhunderts in der Romania. Hg. von Karl-Hermann Körner und Hans Mattauch. München 1981, S. 179–190; U. Schulz-Buschhaus: Gattungsmischung – Gattungskombination – Gattungsnivellierung. Überlegungen zum Gebrauch des literaturhistorischen Epochenbegriffs »Barock«. In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Hg. von Hans-Ulrich Gumbrecht

235 Vergleich zu den bekannten europäischen argutia-Traktaten von Matteo Pellegrini (Delle Acutezze, 1639), Baltasar Graciàn (Agudeza y arte de ingenio, 1648), Jacob Masen (Ars nova argutiarum, 1649) und Emanuele Tesauro (Il Cannocchiale Aristotelico, 1654) tauchen diese Kategorien in der Epigrammpoetik bereits sehr früh auf. Insofern kommt letzterer im Zusammenhang der Rhetorisierung und des damit verbundenen Stilwandels zu den arguten und satirischen Musterautoren der Silbernen Latinität geradezu eine Katalysatorfunktion zu.74 Die Modifikationen der Epigrammpoetik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wirken sich aufgrund der weiter wirkenden Äquivalenzformel unmittelbar auf die Sonettpoetik aus. Zwei Argumentationslinien lassen sich dem zuordnen. Die Kategorie der brevitas wirft die Frage nach einer formalen, das heißt einer quantitativen Spezifizierung auf. Diese wird je nach dem intendierten Objektbereich deutlich unterschiedlich beantwortet.75 Thomas Sébillet zielt auf eine Beschreibung der französischen Tradition, wie sie beispielhaft vor allem im Werk von Clément Marot vorliegt, und gliedert seine Behandlung des Epigramms deshalb nach Umfang vom dizain bis zum douzain, um daran die Besprechung des Sonetts anzuschließen.76 Für die Sonettpoetik gewinnt erst dadurch die quantitative Fixierung auf vierzehn Verse ihre herausgehobene definitorische Bedeutung, denn als ein Ergebnis seiner Interpretation als Epigramm wird nun die Zahl der Verse charakteristisch für die Form des Sonetts. Für die ältere italienische Sonettpoetik bildete die Vierzehnzeiligkeit, wie zu sehen war, in keiner Weise eine bindende Bestimmung der Form. Nicht nur gab es zahlreiche Gegenbeispiele; die Logik der Form war zunächst nicht eine der Verszahl, sondern eine der Stollen- und Reimkombinatorik. Wo Trissino und Minturno für die Vierzehnzahl der Verse plädierten, geschah dies im Dienst der Schaffung eines singulären imitatorischen Musters, das heißt zur Ausschließung der zahlreichen überlieferten Hybridformen, weniger dagegen in Absicht der Gattungsdefinition. Die Vorbehalte, die Minturno gegen die Epigrammatisierung des Sonetts vorbringt, sind durchaus einleuchtend. Insofern er die enge poetologische Verwandtschaft des Sonetts zur Kanzone im Blick hat, zeigt er genau an dieser Stelle die Differenzen zur Epigrammtradition sowohl in formaler wie in stofflicher und stilistischer Hinsicht auf. Zwar dekretiert er mit Rück——————— 74

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und Ursula Link-Heer. Frankfurt a.M. 1985, S. 213–233; Beiträge zur Diskussion um den Barockbegriff siehe oben, S. 226, Anm. 45. Vgl. für die sozialgeschichtlichen Hintergründe des Stilwandels hin zu brevitas und argutia vor allem in der Nachfolge des Justus Lipsius und des Lipsianismus und für die grundlegenden Zusammenhänge mit der frühneuzeitlichen Politik und Staatslehre die reichhaltigen Belege und die Darstellung bei Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 220–243. Vgl. zum Aspekt der brevitas Horst Rüdiger: Pura et illustris brevitas. Über Kürze als Stilideal. In: Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker. Hg. von Gerhard Funke. Bonn 1958, S. 345–372; ferner Kühlmann: Gelehrtenrepublik, S. 232f. Sébillet, S. 104ff.

236 sicht auf die variable antike Praxis und die entsprechende poetologische Tradition77 keine strenge Umfangsbeschränkung des Epigramms, empfiehlt aber eine Begrenzung des Begriffs auf Gedichte von zwei oder vier Versen.78 Dies entspricht seinen Differenzierungsbemühungen zwischen den lyrischen Formen und schließt eine Verwechslung von Sonett und Epigramm aus. Minturno zieht außerdem auch die quantitative Unbestimmtheit des Epigramms zur Unterscheidung vom Sonett heran. Die Merkmale brevitas und argutia bringen demnach eine Diskussion des quantitativen Gedichtumfangs, einer logisch begründeten Binnenstruktur und eines pointenorientierten Stils im Sinne Martials mit sich. Alle Aspekte wirken sich entsprechend auf die Sonettpoetik aus. Dazu zählt die Festlegung auf Vierzehnzeiligkeit, die sich von der älteren Sonettdefinition abhebt, und die Hervorhebung des pointierten Schlusses auch für das Sonett. Das Modell der logischen Binnenstruktur dringt in die deutsche Sonettpoetik erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts ein, und zwar wiederum in unmittelbarer Ableitung von der Epigrammpoetik.79 Dass sich die epigrammatische Zweigliedrigkeit beim Sonett argumentativ mit der Gliederung in Oktett und Sextett verbindet, ist erwartbar und zugleich überraschend, denn beide Argumente entstammen gegensätzlichen Paradigmen. Die Epigrammatisierung des Sonetts hat nämlich gerade dazu geführt, dass die sorgfältig ausgearbeiteten Reimschemata der älteren Sonett-Tradition tendenziell ignoriert und durch epigrammatisch inspirierte Schemata ersetzt wurden, die weniger variabel waren und die die Einschnitte zwischen Sonettquartetten und -terzetten eher überspielten als betonten. Andererseits führt die Forderung der brevitas und das finale Modell des Epigramms jedoch auch zu einer stärkeren Gliedhaftigkeit der Sonette. Ulrich Schulz-Buschhaus hat verschiedene Verfahren der rhetorischen Verkürzung des Sonetts mit der Tendenz zur Epigrammatisierung in Verbindung gebracht. Als Verkürzung beschreibt er die Beschleunigung des Lektürevorgangs durch vereinfachende stilistische Mittel wie die klare argumentativ-syntaktische Struktur, die gleiche Gerichtetheit aller Verse durch Einsatz von Symmetrien und Parallelismen, die im Dienst der Pointierung stehen.80 Die daraus folgenden stilisti——————— 77

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Scaliger etwa legt sich mit Hinweis auf die Praxis Martials hinsichtlich der ›Kürze‹ nicht fest: »Brevitatem vero intellegemus non definitam.« Scaliger, III, 125, S. 204, 25. Sowohl die Variante der Festlegung maximaler Verszahlen wie der Hinweis auf die Offenheit der brevitas-Konzeption findet sich später auch in den deutschen Poetiken; vgl. die Hinweise auf Daniel Georg Morhof, Magnus Daniel Omeis, Johann Gottlieb Meister und andere bei Weisz, S. 27f. »Nell’ Epigramma non si prescrive certo numero di versi, quantunque s’egli n’ha piû di duo ò di quattro, Elegia piû tosto si debba chiamare.« Minturno: L’arte poetica (1564), S. 240; vgl. auch Fowler, S. 183. Der Gedanke gewinnt hier erneut Bedeutung für die Neufassung der Sonettpoetik im 18. Jahrhundert. Vgl. dazu unten, 4: Sonett als Lied in Aufklärung und Romantik, S. 363ff.. Ulrich Schulz-Buschhaus: Giovanni della Casa und die Erschwerung des petrarkistischen Sonetts. In: Poetica 23 (1991) 68–94, S. 75ff.

237 schen Konsequenzen werden im folgenden Kapitel noch näher betrachtet werden. Über das Motiv der Pointierung hängt die Epigrammpoetik aufs engste mit den argutia-Debatten zusammen, die wiederum für die stilistische und ästhetische Entwicklung der Dichtung der Frühen Neuzeit von zentraler Bedeutung sind. Insofern kann man dem Epigramm und mit ihm dem epigrammatischen Sonett durchaus einen epochalen Stellenwert zuweisen. Die Zusammenhänge allerdings, vor allem der Konnex der übergreifenden Rhetorisierung der Wissenschaftslehre zur mehr oder weniger parallelen Entwicklung klassizistischimitatorischer und argut-wirkungsorientierter ästhetischer Maximen, die man früher im Sinne des Doppels von Klassizismus und Manierismus bzw. Barock diskutierte, sind auch heute nicht in ausreichender Weise erfasst.81 Für das Sonett kehren diese übergreifenden Zusammenhänge im Gegensatz epigrammatischer Pointierung einerseits und petrarkistischer Orthodoxie andererseits wieder. Beide Prinzipien gilt es in einer Gattungstopik abzubilden.

2.5

Sonett-Anordnungen

Der epigrammatischen Interpretation des Sonetts entsprechen eine ganze Reihe von Veränderungen auf unterschiedlichen literarischen Ebenen, sowohl thematisch-motivisch wie stilistisch und form- wie sozialgeschichtlich. Der EpigrammBezug stellt gegenüber der imitatorischen Vorbildfunktion Petrarcas mit der grundsätzlichen Hinwendung zu antiken Mustern für die Sonettdichtung eine Alternative mit mannigfachen Konsequenzen dar. In formaler Hinsicht betrifft dies so grundlegende Merkmale wie die Anordnung und Titelgebung, die Reimschemata und die druckgraphische Präsentation. Zwischen der Zyklusbindung und der Titelgebung für einzelne Sonette besteht ein sachlicher Zusammenhang. Man kann dies zunächst einmal texttheoretisch in dem Sinn beschreiben, dass bei Zyklen und bei Einzelsonetten unterschiedliche Texteinheiten identifiziert und betitelt werden. Der semantisch – narrativ und allegorisch – verklammerte, meist petrarkisierende Zyklus kommt mit der titellosen Abfolge der Gedichte in fester Ordnung aus, die zur Identifizierung mit Nummern versehen werden können. Als Texteinheit erscheint der Zyklus als ganzer. Erscheint das Gedichtbuch dagegen als Sammlung von Einzeltexten ohne übergreifenden semantischen Zusammenhang, so liegt eine Betitelung der Einzelgedichte näher, über die Kontextinformationen oder auch nur Identifikationsmarken übermittelt werden können. Damit ist eine textorganisatorische Tendenz bezeichnet, die im Einzelfall durch unterschiedliche Faktoren, vor allem durch Gattungstraditionen, modifiziert werden kann.82 ——————— 81 82

Nach wie vor gelten in diesem Zusammenhang die Hinweise, die Barner zum Umgang mit dem Barockbegriff gegeben hat; vgl. oben, S. 234, Anm. 73. Allzu pauschal scheint die Annahme von Marotti, wie die Titelgebung sei auch die Zyklusbildung vor allem auf den Medienwandel zurückzuführen, der durch den Buchdruck her-

238 Für die Anordnung von Gedichtbüchern richtete sich die humanistischneulateinische Tradition in der Regel nach den entsprechenden Gattungsvorbildern. So bildete die Horazische Anordnung in vier Oden- plus ein Epodenbuch das bevorzugt nachzuahmende Muster für die Odendichtung.83 Beliebt waren gattungshomogene Bücher mit zum Teil auch thematischer Zusammengehörigkeit, Bücher mit Epigrammen, Elegien oder Hymnen.84 Für die gemischte Gelegenheitslyrik gewannen die Silvae des Statius Modellcharakter.85 Die entsprechende Geltung für die volkssprachliche Sonettdichtung hatte – nach der Vorgabe des Pietro Bembo – zunächst noch der allegorisch-narrativ komponierte Canzoniere Petrarcas, was die Dominanz der titellosen zyklischen Sonettdichtung bis hin zu Shakespeare unterstreicht. Dieser enthielt hauptsächlich Sonette, stellte aber traditionell eine Kombination mit Kanzonen, Sestinen, Madrigalen und ballate dar. Man kann somit jenseits einer systematischen Typologie, die eine breitere Untersuchung über die Nationalliteraturen hinweg erfordern würde, zwei Pole einer möglichen Anordnung von Sonetten benennen: zum einen den traditionellen Canzoniere mit mehr oder weniger allegorischnarrativer Ordnung, zum anderen die Organisation analog zu antiken Modellen entweder in einem möglicherweise zusätzlich thematisch fokussierten gattungshomogenen reinen Sonettbuch oder im Rahmen von gemischten Sammlungen eher anlassbezogener Lyrik, wie sie in Daniel Heinsius’ Nederduytschen Poemata oder in der Zincgrefschen Ausgabe der Opitzschen Teutschen Poemata vorliegen.86 Als nichtantike Form gehörte das Sonett zunächst nicht von sich aus in den Kontext der antiken lyrischen Gattungen. Die Zuordnung zum Epigramm führte jedoch unter anderem dazu, dass Sonette als Teil von Epigrammbüchern oder parallel zu diesen als ›Sonette und Epigramme‹ präsentiert werden ——————— 83

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vorgerufen wird; Arthur F. Marotti: Manuscript, Print, and the English Renaissance Lyric. Ithaca, London 1995, S. 285f. Vgl. für die frühneuzeitliche Horaz-Rezeption Eckart Schäfer: Deutscher Horaz: Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands. Wiesbaden 1976; für die Anordnungsfrage auch Wolfgang Adam: Poetische und kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ›bei Gelegenheit‹. Heidelberg 1988, S. 122–126. Zahlreiche Beispiele dafür bietet die zweisprachige Anthologie: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lat./dt. in Zusammenarbeit mit Christof Bodamer [...] hg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt a.M. 1997. Dies hat vor allem Adam, S. 93–118, beschrieben. Als wichtigster neulateinischer Imitator erscheint demnach Angelo Poliziano mit seinen Sylvae. Daniel Heinsius: Nederduytsche Poemata. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1616. Hg. und eingeleitet von Barbara Becker-Cantarino. Bern, Frankfurt a.M. 1983; Martin Opitz: Teutsche Poëmata und ARISTARCHUS Wieder die verachtung Teutscher Sprach, Item Verteutschung Danielis Heinsii Lobgesangs Iesu Christi, und Hymni in Bachum Sampt einem anhang [...]. Straßburg 1624; Martin Opitz: Teutsche Poemata. Abdruck der Ausgabe von 1624 mit den Varianten der Einzeldrucke und der späteren Ausgaben. Hg. von Georg Witkowski. Halle a. S. 1902; auch in: Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1968ff., Bd. II/1, S. 161–292.

239 konnten.87 Als anlassbezogene konnten sie ferner in Sammlungen von Kasualcarmina nach dem Vorbild der antiken Silvae aufgenommen werden. Man kann wichtige Möglichkeiten der Behandlung der Sonette für die deutsche Literatur beispielhaft anhand der Poemata-Ausgaben des Martin Opitz aufzeigen. Die von Martin Opitz selbst in mehreren Auflagen herausgegebene Sammelausgabe seiner Gedichte hat mit ihrer durchdachten Komposition für die deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts Modellcharakter gewonnen. Die Ausgaben enthalten jeweils ein eigenes Buch mit Sonetten – es ist das erste der deutschen Literaturgeschichte –, doch finden sich Sonette auch verstreut in den Büchern mit Gelegenheitsgedichten nach dem Modell des Statius, die den Titel Poetische Wälder tragen. Sonette sind also an verschiedenen Stellen in die nach antiken Mustern organisierte Lyriksammlung eingegliedert, so dass zugleich verschiedene Ordnungsmerkmale zum Zuge kommen. Die Silvae des Statius waren in fünf Bücher unterteilt, die jeweils zwischen fünf und neun Einzelgedichten in unterschiedlichen Gattungen enthielten und die nach Gesichtspunkten der Proportion verteilt waren.88 Neben diesem Prinzip der variatio folgt die Anordnung der angedichteten Personen, Objekte und Anlässe insgesamt einem ständisch-hierarchischen Prinzip.89 Nicht zuletzt diese panegyrische Ausrichtung machte Statius zu einem interessanten Autor für die Dichter der Frühen Neuzeit. Auch Opitz folgt ihm gerade hinsichtlich dieser hierarchischen Ordnungsprinzipien, wobei der ständischen Hierarchie vorgeordnet noch die Unterscheidung in geistliche und in weltliche Gedichte ist.90 Opitz kombiniert in den von ihm betreuten Gedichtausgaben das Ordnungsprinzip der Silvae mit dem nach Gattungen. Am 28. Dezember 1624 schreibt er an Georg Michael Lingelsheim in Straßburg, dass er seine Sammlung in drei Bücher Silven, zwei Bücher Oden und drei Bücher Epigramme aufgeteilt habe.91 Die 1625 erschienene Ausgabe der Acht Bücher Deutscher Poematum stimmt mit diesem Plan wie alle späteren Ausgaben in der Achtzahl der Bücher überein, doch enthält sie fünf Bücher Silven und je ein Buch Oden, Sonette und Epigramme. Es ist anzunehmen, dass die Sonette in der lateinischen Ankündigung als Epigramme firmierten. In den tatsächlichen Ausgaben der Poemata ——————— 87 88 89 90

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Weisz, S. 71f. mit entsprechenden Beispielen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Statius, S. xxxvif. (index carminvm); vgl. zu den Ordnungsprinzipien Adam, S. 75–78. Adam, S. 39–46. Vgl. zur Bedeutung dieser Ordnungskonzepte: Conrad Wiedemann: Barockdichtung in Deutschland. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus von See. Band 10: Renaissance und Barock. Teil 2. Frankfurt a.M. 1972, S. 177–201; Rudolf Drux: Nachgeahmte Natur und vorgestellte Staatsform. Zur Struktur und Funktion der Naturphänomene in der weltlichen Lyrik des Martin Opitz. In: Naturlyrik und Gesellschaft. Hg. von Norbert Mecklenburg. Stuttgart 1977, S. 33–44; vgl. für die Anordnung der Opitzschen Gedichtausgaben: Janis Little Gellinek: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz. Bern, München 1973, S. 11–25; Adam, S. 132–143. Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/2, S. 528; der Brief: Alexander Reifferscheid: Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des 17. Jahrhunderts. Nach Handschriften hg. und erläutert. Bd 1: Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde. Heilbronn 1889, S. 156.

240 dagegen bilden sie ein eigenes Sonettbuch, das zwischen dem Oden- und dem Epigrammbuch eingeordnet ist.92 Die Opitz-Ausgabe von 1625 gliedert nach hierarchischen Ordnungsprinzipien, jedoch nicht nur wie Statius durch eine gleichmäßige Gestaltung jeweils gemischter, im Inneren hierarchisch geordneter Wälder-Bücher, sondern durch eine äußere hierarchische Anordnung der Bücher nach Gegenständen und nach Gattungen. Dabei stehen vorne die geistlichen Gedichte, es folgt als Buch 2 die episch aufgefasste Lehrdichtung, dann Gelegenheitsdichtung unter dem Titel allerhandt Sachen und schließlich die Amatoria. Nach Umfang gattungshierarchisch zu verstehen ist im weiteren auch die Abfolge Oden – Sonette – Epigramme. Die Silvae ermöglichen offenbar eine hierarchische Ordnung nach Gegenständen, die durch eine bloße Einteilung nach Gattungen so nicht möglich wäre. Die Ordnung nach Gegenständen vermag gesellschaftliche Ordnungsstrukturen recht unmittelbar zu spiegeln, so in der Voranstellung geistlicher Gedichte die Dominanz christlicher Wertvorstellungen, in der Abfolge der anlassgebundenen Dichtung die ständische Ordnung und gesellschaftliche Relevanz bedeutsamer Ereignisse. Zurückgenommen erscheinen demgegenüber die formbestimmten Bücher, in denen mit der imitatorischen Orientierung die eher poetischen Erfordernisse zum Zuge kommen, nicht selten an geringeren Gegenständen wie in den zahlreichen hier versteckten Amatoria. Die damit in kauf genommene doppelte Strukturierung nach unmittelbarer gesellschaftlicher Wertigkeit einerseits und gattungspoetischen Kriterien andererseits schafft mehrere Möglichkeiten der Einordnung einzelner Gedichte, da nun Oden oder Sonette sowohl in die Silvae als auch in die entsprechenden Gattungsbücher eingeordnet werden können.93 Im Inneren der formbestimmten Bücher setzt sich umgekehrt ebenfalls eine bedingte hierarchische Struktur durch. So stehen bei Opitz im Sonettbuch die politisch signifikanten epigrammartigen patriotischen Monumentsonette am Anfang und die imitatorischen Über——————— 92

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Eine Analyse der formalen Anlage der Opitzschen Poemata wird erschwert durch Satzfehler in den Kolumnentiteln, die auch in der Forschung zu Missverständnissen Anlass gegeben haben; vgl. Vf.: Silvae und Poemata. Martin Opitz‹ doppelte Einteilung seiner Gedichte und ihr Missverständnis bei Druckern und Forschern. In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 31 (2004), H. 1, 41–48. Opitzens erste drei Wälder-Bücher von 1644 enthalten vor allem elegische AlexandrinerDistichen und Oden, vereinzelt aber auch Sonette: das erste Buch enthält davon zwei, das zweite vier, das dritte zwei. Opitz: Weltliche Poemata. 1644. Zweiter Teil: Erstes Buch der Poetischen Wälder: An die Hirschbergischen Bäder, S. 54; In Herrn Christoph Jacobens Stammbuch, S. 56f.; zweites Buch: Auff Herrn Johann Lauterbachs / Erbsassen auch Beychaw / Glogauischen Syndici, Vnd Jungfrawen Dorotheen Wincklerinn Hochzeit, S. 83; Auff H. Christoph. Alberti, der Artzney Doctorn vnd Comitis S. Palatij, Hochzeit, S. 87; Auff Herrn Jonas Klimpken / vnd Jungfrawen Annen Rosinn Hochzeit, S. 103; Auff Herrn Michael Starckens Hochzeit, S. 103; drittes Buch: Auff den tödlichen Abgang der werthen Princessin vnd Fräwlein / Fräwlein Loysa Amöna / Fürstinn zu Anhalt, S. 129f.; Als Herr Elias Hoßmann / Fürstlicher Lignitscher Hoffprediger / zwey Töchter innerhalb dreyen Tagen zu der Erden bestattet, S. 142. Das vierte Buch der Wälder mit den Amatoria enthält dagegen ausschließlich elegische Distichen und weder Oden noch Sonette oder Epigramme.

241 setzungen folgen nach, so dass die erotisch-petrarkistischen Gambara- und Ronsard-Übertragungen ans Ende rücken. Bei Fleming werden dann sogar die Oden- und Sonettbücher selbst im Inneren dem Prinzip der Silvae unterworfen, indem die nunmehr fünf Bücher mit Oden und die vier mit Sonetten unterteilt sind in je eines mit geistlichen Sachen, auf Begräbnisse, mit Glückwunsch- und schließlich mit Liebesgedichten; bei den Oden findet sich ferner an dritter Stelle ein Buch mit Hochzeitliedern.94 Das Sonett wird also durch die Annäherung ans Epigramm in die humanistische Poetik integriert und erlangt in den Sammlungen eine den antiken, über die neulateinischen Muster übermittelten lyrischen Gattungen entsprechende Stellung. Dabei wandelt sich die Canzoniere-Tradition um in eine des gattungshomogenen Sonettbuchs in der Nachbarschaft der carmina antiker Herkunft. Man muss dabei bedenken, dass es im Neulateinischen Sonettbücher nicht geben konnte, sieht man von manchen eher kuriosen Rückkopplungseffekten ab.95 Impliziert das formbestimmte Sonettbuch eine thematische Vereinzelung des Sonetts, so kommt dies noch stärker zum Ausdruck, wo es in Mischsammlungen wie den Silvae auftritt. Damit wiederum geht die Tendenz einher, solche nunmehr vereinzelten Sonette mit kontextorientierenden Überschriften zu versehen. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass auch die Tradition der allegorisch motivierten Sonettbücher nicht abreißt, sondern gerade im Kontext der geistlichen Lyrik neue Bedeutung erhält. Auch hier erzwingt die große Bedeutung der anlassgebundenen Dichtung oft zugleich eine ›vermischte‹ Gestaltung. Ein bedeutsames Beispiel stellt die Konzeption der Sonettbücher des Andreas Gryphius dar, die in den zwei Büchern von 1643 und 1650 mit numerischer Signifikanz als zwei mal fünfzig Sonette vorgelegt werden. Die von Wolfram Mauser aufgezeigte heilsgeschichtlich induzierte Anordnung dieser Gedichte kommt gleichwohl nicht daran vorbei, im Inneren der jeweiligen Bücher allerlei Vermischtes auf verschiedene Anlässe zu präsentieren, das sich nicht anders als in Wäldern ebenfalls nur locker einer höheren Ordnung fügt.96 In den Sonn- und Feiertagssonetten schließlich, die mit 64 + 36 Sonetten ebenfalls im Hundert auftreten,97 scheinen Kasualität und heilsgeschichtliche Signifikanz auf glückliche Weise versöhnt zu sein, um den Preis allerdings, dass gewöhnliche Casualia hier keinen Platz mehr finden. Gerade auf dem Gebiet der geistlichen Lyrik besteht ein zunehmendes Interesse an der Gestaltung allegorisch konzipierter ——————— 94 95

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Fleming: Teütsche Poemata, S. 282–670. Vgl. dazu Mönch: Das Sonett, S. 141, Leonard Forster: Zur Bedeutung des neulateinischen Petrarkismus. In: Forster: Das eiskalte Feuer, S. 113–122; ders.: Petrarkismus und Neulatein. In: Der petrarkistische Diskurs. Spielräume und Grenzen. Akten des Kolloquiums an der Freien Universität Berlin, 23.10. –27.10.1991. Hg. von Klaus W. Hempfer und Gerhard Regn. Stuttgart 1993, S. 165–185. Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft, bes. S. 27–30. Bzw. mit 65 + 35 Sonetten in der Ausgabe A von 1639; Andreas Gryphius: Sonette. Hg. von Marian Szyrocki. In: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von Marian Szyrocki und Hugh Powell. Bd. 1, Tübingen 1963, S. XI.

242 Sonettsammlungen, wie die 100 + 100 + 50 Geistlichen Sonnette der Catharina Regina von Greiffenberg (1662)98 oder die 50 Himmlischen Liebesküsse des Quirinus Kuhlmann (1671)99 mit ihrer gleichzeitigen Anlehnung an die BasiaZyklen und das biblische Hohe Lied zeigen. Die Macht der Metaphorik und der Zahl herrscht auch im Neu Erbaueten Poetischen Lust- und Blumen-Garten des Johann Georg Schoch (1660), der auf 100 Lieder 100 Liebessonette und 100 Sonette nach Silvenart folgen lässt: geistliche und Gelegenheitsgedichte, sowie schließlich noch 400 Epigramme und Verschiedenes.100 Man kann die Entwicklung der Lyriksammlungen und Sonettbücher sicher nur bedingt und mittelbar mit dem Phänomen der Epigrammatisierung in Verbindung bringen, unter dessen Überschrift sie hier verhandelt wird. Im Fall des Sonetts steht diese Entwicklung in unmittelbarer Verbindung mit der sich wandelnden Bedeutung des Petrarkismus, der die Zyklusgestaltung wesentlich beeinflusst. Das Verschwinden des traditionellen Sonettzyklus zugunsten der nach Anlässen und Gattungen hierarchisch geordneten Sammlungen scheint durch die europäische Blüte des Petrarkismus im 16. Jahrhundert aufgehalten und konterkariert worden zu sein, während andere Merkmale der Epigrammatisierung bzw. Antikisierung sich früher und deutlicher auswirken konnten. Diese Zusammenhänge müssten für die anderen Nationalliteraturen im einzelnen nachvollzogen werden. Als das Sonett in Deutschland heimisch wird, sind diese Entwicklungen jedoch so gut wie abgeschlossen und die zyklisch-narrative Präsentation von Sonetten erscheint eher als historische Reminiszenz denn als zeitgemäßes Modell. Im 17. Jahrhundert sind dagegen vor allem drei Tendenzen für die Anordnung von Sonetten in lyrischen Sammlungen ausschlaggebend: 1. die humanistische Gattungpoetik nach antikem Vorbild, die auf eine Gattungshierarchie zielt, innerhalb der die Sonette als kleine epigrammähnliche Form einen nachgeordneten Rang zwischen Oden und Epigrammen einnehmen; 2. der heteronome Bezug auf gesellschaftliche Ordnungsstrukturen, der auf die Abbildung verbindlicher metaphysischer und ständischer Werthierarchien zielt und sich dazu einer Anordnung nach gesellschaftlichen Anlässen und nach ——————— 98

99

100

Catharina Regina von Greiffenberg: Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte. Anhang: Nachwort – Materialien – Register. In: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bircher und Friedhelm Kemp. Bd. 1, Millwood, N.Y. 1983. Quirinus Kuhlmann: Himmlische Libes-küsse. 1671. Hg. von Birgit Biehl-Werner. Tübingen 1971; der Originaltitel lautet: Qvirin Kuhlmanns Breßlauers Himmlische Libes-küsse / über di fürnemsten Oerter Der Hochgeheiligten Schrifft / vornemlich des Salomonischen Hohenlides wi auch Anderer dergleichen Himmelschmekkende Theologische Bücher poetisch abgefasset. Zu JEHNA Drukkt Samuel Adolph Müller Im Jahr 1671. Johann-Georg Schoch: Neu-erbaueter Poetischer Lust- u. Blumen-Garten / Von Hundert Schäffer- Hirten- Liebes- und Tugend-Liedern / Wie auch Zwey Hundert Lieb- Lob- und Ehren-Sonnetten auf unterschiedliche Damen / Standes-Personen / Sachen / u.d.g. Nebenst Vier Hundert Denck-Sprüchen / Sprüch-Wörtern / Retzeln / Grab- und Uberschrifften / Gesprächen und Schertz-Reden / Zusammen gesetzet / Auch zur Belustigung der Liebgrünenden Teutschen Jugend angeleget und hg. [...]. 2 Teile, Leipzig: [o.V.] 1660 [HAB: P 311.12° Helmst.]. Vgl. zur Bedeutung der Pflanzenmetaphorik insgesamt für derartige Gedichtsammlungen Adam, S. 175–200, zu Schoch: S. 198f.

243 geistlicher und weltlicher Signifikanz bedient, wofür die Silvae des Statius in Ansätzen ein antikes Modell bieten; und 3. die allegorische Überformung der lyrischen Anordnung, die vor allem durch Bezugnahme auf übergeordnete natürliche oder metaphysische Prinzipien eine zusätzliche Legitimation entsprechender Werthierarchien zu bieten vermochte.

2.6

Sonett-Überschriften

Zu den Veränderungen, die mit der frühneuzeitlichen Epigrammatisierung des Sonetts einhergehen und die im Zusammenhang mit der Entwicklung der zyklischen Anordnung von Sonetten stehen, gehört auch die Titelgebung für die einzelnen Gedichte. Systematische Untersuchungen zu ihrer historischen Entwicklung liegen nicht vor, so dass auch hier nur ein vorsichtiger Umriss versucht werden kann.101 Man kann die Epigrammatisierung der Poesie seit dem 15. Jahrhundert nicht allein dafür verantwortlich machen, dass sich in der Präsentation von Lyrik zunehmend die Betitelung der einzelnen Gedichte durchsetzt. Titel bilden im Medium der Schrift grundsätzlich ein wirksames Orientierungs- und Gliederungsmittel segmentierter Textmassen. Insofern bilden sie gemeinsam mit Indizes, Inhaltsverzeichnissen und Kapiteleinteilungen ein generelles Ordnungs- und Orientierungsmerkmal der geschriebenen Sprache. Dies gilt für die innere Organisation und Erschließung des unübersichtlichen umfangreicheren Buchs und für die äußere Kennzeichnung von Textobjekten als signifikante Einheiten. Im Vergleich dazu sind Titel im Rahmen oraler Verständigung in der Regel überflüssig. Kommunikative Gattungen beispielsweise werden in der gesprochenen Sprache kontextuell und über bestimmte Signale aktualisiert. Im Gesang geschieht dies durch Melodie und Eröffnungszeilen wie etwa in Kirchengesangbüchern. Auch in der modernen populären Musik, wo Titel zur Identifikation auf den elektronischen Trägermedien nötig sind, bedient man sich dazu bevorzugt bestimmter herausgehobener Textzeilen, die Text und Melodie an den Titel vermitteln und diesen damit durch Redundanz konstituieren. In der Aufführungssituation des Konzerts sind solche Titel entsprechend funktionslos. Titel erweisen sich in der mündlichen Kommunika——————— 101

Zu verweisen ist auf die älteren Arbeiten von Bernhard Rang: Die Kunst der Überschrift in der Lyrik. Auszug aus der Diss. Gießen 1925; und von Hans-Jürgen Wilke: Die Gedichtüberschrift. Versuch einer historisch-systematischen Entwicklung. Phil. Diss. Frankfurt a.M. 1955. Für die antike Entwicklung sehr aufschlussreich ist die Untersuchung von Bianca-Jeanette Schröder: Titel und Text. Zur Entwicklung lateinischer Gedichtüberschriften. Mit Untersuchungen zu lateinischen Buchtiteln und anderen Gliederungsmitteln. Berlin, New York 1999; nicht sehr ergiebig für die älteren Traditionen ist Anne Ferry: The Title to the Poem. Stanford, Calif. 1996; nicht speziell auf Gedichttitel geht Rothe in seiner eher systematischen Untersuchung ein: Arnold Rothe: Der literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte. Frankfurt a.M. 1986; gleiches gilt für das »Titel«-Kapitel in Gérard Genette: Paratexte [das Buch vom Beiwerk des Buches]. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Übs. von Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 1989, S. 58–102.

244 tion als dysfunktional, sie erfüllen ihre Funktion vor allem im unübersichtlichen Raum der Schrift bzw. der Informationstechnologien: auch Dateinamen sind entsprechend unverzichtbar. Insofern erscheint es schlüssig, dass Titel historisch vor allem im Zusammenhang mit medialen Wandlungsprozessen wie der Buchproduktion und der Entfaltung der Publizistik ausgebildet werden. Man kann dies als den mediengeschichtlichen Aspekt von Titelgebungen bezeichnen. Für die Geschichte der Gedichttitel spielen neben und mit solchen universellen textorganisatorischen Erfordernissen spezifische Gattungstraditionen eine wichtige Rolle. So ist beim gegenwärtigen, äußerst lückenhaften Forschungsstand nicht eindeutig zu sagen, in welchem Maß die Entwicklung der Buchorganisation die Betitelung von Einzelgedichten befördert hat. In jedem Fall hat auch hier der humanistische Rückgriff auf antike Traditionen eine bedeutende Rolle gespielt. Die allgemeine Verbreitung von Einzelgedichttiteln wird seit langem als ein Phänomen der Frühen Neuzeit beschrieben, ohne dass man zugleich im einzelnen auch schlüssige Erklärungen für diese Entwicklung hätte anbieten können. Aufgefallen war, dass die hauptsächlichen lyrischen Traditionen der Antike und des Mittelalters in aller Regel ›völlig titellos‹ geblieben waren. Dass deshalb aber »die individuelle Benennung des lyrischen Einzelgedichtes [...] eine moderne ästhetische Erfindung« sei,102 ist eine trügerische Schlussfolgerung, die die Überlieferungsgeschichte der antiken Quellen übersieht.103 Bereits HansJürgen Wilke hat auf das Auftauchen von Überschriften im Zusammenhang mit der Verschriftlichung in den alexandrinischen Anthologien und während der römischen Kaiserzeit hingewiesen.104 Die ersten Überschriften, die mit Sicherheit auf den Textautor zurückgehen, finden sich in Martials Büchern XIII und XIV mit Epigrammen auf Gastgeschenke, den Xenia und Apophoreta.105 In der römischen Spätzeit verbreitet sich diese Gewohnheit zunehmend, so tragen beispielsweise die Silvae des Statius und die Gedichte des Ausonius Titel. Im Lauf der Zeit wurden auch den Ausgaben der älteren Dichter zunehmend nachträglich solche hinzugefügt (32). Dies hat dazu geführt, dass die Überlieferung ——————— 102 103

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Rang, S. 1. Wolfgang Kayser stützt seine sozial- und mediengeschichtlichen Vermutungen auf den gleichen Befund: »Mittelalterliche Gedichte kennen die Titelgebung nicht. Erst seit dem Humanismus ist der Brauch fest geworden, offenbar als Ausgleich dafür, daß ein Gedicht (gesteigert durch seinen Sprechcharakter) nicht mehr so fest in die Formen des Gemeinschaftslebens einbezogen war, die für eine Vor-Einstimmung sorgten.« Kayser: Das sprachliche Kunstwerk, S. 192. Noch der Einführungsband von Dieter Burdorf bringt die Titelgebung bei Gedichten mit der Frühen Neuzeit in Verbindung; D. Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart 1995, S. 131; kritisch dazu Schröder, S. 4. Wilke, S. 12ff. und S. 31ff. Die Überschriften der beiden letzten Epigrammbücher Martials sind die ältesten mit Sicherheit authentischen überlieferten Gedichtüberschriften. Martial selbst hat sie in seinen Einleitungsgedichten als »tituli« und als »lemmata« bezeichnet; Martial: Epigramme. Lat./dt. hg. und übersetzt von Paul Barié und Winfried Schindler. Düsseldorf, Zürich 1999, XIII, 3; XIV, 2; S. 922 und 970; dazu Schröder, S. 176–179; siehe Anm. 104.

245 antiker Gedichte weitgehend mit Titeln erfolgte, die nicht authentisch waren oder deren Authentizität kaum noch nachweisbar ist. Für die vorliegende Fragestellung ist die frühneuzeitliche Überlieferung der antiken Texte in Manuskripten und Drucken zentral. Hier kann kaum auf Quellenuntersuchungen zurückgegriffen werden, doch bieten die vorliegenden Arbeiten einige Anhaltspunkte. So kommt Schröder zu dem Schluss, dass die überlieferten Überschriften antiker Gedichte während der Spätantike erstellt und im Mittelalter nicht mehr entscheidend verändert wurden.106 Im Grundsatz gilt dies auch für die Drucke, die die in den Manuskripten überlieferten Überschriften möglichst weitergaben, so dass die frühneuzeitlichen Ausgaben der antiken Dichtung weitgehend mit Titeln zu den einzelnen Gedichten versehen waren (316f.). Ein Umschwung kommt erst am Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge einer Quellenkritik, die die auktoriale Authentizität zum Kriterium der Überlieferung macht und die die nachträglich entstandenen Einzelüberschriften antiker Gedichte aus den Ausgaben zu eliminieren beginnt (317f.).107 Erst diese Lage der Überlieferung macht einsichtig, warum die neulateinische Dichtung der Frühen Neuzeit in so starkem Maß mit betitelten Gedichten arbeitete.108 Sie folgte dabei treu den überlieferten antiken Vorlagen und muss so als eine wichtige Quelle für die Durchsetzung des Einzelgedichttitels angesehen werden. Gerade diese Bedeutung der Tradition und der Überlieferung mindert allerdings nicht den mediengeschichtlichen Aspekt der Entwicklung. Sowohl die Spätantike wie die Frühe Neuzeit waren Epochen mit durchgreifenden Wandlungsprozessen in der Buchproduktion, die die Titelung jeweils begünstigten.109 Vor diesem Hintergrund nun lässt sich die Frage nach gattungsspezifischen Entwicklungen erst situieren. Bernhard Rang hatte aufgrund entsprechender ——————— 106

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Schröder, S. 314f. Schröder hat die komplexe Entwicklung der antiken Gedichtüberschrift systematisch anhand der Quellen rekonstruiert und Kriterien für die Beurteilung der Überschriften zu entwickeln versucht. Sie beschreibt die Manuskriptlage für die einzelnen Werke, nur vereinzelt finden sich allerdings Angaben zur Überlieferungsgeschichte. Dass der paratextuelle Charakter des Gedichttitels diesen gleichsam ›außerhalb‹ der ›Einheit‹ des Textes plaziert, hat dessen Überlieferung historisch immer wieder gefährdet und unterbrochen. Titel konnten als bloße Orientierungshilfen bedenkenlos hinzugefügt oder auch weggelassen werden. Die Titelforschung muß daher unter erheblich erschwerten Bedingungen arbeiten, da bis heute relevante Textausgaben – vor allem, wenn sie älteren Datums sind – hinsichtlich der Titelüberlieferung oft weder transparent noch zuverlässig sind, so dass nur ein Rückgriff auf die Quellen letzten Aufschluss zu geben vermag. Dies gilt auch für die ältere Sonettdichtung. Wilke, S. 106 u. 113. Auf die zentrale Rolle des Buchdrucks für die Durchsetzung des Einzelgedichttitels hat bereits Wilke hingewiesen, wobei er der Verbreitung von Fliegenden und Offenen Blättern besondere Bedeutung zumißt; Wilke, S. 104. Den Zusammenhang zwischen der fortschreitenden Entwicklung im Buchwesen und der Durchsetzung des Einzelgedichttitels zwischen dem ersten und fünften nachchristlichen Jahrhundert hat Schröder herausgearbeitet; Schröder, S. 305f. Vornehmlich auf die Differenz von Manuskript und Buchdruck führt auch Marotti die Einführung von Titeln in Tottel’s Miscellany von 1557 zurück; Marotti, S. 216f.

246 Beobachtungen die Frage aufgeworfen, ob die Durchsetzung des Einzelgedichttitels eine besondere Leistung der deutschen Literatur sei, da diese Gepflogenheit sich erst hier wirklich durchgesetzt habe.110 Erhellend für den vorliegenden Zusammenhang ist dabei die Tatsache, dass die von Rang benannten europäischen Beispiele für titellose Lyrik weitgehend Sonette betreffen: Shakespeare, Marot, Labé und die Pléïade werden angeführt. Dies deutet dann gerade nicht auf eine Rückständigkeit dieser Literaturen hin, es markiert vielmehr die Stärke der spezifischen Gattungstradition petrarkistischer canzonieri, die titellose Sonette in Zyklen zusammenstellte. Damit aber stellt sich die Frage in umgekehrter Weise: wie und unter welchen Bedingungen sich nämlich die Titelgebung des einzelnen Sonetts gegen die Tradition von Sonettsammlungen und Sonettzyklen ohne Einzeltitel durchsetzte und welche weiteren Auswirkungen dies auf Fragen der Anordnung und der Gestaltung der Sonette hatte. Sonette trugen von Beginn ihrer Gattungsgeschichte an keine Titel. Darin wirkt in gewissem Sinn ihre Abkunft von der oralen Tradition der Trobadorkanzone nach, in deren Nachbarschaft sie überliefert werden und in die canzonieri eingehen. Selbst die frühen Zyklen bilden keine Titel aus. Die Tenzonen sind in den Codices mit den Namen der Autoren der Einzelsonette überschrieben, die somit eine gewisse Orientierungsfunktion für die zusammengehörigen Gedichte übernehmen. Entsprechendes gilt für Korrespondenzsonette, deren Zusammengehörigkeit durch entsprechende Anreden im Text, durch die Aufnahme von Reimen und Reimworten und die Zuordnung der Antwortsonette signalisiert wird.111 Auch die frühen allegorischen Sonettzyklen markieren ihre gemeinsame Thematik durchweg in den Anfangszeilen der Sonette, so beispielsweise der Zyklus der Tugenden und Laster des Guittone d’Arezzo oder der Zyklus der Monate (corona dei mesi) des Folgóre da San Gimignano.112 Mit der Entwicklung der Canzoniere-Tradition vom dolce stil novo zu Petrarca bleiben Titel der Sonettdichtung weiterhin fremd, und dies wird zumindest in Italien mit dem Petrarkismus über das 16. Jahrhundert hinweg bis weit ins 17. hinein tradiert. Unter den wenigen Ausnahmen sind bezeichnenderweise im 16. Jahrhundert die satirischen Sonette des Francesco Berni zu finden, die gegenüber der petrarkistischen Tradition eine bewusste Gegenstellung einnehmen.113 Andererseits ——————— 110

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Rang, S. 2f. Eine Studie zum Titelgebrauch im europäischen Rahmen fehlt. Darauf hat bereits Günther Weydt aufmerksam gemacht, der im Zusammenhang seiner OpitzUntersuchung vermutet, Opitz könne den Gebrauch von Überschriften in den GambaraÜbertragungen von niederländischen Vorbildern entlehnt haben. Auch damit wäre nur eine Teilantwort gegeben; Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung bei Opitz: Die frühen Sonette und das Werk der Veronica Gambara. In: Euphorion 50 (1956) 1–26, hier: S. 20f. So bei den Korrespondenzsonetten des Guittone d’Arezzo; die Titel in der Ausgabe von Egidi sind allerdings nicht authentisch; Guittone d’Arezzo: Le Rime (Hg. Egidi, 1940); zum Vergleich: Guittone d’Arezzo: Canzoniere (1994). Guittone d’Arezzo: Le Rime, S. 235–246, Nr. 175–198; Poeti del Duecento, Bd. 2, S. 405– 419. Francesco Berni: Poesie e Prose. Hg. von Ezio Chiórboli. Genf, Florenz 1934. Der hier gegebene Überblick kann eine systematische Untersuchung nicht ersetzen, doch beschreibt er eine sehr weitgehende Tendenz.

247 dominiert der petrarkisierende Sonettzyklus ohne Einzeltitel die französischen und englischen Adaptionen von Du Bellay über Ronsard zu Desportes und von Sidney und Spenser bis zu Shakespeare,114 das heißt, er kennzeichnet mit nur wenigen Ausnahmen die einflussreichsten Traditionen der europäischen Sonettdichtung bis ins Zeitalter des Barock. Erst bei den Autoren des 17. Jahrhunderts wird die Titelgebung auch beim Sonett zur Regel. Vor allem gilt dies für einschlägige ›Barock‹-Autoren wie etwa Giambattista Marino, Luis de Góngora oder Francisco de Quevedo. In dieser Perspektive erscheint nun die Titelgebung für einzelne Sonette als ein gattungsgeschichtlich signifikanter und aussagekräftiger Sachverhalt. Das Sonett gehört traditionell einer volkssprachlich-italienischen Canzoniere-Tradition zu, die nicht zuletzt aufgrund ihrer ursprünglich oralen Wurzeln kaum Einzeltitel für Gedichte kannte. Die neulateinische Humanistenpoesie andererseits übernahm mit den antiken Mustern auch deren überlieferte Traditionen der Titelgebung. Wo sich das Sonett nun – vor allem in der Übernahme durch andere Nationalliteraturen – vom Kontext der canzonieri löste und im Licht antiker Traditionen interpretiert wurde, konnte es vermehrt als Einzelgedicht mit einem Titel in antikisierender Manier erscheinen. Dabei wirken verschiedene Faktoren zusammen: die Isolierung des einzelnen Gedichts, die Heteronomie seiner verstärkt okkasionellen Motivation und die dadurch hervorgerufene Heterogenität der Gedichte und ihrer Gegenstände, die nach einer Kontextmarkierung verlangt, wie sie allein durch Titelgebung geleistet werden konnte. Als Traditionen der Titelgebung kommen für das Sonett die gleichen Muster in Frage, wie für die übrigen lyrischen Formen. Diese wurden vor allem von Wilke und Schröder ausführlich beschrieben.115 Demnach liegt mit der antiken Überlieferung ein Spektrum von Überschriftsmöglichkeiten bereit, das man unschwer in den Titelgebungen der frühneuzeitlichen Lyrikausgaben wiederfinden kann. Dabei handelt es sich nicht um moderne ›poetische‹ Titelgebungen, sondern meist um Kontexthinweise, um Adressaten-, Gattungs- oder um Themenangaben. Die ältesten Titelformen bestehen aus einfachen Eigennamen im Nominativ wie in den Platonischen Dialogen, die als Adressaten- oder auch

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Das gilt selbst noch für ein so deutlich der Monumental-Epigraphik und dem Werk Martials verpflichtetes Werk wie Les Antiquitez de Rome (1558) von Joachim du Bellay, das die Bedichtung der römischen Monumente nicht in Epigrammen, sondern in Sonetten vornimmt, die überschriftslos bleiben; in: Poètes du XVIe siècle. Hg. von Albert-Marie Schmidt. Paris 1953, S. 418–431. Überschriften finden sich sonst in der Regel nur in ausdrücklich inschriftlichen Sonetten wie in Titelsonetten A son Livre – so dasjenige zu Du Bellays Les Regrets, ebd., S. 446 – oder etwa im Rahmen von Ronsards Amours de Marie (1578) Sonett XVI: Epitaphe de Marie; Pierre de Ronsard: Les Amours. Hg. von Henri Weber und Cathérine Weber. Paris 1993, S. 347f. Nach einer durchgehenden Systematik finden sich die detailliertesten literarhistorischen Angaben für die einzelnen Epochen bei Wilke, zum 14. und 15. Jahrhundert: S. 74–102, 16. Jahrhundert: S. 103–138, 17. Jahrhundert: S. 139–198. Zahlreiche Hinweise für die antike Titelgebung bietet Schröder, zusammenfassend S. 307–314.

248 Widmungstitel später meist mit der Präposition ad verwendet werden.116 Anlassbezogen sind sowohl die Objektbezeichnungen Martials als auch die Bezeichnung von ›Gelegenheiten‹ bei Statius. Die Nennung eines Themas erfolgt meist mit der Präposition de. Klassisch ist ebenfalls der Gattungstitel, der in manchen Fällen die Gelegenheit mitbezeichnen kann. In einem Titel wie Statius’ Consolatio ad Flauium Vrsum de amissione pueri delicati117 treffen diese unterschiedlichen Benennungen von Gattung, Adressat und Gegenstand zusammen.118 Eine Untersuchung frühneuzeitlicher Sonett-Titel muss im Kontext der Titelgebung der anderen lyrischen Formen erfolgen und kann hier nicht geleistet werden. Ihre Vielfalt zeigen allein schon die bei Wilke zusammengestellten Beispiele. Bei zahlreichen Zuordnungsproblemen wird bereits deutlich, dass die Aufgliederung nach dem von ihm gewählten Schema unbefriedigend ist. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine bestimmte Titelform der Aussagehaltung des Gedichts selbst unbedingt entspricht. Keinesfalls ist es so, dass adressatenbezogene Titel mit der Präposition ad bzw. ›an‹ jeweils auch entsprechende kommunikative Anredehaltungen nach sich ziehen. Sie können vielmehr in gleicher Weise objektbezogen sein, wie man dies von inskriptorischen Titeln mit Präpositionen wie ›in‹ bzw. ›über‹ oder ›auf‹ erwarten würde.119 Die Ausformung von Sonetten im Sinne eines epigrammatisch-inskriptorischen Duktus lässt sich folglich nicht schematisch an bestimmten Titelformen festmachen. Dennoch bildet die große Verbreitung von Sonetten auf, über und an bestimmte Objekte ein deutliches Merkmal ihrer inskriptorischen Auffassung. Es stellt sich sehr häufig so dar, dass eine ›objekthafte‹ Betrachtung des Gedichtgegenstands sich hineinmischt in eine zunächst kommunikativadressatenbezogene Sprechweise. Dazu dient auch der beliebte Vorwurf, in einem Liebesgedicht bestimmte objekthafte Attribute der Dame anzudichten. Ob es dann An die Träume oder Auff die güldne Haar-Nadel heißt, ist völlig austauschbar, wenn die Gedichte mit »Ihr Träume« und »Du güldne Nadel du« ——————— 116

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Schröder, S. 307; Wilke führt die Anredeüberschriften auf die antike Briefüberschrift zurück und untersucht ihre Bedeutung als Anrede- und Widmungs- sowie Rollenüberschrift seit der Antike: Wilke, S. 21, 23 (griechische Dichtung), 35–37 (römische), S. 53f. (christlich-lateinische des Mittelalters), S. 68f. (alt- und mittelhochdeutsche), S. 86f. (14./15. Jahrhundert), S. 115–119 (16. Jahrhundert und neulateinische Dichtung), S. 158– 170 (17. Jahrhundert). Statius, II, 6, S. xxxvi und S. 51. Scaliger diskutiert die Frage des Titels unter der Überschrift inscriptio in seiner Poetik ausführlich. Der Titel werde in fünferlei Hinsicht abgeleitet, von der Person, der Sache, der Handlung, dem Ort oder der Zeit (persona, res, actio, locus, tempus); für die Form des Titels behandelt er Fragen der Flexion und der Präposition, wobei Titel mit »de« im Mittelpunkt stehen. Da es vor allem um Werktitel und weniger um Einzelgedichttitel geht, findet eine nähere Behandlung inskriptorischer oder situationsbezogener Titel nicht statt (Scaliger, III, 126: Inscriptio, Bd. 3, S. 216–231). Diese Beobachtung führt schon Wilke dazu, eine individuelle Untersuchung der Gedichte zu fordern; Wilke, S. 145ff., bes. S. 147.

249 anheben.120 Während der inskriptorische Charakter wie oben dargelegt gerne auch material zur Darstellung gebracht wird, beherrscht er zugleich zahlreiche Gedichte auf implizite Weise. Zum Ausdruck kommt dies in einer verbreiteten Tendenz zur Objektbildung und damit zur Objektivierung der Thematik. Man wird deshalb das Merkmal des ›inskriptorischen‹ Zugs der epigrammorientierten Sonette um das allgemeinere ihres ›objektivierenden‹ Zugs erweitern müssen, um die verschiedenen relevanten Phänomene erfassen zu können. Deren unterschiedliche Ausdrucksformen werden im Laufe der weiteren Diskussion an den verschiedenen Beispielen zu beachten sein. Sie lassen sich in jedem Fall nicht an der Titelgebung allein festmachen. Unterschiedliche Verwendungsweisen des Titels kann man entsprechend auch in der Praxis der deutschen Sonettistik des 17. Jahrhunderts beobachten.121 So versieht Georg Rodolf Weckherlin die Sonette seines petrarkistischen Buhlereyen-Zyklus meist mit themenbezogenen und zum Teil mit adressatenbezogenen Titeln, wobei der Objektbezug wechselt. Der Großteil der Titel umschreibt das Thema: Ihrer Schönheit wunderliche Würckung; Ihr Lob ist unaußsprechlich.122 Das Einleitungssonett und einige Sonette am Schluss haben dagegen dialogischen Charakter. Die Titel sind adressatenbezogen und der Text steht in der zweiten Person: Vorrede und bitt an Seine Liebste; An eine, sich alt zu werden beklagende, Schönheit.123 ——————— 120

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Beispiele des 3. Sonettbuchs mit Liebesgedichten von Paul Fleming: Teütsche Poemata, S. 601f., Nr. 3 und 4. Beiden Titeln voran steht: Aus Hugo Grotius seinem Lateinischen Liebes-scherze. Die sieben satirischen Sonette Johann Fischarts von 1575 bilden einen nummerierten Zyklus ohne Titel; vgl. Achim Aurnhammer: Johann Fischarts Spottsonette. In: Simpliciana 22 (2000) 145–167, mit Abdruck der Sonette: S. 155–158. Der Bezug auf die Geliebte ist hier beschreibend und der Text steht in der dritten Person: Sonette Nr. 2 – 6 – , Nr. 10 . Während sich die Anrede der Texte verändert, bleiben die Titel themenbezogen: Nr. 7 Sie ist steinin redet Amor an; Nr. 8 und Nr. 11 wenden sich im Pluralis an die Dame, tragen aber die Titel Ihr Hertz ist gefroren und Ihre Schönheit von Rosen und Gilgen. Die Sonette 12 – 14 – und das in der späteren Auflage an Nr. 12 eingeschobene Sonett behandeln die eigene Affektivität: Die Lieb ist Leben und Tod, Unendliche Liebs pein, Ihrer Schönheit übernatürliche Würckung, Lieb gegen lieb. Nr. 15 und 16, , , richten sich in der 2. Person an Körperteile der Dame: Schöne haar, Schöne Hände. Nr. 17 thematisiert die nunmehr verbundenen Liebenden mit einem »wir«: Schaiden und Lieb unsterblich. Daran anschließend wird später als Nr. 19 , Abwesenheit getröstet, eingeschoben, das die Geliebte mit »mein schatz« anredet; Georg Rodolf Weckherlin: Gaistliche und Weltliche Gedichte. Amsterdam 1641, S. 202–220; G.R. Weckherlin: Gaistliche und Weltliche Gedichte. Amsterdam 1648, S. 698–715; vgl. zum Überblick der Anordnung in beiden Ausgaben und für die Nummerierung Georg Rudolf Weckherlin: Gedichte. Hg. von Hermann Fischer. Tübingen 1894–1907, Bd. 1, S. 462–477, Bd. 2, S. 340–345; für eine Gesamtdeutung des Zyklus: Vf.: Georg Rodolf Weckherlins Buhlereyen-Zyklus und sein Vorbild bei Edmund Spenser. In: Arcadia 29 (1994) 225–251. Das gilt für die abschließenden Sonette an zwei alte Frauen, das genannte Nr. 18 und Nr. 19 < 223.>: An eine alte üppige Fraw. In der späteren Ausgabe von 1648 wird dazwischen das Sonett , Eine Schöne Bettlerin, eingeschoben, das von der dritten Person in die Anrede wechselt.

250 Die von Martin Opitz besorgte Ausgabe der eigenen Gedichte stellt im Sonett-Buch ganz eindeutig die in der Epigramm-Tradition stehenden Sonette an den Anfang. Zunächst stehen die Monumentsonette, die über Du Bellays Antiquitez de Rome auf Martial zurückweisen und die eindeutig epigrammatische Titel tragen: Nach der Andichtung an die Dichtung selbst, An diß Buch, stehen paradigmatische Exemplare epigrammatisch inspirierter Sonette: Vber den Thurn zu Straßburg, Vom Wolffesbrunnen bey Heidelberg und weitere Monumentsonette.124 Die Präpositionen ›Über ...‹, ›Vom ...‹, ›Auf ...‹ und ›An ...‹ werden dabei offensichtlich unabhängig von ihrem ursprünglichen Verwendungszusammenhang austauschbar im Sinne eines epigrammatischen Objektbezugs gebraucht. Die Gedichte dichten regelmäßig die Gegenstände an: »PRintz aller hohen Thürn«; »DV edler Brunnen du«; »DV unerschöpffte Lust«; »DV allerschönster Orth«. Auch die Sonette mit erotischem Inhalt sind zunächst rein epigrammatisch und objektbezogen: An die Bienen; An die Augen seiner Jungfrawen; Auff einen Kuß. Daneben nutzt Opitz die Titel, um die Herkunft der übersetzten Texte anzugeben: An seine Threnen. Auß dem Lateinischen Hugonis Grotij; Zum theil auß dem Niderlendischen; Francisci Petrarchae (361–371). Im Unterschied zu diesen am Modell des Epigramms orientierten Sonetten bleiben die petrarkistischen Ronsard-Übertragungen im hinteren Teil des Sonettbuchs ohne Titel (XXXI.–XLI., S. 376–381). Ebenfalls gilt dies etwa für das antipetrarkistische Tyndaris-Sonett.125 Einen Sonderfall stellen die GambaraÜbertragungen dar, die Opitz zu einer Art petrarkistischem Zyklus zusammenstellt, was er im Titel des ersten Sonetts markiert: XXII. Auß dem Italienischen der edelen Poetin Veronica Gambara; wie auch nechstfolgende sechse. Zusätzlich tragen die Sonette dieser Gruppe Titel, die den Absender- und Adressatenbezug zum Ausdruck bringen. Dies geschieht ausführlich, da Opitz den Geschlechtswechsel deutlich machen muss: XXII. Sie redet die Augen jhres Buhlen an / den sie umbfangen; XXIII. Sie klaget vber Abwesen jhres buhlen; XXIV. Sie redet sich selber an / als sie bey jhm wieder außgesöhnet. Dialogische Adressierung und epigrammatischer Objektbezug durchdringen sich. Während sich Titel im Sonett des 17. Jahrhunderts wie in der Lyrik überhaupt ganz weitgehend durchgesetzt haben, finden sich vereinzelt auch noch titellose Folgen, die an die Canzoniere-Tradition erinnern, so etwa die recht frühen Sonette der Sibylle Schwarz (1621–1638), die im Unterschied zu allen ihren anderen Gedichten keine Titel tragen.126 Titel fehlen im übrigen auch im 17. Jahrhundert noch oft bei Oden. Ihr starkes orales Moment kommt in Ver——————— 124

125 126

Opitz: Weltliche Poemata. 1644. Bd. 2, darin: Vierdtes Buch der Poetischen Wälder. Sonnete, S. 359–381. Die Gegenstände und die Gestaltung lassen sich unmittelbar mit den im gleichen Band befindlichen Epigrammen vergleichen, so etwa mit der Übersetzung des Brunnen-Epigramms In Fontem des Papstes Urban VIII., das Opitz Auff einen Brunnen nennt (ebd., Florilegium, S. 40). Siehe dazu unten, S. 299. Sibylle Schwarz: Deutsche poetische Gedichte. Hg. von Helmut W. Ziefle. Faks. Druck nach der Ausgabe von 1650. Bern, usw. 1980, Oiij–Pijv.

251 bindung mit der Tradition der Liedüberlieferung sehr viel häufiger als beim Sonett im Fehlen von Titeln zum Ausdruck, so beispielsweise zumeist in Opitzens Odenbuch und zum Teil selbst in den Oden des Andreas Gryphius.127 Man kann die allgemeine Tendenz zur Titelgebung in der Lyrik, die unter anderem medienhistorische Gründe hat und sich unter dem Einfluss humanistischer Traditionen vollzieht, grundsätzlich von einer entsprechenden gattungsspezifischen Tendenz unterscheiden. Letztere ist für das Sonett vor allem gekennzeichnet durch die Ablösung von der Canzoniere-Tradition und damit vom formalen Bezug auf die italienische Kanzone, durch die zunehmende Vereinzelung von Sonetten in einem verstärkten Situationsbezug und zusammen damit durch den Bezug auf Traditionen der Titelgebung innerhalb der EpigrammÜberlieferung. Deren prägnanteste Ausformung bildet der inskriptorische Titel, durch den das Epigramm und entsprechend auch das Sonett ausdrücklich als Objektinschrift aufgefasst wird. Darin aber spiegelt sich signalhaft eine sehr viel weitergehende Tendenz zur Heteronomie der Sonettdichtung, das heißt zur Bindung von Einzelsonetten an spezifische Situationen, Objekte oder Personen.

2.7

Reimschemata und Versformen

Neben den Veränderungen von Sammlungsstrukturen, Titelgebungen und Themenspektren, die sich unter dem Einfluss der Epigrammtradition ergeben, sind Konsequenzen auch auf der rein formalen Ebene zu verzeichnen. Mit der Übernahme der Sonettform in die anderen Nationalsprachen gehen bekanntlich in Frankreich und in England einschneidende Modifikationen der Reimordnung und der Versform einher. Damit werden in diesen beiden Literaturen die zwei historisch wichtigsten Sonderformen der Reimschemata des Sonetts begründet. Beide Modifikationen stehen in einem engen Zusammenhang mit der Epigrammatisierung des Sonetts im 16. Jahrhundert und lassen sich aus dieser Perspektive motivieren. In Frankreich geht die gegenüber den italienischen Vorbildern modifizierte Reimordnung auf das Werk Clément Marots zurück. Sein Vorbild und das der Lyoner Dichter seiner Zeit gewinnt für die französische Tradition eine solche Wirkungsmacht, dass auch die spätere Hinwendung der Pléïade zur petrarkistischen Tradition der Bembisten hinsichtlich der Reimordnung keine grundlegende Revision mehr hervorbrachte.128 Der Theoretiker des sonnet marotique ist Thomas Sébillet, und bei ihm lässt sich die Analogisierung des Sonettreims zum Epigrammreim denn auch gut erkennen. Er diskutiert die epigrammatischen Formen vom Zweizeiler bis zum ——————— 127

128

Opitz: Weltliche Poemata. 1644. Bd. 2, S. 321–358; Andreas Gryphius: Oden und Epigramme. Hg. von Marian Szyrocki. In: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hg. von M. Szyrocki und Hugh Powell. Bd. 2, Tübingen 1964, S. 1–147. »Dans la première, la tradition lyonnaise a été assez forte pour pour [sic!] franchir le périlleux obstacle de 1550 et le sonnet épigramme conserve la stucture [sic!] qu’elle lui a donnée.« Jasinski, S. 160.

252 douzain einzeln und hebt die wichtigsten Formen hervor. Bei den Epigrammreimformen handelt es sich in der Regel um Kombinationen von Kreuz- und Paarreimen, wobei bei den längeren Gedichten Paarreime zur Verkettung kreuzgereimter Quartette dienen. Folgende Reimformen werden von Epigramme AA de deuz vers Sébillet hervorgehoben, nicht ohne die prinzipielle Freiheit der De trois vers ABA Variation zuzugestehen: De quattre vers A A B B / A B A B / A B B A Erkennbar ist bei diesen ForDe cinq vers ABAAB men die Tendenz zur QuartettDe sis vers AABAAB bildung meist in Form des Settain ABABBCC Kreuzreims. Ungerade VerszahDe huit vers ABABBCBC len werden durch das EinschieNeufain ABABBCBBC ben zusätzlicher Reimverse auf bereits vorhandene Reimwörter Dizain ABABBCCDCD in Paarreimstellung erreicht. Für Unzain ABABBCCDCCD den settain und den neufain Douzain ABABBCBCCDCD beschreibt Sébillet das in diesem Reimschemata des Epigramms nach Sinn als eine Ableitung von der Thomas Sébillet gewissermaßen vollständigen Form des huittain, des doppelten Quartetts mit nur drei Reimen, die durch einen Paarreim verbunden sind (A B A B B C B C ): Le settain et le neufain dependent du huittain : car le settain réguliérement se fait en syncopant le carme settiéme qui seroit au huittain : et le neufain en ajoutant a ce vers 129 settiéme un rymant avecques luy en ryme platte.

Ein vierter Reim tritt erst beim dizain hinzu, der jedoch auch wiederum durch Paarreime in der Mitte die Quartette aneinander bindet. Der französische dizain ist die von Sébillet am höchsten geschätzte Epigrammform: »Le dizain est l’épigramme aujourd’huy estimé premier, et de plus grande perfection« (110). Die Beschreibung seiner Form unterstreicht die Beobachtung, dass zunächst die Quartette am Anfang und am Ende im Blickpunkt stehen, zu denen verkettende Paarreime hinzutreten: Enten donc que réguliérement au dizain lés 4. premiers vers croisent, et lés 4 derniers: ainsy deus en restent a asseoir, dont le cinquiéme symbolise en ryme platte avec le quart, et le siziéme avec le settiéme pareillement, [...]. [110f.]

Ganz entsprechend zeichnet sich auch der ungerade unzain durch einen weiteren eingeschobenen paarreimenden Vers aus (A B A B B C C D C C D ): »Le unzain se fait réguliérement en ajoutant au neufième vers du dizain un autre symbolisant avec luy en ryme platte : [...]« (111) ——————— 129

Sébillet, S. 109f.

253 Zeigen die ungeradzeiligen Epigramme den transformatorischen Charakter der Reimformen, so machen die von den Dichtern wie von Sébillet bevorzugten Formen des huittain (A B A B B C B C ) und des dizain (A B A B B C C D C D ) die Tendenz zum kreuzgereimten Quartett und zur Verknüpfung ihrer Reime durch eingeschobene Paarreime kenntlich. Ein Prototyp für solche Quartettverkettung ist geradezu der douzain, der bei zwölf Versen mit nur vier Reimen auskommt (A B A B B C B C C D C D ), da stets einer mit ins nächste Quartett genommen wird, wobei sich an den Fugen jeweils ein Paarreim bildet. Dass Sébillet das Sonett im Anschluss an das Epigrammkapitel in einem eigenen Abschnitt abhandelt, begründet er eigens mit seiner fremden Herkunft und der formalen Abweichung von den französischen Epigrammen.130 Was damit gemeint ist, macht die Formulierung der Sonettregeln klar. La structure en est un peu facheuse : mais téle que de quatorze vers perpetuelz au Sonnet, les huit premiers sont divisez en deux quatrains uniformes, c’est a dire, en tout se resemblans de ryme : et lés vers de chaque quatrain sont télement assis que le premier symbolisant avec le dernier, lés deuz du mylieu demeurent joins de ryme platte. [116]

Dies ist zu lesen vor dem Hintergrund der zuvor behandelten Epigrammtradition. Für die Sonettquartette ist im Unterschied beispielsweise zu dem ebenfalls in Quartette eingeteilten douzain die Gleichförmigkeit der Quartette eigentümlich, die deshalb eigens hervorgehoben und beschrieben wird. Der zweite ungewöhnliche Punkt ist der umschlingende Reim, der ebenfalls genau erklärt wird, da für ihn offenbar kein bündiger Begriff zur Verfügung steht. Ferner bringt die Perspektive der Epigrammtradition das Kriterium der Vierzehnzeiligkeit als wesentliches definiens in den Vordergrund. Dies galt nicht in gleicher Weise für die italienische Tradition des Stanzensonetts, dessen Form als eine Struktur aus piedi und volte beschrieben wurde.131 Kommt die Eigenart der französischen Betrachtungsweise bei den Quartetten lediglich in der Art der Beschreibung zum Ausdruck, so findet bei den Terzetten mit ihrer freieren Gestaltungsform eine Auswahl statt, die für die italienische Tradition untypisch ist, deren Affinität zu den französischen Epigrammformen jedoch auf der Hand liegt. Ungewöhnlich erscheint Sébillet nicht die Gleichförmigkeit der Reime, die er in den Quartetten bemerkte, sondern umgekehrt ihre Ungleichförmigkeit, dass nämlich die sechs letzten Verse drei unterschiedliche Reime verwenden. Deren Anordnung mit einem Paarreim in der Sonett——————— 130 131

»Mais pource qu’il est emprunté par nous de l’Italien, et qu’il ha la forme autre que nos épigrammes, m’a semblé meilleur le traiter a part.« Sébillet, S. 115. Man muß allerdings hinzufügen, dass auch italienische Poetiker des 16. Jahrhunderts die Vierzehnzeiligkeit kanonisierten, um die Vorstellung eines ›klassischen‹ Sonett-Typs in der Nachfolge Petrarcas voranzutreiben und die zahlreichen Hybridformen zurückzudrängen. Es wurde oben (S. 203) bereits darauf eingegangen, dass Trissino auf die Parallele mancher erweiterter Formen zu Techniken der Kanzone hinweist und festhält, dass man solches seit Dante weitgehend abgelehnt habe; Trissino, S. 106. Minturno schließlich stellt die Vierzehnzeiligkeit unter Hinweis auf die aktuelle Gebräuchlichkeit ausdrücklich fest; Minturno: L’arte poetica, S. 242.

254 mitte und einem Quartett am Ende (A B B A A B B A C C D E E D ) nähert sich deutlich den beschriebenen Epigrammformen; am ähnlichsten ist es dem Unzain, der mit nur zwei Reimen auf C C D C C D schließt. Zu den Terzetten bemerkt Sébillet: Les sis derniers sont sugetz a diverse assiette: mais plussouvent lés deuz premiers de cés sis fraternizent en ryme platte. Lés 4. et 5. fraternizent aussy en ryme platte, mais differente de celle dés deuz premiers: et le tiers et siziéme symbolisent aussy en toute diverse ryme dés quatre autres: [...]. [116]

Für die Sonettbehandlung der Italiener war es keineswegs so, dass ›plussouvent‹ ein Paarreim das Sextett eröffne, für die französische Epigrammtradition gilt dies allerdings durchweg. Zur Begründung wurde immer wieder über die vermeintliche Klangaffinität des französischen Ohrs spekuliert.132 Früh hat man dagegen auch bereits darauf hingewiesen, dass die Terzettreime dieses französischen sonnet régulier dem Reimschema eines Sechszeilers entsprechen, den Marot in seinen Psalmenübertragungen verwendet hat.133 Bei aller Schwierigkeit einer unmittelbaren Ableitung kann man feststellen, dass bei der französischen Adaption des italienischen Sonetts die ungewöhnliche Reimordnung der Terzette heimischen Traditionen angeglichen wird. Entsprechend zu den Quartetten stehen in jedem Terzett jeweils nur zwei verschiedene Reime. Dadurch wird die innere Zweiteilung des italienischen Sonetts in Reim und Reimordnung tendenziell überspielt. Gerade darin aber liegt offenbar der Sinn dieser Modifikation. Auch das Epigramm kannte keine formale innere Zweiteilung, so dass ein am Epigramm orientiertes Sonett eine Tendenz zum Überspielen des Gegensatzes von Quartetten und Terzetten beziehungsweise eine Homogenisierung des Gesamtbilds aufweisen wird.134 In dieser Konsequenz werden die Paarreime ——————— 132

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134

Keine Deutung der neuen Reimordnung bietet Welti, S. 50. Schon Max Pflänzel spricht aber von der »Vorliebe der Franzosen für den platten Reim«; M. Pflänzel: Über die Sonette des Joachim du Bellay. Phil. Diss. Leipzig 1898. Walter Mönch vermutet, dass der Paarreim im Terzett »einem besonderen akustischen Bedürfnis« und »einer tiefer wurzelnden Anlage des Franzosen zur Epigrammatisierung, das heißt zu schärferer Intellektualisierung« entspreche, kann allerdings damit nicht das allgemeine epochale Vorherrschen der Tendenz zur Epigrammatisierung erklären; Mönch: Das Sonett, S. 118. Ähnlich sieht es Wittschier, der die Veränderung der Reimordnung aber ansonsten für »keinesfalls aufregend« hält; Schlütter: Sonett, S. 49f. Überlegungen zur Reimfreudigkeit der Nationalsprachen bietet auch Jost, S. 81ff.; zur Bezeichnung Quatorzains für die elisabethanischen Sonette, ebd., S. 83f. Auch Jost sieht die Gemeinsamkeit des ›französischen‹ Typs lediglich im einleitenden Paarreim, nicht im Quartettcharakter des Schlusses (86). Auf die Verwandtschaft zur Form des dizain Bezug nimmt dagegen André Gendre: Évolution du sonnet français. Paris 1996, S. 34. A A B C C B , in Marots Trente premiers Psalmes de David, III (= 3), XVIII (= 24) und XXII (= 103): Marot, Bd. 2, S. 566ff., 597f., 611ff.; vgl. N.H. Clement: The First French Sonneteer. In: Romanic Review 14 (1923) 189–198, hier: S. 191; Vianey, S. 80. In einer etwas eigentümlichen Weise hat bereits Pflänzel die Reimordnung des sonnet régulier mit der Epigrammatisierung in Verbindung gebracht. Er hält dafür, dass die vom Epigramm induzierte inhaltliche Pointe den Sonettschluss in einer Weise ›sicherte‹, dass eine Modifikation der Reimstellung »dem französischen Reimgebrauch entsprechend«

255 der Quartette am bruchlosesten durch einen Paarreim am Beginn der Terzette fortgesetzt: A B B A A B B A C C D E E D . Das französische Sonettschema homogenisiert demnach das Erscheinungsbild des Sonetts, indem es den Gegensatz von Quartetten und Terzetten formal überspielt. Gerade dadurch aber brachte es sich in Gegensatz zur späteren romantischen Sonettauffassung, die diesen Gegensatz zum Wesensprinzip des Sonetts erklärte. Die von August Wilhelm Schlegel promovierte petrarkische Variante der Reimseparierung in den Terzetten (C D E C D E ) musste hier auf Unverständnis stoßen, wo schon die drei unterschiedlichen Reime kommentarbedürftig erschienen. Man kann also über die immer wieder konstatierte französische Bevorzugung von Paarreimen hinaus feststellen, dass der Reimbau des Marot-Sonetts weitgehend den Konventionen der Epigrammdichtung angeglichen ist, soweit jedenfalls, als dies die italienischen Vorschriften erlaubten. Diesem Befund entspricht im übrigen auch die weitere für Frankreich typische Reimordnung C C D E D E , die zum Schluss – vergleichbar zum dizain (A B A B B C C D C D ) – ein kreuzgereimtes Quartett D E D E bildet, die aber Sébillet hier nicht ausdrücklich nennt. Die Identifikation von Sonett und Epigramm und die Modifikation der Reimordnung, die parallel bei der Übernahme des Sonetts in die französische Literatur wirksam werden, lassen sich also aufeinander beziehen. Die französische Reimordnung kann so als ein wichtiger formaler Effekt der Epigrammatisierung des Sonetts angesehen werden. Dabei wirkt sich die Übernahme der Form in die neue Nationalsprache beschleunigend auf den Formenwandel aus, da offenbar bestimmte traditionelle Voraussetzungen verloren gehen. In gesteigerter Weise lässt sich dies noch für die Sonettrezeption in England konstatieren, die damit in den beschriebenen übergeordneten Zusammenhang eingerückt werden kann. Die formale Entwicklung des Sonetts in England stellt eine Weiterentwicklung der französischen Tendenzen dar, wobei deren Ergebnis, das sogenannte Spenser- oder Shakespeare-Sonett mit der Reimform A B A B C D C D E F E F G G als die im europäischen Rahmen konsequenteste Umsetzung der Epigrammatisierung des Sonetts gelten kann. Auf die Entwicklung dieser Form sei nur kurz eingegangen. Bei Sir Thomas Wyatt (1503–1542), der das Sonett in die englische Literatur einführt, werden die formalen Möglichkeiten sowohl der italienischen wie der französischen Vorbilder noch mit großer Variationsbreite durchgeführt, es dominiert jedoch das Muster Petrarcas und die Form a b b a a b b a c d d c e e . Von Anbeginn realisiert dies den Abschluss des Sonetts auf einem couplet, der von keinem der bedeutenden englischen Sonettdichter mehr aufgegeben wird. Damit ist die deutliche Hervorhebung der epigrammatischen Pointenverse ein durchgängiges ——————— möglich wurde. Das scheint mir zu kompliziert gedacht. Die »klare und symmetrische Stellung« der Reime des sonnet régulier läßt sich vielmehr unmittelbar mit der EpigrammAssoziation in Verbindung bringen; Pflänzel, S. 18. Vgl. zur formalen Entwicklung des Epigramm-Sonetts auch Jasinski, S. 160–170; Angaben zur Verwendung bestimmter Reimschemata bei einzelnen Autoren auf S. 161.

256 Merkmal der englischen Sonettkunst im 16. Jahrhundert. Zugleich bewirkt die Fixierung auf den abschließenden Paarreim eine Schwächung der Untergliederung des Sextetts in Terzette und lässt vielmehr die vorangehenden Verse als Quartett hervortreten: c d d c e e . Die bevorzugte französische Form des im Sextett vorangestellten Paarreims c c d e e d ist damit umgekehrt worden im Dienst einer deutlichen Akzentuierung der epigrammatischen Pointe. Die genuine Variante des englischen Sonetts wird von Henry Howard, dem Earl of Surrey (1517?–1547) eingeführt und kann deshalb auch als SurreySonett bezeichnet werden. In der Konsequenz der Hervorhebung des finalen couplets vollzieht es eine entschiedene Lockerung der Reimregeln für die Quartette und gliedert das Sonett homogen in drei kreuzgereimte Quartette und das abschließende couplet: a b a b c d c d e f e f g g . Damit sind alle artifiziellen Restriktionen der Sonettform aufgegeben und es ist eine konsequente Modernisierung der Form im Sinne des Epigramms vollzogen. Die Durchsetzung dieser Form fand allerdings nicht unmittelbar statt. Die nachfolgenden Sonettisten experimentierten vielmehr weiter mit den unterschiedlichen Vorlagen. So arbeitet Sir Philip Sidney (1554–1586) in seinem 1581 bis 1583 entstandenen und 1591 erschienenen Zyklus Astrophel and Stella, der den Anschluss an die petrarkistische Tradition darstellt, mit einem größeren Arsenal von Reimschemata, so in den beiden Quartetten sowohl mit umschlingendem wie mit Kreuzreim und mit Varianten wie a b a b b a b a , wobei allerdings der umschlingende Reim bei weitem überwiegt. Für die Terzette verwendet er auch die französische Variante c c d e e d (z.B. Nr. 3, 6, 15), weitaus überwiegend aber ein kreuzgereimtes Quartett mit abschließendem couplet: c d c d e e und als Variante dazu c d d c e e . Die mit Abstand beliebteste Sonettform Sidneys in Astrophel and Stella ist demnach a b b a a b b a c d c d e e , eine Kombination also von strengem Quartettschema und epigrammatisiertem Sextett, und zwar in 59 von 108 Sonetten.135 Auch Edmund Spenser (1552–1599) pflegt in seinen 1595 erschienenen Amoretti eine Art Übergangsform, nämlich a b a b b c b c c d c d e e . Diese ist durch die gleichförmigen Kreuzreime in drei Quartetten, den Verzicht auf die Durchreimung der beiden Anfangsquartette und das Schlusscouplet stark der Surrey-Strophe angenähert. Die Verkettung der Quartette reduziert dieser gegenüber jedoch die Anzahl der Reime und gibt sich somit etwas strenger. Eine Affinität zeigt die Form zu den oben diskutierten französischen Epigrammvarianten, so zum huitain (a b a b b c b c ) und zum douzain (a b a b b c b c c d c d ). Vor Spenser verwendet der etwas jüngere Samuel Daniel (1562?–1619) bereits 1592 in seiner Delia durchgängig die Surrey-Strophe, worin auch Shakespeare folgt. Es ergibt sich somit im elisabethanischen England eine klare Tendenz zu einem freier gebauten und im wesentlichen epigrammatisch akzentuierten Sonett, das die überkommenen Reimrestriktionen der italienischen Vorbil-

——————— 135

Auszählung nach Julius Walter Lever: The Elizabethan Love Sonnet. London 1956, S. 89.

257 der vor allem in den Quartetten Schritt um Schritt abbaut und schließlich konsequent aufgibt.136 Eine weitere vieldiskutierte Modifikation im französischen Sonett lässt sich dem Topos der Epigrammatisierung weniger eindeutig zuordnen, weshalb sie hier nur kurz gestreift werden soll. Der Übergang vom traditionellen Zehnsilbler zum Alexandriner als dem bevorzugten Vers der Sonettdichtung erfolgt historisch erst zu einem späteren Zeitpunkt der französischen Rezeption der Gattung, nämlich im Umfeld der Pléïade. Er vollzieht sich hier beinahe schlagartig und mit programmatischem Charakter, bezeichnet allerdings geradezu eine Zäsur zur vorangegangenen marotistisch-epigrammatischen Sonettdichtung. Wo also die Reimstellung des sonnet régulier Kontinuität im Sinne einer nationalen Eigenart der französischen Sonettdichtung herstellte, markiert der Alexandriner eine Zäsur zur frühesten Tradition. Der Alexandriner taucht im Sonett um das Jahr 1555 in mehreren Werken der Pléïade-Dichter auf und setzt sich schnell als bevorzugter Sonettvers durch.137 Man muss dies im Zusammenhang mit der Rezeption des italienischen Bembismus und also des strengen Petrarkismus durch die Pléïade sehen. Standen die Bemühungen Pietro Bembos um das Sonett in Absetzung von der Epigrammatisierung im Zeichen einer Rückbesinnung auf Petrarca und einer Heroisierung der Stilhaltung,138 so wird diese Stilbehauptung im Kontext der französischen Auseinandersetzung durch den Alexandriner repräsentiert, der ein mittelalterlicher Epenvers war.139 Damit lässt sich die These verbinden, dass der Alexandriner vor dem Sonett Eingang in die frühe Tradition der Tragödie fand und als eine Nachbildung des jambischen Trimeters der griechischen Tragödie zu verstehen sei.140 Insofern kann der Alexandriner im Sonett geradezu als eine stilistische Gegenbewegung gegen dessen Epigrammatisierung erscheinen.141 Es bleibt noch darauf hinzuweisen, dass neben den Entsprechungen für den endecasillabo durch Zehn- und Zwölfsilbler im Lauf des 16. Jahrhunderts auch der Achtsilbler als genuiner Sonettvers zugelassen wurde.142 Als antike Entsprechung konnte hier der kurze Vers der Anakreontiker gelten, doch wird zugleich ——————— 136 137 138 139

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Colie: ›Small Forms‹, S. 68 und 75; auch Fowler, S. 183ff.; vgl. zur Entwicklung des Sonetts aus dem Epigramm außerdem Lever, S. 31, 45, 51f. Vgl. Rudolf Baehr: Einführung in die französische Verslehre. München 1970, S. 64–67; Wilhelm Theodor Elwert: Französische Metrik. München 1961, S. 122ff. Einschlägig dazu ist Noyer-Weidner. Jacques Peletier du Mans, der Poetiker aus dem Umfeld des Pléïade-Kreises, charakterisiert den Alexandriner in diesem Sinn ausdrücklich als heroischen Vers; Knud Togeby: Histoire de l’alexandrin français. In: Orbis Litterarum, suppl. 3 (1963) 240–266, hier: S. 262. Dies ist die These des einschlägigen Aufsatzes von Togeby. Damit kontrastiert die irreführende Aussage von Jasinski, der Alexandriner sei vor den Amours des Ronsard im Epigrammsonett aufgetaucht, weil er als ›prosaisch‹ gegolten habe und ihm hier weniger Widerstände entgegengebracht wurden; Jasinski, S. 162. Ronsard fordert allerdings gerade wegen der prosaischen Länge des Verses eine hohe Stilhaltung; Andreas Rosenbauer: Die poetischen Theorien der Plejade nach Ronsard und Dubellay. Erlangen, Leipzig 1895, S. 121f. Jasinski, S. 162–170.

258 die alte Präsenz des settenario im italienischen Sonett damit für Frankreich (und Deutschland) neu definiert.143 Für Deutschland wird die Orientierung am französischen – und als Zwischenträger am niederländischen – Vorbild auch für die Sonettdichtung stilbildend.144 Opitz macht den Alexandriner zum Hauptvers seiner Sonette, kennt aber auch Sonette in vers communs. Auch die Experimente mit daktylischen Versen erstrecken sich über das Sonett. Man muss allerdings sagen, dass mit Ausnahme des heroischen Charakters des Alexandriners die Versvarianten eine wenig signifikante Rolle im Zusammenhang mit der Epigrammatisierung des Sonetts spielen.

2.8

Graphie

Anders ist dies im Fall des Druckbilds der Sonette, ihrer ›Graphie‹.145 Obgleich sich hier markante Unterschiede innerhalb der Gattungsgeschichte ergeben, ist dieser Sachverhalt bislang praktisch nicht thematisiert worden.146 Wie keine andere lyrische Gattung ist das Sonett graphische Erscheinung, und wie die Analyse seiner Entstehung gezeigt hat, ist das nicht nur zufällig so. Das Sonett ist von Beginn an auch ein numerisch-geometrisches Gebilde, das sich als Gattung mehr als jedes andere Gedicht über seine Graphie identifizieren lässt. ——————— 143

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Vom sonetto anacreontico sprechen deshalb Welti und Fechner; Welti, S. 47; Fechner: Einführung, S. 25. Leighton will sich dagegen auf die Abkunft der vierhebig trochäischen Sonettform bei Paul Fleming, Sibylla Schwarz und anderen nicht festlegen; Leighton, S. 21. Als sonettus septenarius taucht ein reines Siebensilbler-Sonett bereits bei Antonio da Tempo auf, die Mischung von Elf- und Siebensilblern ist wie oben beschrieben seit Guittone gebräuchlich und sie wird noch von Trissino und Minturno beschrieben, ein reines sonetto settenario soll demnach ein Pantaleone da Rossano geschrieben haben, doch scheint es nicht überliefert und bildet wohl nur eine theoretische Größe; Biadene bezeichnet alle Sonette mit weniger als elf Silben als sonetti minori; Antonio da Tempo, S. 109– 113; Trissino, S. 104f.; Minturno: L’Arte poetica, S. 245f.; Biadene, S. 62–64. Bei der Verwendung des anakreontischen Kurzverses konnte man sich demnach auch auf italienische Muster von Sonetten in kurzen settenari berufen. Eine Sonderstellung nimmt Catharina Regina von Greiffenberg ein, die in dreiviertel ihrer Sonette einen Paarreim am Schluss bevorzugt. Darüberhinaus verwendet sie die französischen und die beiden ursprünglichen italienischen Varianten mit zwei und drei Reimen; vgl. für die Zahlen: Ruth Liwerski: Ein Beitrag zur Sonett-Ästhetik des Barock. Das Sonett der Catharina Regina von Greiffenberg. In: DVjS 49 (1975) 215–264, hier: S. 247. Der Begriff nach Peter Weinmann, der ihn als »die besondere optische Erscheinungsform des Textes, mit deren Hilfe der Text in den meisten Fällen bereits vor der eigentlichen Lektüre oder gleichzeitig mit ihr als Sonett erkannt werden kann und soll« bestimmt; Weinmann, S. 12. Das Fehlen von Untersuchungen zur Geschichte des Druckbilds von Lyrik zeigt sich in dem Abschnitt, den Dieter Burdorf dem ›Gedicht als Schrift‹ widmet. Er befasst sich nicht mit der Geschichte des Druckbilds der Lyrik, sondern bezieht sich ausschließlich auf ›graphische Ausdrucksformen‹ am Beispiel moderner Lyrik; Burdorf, S. 41–52. Vgl. aber auch Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000, bes. S. 119–211.

259 Gleichwohl ist diese Graphie des Sonetts historisch veränderlich und poetologisch signifikant. Um den geschichtlichen Wandel der graphischen Präsentation des Sonetts zu verdeutlichen, bietet sich ein kurzer Überblick über die historischen Varianten des Sonett-Druckbilds an. Im letzten Kapitel wurde bereits die ursprüngliche mittelalterliche Graphie der Sonette angesprochen, die die Form von Langzeilen annahm, bei denen in den piedi Verspaare durch Majuskeln oder Sonderzeichen markiert waren, in den volte dagegen Terzette. Abb. 13 zeigt dies graphisch.

Abb. 13: Mittelalterliche Sonett-Graphie in Langzeilen M

Nach Peter Weinmann taucht die motivierte graphische Markierung von Sonettquartetten in der Mitte der zweiten Hälfte des 14. JahrM hunderts auf (ca. 1375, vgl. Abb. 14).147 Die Markierung findet durch Punkte und vor M allem Majuskeln statt, die zur VerdeutliM chung herausgerückt werden können. Dies stellt eine Vorstufe der Graphie mit vorgeAbb. 14: Quartette und Terzette mit zogenen oder eingerückten Anfangszeilen Majuskeln (Ende 14. Jh.) zur Quartett- und Terzettmarkierung dar, wie man sie in der Folge sowohl in Italien als auch in Frankreich benutzt (Abb. 15). Schon Marot hält sich in dieser Hinsicht an das italienische Vorbild, obgleich er seine wenigen Sonette einfach den Epigrammen zuordnet und im Reimschema eigene Wege geht.148 Man kann also feststellen, dass in FrankAbb. 15: Italienische und französireich zwar eine neue Reimordnung entworsche Sonettgraphie fen wird, die die Untergliederung des Sonetts in Stollen überspielt und weniger prägnant erscheinen lässt und die es dadurch formal den Epigrammformen annähert, dass sich dies aber im Druckbild nicht spiegelt. Das ändert sich erst in England, wo die konsequente epigrammatische Anordnung von drei kreuzgereimten Quartetten und einem abschließenden ——————— 147

148

Für die frühe Sonettgraphie in den Handschriften bietet die an den Quellen orientierte Untersuchung von Peter Weinmann hervorragendes Material, Analysen sowie zahlreiche Abbildungen: Weinmann, Zusammenfassung S. 209f. Beispiele in den Epigrammbüchern sind Nr. LXXI, LXXVII oder XIX : Marot, Bd. II, S. 280, 283f. und 297f.

260 paargereimten couplet auch graphisch deutlich markiert wird (Abb. 16). Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf der Quartetteinteilung als auf der Betonung des couplets, das durch Einzug klar hervorgehoben ist. Man kann diese englische Sonettgraphie als die konsequente graphische Repräsentation eines Epigrammsonetts auffassen. Abb. 16: Englische Sonettgraphie Es gibt Übergangserscheinungen, die die Ratio dieser Graphie etwas deutlicher machen. So markiert Philip Sidney seine sehr unterschiedlichen Reimschemata (siehe oben, S. 256), indem er bei kreuzgereimten Quartetten A B A B lediglich die erste Zeile einzieht, während er bei umschlingendem Reim A B B A und bei Paarreimen die Reimpaare einzieht, was zu einer sehr wechselhaften Graphie führt Abb. 17: Sir Philip Sidney: (Abb. 17).149 Im Vordergrund steht dabei nicht Astrophel & Stella, 35 mehr die Quartettmarkierung, sondern die Hervorhebung der wechselnden Reimordnung. Bezieht man dieses Prinzip auf die Surreybzw. Shakespeare-Strophe, die sich schließlich durchsetzt, so resultiert daraus unmittelbar die Graphie in Abb. 16. In Deutschland finden sich verschiedene Traditionen der Sonett-Graphie, doch dominiert im 17. Jahrhundert ein Prinzip der Reim- Abb. 18: Metrisch orientierte markierung, das schon die frühen Sonette ›deutsche‹ Sonettgraphie Johann Fischarts von 1575 aufwiesen. Die Graphie verwendet hier für jeden Reim abwechselnde Zeileneinzüge. Dies führt wie bei den englischen Beispielen zu einer deutlichen Abbildung der Reimpaare in der Graphie. Bei alternierendem Reimgeschlecht nach französischem Vorbild sind jeweils die kürzeren Verse mit männlichem Versschluss eingezogen. Auch hier erscheinen Paarreime einander zugeordnet, so dass die Unterteilung des Sonetts in Quartette und Terzette graphisch unkenntlich wird. Im Fall der Reimordnung des beliebten sonnet régulier etwa ergibt sich ein sehr homogener, zugleich aber monolithischer Eindruck der Sonettstrophe (Abb. 18). Terminologisch kann man dies als metrisch orientierte Graphie im Gegensatz zur stollenorientierten Sonettgraphie der italienischen Tradition bezeichnen. Zur Bedeutung und Herkunft der metrischen Sonettgraphie in Deutschland gibt es bislang keine Untersuchungen. Möglicherweise spielen Einflüsse der ——————— 149

Leicht zugänglich in: Elizabethan Sonnet Sequences. Hg. von Herbert Grabes. Tübingen 1970, für Sidney: S. 1–63.

261 neulateinischen Dichtungstradition eine Rolle. Die lateinische Lyrik kannte den Einzug metrisch abweichender Verse etwa in Oden und Elegien. Der Wechsel von vorgezogenen und eingezogenen Zeilen vermittelt den elegischen Distichen ihr charakteristisches Druckbild. Ebenso sind die Elegien des Daniel Heinsius und deren Adaptionen bei Opitz gesetzt.150 Auch in alkäischen Odenstrophen der Neulateiner werden die kürzeren dritten und vierten Verse durch Einzug markiert. So haben Oden von Paulus Schede Melissus jeweils zwei vorgezogene und zwei eingezogene Verse.151 Dies entspricht zugleich der graphischen Anordnung deutscher Paarreime im 16. Jahrhundert. Die Parallele zur Sonettgraphie wird besonders deutlich bei Johann Fischart. Die Paarreimverse seiner Gedichte sind jeweils paarig alternierend eingezogen. Zugleich ist Fischart der erste nennenswerte Sonettdichter in Deutschland. Seine Sonette von 1575 setzt er in gleicher Weise mit Verseinzug der Paarreime. Bei Fischart sind die Sonette folglich den deutschen Paarreimen angeglichen und zeigen eine diesen sehr verwandte, metrisch orientierte Graphie.152 Die Generation nach Opitz wird diese gleichsam ›altdeutsche‹ Graphie wiedereinführen. Sie dominiert in der Folge das deutsche Barocksonett im 17. Jahrhundert. Zunächst allerdings gelangte die klassische romanische Sonettgraphie nach Deutschland. Bereits Schede Melissus setzt das Sonett in französischer Manier, und dies gilt ebenso für Weckherlin und Opitz. Schon früh gibt es für das Sonett in Deutschland also eine doppelte typographische Tradition. In den Gedichtausgaben von Weckherlin ist zusätzlich zu den vorgezogenen Anfangszeilen der Sonettabschnitte sogar eine Absetzung von Quartetten und Terzetten zu beobachten.153 In den von Martin Opitz nicht autorisierten Teutschen Poemata sind dessen Sonette unsorgfältig gesetzt, dabei ist die Graphie in der Regel metrisch, also auf ›deutsche‹ Art gestaltet. Die von ihm selbst besorgten Acht Bücher Deutscher Poematum und die späteren Ausgaben bringen seine Sonette dann jedoch konsequent in französischer Graphie. Dies ist offenbar Ausdruck des späthumanistischen, an Frankreich orientierten Programms der poetischen Reform. Durch Verseinzug wird hier die Quartett- und Terzettstruktur des Sonetts betont. Es gibt mithin in Deutschland eine ›romanische‹ Tradition der typographischen Sonettgestaltung. Diese bleibt formal unabhängig von dem anderen Merkmal lyrischer Orientierung an der Romania, der silbenzählenden Metrik,

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153

Heinsius, S. 20ff. und öfter. Paulus Schede Melissus: Melicorum liber primus (Lyrische Gedichte). In: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Hg. Kühlmann 1997, S. 764–802, hier: S. 770–779. Johann Fischart: Werke. Eine Auswahl. Hg. von Adolf Hauffen. Bd. 1, Stuttgart [1895], Paarreime: S. 4–398, Sonette: S. 399–402, auch bei Aurnhammer: Johann Fischarts Spottsonette, S. 155–158. Vgl. dazu das Beispiel unten, S. 303: Quartette und Terzette sind in der Ausgabe von 1641 ganz leicht voneinander abgesetzt. 1648 ist diese Absetzung noch verstärkt und eindeutig erkennbar: Weckherlin: Gaistliche und Weltliche Gedichte (1641); Weckherlin: Gaistliche und Weltliche Gedichte (1648).

262 wie sie im 16. Jahrhundert und für Melissus oder den voropitzianischen Weckherlin charakteristisch ist, der Opitz aber das Ende bereitet.154 Der romanischen Sonettgraphie folgen die frühen, späthumanistisch geprägten Autoren, die sich unmittelbar in die romanische Tradition stellen: Melissus, Weckherlin, Opitz, Fleming, Sibylla Schwarz, aber auch Catharina Regina von Greiffenberg. Jüngere Autoren dagegen greifen offenbar bewusst auf die ältere ›deutsche‹ Graphie zurück, die womöglich geläufiger war, die aber offenbar auch eine ›barocke‹ Abgrenzung markierte: Andreas Gryphius, Zesen, Kuhlmann, Hoffmannswaldau setzen ihre Sonette in deutscher, an der Reimstruktur orientierter Manier. Deren blockartige Optik geht mit ihrer zunehmend epigrammatischen Struktur unmittelbar einher. Der Wandel der Sonettgraphie in den europäischen Literaturen des 16. und 17. Jahrhunderts wird möglich vor dem Hintergrund der Schwächung seiner überkommenen Poetik und seiner gezielten Konfrontation mit den antiken und volkssprachigen Gattungstraditionen. Dies führt zu einem zunehmenden Überspielen der Binnengliederung der Sonettstrophe zugunsten einer Homogenisierung der Reimordnung und entsprechend auch des Druckbilds. In diesem Sinn kann man die metrisch orientierte Graphie des Sonetts in England und in Deutschland als einen weiteren markanten Ausdruck der Epigrammatisierung des Sonetts auffassen.

2.9

Sonettmusik und das Sonett als Ode

Einen Sonderfall der frühneuzeitlichen Sonettgeschichte bildet die Vertonung von Sonetten im Rahmen der Chanson- und Madrigalmusik und einige poetologische Erörterungen, die im Zusammenhang damit gesehen werden können. Es wurde oben (S. 228) bereits darauf hingewiesen, dass Sonette einen nennenswerten Anteil an der Blüte der Madrigalmusik im 16. Jahrhundert haben. Es handelt sich dabei um eine medial gegenläufige Tendenz zur Epigrammatisierung, die in ihrer performativen sozialen Funktionalität mit dieser dennoch vergleichbar ist. Die Vokalmusik eröffnet der Dichtung ebenfalls wirkungsvolle Aufführungsformen im Kontext der höfischen Repräsentationskultur. Vor allem Pierre de Ronsard sah seine Dichtungen gezielt für die musikalische Umsetzung vor. Seine Bestrebungen bezogen sich auf das Vorbild der griechischen Lyrik, auf die mittelalterliche volkstümliche chanson-Tradition und die Entwicklungen der Renaissancemusik.155 Auf die Notwendigkeit der Verbindung von Poesie und Musik weist er in seiner Art poétique von 1565

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Vgl. dazu im Detail Christian Wagenknecht: Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie. München 1971. Henri Weber, Catherine Weber: Introduction. In: Ronsard: Les Amours, S. I–LXIX, hier: S. LXIV.

263 ausdrücklich hin.156 Die Editio Princeps der Amours von 1552 enthielt eine musikalische Beigabe, in der bekannte Komponisten – Pierre Certon, Clément Janequin, Claude Goudimel – sechs Sonette in Musik setzten; dazu kam eine Liste des Herausgebers mit jenen Sonetten der Sammlung, die zu den jeweiligen Melodien gesungen werden konnten.157 Man hat schon früh darauf hingewiesen, dass die strenge Reglementierung des Sonettschemas bei Ronsard, also die Reduzierung der Zahl der möglichen Reimschemata und vor allem die Alternation des Reimgeschlechts, der besseren Adaptierbarkeit der Melodien diente.158 Wie stets bei Ronsard war sein Interesse an solchen Fragen aber wechselhaft, und so konzentrierten sich umgekehrt die Musiker auf jene Phasen seines Schaffens, in denen er die entsprechenden Regeln befolgt hatte. Vertonungen zu Ronsard-Sonetten erschienen etwa in den Jahren 1575–78 in großer Zahl, doch wurden dabei die Gedichtvorlagen der älteren Sammlungen von 1552/53 bevorzugt, während die Sonnets pour Hélène so gut wie nicht berücksichtigt wurden. Offenbar hielt man den Alexandriner für weniger geeignet und schätzte wohl auch den intimeren Konversationston der späteren Gedichte in geringerem Maß. Auch dies deutet auf den Zusammenhang von Sonettmusik und höfischer Repräsentation.159 War die gesangliche Präsentation von Sonetten auch gattungsgeschichtlich nicht angelegt, so gewann sie also einige Bedeutung, was von der Sonettforschung bislang kaum berücksichtigt wurde.160 Im Zusammenhang damit stehen auch einige poetologische Überlegungen zum liedhaften Charakter von Sonetten, die unter dem Einfluss der humanistischen Poetik zu einer Assoziation von Sonett und Ode führten. Dies spielt insgesamt nur eine Nebenrolle, hat aber beispielsweise zur Konzeption der Sonderform eines ›pindarischen‹ Sonetts beigetragen. Ein marginaler Hinweis auf die Verwandtschaft des Sonetts zur Ode findet sich bereits bei Joachim du Bellay:

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157 158 159 160

»La Poesie sans les instrumens, ou sans la grace d’une seule ou plusieurs voix, n’est nullement aggreable, non plus que les instrumens sans estre animez de la melodie d’une plaisante voix.« P. de Ronsard: Art poétique, zit. nach: Weber/Weber: Introduction, S. LXIV. Weber/Weber: Introduction, S. LXIVf.; Heinz Willi Wittschier: Die Lyrik der Pléiade. Frankfurt a.M. 1971, S. 91. Vianey, S. 89; Weber/Weber: Introduction, S. LXV. Weber/Weber: Introduction, S. LXVI. Auszunehmen ist Mönch, der einen kurzen Abriß der europäischen Sonettmusik bietet: Das Sonett, S. 82–90; W. Mönch: Der Dichter und sein Komponist. Ronsard und Goudimel. In: Romania Cantat. Lieder in alten und neuen Chorsätzen mit sprachlichen und musikwissenschaftlichen Interpretationen. Hg. von Gerhard R. Rohlfs. Tübingen 1980, S. 455–465. Zeitgenössische Vertonungen von Ronsard-Sonetten sind im übrigen heute auf dem Tonträgermarkt in zahlreichen Einspielungen vorhanden.

264 Sonne-moi ces beaux sonnets, non moins docte que plaisante invention italienne, conforme de nom à l’ode, et différente d’elle seulement pour ce que le sonnet a certains vers réglés et 161 limités, et l’ode peut courir par toutes manières de vers librement, [...].

Werden hier vor allem die formalen Differenzen festgehalten, so spielt die Verwandtschaft zur Liedtradition eine größere Rolle in der Kritik am Bezug des Sonetts auf das Epigramm, die vor allem von italienischen Poetikern formuliert wurde. So argumentiert Minturno 1564 gegen den Bezug des Sonetts auf das Epigramm, wobei er vornehmlich stilistische und thematische Gründe ins Feld führt. Das Sonett bleibt für ihn in jedem Fall stärker auf die Tradition der Kanzone bezogen (vgl. oben, Seite 217).162 Dass bei der Einordnung des Sonetts in das klassische Gattungssystem neben dem Epigramm auch die Ode in Erwägung gezogen wurde, ist im Zuge dieser Argumentation zu sehen. Eine ausführliche Diskussion dieser Frage findet sich in einer Abhandlung Philipp von Zesens im Anhang des ersten Teils seines Deutschen Helicon, der Erörterung Der bißher streitigen Frage / Ob in den Sonneten die meinung sich je und allwege mit dem achten Verse enden / oder ob sie sich in folgende sechs letzten Verse erstrecken solle?163 Zesen erörtert die Frage durchaus vor dem praktischen Hintergrund, wie das Sonett sangbar gemacht werden könne. Für ihn steht die Asymmetrie seiner Form und sein nichtstrophischer Charakter einer musikalischen Anverwandlung entgegen. Entsprechend schwierig ist die Abbildung des Sonetts auf das Konzept der Ode. Wollte man das Sonett als Ode auffassen, so »müste dasselbe sechtzehen verse haben«, wie Zesen treffend bemerkt, damit es vier gleichförmige Strophen ergäbe (245). Als Ausweg erscheint allein das Modell der pindarischen Ode, die mit ihrer Einteilung in Strophe, Antistrophe und Epode ebenfalls asymmetrisch angelegt ist. Auch dabei muss man allerdings vernachlässigen, dass die pindarische Ode metrisch und strophisch frei ist, während das Sonett fest reglementiert ist. Als pindarische Ode beziehungsweise pindarisches Sonett müsste man das eigentlich einstrophige Sonett demnach mehrstrophig auffassen, man müsste also »billich drey Strophen oder Gesätze daraus machen / also / dass ich das erste gesätze nach Art der pindarischen Oden einen Satz / das ander einen Gegensatz / das dritte einen Abgesang nennen möchte« (246). Eine solche Aufteilung des Sonetts legt eine Ähnlichkeit mit der alten Tradition des Dialogsonetts nahe, doch bleibt sie gänzlich anders motiviert und wird auch theoretisch nicht in Anspruch genommen. Die pindarischen Sonette, in denen also jedes Quartett einen ›Satz‹ und das Sextett den ›Abgesang‹ bildet, haben im Anschluss an

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162 163

Joachim Du Bellay: Défense et illustration de la langue française. Oeuvres poétiques diverses. Hg. von Yvonne Wendel-Bellenger. Paris 1987, II,4, S. 88–90; vgl. Behrens, S. 108. Minturno: L’arte poetica, S. 240–242; Fowler, S. 183. Philipp von Zesen: Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen. Bd. 9: Deutscher Helicon (1641). Berlin, New York 1971, S. 243–250.

265 Zesen eine begrenzte Nachfolge vor allem in den Poetiken erlebt, was Joseph Leighton verfolgt hat.164 Die Idee des pindarischen Sonetts entspringt dem Bemühen um eine musikalisch-sangbare Auffassung des Sonetts vor dem Hintergrund eines verbindlichen humanistischen Gattungsspektrums. Sie bildet damit eine Kehrseite der vorherrschenden Interpretation des Sonetts als Epigramm. Zesen selbst kommt bei der Beantwortung seiner Frage, ob man einen Einschnitt zwischen achtem und neuntem Vers beachten solle (von Quartetten und Terzetten ist bezeichnenderweise gar nicht die Rede), auf den Epigrammcharakter zu sprechen. Die Frage ist für ihn nämlich allein im Hinblick auf das Gattungsvorbild zu beantworten: kein Sinneinschnitt beim Epigrammsonett, Sinneinschnitt dagegen beim Odensonett: Doch halte ich dafür / daß man sich allzeit daran nicht binden dörffe; sonderlich weil das Sonnet nur ein Epigramma oder überschrifft seyn soll / da es dann den Gesätzen und Regeln der Oden und Gesänge nicht unterworffen / in welchen mann sonderliche Strophen machen / und zwar in jede eine gantze vollkommene meinung bringen muß / wie droben 165 aus der letzten Abtheilung zu ersehen.

Ein solcher Gedankengang steht quer zur gesamten überlieferten mittelalterlichen und romantischen Sonettpoetik, zeigt jedoch prägnant die Tendenz des Epigrammsonetts zur Homogenisierung und Zusammenfügung der ihrer Herkunft nach separaten Bausteine des Sonetts.166

2.10

Das Epigrammsonett als Gattungstopos

Im Rahmen einer Gattungstopik des Sonetts kommt dem Paradigma des Epigrammsonetts eine beispielgebende Rolle zu. Zahlreiche Modifikationen der ——————— 164

165

166

Ein Beispiel gibt Zesen selbst: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 247; Leighton verweist ferner auf die Poetik von Johann Heinrich Hadewig: Kurtze und richtige Anleitung, Wie in unser Teutschen Muttersprache Ein Teutsches Getichte zierlich und ohne Fehler könne verfertiget werden. Rinteln 1650, S. 120, auf Martin Kempes Anmerkungen zu Georg Neumarks Poetischen Tafeln, Neumark: Poetische Tafeln, oder grundliche Anweisung zur Teutschen Verskunst. Jena 1667, S. 246f., wobei Kempe die Form wohl besonders schätzte, und schließlich auf Johann Christoph Gottsched: Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Leipzig 1760, Sp. 1502. Vgl. dazu insgesamt Leighton, S. 24–26; aufschlussreich ist auch Mönchs gattungsdogmatisch harsche Zurückweisung der Konzeption: Mönch: Das Sonett, S. 150f.; vgl. auch unten: S. 363ff. Philipp von Zesen: Erörterung Der bißher streitigen Frage / Ob in den Sonetten die meinung sich je und allwege mit dem achten Verse enden / oder ob sie sich in folgende sechs letzten Verse erstrecken solle? In: Zesen: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 243–250, hier: S. 245. Dies kommt in der Empörung von Mönch beispielhaft zum Ausdruck, wenn er mit Urteilen wie »sinnloses Ornament von Wörtern« und »hohles Geklingel ohne Musik« arbeitet und die theoretischen Erörterungen Zesens als »belanglos« bezeichnet und sie »scheitern« sieht, weil sie sich in ihrer Orientierung am Epigramm »gegen das Gesetz der inneren Sonettform« auflehnten; Mönch: Das Sonett, S. 150.

266 Sonettpoetik, die sich zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert durchsetzten, widersprechen Gattungsmerkmalen, die sowohl für das klassische italienische Sonett als auch für das daran orientierte spätere romantische und moderne Sonett als wesentlich galten. Dies hat dazu geführt, dass man die Entwicklung der Epigrammatisierung des Sonetts nicht selten für ganz und gar ›unsonettistisch‹ gehalten hat, so dass man sie in letzter Konsequenz aus der Gattungsgeschichte hinausdefinierte.167 Macht man nun gattungstheoretisch Ernst mit der Einsicht, dass von überhistorisch konstanten Gattungsmerkmalen bei historischen Gattungen schlechterdings nicht ausgegangen werden kann, so sind auch Modifikationen, die sehr weitgehend in ein überkommendes Gattungsprofil eingreifen, in ihrem historischen Recht zu beachten und als eigenständiger Topos einer Gattungsgeschichte zu behandeln. In diesem Sinn liefert das Konzept der Gattungstopik das theoretische Rüstzeug, um dem frühneuzeitlichen Epigrammsonett seine historische Dignität auch und gerade im Kontext der Gattungsgeschichte des Sonetts zu sichern. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass einige der bedeutendsten Sonettdichter nach den Maßgaben des epigrammatisch verstandenen Sonetts geschrieben haben – man denke an Ronsard, Shakespeare oder Gryphius – ist eine entsprechende, auch gattungstheoretisch gedeckte Konzeption unumgänglich. Schwieriger scheint die Frage, wie man derart heterogene Entwicklungen, die über einen längeren Zeitraum und über mehrere Nationalliteraturen hinweg zu verfolgen sind, überhaupt als einheitliche beschreiben will. Dazu bietet die Konzeption des Epigrammsonetts ein mögliches Modell, das ein wirkungsmächtiges Paradigma der Sonettpoetik der Frühen Neuzeit zum Ausgangspunkt einer topischen Beschreibung unterschiedlicher Entwicklungen nimmt. Die Konzeption ist schlüssig, wo sie verschiedene Phänomene, die sonst als mehr oder weniger zufälliger Ausdruck der historischen Entwicklung erscheinen, unter einen gemeinsamen Fokus stellen kann. Dies ist im vorliegenden Kapitel versucht worden, indem dem Paradigma des Epigrammsonetts Phänomene auf unterschiedlichen Ebenen der Gattungsentwicklung zugeordnet wurden. Bereits im Blick auf die Medialität sind signifikante Verschiebungen zu erkennen, da das Sonett sich im Zeichen des Epigramms zu einem materialen Schriftobjekt verwandeln kann, das sowohl bestimmte Konnotationen wie die Dauerhaftigkeit und Dignität der Schrift symbolhaft zu transportieren als auch konkrete gesellschaftliche Präsenz beispielsweise in höfisch-repräsentativen oder städtisch-bürgerlichen Kontexten herzustellen vermag. Dabei können sich mehrere mediale Präsentationsformen nebeneinander entwickeln, wie die Epigrammatisch-inschriftliche und die musikalisch-situative Präsentation von Sonetten der Zeit zeigt. Die weitgreifenden Wandlungen des Gattungskonzepts lassen sich schlüssig nur in einem größeren sozial- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang moti——————— 167

Vor Mönch spricht schon Welti, S. 45 und 47, vom »verderbliche[n] Einfluß jener verkehrten Theorie, welche das Sonett zu einem modernen Epigramm machte« und von »der gänzlichen Entartung des poetischen Geschmackes«, die damit einherging.

267 vieren, die die einzelnen Aspekte medialer, formaler und thematischer Natur in Beziehung zu setzen erlaubt. Hier ist die Epigrammatisierung des Sonetts in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Entfaltung einer rhetorisch fundierten gesellschaftlichen Gebrauchsdichtung im Rahmen der dynamischen Entwicklung vor allem der höfischen und städtisch-urbanen Kulturräume zu deuten. Die Epigrammatisierung des Sonetts fällt zusammen mit der umfassenden Rhetorisierung der Poesie und mit der Blüte der frühneuzeitlichen Kasualdichtung auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. Für die Sonettpoetik besonders interessant sind die formalen Entwicklungen, die mit der paradigmatischen Verschiebung der Gattungskonzeption einhergehen. Man kann zahlreiche sehr heterogene Phänomene im Zusammenhang einer gattungstopischen Konzeption motivieren. Dies geschah im vorliegenden Fall vor allem hinsichtlich der Veränderung der Reimschemata bei der Übernahme des Sonetts in andere Nationalliteraturen. In gewisser Weise damit verbunden ist die Veränderung der druckgraphischen Präsentation von Sonetten in den unterschiedlichen Literaturen, die bislang noch keinen Eingang in die Gattungsgeschichtsschreibung gefunden hat, obwohl sie doch ganz offensichtlich eng mit den poetologischen Voraussetzungen verknüpft ist. Zu den formalen Veränderungen zählen auch die Anordnungsprinzipien in Sammlungen, die neben dem petrarkistischen Canzoniere nun verstärkt nach dem Vorbild antiker Sammlungen verfahren. Es entstehen gattungshomogene Sonettbücher und auch anlassbezogene Sammlungen nach dem Muster der Silvae des Statius, nicht zuletzt aber auch zahlreiche Mischformen zwischen den hierarchischen, allegorischen und gattungsbezogenen Ordnungsverfahren. Mit der Anlassbezogenheit und der Orientierung an antiken Traditionen verbunden ist auch die Entwicklung der Sonettüberschriften, die zugleich Zeugnis von der massiven Ausweitung der Sonettstoffe gibt. Mit den formalen und thematischen Verschiebungen einher geht auch die stilistische und gattungshierarchische Einschätzung des Sonetts. Mit dem Epigramm orientiert es sich an einer lyrischen Kleinstform mit häufig satirischer Funktion, die sich durch eine eigentümlich pointierte Struktur auszeichnet. Als argutia-Ästhetik gewinnt diese wirkungsbezogene Ausrichtung nicht nur Einfluss auf das Sonett, sondern zunehmend auf die ästhetischen Grundanschauungen der Zeit. Im Epochen- und Stilbegriff des Barocken hat man lange Zeit diese ästhetische Tendenz zu fassen versucht, die über die Poetik des Epigramms aufs engste mit der Gattung des Sonetts verknüpft ist. Inwiefern lässt sich nun ein Konzept wie das des Epigrammsonetts historisch abgrenzen? Zunächst ist es klar, dass man nicht von scharfen historischen Grenzlinien ausgehen kann, sondern dass wie immer im Fall historischtypologischer Begriffe mit Mischformen und Überlagerungen historischer Tendenzen zu rechnen ist. Bestimmt ist das Konzept des Epigrammsonetts durch den expliziten poetologischen Bezug der Sonettform auf das Epigramm und durch die damit verbundene Überkreuzung von Gattungsmerkmalen beider Formen. Der poetologische Bezug ist im 16. und 17. Jahrhundert als ein dominantes Konzept der Sonettpoetik breit nachzuweisen und präzise zu beschreiben. Die damit in Verbindung zu bringenden Veränderungen der Sonettdichtung

268 selbst sind in diesem Kapitel als ein Katalog von Merkmalen vorgestellt worden, deren stärkeres oder weniger starkes Vorhandensein man bei der Textanalyse als Indikation für die Wirksamkeit der Epigrammkonzeption für das jeweilige Sonett ansehen kann. Die Dominanz und die Breite dieser Wirksamkeit bildet das Fundament für die Rede von einem historischen Gattungstopos des Epigrammsonetts vor allem im 16. und 17. Jahrhundert.

3

Topik des deutschen Petrarkismus

3.1

Zum Begriff des Petrarkismus

Unter der Vorgabe einer Gattungstopik, die über rein formale Gesichtspunkte des Sonetts hinausgreift und relevante kulturgeschichtliche Merkmale auf verschiedenen analytischen Ebenen einbezieht, rückt das Phänomen des Petrarkismus ins Zentrum der Fragestellung. Versteht man unter Petrarkismus vorläufig einmal die Nachahmung des Canzoniere Petrarcas im Zeichen einer normativen imitatio-Poetik, so wird die Verbindung zur Sonettgattung unmittelbar deutlich. Der Petrarkismus hat seine Gattungsheimat ganz eindeutig im Sonett beziehungsweise im Sonettzyklus.1 Umgekehrt gilt auch, dass der mit der Sonettform aufs engste verknüpfte Diskurs über Jahrhunderte hinweg der petrarkistische Liebesdiskurs ist. Eine zusammenfassende Betrachtung von Form- und Diskursaspekten ist angezeigt, weil die Gattungsentwicklung intensiv von der Entwicklung des entsprechenden Diskurses beeinflusst wird. So sind typischerweise bestimmte Implikationen des Petrarkismus relevant für Fragen der Gattungswahl selbst, des Stils, der Thematik, der Einbindung in Zyklen und anderes mehr. Der Blickwechsel also zur Diskurstradition deckt nur aus anderer Sicht auf, was beispielsweise für die Assoziation des Sonetts mit dem Epigramm aufgezeigt wurde. Eine weitergehende Fragestellung wird gerade diese beiden Paradigmen aufeinander zu beziehen haben, da das petrarkistische und das epigrammatische Sonett historisch weitgehend parallel verlaufende Ausprägungen darstellen, die entsprechend stark aufeinander einwirken. In beiden Fällen handelt es sich um Phänomene des 16. und 17. Jahrhunderts. Nun gibt es zum Phänomen des Petrarkismus selbst eine vielschichtige theoretische Diskussion, während aus der Sicht der Sonettgattung auf petrarkistische Erscheinungen lediglich als auf ein Arsenal thematischer und stilistischer ——————— 1

Die Parallelität beider Entwicklungen beschreibt bereits Mönch. Während Hoffmeister das Verhältnis von Sonett und Petrarkismus noch als formalen und thematischen Petrarkismus zu separieren sucht, weist Warning darauf hin, dass petrarkistische Intertextualität das Gattungszitat des Sonetts voraussetzt. Schulz–Buschhaus bezeichnet das Sonett als Grundform des Canzoniere und des gesamten Petrarkismus; Mönch: Das Sonett, S. 67–73; Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik, S. 2; Schlütter: Sonett, S. 31–37; Rainer Warning: Petrarkistische Dialogizität am Beispiel Ronsards. In: Die Pluralität der Welten. Hg. Stempel/Stierle 1987, S. 327–358, hier: S. 333; Ulrich Schulz-Buschhaus: Spielarten des Antipetrarkismus bei Francesco Berni. In: Der petrarkistische Diskurs. Hg. Hempfer/Regn 1993, S. 281–332, hier: S. 324.

270 Merkmale eingegangen wird. So muss zunächst das Verhältnis des petrarkistischen Diskurses zur Gattung bestimmt werden. Dabei zeigt sich, dass der Begriff des Petrarkismus auf ein Konglomerat aus formalen, thematischen und stilistischen Merkmalen bezogen ist, das selbst analog zu einer Gattung aufgefasst werden kann.2 Im Sinne der oben getroffenen Unterscheidung lassen sich petrarkistische Elemente wie bei einer Gattung einerseits auf der Ebene der strukturellen Rekurrenzen von Texten finden und andererseits auf derjenigen des Metadiskurses der Poetik. Petrarkismus ist gekennzeichnet durch die Aktualisierung bestimmter Merkmale und Verfahren in Texten und zusätzlich durch eine ausdrückliche poetologische imitatio-Maxime. Wie bei Gattungen ist es auch hier angezeigt, das Doppel von Text und Metatext zugrundezulegen. Folgt man dieser Überlegung, so ergeben sich zwei sehr differente Arten von Petrarkismus. Zum einen kann man von einem Petrarkismus allein auf der Ebene der Textrekurrenzen sprechen. Merkmale des Petrarcaschen Canzoniere werden von nachfolgenden Werken aktualisiert, aufgegriffen, zitiert und verarbeitet. Petrarkismus in diesem Sinn ist rein intertextuell bestimmt und meint jedes motivierte Aufgreifen von Canzoniere-Elementen. Der Begriff ist ahistorisch verwendbar. So meint beispielsweise die Rede vom sogenannten primo petrarchismo des Quattrocento einen solchen intertextuellen Petrarkismus. Auch Petrarca-Anlehnungen in modernen Sonetten fielen jedoch unter den Begriff wie auch jede Inszenierung eines Petrarca-ähnlichen Liebesmodells in gleich welcher Gattung. Ich bezeichne dies als intertextuellen Petrarkismus oder besser noch: als Canzoniere-Intertextualität. Einen engeren Begriff von Petrarkismus erhält man, wenn man das metatextuelle Moment einbezieht. Dabei stellt sich die Frage, an welcher Stelle eine solche Selbstreflexion des Petrarkismus historisch stattfindet. Klaus W. Hempfer erkennt ein epochales Selbstverständnis petrarkistischen Dichtens in Ronsards Elegie A son livre und in Du Bellays A une Dame von 1552 mit dem Eröffnungsvers »J’ay oublié l’art de petrarquizer«.3 Hier wird jeweils in kritisch-distanzierender Weise auf den Petrarkismus Bezug genommen. Du Bellays Gedicht trug später sogar den Titel Contre les pétrarquistes. Damit sind Beispiele gewählt, die das Phänomen aus einer Position der Differenz heraus thematisieren, also gewissermaßen von außerhalb. Das motivierende Zentrum des poetologisch reflektierten engeren Petrarkismus des Cinquecento liegt dagegen nicht hier, wo der Begriff des ›Petrarkisierens‹ zum ersten Mal auftaucht, sondern es liegt in der systematischen Anwendung der imitatioKonzeption auf die volkssprachliche Dichtung. Erst mit der Nachahmungsempfehlung des Pietro Bembo, der für die volkssprachlichen Gattungen Musterautoren benannte, wurde der theoretisch reflektierte Petrarkismus auf den Weg ——————— 2

3

Auf diese Analogie verweist Klaus W. Hempfer: Probleme der Bestimmung des Petrarkismus. Überlegungen zum Forschungsstand. In: Die Pluralität der Welten. Hg. Stempel/ Stierle 1987, S. 253–277, hier: S. 258f. Hempfer: Probleme, S. 262ff.; Joachim Du Bellay: Œuvres poétiques. Hg. von Daniel Aris und Françoise Joukovsky. Bd. 1: Premiers recueils (1549–1553). Paris 1993, S. 170 und 353.

271 gebracht, der entsprechend als ›Bembismo‹ firmiert. Man kann dies als poetologischen Petrarkismus bestimmen. Die singuläre imitatio-Empfehlung eines einzigen Autors für die volkssprachliche Lyrik stellt eine Übertragung der humanistischen Diskussion um die Vorbildrolle Ciceros für den lateinischen Stil dar.4 Insofern lässt sich der Petrarkismus als der Ciceronianismus der volkssprachlichen Lyrik bezeichnen. Parallel zum Ciceronianismus durchläuft auch der Petrarkismus einen Weg der Pluralisierung, der von einer imitatorischen Orthodoxie zu einer mehr oder weniger reflektierten Eklektik der Nachahmung führt. Ein beabsichtigter Effekt der hier vorgeschlagenen Konzeption ist die theoretische Bindung des Petrarkismusbegriffs an die frühneuzeitliche imitatio-Poetik. Solange nämlich diese imitatorische Poetik im Grundsatz gültig bleibt, bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, so lange spielt auch das Phänomen des Petrarkismus als eines imitatorischen Paradigmas eine literarhistorisch gewichtige Rolle. Der Begriff erhält damit einen wohlbegründeten historischen Rahmen. Einen kritischen Überblick über die Forschungsdiskussion zum Petrarkismusbegriff geben Klaus W. Hempfer im genannten Aufsatz sowie einige neuere Handbuchartikel u.a. von Gerhard Regn.5 Man kann feststellen, dass in der frühen Forschung die weitgefasste Vorstellung der petrarkistischen Intertextualität den Sprachgebrauch beherrschte. Hier verband sich zunächst die von romantisch-modernen Vorstellungen von Originalität und Authentizität gespeiste normativ-kritische Abwertung des imitatorischen Aspekts – Hempfer zitiert Arturo Graf und Hugo Friedrich – mit einer Identifikation stilistischer und thematischer Merkmale: »Repetierende Routine, ja eine Art Fachsprache der Liebesthemen ist an die Stelle seelischer Wahrheit getreten. [...] Auffallende, manieristisch gehäufte Stilfiguren werden beliebt« (Hugo Friedrich).6 Wenn Gerhart Hoffmeister konstatiert: »Petrarkismus kann zunächst nicht anders als als direkte oder indirekte Nachahmung des Canzoniere in Form und Motivik gefaßt werden«, so zielt dies bündig auf den Petrarkismus als intertextuelles Phänomen.7 Hervorgehoben wurden »Konventionen, die sich aus Petrarcas Dichtung entwickelten«,8 bzw. die »Übernahme des Motivbestandes und typischer Stilfiguren«.9 Hoffmeisters Einführung zeigt deutlich diese Konzentration ——————— 4

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Francesco S.Z. Tateo u.a.: Ciceronianismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2 (1994) 225–247; vgl. auch Nicola Kaminski: Imitatio. Ebd., Bd. 4 (1998) 235–285; Barbara Bauer: Aemulatio. Ebd., Bd. 1 (1992) 141–187. Gerhard Regn: Petrarkismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6 (2003), Sp. 911–921; Vf: Petrarkismus. In: RLW, Bd. 3 (2003), Sp. 59–62; sowie Vf: Petrarkismus. In: Petrarca. 1304–1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca petrarchesca Reiner Speck. Hg. von Reiner Speck und Florian Neumann. Köln 2004, S. 127–151. Friedrich, zum Petrarkismus: S. 311ff., hier: S. 314. Gerhart Hoffmeister: Barocker Petrarkismus: Wandlungen und Möglichkeiten der Liebessprache in der Lyrik des 17. Jahrhunderts. In: Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Internationale Beiträge zum Problem von Überlieferung und Umgestaltung. G. Weydt in Verehrung. Hg. von G. Hoffmeister. Bern, München 1973, S. 37–53, hier: S. 38. Forster: Petrarcas Dichtweise, S. 9. Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik, S. 4; für das folgende: S. 25ff.

272 auf Motive und Stilzüge: Er bezieht sich auf eine antinomische erotische Situation, für die exemplarisch die verbreiteten Motivbereiche Liebeskrieg und Liebesschifffahrt genannt werden. Bezüglich der petrarkistischen Geliebten wird verwiesen auf die Verbindung von Schönheit und Feindschaft, für letzteres stehen die Bilder der Hartherzigkeit, für ersteres die Prädikate der synthetic lady: goldene, ›fesselnde‹ Haare, schwarze, ›sonnenhafte‹ Augen, ferner szenische Attribute wie das des Spiegels, des Schleiers, des Kamms oder des Handschuhs.10 Es folgen die stilistischen Merkmale des Petrarkismus: eine eigentümliche Formelhaftigkeit, vor allem aber ein zum Selbstzweck ausartender Antithesenstil (S. 28), Neigung zu Gliedhaftigkeit, zum Summationsschema, etc. Auffällig ist die Tatsache, dass der petrarkistische Stilprospekt sich bis zur Ununterscheidbarkeit mit dem des Manieristischen bzw. ›Barocken‹ deckt.11 Es wird sich zeigen, dass diese Verwandtschaft weniger mit dem Petrarkismus selbst als mit den Tendenzen zur Epigrammatisierung und zur Rhetorisierung zu tun hat, denen auch der Petrarkismus unterworfen ist. Das intertextuelle Moment des Petrarkismus ist von einer eher amorphen Konsistenz, das heißt, es hat vorab keinen systemhaften Charakter, es ist von punktueller Natur und lässt sich kaum begrenzen, da es keine fixierten Rahmenbedingungen kennt. Intertextuelle Bezüge zum Canzoniere können in jeder historisch späteren Zeit beliebig punktuell, heterogen und in beliebigen Kontexten hergestellt werden und sie werden in diesem Sinn jeweils einen ›petrarkisierenden‹ Effekt haben. Dazu kommt, dass der Canzoniere selbst in intertextuelle Traditionen eingebettet ist. So stellt das Liebesmodell Petrarcas eine bestimmte Ausprägung des umfassenderen mittelalterlichen Minnemodells dar, mit dem die Sonettgattung von Beginn an verknüpft ist. Intertextueller Petrarkismus im Sinne von Canzoniere-Intertextualität sollte deshalb als ein möglichst offener Begriff die Gesamtheit intertextueller Bezüge auf das lyrische Werk Petrarcas umgreifen. Als ein historisch neutraler Begriff lässt er sich differenzieren nach Maßgabe der Differenzierungen des allgemeinen Intertextualitätsbegriffs. Der Begriff lässt sich gebrauchen, um in jeder historisch späteren Zeit Petrarca- und Petrarkismus-Bezüge in Texten zu markieren. Der Petrarkismus als ein bestimmtes literarhistorisches Phänomen vor allem des 16. Jahrhunderts bleibt mit einem solchen Begriff unterbestimmt. Im Gegenzug dazu hat deshalb Klaus W. Hempfer eine systemtheoretisch präzisier——————— 10

11

Vgl. Forster: Petrarcas Dichtweise, S. 14f.; über die daran anknüpfende Preziosen-Motivik bei den Petrarkisten: Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963, S. 173–178; Kurt Wölfel: Die Kostbarkeiten der Geliebten. Über Pretiosenmotivik in der Liebeslyrik des 17. Jahrhunderts. In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. Hg. von Rüdiger Krohn. München 1983, S. 209– 231; vgl. zum petrarkistischen Schönheitsideal auch Jörg Jochen Berns: Die demontierte Dame. Zum Verhältnis von malerischer und literarischer Porträttechnik im 17. Jahrhundert. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Norbert Honsza und Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988, S. 67–96. Vgl. den Merkmalskatalog, den Ernst Robert Curtius aufführt: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 61967, S. 286ff.

273 te Verwendung des von Hans Pyritz ins Spiel gebrachten Begriffs des ›petrarkistischen Systems‹ vorgeschlagen.12 Eine solche Bestimmung müsse über die bloße Aufzählung allgemeiner rhetorischer Verfahren hinausgehen, um für den historischen Petrarkismus wirklich distinktiv zu werden (259). Hempfer unternimmt es nun im Anschluss an die vorangegangene Forschungsdiskussion, das System an eine Dominante zu binden, die er an der von Petrarca selbst apostrophierten Liebeskonzeption der dolendi voluptas quaedam festmacht, der antinomischen Schmerzliebe, also der inneren »Zustimmung zu den funesta cum voluptate genossenen Qualen der Liebe«.13 Wohlgemerkt meint dies nicht die Antinomie als Stilelement, sondern als konzeptionelles Element einer spezifischen Liebesauffassung. Eng zugehörig ist dieser Konzeption das Motiv der ›Unerreichbarkeit der Dame‹. Jede ›Erfüllung‹ einer solchen Liebe etwa nach dem Muster antiker erotischer Dichtung wäre demnach als systemüberschreitend und somit als nicht mehr petrarkistisch zu bestimmen. Entscheidend an dieser Neuformulierung des Petrarkismusbegriffs ist die Ergänzung der rein äußerlich-formalen und historisch neutralen Auflistung von Stil- und Motivmerkmalen durch ein Systemkonzept, das ideologische Implikationen und diskursive Kontexte einzubegreifen sucht. Dies fördert die semantische Tiefendimension der petrarkistischen Liebesdiskurse zu Tage und fordert die je bestimmte historisch-ideologische Anbindung der stil- und motivgeschichtlichen Beschreibungen. Aus der Bindung des Petrarkismusbegriffs an eine bestimmte semantische Konzeption folgt gewissermaßen zwingend die engere historische Eingrenzung des anvisierten Begriffs. Eine solche Eingrenzung hat Gerhard Regn in seiner wegweisenden Arbeit zum Petrarkismus bei Torquato Tasso vorgenommen.14 Dabei gewinnt seine zusammenfassende Darstellung der Merkmale eines derart eingeschränkten Cinquecento-Petrarkismus weiter an Distinktion. Regn unternimmt es hier, dieses petrarkistische System definitorisch präzise zu umreißen, um so zu klaren Abgrenzungskriterien zwischen petrarkistischen und nicht mehr petrarkistischen Texten zu gelangen. In seine Bestimmung fließen verschiedene Einzelelemente ein: Die Merkmalskomplexion, welche den Petrarkismus des italienischen Cinquecento in seiner idealtypischen Ausprägung beschreibt, hat ihr Fundament in einem im Außenraum lokalisierten Ereignissubstrat, auf dessen Rücken sich ein antinomisch-paradoxal strukturiertes affektisches Geschehen entfaltet. Dieses bleibt wiederum an eine wertattribuierende, normative Instanz gebunden. Die Normengebundenheit schlägt sich dabei in einem Kon-

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13 14

Hempfer: Probleme, S. 257ff.; Pyritz spricht von der »Maskenform der europäischen Liebessprache vom 14. bis zum 17. Jahrhundert« und vom petrarkistischen System als »das zweite erotische System von internationaler Geltung nach dem Minnesang«; Pyritz, S. 146f. Hempfer: Probleme, S. 259f.. Gerhard Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur ›Parte prima‹ der ›Rime‹ (1591/1592). Tübingen 1987, S. 52. In seiner jüngeren Darstellung der Thematik beschreibt Regn den Petrarkismus im übrigen nicht mehr als ›System‹, sondern setzt ihn wie auch hier vorgeschlagen systematisch in Beziehung zur frühneuzeitlichen Nachahmungskonzeption; Regn: Petrarkismus, Sp. 911.

274 flikt von Affekt und Norm nieder, der schließlich eine Lösung in der Aufhebung oder in der Transformation des konfliktträchtigen Affektverhaltens findet – eine Lösung, die gleichzeitig das Ende der petrarkistischen Geschichte mit sich bringt. Es kam bereits wiederholt zur Sprache, daß eine integrale petrarkistische Geschichte zu ihrer Vermittlung eines besonderen Ausdrucksmediums bedarf, wie es von der Form des Gedichtzyklus 15 bereitgestellt wird.

Hier sind nun sehr weitgreifende Momente versammelt, die dem im Zentrum befindlichen antinomischen Affektgeschehen referentielle, normative, narrative sowie gattungsbezogene Merkmale zuordnen. Damit ist eine relativ scharfe Kontur eines petrarkistischen Systems im italienischen Cinquecento zu gewinnen, nicht anders allerdings als auf dem Weg einer definitorischen Festlegung. Als solche nimmt das ›System‹ den Charakter einer Textsorte an, das heißt einer heuristisch fixierten Merkmalskomplexion zur Abgrenzung eines spezifischen petrarkistischen Textkorpus. Es handelt sich dem Verfahren nach um ein Klassifikationsverfahren. Regn hat die einzelnen Momente seiner Bestimmung auf mustergültige Weise an historischen Quellen und vor allem auch am zeitgenössischen poetologischen Diskurs belegt. Einen zentralen Stellenwert erhalten die narrativen Elemente – das ›Ereignissubstrat‹ – der genuin petrarkistischen Zyklen und eine darin vermittelte Konfliktgestaltung von Liebesaffekt und Norm. Im Verweis auf den jeweiligen normativen Horizont ist der historisch-ideologische Hintergrund der petrarkistischen Konfliktgestaltung unmittelbar angesprochen und präsent. Der Hinweis auf die narrativen Elemente – die petrarkistische ›Geschichte‹ – macht darüber hinaus auf eine weitere analytische Vergleichsebene aufmerksam, die sich jedoch im Hinblick auf die späteren Formen des Petrarkismus als kritisch erweist. Bereits für Ronsard kann die Gültigkeit des narratio-Prinzips in Frage gestellt werden. Im weiteren historischen Verlauf wird zunehmend dann sogar auf die zyklische Anordnung verzichtet. Rainer Warning hat darauf hingewiesen, dass die Fundierung des Systemkonzepts auf der Liebessemantik ein von Petrarca bis mindestens ins 16. Jahrhundert konstantes Liebeskonzept voraussetzt, wovon jedoch historisch nicht ausgegangen werden kann.16 Es wiederholen sich hier im Grunde die methodischen Probleme der Gattungstheorie: die Isolierung einer entsprechenden Gattungs- oder Systemdominante lässt sich historisch nur eingeschränkt legitimieren und kann eine lediglich heuristische Geltung beanspruchen. Vor allem aus der Sicht der außeritalienischen Literaturen ist das von Hempfer und Regn ursprünglich vorgeschlagene Konzept des petrarkistischen Systems wenig differenzierungsfähig. Da es zur Beschreibung einer engeren inneritalienischen Tradition entwickelt wurde, die bereits bei Tasso an ihre Grenze stößt, bleiben ihr die außeritalienischen Fortsetzungen des Petrarkismus von vornherein äußerlich, da hier – sei es in der Dichtung der Pléïade oder in den englischen Adaptionen von Wyatt bis zu den Elisabethanern – die Distanz ——————— 15 16

Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik, S. 52. Warning: Petrarkistische Dialogizität.

275 zu den Modellen sowohl in formaler wie in semantischer und ideologischer Hinsicht bereits zu groß geworden ist. Zentrale Bestandteile wie die Unerreichbarkeit der Dame, das Überwiegen des Leidcharakters der Liebe und einhergehend damit die Zyklusgestaltung werden grundsätzlich und durchgängig durchbrochen. Es sind also vor allem zwei Argumente, die gegen ein solches Konzept eines petrarkistischen Systems sprechen. Zum einen ist es die aus der Sicht der außeritalienischen Literaturen mangelnde Aussagekraft, da es dem Entwurf nach auf eine begrenzte literarische Strömung des italienischen 16. Jahrhunderts beschränkt bliebe und die gesamten europäischen Petrarkismen dieses und des folgenden Jahrhunderts als systemüberschreitende Pluralisierungsphänomene beschreiben muss.17 Schwerer noch wiegt das auf dieses System selbst bezogene Argument. Die postulierte Systemdominante, die in einem durchgängigen Liebeskonzept bestehen soll, dem bestimmte feststehende Motive wie die Unerreichbarkeit der Dame und die antinomische Schmerzliebe zugeordnet werden, unterschlägt selbst für den engeren Bereich der systemkonformen petrarkistischen Lyrik die spannungsvollen dialogischen Differenzierungsbewegungen, die dieser Dichtung Signifikanz verleihen. So ist bereits für den Stammvater des orthodoxen Petrarkismus, für Pietro Bembo, diese gezielte Differenzsetzung zum Modell Petrarcas aufgezeigt worden.18 Die Homogenität und innere Geschlossenheit eines petrarkistischen Systems in der italienischen Lyrik des 16. Jahrhunderts erweist sich demnach selbst als ein heuristisches Systemkonstrukt, das in der Auseinandersetzung mit den einzelnen Texten jeweils zurückzunehmen bleibt. Warning hat darauf aufmerksam gemacht, dass gerade die fortwährende Differenzbildung zum Modell Petrarcas ein Wesen des Petrarkismus ausmacht, und dass jede Bestimmung, die hier eine Identität zu setzen sucht, eindimensional bleiben muss. Interessant ist, dass dies entschieden bereits im Entstehungsaugenblick des orthodox-imitatorischen Petrarkismus gilt. Als Pietro Bembo seine imitatio-Empfehlung für die volkssprachliche Dichtung formuliert, ist dies bereits als eine Gegenbewegung zu bestimmten poetischen Entwicklungen zu verstehen. Die Petrarca-Nachahmung hatte in der höfisch-scherzhaften Epigrammartig-gelegenheitsbezogenen Lyrik des sogenannten primo petrarchismo eine Richtung genommen, der Bembo mit seinen stilistischen Normierungsversuchen zu begegnen suchte. Insofern war die strenge imitatio-Poetik immer auch schon ein Eindämmungsversuch gegenüber pluralisierenden Entwicklungen, die aus einer sich stetig beschleunigenden Antikerezeption hervorgingen ——————— 17

18

Klaus W. Hempfer: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der europäischen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts (Ariost, Ronsard, Shakespeare, Opitz). In: GRM 38 (1988) 251–264; Hempfer: Intertextualität; Hempfer: Shakespeares ›Sonnets‹: Inszenierte Alterität als Diskurstypenspiel. In: Shakespeares Sonette in europäischen Perspektiven. Hg. von Dieter Mehl und Wolfgang Weiß. Münster, Hamburg 1993, S. 168–205. Noyer-Weidner; Andreas Kablitz: Lyrische Rede als Kommentar – Anmerkungen zur Petrarca-«imitatio« in Bembos »Rime«. In: Der petrarkistische Diskurs. Hg. Hempfer/Regn 1993, S. 29–76.

276 und sich mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen verbanden.19 Erfolgreich war dieser Eindämmungsversuch, wo er zu einer poetisch und stilistisch hochambitionierten Lyrikproduktion führte, prekär war er zugleich immer schon, da eine poetologisch autoritative Fixierung historisch gefährdet bleiben musste. Wichtig ist an dieser Stelle zu erinnern, dass sich der Sachverhalt in solcher Perspektive bruchlos in ein Modell historischer Gattungen fügt, das zwischen der Ebene der Textrekurrenzen, für die keine überzeitlichen Merkmale anzunehmen sind, und der Ebene des Metadiskurses unterscheidet, der zur Gattungsvergewisserung und -integration erforderlich ist. Entsprechend lässt sich sagen, dass der Petrarkismus eine Identität erst im Stadium seiner diskursiven Entfaltung gewinnt, das heißt mit der ausdrücklichen und historisch wirksamen Formulierung der imitatio-Empfehlung im Hinblick auf Petrarcas Canzoniere. Canzoniere-bezogene Textrekurrenzen allerdings gehen dem expliziten Petrarkismus Pietro Bembos und seiner Nachfolger lange voraus. Andreas Kablitz hat diese sogar in den Zusammenhang althergebrachter Formen der intertextuellen Variation und der Zitatkombinatorik gestellt, wie man sie schon bei den Trobadors beobachten kann.20 Nach Kablitz ergibt sich demnach für den Petrarkismus eine konstitutive Spannung zwischen autoritativer Musterbehauptung und poetischer Renitenz: Die Affirmation des Canzoniere als einer autoritativen Instanz lyrischer Rede und die damit konkurrierende Unterminierung einer entsprechenden Position verschränken sich im petrarkistischen Diskurs unauflöslich miteinander, und schon oben haben wir dies bezeichnet als Konsequenz einer letztlich hybriden Verknüpfung der in der heimischen Tradition seit altersher konstitutiven Formen intertextueller Variation mit der in Analogie zu humanistischen Mustern entwickelten und in der lyrischen Rede selbst manifest werdenden Kanonisierung des Canzoniere, der dadurch in die immer schon bedrohte Position eines verbindlichen Modells rückt. Petrarkistische ›Dialogizität‹ wäre solchermaßen beschreibbar als eine bestimmte Ausprägung der der lyrischen Tradition selbst schon inhärenten Tendenz zur Distanzierung, die sich eben nun auch im Rekurs auf alternative und selbst auf mit Petrarcas Zyklus letztlich inkompatible Diskurse wie etwa die markiert erotische antike 21 Liebeslyrik realisieren kann.

Ein weiteres Argument ist für den gegenwärtigen Zusammenhang ebenfalls zentral. Wenn die prekäre Identität des Petrarkismus nämlich nicht von einer spezifischen Merkmalskomplexion auf der Ebene der Textrekurrenzen gewährleistet werden kann, so gewinnt die identitätsbildende Funktion des Gattungsmodells eine tragende Bedeutung. Bereits Rainer Warning hatte darauf hingewiesen, dass die Fortschreibung des Petrarkismus zentral von der Kontinuität der Sonettgattung abhängig ist. Das liegt insofern auf der Hand, als die imitatio——————— 19

20 21

Vgl. zur stilistischen Anhebung des Sonetts und die damit verbundene Gegenbewegung zu seiner Rhetorisierung: Schulz-Buschhaus: Giovanni della Casa; zu Della Casa auch Andreas Kablitz: Die Selbstbestimmung des petrarkistischen Diskurses im Proömialsonett (Giovanni Della Casa – Gaspara Stampa) im Spiegel der neueren Diskussion um den Petrarkismus. In: GRM 42 (1992) 381–414. Vgl. Gruber: Die Dialektik des Trobar. Kablitz: Die Selbstbestimmung, S. 404.

277 Forderung prinzipiell gattungsbezogen formuliert ist und sich im Fall des Petrarkismus auf die Lyrik und also auf den Canzoniere bezieht. Hier aber tritt die Leitfunktion des Sonetts deutlich zutage. Petrarkismus bedeutet nicht zuletzt, dass die Sonettdichtung qua Gattung auf das Muster Petrarca verwiesen wird, wie umgekehrt volkssprachliche Lyrik generell ans Sonett geknüpft scheint. Insofern ist dann der Petrarkismus tatsächlich als ein Teil der Gattungsgeschichte des Sonetts aufzufassen, genauer: im Zusammentreffen der imitatioForderung mit der der Gattung ohnehin zugehörigen intertextuellen Bezogenheit auf Petrarcas Canzoniere bildet sich mit dem Petrarkismus ein spezifischer Topos der Sonettgattung aus. Verglichen mit dem petrarkischen Liebeskonzept und dessen ideologischem Substrat besitzt die formale Signatur des Sonetts die größere Integrationskraft und historische Persistenz. Damit soll gesagt sein, dass die Stellung, die das Sonett im 16. Jahrhundert im Gattungssystem erlangt hat, geradezu zwingend dazu führte, dass es bei der Herausbildung der humanistischen Literaturprogramme in den außeritalienischen Nationalsprachen ebenfalls eine zentrale Stellung einnahm. Sonette in der jeweils eigenen Sprache verfassen zu können, bildete eine Art Ausweis internationaler kultureller Anschlussfähigkeit. Auf diesem Weg musste der Petrarkismus mit einer gewissen Notwendigkeit mittransportiert werden, auch wenn seine weltanschaulichen Prämissen mitsamt der Canzoniere-Konzeption keine Verbindlichkeit mehr beanspruchen konnte. Dies galt umso mehr mit dem Übergang in andere Sprach- und Kulturräume. Als Gegenargument gegen eine systematische Verknüpfung von Petrarkismusbegriff und Gattungskonzeption wird in der Regel darauf hingewiesen, dass petrarkistische Erscheinungen gattungsübergreifend beschrieben werden müssten, da sie sich in nahezu allen literarischer Gattungen der Zeit nachweisen lassen. Hempfer hat dies für Ariosts Orlando furioso gezeigt, für die lyrischen Gattungen der Ode, des Epigramms und sogar der Kasualdichtung liegt es auf der Hand und auch für Drama und Roman muss man nach Beispielen nicht lange suchen. Die Unterscheidung zwischen einem intertextuellen Petrarkismus auf der Ebene von Textrekurrenzen und einem poetologischen Petrarkismus auf der Gattungsebene vermag dies jedoch hinreichend zu differenzieren. So ist das poetologische Nachahmungspostulat zunächst einmal gattungsbezogen formuliert und gilt damit für die von Petrarca favorisierten lyrischen Gattungen, also vornehmlich für Sonett und Kanzone und für die zyklische Konstruktion des Canzoniere beziehungsweise von Sonettzyklen. Intertextuell dagegen sind die relevanten Elemente allerdings ebenso in jedem beliebigen Kontext aktualisierbar. Ferner ist auf den Unterschied der Bedeutung Petrarcas als eines modello della lingua und eines modello della poesia hingewiesen worden. Zu unterscheiden ist nämlich zum einen zwischen Petrarca in seiner Funktion als Modell für die italienische Dichtungssprache generell, für deren toscanità unter phonologischem, morphologischem und lexikalischem Aspekt, und zum anderen in seiner Funktion als

278 Modell für eine spezifische Art von Dichtung, die nicht an ein bestimmtes Diasystem einer 22 bestimmten Nationalsprache gebunden ist.

Nun führte die Kanonisierung eines modello della lingua ganz analog zum Fall des Ciceronianismus zu jenem von Erasmus karikierten Phänomen einer strikten Beschränkung der Dichtungssprache auf eine bestimmte Stilhöhe und ein bestimmtes Vokabular. Dieser Sprachbezug konnte jedoch nur im italienischen Sprachraum selbst wirklich wirksam sein, außerhalb Italiens spielte er nur eine begrenzte Rolle (257). Das Konzept des poetologischen Petrarkismus umgreift beide Aspekte, da es Textrekurrenzen auf allen Ebenen mit dem entsprechenden Metadiskurs verknüpft. Wo nun der Petrarkismus über den italienischen Sprachraum hinausgreift, verändern sich die in Frage kommenden Textrekurrenzen durch den Sprachwechsel. Die Bezogenheit von Gattung und Diskurs auf das Modell Petrarcas wird allerdings übernommen, so dass weiterhin von einem programmatischen Petrarkismus die Rede sein kann.

3.2

Petrarkismus als Gattungstopos der volkssprachlichen Lyrik

In der Perspektive der Gattungstheorie erhält das Phänomen des Petrarkismus eine andere Kontur, als in der eines gattungsübergreifenden liebessemantischen Systems. Zunächst ist festzuhalten, dass die Canzoniere-Intertextualität als Teil des intertextuellen Profils der volkssprachlichen lyrischen Gattungen bereits in wechselnder Ausprägung eine Rolle spielt, bevor der Bezug auf Petrarcas Werk ins Zentrum des poetologischen Diskurses gerät. Mit dem Auftritt Pietro Bembos gewinnt dieser intertextuelle Bezug in mehrfacher Hinsicht eine neue Qualität. Bembos Vorgehen ist doppelgleisig, indem er sowohl eine Poetik der volkssprachlichen Dichtung vorlegt als auch zumindest für die Lyrik entsprechende Musterdichtungen zu verfassen unternimmt.23 Dieses Verfahren wird selbst musterbildend werden für den Prozess der Umsetzung humanistischer Poetik in die einzelnen Nationalsprachen. In Frankreich wird Joachim du Bellay mit Poetik und Sonettzyklus hervortreten,24 in England Sir Philip Sidney,25 in Deutschland in präziser Nachfolge Martin Opitz.26 Der systematische Charakter solchen Vorgehens erklärt sich vor der Schwierigkeit, das komplexe humanistische Dichtungssystem in die verschiedenen Einzelsprachen zu übertragen. Man kann diesen Vorgang als einen Prozess der Umwertung beschreiben, durch den die Wertschätzung der klassischen Kultur auf die Nationalsprachen übertragen werden soll. Eine enorme Aufwertung der volkssprachlichen Litera——————— 22 23 24 25 26

Hempfer: Probleme, S. 257. Pietro Bembo: Prose della volgar lingua (1525), Rime (1530). Joachim du Bellay: Deffense et illustration de la langue françoise (1549), L’Olive (1549). Philip Sidney: The defence of poesie (1595), Astrophel and Stella (beides verfasst zwischen 1581 und 1583). Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624), Acht Bücher Deutscher Poematum (1625).

279 tur findet zunächst bereits dadurch statt, dass die Maximen der neulateinischen imitatio-Diskussion, die sich mit dem Konzept des Ciceronianismus um den bestmöglichen Stil bemüht, analog auf die Volkssprache übertragen werden. Hier wird Petrarca als Musterautor für die Lyrik die singuläre Vorbildfunktion zugesprochen, wobei zugleich eine bestimmte Behandlung Petrarcas gemeint ist. Alfred Noyer-Weidner hat gezeigt, inwiefern Bembo in seiner Adaption des petrarkischen Eröffnungsgedichts eine Anhebung des Stils durch die systematische Einbeziehung von Elementen des Vergilischen Epos betreibt. Auch dies steht im Dienst poetischer Aufwertung und klarer Differenzierung. Es wendet sich gegen bestimmte Entwicklungen der petrarkisierenden Dichtung im Kontext der höfisch-scherzhaften, epigrammorientierten Lyrik. Aus dem Blickwinkel einer institutionentheoretischen Fragestellung liegt es ebenfalls nahe, nach institutionellen Verflechtungen der entsprechenden Wertungsprozesse zu fragen. So wäre zu untersuchen, inwiefern die Abgrenzungsbewegung, die der ›hohe‹ Petrarkismus gegenüber einer höfisch verorteten epigrammatisch-scherzhaften säkularen Dichtung inszeniert, von einer entsprechenden gesellschaftlich-institutionellen Signifikanz ist. Es ist nämlich durchaus auffallend, dass wichtige Vertreter des hohen Petrarkismus wie Pietro Bembo und Giovanni della Casa zugleich bedeutende kirchliche Würdenträger sind. Bemerkenswert ist im übrigen auch die musikhistorische Parallele der Ausbildung der im 16. Jahrhundert äußerst erfolgreichen Madrigalmusik, die eng mit der Entwicklung des Petrarkismus verknüpft ist. Im Gegensatz zum liedhaften und auf kurzweilige gesellige Unterhaltung ausgerichteten Charakter beispielsweise der frottola, die mit der höfischen Scherzdichtung in Verbindung stand, richtete sich die Madrigalmusik auf eine affektische Nachbildung des poetischen Wortes unter Verzicht auf melodisch-liedhafte Formen.27 Auch hier könnte von einer ›Erschwerung‹ des musikalischen Duktus im Sinne von Schulz-Buschhaus gesprochen werden, die der Erschwerung des petrarkistischen Sonetts zur Seite zu stellen ist.28 Die enge Bezogenheit der Madrigalmusik auf Petrarkismus und Sonett ist von der Literaturwissenschaft bislang kaum wahrgenommen worden, während sie seitens der musikwissenschaftlichen Madrigalforschung längst konstatiert ist. Im Mittelpunkt der Madrigalvertonungen stehen ab einem gewissen Zeitpunkt entsprechend tatsächlich die Sonette Petrarcas und Bembos. Zurück jedoch zur gattungstheoretischen Einordnung des Petrarkismuskonzepts: Durch den erstmals hergestellten Bezug der Sonettdichtung auf die ——————— 27

28

Einführend dazu: Ludwig Finscher, Silke Leopold: Volkssprachige Gattungen und Instrumentalmusik. In: Neues Handbuch der Musikwissenschaft. Bd. 3: Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von L. Finscher. Laaber 1989/90, Bd. 3/2 (1990) 437–605; Claudio Gallico (Walter Rubsamen): Frottola. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe. Hg. von L. Finscher. Kassel, Stuttgart, u.a., Sachteil, Bd. 3 (1995) 892–907; Dorothea Baumann und James Haar: Madrigal. Ebd., Sachteil, Bd. 5 (1996) 1541–1569; Laura Macy: Speaking of Sex: Metaphor and Performance in the Italian Madrigal. In: Journal of Musicology 14 (1996) 1–34. Schulz-Buschhaus: Giovanni della Casa.

280 humanistische imitatio-Problematik einerseits und die Auszeichnung Petrarcas – der selbst wiederum traditionelle Werte repräsentiert – als eines singulären Musterautors in Analogie zu Cicero andererseits bei gleichzeitiger Stilanhebung hin zum heroischen Stil verfolgt Bembos Projekt eine entschiedene Aufwertung der volkssprachlichen italienischen Lyrik. Die Assoziation der Liebesthematik mit den idealistischen Konzepten der neuplatonischen Metaphysik kann im gleichen Zusammenhang gesehen werden, denn sie entzieht diese der niederen Scherzdichtung und hebt sie auf ein philosophisch signifikantes Niveau.29 Diese umfassende Aufwertung impliziert zugleich eine Differenzbewegung gegenüber bisherigen Entwicklungen der volkssprachlichen Lyrik vor allem im Kontext einer höfischen Unterhaltungs- und Gebrauchsdichtung, wie sie im vorigen Kapitel im Zusammenhang mit dem Einfluss der Epigrammtradition thematisiert wurde. Eine Rückbindung dieser Entwicklungen an die ihr jeweils verknüpften institutionellen Kontexte ist in ihrer sozialhistorischen Signifikanz noch nicht ausgeschöpft. Der Petrarkismus erlangt in solchem Licht Gestalt als ein spezifisches Projekt der Umwertung und der Umakzentuierung literarischer Diskurse, der auf der Gattungspoetik aufbaut. Es handelt sich nicht um ein eigenständiges liebesphilosophisches Projekt, sondern um eine gezielte Verschärfung der Bedingungen zur Verfassung volkssprachlicher Literatur. Der ›hohe‹ Zuschnitt der Liebeskonzeption, ihr idealistisch-transzendenter Charakter, ist dabei Teil einer umfassenden Aufwertung solchen Dichtens. Der programmatische Petrarkismus ist damit begrenzt auf die lyrischen Gattungen Petrarcas, allen voran das Sonett. Er ist qualifiziert als die Verpflichtung der jeweiligen Gattung auf das singuläre imitatorische Modell von Petrarcas Canzoniere. Jede wie auch immer gebrochene Annahme dieser Verpflichtung ist als Petrarkismus in diesem Sinn zu beschreiben. Das Auftauchen petrarkistischer Motive aber in anderen Gattungen oder der intertextuelle Verweis auf solche Motive jenseits einer mehr oder weniger verbindlichen imitatorischen Bezugnahme gilt als CanzoniereIntertextualität oder als intertextuelle Bezugnahme auf petrarkistische Texte, nicht jedoch als Petrarkismus in einem engeren Sinn. Von einem petrarkistischen System kann man im Sinn des entsprechend modifizierten Gattungssystems sprechen, das heißt der Wechselwirkung von ——————— 29

Bembo entfaltet dieses neuplatonische Liebeskonzept bekanntlich in seinem Dialog Gli Asolani. Es gipfelt in der überbietenden Analogie von irdischer und himmlischer Liebe: »E quando, agli atti d’una semplice donnicciuola, che qui empie il numero dell’altre, ripensando, prendi e ricevi sodisfaccimento, quale sodisfaccimento pensi tu che riceverebbe il tuo animo, se egli, da queste caliggini col pensiero levandosi, e puro e innocente a quelli candori passando, le grandi opere del signore, che là su regge, mirasse e rimirasse intentamente e ad esso con casto affetto offeresse i suoi disii?« Pietro Bembo: Prose e rime. Hg. von Carlo Dionisotti. Turin 1960, S. 501. »Wenn dich die Erinnerung an die Gesten eines einfachen Mädchens, die nichts Besonderes darstellt, so sehr erfüllt, welche Erfüllung fände deine Seele erst, wenn sie sich aus dem Nebel erhöbe, um rein und unschuldig zum Licht emporzusteigen, wenn sie die Werke des HERRN, der alles regiert, demütig bewunderte und IHM ihre keusche Sehnsucht zuwendete«; P. Bembo: Asolaner Gespräche. Dialog über die Liebe. Hg. von Michael Rumpf. Heidelberg 1992, S. 196.

281 Gattungsexemplaren und Gattungsmodell, insofern das Gattungsmodell durch die Bezugnahme auf das Canzoniere-Vorbild qualifiziert ist. Ein solcher Zuschnitt der Petrarkismuskonzeption bietet Vorteile bei der Beschreibung der außeritalienischen petrarkistischen Traditionen, da er weitgreifende Modifikationen im konzeptionellen und ideologischen Bereich zulässt, indem er die Integration über den Gattungsdiskurs organisiert. So ist der von Warning und Kablitz geforderten Dialogizität und Distanzierung als eines konstitutiven Teils des petrarkistischen Diskurses Rechnung getragen. Im folgenden soll die Fortschreibung des Petrarkismus im Rahmen der Übertragung der Sonettform in die deutschsprachige Literatur des 17. Jahrhunderts untersucht werden. Dabei ist zugleich exemplarisch vorzuführen, in welcher Weise der hier entfaltete Petrarkismusbegriff auf literarische Traditionen anzuwenden ist, die von der ursprünglichen imitatorischen Orthodoxie des italienischen Petrarkismus ebenso weit entfernt sind wie von den entsprechenden Liebeskonzepten. Diese Voraussetzung der lyrischen Tradition in Deutschland gilt dem Prinzip nach auch bereits für die Sonettdichtung in Frankreich, England oder den Niederlanden.

3.3

Sonettpoetik und distanzierter Petrarkismus

Obgleich auch vor Martin Opitz vereinzelt Sonette in deutscher Sprache geschrieben worden sind, gerät die Form erst im Rahmen seines Dichtungsprogramms und seiner eigenen Mustertexte ins Zentrum des Interesses. Erst in dieser Zeit treten Sonette auch im Zusammenhang mit petrarkistischen Themen auf.30 Zu nennen sind Paul Schede Melissus (1539–1602),31 Ernst Schwabe von ——————— 30

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Die vereinzelten deutschsprachigen Sonette des 16. Jahrhunderts waren meist moraldidaktisch-satirischer Art. Das früheste ist eine Übersetzung aus dem Italienischen in Knittelversen von Christoff Wirsung von 1556; vgl. Reinhold Köhler: Das älteste bekannte deutsche Sonett und sein italienisches Original. In: Archiv für Litteraturgeschichte 9 (1880) 4–8. Eigenständiger sind die sieben zyklisch verknüpften konfessionspolitisch-satirischen Sonette Johann Fischarts von 1575 mit romanisch-silbenzählender Metrik und französischem Reimschema; vgl. Leonard Forster: Über Reihen und Gliedern. Vornehmlich in mittlerer deutscher Literatur. In: Virtus et Fortuna. Zur Deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift Hans-Gert Roloff. Hg. von Joseph P. Strelka und Jörg Jungmayr. Bern 1983, S. 15–36, bes. S. 22–24; sowie: Aurnhammer: Johann Fischarts Spottsonette; insgesamt auch: Flora Kimmich: Sonnets before Opitz: the Evolution of a Form. In: The German Quarterly 49 (1976) 456–471. Melissus’ einziges überliefertes Alexandriner-Hochzeitssonett Jörgen von Auerli vnd Adelheiten von Grauwart wird von Forster und Fechner auf ca. 1579 datiert. Es ist silbenzählend, formal und inhaltlich stark an der Dichtung der Pléïade orientiert und vermittelt eine neuplatonische Liebeskonzeption ohne unmittelbare Petrarkismen. Überliefert wurde es im Anhang der Zincgrefschen Sammlung von 1624; vgl. Leonard Forster, Jörg-Ulrich Fechner: Das deutsche Sonett des Melissus. In: Wolfdietrich Rasch (Hg.): Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Bern, München 1972, S. 33–51; auch: F. Kimmich, bes. S. 456–459.

282 der Heyde (??–1629)32 und Georg Rodolf Weckherlin (1584–1653). Gleichwohl kommt der poetologischen Präsentation des Sonetts im Buch von der Deutschen Poeterey die maßgebliche Rolle zu. Im Blick auf den Petrarkismus interessiert hier besonders die Verschränkung, die zwischen Gattungspräsentation und petrarkistischem Diskurs stattfindet, und die die gattungsgeschichtliche Zusammengehörigkeit beider Phänomene unterstreicht. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Eingliederung des Sonetts in das humanistische Gattungssystem von Opitz vorgenommen wird, ohne Petrarca als Musterautor zu benennen. Um den Text der Opitzschen Poetik aus etwas größerer Distanz in den Blick zu bekommen, empfiehlt sich der Vergleich mit vorangegangenen Poetiken der europäischen Tradition. Zunächst kann pauschal festgestellt werden, dass die formal sehr detaillierte Beschäftigung der italienischen Renaissancepoetik mit den verschiedenen Varianten des Sonetts bei Opitz keinerlei Echo mehr findet. Dazu genügt ein Blick auf die Poetiken von Antonio da Tempo, Giovanni Trissino oder Antonio Sebastiano Minturno.33 Auch der hohe Rang, der dem Sonett in Italien zugesprochen wurde, wird von Opitz nicht mehr thematisiert. Vielmehr wirkt die Art, in der er die Gattung einführt, angesichts ihrer tatsächlichen Bedeutung eher beiläufig. Solche Beiläufigkeit hat ihr Vorbild nicht in den italienischen Poetiken, sondern bei den französischen Vorlagen, derer sich Opitz bedient. Man vergleiche etwa die Art und Weise, in der Joachim du Bellay 1549 das Sonett an der bereits zitierten Stelle präsentiert: Sonne-moi ces beaux sonnets, non moins docte que plaisante invention italienne, conforme de nom à l’ode, et différente d’elle seulement pour ce que le sonnet a certains vers réglés et limités, et l’ode peut courir par toutes manières de vers librement, voire en inventer à plaisir à l’exemple d’Horace qui a chanté en dix-neuf sortes de vers, comme disent les 34 grammairiens. Pour le sonnet donc tu as Pétrarque et quelques modernes Italiens.

Demgegenüber erscheinen die Passagen von Opitz als ausführlich. Ganz ähnlich wie Du Bellay35 formuliert 1564 Minturno seine Definition des Sonetts: ——————— 32

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Ernst Schwabe von der Heyde übersetzt als erster unter dem Titel Ihr die jhr höret an wie mancher sturmwind wehet ein Sonett Petrarcas in ein deutsches Sonett. Er bringt das Eröffnungssonett des Canzoniere in silbenzählende Alexandriner, Reimschema und Grafie sind ebenfalls französisch. Überliefert ist das Sonett in Opitzens Aristarchus; Opitz: Gesammelte Werke. Bd. I, S. 51–75, das Sonett: S. 71; vgl. Wilfried Barner: Die gezähmte Fortuna. Stoizistische Modelle nach 1600. In: Fortuna. Hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1995, S. 311–343, bes. S. 317; Emanuela Hager: Übersetzungen und Nachdichtungen von Sonetten Petrarcas in der europäischen Lyrik des 16. Jahrhunderts. Wien 1974, S. 70–72; Cesare Cases: Il sonetto in Germania e le prime traduzioni di sonetti Petracheschi. In: Traduzione e tradizione Europea del Petrarca. VI centenario della morte di Francesco Petrarca (1304–1374). Padua 1975, S. 65–76, zu Schwabe nur knapp: S. 68; drei bislang unbekannte, panegyrische Sonette des Autors beschreibt Achim Aurnhammer: Neues vom alten Ernst Schwabe von der Heyde. Drei Sonette auf die Krönung des Kaisers Matthias (1612). In: Daphnis 31 (2002) 279–298. Antonio da Tempo, S. 73–116; Trissino, S. 98–106; Minturno: L’arte poetica, S. 240–246. Du Bellay: Défense, Kap. II,4, S. 88–90. Vorlagen für Du Bellays Poetik sind nur begrenzt bekannt; für die Passage zum Sonett ist keine unmittelbare Quelle ermittelt worden. Vgl. Pierre Villey: Les sources italiennes de la

283 Che cosa è dunque il Sonetto? M. Compositione graue e leggiadra di parole con harmonia di rime, e con misura di syllabe tessute sotto certo numero di uersi, e sotto certo ordine 36 limitata.

Wo Du Bellay den Vergleich zur Ode zieht, zieht ihn Minturno zur Kanzone. Entsprechend beschäftigt sich die italienische Poetik sehr viel ausführlicher mit den einzelnen Reimschemata, worauf Du Bellay verzichtet. Opitz verzichtete nicht darauf, die konkreten Reimvorschriften anzugeben. Was Du Bellay hier mit einem Wortspiel abhandelt, »Sonne-moi ces beaux sonnets«, wird bei Opitz zu einer eigenen etymologischen Erörterung über den Ursprung des SonettNamens. Und an die Stelle der Nennung des autoritativen Musterautors Petrarca tritt bei Opitz das Vorführen einiger Sonett-Beispiele. Bevor darauf näher einzugehen ist, muss die systematische Stelle der Thematisierung des Sonetts bemerkt werden. Im Rahmen der Opitzschen Poetik findet sich dessen Behandlung im siebten Kapitel und damit an ungewöhnlicher Stelle, nachdem die Gedichtarten bereits im fünften Kapitel im Rahmen der dispositio abgehandelt wurden. Dafür lässt sich eine äußerliche Ursache angeben. Im fünften Kapitel folgt Opitz bei der Besprechung der einzelnen Gattungen der Poetik Scaligers. In der lateinischen Poetik kam aber das Sonett als nichtklassische Form nicht vor. Nun hätte Opitz natürlich nachbessern und das Sonett einschieben oder zumindest erwähnen können. Du Bellay behandelt es im Kontext der genres de poèmes in der wenig systematischen Reihenfolge Epigramm, Elegie, Ode, Satire, Sonett, Ekloge, Endecasillabo, Tragödie und Komödie.37 Dies aber geschieht nicht, und er folgt vornehmlich seinen Vorlagentexten: Das Sonett fehlt bei den Gedichtarten nach Scaliger und wird erst bei den Strophenformen behandelt.38 Diese Abschnitte entsprechen im großen und ganzen dem Abbregé de l’Art poétique Ronsards von 1565, wobei dieser aber keine Gedichtformen behandelt. Er führt als Beispiel für Alexandriner zwar einzelne Sonettverse an, kommt aber auf die Form selbst nicht zu sprechen.39 ———————

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»Deffence et illustration de la langue françoise« de Joachim du Bellay. New York 1970 (Nachdruck der Ausg. Paris 1908), S. 81, 154; allgemein auch Marcel Françon: »La Deffence et Illustration de la langue francoyse« et l’influence italienne. In: Mélanges à la mémoire de Franco Simone. France et Italie dans la culture européenne. Bd. 1: Moyen Age et Renaissance. Genf 1980, S. 421–426. Minturno: L’arte poetica, S. 240. Du Bellay: Défense, Kap. II,4. Dass die Reihenfolge hier von kurzen zu langen Formen geht, bemerkt Behrens. Eine ganz ähnliche Gattungsanordnung bei ausführlicher Behandlung der Einzelformen findet sich in der Art poétique des Jacques Peletier du Mans von 1555; Behrens, S. 107 und 112. So auch Heinz Entner: Der Weg zum »Buch von der Deutschen Poeterey«. Humanistische Tradition und poetologische Voraussetzungen deutscher Dichtung im 17. Jahrhundert. In: Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Berlin, Weimar 1984, S. 11–144, 439– 457, hier: S. 33. Pierre de Ronsard: Abbregé de l’Art poëtique françois. In: Ronsard: Œuvres Complètes, Bd. 14, S. 1–38, zum Alexandriner S. 23–25. Über Ronsards relative Geringschätzung der lyrischen Formen gegenüber dem Epos in seiner Poetik vgl. Behrens, S. 111f.

284 Bei Opitz findet sich also der Abschnitt über das Sonett im Kapitel VII, Von den reimen / jhren wörtern vnd arten der getichte. Er schließt sich dort an die Behandlung des Alexandriners und des vers commun an und steht zusammen mit der des vierzeiligen Epigramms, des Quatrains, und der Strophenformen der Ode. Die Behandlung des Sonetts im Rahmen der Reimordnung von Strophenformen ist zumindest dadurch begründet, dass die Reimordnung der Sonettstrophe zugleich ihre Gattungsregel gibt. Die Sonettregel ist eine Strophenform, die zugleich die Gedichtart konstituiert. Folgendermaßen kommt Opitz auf das Sonett zu sprechen: Weil die Sonnet vnnd Quatrains oder vierversichten epigrammata fast allezeit mit Alexandrinischen oder gemeinen versen geschrieben werden / (denn sich die andern fast darzue nicht schicken) als wil ich derselben gleich hier erwehnen. Wann her das Sonnet bey den Frantzosen seinen namen habe / wie es denn auch die Italiener so nennen / weiß ich anders nichts zue sagen / als dieweil Sonner klingen oder wiederschallen / vnd sonnette eine klingel oder schelle heist / diß getichte vielleicht von wegen seiner hin vnd wieder geschrenckten reime / die fast einen andern laut als die gemeinen von sich geben / also sey getauffet worden. Vnd bestetigen mich in dieser meinung etzliche Holländer / die dergleichen carmina auff jhre sprache klincgetichte heissen: welches wort auch bey vnns kan auffgebracht werden; wiewol es mir nicht gefallen wil. Ein jeglich sonnet aber hat viertzehen verse / vnd gehen der erste / vierdte / fünffte vnd achte auff eine endung des reimens auß; der andere / dritte / sechste vnd siebende auch auff eine. Es gilt aber gleiche / ob die ersten vier genandten weibliche termination haben / vnd die andern viere männliche: oder hergegen. Die letzten sechs verse aber mögen sich zwar schrencken wie sie wollen; doch ist am bräuchlichsten / das der neunde vnd zehende einen reim machen / der eilffte vnd viertzehende auch einen / vnd der zwölffte vnd dreyzehende 40 wieder einen.

Der Einstieg ins Thema im Anschluss an die Behandlung der Versform des Alexandriners wirkt nach dem Gesagten nicht ganz schlüssig. Die etymologische Herleitung, die sich bis zu Antonio da Tempo zurückverfolgen lässt und die vielfach wiederholt werden wird,41 ist insofern bedeutsam, als sie eine Wesensbeschreibung der Gattung formuliert, die im Gegensatz zu den antiken Formen thematisch und funktional unbestimmt bleibt. Wo das Epigramm eine kurze witzige Satire, die Ode ein Gesang, die Elegie Klage, die Ekloge ein Hirtenlied und der Hymnus ein Lobgesang ist, wie man es im fünften Kapitel lesen kann, steht für das Sonett allein die etymologische Erläuterung, die auf seine Klangqualitäten abhebt und die durch keinerlei unmittelbar thematische, wirkungsbezogene oder historische Bestimmung ergänzt ist. Weder die Anmerkungen Du Bellays, der das Sonett mit horazischem Tonfall für gelehrt und angenehm hält und in Beziehung zur Ode setzt und der auch das maßgebliche Vorbild Petrarca nennt, noch der Hinweis auf die Verwandtschaft zum Epi——————— 40 41

Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. in: M. Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 397f. Antonio da Tempo, S. 73; die Variationen der Formel innerhalb der deutschen Sonettpoetik beschreibt Leighton, S. 13–16.

285 gramm, den beispielsweise August Buchner hinsichtlich der Sonette dann formuliert: »so eine Art von Epigrammaten«,42 taucht bei Opitz auf. Man erfährt also bei diesem über die technische Anleitung und die Kennzeichnung als Klangphänomen hinaus theoretisch nur wenig über das Sonett. Vor allem aber fehlt bei ihm der historische Hinweis auf die vorangegangene Sonett-Tradition der europäischen Renaissance, der für die Wertschätzung der Gattung einstehen könnte, und es fehlt die Benennung des autoritativen Musters und mit diesem die qualifizierte Nachahmungsempfehlung. Somit fehlt auch der Hinweis auf den europäischen Petrarkismus als den entscheidenden Träger der Sonettdichtung des 16. Jahrhunderts. Mit diesem Hinweis zugleich gegeben wäre natürlich auch die Benennung eines thematischen Schwerpunkts, nämlich die zentrale Bedeutung der Liebesthematik für die Gattungstradition. Die beiden letztgenannten Motive tauchen allerdings beide zumindest beiläufig in der Poeterey auf. Die Frage der Liebesthematik wird ausdrücklich als Problem angesprochen im dritten Kapitel von der Verteidigung der Poeten und wird dort in mehrfacher Hinsicht erörtert. Zunächst geht es dabei um die Frage des Lebenswandels mancher Poeten und um dessen Zusammenhang mit der Dichtung. Vnd zum theile thut auch zue dem etwas nachleßigen wandel mancher Poeten nicht wenig die gemeinschafft etlicher alten / die jhre reine sprache mit garstigen epicurischen schrifften besudelt / vnd sich an jhrer eigenen schande erlustiget haben. Mit denen wir aber vmbgehen mußen wie die bienen / welche jhr honig auß den gesunden blumen saugen / vnd die gifftigen kräuter stehen lassen. [352f.]

Das Bienengleichnis steht hier nicht im Zusammenhang einer Erörterung der imitatio, sondern seine ursprünglich eklektische Empfehlung (bei Seneca, Quintilian, Petrarca) wird als Mittel der Moralzensur gegen die Freizügigkeiten der Antike gewendet. Die Rede vom Vermeiden der ›giftigen Kräuter‹ geht direkt oder indirekt zurück auf Erasmus, dessen ›Ciceronianer‹ bemerkt, dass die Bienen aus giftigen Pflanzen giftigen Honig machten.43 Bei Opitz ist das Motiv reduziert auf eine ihm ganz fremde moralisierende Funktion. Die konkreten Lizenzen des Liebesdichters werden noch genauer erklärt:

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Augustus Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1966, S. 175. Lucius Annaeus Seneca: Epistulae morales ad Lucilium / Briefe an Lucilius über Ethik. Lat./Dt. Libri XI–XIII, 84.–88. Brief. Übs. und hg. von Rainer Rauthe. Stuttgart 1996, Epistula 84; Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Übs. und hg. von Helmut Rahn. Zweiter Teil: Buch VII–XII. Darmstadt 1975, Kap. X.II, S. 484– 497; auch Petrarca: Famil. I,8 und öfter; die Erasmus-Stelle »ex taxo toxica mella conficiunt« findet sich im Ciceronianus: Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Ausgabe in acht Bänden, lateinisch und deutsch. Hg. von Werner Welzig. Bd. 7, Darmstadt 1972, S. 2–355, hier S. 198; dazu grundsätzlich und speziell zu Erasmus Jürgen von Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen ›Imitatio‹. In: RF 68 (1956) 271–293, S. 287f.

286 Doch wie ehrliche / auffrichtige / keusche gemüter (welche von den auch keuschen Musen erfodert werden) derer die jhre geschickligkeit mit vblen sitten vertunckeln nicht entgelten können / so sind auch nicht alle Poeten die von Liebessachen schreiben zue meiden; denn viel vnter jhnen so züchtig reden / das sie ein jegliches ehrbares frawenzimmer vngeschewet lesen möchte. Man kann jhnen auch deßentwegen wol jhre einbildungen lassen / vnd ein wenig vbersehen / weil die liebe gleichsam der wetzstein ist an dem sie jhren subtilen Verstand scherffen / vnd niemals mehr sinnreiche gedancken vnd einfälle haben / als wann sie von jhrer Buhlschafften Himlischen schöne / jugend / freundligkeit / haß vnnd gunst 44 reden.

Der Abschnitt enthält zwei Argumente. Eng mit dem Anlass der Dichtung in der Muttersprache zusammen hängt die Forderung, ›züchtig‹ zu reden, die vor den Erotica der lateinischen Tradition warnen will, und die auf den erweiterten Leserkreis der anvisierten deutschsprachigen Dichtung reflektiert. Im Folgesatz wird in einer neuen Wendung auf das moderne poetische Ideal der argutia Bezug genommen, um die Liebesthematik zu rechtfertigen. Auch dabei handelt es sich um eine indirekte Begründung, die nicht einmal ganz schlüssig ist, denn die Verbindung von Liebe und argutia wird der Sache nach nicht ganz klar. An dieser Stelle steht nun eine Aufzählung von Themen, wie sie durchaus auch im Zusammenhang der Gattungsbestimmung des Sonetts stehen könnte. Die Liebesthematik trägt aber hier keinen inhaltlichen, beispielsweise idealistischen Akzent, den man mit der petrarkistischen Dichtung in Verbindung bringen könnte, sondern sie bildet nur noch den Stoff der argutia. Damit ist ihr Sinn leer geworden. Dass der Konnex von Thema und Form gleichwohl bewusst ist, lässt sich daran ablesen, dass Opitz an dieser Stelle ein erstes ausführliches poetisches Beispiel seiner eigenen Übersetzungskunst einschiebt, das der Sache nach hier nicht unbedingt erforderlich wäre. Es ist ein poetologisches Sonett zur Liebesthematik, das somit den oben konstatierten Mangel an thematischer Reflexion bereits vorab kompensiert. Wie dann hiervon der Frantzösischen Poeten Adler Peter Ronsardt ein artiges Sonnet geschrieben / welches ich nebenst meiner vbersetzung (wiewol dieselbe dem texte nicht genawe zuesaget) hierbey an zue ziehen nicht vnterlassen kan: Ah belle liberté, qui me seruois d’escorte, Quand le pied me portoit où libre ie voulois! Ah! que ie te regrette! helas, combien de fois Ay-ie rompu le ioug, que maulgré moy ie porte! Puis ie l’ay rattaché, estant nay de la sorte, Que sans aimer ie suis et du plomb et du bois, Quand ie suis amoureux i’ay l’esprit et la vois, L’inuention meilleure et la Muse plus forte. Il me faut donc aimer pour auoir bon esprit, Afin de conceuoir des enfans par escrit, Prolongeant ma memoire aux despens de ma vie. Ie ne veux m’enquerir s’on sent apres la mort:

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Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 353.

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287 Ie le croy: ie perdroy d’escrire toute enuie: Le bon nom qui nous suit est nostre reconfort. Du güldne Freyheit du / mein wünschen vnd begehren / Wie wol doch were mir / im fall ich jederzeit Mein selber möchte sein / vnd were gantz befreyt Der liebe die noch nie sich wollen von mir kehren / Wiewol ich offte mich bedacht bin zue erweren. Doch lieb’ ich gleichwol nicht / so bin ich wie ein scheit / Ein stock vnd rawes bley. die freye dienstbarkeit / Die sichere gefahr / das tröstliche beschweren Ermuntert meinen geist / das er sich höher schwingt Als wo der pöfel kreucht / vnd durch die wolcken dringt / Geflügelt mitt vernunfft / und mutigen gedancken / Drumm geh’ es wie es wil / vnd muss ich schon darvon / So vberschreit’ ich doch des lebens enge schrancken: 45 Der name der mir folgt ist meiner sorgen lohn.

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Das Zitat beider Texte lohnt sich, denn bei näherer Betrachtung wird erkennbar, dass die Übersetzung, die »dem texte nicht genawe zuesaget«, recht genau im Sinne der zuvor genannten Maximen, nämlich hinsichtlich der Züchtigkeit der Rede und der moralischen Dignität der Aussagen vom Vorbild abweicht. Im ersten Quartett ist zunächst einmal die Dynamik herausgenommen, die Ronsard durch die unmittelbar szenisch angeredete Allegorie der ihn ›begleitenden‹ liberté herstellt. Die Stoßseufzer und die lebendige Redesituation weichen im Deutschen dem eher starren Bild von der Liebe, »die noch nie sich wollen von mir kehren«, während bei Ronsard die Klage über den Wechsel von Freiheit und Liebesjoch antithetisch und affektiv inszeniert wird. Der Verzicht auf die szenische Realisation führt dazu, dass die Anrede an die ›güldne Freyheit‹ bei Opitz auf die erste Zeile beschränkt bleibt, statt das Quartett zu regieren. Der entscheidende Eingriff des Übersetzers betrifft allerdings das erste Terzett und damit den ›Witz‹ des Ronsardschen Gedichts. Stärker als dasjenige von Opitz ist seine Vorlage als ein poetologisches Sonett ausgewiesen, wie man es in der Regel am Eingang von petrarkistischen Zyklen findet (was für dieses aber nicht gilt).46 Das Kennzeichen solcher Sonette ist wie im Fall ihres Urbilds, Petrarcas »Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono«, eine grundsätzliche Perspektivierung der Liebessituation im Hinblick auf ihre poetologische Relevanz: das Verhältnis von Lieben und Dichten. Bei Petrarca impliziert dies eine Distanzierung der Liebe im Horizont der Transzendenz. Die berühmte Schlusspointe lautet »che quanto piace al mondo è breve sogno.«47 Ronsard bezieht sich offenbar darauf, wenn er genau umgekehrt unterstellt, dass nicht das weltliche ——————— 45 46

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Das Sonett Ronsards findet sich in den Sonets pour Helène II, Nr. 46: Ronsard: Les Amours, S. 443; hier zitiert nach Opitz: Gesammelte Werke. Opitzens Ronsard-Übersetzung tritt als erstes Sonett-Beispiel in der Poeterey an die Stelle, die Ernst Schwabes von der Heyde Sonett zuvor in Opitzens Aristarchus eingenommen hatte: Schwabes Sonett war eine Übersetzung von Petrarcas Voi ch’ascoltate mit moralisierendem Unterton und einer Mahnung zur Tugendhaftigkeit der Liebe; vgl. oben, S. 282, Anm. 32. Canz. 1, S. 5, v. 14.

288 Vergnügen der Liebe sich als kurzer Traum erweist, sondern dass das weltliche Leiden des Liebesdichters im dauerhaften Nachruhm seinen Trost erhalte und dass eben zu lieben sei, um dichten zu können. Dieser trügerische, ›witzige‹ Schluss beruht auf der Voraussetzung, dass die Liebe den esprit befördere, und dass eben darin ihr Sinn bestehe. Dies wiederum ist das Argument, das Opitz mit dem Beispiel unterstreichen will. Die Parallele von Lieben und Dichten wird nun aber von Ronsard scharfsinnig bebildert, und genau dies filtert die Opitzsche Zensur der ›züchtigen Rede‹ aus: denn zu lieben sei, so Ronsard, um durch Schreiben Kinder zu zeugen, »conceuoir des enfans«, und so wird das Schreiben zum quasi-sexuellen Akt. Eine solche Metaphorik hätte sich nun möglicherweise gerade an diesem Ort der Poeterey nicht günstig eingefügt, jedenfalls fällt sie – zum Schaden der Übersetzung – gänzlich aus.48 Stattdessen zieht Opitz den Gedanken des voranstehenden Quartetts ins Terzett hinüber, um ihn platonisierend aufzubauschen: nicht bloß esprit und Stimme, invention und Musenkraft gewinnt demnach der Liebende, sondern es erhebt sich sein Geist in die Wolken, »Geflügelt mitt vernunfft / und mutigen gedancken«, was als Wirkung der Liebe die Grenze des Widersinns streift. Das Auslassen des Anzüglichen und die ernsthafte Forcierung der Dichtungsapologie geht in diesem Fall zumindest auf Kosten der Pointe und der Lebendigkeit des Sonetts.49 Gleichwohl zeigt sich die Souveränität von Opitz, der den erotisch getönten Witz in eine deutlich autoritativere Apologie der Liebesdichtung verwandelt, die sich bestens in das Argument von Kapitel III einfügt. Die Verknüpfung der Liebesthematik mit der Sonettgattung ist demnach bei Opitz absolut präsent und wird inexplizit realisiert, indem an dieser frühen Stelle des Buches von der Deutschen Poeterey ein Sonett zweisprachig präsentiert wird, das sich mit dem Verhältnis von Poesie und Liebe befasst, und dessen petrarkistische Konnotationen auf der Hand liegen. An der Stelle des poetischen Arguments wird allerdings in der Übersetzung mit rationalistisch-moralistischen Floskeln hantiert, die apologetisch wirken sollen und die auf kosten der poetischen Leichtigkeit des französischen Sonetts gehen. Vorgeführt wird durch die sonst nicht geübte zweisprachige Demonstration beiläufig auch eine moralisierend verstandene eklektische imitatio im Sinne des angezogenen Bienengleichnisses, die geradezu als Lösungsmodell des moralischen Dilemmas des Poeten präsentiert wird. Der Name Petrarcas selbst taucht in der Poeterey nur beiläufig und wie aus Versehen auf, wenn Opitz über die Verwendung von Neologismen raisonniert, wobei er sich auf französische Vorbilder bezieht: ——————— 48

49

Dass das Sonett sich so genau ins Argument des entsprechenden Poeterey-Kapitels fügt, legt die Vermutung nahe, es sei zu diesem Zweck übersetzt worden; jedenfalls fehlt es in den Teutschen Poemata, der Sammlung A von 1624. Somit kann ich Gellineks lobende Beurteilung der Opitzschen Fassung nicht nachvollziehen; Gellinek, S. 157.

289 Als Ronsardt brauchet in einer Elegie an die Caßandra / das wort Petrarquiser, das ist / wie Petrarcha buhlerische reden brauchen: Apprendre l’art de bien Petrarquiser. Vnd ich habe es jhm mit einem anderen worte nachgethan / da ich die Leyer anrede: Jetzt solt du billich mehr als wol / 50 O meine lust / Pindarisieren.

Im Rahmen der vorliegenden Fragestellung erscheint es erstaunlich, dass hier nun der vermisste Name Petrarcas und gar der imitatorische Gestus des Petrarkismus gleichsam doppelt uneigentlich erscheint, nämlich als Zitat, aber nicht zur Erläuterung der Petrarca-Nachahmung, sondern als Exempel einer gänzlich anderen Frage, und nicht einmal so, dass der Ausdruck des ›Petrarkisierens‹ fürs Deutsche empfohlen würde, sondern er wird bloß als Modell eines Neologismus herangezogen. Der Petrarkismus ist als Themenkomplex demnach bekannt und benennbar, seine Beziehung zum Sonett liegt auf der Hand, doch wird er nicht angesprochen, sondern wiederholt ausgespart und umspielt. Zwischen der Klangtextur des Sonetts, für die sein Name und seine Reimordnung stehen soll, und seiner imitatorischen Tradition, die Themen, Motive und Haltungen betrifft, zeigt sich ein Riss, für den keine Sprache gefunden wird. Jedes einzelne Sonett allerdings wird diesen Riss zu überbrücken haben, denn es hat sich mit den imitatorischen Vorgaben auseinanderzusetzen. Das wird bereits im Buch von der Deutschen Poeterey selbst deutlich, wenn Opitz seine Sonettpoetik durch gleich vier Beispielgedichte erläutert, die großenteils übersetzt sind und die den petrarkistischen Horizont der Gattung in wünschenswerter Deutlichkeit dokumentieren.

3.4

Poetik in Exempeln bei Martin Opitz

Für die Poetik des Martin Opitz ist neben einer grundsätzlichen Apologie der Dichtung im Sinne einer défense et illustration de la langue vulgaire und einer defense of poesie die Demonstration des Gelingens der Dichtungsreform durch Beispiele essentiell. Insofern scheint es gerechtfertigt, anstelle einer breiteren theoretischen Erörterung Gattungsexempel zu setzen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass dies im Falle des Sonetts nicht durch ein klassisches Beispiel geschieht, also etwa durch die Petrarca-Übertragung Ist Liebe lauter nichts / wie dass sie mich entzündet?, die sich schon in der Straßburger Ausgabe findet,51 und auch nicht durch ein zeitgemäßes allegorisch-didaktisches Exempel wie das Sonett Uber den Thurn zu Straßburg oder eins der Brunnengedichte.52 Er eröff——————— 50 51

52

Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 376f. Opitz: Teutsche Poemata. Hg. Witkowski 1902, S. 48 (Nr. 20.) [A 26]; wieder in: Acht Bücher Deutscher Poematum [B 214], in: Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/2, S. 703, Nr. 72.90. Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/2, S. 690ff., Nr. 72.76–78; B 206ff.; zuvor bereits als A 47, A 75, A 60.

290 net vielmehr seine vier durchweg Petrarca-bezogenen Beispielsonette mit dem bekannten antipetrarkistischen Tyndaris-Sonett, das im nächsten Abschnitt eingehender betrachtet wird. Für die implizit bleibende Petrarkismus-Auseinandersetzung stellt dies eine weitere markante Distanzierung dar: das erste Mustersonett in Opitzens Musterpoetik ist eine Parodie der dominanten Gattungstradition, und zwar bezogen auf das zentrale Motiv der Schönheitsbeschreibung der geliebten Dame. Damit ist hier sowohl die imitatorische Orthodoxie des klassischen Petrarkismus wie dessen gesamter motivischer und ideologischer Apparat in eine Klammer gestellt. Petrarkismus tritt bei Opitz bereits im ersten Schritt als eine Distanzierungsbewegung auf: als das Zitat des überkommenen autoritativen Musters und eine Bestreitung seiner Geltung. Sowohl dieses wie die folgenden Opitzschen Mustersonette im Buch von der Deutschen Poeterey werden unter rein reim- und verstechnischen Gesichtspunkten vorgestellt, also unter solchen der poetischen Textur, während ihre imitatorisch verbürgte Motivstruktur implizit und unkommentiert bleibt. Auffallend sind dabei die betont legeren, geradezu beiseite gesprochenen Bemerkungen, die der Autor hinzufügt und die ebenfalls ein distanziertes Verhältnis zur vorgestellten Thematik vermitteln. Auf das Tyndaris-Sonett folgen drei RonsardÜbertragungen, deren erste bereits ein weiteres zentrales petrarkistisches Motivfeld bedient. Dies veranlasst den Dichter, nebenbei auf den möglicherweise unangenehmen Eindruck der vorangegangenen Parodie hinzuweisen. Oder / im fall dieses jemanden angenemer sein möchte; Welches zum theil von dem Ronsardt entlehnet ist: Ihr / Himmel / lufft vnnd Wind / jhr hügel voll von schatten / Ihr hainen / jhr gepüsch’ / vnd du / du edler Wein / Ihr frischen brunnen / jhr / so reich am wasser sein / Ihr wüsten die jhr stets mußt an der Sonnen braten / Ihr durch den weissen taw bereifften schönen saaten / Ihr hölen voller moß / jhr auffgeritzten stein’ / Ihr felder welche ziehrt der zarten blumen schein / Ihr felsen wo die reim’ am besten mir gerhaten / Weil ich ja Flavien / das ich noch nie thun können / muss geben guete nacht / vnd gleichwol muth vnnd sinnen Sich fürchten allezeit / vnd weichen hinter sich / So bitt’ ich Himmel / Lufft / Wind / Hügel / hainen / Wälder / Wein / brunnen / wüsteney / saat’ / hölen / steine / felder / Vnd felsen sagt es jhr / sagt / sagt es jhr vor mich.

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Es handelt sich um eine »sinngemäße Übertragung«53 des Ronsard-Gedichts Ciel, air & vents, plains & montz descouvers, deren sprachliche Leistung bereits ——————— 53

Gellinek, S. 145ff. mit Abdruck des Ronsard-Sonetts. Dieses findet sich in den Amours von 1552/53 als Nr. 67 und wurde in den Ausgaben 1578 und 1584 leicht modifiziert; Ronsard: Les Amours, S. 43; der Text ist außerdem mit einer Übersetzung von Friedhelm Kemp, die offenbar an Opitz geschult ist, leicht zugänglich in: Französische Dichtung. Erster Band. Von Villon bis Théophile de Viau. Hg. von F. Kemp und Werner von Koppenfels. München 1990, S. 136.

291 verschiedentlich gewürdigt wurde.54 Vor allem die rhythmische Durchgliederung in der Anaphernfolge der Ihr-Anrede – ein andernorts auch von Ronsard gern geübtes Verfahren – und das systematischere Summationsschema sind bemerkenswert, wie auch der gegenüber der einfacheren Vorlage des »dites-le luy pour moy« intensivierte Schlussvers mit der dreifachen Wiederholung des »sagt es jhr vor mich«, das allerdings zur Füllung des Verses auch benötigt wird. Versraum verschafft sich der Übersetzer durch die Ersetzung des vers commun durch den Alexandriner. Die Gliederung der Perioden passt sich ohne Enjambements der Reimgliederung an, womit Opitz der Vorlage folgt, die gleichfalls in den Quartetten die Aufzählung bringt, im ersten Terzett das Abschiedsmotiv »Puis qu’au partir«, und im zweiten die Bitte »Je vous supply«. Hinsichtlich der petrarkistischen Semantik kann Ronsards Sonett als Beispiel eines zentralen Motivraums gelten, denn es besingt den Ort der erinnerten Liebesbegegnung, an dem die Natur durch die Nähe der Geliebten quasi magisch ausgezeichnet ist, so dass sie dem Liebenden die Geliebte zu ersetzen vermag. Solche magisch-fetischhafte Substitution liegt zahlreichen Petrarkismen zugrunde, neben den Gedichten des Ortslobs beispielsweise auch solchen zu Schönheitsaccessoires wie Kamm oder Spiegel. In den vorliegenden Gedichten dient die Substitution ausdrücklich der Herstellung der Kommunikation mit der abwesenden Geliebten: »sagt es ihr vor mich«. Es sind Gedichte des Ortslobs und der substituierten Liebeskommunikation, die als in hohem Maß paradigmatisch gelten können. Unterstreichen lässt sich dies durch die Benennung ihres imitatorischen Raums. Ronsards Gedicht geht zurück auf Petrarcas Lieti fiori et felici, et ben nate herbe che madonna pensando premer sòle; piaggia ch’ascolti sue dolci parole, et del bel piede alcun vestigio serbe; [...]. [Canz. 162; Petrarca: Canzoniere. Hg. Santagata, S. 744, v. 1–4],

das das Glück der Naturelemente preist, die mit der Geliebten in Berührung kommen: das von ihrem Fuß betretene Gras, die Ufer, die ihre Worte hören, der Fluss, der ihr Gesicht spiegelt, und denen der Dichter befiehlt, ebenfalls in Liebe zu entflammen: »d’arder co la mia fiamma non impari« (v. 14). Wird hier noch die Liebe vom Dichter auf die Naturobjekte übertragen, so ist es Astemio

——————— 54

Verweise auf die ältere Literatur in Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/2, S. 715, Nr. 72.103: Ernest Tonnelat: Deux imitateurs allemands de Ronsard. G. R. Weckherlin et Martin Opitz. In: Revue de littérature comparée 4 (1924) 557–589, hier: S. 585; Adelheid Beckmann: Motive und Formen der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts und ihre Entsprechungen in der französischen Lyrik seit Ronsard. Ein Beitrag zur vergleichenden Literaturgeschichte. Tübingen 1960, S. 115; Roxana Biber Nagosky: The function of elements inherited from Ronsard in Opitz’ »Sonette« and »Oden« of 1625. Phil. Diss. Indiana Univ. 1971, S. 98–100; Anne Gülich: Opitz’ Übersetzungen aus dem Französischen. Phil. Diss. Kiel 1972, S. 21f; Gellinek, S. 145–49 und 160.

292 Bevilacqua, der an dieser Stelle das Motiv der Liebeskommunikation einführt: »Dite le voi per me, ch’Amor vol fede«.55 Im Überblick über die von Opitz gewählten Beispiele ist deren Modellcharakter auch in motivlicher Hinsicht nicht zu übersehen. Das dritte Gedicht bedient die Thematik der Schmerzliebe und wird angekündigt als Beispiel für ein Sonett in vers communs. Item diß / von gemeinen versen: Au weh! ich bin in tausendt tausendt schmertzen / Vnd tausendt noch! die seufftzer sind vmbsonst Herauff geholt / kein anschlag / list noch kunst Verfängt bey jhr. wie wann im kühlen Mertzen Der Schnee zuegeht durch krafft der Himmels kertzen / Vnd netzt das feldt; so feuchtet meine brunst Der zehren bach / die noch die minste gunst Nicht außgebracht: mein’ augen sind dem hertzen Ein schädlich gifft: das dencken an mein liecht Macht das ich irr’ vnd weiß mich selber nicht / Macht das ich bin gleich einem blossen scheine / Das kein gelenck’ vnd gliedtmaß weder krafft Noch stercke hat / die adern keinen safft Noch blut nicht mehr / kein marck nicht die gebeine.

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Dieses Sonett ist eine motivlich verknappte Version von Ronsards Las! ie me plains de mile et mile et mile.56 Dessen zentrales Motiv des zweiten Quartetts, die Klage über die Nutzlosigkeit eines Porträts, das nur ein Schatten der Geliebten sei, lässt Opitz gänzlich weg, um sich auf die Affektbeschreibung zu konzentrieren. Man hat dies als Schwäche gedeutet,57 doch ist dies nicht zwingend. Zunächst einmal findet sich auch dieses Sonett erstmals im Buch von der Deutschen Poeterey, es fehlt also in der Straßburger Ausgabe, was als Hinweis genommen werden kann, dass es gezielt als Beispielsonett für die Poeterey übersetzt wurde. Darauf deutet auch hin, dass es sich um die einzige RonsardÜbertragung in fünfhebigen Jamben handelt, wofür es in der Poetik denn auch steht. Ferner fällt auf, dass Opitz gegenläufig zu anderen Beispielen deutliche ——————— 55

56 57

Vgl. für diese Quelle (Giolito, 1547, II, fo 53 vo) den Kommentar zu Ronsard: Les Amours, S. 534, mit Abdruck des vollständigen Texts. Das Gedicht Petrarcas, Bevilacquas und ihnen folgende von Garcilaso de la Vega, Francisco de Figueroa, Luis de Camões bringt mit deutschen Übersetzungen und dem Beispiel von Opitz die Anthologie: Übersetzung und Nachahmung im europäischen Petrarkismus. Hg. von Luzius Keller. Stuttgart 1974, S. 380–390; weitere französische Imitationen finden sich im dort ebenfalls wiedergedruckten Abschnitt von Henri Weber: La poésie amoureuse de la Pléiade, S. 42–88, hier: S. 66– 69; zuvor in Henri Weber: La création poètique au XVIe siècle en France de Maurice Scève à Agrippa d’Aubigné. Paris 1956, Bd. 1, S. 322–324. Die Übersetzung analysiert Gellinek, S. 141–144, mit Abdruck des Textes aus Ronsard: Les Amours, S. 23; zur Opitz-Übertragung außerdem Nagosky, S. 103–106, und Gülich, S. 28f. Gellinek vermutet zu Opitzens Verteidigung, dass Ronsards Vorlage einfach »zu kompliziert für den einfacheren Zusammenhang, in den die deutsche Bearbeitung hineingestellt werden sollte«, gewesen sein könnte; sie möchte damit u. a. den Verdacht ausräumen, Opitz könne das Gedicht nicht verstanden haben; Gellinek, S. 142.

293 Enjambements einbringt, wo Ronsard eine wohlgegliederte Periodeneinteilung der Sonettabschnitte aufweist,58 was man ebenfalls im Sinne eines gewissen, wenn auch an dieser Stelle unausgesprochenen Demonstrationscharakters verstehen kann. Ronsard reiht mit wiederholtem »je me plains« in den einzelnen Sonettabschnitten eine Klagekette aneinander: Las! ie me plains de mile et mile et mile Soupirs, [...]

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Puis ie me plains d’un portrait inutile [...]

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Mais par sus tout ie me plains d’un penser, [...] Et d’un regret [...]

9 12

Der Dichter klagt über vergebliche Seufzer und ein nutzloses Porträt, über die grausame Erinnerung und sein körperliches Erschlaffen. Bei der Betonung der Nutzlosigkeit und Negativität handelt es sich um eine Umkehrung ursprünglicher petrarkistischer Konzepte. Beispielsweise gehört das Motiv des Porträts der Geliebten ebenfalls in den Bereich der magischen Substitute, woran noch die Arie der Zauberflöte – »Dies Bildnis ist bezaubernd schön« – oder Gotthold Ephraim Lessings Prinz Gonzaga vor dem Bildnis der Emilia Galotti erinnert – »Ah! schönes Werk der Kunst, ist es wahr, dass ich dich besitze?«59 Die Fähigkeit des Porträts, die Geliebte zu ersetzen, zeigt im deutschen Sonett beispielsweise Weckherlins Abwesenheit getröstet aus den Buhlereyen von 1648 mit seinem zweiten Quartett: Nu dises Controfeht betracht ich gantz geflissen / Jemehr ich es betracht / je höher ich dich halt / Jemehr ich lieb / ehr / küß / dein Götliche gestalt / 60 Kan sie auch nimmermehr gnug lieben / ehren / küssen.

5

Unter diesem Gesichtspunkt ist für Ronsards Gedicht die Absage an die Magie des Bildes, das als bloß ›nutzloser Schatten‹ bezeichnet wird, kennzeichnend. Entsprechend sinnlos erscheinen die »soupirs« und das »souvenir« der »beauté cruelle«, das allein zum körperlichen Verfall beiträgt. Die petrarkistischen Liebesleiden sind hier bloß noch als Leiden geschildert, denen kein höherer Wert mehr korrespondiert. Sie erscheinen als ein nutzloser Verschleiß der körperlichen Kraft. Dieses Kernmotiv der zerstörerischen Affektwirkung steht gleichfalls im Zentrum der Opitzschen Adaption, auch wenn er auf das Porträtmotiv verzichtet und an seiner Stelle das Bild von der Schneeschmelze einführt, das die Tränen hervortreibt, die bei der Geliebten fruchtlos bleiben. Interessant ist, dass Opitz ——————— 58 59 60

Vgl. auch Gellinek, S. 143f., mit Hinweis auf die »Bewegtheit der Form«. Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti I,5. In: Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 2, München 1973, S. 135. Weckherlin: Gaistliche und Weltliche Gedichte, 1648, S. 713; vgl. zum Porträt-Motiv den Hinweis auf das Vorbild Weckherlins bei Edmund Spenser: Vf.: Georg Rodolf Weckherlins Buhlereyen-Zyklus, S. 259. Anm. 50.

294 die Ronsardschen Leitbegriffe sämtlich bedient, ohne ihren syntaktischen Zusammenhang unbedingt zu wahren. Wo bei diesem die Augen der Geliebten, die das Herz des Liebenden zu entflammen vermögen, im Bildnis nur als Schatten erscheinen, spricht Opitz von den Augen des Liebenden, die seinem Herzen das Gift der Liebe zuführen. Den Vers hat Gellinek wegen des mangelnden Zusammenhangs mit dem Tränenmotiv gerügt;61 gerade dieser bringt allerdings die für das Gedicht zentrale Negativierung des petrarkistischen Affekts im Enjambement über die Mitte des Sonetts hin am prägnantesten zum Ausdruck. Ronsards Bad im Wasser der Tränen (»Trempée en l’eau de mes pleurs distile«, v. 4) wird Opitz zum anstelle des Porträtmotivs ausgefalteten Bild von der durch die Brunst verursachten Schneeschmelze; das Augen/HerzenVokabular wird aufgenommen und das »penser [...] d’une beauté cruelle« (v. 9– 11) als »Denken an mein Liecht«, allerdings mit dem neuen Irrtumsmotiv: »Macht dass ich irr’«, das die Rede vom schädlichen Gift ergänzt. Das Schlussterzett wiederum folgt recht genau der Vorlage und nennt das Berauben der »veines de sang, nerfs de force« und »os de mouelle«. Man kann feststellen, dass Opitz bei seiner imitatio der Vorlage nicht im einzelnen, aber in der partiellen Wahrung ihrer Textur folgt, indem er ihre Leitbegriffe beibehält, und dass er ihr grundsätzlich auch im hermeneutischen Geist folgt, insofern er ihre Negativierung des petrarkistischen Liebesaffekts mit Vokabeln wie »schädlichs Gifft« und der Rede vom Irrtum des Denkens und vom Selbstverlust (»weiß mich selber nicht«) hervorhebt und verdeutlicht. Dieses dritte Beispielsonett präsentiert demnach einen weiteren wichtigen Aspekt des petrarkistischen Motivraums, nämlich die Affektschilderung des Liebenden, das heißt die Darstellung der geradezu sprichwörtlichen Schmerzliebe. Opitz wählt zu diesem Zweck nicht eine der paradigmatischen Vorlagen des orthodoxen Petrarkismus, also etwa das von ihm zu diesem Zeitpunkt bereits übersetzte S’amor non è Petrarcas oder dessen Antithesensonett Pace non trovo, das ihm nach überkommenen Vorstellungen vom barocken Geist hätte naheliegen müssen. Eine weitere klassische Möglichkeit dieser Art wäre Pietro Bembos Affektsonett Moderati desiri, immenso ardore gewesen oder auch eine entsprechende Adaption Ronsards.62 Nicht die Antithesenstruktur steht in diesem Fall jedoch im Vordergrund, sondern offenbar die formale Demonstration des vers commun und des Enjambements und das Thema der Affektschilderung. Das Enjambement steht dabei der Textstrukturierung im Sinne einer Erleichterung und Beschleunigung des Lesevorgangs entgegen. Gleichwohl sind die Perioden parallel konstruiert und in ihrer Aussage topisch gereiht, so dass die klare rhetorische Strukturiertheit über die Brüche der Enjambements hinweg ihre Sogwirkung und Finalisierung zum Schluss hin gewährleistet. Das retardierende Moment der Enjambements verleiht dem Gedicht einen eigenen ——————— 61 62

Gellinek, S. 143 und 144. Petrarca: Canz. 132 und 134; Bembo: Prose e rime, S. 511 (Nr. 6). Das Antithesensonett Pace non trovo imitiert Ronsard in J’espere & crains, je me tais & supplie: Ronsard: Les Amours, S. 10f., Nr. 12.

295 Reiz, der jedoch – das wird man wohl sagen müssen – eher der formalen Demonstration als einem ästhetischen Kalkül geschuldet ist. Die Entfaltung der Liebesleiden zielt auf die Hervorhebung ihres Verfehlungscharakters. Darin steckt ein moralisierender Zug, den man im allgemeinen Zusammenhang einer diskursiven Distanzierung der Liebesthematik bei Martin Opitz sehen kann. Vnd letztlich eines / in welchem die letzten sechs verse einer umb den andern geschrencket ist: Ich machte diese verß in meiner Pierinnen Begrünten wüsteney / wie Deutschland embsig war Sein mörder selbst zuesein / da herdt vnd auch altar In asche ward gelegt durch trawriges beginnen Der blutigen begiehr / da gantzer völcker sinnen Vnd tichten ward verkehrt / da aller laster schar / Mord / vnzucht / schwelgerey vnd triegen gantz vnd gar Den platz der alten ehr’ vnd tugendt hielten innen. Damit die böse zeit nun würde hingebracht / Hab’ ich sie wollen hier an leichte reime wenden. Mars thut’s der liebe nach das er der threnen lacht: Mein krieg ist lobens werth / vnd seiner ist zue schenden: Denn meiner wird gestilt durch zweyer leute schlacht / Den andern können auch viel tausend noch nicht enden.

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Auch dieses Sonett findet sich erstmals in der Poeterey; es demonstriert hier als einziges mit dem alten zweireimigen C D C D C D eine abweichende Reimordnung der Terzette und schließt auch darin an Ronsard an. Innerhalb der vier Mustergedichte bildet es den Abschluss, und Opitz setzt an diese Stelle ein dezidiertes Epiloggedicht, dessen Vorlage bei Ronsard in der Ausgabe von 1578 den Abschluss der Amours diverses und damit der gesamten Sammlung bildete.63 Auch Opitz behandelt es durchweg als Epiloggedicht, wenn er es in der Sammlung B seit 1625 als Abschluss des Sonettbuchs setzt.64 Es besitzt dadurch einen gewissen programmatischen Stellenwert, den es auch thematisch beansprucht, indem es eine Legitimation der Liebesdichtung gibt. Opitz folgt Ronsard im Grunde recht eng, allein dessen historischen Kontext – »les Français sous les armes« – überträgt er auf die deutsche Kriegsgegenwart, wobei er das mythologische Beiwerk der Vorlage – »Bellone sanglante« – »Glauque« – »Protée« – »Thebaïde« – auslässt.65 Die Thematik und die Stel——————— 63

64 65

Gellinek, S. 158–160. In den Ronsard-Ausgaben rückt es 1584 als Nr. 58 ziemlich ans Ende des ersten Buchs der Sonnets pour Hélène und 1587 wieder zu den Amours Diverses; Ronsard: Les Amours, S. 481. Ronsards Sonett ist zusammen mit dem von Opitz wieder abgedruckt in: Französische Dichtung, Bd. 1, S. 156f. Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II, S. 720, Nr. 72.110. Gellinek, S. 159, geht etwas weit, wenn sie Opitzens Übertragung als »zweifellos bildhafter, emotioneller und wirkungsvoller« bezeichnet; der einzige wirklich festzuhaltende Unterschied liegt im Verzicht auf die Mythologeme, während die Aufzählung der Laster bei Ronsard ähnlich lautet: »Quand en lieu de la loi le vice, l’homicide, | L’impudence, le meurtre, et se savoir muer | En Glauque et en Protée, [...].« (v. 5–7). Auch Opitzens

296 lung des Gedichts verweist auf die petrarkistische Tradition der Rahmensonette, wobei hier in der Regel die Eröffnungssonette eine prinzipielle Perspektivierung der Liebesdichtung und des Liebesgeschehens vornehmen; klassische Muster sind Petrarcas Voi ch’ascoltate oder Bembos Piansi e cantai.66 Das angezogene Motiv allerdings, der Streit zwischen Mars und Amor und das Bild des Liebeskriegs, ist nicht petrarkistisch, sondern entstammt der antiken Liebesdichtung.67 In der Aussage des Sonetts folgt Opitz Ronsard. Das Verfassen von Liebesgedichten wird konfrontiert mit der aktuellen Kriegssituation und das damit einhergehende Legitimationsproblem der ›leichten Reime‹ wird aufgelöst durch eine Pointe, die gerade umgekehrt das politisch-patriotische Geschehen in seiner Legitimität bestreitet. Der dabei vorausgesetzte moralisierende und zeitkritische Gestus dominiert die Liebesthematik gänzlich. Eine eigene Dignität kommt dieser nicht zu; nur zum Zeitvertreib seien die Gedichte verfasst. Dies entspricht recht genau der oben zitierten Maxime des Buchs von der Deutschen Poeterey, dass Liebesdichtung vor allem im Dienste des Scharfsinns stehe. Ein Eigenwert kommt ihr nicht zu, und so bestätigt auch dieses legitimatorische Rahmensonett die grundsätzliche Distanz, die bei Opitz zur traditionellen Thematik der Sonettdichtung besteht. Überblickt man die vier Beispielsonette, die Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey anführt, um die formalen Möglichkeiten des Sonetts vorzustellen, so ergibt sich eine sehr gezielte Auswahl der Texte, die den Motivraum des traditionellen Petrarkismus präzise und nahezu umfassend absteckt. Es findet sich ein (parodistisches) Sonett des Schönheitslobs, eins des Ortslobs und der substituierten Liebeskommunikation, eins der Affektdarstellung der Schmerzliebe und ein im weitesten Sinne poetologisches Sonett zur Perspektivierung und Legitimation der Liebesdichtung. In den beiden Rahmensonetten wird dabei eine Distanz zur angezogenen imitatorischen Tradition markiert, die in den beiden mittleren Texten weniger spürbar ist. Insgesamt ergibt sich eine vor allem anhand von Ronsard genau getroffene Auswahl von Themen. Alle vier Sonette finden sich erstmals in der Poeterey, was der Bemerkung des Dichters zum Tyndaris-Sonett, er habe es heute und durch gegebenen Anlass gedichtet, einige Wahrscheinlichkeit verleiht. Für umso weniger zufällig wird man die Auswahl zu halten haben. Opitz markiert den Motivraum der petrarkistischen Sonett-Tradition auf paradigmatische Weise, aber ohne dies explizit zu machen. Explizit gemacht werden lediglich die Regularien der Textur: Vers- und Reimformen. Die Rahmung der Beispiele durch die antipetrarkistische Parodie und das patriotisch-programmatische Schlussgedicht vermittelt dabei zugleich mit ——————— 66 67

Beschreibung der Kriegsleiden ist nicht situativ, sondern allegorisch und abstrakt, wenn auch nicht mythologisch. Petrarca: Canz. 1, S. 5; Bembo: Prose e rime, S. 507, Rime 1. Als Muster wird in Henri Webers Kommentar Properz II,15,41–45 angegeben; Ronsard: Les Amours, S. 740, zu Sonnets pour Hélène I, Nr. 44; der Verweis auch bei Hempfer: Die Pluralisierung, S. 260f. Vgl. zum Motivbereich des Liebeskriegs bei Opitz auch Wilhelm Kühlmann: Militat omnis amans. Petrarkistische Ovidimitatio und bürgerliches Epithalamion bei Martin Opitz. In: Daphnis 7 (1978) 199–214.

297 der Präsentation die Distanzierung, zugleich mit den imitatorischen Mustern deren Fremdheit.68 Man kann also zusammenfassend feststellen, dass die poetologische Einführung des Sonetts in die deutsche Literatursprache aufs engste mit dem petrarkistischen Diskurskomplex verknüpft ist. Andere mögliche Themen werden nicht vorgeführt. Mit insgesamt fünf Beispielsonetten ist die Gedichtform in der Poeterey stark vertreten, die Quantität demonstriert ihre tatsächliche Bedeutung eher als die tatsächliche Stellung des Sonetts in der Gattungshierarchie. Ähnlich indirekt scheint die Wertung des petrarkistischen Diskurses vollzogen. Nur beiläufig erwähnt wird der Ausdruck petrarquiser, dafür repräsentieren die vorgestellten Sonette aber wie zufällig auf umfassende Weise den semantischen Raum des petrarkistischen Liebessonetts. Damit wird nahezu zwingend an die verbindliche Gattungstradition und ihren poetischen Werthorizont angeschlossen. Dies geschieht nun jedoch nicht durch die Übersetzung von PetrarcaSonetten, sondern nahezu ausschließlich durch solche von Ronsard. Mit Ronsard zugleich ist ein ganz anderer ideologischer Raum eröffnet, als dies mit Petrarca-Sonetten hätte geschehen können. Ronsards Stellung ist der von Opitz historisch in jeder Hinsicht näher, da sich bei diesem die Problematik der Übertragung der kanonisierten imitatorischen Tradition in eine eigene Nationalsprache und damit die Dialektik von Nachahmung und Selbstbehauptung bereits vollständig ausgebildet findet. Die grundsätzliche Distanz zum kanonischen petrarkistischen Liebessonett ist mit der Rahmung der Gedichte durch das antipetrarkistische Sonett nach Joachim du Bellay und Francesco Berni einerseits und das auf die jeweilige nationale politische Situation bezogene PierinnenSonett andererseits hinreichend markiert. Einerseits geschieht dies durch das Herausstellen der Scheinhaftigkeit der traditionellen Liebesdichtung selbst, andererseits durch die Bezugnahme auf die dominante gesellschaftlich-höfische Nützlichkeitsforderung, dergegenüber sich Dichtung im 17. Jahrhundert nun zwingend zu bewähren hat. Für Opitz kann sich Liebesdichtung nur noch im Gegenüber zu diesen Maximen behaupten, im Verweis also auf den drohenden Scheincharakter oder in der Bezugnahme auf ein politisches Nützlichkeitsprinzip. Dies gilt, obwohl der Anteil der Liebesdichtung am Werk von Martin Opitz bekanntlich hoch ist.

3.5

Antipetrarkismus

Der Begriff des Antipetrarkismus bezeichnet verkürzt gesprochen zumindest zwei unterschiedliche Komplexe. Zum einen hat man ihn lange Zeit in einer ——————— 68

Dieser Befund geht weiter als der von Fechner, dass sich in Deutschland die Rezeption von Petrarkismus und Antipetrarkismus gleichzeitig vollzogen habe. Dass dies so ist, zeigen die vorgeführten Beispiele. Dabei scheint es geradezu so zu sein, als ob das antipetrarkistische Muster den petrarkistischen die Legitimation zu liefern vermöchte; vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Der Antipetrarkismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik. Heidelberg 1966, S. 22.

298 weniger technischen Verwendungsweise für jede Gegenakzentuierung zur orthodoxen petrarkistischen Tradition gebraucht, letztlich also im Sinne eines ideologischen Antipetrarkismus. Zum anderen ist der Begriff in einer poetologischen Verwendungsweise auf dezidiert parodistische Auseinandersetzungen mit der petrarkistischen Tradition eingeschränkt worden. Diese engere Begriffsverwendung bezeichnet damit einen bestimmten Texttyp und ist selektiv und aussagekräftig. Als Arturo Graf den Begriff des Antipetrarkismus aufbrachte, bezog er ihn unter anderem sogar auf den christlichen Petrarkismus,69 mithin auf solche literarischen Entwicklungen, die eine deutliche ideologische Umbesetzung der petrarkistischen Tradition vornahmen. Gemäß des vorgeschlagenen poetologisch gefassten Petrarkismusbegriffs fällt solches umstandslos noch unter diesen, insofern es im Rahmen imitatorischer Vorgaben auf eine Adaption des petrarkischen und petrarkistischen Musters zielt. Da sich eine solche Adaption allerdings deutlich gegen das Vorbild des orthodoxen poetologischen Petrarkismus wendet, wäre es dem Bereich der petrarkistischen Heterodoxie zuzurechnen. All dies bleibt jedoch unabhängig vom Begriff des Antipetrarkismus. Jörg-Ulrich Fechner hatte als Antipetrarkismus die Ablehnung der Form der petrarkistischen Imitation bezeichnet, mithin jede neue Systematisierung, die die imitatorischen und ideologischen Voraussetzungen der petrarkistischen Orthodoxie überschritt.70 Darunter fiel sowohl der gesamte geistliche Petrarkismus als auch das für das protestantische Deutschland so charakteristische Motiv der Ehe. Fechner sprach in diesem Zusammenhang von einem ›vorehelichen‹ Petrarkismus in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts (75). War damit ein wichtiges Motiv erkannt, dem auch in den folgenden Abschnitten Rechnung zu tragen ist, so ist doch von romanistischer Seite dezidiert darauf hingewiesen worden, dass der Begriff des Antipetrarkismus damit überstrapaziert wird.71 Antipetrarkistisch in einem engeren Sinn ist das erste der vier Mustersonette, die Martin Opitz in sein Buch von der Deutschen Poeterey gesetzt hat, das bekannte Tyndaris-Sonett. Opitz kündigt im unmittelbaren Anschluss an die oben zitierte Erklärung des Reimschemas jovial ein vermeintlich spontan entstandenes Sonett an, das offenbar eine Parodie darstellt: Zum exempel mag dieses sein / welches ich heute im spatzieren gehen / durch gegebenen anlass ertichtet.

——————— 69 70 71

Arturo Graf: Petrarchismo ed antipetrarchismo. In: Graf: Attraverso il Cinquecento. Turin 1888, S. 1–86, hier: S. 81; Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik, S. 5. Fechner: Der Antipetrarkismus, S. 25. Ulrich Schulz-Buschhaus: Antipetrarkismus und barocke Lyrik. Bemerkungen zu einer Studie Jörg-Ulrich Fechners. In: RJb 19 (1968) 90–96, hier: S. 93 Anm. 8. Einen unspezifischen Begriff gebraucht auch Jochen Schmidt, wenn er von einem »stoisch eingefärbten Antipetrarkismus« Paul Flemings spricht; J. Schmidt: Petrarkismus und Stoizismus: Die Kreuzung zweier Diskurse in Paul Flemings Lyrik. In: Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik. Hg. von Achim Aurnhammer. Tübingen 2006, S. 211–222, hier: S. 215.

299 Sonnet. Du schöne Tyndaris / wer findet deines gleichen / Vnd wolt’ er hin vnd her das gantze landt durchziehn? Dein’ augen trutzen wol den edelsten Rubin / Vnd für den Lippen muss ein Türckiß auch verbleichen / Die zeene kan kein goldt an hoher farb’ erreichen / Der mundt ist Himmelweit / der halß sticht Attstein hin. Wo ich mein vrtheil nur zue fellen würdig bin / Alecto wird dir selbst des haares halber weichen / Der Venus ehemann geht so gerade nicht / Vnd auch der Venus sohn hat kein solch scharff gesicht; In summa du bezwingst die Götter vnnd Göttinnen. Weil man dan denen auch die vns gleich nicht sindt wol / Geht es schon sawer ein / doch guttes gönnen soll / 72 So wündtsch’ ich das mein feind dich möge lieb gewinnen.

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Kein Text scheint weniger geeignet, eine Gattung autoritativ einzuführen, als gerade die Parodie ihres dominanten Musters. Fechner hat deshalb auch gerade dieses Sonett zum Ausgangspunkt seiner Studie über die Distanzierung des Petrarkismus in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts genommen, in deren Zentrum allerdings das eigentlich außerpetrarkistische Motiv der Frauensatire steht.73 Neuere Untersuchungen haben inzwischen zu einer differenzierten Sicht des sogenannten Antipetrarkismus und der Burleskdichtung der italienischen Renaissanceliteratur beigetragen, was auch zur Charakterisierung des Opitz-Sonetts hilfreich ist. Denn trotz der vom Dichter in Anspruch genommenen Spontaneität handelt es sich zwar nicht geradezu um eine Übersetzung, aber doch um eine sehr konkrete imitatorische Adaption gleich mehrerer entsprechender Vorbilder. Als Urbild des Gedichts muss Francesco Bernis berühmtes Sonetto alla sua donna gelten, wobei Opitz wohl ebenfalls Joachim du Bellays weitgehend treue Übersetzung aus den Regrets von 1558 benutzt hat.74 Anhand der letztgenannten Vorlage lässt sich zunächst einmal das grundlegende Verfahren dieser Art ›antipetrarkistischer‹ Texte bestimmen. JOACHIM DU BELLAY O beaux cheveux d’argent mignonnement retors! O front crespe, et serein! et vous face doree! O beaux yeux de crystal! ô grand’bouche honoree, Qui d’un large reply retrousses tes deux bords! O belles dentz d’ebene! ô precieux tresors, Qui faites d’un seul riz toute ame enamouree! O gorge damasquine en cent pliz figuree! Et vous beaux grands tetins, dignes d’un si beau corps!

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74

Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 331–416, hier: S. 398f.; leicht modifiziert wieder in B: Bd. II/2, S. 699, Nr. 72.85. Fechner: Der Antipetrarkismus, hier S. 13–15; zu Opitzens Sonett außerdem Gellinek, S. 162; zur satirischen Distanzierung der Preziosenmetaphorik in etwas anderem Kontext auch Berns, zum Tyndaris-Sonett: S. 72f. J.-U. Fechner: Von Petrarca zum Antipetrarkismus: Bemerkungen zu Opitz’ An eine Jungfraw. In: Euphorion 62 (1968) 54–71; Schulz-Buschhaus: Antipetrarkismus, S. 93, Anm. 8.

300 O beaux ongles dorez! ô main courte, et grassette! O cuisse delicatte! et vous gembe grossette, Et ce que je ne puis honnestement nommer! O beau corps transparent! ô beaux membres de glace! O divines beautez! pardonnez moy de grace, 75 Si pour estre mortel, je ne vous ose aymer.

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Du Bellays Sonett folgt ganz weitgehend seiner Vorlage bei Berni. Beide beginnen in ihrer enumerativen ›Schönheitsbeschreibung‹ mit den schönen borstig gedrehten Haaren aus Silber (»Chiome d’argento fino, irte e attorte«, v. 1),76 der gekräuselten Stirn (»fronte crespa«, v. 3) und dem Gesicht aus Gold (»bel viso d’oro«, v. 2), wo – nur bei Berni – mit ihren Strahlen Amor und der Tod ›aufgehen‹ (»Amor e Morte«, v. 4). Das Mythologem fehlt bei Du Bellay. Anstelle von Bernis Augen aus lieblichen Perlen (»di perle vaghi«, v. 5) hat er solche aus Kristall, anstelle des ›himmelweiten‹ Munds einen bewundernswert großen mit gleichfalls dunklen Zähnen aus Ebenholz (»denti d’ebeno rari e pellegrini«, v. 10). Das »kompositorische Puzzle-Spiel«77 bezieht seinen parodistischen Effekt aus der Fehlattribution von Prädikaten, die durchweg dem petrarkistischen Lexikon entnommen sind, die aber durch ihre Zuordnung aus dem Schönheitspreis das Porträt einer hässlichen Alten machen.78 Den charakteristischen Unterschied zur Satire auf die alte Frau macht allerdings das Vokabular aus, das in den Gedichten von Berni, Du Bellay und Opitz eben nicht von burlesker Derbheit geprägt ist, sondern das eine strenge petrarkistische Stillage hält. Dies macht bei Schulz-Buschhaus der Vergleich mit der Vorlage Bernis, dem für diesen Typus des petrarkistischen Schönheitspreises prototypischen Crin d’oro crespo e d’ambra tersa e pura von Pietro Bembo deutlich.79 Bernis Gedicht folgt damit genau dem zitatkombinatorischen Verfahren, das für den ——————— 75 76 77

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Joachim du Bellay: Les Regrets; in: Poètes du XVIe siècle, S. 481f.; auch in: Französische Dichtung, Bd. 1, S. 208f. Berni, S. 79; auch abgedruckt in: Texte zum Antipetrarkismus. Hg. von Johannes Hösle. Tübingen 1970, S. 5 (Nr. 2). Eine ausführliche Analyse des Berni-Sonetts im Hinblick auf seinen spezifisch antipetrarkistischen Charakter und unter Verweis auf seine ›orthodoxe‹ Vorlage bei Pietro Bembo bietet Schulz-Buschhaus: Spielarten des Antipetrarkismus, S. 326–331, hier S. 326; außerdem: Ders.: Emphase und Geometrie. Notizen zu Opitz’ Sonettistik im Kontext des europäischen Petrarkismus. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. von Vf. und Walter Schmitz. Tübingen 2002, S. 68–82. Ich gebe die Zusammenhänge deshalb abgekürzt und nur im Ergebnis wieder. Das Motiv der häßlichen Alten besitzt seine eigene antike und burleske Tradition. Es ist deshalb sorgfältig zu unterscheiden zwischen dieser Tradition der Frauensatire und der in unserem Gedicht dominierenden Stil- und Motivparodie des Petrarkismus. Vgl. FrankRutger Hausmann: Das Thema der häßlichen Alten in der neulateinischen Lyrik Italiens im Quattrocento und seine volkssprachlichen und klassisch-lateinischen Quellen. In: Sprachen der Lyrik. Hg. von Erich Köhler. Frankfurt a.M. 1975, S. 264–286; darauf verweist auch Schulz-Buschhaus. Pietro Bembo: Rime 5, in Bembo, S. 510f., dort in den Anmerkungen die Vorlagen bei Petrarca; zu Bembos Gedicht außerdem Forster: Petrarcas Dichtweise, S. 9–47, hier S. 26, wo es mit deutscher Übersetzung abgedruckt ist; ferner Schulz-Buschhaus: Spielarten des Antipetrarkismus, S. 327f.

301 orthodoxen Petrarkismus selbst charakteristisch ist. Aus der Sicht des Burleskdichters Berni handelt es sich damit aber um eine parodistische Annäherung an die petrarkistische Imitatorik, die von der Verwendung der Sonettgattung bis zu der der spezifischen imitatio-Technik und damit auch des Lexikons und schließlich zur enumerativen Disposition des Gedichts reicht, die den Verzicht auf das übliche burlesk-obszöne und derb-drastische Vokabular mit dem zugehörigen Gestus der Invektive impliziert, das etwa für die Satire der hässlichen Alten charakteristisch ist. Dass die Parodie hier die hohe Stillage streng hält, erlaubt die Qualifikation des Sonetts als antipetrarkistisch in einem engeren Sinn. Diese Merkmale gelten grundsätzlich auch für das Gedicht von Opitz. Der genaue Vorlagenvergleich erlaubt jetzt zunächst eine Bestimmung seiner Vorgehensweise. Die Verwendung des Verfahrens der Fehlprädikation stimmt bei Opitz zumindest im ersten Gedichtteil genau mit den genannten Modellen überein, allerdings nimmt er mehr noch als Du Bellay gegenüber Berni neue Zuordnungen vor. Die Augen gleichen hier dem Rubin statt Perlen oder Kristall, die Lippen dem Türkis statt der Milch Bernis (»labra di latte«, v. 9), die Zähne sind golden statt ebenholzfarben, der Hals gleicht dem Bernstein statt faltiger Damaszierung. Die Wendung »Der Mundt ist Himmelweit« weist allerdings direkt auf Bernis »bocca ampia celeste« (v. 9), was sich bei Du Bellay nicht findet. Dagegen lehnt sich die Pointe, die Schöne seinem Feind zu wünschen, an letzteren an. Bernis Sonett ist nämlich – ähnlich wie das orthodoxe Bembos – nahezu pointenlos und konstatiert lediglich, »che queste son le bellezze della donna mia« (v. 13f.). Eine Liebesabsage dagegen formuliert Du Bellay, wenn er die Angesprochene nicht zu lieben ›wagt‹. Man kann daraus folgern, dass das Opitz-Gedicht sich auf beide Texte bezieht. Deutlich wird nun aber auch, dass die bei Opitz so auffallenden mythologischen Überbietungsvergleiche in den beiden Vorlagen keine Parallele haben, während sie im Tyndaris-Gedicht zumindest gleichgewichtig neben den reinen Fehlprädikationen stehen und diese im zweiten Gedichtteil ergänzen. Bei Berni taucht lediglich an zwei Stellen der genuin petrarkistische Name Amors auf, die erste wurde bereits zitiert, die zweite ist eine Anrede an die »divini servi d’Amor« (v. 12f.) im letzten Terzett. Du Bellay macht daraus an gleicher Stelle eine Anrede an die »divines beautez«, deren verzeihende ›Gnade‹ (grace) er wegen seiner Zurückweisung solcher Schönheit erbittet, was im übrigen Bembos Sonett zitiert, der die Schönheiten der Dame für himmlische grazie hält. Den somit vielfach angedeuteten ›göttlichen‹ Charakter der Schönheit faltet Opitz nun in seinem Gedicht durch die mythologischen Vergleiche aus. Nicht zuletzt taucht auch der Venussohn bei ihm wieder auf. Auch für die mythologischen Überbietungsvergleiche gibt es natürlich Vorbilder, und man könnte erwägen, ob sich für das Sonett andernorts möglicherweise noch eine unmittelbare Vorlage nachweisen lässt, oder ob es sich – und dies ist nach dem augenblicklichen Kenntnisstand die wahrscheinliche Variante – um die Kombination zweier unterschiedlicher Verfahren handelt, die auf Opitz’ Rechnung geht. Die Verwendung des mythologischen Vergleichs zu satirischen Zwecken lässt sich jedenfalls auch vor Opitz nachweisen, beispielsweise in wünschenswerter Drastik in Étienne Jodelles Contr’Amours (1574). Ich ziehe

302 das 5. Sonett dieses kleinen Zyklus’ heran, das es zugleich ermöglicht, die Differenz zur burlesken Invektive deutlich zu machen. Ob Jodelles Sonett als weitere unmittelbare Vorlage für Opitz in Frage kommt, muss offen bleiben, obwohl es nicht ganz unwahrscheinlich ist. Jodelle zieht göttliche Schreckensgestalten heran, um die bedichtete Dame in der Pointe dann im Rahmen eines Summationsschemas diese in allen Hinsichten übertreffen zu lassen. Es bietet damit genau jene Aspekte, die das Tyndaris-Gedicht vom Schönheitspreis Bernis und Du Bellays unterscheidet. Bei Jodelle geht der mythologische Reigen allerdings in eine drastische Schimpfkanonade aus: ÉTIENNE JODELLE Contr’Amours V Myrrhe bruloit jadis d’une flamme enragee, Osant souiller au lict la place maternelle: Scylle jadis tondant la teste paternelle, Avoit bien l’amour vraye en trahison changee: Arachne ayant des Arts la Deesse outragee, Enfloit bien son gros fiel d’une fierté rebelle: Gorgon s’horribla bien, quand sa teste tant belle Se vit de noirs serpens en lieu de poil chargee: Medee employa trop ses charmes, et ses herbes, Quand brulant Creon, Creuse, et leurs palais superbes, Vengea sur eux la foy par Jason mal gardee. Mais tu es cent fois plus, sur ton point de vieillesse, Pute, traitresse, fiere, horrible, et charmeresse, 80 Que Myrrhe, Scylle, Arachne, et Meduse, et Medee.

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Im Vergleich zum Tyndaris-Sonett handelt es sich durchweg um andere Gestalten, lediglich die schlangenhäuptige Gorgo und Meduse kehrt bei Opitz ähnlich mit Alecto wieder. Die Aufreihung von mythologischen Figuren schließt sich bei Opitz von Vers 8–11 an die bereits besprochenen preziösen Prädikationen der Verse 3–7 an und endet ausdrücklich mit einer summatorischen Floskel, die gleichsam die Brücke von Jodelles Summation der mythologischen Namen und Eigenschaften und Du Bellays Anrede der »divines beautez!« herstellt: »In summa du bezwingst die Götter vnnd Göttinnen«. Was nun die mythologischen Namen selbst betrifft, so hat Fechner darauf hingewiesen, dass es sich bei Tyndaris um eine entlegene Bezeichnung für die Töchter des Tyndareos, nämlich Klytämnestra und Helena handelt,81 die in Jodelles Reigen todbringender Schönheiten nicht schlecht passen wollen. Für diese wie für die herbeizitierten Namen gilt bei Opitz, dass er sekundäre Bezeichnungen wählt, die den Charakter der jeweiligen Figur erst nach einiger Besinnung enthüllen. Der bucklige Vulcan taucht als »der Venus ehemann«, der blinde Amor als ihr Sohn auf, lediglich Alecto ist der direkte Name einer schlangenhäuptigen Furie, die allerdings weniger geläufig ist als Jodelles Meduse und Gorgo. Die mythologischen Namen folgen demnach einem den preziö——————— 80 81

Etienne Jodelle: Contr’Amours. In: Poètes du XVIe siècle, S. 732. Fechner: Der Antipetrarkismus, S. 14.

303 sen Prädikationen verwandten Prinzip der scharfsinnigen Substitution, die ihren Sinn erst auf den zweiten Blick freigibt. Dies hat einen weiteren wichtigen Effekt, denn so tauchen auf der Textoberfläche bei Opitz keine Schreckensnamen auf, sondern lediglich Tyndaris als Name der Angeredeten sowie Alecto und Venus, was das petrarkistische Repertoire nicht offen überschreitet. Ganz anders klingt da auf Anhieb Jodelles Katalog der Myrrha, Scylla, Arachne, Meduse und Medea, die gar nicht erst den Schein eines schmeichelhaften Vergleichs aufkommen lassen, zumal ihre Untaten offen genannt werden und die Bedichtete als Alte, Hure, Betrügerin, stolz, schrecklich und ›bezaubernd‹ beschimpft wird. In solchem Übergang zur Invektive wird der burleske Hintergrund der Parodie manifest, es wird aber auch die Stilebene durchbrochen und ein Stück der Wirkung der Petrarkismus-Parodie preisgegeben. Wo das Sonett nämlich die stilistische Sprachebene verlässt, wird aus der Parodie eine Frauensatire, die die Tradition des Petrarkismus selbst nicht mehr trifft. Die Anmerkungen von Schulz-Buschhaus zu diesem Sachverhalt gelten demnach im Vollsinn auch für Opitz, der sich strikt auf der hohen Stilebene bewegt, die er noch in der Verwendung der mythologischen Umschreibungen zu wahren versteht. Diese Beobachtungen zeigen, dass das Tyndaris-Sonett von Martin Opitz auf eine sehr bewusste Weise in der Tradition humanistischer imitatio steht und dass es diese im Sinne einer präzise vorgenommenen Parodie des Petrarkismus als ein ganz bestimmtes Verfahren umsetzt. Die konstatierte Differenz zur Burleske und auch zur traditionellen Frauensatire kann durch einen Vergleich mit verwandten Behandlungen des Themas bei Georg Rodolf Weckherlin und Paul Fleming auch für die deutsche Tradition noch verdeutlicht werden. Weckherlin bringt in seinem petrarkistischen Buhlereyen-Zyklus an später Stelle – was durchaus nicht unüblich, wenn auch ein wenig irritierend ist – eine Satire auf eine brünstige Alte im Sinne der erwähnten Tradition. Sie folgt im Zyklus als thematische Reprise auf ein Gedicht auf das Altern der Geliebten, das in den traditionellen petrarkistischen Kontext hineingehört und Vorgaben bis zu Petrarca hin besitzt. Dies bietet die Schnittstelle, an der die Satire eingegliedert wird, auch wenn sie dem Kontext des Zyklus ansonsten fremd bleibt, insofern sie nicht mit der dort bedichteten Geliebten identifizierbar ist.82 GEORG RODOLF WECKHERLIN 22. An eine alte üppige Fraw. Was dienet deine brunst / dein muhtwill und verlangen? Dein Sommer ist dahin / dein Herbst ist eingebracht / Dein Winter auff dem halß: umbsunst ist diser pracht / Nim doch hinweg den Busch / laß ab von deinem prangen. Was reich und schön umb dich mag einen geitzhalß fangen / Wa deines Leibs gestäud / wa deiner augen nacht /

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Fechner hat die beiden Gedichte auf die Liebe im Alter geradezu als Palinodie gelesen, dabei aber den Zykluskontext des voranstehenden Sonetts und seine Zugehörigkeit zum petrarkistischen Motivarsenal nicht berücksichtigt. Vgl. Fechner: Der Antipetrarkismus, S. 53f.; außerdem Vf.: Georg Rodolf Weckherlins Buhlereyen-Zyklus, bes. S. 259f. Anm. 51.

304 Wa deines munds saphir / und deines athems macht / Deiner brust Corduan / und das gold deiner wangen / Wa dein von bein und haut flaischloses angesicht Nicht dein ich weiß nicht was / und ehr so wol bewahren / dass seine lieb gewiß / wie dein lob / ein gedicht.

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Doch wan er seine lieb / dir sich zu offenbahren (Meinaydig) schwören solt / so liebet er doch nicht 83 Wie deines beuttels gold / das silber deiner haaren.

Vor allem im zweiten Quartett finden sich die bekannten Fehlprädikationen »mit deines leibs gestäud«, »deiner augen nacht«, »deines munds saphir«, »deiner brust Corduan« und »deiner wangen gold«. Den Kontext bietet allerdings die Invektive der geilen Alten, der ein ihrem Alter angemessenes Geschlechtsverhalten nahegelegt wird, und der nicht bloß die silbernen Haare nachgesagt werden, sondern vor allem, dass sie mit ihrem Reichtum auf Männerfang gehe. Dies kennzeichnet deutlich genug die Satire, die einen konkreten Sozialtypus bezeichnet. Tyndaris dagegen ist gesellschaftlich nicht zuzuordnen und meint keinen spezifischen Frauentyp. Die Komisierung richtet sich bei Opitz allein auf den Gedichttypus. Ein weiteres Beispiel kann Paul Flemings Sonett An Chrysillen abgeben, das den Effekt der Fehlprädikation durch die Wiederholung von stets derselben Zuschreibung des Goldes erreicht. Die potenzierte Replikationsfigur zitiert bis in den Klang des stets wiederholten Wortes hinein das Verfahren des petrarkischen Sonetts Dolci ire, dolci sdegni et dolci paci, wo sich die ›dolce‹ und ›dolci‹ im ersten Quartett zehnfach repetieren, um im Fortgang jedoch gänzlich verloren zu gehen.84 Während in Flemings erstem Vers das Lob des goldenen Haars noch im Sinne von Crin d’oro crespo petrarkismuskonform ist, steigert es bei jeder weiteren Anwendung die Absurdität bis hin zu einer Pointe im Rahmen der nun bereits bekannten finanziellen Assoziation, die die Dame in diesem Fall nicht nur als Greisin, sondern womöglich auch als Dirne ausweist: PAUL FLEMING An Chrysillen. Goldt ist dein treflichs Haar / Goldt deiner Augen Liecht / Goldt dein gemahlter Mund / Goldt deine schöne Wangen / der Halß / die Brust / der Leib / und was uns macht Verlangen / Goldt ist die Rede selbst / die deine Zunge spricht / die auch gantz gülden ist. - - - - Ach! dass sich doch mein Hertz an dieses Goldt gehangen? Goldt suchet iedermann. Goldt lässt sich noch erlangen. Dich / du deß Goldes Goldt kan ich erlangen nicht. Chrysille / güldnes Bildt / und güldner noch / als Goldt / dein mehr als güldner Preiß ist mehr als Goldt verzollt. Diß hat nicht so viel Goldt in allen seinen Schätzen.

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Weckherlin: Gaistliche und Weltliche Gedichte, 1648, S. 715; in Vers 7 emendiere ich »ahtem« nach Vergleich der Ausgabe von 1641, S. 220, nach »athem«. Canz. 205, Petrarca: Canzoniere, S. 866.

305 So viel nicht Jupiter / der alles Goldt auf käufft. Wenn du dich hältst so hoch / als sich dein Werth beläufft / 85 So kan dich Niemand nicht / als du dich selbst bezahlen.

Im solcherart entfalteten Motivfeld nimmt sich die Eigenart des Opitzschen Sonetts nun deutlich aus. Es entspricht dem Verfahren des letztgenannten Beispiels und nicht dem von Weckherlin, es entspricht dem von Du Bellay, aber nicht dem von Jodelle, wenn es auf der hohen petrarkistischen Sprach- und Motivebene verbleibt und nicht in den Gestus der satirischen Invektive verfällt. Es handelt sich um eine antipetrarkistische Parodie und nicht um eine burleske Frauensatire. Dies nimmt sich nun im Kontext der Poeterey durchaus eigentümlich aus. Man muss dabei feststellen, dass wohl kein anderes Vorgehen den Ort und die Problematik der Sonettdichtung am Beginn des 17. Jahrhunderts auf ähnlich markante Weise hätte deutlich machen können. Opitz verzichtet in seiner Poetik auf die Nennung von Musterautoren für das Sonett, und so fehlt vor allem die Nennung Petrarcas. Indem er vorgeblich absichtslos aber die Sonettbeispiele mit der Petrarkismus-Parodie eröffnet, trifft er die Sache auf den Punkt. Er bietet nämlich mit dieser Parodie, die über Du Bellay und womöglich Jodelle und Berni auf Bembo und Petrarca weist, ein eminent aussagekräftiges Muster, das zugleich mit ihrer Distanzierung die autoritative Petrarca-imitatio am Beispiel des Schönheitspreises vorführt. Das Verfahren einer petrarkistischen Sonettdichtung, die über das Nachahmungsgebot auf Zitatkombinatorik verwiesen ist, ließe sich kaum besser verdeutlichen. Es zeigt sich jedoch auch, inwiefern ein solches Konzept des Antipetrarkismus an die Gattung gebunden ist. Während die Distanzierung des petrarkistischen Schönheitspreises in anderen Gattungskontexten als ein bloßes Zitat erscheint, schafft erst die Adaption der Sonettform jenen parodistischen Kontext, der sich ganz dem petrarkistischen Programm selbst widmet. Man betrachte etwa folgende Schönheitsbeschreibung, die sich in Lohensteins Arminiusroman findet: Es war in der Königin Frauen-Zimmer eine edle Albanierin / welche ihrer Schönheit halber gleichsam ein Begrif aller Vollkommenheiten genennet werden konte. Denn sie hatte schneeweiße Haut / Zähne und Nägel / schwartz-braune Augen und Augenbrauen / rothe Lippen / Wangen und Haut unter den Nägeln / lange krause Haare / Hände und einen gestreckten Leib / einen kurtzen Bauch / erhobene Backen / niedrige Zähne und Ohren; eine breite Stirne und Schultern; einen engen Mund / und aufgelauffene Lefzen / die Augenbrauen von einander unterschieden; länglicht runde Finger / eine dünne Nase / einen kleinen Kopf / Füsse / und kleine rundte Brüste. Dieser seltzamen Gestalt halber war sie 86 am gantzen Hofe hoch gesehen; [...]

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Fleming: Teütsche Poemata, S. 642. Daniel Casper von Lohenstein: Grossmüthiger Feldherr Arminius. Hg. von Elida Maria Szarota. 2 Bde., Hildesheim 1973 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1689/90), Teil II, S. 96a/b; zum Kontext: Vf.: Reichsidee und Liebesethik. S. 394–399, das Zitat auf S. 397 Anm. 94.

306 Es handelt sich um ein nochmals verändertes Verfahren, insofern der Witz hier weniger in der Fehlprädikation als in der falschen Anordnung besteht, bei der der Blick nicht am Körper von oben nach unten wandert, sondern den Prädikationen vom Weißen zum Roten, Langen und Kurzen, Breiten und Engen folgt, wodurch sich reichlich Disproportionen ergeben. Auch darin steckt eine Parodie petrarkistischen Schönheitspreises, die hier allerdings durch den gewandelten Gattungskontext weniger als Petrarkismusparodie wirkt, als dass sie vielmehr ein Mittel darstellt, eine Frauenfigur, deren erotische Ausstrahlung in der Handlung eine entsprechende Rolle spielt, bereits bei der Beschreibung dieser erotischen Ausstrahlung zu desavouieren. Es handelt sich selbstverständlich um eine lasterhafte Figur, bei der die überkommene und auch für den Petrarkismus charakteristische Analogie von äußeren Schönheitsattributen und innerer Tugend von Grund auf gestört ist. Die Entlarvung dieser Figur bedient sich antipetrarkistischer Verfahren, die sich jedoch am besten als eine punktuelle intertextuelle Verweisung beschreiben lassen. Antipetrarkismus im engeren Sinn sollte dagegen begrifflich an den programmatischen Petrarkismus gebunden bleiben, letztendlich also mehr oder weniger eng auch an das Sonett.

3.6

Petrarkismus im Zeichen des Epigramms

Das programmatische Petrarkismus-Projekt im Anschluss an Pietro Bembo ist in vielerlei Hinsicht gegenläufig zum Epigrammatisierungsprozess der europäischen Sonettdichtung im 16. Jahrhundert angelegt. Dieser Kontrast ist neuerdings vor allem von Ulrich Schulz-Buschhaus hervorgehoben worden. Hat man in der älteren Forschung gemeinhin die petrarkistische Stilentwicklung mit der Entwicklung zum Manierismus und Barock gleichgesetzt,87 so ergibt sich nun ein differenzierteres Bild. Bembos Übertragung der imitatio-Poetik auf die volkssprachliche Dichtung stellt zunächst eine grundsätzliche Aufwertung dieser Dichtung dar. Dieser Aufwertung entspricht die stilistische Anhebung des petrarkistischen Sonetts, die Alfred Noyer-Weidner als programmatische Tendenz an Bembos Einleitungssonett aufgewiesen hat.88 Die heroisch-epische Stilanhebung des Sonetts stellt nun jedoch in der Tendenz eine Gegenbewegung gegen die epochal dominante Stilentwicklung der übergreifenden Epigrammatisierung der Lyrik dar. Schulz-Buschhaus hat als erster darauf hingewiesen, dass diese Ambition des petrarkistischen Programms »in der literarischen Praxis aber mit der insgeheim entgegengesetzten Tendenz epigrammatischer Pointierung kollidiert und vor der meist dominanten Pointenneigung zerfällt.«89 Als Konsequenz sieht er eine Heroisierung, die sich auf die Lexik beschränkt, bei gleichzeitiger Erleichterung der strukturellen Textmerkmale: ——————— 87 88 89

Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik, S. 22; Hoffmeister: Petrarca. Stuttgart 1997, S. 126. Noyer-Weidner. Schulz-Buschhaus: Giovanni della Casa, S. 79.

307 In Metrik, Syntax, Rhetorik und Argumentation schlägt jedoch das Modell des Epigramms durch, welches ebenda verkürzt und erleichtert, wo die Lexik Gewicht verleihen und hohe, heroische Bedeutungen setzen möchte. Daher kommt es im sozusagen ›normalen‹ Petrarkismus nach Bembo zu jener präbarocken Stilentwicklung, bei der die einzelnen Worte immer emphatischer und hyperbolischer, die Gedichte als solche bis hin zur gläsernen 90 Heiterkeit Marinos dagegen immer unernster werden.

Der dem Epigramm verpflichtete Effekt der rhetorischen Verkürzung des Sonettverlaufs wurde oben bereits angesprochen. Er zielt auf die schnelle und leichte Lesbarkeit der Sonette und erreicht dies durch eine manifeste Textstruktur, Symmetriebildungen, Parallelismen und Finalität, das heißt Pointenorientierung. Schulz-Buschhaus hat diese Effekte gerade im Gegensatz zu stilistischen Verfahren von Giovanni Della Casa und Torquato Tasso beschrieben, die das Bembosche Programm der stilistischen Anhebung und Heroisierung durch eine Verlangsamung und Erschwerung des Leserhythmus erreichen, die also eine Komplizierung der Syntax anstreben (durch Verwendung von Hyperbata, Enjambements, grammatische Subjektwechsel und Inversionen).91 Die Tendenz zur stilistischen Erleichterung des Sonetts im Zuge seiner Epigrammatisierung wirkt sich vor allem auch auf die Weiterentwicklung des Petrarkismus aus. Schulz-Buschhaus hat darauf hingewiesen, dass die heroisierende Stilanhebung des hohen Petrarkismus eine im wesentlichen auf Italien beschränkte Entwicklung blieb, die im Übergang auf die anderen Nationalsprachen praktisch nicht aufgegriffen wurde. Hier erlaubte die Tendenz zum Epigramm vielmehr gerade die Markierung der Differenz zum autoritativen Vorbild der italienischen Literatur und der entsprechenden Musterautoren. Diese Differenzmarkierung ist auch für den Petrarkismus in der deutschen Literatur kennzeichnend und an einer Reihe von Merkmalen abzulesen. Meine Vorüberlegungen sollten zugleich zeigen, dass der Petrarkismus in Deutschland nicht aus dieser europäischen Entwicklung herausfällt, sondern dass er ihm in der Tendenz zugehört. Maßgeblich für die Entfaltung des Petrarkismus in Deutschland ist ebenfalls wieder Martin Opitz, dessen subtile Einführung der Petrarca-imitatio im Buch von der Deutschen Poeterey bereits behandelt wurde. In besonderer Weise aufschlussreich ist ferner die Balancierung von epigrammatischen und petrarkistischen Momenten im Sonettbuch seiner Acht Bücher Deutscher Poematum. Auffällig ist hier zunächst die Frage der Anordnung der Sonette. So sind diese einerseits im Fall der Übersetzungen nach den Herkunftssprachen gruppiert. Davor finden sich die selbständigen Sonette, das heißt solche, für die keine unmittelbaren Vorlagen nachgewiesen werden konnten. Abgesehen vom Eröff——————— 90 91

Schulz-Buschhaus: Giovanni della Casa, S. 79f.; auch Schulz-Buschhaus: Das Madrigal, S. 218ff. Schulz-Buschhaus: Giovanni della Casa, S. 78; ders.: Positionen Ronsards im »Barock« der europäischen Renaissance-Lyrik. Am Beispiel von zwei Ikarus-Sonetten. In: RJb 48 (1997) 69–83; den Katalog der erwähnten Merkmale übernehme ich von SchulzBuschhaus: Italienisches und französisches Sonett – italienischer und französischer Petrarkismus. Unveröffentlichter Vortrag und Diskussion an der Universität Frankfurt a.M. 1999.

308 nungssonett An diß Buch handelt es sich bei diesen vermutlich nicht als Übersetzungen entstandenen Sonetten um solche von deutlich stärkerem epigrammatischem Charakter sowohl ihrer Thematik wie der Durchführung nach: drei Sonette auf deutsche Monumente und zwei Sonette des heimatlichen Ortslobs. Damit wird die fremde Sonettgattung einerseits patriotisch-heimatlich akzentuiert, andererseits politisch-nützlich im Sinne der entsprechenden Forderungen der Poeterey. Nach hinten gerückt werden zugleich die zahlreichen petrarkistischen Sonette. Auch dies bringt die grundsätzlich geringere Wertschätzung der Liebesdichtung zum Ausdruck.92 Zu diesem Befund passt es, dass sich Martin Opitz mit Übersetzungen von Gedichten Petrarcas selbst zurückgehalten hat. Bei seinen petrarkistischen Sonetten handelt es sich vielmehr in der Mehrzahl um Übersetzungen von Veronica Gambara (1485–1550) und von Pierre de Ronsard. Die bekannte Ausnahme ist seine Bearbeitung von S’amor non è (Canz. 132), die vor der Reihe von Gambara-Sonetten steht. Ein Blick auf diese Übertragung macht einerseits die Merkmale der Epigrammatisierung augenscheinlich, zudem werden bestimmte inhaltliche Verschiebungen kenntlich. FRANCESCO PETRARCA Canzoniere 132 S’amor non è, che dunque è quel ch’io sento? Ma s’egli è amor, perdio, che cosa et quale? Se bona, onde l’effecto aspro mortale? Se ria, onde sì dolce ogni tormento? S’a mia voglia ardo, onde ›l pianto e lamento? S’a mal mio grado, il lamentar che vale? O viva morte, o dilectoso male, come puoi tanto in me, s’io nol consento? E s’io ›l consento, a gran torto mi doglio. Fra sì contrari vènti in frale barca mi trovo in alto mar senza governo, sì lieve di saver, d’error sì carca, ch’i’ medesmo non so quel ch’io mi voglio, 93 e tremo a mezza state, ardendo il verno.

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MARTIN OPITZ XVI. Francisci Petrarchae. ISt Liebe lauter nichts / wie dass sie mich entzündet? Ist sie dann gleichwol was / wem ist jhr Thun bewust? Ist sie auch gut vnd recht / wie bringt sie böse Lust? Ist sie nicht gut / wie dass man Frewd’ aus jhr empfindet? Lieb’ ich ohn allen Zwang / wie kan ich Schmertzen tragen? muss ich es thun / was hilfft’s dass ich solch Trawren führ’? Heb’ ich es vngern an / wer dann befihlt es mir?

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Vgl. zu diesem Komplex Vf.: Nachahmung und Nützlichkeit: Renaissancediskurse, Poeterey und Monumentsonette. In: Martin Opitz (1597–1639), S. 53-72; auch Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung bei Opitz. Petrarca: Canzoniere, S. 642.

309 Thue ich es aber gern’ / vmb was hab’ ich zu klagen? Ich wancke wie das Graß so von den kühlen Winden Vmb Vesperzeit bald hin geneiget wird / bald her: Ich walle wie ein Schiff das durch das wilde Meer Von Wellen vmbgejagt nicht kan zu Rande finden. Ich weis nicht was ich wil / ich wil nicht was ich weis: 94 Im Sommer ist mir kalt / im Winter ist mir heiß.

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Zunächst lässt sich feststellen, dass schon die Wahl dieses Gedichts die beschriebenen Tendenzen unterstreicht. Gemeinsam mit den beiden bei Petrarca folgenden Sonetten Amor m’á posto come segno a strale und Pace non trovo, et non ò da far guerra (Canz. 133 und 134) bildet es im Canzoniere eine Gruppe in besonderer Weise antithetisch strukturierter Sonette.95 Es ist also bereits bei Petrarca durch eine besonders manifeste Textstrukturierung gekennzeichnet. Auch der eher theoretische Zuschnitt einer Liebesdefinition trug wohl dazu bei, dass es derart häufig übersetzt wurde.96 Interessant ist nun die Beobachtung, dass dieser deutlich rhetorische Charakter des Sonetts im Gedicht von Opitz in verschiedener Hinsicht noch verstärkt wird. Bei Petrarca sind jeweils zwei aufeinander folgende Verse anaphorisch aufeinander bezogen: »S’amor« – »Ma s’egli«; »Se bona« – »Se ria«; »S’a mia« – »S’a mal«. In Vers 7 wird dies mit dem oxymorischen Ausruf »O viva morte« unterbrochen, um am Beginn der Terzette durch eine Verkettung vom Ende des achten Verses »s’io nol consento?« zum Beginn des neunten »E s’io ‘l consento« nochmals aufgegriffen zu werden. Die anaphorische Reihung ist also einerseits den copulae angeglichen, andererseits überspielt sie die Quartett/Terzett-Struktur. Dieser Effekt fällt bei Opitz gänzlich weg, er passt vielmehr die rhetorische Struktur der Sonettstruk-

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Opitz: Gesammelte Werke. Hg. Schulz-Behrend, Bd. II/2, S. 703, Nr. 72.90. Opitz übersetzte in seiner Trostschrifft An Herrn David Müllern mit Ihr Thäler die jhr voll von meinen schweren Klagen ein zweites Sonett von Petrarca (Canz. 301: Valle che de’ lamenti miei se’ piena, in: Petrarca: Canzoniere, S. 1167; Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644, 2. Teil, S. 186; dazu auch: Gellinek, S. 240f. Ebenso Schulz-Buschhaus: Emphase und Geometrie, S. 79f. Mit dem Petrarca-Gedicht befasst sich Forster: Petrarcas Dichtweise, S. 10–12; er weist auf die Beliebtheit des Sonetts hin und nennt es eines der ›petrarkistischsten‹, nahezu selbstparodistischen Sonette des Canzoniere (10); nach Forster fasst der ekstatische Ausruf in v. 7 das Paradox der petrarkischen Liebe überhaupt zusammen (12). Vgl. auch Friedrich, S. 259f., sowie den Kommentar von Marco Santagata zu diesem und den folgenden Sonetten in Petrarca: Canzoniere, S. 642ff. Was die Opitzsche Auswahl von Vorlagen betrifft, stellt Theodoor Weevers für die Bloemhof-Gedichte fest, dass er auch dort die ›barockesten‹ Gedichte wählt und ihren epigrammhaften Charakter noch verstärkt; Theodoor Weevers: Poetry of the Netherlands in its European Context (1170–1930). London 1960, S. 79; auch: Gellinek, S. 100. Alle drei Sonette Canz. 132–134 sind in Luzius Kellers Anthologie mit PetrarcaÜbertragungen mit zahlreichen Beispielen vertreten, zum vorliegenden Sonett finden sich dort Übersetzungen und Nachahmungen von Peletier, Philieul, Baïf, Grévin, Desportes, Boscán, Lo Frasso, Chaucer, Watson, Daniel, Opitz, Fleming, Landinus, Tilenus: Übersetzung und Nachahmung im europäischen Petrarkismus, Canz. 132: S. 314–333, Canz. 133: S. 334–347, Canz. 134: S. 348–372.

310 tur vollständig an, was die Gliederung überdeutlich markiert.97 Dabei erlaubt er sich im Gegensatz zur Vorlage die sonettuntypische Freiheit eines Reimwechsels zwischen den Quartetten. Ferner verbindet er anaphorisch die vier ersten Quartettverse mit einem »Ist Liebe« / »Ist sie« / ... und die vier folgenden mit einem »Lieb ich« / ... »ich« / ..., wodurch sich auch thematisch das erste Quartett als abstrakte Bestimmung des Phänomens Liebe vom zweiten als dessen subjektivem Ausdruck absetzt. Der exklamatorische Höhepunkt des »O viva morte« fällt diesem Strukturierungsimpuls bei Opitz zum Opfer, ebenso die Verkettung der Verse 8 und 9.98 Entsprechend verfährt die Übersetzung auch im weiteren, wobei als Strukturierungseinheit nicht die Terzette, sondern die Reimordnung fungiert. Diese nähert Opitz dem englischen Sonettschema, denn er bildet drei unabhängig voneinander reimende Quartette und ein paargereimtes Schlusscouplet – a b b a c d d c e f f e g g – und füllt dieses Schema auch rhetorisch gemäß einer Gruppierung 4 + 2 .99 Für dieses ›dritte Quartett‹ (v. 9–12) mit in dieser Perspektive umschlingendem Reim e f f e erweitert er Petrarcas Bild der Lebensschifffahrt in Vers 10/11 zu dem neuen Bild des »wankenden Grases«, das er aus Petrarcas »venti« entwickelt, und dem des »wallenden Schiffes«, wobei der gewonnene Versraum – aus zwei Versen Petrarcas werden vier bei Opitz – zum ——————— 97 98

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Schulz-Buschhaus: Emphase und Geometrie, S. 81, beschreibt dies als »energisch herausgearbeitete Explizitheit der rhetorischen Ordnung.« Achim Aurnhammer sieht in diesem Wegfallen der exklamatorischen Apostrophen eine den neulateinischen Adaptionen des Petrarca-Gedichts folgende ›klassizistische Dämpfung‹ am Werk, die die gesamte Übersetzung kennzeichnen soll. Der Verweis auf mögliche neulateinische Vorbilder für Opitz’ Übersetzung kann einen solch weitreichenden Befund aber nicht wirklich stützen. Vielmehr ist die auf die alte Alewynsche Kategorie eines ›vorbarocken Klassizismus‹ zurückgehende Klassizismus-Diagnose zur Kennzeichnung der in Frage stehenden Phänomene allzu kontrastiv und einem zu eng gefassten ›Barock‹-Begriff verhaftet. Sie wäre in jedem Fall neu zu bewerten. Die hier entfaltete Epigrammatisierungsthese steht in einem weiteren Horizont und erläutert ein ganzes Bündel von Einzelphänomenen in einem über Deutschland hinausweisenden, historisch und systematisch umfassenden Zusammenhang. Vgl. Achim Aurnhammer: Martin Opitz’ petrarkistisches Mustersonett Francisci Petrarchae (Canzoniere 132), seine Vorläufer und Wirkung. In: Francesco Petrarca in Deutschland. Hg. Aurnhammer 2006, S. 189–210, hier: S. 195. Diese Konsequenz des Reimschemas wurde bislang so nicht gesehen; vgl. Gellinek, S. 102f. In diesem Zusammenhang ist es interessant, auf die Sonettgraphie zurückzukommen. In seinen späteren Sammelausgaben sind die Sonettzeilen von Opitz gemäß der italienisch/französischen Konvention zur Markierung von Quartetten und Terzetten eingezogen. In den Teutschen Poemata allerdings findet sich auch die Petrarca-Übertragung mit Verseinzug nach Reimgeschlecht abgedruckt. In dieser Graphie wird die Einteilung 4 + 4 + 4 + 2 offen sichtbar. Komplizierend muß allerdings hinzugefügt werden, dass sich die Teutschen Poemata mit den Verseinzügen bei Sonetten schwer tun. Offenbar ist man das unregelmäßige Reimschema noch nicht gewöhnt. So werden im vorliegenden Sonett die jeweils benachbarten männlich paargereimten Verse eingezogen, schließlich bleibt aber Vers 13 ohne Einzug, obgleich er männlich schließt. Dadurch ergeben sich regelmäßige graphische Einzüge, die Übereinstimmung mit dem Reimschema wird aber preisgegeben: A b b A C d d C E f f E G g (Kleinbuchstaben markieren hier die eingezogenen Verse); Opitz: Teutsche Poemata. Hg. Witkowski 1902, S. 48, Nr. 20.

311 Ausbau des Bildbereichs genutzt wird. Dabei führt der hypotaktische Bau der jeweils über zwei Verse geführten Perioden im Anschluss an die vorangegangenen, parataktisch gefügten Kurzsätze zu einer merklichen Verlangsamung des Rhythmus’: Ich wancke wie das Graß so von den kühlen Winden Vmb Vesperzeit bald hin geneiget wird / bald her: Ich walle wie ein Schiff das durch das wilde Meer Von Wellen vmbgejagt nicht kan zu Rande finden.

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Opitz hat diesen Tempowechsel Petrarca selbst abgelesen, denn der durch die beiden Versenjambements hervorgerufene Effekt kennzeichnet ebenso dessen Verse 10/11: »Fra sì contrari vènti in frale barca Ň mi trovo in alto mar senza governo”. Opitz verdoppelt diesen Effekt der rhythmischen variatio und streckt den derart betonten Bildbereich über die vier Verse seines ›dritten Quartetts‹, was nicht wenig musikalisches Gespür beweist. Er stützt dies noch durch reiche Alliterationen, Vergleiche, Epitheta und Parallelismen und schafft eine ausgesprochen gelungene Versfolge, was sehr zur äußerst positiven Beurteilung dieser Übersetzung beigetragen hat.100 Der ›lyrische‹ Klang entspringt dabei allerdings weniger einem entsprechenden ästhetischen Kalkül als vielmehr dem Strukturierungsimpuls, nicht der Erzeugung von Stimmung also, sondern auch hier dem auf die Pointe hin gerichteten epigrammatischen Zug.101 Mit der Pointe selbst greift wieder der Effekt der Beschleunigung und setzt die oxymorische Konstruktion Petrarcas vollends geradlinig ins Schema des Alexandriners. Die italienische Vorlage mildert die Antithesen auch hier durch syntaktische Variation, was den Schlussversen ihre Eleganz verleiht: »ch’i’ medesmo non so quel ch’io mi voglio, ~ e tremo a mezza state, ardendo il verno.«102 Opitz dagegen sucht die syntaktische Betonung der Antithesen: »Ich weis nicht was ich wil / ich wil nicht was ich weis: ~ Im Sommer ist mir kalt / im Winter ist mir heiß.« Die epigrammatische Beschleunigung durch Glättung des Sonetts ist durchgreifend: stilistische Retardierungen und Variationen, die bei Petrarca dem Schematischen dieses Sonetts entgegenwirken, werden von der Übersetzung abgeschliffen, das Schema dreier ›Quartette‹, die auf ein pointiertes couplet zulaufen, wird betont. ——————— 100

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Schon Hugo Souvageol lobt den »guten Geschmack«, Gellinek sieht einen poetischen Gewinn, »da hierdurch die Hilflosigkeit des Verstandes vor dem Phänomen der Liebe bis in die syntaktische Gestalt hineindringt«, lediglich Stephen Zon konstatiert »sheer accumulation«; H. Souvageol: Petrarca in der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Ansbach 1911, S. 16; Gellinek, S. 101–103; Stephen Zon: Imitations of Petrarch: Opitz, Fleming. In: Daphnis 7 (1978) 497–512, hier: S. 502–512, das Zitat: S. 505. Gellinek, S. 102, betont gerade hier den »konzentrierten Gebrauch lyrischer Ausdrucksmittel«, Alliterationen und Lautwiederholungen, und gewinnt für die Terzette deshalb sogar »den Eindruck einer späteren Stilstufe«. Dies ist aus den genannten Gründen keinesfalls zwingend. Schulz-Buschhaus: Emphase und Geometrie, S. 82, spricht vom »höchsten Grad nobler sprezzatura.« Dagegen sei »ein Paarreim am Ende eines Petrarcaschen Sonetts unvorstellbar.«

312 Klärung steht auch im Zentrum der semantischen Ausdeutung. Das beginnt mit der Substantivierung des Gegenstandes in der ersten Zeile: Petrarcas Frage gilt seiner rätselhaften subjektiven Befindlichkeit – ›Wenns keine Liebe ist, was ists?‹ –, woraus Opitz eine Frage nach der Natur der Liebe selbst macht, so dass im Ansatz eine Wendung ins Abstrakt-Allegorische vorgenommen ist. Das IchSubjekt im Nebensatz des ersten Petrarca-Verses rückt bei Opitz in Objektposition: »das mich entzündet«. Weniger die subjektive Empfindung als der objektive Affekt ist Thema des ersten Quartetts bei Opitz. Im dritten Vers taucht dann in der deutschen Fassung mit der ›bösen Lust‹ eine negative Bewertung auf, die in der Vorlage fehlt, wo von einer tödlich-herben Wirkung (»l’effecto aspro mortale«) die Rede ist. Die subjektive Empfindung ist Gegenstand des zweiten Quartetts. Auch diese erscheint gegenüber Petrarca objektiviert, indem die Präsenz des Sprechers, die im exklamatorischen Ausruf »O viva morte« zum Ausdruck kommt, im Deutschen wegfällt zugunsten eines Fragenkatalogs, der einer Außenperspektive auf das liebende Individuum verpflichtet ist. In markanter Subjektposition erscheint das Ich bei Opitz erst im dritten, rhythmisch verlangsamten ›Quartett‹. Die hier anstehenden Vergleiche des Ich mit dem im Wind wankenden Gras und in den Wellen wankenden Schiff stehen aber als markante Allegorien der vanitas.103 Bei Petrarca waren die Bilder Teil der Schilderung der subjektiven Ratlosigkeit des Liebenden, hier werden sie zur allegorischen Kennzeichnung der Liebessituation im Sinne geläufiger stoizistisch-christlicher Etiketten. Petrarca geht es um die zerrissene subjektive Befindlichkeit, die rational nicht zu durchdringen ist: wenig weise, dafür sündenbeladen weiß sein Ich nicht, was es will. Wo dieser die Rätselhaftigkeit und Verborgenheit des Willens betont, setzt Opitz dessen Widervernunft: er will nicht, was er weiß. Petrarcas Liebender ist überwältigt von einem unverstandenen höheren Prinzip, der Opitzsche dagegen lässt sich überwältigen aus Unbeständigkeit und Schwäche.104 Damit verschiebt sich die Ambivalenz der Petrarkischen Liebeskonstellation hin zu einer verstärkt didaktischen Analyse und Entlarvung vor dem Hintergrund stoizistischer Überzeugungen.105 Dies wiederum vermag umgekehrt zu erläutern, warum das Interesse von Opitz sich nicht primär auf die ——————— 103

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Auf den biblischen Hintergrund dieser vanitas-Bildlichkeit weist Aurnhammer hin: Martin Opitz’ petrarkistisches Mustersonett, S. 196. Die versübergreifende Satzführung mittels Enjambements sieht er allerdings als »lakonischen Sprechstil« im Sinn der ›klassizistischen Dämpfung‹. Meine Charakterisierung weicht von der Gellineks ab. Sie spricht von einem geringeren Moralisieren bei Opitz, da der Hinweis auf den Irrtum des Liebenden (»d’error sí carca«) weggefallen sei (aber: »böse Lust«). Ferner hält sie den Opitzschen Liebhaber für aktiver, das Interesse in der zweiten Strophe sei psychologischer als bei Petrarca. Mir scheint ganz im Gegenteil der Zug zur Abstrahierung und Objektivierung bei Opitz deutlich zu dominieren; Gellinek, S. 101–103, bes. S. 103. Für die Interferenz »des petrarkistisch getönten Amor-Fortuna-Diskurses und des christlich-stoizistischen constantia-Diskurses« im Werk von Martin Opitz vgl. besonders den einschlägigen Aufsatz von Barner: Die gezähmte Fortuna.

313 Dichtung Petrarcas selbst richtete, sondern verstärkt auf die von Petrarkisten des 16. Jahrhunderts. Die Differenz des deutschen Petrarkismus im 17. Jahrhundert zu seinen historisch vorausliegenden europäischen Vorbildern, die bereits in entsprechenden Markierungen des Martin Opitz greifbar wird, kommt auf zahlreichen Feldern zum Ausdruck. Sie beruht auf grundlegenden Unterschieden der historischen und kulturellen Verhältnisse – den Aspekten der historischen Verspätung – und führt durch semantische, ideologische und auch formale Umakzentuierungen eine Anverwandlung der fremden Traditionen herbei. Insofern kann sich eine Sichtung der Spielarten des Petrarkismus im Deutschland des 17. Jahrhunderts gerade an solchen Differenzsetzungen gegenüber der Tradition orientieren. Die Neubesetzung der Gattung findet dabei nicht auf homogene Weise statt, sondern sie vollzieht sich in ganz unterschiedlichen sozialen und ideologischen Zusammenhängen. Das petrarkistische Sonett ist ein bevorzugter Gegenstand solcher Gattungsfortschreibung, da es hohe poetische Wertschätzung genießt und zugleich paradigmatisch für bestimmte fundamentale kulturelle Entwicklungen der Frühen Neuzeit einsteht: einerseits philosophisch für die schrittweise Säkularisierung eines ursprünglich religiös besetzten Liebeskonzepts, andererseits poetologisch für die Entwicklung einer volkssprachlich-säkularen Dichtung überhaupt. Bei dieser Ausgangskonstellation ergaben sich immer wieder Anstoßpunkte, um die ideologischen Energien als petrarkistische Sonettistik vernehmbar zu machen. Eine Möglichkeit der ideologisch modifizierten Überformung der überkommenen petrarkistischen Tradition stellt ihre Einbeziehung in panegyrische Zusammenhänge dar, ihre Nutzung zu Zwecken der höfischen Repräsentation. Indem dabei eine konkrete Bindung an bestimmte institutionelle Gegebenheiten stattfindet, kann man unmittelbar von einer Ideologisierung sprechen. Eine solche Panegyrik kann sich auf naheliegende Weise des im Petrarkismus tradierten Minneverhältnisses mit seinen feudalen Konnotationen bedienen. So lässt sich der petrarkistische Schönheitspreis nahezu unmittelbar zum Lob weiblicher Fürsten nutzen, worauf im Fall der englischen Königin Elisabeth bereits verschiedentlich hingewiesen wurde.106 Derart weitgehende thematische Umbesetzungen führen zu einer Auflösung der traditionellen Heilssemantik, die im Anschluss an Petrarca immer wieder mit der Liebessonettistik verbunden war. Hervorgehoben wird dagegen der konkrete Situationsbezug. Insofern ist der panegyrische Petrarkismus der Epigrammatisierungstendenz eng verbunden. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist im letzten Kapitel bereits erwähnt worden. Es handelt sich um das Spieglersonett Georg Rodolf Weckherlins, das wie oben beschrieben den bedichteten Damen als Teil einer höfischen Festzeremonie vorgespielt und ——————— 106

Leonard Forster: Ein Fall von politischem Petrarkismus: Königin Elisabeth I. von England. In: Forster: Das eiskalte Feuer, S. 91–112; Beatrice Corrigan: Laura, Elizabeth, and Helen. In: University of Toronto Quarterly (1971/72) 77–79.

314 überreicht wurde. Folgt es damit dem Zug zum Epigramm, so liegt ihm mit dem Spiegel gleichwohl ein petrarkisches Motiv zugrunde. Dieser ist ein petrarkisch legitimiertes Schönheitsaccessoire der Dame, dem unzählige von petrarkistischen Sonetten gewidmet sind. Das Spiegelmotiv findet sich in Canz. 45 und 46, wo es auf den Narzissmus und die superbia der Dame verweist. Vorbilder sind Ovid und die Trobadors.107 Auch eines der frühen Sonette des Giacomo da Lentini kannte das Spiegelmotiv bereits.108 In beiden Sonetten Petrarcas ist der Spiegel negativ konnotiert. Wie die anderen Accessoiremotive eignet es sich gut zur Epigrammatisierung. Ein Sonett von Paul Fleming reproduziert recht genau die petrarkische Assoziation: »daher sie nur wird stoltz / sieht weit hin über mich«.109 Weckherlins Sonett entfaltet das Spiegelmotiv auf mehreren Ebenen. Vor allem nutzt er den epigrammatischen Objektbezug für seine choreographische Aufführung, in der die ›Spiegelmacher‹ in einer konkreten höfischen Festsituation einen Spiegeltanz aufführen. Der Text spielt auf concettistische Weise mit dem Begriffspaar Spiegel und Blick. Der Blick der Spiegelmacher fällt auf das Gesicht der höfischen Damen, das als ›Ehrenspiegel‹ erscheint und das – auch dies ein eigentlich entleertes Zitat – die petrarkische Affektkonstellation der dolendi voluptas als Lust und Pein hervorruft. Gemeint ist damit nichts anderes als das Dienstverhältnis; es handelt sich um eine Huldigungsformel. Im zweiten Quartett kommen nun die tatsächlich mitgeführten Spiegel zum Einsatz, die nicht wie bei Petrarca oder Fleming den weiblichen Hochmut demonstrieren, sondern vielmehr die fürstliche Schönheit, was verbunden wird mit der Bitte der Untertanen um gnädige Herrschaft, um ›Barmherzigkeit‹. Genau dies umkreisen auch die Terzette: der fürstliche Blick soll sich in den Untertanen spiegeln. Das Minnemotiv des ›Entfreyhens‹, das heißt der affektiven Bindung, wird in der Pointe gedeutet im Sinne der Dienstwilligkeit der Untertanen. Man kann also feststellen, dass die panegyrische Überlagerung und Funktionalisierung petrarkistischer Motive und Kontexte die poetische Wertschätzung der petrarkistischen Tradition nutzt, dass sie sich aber zugleich nicht um weitergehende Fragen poetologischer oder philosophischer Natur bekümmert. Die ——————— 107

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Canz. 45: Il mio adversario in cui veder volete; 46. L’oro et le perle e i fior‹ vermigli e i bianchi; dazu der Kommentar in: Petrarca: Canzoniere, S. 236; Ovid: Amores II,17,7–10, verwendete Ausgabe: Publius Ovidius Naso: Liebesgedichte. Amores. Lat./dt. von Walter Marg und Richard Harder. München, Zürich 61984, S. 96f.; das Motiv außerdem bei Bernart de Ventadorn: Lancan vei la folha, v. 41–48. Dies wird im Kommentar von Santagata nicht erwähnt. Giacomos Sonett Sì come il sol che manda la sua spera wurde oben auf S. 157 besprochen. Paul Fleming: An Jhren Spiegel. In: Fleming: Teütsche Poemata, S. 638f., V. 4; das Spiegelmotiv vorher bereits in einem Epigramm von Martin Opitz; dazu Pyritz, S. 177: Du sagst / es sey der Spiegel voller list / Vnd zeige dich dir schöner als du bist; Komm / wilt du sehn daß er nicht liegen kan / Vnd schawe dich mit meinen Augen an. [Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/2, S. 723)

315 ursprüngliche petrarkistische Affektkonstellation mit der ihr eigenen Ambivalenz von Affekt und Norm erscheint hier vollständig aufgehoben und als bloßes Zitat eindimensional funktionalisiert. Dies steht erneut in engem Zusammenhang mit dem Prozess der Epigrammatisierung.

3.7

Epigrammatisierung und Kolloquialstil bei Paul Fleming

Die Analyse der Gattungsverschiebung des Sonettpetrarkismus zeigt, dass die viel beschriebenen artistischen Züge des Petrarkismus, die man seit der Romantik immer wieder mit der als authentisch erfahrenen Haltung Petrarcas selbst kontrastiert hatte,110 zu wesentlichen Teilen auf den Einfluss der antiken und dann neulateinischen Epigrammtradition zurückgeführt werden können. Die Gattungsüberblendung von Sonett und Epigramm vermag sowohl das Eindringen des petrarkistischen Motivarsenals in die neulateinische Dichtung als auch die Epigrammatisierung des volkssprachlichen Sonettpetrarkismus zu erläutern.111 Es sind gerade die genuin epigrammatischen Züge, die den artistischen bzw. ›manieristischen‹ Petrarkismus kennzeichnen: die von Schulz-Buschhaus herausgestellte demonstrative Rhetorik, die argute Pointenstruktur und nicht zuletzt die Vorliebe für epigrammatische Objektbezüge. Hier trifft ein Gattungsmerkmal des Epigramms auf den spezifisch petrarkischen Motivkomplex der Attribute und der Accessoires der Dame. Im Canzoniere vollzieht sich insgesamt ein Prozess der Entrückung und Distanzierung der donna. Hans Pyritz sprach unter Bezug auf Fleming davon, dass die Beziehung der Liebenden »durch ein dazwischengeschaltetes Realobjekt vermittelt und gebrochen wird«112 und meinte damit Porträt- und Traumgedichte sowie Erinnerungsmotive. Gleiches gilt für die Attribute und Accessoires, die bei Petrarca die Gegenwart der Geliebten substitutiv zu gewährleisten haben und die eine gleichsam magische Funktion übernehmen. Dies beginnt bei den einzelnen Körperteilen der Dame, setzt sich fort in Schönheitsaccessoires wie Spiegel und Kamm, Schleier und Handschuh, und wirkt ebenso in Erinnerungsmotiven wie der Fußspur im Gras, dem Ort der Begegnung mit seinen Naturgegenständen wie auch den Trennungsmotiven Fluss und Westwind, die imaginativ die mangelnde Kommunikation über die jeweilige Entfernung hinweg übernehmen.113 Man kann alle diese Motive, die vermittelnd zwischen das lyrische Sprechersubjekt

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Pyritz, S. 144–162; Friedrich, S. 311–314; Forster: Petrarcas Dichtweise, S. 23ff. Vgl. zum Eindringen petrarkistischer Motive in die neulateinische Dichtung Leonard Forster: Petrarkismus und Neulatein. In: Der petrarkistische Diskurs. Hg. Hempfer/Regn 1993, S. 165–185. Pyritz, S. 178. Einen Katalog der petrarkistischen Vermittlungsmotive bietet Forster: Petrarcas Dichtweise, S. 13–23; auch Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik, S. 50f.

316 und das Objekt seines Begehrens, also die angedichtete Dame treten, zusammenfassend als petrarkistische Substitutionsmotive bezeichnen.114 Interessant ist nun, dass sich in diesen Substitutionsmotiven eine Objektivierung des Affekts vollzieht, die dem Epigramm in besonderer Weise entgegenkommt. Das Objekt, das die petrarkistische Distanzierung der Dame jeweils verkörpert, wird dem Epigramm zum selbstständigen Gegenstand der pointierten Andichtung. In der Folge erscheint dann die epigrammatisierte Andichtung der Substitute der Dame als besonders intensive Form von ›Petrarkismus‹. Das Phänomen ist insofern weniger der petrarkistischen imitatio-Empfehlung anzurechnen als vielmehr der gegenläufigen Epigrammatisierung des Petrarkismus im 16. Jahrhundert. In der deutschen Literatur finden sich Sonette auf Attribute der Dame ausgeprägt bereits im petrarkistischen Buhlereyen-Zyklus von Georg Rodolf Weckherlin, wo die Schönheitsattribute der Haare und der Hände bedichtet werden.115 Bei Opitz gibt es mehrere Sonette auf den Ort der Liebesbegegnung sowie das berühmte Westwindsonett, in dem der Wind die räumliche Distanz zur abwesenden Dame überwinden soll.116 Zahlreiche Preziosenmotive, also Sonette auf Schönheits-Accessoires und Schmuckstücke der Dame, finden sich schließlich bei Paul Fleming, häufig aus neulateinischen Epigrammen in deutschsprachige Sonette übertragen. Nun kann man feststellen, dass die Forschung umso stärker geneigt war, Artistik und ineins damit einen traditionsverhafteten Petrarkismus zu diagnostizieren, je stärker die Substitutionsmotive sich im Zug ihrer epigrammatischen Behandlung verselbstständigten und den Bezug zur Affektbeziehung in den Hintergrund treten ließen. Als besonders petrarkistisch wird demnach gerade der epigrammatisierte Petrarkismus empfunden. Ein Beispiel mag Paul Flemings Sonett auf den Sonnenschirm geben. PAUL FLEMING Auff den Sonnenschirm. Nicht / dass sie den Verdruß der Sonnen ihr benehme / braucht meine Sonne dich / O du der Schönheit Schutz / und Zaum der fremden Glut. Nein. Dieses ist dein Nutz / dass sich die Sonne nicht für ihrer Klarheit schäme / und sich nicht etwa kranck und gar zu tode grähme / für derer Treflichkeit / die ihrer auch beut Trutz. Drüm setzt sie dich vor sich. Dein frommer Schatten thuts / dass du dem Himmel selbst und ihr auch bist bequähme. So bleibt die Sonne klar / und ihre Schönheit gantz. Durch dich / O Schiedemann / hat iedes seinen Glantz.

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Die magische Substitution der geliebten Dame durch Objekte und Körperteile wird von Hartmut Böhme am Beispiel der mit vorliegendem Thema eng verwandten französischen Blasons der Renaissance mit dem Begriff des Fetisch in Verbindung gebracht, was zu einer kritisch-moralisierenden Betrachtungsweise des Sachverhalts führt. Auch hier wäre die Epigrammpoetik in der Argumentation stärker zu berücksichtigen; vgl. Hartmut Böhme: Erotische Anatomie. Die Blasons auf die weiblichen Körperteile. In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hg. von Claudia Benthien und Christoph Wulf. Reinbek 2001, S. 228–253. Weckherlin: Gedichte. Hg. Fischer, Bd. 1, S. 472f., Nr. und . Martin Opitz: An den Westwind. In: Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/2, S. 709.

317 Ach / dass du solchen Dienst mir woltest nicht verschmähen. Tritt zwischen mich und sie. Ihr allzustarckes Liecht kan mein verblendter Schein durchaus vertragen nicht. 117 Welchs sterblichs Auge kan in diese Sonne sehen?

Der Vergleich der Schönheit der Dame mit der Sonne ist petrarkischen Ursprungs, ebenso die zugehörige hyperbolische Pointierung. Der Sonnenschirm dagegen überschreitet als modisches Accessoire die petrarkisch legitimierten Attribute der Dame, was dem Gedicht einen tendenziell parodistischen Charakter verleiht.118 Die Rhetorik ist Schritt für Schritt argumentierend. Auf die Negation der geläufigen Antwort auf die Frage nach dem Nutzen des Schirms (v. 1– 3) folgt zunächst die scharfsinnige Replik im Sinne des hyperbolischen Schönheitspreises (v. 3–6), die dann mit einiger Redundanz noch zweimal fortgeschrieben wird (v. 7–10). Die in französischer Manier paargereimten Verse 9/10 werden dabei noch den Quartetten verknüpft. Ein Weiterschreiten der Argumentation tritt erst mit dem »Ach« in Vers 11 ein, indem auf die bislang objektive nunmehr eine subjektive Perspektive folgt. Insofern werden die letzten vier Sonettverse gleichsam zum Quartett verbunden. Die argumentative Rhetorik folgt so auch hier wieder eher dem epigrammatischen Reimschema als dem sonettistischen Schema von Quartetten und Terzetten. Markiert man den Perspektivenwechsel durch Klammern und die Periodenführung im Reimschema durch Punkte, so ergibt sich etwa dies: a b b a a b . b a . c c ( d e e ) d . Drei Verse (11–13) sind dem Dazwischentreten des Schirms zwischen Dame und Sprechersubjekt gewidmet, bevor der Schlussvers erneut ein objektives Resümee zieht, das nun die scharfsinnig-concettistische Umkehrung der Ausgangsvermutung darstellt, dass nämlich der Schirm vor der Sonne schützen solle. Die epigrammatische Kontur dieses Sonetts ist durchgreifend. Sie betrifft den Objektbezug, das Reimschema, die Argumentationsfolge sowie die Pointierung. Das Thema der affektischen Bindung dagegen ist völlig in den Hintergrund gedrängt.119 Fragt man nach dem deutschen Petrarkismus des 17. Jahrhunderts, so richtet sich der Blick seit der wegweisenden Studie von Hans Pyritz vor allem auf Paul Fleming. Fleming hat den Sonettpetrarkismus in Deutschland als erster wirklich breit entfaltet, auf beachtlichem literarischem Niveau und mit der größten Nachwirkung auch über die Frühe Neuzeit hinaus. Diese Nachwirkung bedeutet zugleich, dass er als Vorläufer späterer Entwicklungen gelesen werden konnte, ——————— 117 118

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Fleming: Teütsche Poemata, S. 653. Als Beispiel einer Überschreitung des petrarkisch Legitimierten nennt Gerhard Regn den Fall, in dem der Dame occhiali, also Augengläser zugeschrieben werden. Solches entstammt dem Burleskbereich und steht für Regn im Kontext einer ›postpetrarkistischen Ästhetik des Interessanten‹, die bewußt die Konsequenz der Gattungsnivellierung einkalkuliert; Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik, S. 52. Beispiele finden sich etwa auch bei Johann Georg Schoch: An der Olianen schwartz-aus-geneetes Hand-Tuch, oder: An Jhr blau-und roht Tapffet Kleid. In: Erstes Hundert Liebes-Sonnet. Nr. 2, S. 10 und Nr. 51, S. 48f. Vgl. zu diesem Gedicht knapp auch Jörg-Ulrich Fechner: Paul Fleming. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 365–384, hier: S. 378.

318 so dass sich ein Konflikt zwischen der Traditionalität des petrarkistischimitatorischen Gestus einerseits und Flemings Originalität und Modernität andererseits ergab. Er gleicht damit in der literarhistorischen Einschätzung in gewisser Weise Johann Christian Günther, der sich selbst auf Fleming zurückbezog.120 Hans Pyritz hatte die Entfaltung des petrarkistischen Motivkomplexes bei Fleming im einzelnen beschrieben und den Befund auf eine biographisch verankerte Chronologie der Texte bezogen. Im Stil einer biographistischen Literaturwissenschaft ging es um die Konstruktion eines Dichterprofils, das von einem traditionsverhafteten Frühwerk zu einem reifen Spätwerk führte. Bei frühneuzeitlichen Autoren hat sich allerdings eine solche Perspektive seit langem als unangemessen erwiesen und bereits Richard Alewyn hat in seiner Rezension zum Buch von Pyritz darauf hingewiesen, dass »die Frage nach dem Aufkommen und der Entwicklung von Erlebnisdichtung für dieses Jahrhundert grundsätzlich nicht von den Individuen aus, sondern nur auf der Ebene jener überpersönlichen Gebilde gestellt werden darf«.121 Die Frage nach dem ›eigenen Ton‹ und nach der spezifischen Qualität der Flemingschen Lyrik ist gerade wegen dieser Vorbehalte nicht zu umgehen und sie beschäftigt die Forschung im Grunde bis heute. Dies gilt im übrigen auch für die Einschätzung der petrarkistischen Lyrik der Zeit, wurde doch der eigene Ton bei Fleming charakteristischerweise gerade in Abgrenzung zur Traditionsverhaftetheit des Petrarkismus bestimmt. Man hat nun in einer Gegenbewegung gegen die am Erlebnisbegriff ausgerichtete ältere Fleming-Forschung die überpersönlichen Züge seiner Dichtung in den Vordergrund gestellt, also beispielsweise den hohen Anteil der neulateinischen Lyrik und der Gelegenheitsdichtung. Jörg-Ulrich Fechner hat jeden Entwicklungsgedanken für Fleming entschieden zurückgewiesen: Diese Lyrik gehorcht keiner Entwicklung, auch keiner biographisch-chronologischen; und damit sind die Versuche hinfällig, den Gedichten durch eine zeitliche Fixierung ihrer Anlässe und entsprechende Neuanordnung im Druck ein solches Entwicklungsschema zu unterstellen, wie es der Denkhaltung des neunzehnten Jahrhunderts entsprach und wie es 122 Lappenbergs Ausgabe mit nachhaltiger Wirkung vornahm.

Die Wendung gegen jede biographische Ausdeutung und gegen den Gedanken einer individuellen stilistischen Entwicklung des Autors führte nun im Gegen——————— 120

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Vgl. für die Stellung von Günther zwischen Tradition und Modernität auch Vf.: Petrarkismus und Präsenz in Johann Christian Günthers Liebesdichtung. In: Johann Christian Günther (1695–1723). Oldenburger Symposium zum 300. Geburtstag des Dichters. Hg. von Jens Stüben. München 1997, S. 173–196; sowie weitere Beiträge in diesem Band. Richard Alewyn: [Rezension zu:] Hans Pyritz. Paul Flemings deutsche Liebeslyrik (1932). In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hg. von Richard Alewyn. Köln, Berlin 1965, S. 438–443, hier: S. 443. Fechner: Paul Fleming, S. 373; eine solche biographisch-chronologische Zuordnung findet sich sowohl bei Pyritz als auch substantiell bei Liselotte Beck-Supersaxo: Die Sonette Paul Flemings. Chronologie und Entwicklung. Phil. Diss. Zürich 1956; sie beschäftigt sogar noch den kritischen späten Biographen: Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989.

319 zug dazu, dass die Bedeutung der Liebesdichtung im Werk von Fleming bei Fechner ausschließlich im Rahmen ihrer Traditionsbindung betrachtet wird.123 Andererseits setzt auch die jüngere Sekundärliteratur immer wieder an, die Eigenart und besondere Wirkungskraft – also die überepochale Anschließbarkeit – dieser Flemingschen Liebesdichtung zu erklären.124 Richtete sich die ältere Argumentation darauf, diese Eigenart in einer individuellen Abkehr von den (petrarkistischen) Traditionszusammenhängen zu erkennen, so folgen neuere Deutungsansätze eher der Maxime von Alewyn und suchen nach Modifikationen innerhalb dieser Traditionszusammenhänge selbst. Im Vordergrund stand dabei meist der schon von Pyritz formulierte und daraufhin häufig zitierte Hinweis auf die Tradition des sächsischen Gesellschaftslieds: »Werbungs- und vor allem Treue-Thematik stehen im Mittelpunkt der erotischen Lieddichtung von Regnart bis Schein«.125 Auch darin steckte letztlich noch ein romantischer Mythos, denn Pyritz erkannte hier die fortlebende »alte deutsche Volksliedüberlieferung« (286f.), mithin eine genuine und nationale im Gegensatz zur bloß imitatorischen petrarkistischen Tradition. Erst sehr viel später hat Marian Sperberg McQueen diesen Hinweis einer genaueren Prüfung unterzogen. Sie kommt zu dem überraschenden Schluss, dass dem voropitzischen Gesellschaftslied kaum die ihm zugedachte Bedeutung im Hinblick auf die Entwicklung der Flemingschen Lieddichtung zukommen kann.126 Im Gegenzug weist sie auf den möglichen Einfluss bestimmter Gattungstraditionen hin. Für den für Fleming so markanten Treuebegriff nennt sie vor allem die Tradition der poetischen Epistel und des Epithalamiums (120ff.). Anstatt einen Gegensatz zwischen einem traditionsverhafteten Petrarkismus einerseits und einem innovativen Individualstil andererseits zu konstruieren, wie das nicht erst seit Hans Pyritz gängig war, ist auch für den Petrarkismus selbst die Beachtung der Gattungstraditionen vielversprechend. Umso mehr ist dies gefordert, als es die hier gewählte Konzeption des Petrarkismus nicht mehr erlaubt, diesen mit einer statischen imitatorischen Orthodoxie gleichzusetzen und innovative Entwicklungen jeweils sogleich als Überwindungsphänomene zu beschreiben. Es ist bemerkenswert und bereits öfter vermerkt worden, dass die Überwindung des Petrarkismus und die Entwicklung eines eigenen Tons bei Fleming vor allem für die Lieddichtung konstatiert wurde, weniger dagegen für die Sonettdichtung oder gar für die Epigramme. Man kann nun entsprechend die ——————— 123

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»[...] trotz Sehnsucht aus der Ferne und Werben um Treue und Beständigkeit [...] bleibt Flemings Liebesdichtung losgelöst von der zeittypisch ausgesparten Wirklichkeit eines privaten Liebeserlebens.« Fechner: Paul Fleming, S. 377. Peter Krahé: Persönlicher Ausdruck in der literarischen Konvention: Paul Fleming als Wegbereiter der Erlebnislyrik? In: ZfdPh 106 (1987) 481–513; Maria Cäcilie Pohl: Paul Fleming. Ich-Darstellung, Übersetzungen, Reisegedichte. Münster 1993. Pyritz: Paul Fleming, S. 287; zit. bei: Alewyn, S. 442; Fechner: Paul Fleming, S. 380; eine Zusammenstellung der Textstellen und kritische Überprüfung bei Marian Russell Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History. Chapel Hill, London 1990, S. 110f. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming, S. 109–120.

320 These aufstellen, dass der vielbeschworene eigene Ton gerade an einen geringeren Grad der Epigrammatisierung und der Manifestation von rhetorischen Strukturen gebunden ist. Ein weitgehend epigrammatisiertes Sonett wie das auf den Sonnenschirm erscheint somit als der Gegenpol jener Stilhaltung, die als individuell und zukunftsträchtig wahrgenommen wird. Man kann bei Pyritz tatsächlich beobachten, inwiefern spezifische Merkmale der Epigrammatisierung als besonders traditionsverhaftet und als besonders petrarkistisch eingeschätzt werden. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob sich eine gegenläufige Stiltendenz benennen lässt und ob diese einer anderen Gattungstradition zuzurechnen wäre. Interessant erscheint hier auch für das Sonett das Muster der Briefdichtung mit ihrem stärker dialogisch-kommunikativen Charakter. Pyritz macht den eigenständigen Ton von Fleming bekanntlich vor allem am Motiv der Treue fest, und er bezeichnet die Treuelieder Od. V 29–32 als »den künstlerischen Höhepunkt der Flemingschen Treuelyrik«.127 Dieses Treuemotiv steht einerseits in Verbindung mit dem neustoizistischen constantia-Ideal, im Rahmen der Liebesdichtung nimmt es aber zudem einen intersubjektiven und dialogischen Charakter an, der der epigrammatischen Konstitution fremd ist.128 Dies kann ein Blick auf das Treuemotiv in Flemings petrarkistischen Sonetten zeigen. Die Hervorhebungen im folgenden Text dienen der anschließenden Analyse seiner kommunikativen Elemente. PAUL FLEMING Als Sie sich nicht wolte trösten lassen. Du sagst mir diß / und das / von dir / und mir / und dem / was einst der Zweck soll seyn nach diesen langen Plagen. Itzt hastu dieses da / dort jenes hören sagen / und frag’ ich denn darnach / so weist du nicht von wem. O schöne / wer ich dir von Hertzen angenähm’ / Ich weiß du würdest nicht nach fremden Mehren fragen / die / wie sie mich bey dir / so dich bey mir verklagen / Ich aber halte mich auff allen fall bequähm. Stell deinen zweifel ab / und laß die Leute lügen; Es wird zu seiner Zeit sich alles müssen fügen. Laß deinen starcken Trost mein festes Hertze seyn / wie meinem deines ist. Und wenn ich bin geschieden /

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Pyritz, S. 281. Für Fleming ist zuletzt wieder verstärkt auf dessen neustoizistischen Hintergrund hingewiesen worden, der für sich genommen allerdings seine Eigenart nicht erklären kann, gilt er doch für die meisten Dichter seiner Zeit: Barbara Neymeyr: Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett »An sich«. In: Daphnis 31 (2002) 235–254; Jochen Schmidt: »Du selbst bist Dir die Welt«. Die Reise nach Utopia als Fahrt zum stoisch verfaßten Ich. Paul Flemings Gedicht »In grooß Neugart der Reussen«. In: Daphnis 31 (2002) 215–233; ders: Der Tod des Dichters und die Unsterblichkeit seines Ruhms. Paul Flemings stoische Grabschrift »auf sich selbst«. In: ZfdPh 123 (2004) 161–182; ders: Petrarkismus und Stoizismus; Vgl. für einen etwas anderen Versuch Vf.: Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung und die Latenz des Subjekts in der Frühen Neuzeit. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. von Claudia Benthien und Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 279–295.

321 So laß diß einige dich sprechen stets zufrieden: 129 MEIN HERTZE STEHT BEY JA / WENN ALLES SCHWERT AUFF NEIN.

Pyritz stellt dieses Sonett in den Kontext der Trennungssituation Flemings von Elsabe Niehus und fasst es sehr weitgehend psychologisch auf: »sein Grundton ist eine leise Trauer über die Leichtgläubigkeit, mit der Elsabe immer wieder den falschen Gerüchten über Untreue des Dichters ihr Ohr leiht, und in der Fleming schließlich nichts anderes als Mangel an Liebe oder Vertrauen erblicken kann.«130 Eine derartige Psychologisierung frühneuzeitlicher Texte wird heute für obsolet gehalten, gleichwohl stellt sich die Frage, welche Züge des Gedichts dieser psychologisierenden Lesart den Weg bereiten, an welcher Stelle sich also die epochenfremde Anschließbarkeit einstellt. Das Sonett auf den Sonnenschirm jedenfalls gibt in psychologischer oder auch nur biographischer Hinsicht keinerlei ähnliche Handhabe, und dies hat nichts mit der Frage der Traditionalität der Motive zu tun, es liegt vielmehr an der Veräußerlichung des Affekts im epigrammatischen Objekt. Auch das vorliegende Sonett steht in einer petrarkistischen Motivtradition, nämlich dem der Eifersucht und der Treuebeteuerung. Eine ähnliche Thematik behandelt Weckherlins Sonett Abwesenheit getröstet mit der Ausgangsfrage: »Begehrest du, mein schatz, ob ich nicht buhl zuwissen?« Da dem Gedicht damit eine Äußerung der Dame zugrundeliegt, auf die der Sprecher antwortet, erhält es ebenfalls einen dialogischen Grundzug. GEORG RODOLF WECKHERLIN Abwesenheit getröstet. Begehrest du / mein schatz / ob ich nicht buhl zuwissen? Wiß dass ich ja mit dir mein buhlen stehts verwalt / Und du bist stehts für mir / sydher der lieb gewalt Dich rein mit Amors pfeil in mein hertz abgerissen. Nu dises Controfeht betracht ich gantz geflissen / Jemehr ich es betracht / je höher ich dich halt / Jemehr ich lieb / ehr / küß / dein Götliche gestalt / Kan sie auch nimmermehr gnug lieben / ehren / küssen. Doch weil schwer-mühtig ich zu diser schweren zeit / Da stehte kriegs gefahr all weyse köpf stehts übet / So meinen sie vnd du mein Hirn fihl auch den streit.

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Jhr fehlet aber weit. Dan mich (mit dir verliebet) Gar nichts in diser welt / dan wie vns der lieb beut 131 Zugleich erfrewen mög / zufinden nur betrübet.

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Fleming: Teütsche Poemata, S. 630f. (Hervorhebung des letzten Verses im Druck durch größere Schrifttype). Meine Kursivierungen bezeichnen Personalpronomina der 1. Person, der 2. Person sowie Verben der Kommunikation. Pyritz, S. 281. Auch Beck-Supersaxo liest hier unmittelbar biographisch, datiert aber das Sonett noch in die Revaler Zeit; Beck-Supersaxo, S. 188. Weckherlin: Gaistliche und Weltliche Gedichte, 1648, S. 712f. (Kursivierungen ebenfalls von mir, T.B.); dazu auch Vf.: Georg Rodolf Weckherlins Buhlereyen-Zyklus, S. 259.

322 Die dialogischen Elemente des Textes lassen sich schon grammatisch bestimmen: zahlreiche Personalpronomina der 1. und der 2. Person und eine Reihe von kommunikationsbezogenen Verben. Im Text Weckherlins überwiegen die Pronomina der 1. Person in den Quartetten, bei Fleming sind Pronomina der 2. Person ebenso häufig und es gibt deutlich mehr Kommunikationsverben. Man kann dies auszählen, die Grundlage bilden die oben hervorgehobenen Ausdrücke.

Quartett I Quartett II Terzett i Terzett ii Gesamt

1. Person 5 4 2 1 12

Weckherlin 2. Person 4 2 1 1 8

Komm.Verben 2 0 1 1 4

1. Person 3 6 1 3 13

Fleming 2. Person 4 4 2 2 12

Komm.Verben 3 2 1 1 7

Die Zahlen weisen zunächst ganz allgemein auf die Rolle hin, die die Elemente des Dialogs in beiden Gedichten innehaben. Das Sonnenschirm-Sonett hat zum Vergleich insgesamt lediglich vier Personalpronomina der 1. Person und keine kommunikativen Verben. Die 7 Personalpronomina der 2. Person stehen dort in anderer Funktion, denn sie bezeichnen den angedichteten Gegenstand des Schirms und kein dialogisch antwortendes Gegenüber. Bei Weckherlin bildet die Dialogsituation eine Art Rahmen für die eingelassenen Themen des Bildnisses und den Hinweis auf die Kriegssituation. Nur am Anfang und am Ende tritt das ›Du‹ in eine kommunikative Subjektposition: »Begehrest du [...] zuwissen« (v. 1); »So meinen sie und du [...] Ihr fehlet aber weit« (v. 11/12). Fleming dagegen stellt den Dialog ins Zentrum seines Gedichts. Sein Sonett kennt keinerlei Mythologeme, der Stil ist durchgängig schlicht, fast metaphernfrei und phasenweise nahezu umgangssprachlich. Stilisierend wirken allein die zahlreichen syntaktischen Parallelismen, die mit einfachem Wortmaterial operieren. Die Eröffnungsverse spielen sehr wirkungsvoll mit der Gesprächssituation selbst: »Du sagst mir diß und das von dir und mir und dem« (v. 1).132 Das ist deshalb so gelungen, weil es das Gerede andeutend nachbildet, statt es abstrakt oder allegorisch zu benennen. Diese Beschreibung gelingt mit den schlichtesten sprachlichen Mitteln, was für die deutsche Dichtung der Zeit durchaus ungewöhnlich ist. Der einfache Ton setzt sich fort: »Itzt hastu dieses da / dort jenes hören sagen / | und frag’ ich denn darnach / so weißt du nicht von wem« (v. 3/4), oder: »ich weiß / du würdest nicht nach fremden Mähren fragen / | die / wie sie mich bei dir / so dich bei mir verklagen« (v. 6/7). Es steht zu vermuten, dass die stilistische Absenkung hier systematisch mit der imaginierten Kommunikationssituation zu tun hat. ——————— 132

Vgl. zu diesem Gedicht in weiterführendem Kontext auch Vf: Paul Flemings stoizistische Liebesdichtung, S. 286 und 291.

323 Während der epigrammatische Objektcharakter gänzlich zurückgedrängt ist, gilt dies nicht für die argumentative Struktur und die Pointenbildung. Es erweist sich als geradezu typisch für Fleming, dass er die Periodenführung der Reimstruktur anpasst. Während Weckherlin in unserem Beispiel die Perioden an Quartette und Terzette bindet, folgt Fleming erneut den Reimen: a b b a . a b b a . c c . d e e . d . Der Paarreim im ersten Terzett verbindet eine abgeschlossene Periode, Vers 11 ist mit 12 verbunden und der Schlussvers ist als Pointe wiederum abgesetzt. Gleichwohl werden diese epigrammatischen Elemente von den dialogischen überlagert: der Einbeziehung von Antworten der Geliebten (v. 1, 3/4), der Imagination ihres Verhaltens (»ich weiß, du würdest nicht [...]«, v. 6), Aufforderungen an sie (»stell deinen Zweifel ab«, v. 9; »laß deinen starken Trost«, v. 11; »so laß dies Einige«, v. 13). Die antithetisch zugespitzte Pointe, die wiederum sehr epigrammatisch daherkommt, stützt zugleich eine subjektive Aussage, indem sie einen Gegensatz von Sprechersubjekt und sozialem Umfeld konstruiert. Auch Weckherlin schließt sein Sonett mit einer ähnlich antithetischen Pointe, die allerdings auf eine Ambivalenz des Affekts bezogen ist und weniger die Subjektivität betont. Man kann festhalten, dass der persönlichere und subjektive Eindruck beider Sonette, besonders aber desjenigen von Fleming, der dialogischen Konstitution und der damit verbundenen stilistischen Absenkung geschuldet ist. Obgleich es sich hier um eine unmittelbare Gesprächssituation zu handeln scheint, stecken darin Gattungsmerkmale des Briefs und der Epistolardichtung. Auch ist die Treuethematik im Stichwort des Trostes an die neustoizistische Konsolatorik geknüpft, die wiederum traditionell der Gattung des Briefs verbunden ist. Auf die entsprechenden Vorgaben der Brieftopik sei deshalb zunächst kurz hingewiesen. Die Assoziation der Briefkommunikation mit dem mündlichen Gespräch ist alt. Ihr entspricht eine bestimmte Topik der kommunikativen Nähe und des einfachen Stils. Bereits die frühesten Überlegungen zur Briefrhetorik bei Pseudo-Demetrius beinhalten Hinweise auf den persönlichen Charakter des Briefschreibens, dass der Brief dem Ausdruck von Freundschaft diene und einfache Sachverhalte übermitteln solle und dass er ein Abbild der Seele des Schreibers darstelle.133 Wolfgang G. Müller hat diesen Zusammenhang von Seelenausdruck und einfachem Stil als ›Epistolartopos‹ bezeichnet und von Demetrius bis in die Frühe Neuzeit verfolgt.134 Im Rahmen der Renaissancedebatten um die Frage des rechten Stils erschien die Briefgattung als Exempel für einen relativ unrhetorischen und ungezwungenen Stil. So wandten sich unter anderem die Gegner eines streng ciceronianischen Nachahmungskonzepts der Briefgattung zu: ——————— 133

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Demetrius: On Style. In: Aristoteles: Poetics, S. 309–525, §§ 223–235, S. 480–487; eine Paraphrase bei Klaus Thraede: Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik. München 1970, S. 22–25. Wolfgang G. Müller: Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis zu Samuel Richardson. In: Antike und Abendland 26 (1980) 138–157.

324 Erasmus, Montaigne und auch Justus Lipsius, der Vermittler des Stoizismus an der Wende zum 17. Jahrhundert.135 Sperberg-McQueen hat vor diesem Hintergrund die Eigenheiten der Epistolardichtung von Martin Opitz und von Paul Fleming untersucht. Sie verfolgt dabei die Frage, inwiefern sich die Gattungstopik des Briefs in den Versepisteln dieser Autoren niederschlägt und ob sie etwa bei Fleming Einfluss auf dessen Stilentwicklung hat. Für Opitz stellt sie fest, dass zwar einerseits seine Versepisteln in höherem Maß persönliche Kontexte einbeziehen, als dies bei anderen Gattungen der Fall ist, dass aber im Vergleich zu neulateinischen Autoren des 16. Jahrhunderts eine deutliche Tendenz zur Objektivierung und zur Rücknahme subjektiver Kontexte zu beobachten ist.136 Bei Fleming wiederum ist dies nicht in vergleichbarem Maße der Fall. Während Opitz in seinen Versepisteln gelehrte Fragen in den Mittelpunkt stellt, sind die Versepisteln von Fleming eher der persönlichen Situation und damit zusammenhängenden Problemen gewidmet. Ferner ist Opitz eher handlungsbezogen während Fleming eher affektbezogen erscheint. Im Adressatenbezug agiert letzterer persönlicher, indem er beispielsweise stärker auf gemeinsam erlebte Situationen Bezug nimmt.137 Bezogen auf die Epistolardichtung fragt die Analyse von Sperberg-McQueen nach dem Einfluss von traditionellen Gattungsmerkmalen. Eine Übertragung der Epistolartopik auf die Sonette behandelt dagegen Fragen der Gattungsüberschneidung, die weniger selbstverständlich sind. Gattungstheoretisch ist grundsätzlich auf die Bedeutung solcher Überschneidungen hingewiesen worden, die systematisch herangezogen werden, um Gattungstexte in Differenz zur eigenen Tradition zu bringen und ihnen damit Signifikanz zu verleihen. In diesem Sinn ist sowohl die Epigrammatisierung des Sonetts als auch die episierende Stilanhebung des hohen Petrarkismus als eine Grenzüberschreitung und Neubestimmung von Gattungstraditionen zu beschreiben. Entsprechend wäre der Einfluss von Merkmalen der Epistolardichtung auf die petrarkistische Sonettistik zu bewerten. Man kann nun solche Merkmale durchaus in einzelnen Sonetten erkennen. So erscheint der Gesprächscharakter des oben zitierten Gedichts mit seinem »Du sagst mir diß und das« in ähnlichem Sinn stärker situationsbezogen, als ——————— 135

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Vgl. zur Briefpoetik bei Lipsius: Kühlmann, Gelehrtenrepublik, S. 208f. und öfter mit weiterführenden Hinweisen; Gary R. Grund: From Formulary to Fiction: The Epistle and the English Anti-Ciceronian Movement. In: Texas Studies in Literature and Language 17 (1975) 379–395; vgl. ferner Vf.: »Du schickst mir einen brieff / und greiffst mir nach dem hertzen.« Hoffmannswaldau, die erotische Versepistel und der galante Diskurs. In: Der galante Diskurs. Hg. von Vf. und Andreas Solbach. Dresden 2001, S. 13–40. Marian R. Sperberg-McQueen: Opitz, Fleming, and the German poetic epistle. Phil. Diss. Stanford Univ 1981; Sperberg-McQueen: Martin Opitz and the tradition of the renaissance poetic epistle. In: Martin Opitz. Studien zu Werk und Person. Hg. von Barbara BeckerCantarino. Amsterdam 1982, S. 519–546; vgl. auch Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming, S. 139–141. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming, S. 174–177.

325 etwa der im themenverwandten Gedicht von Weckherlin. Erreicht wird dies allein schon durch die Häufung der kontextbezogenen Pronomina und die umgangssprachliche Redeweise. Interessant ist unter diesem Blickwinkel nun ein Briefsonett Flemings, das ebenfalls im näheren biographischen Zusammenhang gedeutet wurde (Son. IV,76).138 PAUL FLEMING An Balthien. Darff / Edle Balthie / ich mich schon hier nicht nennen / weil dieser kleine Brieff sehr weit zu reisen hat / da List zu Felde liegt mit Neide früh’ und spat / da Vorwitz und Betrug den schmalen Paß berennen. So wirst du aus der Hand doch meinen Nahmen kennen / die du / wie deine kennst; Sie / meines Hertzens Rath / und stumme Rednerinn / bezeugt dirs in der Tat / wie ich von deiner Brunst nicht lasse nach zu brennen. Bist du / wie ich / gesinnt / so bleibst du unverwand / Behältst mir deine Gunst / biß dass ich deine Hand / die zahrte / dermahleins hinwieder werde küssen. Itzt muss ich weiter fort. Doch solst du / meine Zier / noch dieses wahre Wort von mir zu letzte wissen / 139 Je weiter ich mich mach’ / je näher kömst du mir.

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Petrarkistisch ist hier zunächst einmal das Motiv der Trennung und der Fernkommunikation und das der schönen Hand der Geliebten.140 Mit den Motiven Handschrift und Handkuss wird eine Verbindung von Briefschreiber und Geliebter hergestellt, die allerdings nur zurückhaltend thematisiert und nicht concettistisch zugespitzt wird. Das Reimschema ist wie überwiegend bei Fleming das französische a b b a a b b a c c d e e d , wobei sich die Perioden diesmal in die Terzetteinteilung fügen. Den Schluss bildet auch hier wieder eine antithetische Pointe, der epigrammatische Zuschnitt ist also durchaus gegeben. Der im Vergleich zum Sonnenschirm-Sonett erneut um vieles persönlichere Ton hängt hier ganz deutlich mit der Brieftopik zusammen. Im Eingang wird der Briefcharakter zunächst explizit bezeichnet, was in der Epistolardichtung häufig der Fall ist. Indirekt deutet dies auf den literarischen Charakter des Briefgedichts hin, da erst der Veröffentlichungskontext die Markierung des Briefcharakters notwendig macht. Zugleich ist damit der Gebrauchscharakter des Texts im Rahmen einer tatsächlichen Briefsendung nicht ausgeschlossen. Heinz Entner hat in seiner Biographie wahrscheinlich zu machen versucht, dass Fleming die Gedichte gleichsam als literarisch getarnte Liebesbotschaften nach Reval sandte. Entspricht dies natürlich nochmals dem romantisch——————— 138 139 140

Pyritz, S. 280. Fleming: Teütsche Poemata, S. 622f. Vgl. Petrarcas Handschuh-Sonett O bella man, che mi destringi ›l core (Canz. 199); zur Motivgeschichte: Forster: Petrarcas Dichtweise, S. 14; James V. Mirollo: In Praise of ›La bella mano‹. Aspects of Late Renaissance Lyricism. In: Comparative Literature Studies 9 (1972) 31–43.

326 biographischen Mythos der älteren Fleming-Forschung, so ist dem Gedanken eine gewisse Plausibilität gleichwohl nicht abzusprechen in einer Zeit und Situation, in der ein direkter vertrauter Briefverkehr mit der Geliebten kaum möglich war.141 So zumindest stellt sich der situative Kontext dar, den das vorliegende Sonett entwirft. Es ist in den ersten sechs Versen davon die Rede, dass das Sprecher-Ich wegen des langen und gefährlichen Postwegs anonym bleiben müsse. Gerade dieser Umstand wird nun zur Dokumentation der persönlichen Vertrautheit von Sprecher und Dame, da diese seine Handschrift kenne wie die eigene (v. 6). Der folgende Satz des Quartetts ist dem Epistolartopos gewidmet und bezeichnet eben diese Schrift als die »Rednerin des Herzens«. Daran wiederum schließt sich das Treuemotiv an: »wie ich [...] nicht lasse nach zu brennen« (v. 8). Das Terzett spiegelt nun diese Treue auf die Geliebte, und zwar wiederum in einer sprachlichen Inszenierung der Nähe: »bist du wie ich gesinnt« (v. 9). Im Horizont dieser gemeinsamen Gesinnung steht sodann der Handkuss, der wiederholt werden soll, was darauf verweist, dass eine derartige Annäherung bereits in der Vergangenheit stattgefunden hat. Das letzte Terzett lenkt den Fokus zurück auf die Reise, die »itzt« eine noch weitere Entfernung erforderlich macht. Damit ist kunstvoll eine gegenläufige Bewegung inszeniert, der das Briefmotiv der Entfernungskommunikation zur Grundlage dient. Das Sonett setzt ein mit dem Hinweis auf den weiten Weg, dem die Nähe und Vertrautheit der Handschrift und die darin zum Ausdruck gebrachte Treuebeteuerung entgegengesetzt wird. Dem entspricht die Imagination der vergangenen und zukünftigen tatsächlichen Berührung der Hände im Handkuss, von der zurückgeschwenkt wird zum »itzt muss ich weiter fort«. Die argumentative Gesamtstruktur des Sonetts ist in der Pointe gebündelt: »je weiter ich mich mach’ / je näher kömst du mir«; ein trügerischer Schluss, worin jedoch gerade seine concettistische Würze liegt. Die Nähe und Vertrautheit, die in diesem Sonett zum Ausdruck gebracht wird, erweist sich als eng verwoben mit seiner concettistischen Konstitution und seiner argumentativen Anlage. Epigrammpoetik, petrarkistische Motivik, Epistolartopik, Treuemotivik und Dialogcharakter sind eng miteinander verknüpft und geben dem Sonett eine sowohl thematisch wie stilistisch modifizierte Charakteristik. Das folgende Sonett bezieht sich auf den Bruch mit Elsabe Niehus und kehrt die Treuemotivik um. Auch dabei steht der dialogische Aspekt im Vordergrund. PAUL FLEMING An Adelfien. Ists wahr / Adelfie / als wie man sagt vor wahr / du habest / also bald ich sey von dir gezogen / mit eines andern Gunst der Freundschafft so gepflogen / dass dus ihm zugesagt / und nun auch Braut seyst gar. Ich fürcht’ / und gläub’ es fast. Am allermeisten zwar / dass etwan dich hierzu mein langer Weg bewogen /

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Entner, S. 464; auch bezogen auf das vorliegende Sonett.

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327 und ein vergälltes Maul dir etwas vorgelogen / damit du dich und mich so setzest in Gefahr. Ich fürcht’ / und gläub’ es fast. Nichts wird so hoch versprochen / das schändlich werde nicht durch Mißtreu’ itzt gebrochen. War / Schwester / das dein Muth / der sich so hoch verschwur? Hast du mir das gethan / so werd’ ich einer Frauen auf ihren höchsten Eyd nicht so viel künfftig trauen. 142 Verzeiht mirs alle denn / die eine macht es nur!

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Zunächst sei angemerkt, dass die Perioden wiederum epigrammorientiert den Reimen und nicht den Terzetten folgen: a b b a . a b b a . c c . d e e . d . Das Sonett imaginiert erneut eine Gesprächssituation, in diesem Fall mit einer Abfolge von rhetorischen Fragen und antwortenden Kommentaren. Das Thema der Klage über Untreue mit nachfolgender Liebesabsage oder zumindest einer Distanzierung seitens des Sprechers ist traditionell. Wieder fällt die stilistische Absenkung auf, der umgangssprachliche Tonfall mit Nachfragen und einer gewissen Vorsicht der eigenen Position gegenüber: »Ists wahr [...] als wie man sagt«, oder: »Ich fürcht’ und glaub es fast«. Der Kontext enthält autobiographisch anschließbare Referenzen, die lange Reise und die anderweitige Verlobung der geliebten Dame. Auch wenn das Geschehen auf allgemeine Sentenzen bezogen wird – »Nichts wird so hoch versprochen / das schändlich werde nicht durch Mißtreu’ itzt gebrochen« – so bewirkt die autobiographische Verankerung und der bis ins Umgangssprachliche abgesenkte Stil einen Eindruck der Authentizität, so als komme das Gedicht einer tatsächlichen gesprächsweisen Auseinandersetzung der Protagonisten nahe. Selbst die auch hier antithetisch formulierte Pointe ist als unmittelbare persönliche Reaktion gefasst.143 Auch hierin steckt noch eine sehr subjektiv wirkende Selbstzurücknahme, die den Zweifel an der Aufrichtigkeit der Frauen nicht als objektive Aussage, sondern als affektiv hervorgerufene Haltung darstellt, für die sich der Sprecher im gleichen Moment bereits entschuldigt. Dass der persönliche und kolloquiale Eindruck nicht der Treuethematik allein geschuldet ist, kann ein nicht viel älteres Sonett von Johann Rist zum gleichen Thema zeigen. JOHANN RIST An seine CHARITNIS, dass sie ihn so fälschlich betrogen. SONNET. CHaritni falsches Hertz was hat dich doch bewogen / dass du so manchesmahl mit grossem schweren Eidt Versprochen mir in Lieb’ hast dein standhafftigkeit / Und werde doch so gar spöttlich von dir betrogen? Ach weh der bösen stundt / da ich von dir gesogen dass süsse liebe Gifft / dadurch so schweres Leidt In mir geboren ward / und nunmehr ist bereit /

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Fleming: Teütsche Poemata, S. 651; in Vers 7 wurde der Druckfehler »die« berichtigt zu »dir«. Den autobiographischen Kontext würdigt erneut Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 4: Barock-Humanismus. Teilbd. 2: Liebeslyrik. Tübingen 2006, S. 127–132, zum vorliegenden Sonett: S. 130.

328 Ach Amor het’ ich doch dein güldne Pfeil geflogen / Charitni falsches Hertz bedenck die schwere Rach / Die dich wird treffen noch mit klagen weh’ uñ ach / Doch weiß ich das gewiß die liebe zeit wird kommen / Da du gantz schmertzlich wirst beweinen / dass du mich Und mein getrewes Hertz verlassen jämmerlich 144 Ja mir durch härtigkeit mein Leben hast genommen.

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Während auch hier auf eine rhetorische Frage Antworten gegeben werden, fehlen die situativen Bezüge und besonders auch die zögernde Haltung des Sprecher-Ichs der eigenen Position gegenüber. Treueschwur, Betrug und Liebeskummer werden in großen Worten benannt und objektiviert, mit dem Stichwort der »standhafftigkeit« ist das Treuemotiv sogar ausdrücklich an die stoische constantia geknüpft. Auch wenn dies hier ein Einzelbeispiel ist, so zeigt es bereits, dass Pyritz die Bedeutung des Treuemotivs selbst für Flemings eigenwilligen Stil offenbar überschätzt hat, und dass es durchaus nicht nötig ist, Quellen dafür jenseits des Hauptstrangs der europäischen Liebesdichtung zu suchen. Fleming ist kein Einzelfall bei der Einbeziehung des Treuemotivs in die petrarkistische Tradition. Auch bei Rist ist die Periodenführung epigrammkonform dem französischen Sonettschema verbunden. Allerdings erscheinen die Mythologeme und die Bildsprache, die sich hier stärker als bei Fleming finden, ebenfalls durchaus im Sinn eines einfacheren Stils zurückgenommen. Das süße Gift, Amors Pfeile und das harte Herz sind jedoch Elemente, auf die Fleming in den angeführten Sonetten praktisch völlig verzichtet. Was nun lässt sich aus diesen Beobachtungen für das Konzept des Petrarkismus und die Frage nach seiner Stellung speziell in der Dichtung des Paul Fleming schließen? Grundsätzlich erscheint die in der Forschung bislang nahezu durchgängig beibehaltene Entgegensetzung von petrarkistischer Tradition und innovativem und eigenwilligem Duktus Flemings wenig hilfreich. Dies gilt einerseits, weil der Petrarkismus selbst nicht sinnvoll als ein über Jahrhunderte hinweg statisches System begriffen werden kann, es gilt andererseits, weil sich Flemings Dichtung nicht primär als Abwendung von Tradition oder von petrarkistischer Tradition darstellen lässt. Es sei deshalb wiederholt, dass Petrarkismus hier als ein Gattungstopos des Sonetts verstanden wird, der der poetologischen Vorgabe der Canzoniere-Nachahmung folgt. Vor diesem Hintergrund kennt der frühneuzeitliche Petrarkismus mannigfache Modifikationen, die nicht etwa durch Prinzipien wie das der ›Unerreichbarkeit der Dame‹ begrenzt werden. Vielmehr steht die Liebessonettistik der Frühen Neuzeit insgesamt im Bann Petrarcas. Somit ist ihre Konstitution insgesamt petrarkistisch. Es wurde oben gezeigt, dass zahlreiche Aspekte, die man gemeinhin speziell dem Petrarkismus zurechnet, Ergebnis eines frühneuzeitlichen Epigrammatisierungsprozesses sind, der weit über die petrarkistische Liebesdichtung hinaus——————— 144

Johann Rist: Musa teutonica das ist: Teutscher poetischer Miscellaneen 1. Th., in welchem begriffen allerhandt Epigrammata, Oden, Sonnette [...]. Hamburg 1634, S. 22f.

329 greift und der diese auf breiter Basis vor allem auch außerhalb Italiens erfasst. In dieser Perspektive erscheinen zahlreiche der Merkmale, die Hans Pyritz für die Überwindung des Petrarkismus anführt, adäquater erfasst, indem man sie als eine Rücknahme der epigrammatischen Konstitution der Liebesdichtung beschreibt. Eine solche Entepigrammatisierung des Liebessonetts steht dann jedoch unter dem Einfluss alternativer Traditionen. Sie lässt sich im Sinn von Alewyn als eine Verschiebung im Gefüge der überpersönlichen Gebilde fassen. Dass die Abwendung vom epigrammatischen Petrarkismus sich besonders ausgeprägt innerhalb der Oden mit ihren kürzeren und leichteren Versformen und ihrer musikalischen Orientierung vollzieht, ist stets hervorgehoben worden und erklärt sich hier vor allem durch den Gattungswechsel selbst. Zusätzlich machte man das Motiv der Treue für Flemings Eigenart – und das heißt immer auch: für seine epochenüberschreitende Anschließbarkeit – verantwortlich, wobei man in diesem Treuemotiv eine besondere Empfindungsstärke und damit persönliche Authentizität entdeckte. Für die Sonette stellt sich der Sachverhalt verändert dar. In diesem genuin petrarkistischen Gattungsraum hat Fleming zahlreiche Beispiele einer sehr deutlich epigrammatisierten Liebessonettistik vorgestellt. Dies lässt ihn als den ausgeprägtesten Petrarkisten der frühen deutschen Dichtung im 17. Jahrhundert erscheinen. Man sollte ergänzen: als den am stärksten epigrammatisierenden Sonettpetrarkisten. Andererseits jedoch finden sich Sonette, die sich sehr weitgehend der Epistolartopik öffnen, die die Epigrammatische Konstitution des Sonetts mit dialogischen Elementen überlagern und die Sprache stilistisch deutlich absenken. Sie verwenden kaum noch metaphorische, allegorische und mythologische Elemente und nähern sich einer umgangssprachlichen Redeweise. Da sie als Briefgedichte zugleich eine starke situative Anbindung besitzen und autobiographische Momente integrieren, können solche Gedichte einer späteren erlebnisorientierten Poetik als besonders authentisch erscheinen. Ein Weiteres ist gleichwohl zu erwähnen. Man hat stets darauf hingewiesen, dass Flemings Lebensgeschichte und seine große Reise zur Intensität seiner Dichtungen beigetragen hätten. Bezogen darauf kann zumindest festgehalten werden, dass eine Lebenssituation, in der eine Brautwerbung über eine jahrelange persönliche Abwesenheit bei äußerst reduzierten Kommunikationsmöglichkeiten hinweg aufrechterhalten werden soll, einen enormen rhetorischen Druck auf das geschriebene Wort ausüben musste. Die poetische Bekräftigung des Liebesverhältnisses muss unter solchen Bedingungen an Intensität gewinnen. Es ergibt sich eine konkrete Sprachnot, die poetisch äußerst produktiv ist. Mit diesem Hinweis soll nicht mehr und nicht weniger gesagt sein, als dass Literatur auch in vorindividualistischen Zeitaltern unter Bedingungen der Lebenspraxis steht und dass sie durch diese ihre Signifikanz gewinnt. Diese Analyse kann auch für Flemings bekanntere Sonette fruchtbar gemacht werden, die nicht dem petrarkistischen Kontext entstammen sondern sich auf seine eigene Person beziehen und deshalb gerne als eine Vorwegnahme subjektiver Selbstaussprache aufgefasst werden: so etwa für die Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht in Hamburg / den xxix. Tag des Mertzens m. dc. Xl auff seinem Todtbette drey Tage vor seinem seel: Absterben, bei der die epi-

330 grammatische Gattung des Epitaphs auf die eigene Person bezogen wird, so dass das Motiv des eingetroffenen Todes ein besonderes Maß an Authentizität erzeugt.145 Der entstehende Eindruck der Unmittelbarkeit hängt dabei stark damit zusammen, dass die Gedichte konkret und situationsbezogen formuliert sind und etwa im Vergleich zu Opitz sehr viel weniger Abstrakta ins Spiel bringen und keinen dessen Sprache vergleichbaren Hang zu einem Nominalstil aufweisen. Stärker noch wirken sich diese stilistischen Eigenheiten im Fall des Ad se ipsum-Sonetts An sich aus, wo an Stelle der epigrammatischen Selbstthematisierung eine gesprächshafte Selbstanrede steht, die an den Charakter der Briefsonette erinnert. PAUL FLEMING An Sich. Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren. Weich keinem Glücke nicht. Steh’ höher als der Neid. Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid / hat sich gleich wieder dich Glück’ / Ort / und Zeit verschworen. Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren. Nim dein Verhängnüß an. Laß’ alles unbereut. Thu / was gethan muss seyn / und eh man dirs gebeut. Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren. Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke Ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an. Diß alles ist in dir / laß deinen eiteln Wahn / und eh du förder gehst / so geh’ in dich zu rücke. Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kan / dem ist die weite Welt und alles unterthan.

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Die Periodenführung folgt dem Reimschema dreier Quartette: ( A . . B . . BA . ) ( A . B. . B . A. ) ( C . ~ D. . D C. ) D D , wobei Vers 1 und dann jeweils der erste der paarreimenden Verse in stakkatoartige Kurzsätze zerfällt (hier durch zwei Punkte markiert). Johann Christoph Gottsched wird später bei diesem von ihm ansonsten hochgelobten Gedicht den Übergang zum zweiten Terzett wegen des fehlenden Sinneinschnitts rügen (vgl. unten, S. 404). Im Blick auf das epigrammatische Schlusscouplet endet diese Periode allerdings in fast englischer Manier und ganz im Sinn von Reimschema und nachfolgender Pointe nach Vers 12. Obwohl das Sonett unter neustoizistischen Vorzeichen steht und einen deutlich lehrhaften Charakter hat, wirkt es weniger gelehrt als unmittelbar und intensiv.146 Verzichtet wird sowohl auf christliche Deutungsangebote als auch auf ——————— 145

146

Vgl. Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings Grabschrifft. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 168–175; sowie: J. Schmidt: Der Tod des Dichters. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Selbstbehauptung und Selbstdisziplin. Zu Paul Flemings An Sich. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1, S. 160–166; Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. von Hartmut Laufhütte. Bd. 1. Wiesbaden 2000, S. 33–67, bes. S. 45f.; Barbara Bauer: Naturverständnis und Subjektkonstitution aus der Perspektive der frühneuzeitlichen Rhetorik und Poetik. Ebd., S. 69–132, zum vorliegenden Sonett: S. 115–120; Neymeyr.

331 allegorische und mythologische Überhöhungen der Thematik in humanistischer Tradition. Obwohl von Affekten, vom Wirken der Fortuna und der Prädestinationslehre die Rede ist, gibt sich die Sprache unprätentiös und beschränkt sich auf einfache Wiederholungsfiguren. Die Fortunagestalt ist in der mehrfach auftauchenden alltagssprachlichen Rede vom ›Glück‹ nahezu entallegorisiert, obwohl die philosophische Signifikanz der Konzeptfigur durchaus präsent ist. Die Syntagmen fügen sich in den ersten beiden Quartetten gänzlich ohne Enjambements in die Hälften der Alexandriner und schaffen einen leichten und raschen Rhythmus parallel gebauter Satzkonstruktionen: »Sei dennoch unverzagt« : »Gib dennoch unverloren!« Zum Periodenschluss in Vers 4 und wieder am Ende des Gedichts wird die Mittelzäsur abgeschwächt und überspielt, was den Versen der so verlängerten Perioden Fluss und ein stilistisch erhöhtes Gewicht verleiht. Das Fortuna-›Glück‹ steht in Vers 2 und 4 sowie als Paronomasie »Sein Unglück und sein Glücke« in Vers 9, wo es zudem in Reimposition die beiden Teile des Sonetts verklammert. Der Einschnitt zu den Terzetten wird durch einen Wechsel sowohl des grammatischen Duktus als auch des Rhythmus betont: durch den Beginn mit einer anaphorisch beschleunigten Frage »Was klagt, was lobt man noch?« und das Fortfahren mit der zusammenfassenden Aufzählung, die in ein glattes Versenjambement hinüberleitet: »Sein Unglück und sein Glücke | ist ihm ein jeder selbst.« Einfache Polyptota (›alle‹ : ›alles‹ – ›gehst‹ : ›geh‹) strukturieren die Rede bis hin zum grammatisch und reimtechnisch abgesetzten Schlusscouplet, das aus zwei korrespondierenden Alexandrinern mit abgeschwächter, parallel durch ein ›und‹ überspielter Zäsur eine sprachlich schlicht gehaltene stoizistische Maxime formuliert. Zweifellos ist es neben dem kontextresistenten Thema der individuellen Selbstbehauptung diese deutliche stilistische Zurücknahme und die gleichzeitige sprachliche Eleganz in der Durchführung des traditionellen Themas, die dem Gedicht weit über seine Zeit hinaus Eindringlichkeit verliehen und Bewunderung eingetragen hat. Man muss die Frage nach Flemings Eigenart insofern etwas modifiziert beantworten. Nicht die grundsätzliche Überwindung von Traditionen ist das angemessene Paradigma, sondern vielmehr ein sprachliches Vermögen, unterschiedliche Traditionsbezüge auf besonders intensive und geschmeidige Art auszuschöpfen. Paul Fleming ist zugleich der epigrammatischste Petrarkist und der am wenigsten epigrammatische. Er entfaltet das objektbezogene Preziosensonett mit gleicher Intensität, wie das kolloquiale Briefsonett in einem einfachen und persönlichen, auf konkrete Lebenssituationen bezogenen Stil. Der ›eigene Ton‹ bezeichnet die Sache dabei nicht ganz unzutreffend. Nicht die Geltung von Traditionszusammenhängen unterscheidet seine Texte. Als Neustoizist ist er vielmehr ein geradezu typischer Repräsentant seiner Zeit. Die Unmittelbarkeit und Intensität auch im autobiographischen Bezug erscheint vielmehr vor allem als das Ergebnis einer stilistischen Anstrengung. Wie kein zweiter zeitgenössischer Autor fand er zu einer entheroisierten mittleren Stillage, in der die Dinge weniger durch Bezug auf abstrakte und gelehrte Prinzipien zur Sprache gebracht wurden, als durch unmittelbaren Bezug auf die einzelne – auch autobiographisch vorgegebene – Situation und deren gesprächsnahen sprachlichen Ausdruck. Bei diesem Vorgang erweist sich zwar weder das Epi-

332 gramm noch die Tradition des Petrarkismus als ein grundsätzlicher Widerpart, doch lässt die Kreuzung dieser Muster mit anderen, briefartigen und gesprächshaften Konstellationen deren Eigenart tendenziell zurücktreten.

3.8

Constantia, Ehe, Treue

Auch unabhängig von der Diskussion um den eigenen lyrischen Ton des Paul Fleming ist das Thema der constantia und der Liebestreue im Zusammenhang des Petrarkismus in Deutschland zu behandeln. Es kommt einer Verzerrung gleich, dass man im Anschluss an Hans Pyritz davon ausgegangen ist, dass die Treuethematik in der Liebesdichtung eine von Fleming singulär in den Petrarkismus eingeführte Angelegenheit sei, die mit seinen persönlichen Erfahrungen und mit bestimmten Traditionen der volkstümlichen Lieddichtung zu tun hätte. Man muss vielmehr festhalten, dass die Thematik der Treue sich einerseits mit einer gewissen Konsequenz aus der Übertragung neustoizistischer Maximen auf die Liebesdichtung ergibt, und dass sie andererseits eng mit einem Bezug der petrarkistischen Konstellation auf die Ehe korreliert, der für protestantische Autoren stets nahe gelegen hat. Dies ist in der Forschung lange Zeit nicht gesehen worden, weil man unter Petrarkismus meist eine starre Mustervorgabe verstand. Die Unerreichbarkeit der Dame ist allerdings ein Prinzip, das bereits im 16. Jahrhundert im europäischen Petrarkismus immer wieder konterkariert und durchbrochen wurde. Es war insofern keineswegs erst Paul Fleming, der die erfüllte Liebeskonstellation und die sich daran anschließende Treueforderung in den Petrarkismus einbrachte. Die Philosophie des Neustoizismus bildete im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts ein gesellschaftliches Leitkonzept, an das zahlreiche politische Säkularisierungsprozesse anschlossen und von dem sich führende Autoren der Zeit stark beeindrucken ließen.147 Für die Entwicklung des Petrarkismus spielt dies ——————— 147

Die Literatur dazu ist umfangreich. Klassisch sind die Aufsätze von Gerhard Oestreich: Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates. In: Historische Zeitschrift 181 (1956) 31–78; G. Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1969; G. Oestreich Das politische Anliegen von Justus Lipsius‹ De constantia ... in publicis malis (1584). In: G. Oestreich: Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. Hg. von Brigitta Oestreich. Berlin 1980, S. 298–317; ferner für die Literaturwissenschaft: Conrad Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Barners »Barockrhetorik«. In: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Erstes Jahrestreffen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 27.–31. August 1973. Vorträge und Berichte. Hamburg 1976, S. 21–51; ferner: Günter Abel: Stoizismus und frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin, New York 1978; Xaver Stalder: Formen des barocken Stoizismus. Der Einfluß der Stoa auf die deutsche Barockdichtung. Martin Opitz, Andreas Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg. Bonn 1976; Max Wehrli: Bewehrete Beständigkeit. Stoische Tugenden bei barocken Dichtern und Gelehrten (1989). In: M Wehrli: Humanismus und Barock. Hg. von Fritz Wagner und Wolfgang Maaz. Hildesheim, Zürich 1993, S. 209–221; Barner: Die gezähmte Fortuna.

333 insofern eine Rolle, als es sich hier um durchaus widerstreitende Konzepte handelt, die nicht ohne Modifikationen zu vereinbaren waren. Die stoische Entgegensetzung von Tugend und Affekt steht einer positiven Bewertung der Liebesdichtung entgegen. Für die Einschätzung des Petrarkismus durch Martin Opitz war oben bereits eine Distanzhaltung festgestellt worden, die mit den stoizistischen Überzeugungen des Autors übereinkommt. Wenn er im Sonettbuch Gedichte mit politisch-patriotischem Gehalt und deutlich epigrammatischem Zuschnitt allen Liebessonetten voranstellt, so zeigt dies die höhere Wertschätzung einer Dichtung mit lehrhaft-nützlicher Ausrichtung. Während man bei Opitz demnach die stoizistische Überformung der petrarkistischen Tradition an der Negativierung des Liebesaffekts und einer tendenziellen Abwertung der Liebesdichtung insgesamt festmachen kann, gelingt Fleming unter anderem im Treuekonzept eine positive Reinterpretation des Liebesbegriffs unter ebenfalls neustoizistischen Vorzeichen. Auch bei Opitz durchsetzen stoizistische Konzepte die PetrarkismusRezeption. Seine Wahl einer Übersetzung von Sonetten der Veronica Gambara verschiebt für sich genommen bereits die petrarkistische Minnekonstellation in Richtung auf eine erfüllte Liebesbeziehung. Für Autorinnen der italienischen Renaissance bestand das Problem, aus Gründen der gebotenen weiblichen Zurückhaltung bei der Werbung keine klassische petrarkistische Rollenhaltung einnehmen zu können. War also petrarkistische Werbung nicht statthaft, so konnten Autorinnen allerdings durchaus die eheliche Verbundenheit zu ihrem Gatten thematisieren. Eine eheliche Interpretation des Petrarkismus kommt deshalb gerade bei weiblichen Autoren des 16. Jahrhunderts auf.148 Indem nun Opitz solche Sonette übersetzt, wobei er die weibliche Sprecherhaltung beibehält und im Titel markiert, handelt es sich um Sonette einer erfüllten Liebesbeziehung, nicht um solche einer unerfüllten Werbung. Die Dynamik der Sonette kreist im wesentlichen um Anwesenheit und Abwesenheit, am Schluss steht bei Opitz ein Sonett der Absage an die Liebesdichtung. Es handelt sich um sieben Sonette, einige behandeln das Augenmotiv, für das Westwindgedicht konnte keine Vorlage bei Gambara nachgewiesen werden. Auch im Fall dieser Gedichte lohnt ein Blick auf die Tendenz der Übersetzung von Opitz. MARTIN OPITZ Aus dem Italienischen der edelen Poetin Veronica Gambara; wie auch nechstfolgende sechse. Sie redet die Augen jhres Buhlen an / den sie vmbfangen SO offt ich ewren Glantz / jhr hellen Augen / schawe / Bin ich in grosser Lust vertäufft so hoch und weit / dass ich mich frewen muss auch in Trübseligkeit

——————— 148

Eckard Höfner: Modellierungen erotischer Diskurse und Canzoniere-Form im weiblichen italienischen Petrarkismus. In: Der petrarkistische Diskurs. Hg. Hempfer/Regn 1993, S. 115–146. Vgl. zum Thema auch: Gerhard Regn: Ehepetrarkismus: Sammlungsstruktur, Sinnkonstitution und Ästhetik in Berardino Rotas ›Rime‹. In: RJb 46 (1995) 74–98.

334 Und eusserster Fortun / in dem ich auff euch bawe. Hergegen schätz’ ich mich für die betrübste Frawe / Wann jhr nicht wie zuvor geneigt und freundlich seyd: Ich bin mir selber gram / mein Leben ist mir leidt / Dieweil ich euch nicht hab’ auff die ich einig trawe. Ihr jrrdisches Gestirn’ / jhr sterblichen Planeten Ihr meine Sonn’ und Mond’ / jhr / die jhr mich könnt tödten / Ohn euch ist alle Lust nichts als ein blosses Bild. Was wundert jhr euch dann / dass ich zu euch muss eilen / Mein bester Trost? es fleucht ein jeder für den Pfeilen 149 Des Todes / wider welch’ jhr seyd mein starcker Schild.

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Das Sonett erreicht nicht die sprachliche Geschmeidigkeit, die man von anderen Opitz-Sonetten kennt. Es wirkt hölzern und auch die Sinnführung ist nicht immer ganz schlüssig. Gellinek datiert es aus diesen Gründen relativ früh.150 So stört, dass es von den Augen in Vers 10 heißt, dass sie töten könnten, während sie in Vers 14 vor dem Tod beschützen sollen. Solche Unstimmigkeit fällt vor allem im Vergleich mit der italienischen Vorlage auf, die im Gegensatz dazu argumentativ sehr stringent und einfach gebaut ist und insgesamt überlegen erscheint. VERONICA GAMBARA Dal veder voi, occhi lucenti e chiari, nasce un piacer ne l’alma, un gaudio tale ch'ogni sdegno, ogni affanno, ogni gran male soavi tengo, e chiamo dolci e cari. Dal non vedervi, poi, lucenti e rari, lumi del viver mio segno fatale, un sì fiero dolor quest’alma assale che i giorni miei fa più che assenzio amari. Quanto contemplo voi sol vivo tanto, limpide stelle mie soavi e liete; il resto di mia vita è doglia e pianto; però se di vedervi ho sì gran sete maraviglia non è, ch’uom fugge quanto 151 che può il morire, onde voi schermo sete.

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Wenn ich euch sehe, leuchtende und klare Augen, | entsteht ein Vergnügen in der Seele, eine solche Freude, | daß jede Empörung, jeder Schmerz, jedes große Übel | sanft erscheint, und ich es süß und liebenswert nenne. | Wenn ich euch aber nicht sehe, leuchtende und seltene | Lichter, mir verhängnisvolle Zeichen meines Lebens, | überfällt ein so grausamer Schmerz diese Seele | und macht meine Tage weit bitterer als Absinth. | Ich lebe nur so lange, wie ich Euch betrachte, | meine reinen, sanften, frohen Sterne, | der Rest meines Lebens ist Schmerzen und Weinen; | Wenn ich also eine derart große Sehnsucht habe, euch

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151

Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/2, S. 704. Der Versuch Gellineks, eine auf dem Stil basierende chronologische Datierung der Opitzschen Lyrik zu erstellen, ist grundsätzlich umstritten, restituiert er doch einen vornehmlich biographischen Blick auf das Werk. Er ist auch methodologisch nicht unproblematisch, da er durchweg mit überaus starken Hypothesen arbeiten muß, die kaum wirklich zwingend sind. Vgl. zum vorliegenden Sonett Gellinek, S. 109f. Veronica Gambara: Le Rime. Hg. von Alan Bullock. Florenz 1995, S. 77f.

335 zu sehen | so ist dies kein Wunder, denn jedermann flieht, wenn | er kann, vor dem Sterben, vor dem ihr Schutz bietet.

Im ersten Quartett bietet Gambara ein reizvolles Gegensatzspiel von Attributen und Affektwerten – »lucenti e chiari«; »piacer«, »gaudio«; »sdegno«, »affanno«, »male«; »soavi«, »dolci«, »cari« – das die Übersetzung nicht wiedergibt. Opitz hat im Buch von der Deutschen Poeterey darauf hingewiesen, dass derartige Reihungen von Epitheta bzw. Adjektiven im Deutschen nicht üblich und deshalb zu vermeiden seien.152 So arbeitet er hier stärker mit zentralen Substantiven – »Lust«; »Trübseligkeit«; »Fortun« –, die eine abstraktere Antithetik bewirken. Die Pointe wird bei Gambara in beiden Terzetten sorgfältig vorbereitet; sie dreht sich um das petrarkische Leben/Tod-Motiv. Wohl wiederum zur Vermeidung der Adjektivreihung vervielfältigt Opitz hier die Stern-Metapher und verkehrt damit die Aussage von der lebensspendenden Funktion der Augen. Es kann geradezu als Übersetzungsfehler erscheinen, dass er stattdessen davon spricht, dass die Augen töten könnten. Gleichwohl intensiviert Opitz mit seinen Modifikationen die Pointe Gambaras, dass nämlich die Augen für die Liebende eine Art Schutzraum bieten. Während dies bei Gambara eine eher scherzhafte Pointe bildet, eine bloße Rechtfertigung der affektischen Zuwendung, wächst sich diese Schutzfunktion der Augen im Sonett von Opitz weiter aus. Schon im ersten Quartett verursacht die Anwesenheit der Augen nicht nur eine angenehme Empfindung, sondern sie steht gegen Trübseligkeit und Fortuna und man kann auf sie ›bauen‹. Die Formulierung »in dem ich auff euch bawe« betont ein Schutz- und Vertrauensverhältnis. Dies wiederholt sich im zweiten Quartett als »auff die ich einig trawe«. Diesem Vertrauen entgegen steht hier ein selbstzerstörerischer Zweifel, »mein Leben ist mir leidt«. Im letzten Terzett werden die Augen schließlich als »Trost« bezeichnet. Die Präsenz der Augen erscheint also wie ein Schutzwall gegen innere und äußere Anfechtungen, nicht zuletzt gegen affektive Attacken. Opitzens Sonett widmet sich weniger der affektiven Hingabe, wie das für Gambara gesagt werden kann, es fasst die Liebeskonstellation vielmehr im Stil einer stoischen Verteidigungshaltung. Die Hinweise sind nicht sehr stark, doch erscheinen die Augen des Geliebten als Fundament und Trost im Gegensatz zu allfälligen affektiven Erschütterungen, so dass das Konzept einer gegenwärtigen Liebesbeziehung als Trost und Schutzraum gleichsam in paradoxer Weise die stoizistische Systemstelle der rationalen Affektbeherrschung einnimmt.153 Jörg-Ulrich Fechner hat bereits in seiner Studie zum Antipetrarkismus die These vertreten, dass die Petrarkismus-Rezeption im 17. Jahrhundert in Deutschland im Kontext einer gewandelten Liebesauffassung stand, und er bezog dies auf einen allgemeinen Verbürgerlichungsprozess, der zu einer ehebezogenen ——————— 152 153

Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. In: Opitz: Gesammelte Werke, Bd. II/1, S. 381f.; dazu auch: Gellinek, S. 109. Vgl. für das entsprechende Vokabular auch das nachfolgende Sonett, ebenfalls zu den Augen: »Die mir in Angst und Noth verleihen Sicherheit« (Nr. 23, v. 3); »als eine weise Fraw« (v. 11).

336 Betrachtungsweise geführt habe.154 Wie oben bereits festgestellt, empfiehlt sich hier der Verzicht auf den Begriff des Antipetrarkismus, doch kann man von einem heterodoxen Petrarkismus sprechen, der außerpetrarkische Traditionen aufgreift und der veränderte, vor allem auch erotisch ausgelebte Liebessituationen beschreibt. Topisch gehört dem in aller Regel die dringende Einforderung der Gegenliebe der Dame zu wie auch die Androhung der Abwendung bei fortdauernder Sprödigkeit, Themen also, die in der deutschen Barocklyrik allenthalben zu finden sind. Fechner beschreibt diesen Zusammenhang als voreheliche im Gegensatz zur ursprünglichen petrarkistischen außerehelichen Liebessituation (26f.). Gemeint ist damit eine prinzipielle Bezogenheit der Liebesthematik auf die Ehe, sei es im Blick auf eine zeitlich spätere Eheschließung oder auf deren Negation (27). Es scheint angebracht, hier eher von einer Tendenz zu sprechen und diese auch nicht grundsätzlich und in jedem Fall mit einem zugrundegelegten Prozess der Verbürgerlichung zu verknüpfen. Für den Ehebezug des Petrarkismus spielen durchaus verschiedene ideologische und institutionelle Zusammenhänge eine Rolle. Erwähnt wurde bereits der Fall des weiblichen Petrarkismus, der zu grundlegenden Umbesetzungen der petrarkistischen Rollenkonstellation nötigte.155 Eine weitere Ursache stellt der fundamentale Glaubwürdigkeitsverlust dar, den die idealistischen und neuplatonisch grundierten Philosopheme, die im Hintergrund des orthodoxen Petrarkismus stehen, im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts erfahren. Dies führt bekanntlich einerseits zu skeptischen, säkularen und auf politische Nützlichkeit bedachten Konzepten, andererseits führt es zu einer Restitution theologisch orthodoxer Positionen. Beide wechselseitig aufeinander bezogenen Tendenzen implizierten allerdings auch auf die eine oder andere Weise eine Zurückweisung der petrarkistischen Idealisierung und Epiphanierung der Frauenliebe. Der Wandel der Eheauffassung ist damit auf komplexe Weise verschränkt. Er bildet einen zentralen Impuls der Reformation, und er stützt hier nicht zuletzt die Autonomiebestrebungen der säkularen Herrschaft gegenüber den Machtansprüchen der Kirche, die gerade im Eherecht fest verankert waren.156 Spektakuläre Mehrehen wie die Heinrichs VIII. in England oder die des Landgrafen Philipp von Hessen stehen im engen Zusammenhang mit der frühen Entwick——————— 154 155

156

Fechner: Der Antipetrarkismus, bes. S. 26–39. Vgl. zum Thema des weiblichen Petrarkismus auch Erika Greber: Petrarkismus als Geschlechtercamouflage? Die Liebeslyrik der Barockdichterin Sibylle Schwarz. In: Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe. Hg. von Andreas Kraß und Alexandra Tischel. Berlin 2002, S. 142–168; sowie Greber: Der (un)weibliche Petrarkismus im deutschen Barock: Sibylle Schwarz’ Sonettzyklus. In: Francesco Petrarca in Deutschland. Hg. Aurnhammer 2006, S. 223–242. Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie; vgl. zur Auseinandersetzung mit der Bigamiefrage in Naturrecht und in Hoffmannswaldaus Heldenbriefen: Vf.: Naturrecht der Geselligkeit und protestantische Emanzipation der Ehe in Hoffmannswaldaus Heldenbriefen. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. von Wolfgang Adam. Wiesbaden 1997, S. 765–780.

337 lung der Reformation. Man kann dies insgesamt als Säkularisierungsprozess beschreiben, mit Verbürgerlichung hat es nichts zu tun. Dieser Wandel der Eheauffassung im Protestantismus schlägt sich nun deutlich auch in der Petrarkismusrezeption nieder. Vor allem in England ist dies auffällig, wenn bei den Elisabethanern geradezu systematisch petrarkistische Sonettzyklen entstehen, die Liebesbeziehungen im Horizont der Eheschließung beschreiben. Dies gilt für Philip Sidneys Astrophel and Stella und deutlicher noch für Edward Spensers Amoretti and Epithalamium, das mit einem Hochzeitsgedicht schließt. Man kann insofern die These formulieren, dass sich der Petrarkismus im protestantischen Kontext mit einer gewissen Konsequenz auf eheliche Beziehungen hin orientiert. Konstatiert man dies, so erscheint das Aufkommen des Treuemotivs in der petrarkistischen Lyrik des 17. Jahrhunderts in Deutschland keineswegs exzeptionell, sondern durchaus konsequent. Bereits Weckherlin rezipierte Spensers Amoretti und schuf mit seinen Buhlereyen sehr früh einen ebenfalls ehelichen Sonettzyklus.157 Dies blieb in Deutschland die Ausnahme, wohl hauptsächlich wegen der fehlenden Tradition zyklischer Liebessonettistik, wie sie in Frankreich und in England im 16. Jahrhundert entwickelt worden war. Opitz beispielsweise hat in seiner Poetik den zyklisch-narrativen Charakter der Sonettdichtung bei Petrarca unerwähnt gelassen und selbst nichts derartiges verfasst, sieht man einmal von den sieben Gambara-Übertragungen ab, deren Zyklusstruktur ohnehin wenig offensichtlich und zweifelhaft ist.158 Im Treuekonzept verschränkt sich demnach eine veränderte, entidealisierte Liebesauffassung, die im Protestantismus an die säkularisierte Institution der Ehe geknüpft wurde, mit dem gleichermaßen im Grundsatz säkularen ethischen Entwurf des Neustoizismus, der um den Begriff der constantia kreist. Man kann das Treuemotiv damit als einen genuinen und wichtigen Bestandteil des Petrarkismus im 17. Jahrhundert beschreiben, der nichts mit erlebnispoetischen Vorstellungen des Folgejahrhunderts zu tun hat. Das Konzept steht vielmehr deutlich im Bannkreis des Neustoizismus und es tritt in der zweiten Jahrhunderthälfte zurück, je mehr der Stoizismus als Leitphilosophie an Boden verliert. Die vorgenannten Faktoren vermögen die Überlegungen von SperbergMcQueen zu ergänzen. Sie hatte in ihrem Fleming-Buch darauf hingewiesen, dass die stets herangezogene Tradition des sächsischen Gesellschaftslieds und speziell die Dichtung des Johann Hermann Schein nicht den ausschließlichen Einfluss auf das Treuekonzept bei Fleming hatte, der ihm zugeschrieben wurde. Sie hatte als mögliche Einflussfelder für das bei Fleming so deutlich präsente ——————— 157

158

Vgl. dazu Vf.: Georg Rodolf Weckherlins Buhlereyen-Zyklus; Hans-Georg Kemper: Hölle und »Himmel auf der Erden«. Liebes-, Hochzeits- und Ehelyrik in der frühen Neuzeit. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999, S. 30–77. Weydt: Nachahmung und Schöpfung bei Opitz, Zweifel am Zykluscharakter der GambaraÜbertragungen: S. 17f.

338 Konzept einer wechselseitigen und dauerhaften Liebesbeziehung159 zusätzlich die humanistische Theorie und Dichtung der Freundschaft angeführt sowie möglicherweise bestimmte Motivkonstellationen der Hochzeitsdichtung. Vor allem wies sie darauf hin, dass das Treuekonzept bei Fleming nicht erst im Kontext der Revaler Liebesdichtung auftaucht, sondern dass es sein Werk von Beginn an durchzieht.160 Auch Sperberg-McQueen geht in ihrer Argumentation von einem Gegensatz von petrarkistischer Tradition und dem Konzept wechselseitiger und dauerhafter Liebe aus. Auch hier ist entgegenzuhalten, dass der Petrarkismus nicht als eine fixe Konzeption zu betrachten ist, dem die historischen Wandlungen der Liebesauffassung äußerlich bleiben. Es gilt vielmehr gerade umgekehrt, dass die petrarkistische Dichtung ein wichtiges Medium zur Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von menschlicher Affektivität und ethischer Norm darstellt. Insofern bietet diese Tradition selbst bereits die Muster einer veränderten Anordnung und Bewertung des Konzepts zwischenmenschlicher Liebe. Die Verknüpfung von Treuemotiv und petrarkistischer Sonett-Tradition findet sich nicht allein bei Paul Fleming, sondern sie hat einen festen Stellenwert in der Dichtung der Zeit. Ein Beispiel von Johann Rist wurde bereits vorgeführt. Genannt sei eines von Christian Brehme (1613–1667), der zum Leipziger Freundeskreis um Fleming gezählt wird. Auch bei ihm ist die weltanschauliche Bindung an den Neustoizismus deutlich, Brehme führte in verschiedenen Zusammenhängen den Beinamen ›der Beständige‹, und die Epitheta ›beständig‹ und ›treu‹ werden von ihm gern parallelgeführt,161 so beispielsweise in Gedichttiteln wie Auff etzlicher Damen Vnbeständigkeit / vnd sonderlich wie der Corilis zu trawen sey (Qiij) oder Die Vntrew einer Dame [...] (Qiiij). Dem Thema der constantia und der Liebes- und Freundschaftstreue kommt bei Brehme ein zentraler Stellenwert zu. CHRISTIAN BREHME An seine Liebste ein Sonnet. SChwingt sich mein Sinn so hoch vnd bringt in die Gedancken Vor gar warhafftig seyn: Sol ich berühmen mich Es sey ein Füncklein noch dass jenem Hasse wich’ Und mit mir stehe wol. Wie darff sie denn noch wancken / Hertzliebste / meinet halb / vnd denckt dass ich die Schrancken

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160 161

Sie erläutert dieses Konzept unter anderem durch einen genauen Vergleich der Liebesauffassung in der Schäfferey von der Nimfen Hercinie von Opitz und in Flemings SchäfereiHochzeitsgedicht für Brockman, Poet.Wälder III,6; vgl. P. Fleming: Deutsche Gedichte. Hg. von J.M. Lappenberg. 2 Bde. Darmstadt 1965 (Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1865), Bd. 1, S. 72–94; Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming, S. 78–109. Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming, S. 131. Anthony J. Harper: Nachwort. Lebenslauf, Werk und Wirkungskreis Christian Brehmes. In: Christian Brehme: Allerhandt Lustige / Trawrige / vnd nach gelegenheit der Zeit vorgekommene Gedichte. 1637, mit einem Nachwort, Bibliographie und einem Neudruck der »Weltlichen Gedichte« (1640). Hg. von A. J. Harper. Tübingen 1994, S. 3*–44*, hier: S. 33*f.

339 Des Trew-seyns schreite bey; Ach glaubet sicherlich dass weder Glut noch Flut / noch was sonst gleichet sich Der allergrösten Noth mich euch sol abedancken. Mein Hertz ist nicht mehr mein: Mein Sinn ist euch versetzt: Gedancken auch verlobt: vnd sonsten alls verletzt. Verzeiht mir aber / wann mein Sinn mich hat betrogen / Und wenn an statt der Gunst ihr etwan euch so stellt: So wil ich dieser seyn der euch das Urtheil fällt: dass ich an liebens statt euch bleibe vngewogen. [Miiiiv]

Petrarkistische Stilmittel spielen bei Brehme eine geringere Rolle als bei manch anderen Dichtern und auch das Sonett steht in seinem Werk eher im Hintergrund.162 Im vorliegenden Beispiel handelt es sich um die petrarkistische Grundsituation der spröden Dame, die hier in ein Koordinatensystem aus treuer Liebe einerseits und der Einforderung von Gegenliebe andererseits eingestellt ist. Diese Einforderung wird dabei mit Nachdruck vorgebracht und ihre Erfüllung wird zur Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Liebe gemacht, mithin auch für die Treue. Diese Konstellation findet sich immer wieder, sie bildet gleichsam einen Topos jenes auf eine reziproke und dauerhafte Liebesbeziehung ausgerichteten petrarkistischen Dichtens im 17. Jahrhundert. Seine Pointe bildet die Drohung des Liebesentzugs gegenüber der Dame.163 Diese Topik kann hier nicht in der Breite verfolgt werden. Es war lediglich darauf hinzuweisen, dass sie nicht schon dadurch exzeptionell ist, dass sie der petrarkistischen Unerreichbarkeit der Dame entgegensteht. Es handelt sich vielmehr um einen genuinen Topos der Liebesdichtung des 17. Jahrhunderts, der in die Kontexte petrarkistischer Sonettdichtung integriert wird. Gerade im Umfeld der Leipziger Lyriker ist er absolut geläufig. Dies trifft auch für jene Autoren zu, die ein umfangreicheres petrarkistisches Sonettwerk vorgelegt haben wie etwa David Schirmer mit den 60 Sonetten in seinen Poetischen RosenGebüschen (1657) oder Johann Georg Schoch mit seinen Ersten Hundert Liebes-Sonetten (1660).164 Selbst der kaum als Liebesdichter wahrgenommene Andreas Gryphius hat mit seinen Eugenien-Gedichten eine Reihe von Sonetten geschaffen, die das petrarkistische Liebesmodell im Sinn einer beständigen Beziehung bis hin zum ausgesprochenen Ehewunsch ausdeuten. Das Sonett VIII. im zweiten Buch der ——————— 162 163

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Seine beiden Gedichtsammlungen enthalten zusammen 13 Sonette; Harper: Nachwort, S. 41* und 43*. Formal folgt auch dieses Sonett dem französischen Terzettschema, die Perioden verbinden den ersten Paarreim und ein ›Quartett‹ mit Pointe von Vers 11–14: A B B A A B B A . C C . D E E : D . Graphisch sind die Einzüge nach Reimgeschlecht vorgenommen, so dass die klassische Sonettstruktur in den Hintergrund tritt und das System von Paarreimen hervorgehoben wird. David Schirmer: Poetische Rosen-Gepüsche. Von Ihm selbsten aufs fleißigste übersehen, mit einem gantz neuen Buche vermehret und in allem verbesserter heraus gegeben. Dresden 1657; darin z.B.: X. Seine beständige Treue, mit den Schlussversen: »Das ist das beste Thun / die Lust der ganzen Erden / | beständig / wie man liebt / auch so geliebet werden« (S. 173); vgl. z.B. auch Schoch, S. 66: LXXII. Er beklagt sich über der Katheris Untreu: »Ist dies der Treue Sold / daß du mich hast betrogen?«

340 Sonette (1650) traktiert das Motiv des Seelenverlusts in der Liebe in diesem Sinn: ANDREAS GRYPHIUS VIII. An Eugenien. WEnn meine Seel in Euch / mein Licht? wie kann ich leben? Nun das verhängnüß mich so ferne von euch reißt. Wie kann ich frölich seyn / wenn jhr mir Ewren geist Nicht für den meinen woll’t / (den jhr gefangen) geben? Man siht mich hier / doch nur alß ein Gespenste schweben. Alß ein verzaubert Bild / das sich beweglich weißt Durch frembder künste macht / diß was man sterben heißt Kann meine Schertzen wol / nicht meine flamm’ aufheben. Klagt euch das Hertze nicht das Jhr in bande legt Wie scharff die Geissel sey die meine glieder schlägt / Doch nein! Es ist zu schwach / sein Elend auß zusprechen. Es weiß nichts mehr von mir / Es kennt euch nur allein / Es frewt sich seiner Angst / vnd wündschet diese pein 165 Der Bande / durch ein band / das ewig sey / zu brechen.

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In diesem Fall folgt die Periodenführung dem Schema der Quartette und Terzette, die Graphie bildet das Reimschema ab und bildet einen epigrammatischen Block. Thema ist die Trennung und der dadurch verursachte Verlust der eigenen Seele, die bei der Geliebten verweilt. Das Motiv findet sich sonst häufig in der Kussdichtung neulateinischer Abkunft. Die Pointe bildet ein ebenfalls wohlbekanntes, zugleich aber ambivalentes concetto: die petrarkistischen Liebesbande werden hier scharfsinnig einerseits in die Bande der Ehe überführt, andererseits ist dieses ›ewige Band‹ aber gleichermaßen auf den christlichen Gottesglauben zu beziehen.166

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Andreas Gryphius: Sonette, S. 69; zur allegorischen Signifikanz des Namens ›Eugenie‹, der bei einem anderen Sonett des Autors die Anrede »An eine hohen Standes Jungfraw« ersetzt, vgl. Günter Weydt: Sonettkunst des Barock. Zum Problem der Umarbeitung bei Andreas Gryphius. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 9 (1965) 1–32, bes. S. 10f. Dieter Arendt hat den Text im Zusammenhang der anderen Eugenien-Sonette mehr oder weniger biographisch zu deuten versucht und bezieht ihn auf eine lebensbedrohliche Krankheit des Autors, ein Motiv, das auch mehrere andere Gedichte von Gryphius bezeugen. Diese Lesart ist hier jedoch in jedem Fall unzutreffend: er übersieht das zugrundeliegende Motiv des ›todbringenden‹ Seelenverlusts in der Liebe, das nichts mit einer realen Krankheitserfahrung zu tun hat: Dieter Arendt: Andreas Gryphius‹ Eugenien-Gedichte. In: ZfdPh 87 (1968) 161–179, bes. S. 174; ältere biographische Deutungen der EugenienSonette bei Victor Manheimer: Die Lyrik des Andreas Gryphius. Studien und Materialien. Berlin 1904, S. 183f.; Marian Szyrocki: Der junge Gryphius. Berlin 1959, S. 123f. Vgl. für das Motiv des Ehebandes im Zusammenhang der petrarkistischen Motivik der schönen Hand bei Weckherlin auch Vf.: Georg Rodolf Weckherlins Buhlereyen-Zyklus, S. 250f.

341

3.9

Vanitas, Melancholie, Jesusminne

Die konzentrierte Ausbildung und allmähliche Auflösung und Pluralisierung des orthodoxen Petrarkismus ist im 16. Jahrhundert unmittelbar verknüpft mit der Stilentwicklung vom Renaissanceklassizismus hin zum sogenannten Barockstil des 17. Jahrhunderts. Die petrarkistische Imitatorik bildet dabei eins der poetologisch zentralen Konzepte der klassizistischen Kunstauffassung in der volkssprachlichen Literatur. Sie ist verknüpft mit der Entfaltung der normativen Gattungspoetik und ihrer strikten Korrelation von res und verba, von poetischem Gegenstandsbereich und poetischem Stil. Die angesprochene Stilentwicklung ist kulturübergreifend und hat ihre Entsprechung in den verschiedensten Künsten. Sie erklärt sich nicht allein als eine immanente stilistische Tendenz, sondern sie steht im Zusammenhang übergreifender und epochenrelevanter kultureller Entwicklungen. Die Beschreibung des Konnex von historischer und stilistischer Entwicklung stellt dabei wegen ihres äußerst vermittelten und komplexen Charakters keine leichte Aufgabe dar. Ulrich Schulz-Buschhaus hat in einem wegweisenden Aufsatz zum Gebrauch des literarhistorischen Epochenbegriffs ›Barock‹ vorgeschlagen, diesen im Anschluss an Winfried Floeck an das Konzept einer Ästhetik der diversité und varieté zu knüpfen, das den Einheitstendenzen von Renaissance und Klassik mehr oder weniger entgegensteht, die sich wiederum auf ein Streben nach Systematisierung und Hierarchisierung der Poetik im Sinne einer bewussten Trennung der Gattungen gründete.167 Die sich daraus ergebende ›barocke‹ Tendenz einer Mischung der Gattungen lokalisiert er auf drei Ebenen, zum einen der Mischung stilistischer und thematischer Konventionen, also des Durchbrechens des strikten Gattungsdecorums aus poetologischer Indifferenz, zum zweiten der gezielten experimentellen Mischung bestimmter Gattungen und zum dritten der Tendenzen zur vollständigen Auflösung der humanistischen Gattungshierarchie auf der Basis einer Ästhetik der argutezza (225–230). Erscheint dies einerseits als eine immanente poetologische und stilistische Entwicklung, so werden andererseits spezifische Affinitäten zu ideologiegeschichtlichen Entwicklungen und Umwertungsprozessen kenntlich. Im Zentrum steht hier vor allem eine Aufwertung von Aspekten der gesellschaftlichen Nützlichkeit und der entsprechenden Wirkungskraft der Literatur. Ordnete sich das poetische System des Renaissanceklassizismus der imitatorischen Nachfolge bestimmter antiker Muster als höchstem poetologischem Wert unter, womit dann auch das Prinzip der strikten Gattungsobservanz verknüpft war, so tritt mit der Kritik am orthodoxen imitatio-Konzept des Ciceronianismus die Frage nach dem zeitgenössischen Nutzen in den Vordergrund, der stets auch im Blick auf die sich vehement in den Vordergrund schiebenden konfessionellen Auseinandersetzungen einerseits und der wachsenden repräsentativen Bedürfnisse der ——————— 167

Schulz-Buschhaus: Gattungsmischung, S. 224; Wilfried Floeck: Die Literarästhetik des französischen Barock. Entstehung – Entwicklung – Auflösung. Berlin 1979.

342 sich rationalisierenden Staatswesen andererseits verstanden werden kann. So bemerkt Schulz-Buschhaus in diesem Zusammenhang: In der Tat hängt die Affinität von Barock und Gegenreformation nicht zuletzt von der Möglichkeit ab, die systematische Kombination verschiedener Schreibweisen, die gleichzeitig eine Multiplikation der Wirkungen bedeutet, in den Dienst religiöser Propaganda zu stellen. Dabei denke ich vor allem an die besondere Form der Gattungskombination, die in der Verkleidung profaner Genera »a lo divino« besteht. Sie verschont während der Barockepoche kaum ein Genus, von der petrarkistischen Lyrik bis hin zu den »libros de caballerías« oder den spanischen »comedias«, die sich – »a lo divino« verkleidet – als 168 Autos sacramentales präsentieren.

Diese Einsicht, die Schulz-Buschhaus bereits anhand der Organisationsformen der barocken Rime sacre exemplifiziert hatte, wurde inzwischen von Marc Föcking in einer größeren Studie präzisiert und vertieft.169 Föcking geht in seiner Deutung weiter als sein Vorgänger, insofern er die gegenreformatorisch inspirierte Aufwertung und Entfaltung einer geistlichen Lyrik, die sich zunächst am Standard der weltlich-klassizistischen Renaissancepoetik orientiert, selbst zum produktiven Motor jener Auflösung der klassischen Gattungs- und Stilhierarchie macht, so dass gerade der Kontakt zwischen Profanem und Sakralem ein erhebliches Innovationspotential entfalten würde (285). So lässt sich zeigen, dass den poetologischen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts analoge Modifikationen in der Predigtrhetorik vorangehen, die von deren genuin christlichen Vorgaben und von den offenen Widersprüchen zwischen klassischer Rhetorik und christlichen Grundaussagen angestoßen werden (15– 51). Föcking stellt schließlich die Frage, ob sich nicht sogar »die konzeptistische Poetik Graciáns und Tesauros ganz wesentlich den stilistischen Konsequenzen der geistlichen Oratorik und Dichtung der Jahrhundertwende verdankt« (260). Überträgt man die Frage nach dem geistlichen Petrarkismus auf die Lage in Deutschland im frühen 17. Jahrhundert, so ist wiederum mit den entsprechenden Verspätungen zu rechnen. Vor allem bleibt darauf hinzuweisen, dass die komplexen Entwicklungen einer geistlichen Lyrik, die sich in einem mühsamen Emanzipationsprozess gegenüber der weltlichen Dichtung als eigenwertiges Paradigma zu entwickeln hatte, von den Dichtern in Deutschland bereits als abgeschlossener Prozess wahrgenommen und rezipiert werden kann. Die Dissoziation von weltlicher und geistlicher Dichtung als jeweils eigenständigen Bereichen, die unter einer entsprechenden außerpoetischen Werthierarchie stehen, ist bereits mit den Poemata-Ausgaben des Martin Opitz vollzogen. Eine legitimatorische Auseinandersetzung der geistlichen Sonettistik mit einer normativ gültigen petrarkistischen Imitatorik muss nicht mehr zwingend stattfinden, ——————— 168 169

Schulz-Buschhaus: Gattungsmischung, S. 228. Schulz-Buschhaus: Barocke ›Rime sacre‹; Marc Föcking: Rime sacre und die Genese des barocken Stils. Untersuchungen zur Stilgeschichte geistlicher Lyrik in Italien 1536–1614. Stuttgart 1994.

343 vielmehr genügen partielle Reminiszenzen an den entsprechenden Gattungskonnex.170 Unter den namhaften Nachfolgern von Opitz ergreift zunächst am vehementesten Andreas Gryphius das Paradigma einer geistlichen Sonettistik. An seinen Sonetten lässt sich entsprechend deutlich die Interferenz und der Stellenwert der petrarkistischen Gattungskonstitution im Kontext einer geistlichen Sonettsammlung ablesen. Man findet hier zahlreiche Modelle wieder, die Föcking für die italienischen Rime sacre von Autoren wie Gabriel Fiamma, Angelo Grillo, Torquato Tasso und Giambattista Marino beschrieben hat.171 Gryphius schließt an Opitz unter den Prämissen einer primär geistlich ausgerichteten Dichtungsauffassung an. Wo sich dieser um eine Adaption der humanistischen Programmatik volkssprachlicher Dichtung im Anschluss an Figuren wie Pietro Bembo, Pierre de Ronsard und Daniel Heinsius bemühte, orientiert sich Gryphius an der poetischen Produktion gegenreformatorischer Provenienz. Zum Modell dienen ihm vor allem die jesuitischen Adaptionen des humanistischen Dichtungsprogramms in Lyrik und Drama.172 Man kann in solcher Perspektive davon sprechen, dass Gryphius eine den gegenreformatorischen Modellen analoge Sakralisierung humanistisch-klassizistischer Muster auf lutherischer Basis betreibt. Die namhaftesten Resultate dieser Bemühung stellen seine geistliche Sonettistik und Odendichtung im Zeichen der vanitas-Motivik und die Entwicklung des barocken Trauerspiels dar.173 Für die Petrarkismus-Thematik ist Andreas Gryphius genau aus diesem Grund einerseits kein vordringlicher Autor, andererseits aber ist gerade die darauf bezogene Negativierung der Liebesdichtung aufschlussreich. Immerhin findet sich im Nachlass eine Reihe von Liebessonetten in petrarkistischer Manier, die sich einer geistlichen Überformung gänzlich enthalten. Eines davon ——————— 170

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Unabhängig von Sonetten diskutiert die Frage in Bezug auf Friedrich von Spee unter entsprechenden Vorbehalten Thomas Pittrof: Geistlicher Petrarkismus? In: Francesco Petrarca in Deutschland. Hg. Aurnhammer 2006, S. 257–276. Interessant ist hier auch für die deutsche Tradition die Bevorzugung von Motiven, die kontroverstheologisch interessant erschienen, wie die Trinität, die Eucharistie, die Inkarnation und der Opfertod Christi. Zugleich entwickeln solche genuin christlichen Themen aufgrund der ihnen eigenen Paradoxalität eine eigene rhetorische Tendenz, die von klassizistischen Vorgaben abweicht; Föcking, S. 143. Willi Harring: Andreas Gryphius und das Drama der Jesuiten. Halle 1907; Max Wehrli: Andreas Gryphius und die Dichtung der Jesuiten. In: Stimmen der Zeit 90 (1964/65) 25– 39; James Andrew Parente: Andreas Gryphius and Jesuit Theater. In: Daphnis 13 (1984) 525–551; J.A. Parente: Religious drama and the humanist tradition: Christian theatre in Germany and the Netherlands: 1500–1680. Leiden, usw. 1987; Bruno Rieder: Contemplatio coeli stellati. Sternenhimmelbetrachtung in der geistlichen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Interpretationen zur neulateinischen Jesuitenlyrik, zu Andreas Gryphius und zu Catharina Regina von Greiffenberg. Bern 1991. Vgl. Vf.: Angst, Irrtum und Reue in der Märtyrertragödie. Andreas Gryphius‹ »Catharina von Georgien« vor dem Hintergrund von Vondels »Maeghden« und Corneilles »Polyeucte Martyr«. In: Daphnis 28 (1999) 563–594; Vf.: Andreas Gryphius: »Catharina von Georgien«. Poetische Sakralisierung und Horror des Politischen. In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Interpretationen. Stuttgart 2000, S. 37–66.

344 wurde im vorigen Abschnitt bereits vorgestellt, weitere finden sich in der von seinem Sohn Christian besorgten posthumen Werkausgabe von 1698 im dritten Buch. Eine nennenswerte Anzahl von petrarkisierenden Sonetten im ersten Buch ist satirischer Natur und behandelt Motive wie die Schönheit, das Schminken, die Unzucht oder die Hässlichkeit der Frau, steht also in einem mehr oder weniger antipetrarkistischen oder burlesken Bezugsrahmen.174 Vor allem die an Eugenie gerichteten Texte aus dem Nachlass dagegen stehen so gut wie durchweg im Kontext des Treue- und Eheparadigmas, wie es im vorigen Abschnitt entfaltet wurde. Diese Gedichte wurden allerdings von Gryphius aus seinen Sonettsammlungen von 1637 (Lissaer Sonette), 1643 und 1650 ausgeschlossen. Man muss dies nicht unbedingt auf eine Geringschätzung der Gedichte durch ihren Autor beziehen, es genügt der Hinweis, dass sie sich schon aus semantischen Gründen weniger gut in die heilsgeschichtlich perspektivierte Allegorik der zyklischen Sonettbücher eingefügt hätten. Unter den EugenienGedichten aus dem Nachlass findet sich auch eine Bearbeitung des Einsamkeitsmotivs, die dies kenntlich macht, und die zusätzlich wegen ihrer unmittelbaren Petrarca-Bezüge interessant ist. ANDREAS GRYPHIUS LXVIII. An Eugenien ICh finde mich allein und leb in Einsamkeit / Ob ich schon nicht versteckt in ungeheure Wüsten / In welchen Tygerthier und wilde Vögel nisten. Ich finde mich allein vertiefft in herbes Leid / Auch mitten unter Volck / das ob der neuen Zeit Des Friedens sich ergetzt in Jauchzen-vollen Lüsten / Find ich mich doch allein. Wir / die einander küßten In unverfälschter Gunst / sind leider nur zu weit. Ich finde mich allein / und einsam / und betrübet; Weil sie so fern von mir mein Alles und mein Ich / Ohn die mir auf dem Kreyß der Erden nichts beliebet / Doch tritt ihr werthes Bild mir stündlich vor Gesichte / Solt ich denn einsam seyn? Ihr Bild begleitet mich. 175 Was kann sie? wenn ihr Bild mein Trauren macht zunichte.

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Das Sonett besitzt ein ungewöhnliches Reimschema im Sextett und die Perioden folgen recht frei der Reimordnung: a b b . a a b b a . c d c e d . e . Markant ist der Bezug auf Petrarcas Sonett Solo et pensoso:

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Vgl. die knappe Behandlung von Gryphius’ erotischer Dichtung bei Fechner, der sich auf die satirischen Stücke konzentriert: Fechner: Der Antipetrarkismus, S. 70–73. Gryphius: Sonette, S. 128f.; eine Zusammenstellung der verschiedenen Eugenien-Gedichte bei Szyrocki: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk. Tübingen 1964, S. 124f., Anm. 20, eine kurze Besprechung S. 63–65; zum vorliegenden Sonett im Zusammenhang einer biographischen Fragestellung auch Arendt, S. 170f.

345 FRANCESCO PETRARCA Canzoniere 35 Solo et pensoso i più deserti campi vo mesurando a passi tardi et lenti, et gli occhi porto per fuggire intenti ove vestigio human la rena stampi. Altro schermo non trovo che mi scampi dal manifesto accorger de le genti, perché negli atti d’alegrezza spenti di fuor si legge com’io dentro avampi: sì ch’io mi credo omai che monti e piagge et fiumi et selve sappian di che tempre sia la mia vita, ch’è celata altrui. Ma pur sì aspre vie né sì selvagge cercar non so, ch’Amor non venga sempre 176 ragionando con meco, et io co llui.

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Allein und gedankenvoll die wüstesten Lande | durchmesse ich mit langsamen und trägen Schritten, | und die Augen spähen in der Absicht zu fliehen, | wo eine menschliche Spur im Sand sich zeigte. | Keinen anderen Schutz finde ich, der mich davor bewahrte, | daß die Leute mein wahres Wesen erkennen, | weil noch im Ausdruck matter Freude | von außen erkennbar ist, wie mir innen zumute. | Deshalb glaube ich, daß die Berge und Strände, | die Flüsse und Wälder wissen, welcher Art | mein Leben ist, das anderen verschlossen bleibt. | Und doch kann ich keine genügend steilen und wilden Wege | finden, auf denen Amor 177 nicht stets erschiene | mit mir redend und ich mit ihm.

Gryphius’ Sonett nimmt die berühmte Eingangsformel »solo et pensoso« in freier Weise, aber doch unverkennbar auf: »Ich finde mich allein und leb in Einsamkeit [...] Ich finde mich allein vertiefft in herbes Leid« (v. 1/4), die »deserti campi« kehren in Negation wieder als »Ob schon ich nicht versteckt in ungeheure Wüsten« (v. 2). Im zweiten Quartett dann werden Petrarcas »genti« zum »Volck« (v. 5), was Gryphius zu einer historischen Referenz auf einen Friedensschluss nutzt.178 Die Bestandteile der Eingangsformel wiederholt er in ——————— 176 177

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Petrarca: Canzoniere, S. 189. Übersetzung vom Vf. modifiziert in Anlehnung an: Übersetzung und Nachahmung im europäischen Petrarkismus, S. 289; dort abgedruckt auch Imitationen dieses Sonetts von Lorenzo de Medici, Giovanni della Casa, Mellin de Saint-Gelays, Pontus de Tyard, Joachim du Bellay, Vasquin Philieul, Antoine de Baïf; Pierre de Ronsard, Philippe Desportes, Fernando de Herrera, Francisco de la Torre, Daniel Casper von Lohenstein und Leander von Schlesien (S. 290–311). Wegen der biographischen Zuordnung der Eugenien-Sonette zu Elisabeth Schönborner wird als Entstehungszeitraum seine »Schönborner und Leydener Zeit« angenommen, also die Jahre zwischen 1637 und 1644; Szyrocki: Andreas Gryphius, S. 63. So bezieht Arendt die neue Zeit des Friedens allein aus diesem Grund auf den niederländischen Aufenthalt, obgleich der Frieden doch hier ausdrücklich das Volck betrifft und nicht Gryphius und seine Mitreisenden, so dass man eher auf das Kriegsende in Deutschland verwiesen wird. Insgesamt erscheint die Vorstellung einer Liebesleidenschaft zu Elisabeth Schönborner, die die zehnjährige Gryphsche Abwesenheit von Schlesien überdauert haben sollte, reichlich gewagt und allzu sehr am Vorbild der Biographie von Paul Fleming ausgerichtet. Man muß wohl im Fall von Gryphius auf die Konstruktion einer solchen Liebesgeschichte im Hintergrund der Eugenien-Gedichte verzichten. So haben Weydt, Fechner und auch Mauser vor

346 den Versen 4, 7, 9 und 13, wodurch er den Signalcharakter des Petrarca-Zitats noch unterstreicht. Insgesamt vollführt das Liebessonett des Gryphius eine vollständige Umkehrung der Vorlage Petrarcas, insofern die Einsamkeit hier nicht Ausdruck der Liebesmelancholie ist,179 sondern sehr viel konkreter die der Abwesenheit der Geliebten. Zugrunde liegt auch hier wieder eine erfüllte reziproke Liebesbeziehung: »Wir / die einander küßten | In unverfälschter Gunst / sind leider nur zu weit« (v. 7f.). Nicht genug damit wird das Motiv der Einsamkeit in der Pointe nochmals vollständig negiert, indem es mit dem ebenfalls petrarkischen Motiv des Porträts der Geliebten gekoppelt wird: »Ihr Bild begleitet mich« (v. 13). Es ist leicht zu ermessen, dass die solchermaßen säkularisierte petrarkische Konstellation im Rahmen eines heilsgeschichtlich perspektivierten Zyklus nur mit Schwierigkeiten einzuordnen war. Die Liebeshyperbolik im Stil von »mein Alles und mein Ich / | Ohn die mir auf dem Kreyß der Erden nichts beliebet« (v. 10f.) ist lexikalisch zu sehr mit der entsprechenden christlichen Hyperbolik verwandt, als dass man sie mit dieser bruchlos koppeln könnte.180 Im zweiten Buch der Sonette von 1650 findet sich eine weitere Bearbeitung des gleichen Petrarca-Sonetts, das berühmte Einsambkeit-Sonett von Andreas Gryphius: ANDREAS GRYPHIUS VI. Einsambkeit. IN dieser Einsamkeit / der mehr denn öden wüsten / Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemößte See: Beschaw’ ich jenes Thal vnd dieser Felsen höh’ Auff welchem Eulen nur vnd stille Vögel nisten. Hier fern von dem Pallast; weit von deß Pövels lüsten / Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh’ Wie auff nicht festem grund’ all vnser hoffen steh’ Wie die vor abend schmähn / die vor dem tag vnß grüßten. Die Höell / der rawe wald / der Todtenkopff / der Stein / Den auch die zeit aufffrist / die abgezehrten bein. Entwerffen in dem Mut vnzehliche gedancken. Der Mauren alter grauß / diß vngebaw’te Land Ist schön vnd fruchtbar mir / der eigentlich erkant / 181 Das alles / ohn ein Geist / den GOtt selbst hält / muss wancken.

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allem den epigrammatisch-typisierenden Zug der Namengebungen betonte. Ein Bezug der Textstelle auf den Friedensschluss von 1648 ist jedenfalls nicht auszuschließen; Arendt, S. 171; noch Mannack unterstützt die ursprünglich von Manheimer vorgelegte Datierung: Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. Stuttgart 21986, S. 41; Weydt: Sonettkunst des Barock, S. 10; Fechner: Der Antipetrarkismus, S. 71. Zu Varianten der Umdeutung der petrarkistischen Liebesmelancholie in der geistlichen Lyrik: Föcking, S. 76ff. Im zweiten Buch der Sonette von 1650 findet sich als einziges Sonett An Eugenie das oben im letzten Abschnitt wiedergegebene. Man kann nur vermuten, dass dieses wegen seiner klaren Verknüpfung von petrarkistischer Motivik, Ehe und religiöser Wahrheit in das Sonettbuch aufgenommen wurde. Gryphius: Sonette, S. 68.

347 Angesichts der langen und intensiven Interpretationsgeschichte zu diesem Sonett erscheint es bemerkenswert, dass der offenkundige Bezug auf das Sonett Petrarcas bislang nicht bemerkt wurde.182 Sehr genau folgt Gryphius hier dem Aufbau von Petrarcas Vorlage, die Perioden fügen sich in diesem Fall den Quartetten und Terzetten, die Reimfolge ist wie zumeist französisch. Das erste Quartett entfaltet das Motiv der Einsamkeit, dessen Petrarca-Referenz durch den Reimschluss des ersten Verses auf »öden wüsten« deutlich markiert wird. Zugleich findet eine Umdeutung auch gegenüber dem Eugenien-Sonett statt, insofern Einsamkeit nicht im Sinne der Liebesmelancholie thematisiert wird, sondern in dem der Beschauung, der Kontemplation.183 Im zweiten Quartett wird wie in den beiden vorgenannten Sonetten dem isolierten Subjekt der Bereich des Gesellschaftlichen, der »genti«, des »Volcks«, in diesem Fall des »Pövels« entgegengestellt, der aber hier nun in Zusammenstellung mit dem Hof ebenfalls zum Gegenstand der kontemplativen Betrachtung des SprecherSubjekts geworden ist, deren Ziel die Einsicht in die vanitas, in die Eitelkeit der menschlichen Dinge bildet (v. 5). Die Naturobjekte, die dem Subjekt bei Petrarca im ersten Terzett in bedrohlicher Zudringlichkeit entgegenstehen, nehmen hier nun eine vollständig allegorische Signifikanz an und werden ebenfalls zum Material der vanitas-Kontemplation. Auch das letzte Terzett folgt der Architektonik des Petrarca-Sonetts. Wird bei diesem die Fluchtbewegung des Subjekts durch die Allgegenwart des Liebesgottes konterkariert, so setzt Gryphius hier als Antithese zur Vergänglichkeit der menschlichen Dinge die Einsicht in die Gnade Gottes. Dieses Sonett von Gryphius ist viel beachtet worden, da es über das Motiv der Einsamkeit anschließbar war an Modelle der romantischen Naturlyrik, vor deren Hintergrund es denn auch zunächst diskutiert wurde. Dem entgegen wurde auf die allegorische Signifikanz, auf das Motiv der Kontemplation und auf deren theologische Kontexte hingewiesen. Die Einbeziehung der PetrarcaVorlage verschiebt nun nochmals das Bild und vermittelt dem Sonett eine zusätzliche Bedeutungsebene. Es ist nicht zuletzt dieser petrarkistische Kontext, der verantwortlich ist für die naheliegende Möglichkeit der romantischen Lesart. Das Gedicht steht nicht primär im Zusammenhang einer wie immer gearteten Naturlyrik, sondern es bezieht sich auf die spezifische Liebesmelancholie petrarkischer Prägung. Das lyrische Ich Petrarcas durchlebt in der Landschaft die Ambivalenz seiner Liebesleidenschaft, die doppelte Bewegung der Flucht vor dem verderblichen Affekt, der hier in der imaginierten Reaktion der genti ——————— 182

183

Vgl. dazu vor allem: Gerhard Fricke: Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Darmstadt 1967 (Nachdr. d. Ausg. Berlin 1933), S. 153–155; Dietrich Walter Jöns: Das »Sinnen-Bild«. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. Stuttgart 1966, S. 85–91; Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft, S. 61–63; Mauser: Andreas Gryphius‹ »Einsamkeit«. Meditation, Melancholie und Vanitas. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1, S. 231–244; Loretta Lari: Commento a 40 sonetti di Andreas Gryphius. Pisa 1994, S. 425–443. Dazu ausführlich Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft, S. 61–63; und Mauser: Andreas Gryphius’ »Einsamkeit«.

348 vorgestellt ist, und der Einsicht in dessen Unausweichlichkeit. Petrarcas augustinische Schwächung der Willensfreiheit hat dabei wenig zu tun mit dem Sentimentalismus romantischer Naturlyrik, doch spielt die petrarkische Erfahrung des eigenen Affekts die auf sich selbst zurückgeworfene und gegen den sozialen Raum abgegrenzte Subjektivität in einer Weise in den Vordergrund, die moderne Identifikationen heraufbeschwören musste. Diese moderne Anschließbarkeit des Motivs der einsamen Naturbetrachtung überträgt sich auch auf das Sonett des Gryphius, obgleich hier die Umwertung der petrarkischen Melancholie in die Sicherheit der christlichen Kontemplation diese Identifikation in jeder wünschbaren Weise durchkreuzt. Die petrarkistischen Sonette innerhalb der beiden Gryphschen Sonettbücher von 1643 und 1650 zeichnen sich weitgehend durch ihre recht klare Negativierung der erotischen Affektivität aus. Sie bilden unterschiedliche Gruppen. So finden sich im ersten Sonettbuch zwischen Gelegenheitsgedichten, der fiktiven Grabschrifft eines vortrefflichen Juristen und Auff Herrn Joachimi Spechts Hochzeitt zwei An Eugenien überschriebene Sonette (Nr. XXI/XXII), die als Palinodie angelegt sind.184 Das erste »Schön ist ein schöner leib! den aller lippen preisen« rühmt an der angedichteten Dame die Verbindung von Schönheit und Tugend,185 das zweite »Was wundert ihr euch noch / Ihr Rose der Jungfrawen« mahnt die Vergänglichkeit der leiblichen Schönheit an und ist deshalb kaum als Liebesgedicht im konventionellen Sinn zu betrachten: »So greifft der Todt nach vns so bald wir sindt gebohren« (v. 14). Als Palinodie umgreifen die beiden Sonette den irdischen und den Heilshorizont, in den die Frauenschönheit zu stellen ist, sie sind also auf markante Weise wertbezogen. Nr. XXVI. An Lucinden (Titel der Fassung der Lissaer Sonette: An eine Jungfraw) beschreibt in petrarkistischen Termini die Verführungskraft weiblicher Schönheit und rühmt unter stoizistischen Vorzeichen die Widerstandsfähigkeit des Betrachtenden. Es folgen satirische Beispiele, XXIX. An Iolinden (zuerst: An eine Geschminckte), XXX. An Melanien (An eine Hönische vnnd mehr als kluge Person), XXXIII. Uber die gebaine der ausgegrabenen Philosetten, das den Verwesungszustand des schönen Frauenkörpers beschreibt. Nur drei Sonette dieses ersten Buchs verzichten auf eine Negativierung der Frauenliebe: XLI. An Callirhoen ist das einzige galante Scherzgedicht. Die Pointe besteht darin, dass ein Gast, weil er Callirhoens Schlafgemach benutzte, sie zum Ausgleich einlädt, auch sein Bett einzunehmen (v. 14). Es besitzt kaum petrarkisierende Züge außer dem Grundmotiv der zürnenden Dame. XLII. An Eugenie ist die Bitte eines unerhörten Liebhabers, dass seine unerreichbare Dame ihm weiterhin günstig schreiben möge. Hier findet sich das petrarkistische Motiv der Unerreichbarkeit einer höherstehenden Dame. XLIV. Grab-Schrift / der Jungfrawn——————— 184

185

Gryphius: Sonette, S. 44f. Die Anordnung der genannten Sonette ist unverändert aus der Lissaer Ausgabe der Sonette übernommen (Nr. 19–22). Die späteren Eugenien-Sonette tragen dort die Titel An eine hohen Standes Jungfraw und An eben dieselbe (S. 16). Dazu Weydt: Sonettkunst des Barock, S. 9–13; Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft, S. 63.

349 schafft hat schließlich keinerlei petrarkistische Züge, sondern ist eine Art Hochzeitsepigramm, ohne einen konkreten historischen Bezug herzustellen. Das zweite Buch der Sonette, das 1650 erstmals erschien, enthält kaum noch Gedichte zur Liebesthematik. Petrarkistischen Kontext evozieren lediglich die beiden bereits zitierten Sonette VI. Einsambkeit (oben, S. 346) und VIII. An Eugenien (incipit: »WEnn meine Seel in Euch / mein Licht? wie kan ich leben?«, s. oben, S. 340). Jörg-Ulrich Fechner erkennt in Gryphius’ erotischen Sonetten die »Brüchigkeit des petrarkistischen Systems«, die sich in der Pluralität der bedichteten Frauen zeige, wobei er die Vielfalt der Namen auf den epigrammatischen Zug dieser Sonettdichtung bezieht: »jeder Name vertritt einen Typ«.186 Man kann noch präzisieren, dass Gryphius offenbar in seinen Sonettzyklen durchaus systematisch auf den petrarkistischen Gattungskontext verweist, dass er dabei aber Gedichte einsetzt, die zumeist eine klare Negativierung des Liebeskonzepts beinhalten und die damit die Distanzierung des orthodoxen Petrarkismus deutlich zum Ausdruck bringen. Gleichwohl bleibt eine gewisse Heterogenität der Zyklen gewahrt, so dass neben den zahlreichen Kasualsonetten eine Reihe von satirischen und sogar eine scherzhaft-galante und ein oder zwei mehr oder weniger ehebezogene Adaptionen petrarkistischer Vorgaben aufgenommen werden. Was die Anlage der Zyklen selbst betrifft, so ist ein unmittelbarer Bezug auf die Canzoniere-Tradition nicht mehr festzustellen. Für die Lissaer Sonette hat man numerologische Prinzipien christlicher Provenienz – bei einer Gesamtzahl von 30 Sonetten – namhaft gemacht, die späteren Sonettbücher enthalten jeweils 50 Sonette und sind von heilsgeschichtlich signifikanten Rahmengruppen eingefasst, während das Gros der Sonette ›das leben dieser welt‹187 betrifft und zum großen Teil aus Kasualsonetten besteht.188 Die hier für den Zyklus wirksamen Traditionen sind solche der geistlichen Lyrik, die nur noch mittelbar und also nur noch dem Prinzip nach auf petrarkische Zyklusstrukturen rekurrieren und die keine erotische narratio mehr kennen. Ist also hier die Emanzipation des Sonettzyklus vom Vorbild Petrarcas sehr weitgehend vollzogen, so spielt die Petrarca-imitatio keine nennenswerte Rolle mehr und so wird man nicht von petrarkistischen Zyklen sprechen. Umso auffälliger ist dann jedoch die Integration der zahlreichen petrarkistischen Sonette, die zwischen die Kasualsonette gesetzt sind und die sehr markant dem Prinzip der Petrarca-imitatio folgen, wenn auch weitgehend im satirischen Gestus. Es wird damit denn doch der petrarkistische Kontext evoziert und in Relation zum eigenen Sonettschaffen ——————— 186 187 188

Fechner: Der Antipetrarkismus, S. 71. Gryphius: Sonette, S. 65; angeführt von Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft, S. 29. Szyrocki: Der junge Gryphius, S. 84–108; Hugo Bekker: Gryphius’s Lissa-sonnets. In: Modern Language Review 63 (1968) 618–627; in einen dekonstruktivistischen Kontext gestellt wird die Zahlenallegorese von Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998, S. 60–71; zur Anordnung der späteren Sonettbücher I und II: Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft, S. 27–30.

350 gestellt. Am tiefgreifendsten geschieht dies wohl im Einsamkeitssonett, das sich in deutlicher Adaption mit dem petrarkischen Motiv der Liebesmelancholie auseinandersetzt und es der eigenen poetischen Perspektive zuordnet. Gerade wo Gryphius in seinen Sonettzyklen im Unterschied zur vorherrschenden Tendenz der Zeit eine heilsgeschichtliche Einfassung und Eingliederung der weltlichen Lyrik betreibt – eine Integration, die gerade auch die Canzoniere-Tradition auszeichnete – wird also der petrarkistischen Gattungstradition Rechnung getragen. Selbst bei Gryphius bleibt der petrarkische Bann der Sonettdichtung deutlich spürbar, bleibt also das gattungsbezogene imitatio-Gebot zumindest im Hintergrund bestehen. Eine andere Art des Eindringens petrarkistischer Motive in die geistliche Dichtung findet sich bei Andreas Gryphius weniger ausgeprägt, dafür in eher mystisch inspirierten Adaptionen der Sonett-Tradition. Gemeint ist die Übertragung des erotischen Gestus und des mittleren lieblichen Stils auf die Jesusminne selbst. Föcking hat gezeigt, inwiefern die christliche Tradition der geistlichen dolcezza – vor allem der Hoheliedtradition – die klassizistische Etikettierung religiöser Themen als cose grandi zurückdrängt und zu einem Eindringen des lieblichen Stils und einer Einbeziehung der erotischen Madrigalistik führt: Die mystische Thematik begründet die Entscheidung für die weltliche, a-petrarkistische Madrigalistik, aus der wiederum wesentliche inhaltliche und formale Elemente in die Brautmystik eindringen. Umgekehrt affizieren deren Bildbereiche den madrigalistischen 189 Stil und verstärken dessen konzeptistische Wirkung.

Das Madrigal wird wie das Sonett als Epigramm verstanden, doch ist es stärker erotisch konnotiert und kann sich in Italien im späten Cinquecento zunehmend gegen das Sonett durchsetzen. Entsprechende Entwicklungen vollziehen sich jedoch auch für das Sonett, das für die deutsche Rezeption im Vordergrund bleibt. Die Überkreuzung von petrarkistischen, antik-erotischen und biblischen Motiven, speziell solchen des Hohenliedes findet sich ausgeprägt etwa im Sonettzyklus der Himmlischen Libes-Küsse des Quirinus Kuhlmann von 1671, wo das neulateinisch-erotische Motiv der Basia, wie es durch Joannes Secundus einflussreich wurde, den Titel einer geistlichen Sonettsammlung abgibt, die sich weitgehend auf Bibeltexte bezieht, besonders jedoch auf solche des Hohenliedes. Ein Beispiel bietet das folgende Sonett: QUIRINUS KUHLMANN Der V. Libes-kuß JEsus küsset di Himmels libste. Cantico Canticor. Selomoh Cap. I.v.I. Ich brenne lichterloh ohn eine Leschungs-flutt / Weil in abwesenheit mich nicht kann JEsus küssen! Ich brenne und verbrenn! ich werde brennen müssen! Biß etwas in der Welt verleschet meine Glut!

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Föcking: Rime Sacre, S. 220.

351 Komm / Himmel! küsse mich! vermindre meinen Mutt! Ach! diser Kuß wil erst ein feurig Etna wissen! Komm Erde! laß mich doch des Kusses einst genüssen! Ach! solcher Kuß ist stein! es wallt jmehr mein Blutt! Komm Sonnen-weites Meer! benetze Mund und Wangen! Ach! hettstu Flamm und Feur! ich fühle grössern Brand! Weich Himmel! Erde! Meer! mein Schmertz ist ni vergangen! Komm JEsu! JEsu komm! Ach reiche Mund und Hand! O Libster! laß mich doch den holden Kuß empfangen! 190 Ach Lust! der wahre Kuß wird mir nun beigewand!

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Der angeführte Hoheliedvers gibt das Kussmotiv selbst vor, die Durchführung erfolgt in einer Metaphorik des Liebesbrands und in einer Antithetik des Gegensatzes von ›brennen‹ und ›löschen‹, den der erste Vers exponiert. Es findet eine diskursive Durchdringung von biblischem, erotischem und petrarkistischem Sprechen statt, die sprachlich nicht aufzulösen ist.191 Auch das hier eigentümliche Motiv der ›Abwesenheit Jesu‹ ist auf das petrarkistische Trennungsmotiv beziehbar, so dass das Sonett in gleicher Weise petrarkistischen Elementen verpflichtet ist wie denen des Hohenliedes oder der Basia. Strukturell dominiert der epigrammatische Zug und das hyperbolische Summationsschema, das auf die Pointe zudrängt. Der Befund fällt demnach ähnlich aus wie im Fall von Gryphius. Die Petrarca-imitatio verflüchtigt sich innerhalb der geistlichen Sonettsammlung zum bloßen intertextuellen Verweis, der im Kontext von Strukturprinzipien gänzlich anderer Provenienz steht und sich lediglich im Einzelsonett noch als strukturbildend erweist. Das massive Eindringen petrarkistischer und antik-erotischer Motive in die geistliche Lyrik schafft für diese einen Brückenschlag zur humanistischen Tradition und dient im 16. Jahrhundert im Verein mit dem Ergreifen der entsprechenden Gattungen zu deren Legitimation im Angesicht der klassizistischen Normpoetik. Es gehört damit in den Zusammenhang der Aufnahme des Sonetts durch die geistliche Lyrik. Insofern jedoch zunehmend eine Emanzipation und eigenständige Legitimation geistlicher Lyrik jenseits der klassizistischen Vorgaben gelingt, verlieren diese Bezüge ihre zentrale Funktion und sie treten zunehmend zurück. In den geistlichen Gedichtsammlungen im Deutschland des 17. Jahrhunderts kann diese Emanzipation vom petrarkistischen Gattungskontext bereits als Ausgangspunkt betrachtet werden. Ihr Petrarkismus ist bloß noch Reminiszenz, wiewohl er geradezu systematisch mitgeführt wird, um einen Bezug zur humanistischen Dichtungstradition einerseits zu setzen und andererseits die eigene Differenz zu bestimmen.

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Kuhlmann: Himmlische Libes-Küsse, S. 6f. Vgl. zu den Hoheliedbezügen des Sonetts und zu verwandten geistlichen Gedichten des 17. Jahrhunderts: Birgit Biehl-Werner: »Himmlische Libes-Küsse« (1671). Untersuchungen zu Sprache und Bildlichkeit im Jugendwerk Quirin Kuhlmanns. Hamburg 1973, S. 34–46.

352

3.10

Erotischer Scherz

Angesichts des Eindringens von Elementen eines mittleren lieblichen Stils und sinnlich-erotischen Motiven der antiken und neulateinischen Traditionen in die geistliche Lyrik kann die Sensualisierung der Liebesdichtung und damit auch die des Petrarkismus als ein Komplement erscheinen. In solcher Perspektive gewinnt eine Entwicklung, die lange Zeit als isoliertes stilistisches Phänomen, als Ausdruck spielerischen Unernstes oder als mehr oder weniger überhistorische emanzipatorische Gegenbewegung zu gesellschaftlichen Zwängen verstanden wurde, neue und vertiefte historische Kontur.192 Strukturell kann man davon ausgehen, dass der Ausdifferenzierung eines eigenen Bereiches geistlicher Lyrik, die sich unter humanistische Vorgaben stellt, eine Säkularisierung der weltlichen Lyrik korrespondiert, die sich gerade an der Entwicklung des Petrarkismus eindrücklich ablesen lässt. Die historische Dynamik geht dabei zu einem erheblichen Teil von kulturellen und ideologischen Entwicklungen aus, die mit den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts zu tun haben und die zu einer zunehmenden institutionellen Indienstnahme auch der literarischen Mittel führen. Die humanistische Entdeckung der Antike und deren systematische Erschließung bis hin zur Entfaltung des Renaissanceklassizismus wird abgelöst von einer zunehmenden gesellschaftlichen Beanspruchung der neuerschlossenen Formensprache auf den unterschiedlichen künstlerischen Feldern. Wirkungs- und Nutzeneffekte treten in den Vordergrund und überlagern das poetologische Regelwerk mit neuen Anforderungen, die manches Maßhaltungsgebot und manche decorum-Regel außer Kraft zu setzen in der Lage sind. In diesem Kontext ist dann die meraviglia-Forderung der aufblühenden argutezza-Ästhetik mehr als eine bloße manieristische Stilentwicklung; sie ——————— 192

Die Sensualisierung der Liebesdichtung wurde in Deutschland vor allem im Zusammenhang mit der galanten Lyrik diskutiert. Einschlägig sind: Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971; Robert Bruce Weber: Love in the Secular Lyrics of Christian Hofmann von Hofmannswaldau. Ann Arbor 1970; Cornelia Niekus Moore: The Secularization of Religious Language in the Love Poetry of Christian Hofmann von Hofmannswaldau. Ann Arbor 1971; Wolfdietrich Rasch: Lust und Tugend. Zur erotischen Lyrik Hofmannswaldaus. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730, S. 447–480; Alan Menhennet: The interplay of wit and sensuousness in Hoffmannswaldau’s metaphor. In: Daphnis 13 (1984) 385–408; Wolfgang Neuber: Die Sinnlichkeit des Ungelebten. Zu einigen Aspekten deutscher erotischer Lyrik im Barock. In: Erotik. Versuch einer Annäherung. Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien und der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Wien 1990, S. 114–118; Vf.: Kuß, Schoß und Altar. Zur Dialogizität und Geschichtlichkeit erotischer Dichtung (Giovanni Pontano, Joannes Secundus, Giambattista Marino und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau). In: GRM 44 (1994) 288–324; Anselm Schubert: Auf der Suche nach der menschlichen Natur. Zur erotischen Lyrik Hoffmannswaldaus. In: Daphnis 25 (1996) 423–465; Vf: Tendresse und Sittenlehre. Die Liebeskonzeption des Christian Thomasius im Kontext der Preciosité – mit einer kleinen Topik galanter Poesie. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 405–428.

353 fügt sich vielmehr ein und ist der Ausdruck einer verstärkt wirkungsorientierten Ästhetik, hinter der nicht zuletzt ideologische Inanspruchnahmen stehen.193 Die argutezza-Ästhetik steht eindeutig im Zusammenhang gegenreformatorischer Bemühungen. Entsprechendes lässt sich nun von der Sensualisierung der Liebesdichtung im späten Cinquecento sagen. Die gegenreformatorische Tendenz einer Sensualisierung von Glaubensinhalten in kontroverstheologischer Absicht, die sich in den verschiedensten Künsten ausprägt,194 befördert verkürzt gesprochen schließlich auch die Übertragung des Laura-Lobes und der petrarkistischen Liebesmetaphorik auf geistliche Sachverhalte, namentlich auf Christus selbst, wie oben ansatzweise gezeigt. Dieser affirmativen Adaption entspricht allerdings vorab eine Negativierung der Lauraliebe selbst, sofern diese wie bei Petrarca als Allegorie des Heilswegs aufgefasst wurde. Um die heilsgeschichtliche Irrelevanz beziehungsweise Verfehlung der petrarkistischen Frauenliebe aufzuweisen, wird auf deren rein irdische Natur und moralische Defizienz verwiesen. Bereits hier ist das Mittel eine zunehmende Sensualisierung und Erotisierung der Lauraliebe, die diese in letzter Konsequenz sogar als Prostituierte denunziert, was Föcking als »die wohl erstaunlichste Konsequenz einer radikalen Überdehnung der petrarkistischen Prämissen einer als ›nemica‹ oder ›Medusa‹ beschriebenen Dame und eines moralisch negativierten Liebeskonzepts« bezeichnet.195 Ein Beispiel für eine derartige Negativierung des petrarkistischen Schönheitskatalogs stellte bereits das oben zitierte Sonett Paul Flemings An Chrysillen dar, das das Schönheitsattribut der goldenen Farbe, das regulär den Haaren zugehört, zunächst auf den ganzen Körper überträgt, um es schließlich auf die Käuflichkeit der Dame zu beziehen (oben, S. 304). In der italienischen Tradition ist dieser Konnex noch dadurch unterstrichen worden, dass die Parallelität der nachtridentinischen Anpassung der geistlichen Lyrikkonzeptionen einerseits und der Sensualisierung der weltlichen Liebesdichtung andererseits in Dichterpersönlichkeiten wie Torquato Tasso und Giambattista Marino zusammenfällt. Föcking weist ausdrücklich darauf hin, dass die Erotisierung bei Tasso denselben moralphilosophischen Prämissen folgt, wie die Theologisierung des von ihm untersuchten geistlichen Lyrikers Gabriel Fiamma, und dass beide dabei konzilskonform verfahren.196 Entsprechend stellt er für die Rime sacre Marinos eine »Rückkehr zur moraltheologischen Orthodoxie« fest (279). Wie für die bereits dargestellten Entwicklungen gilt auch hier, dass die Rezeption in Deutschland diese Vorgaben bereits in ausgeprägter Form aufgreifen konnte. Dies kann etwa die Heterogenität der lyrischen Sprache der generationsgleichen Dichter Andreas Gryphius und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau erläutern, die eine sehr unterschiedliche poetische Richtung einschlagen. Für den Petrarkismus bildet die Tendenz zur Erotisierung und die ——————— 193 194 195 196

Vgl. oben (S. 342) das Zitat von Schulz-Buschhaus; auch: Föcking, S. 142. Föcking, S. 190ff. Föcking, S. 88. Föcking, S. 84f.

354 Überlagerung mit den Traditionen der antik-erotischen Lyrik somit lediglich eine weitere Spielart seiner heterodoxen Entwicklung, die sich speziell in Deutschland überkreuzt mit den bereits entfalteten Tendenzen der Epigrammatisierung, der antipetrarkistischen Parodie und Satire und der Positivierung des Liebesaffekts im Kontext von Ehe- und Treuekonzepten. Man kann feststellen, dass die Erotisierung der petrarkistischen Tradition in Deutschland unter anderem dadurch einen Anstoß erfährt, dass die neustoizistische Ethik der Affektdisziplinierung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert zunehmend der Kritik verfällt. Es ist nicht zuletzt auch die Ausbreitung der theologischen Orthodoxie und die Rezeption der spanischen Neuscholastik, die eine Neubewertung des Affektbegriffs zumindest im Sinne seiner moralischen Neutralität bewirkt.197 So ist es auffällig, dass die Erotisierung der Liebesdichtung bei Autoren mit einem stoizistischen Werthorizont wie Martin Opitz und Paul Fleming weniger Platz greift, dass sie aber vehement vorangetrieben wird von Autoren wie Hoffmannswaldau und Lohenstein, die sich zugleich dezidiert gegen die stoizistische Affektauffassung aussprechen. Insofern reproduziert der erotisierte Petrarkismus einerseits Vorgaben der italienischen Lyrik, andererseits bringt er in einem veränderten kulturellen Umfeld eine Positivierung der Affektivität und speziell des Liebesaffekts zum Ausdruck, die unterschiedliche Konnotationen zu transportieren vermag. Eine Positivierung des Liebesaffekts wurde oben bereits für Paul Fleming im Zusammenhang der constantia- und Treue-Thematik festgestellt. Hinzu kommt hier bereits die intensive Beschäftigung mit der neulateinischen BasiaTradition, die nun häufig auch in die Sonettdichtung Einzug hält. Das folgende Sonett Flemings bezieht sich auf Vorlagen, die Martin Opitz in der Reihe seiner Gambara-Übertragungen gegeben hatte, Gedichte nämlich auf Schönheitsattribute der Dame während einer Liebesumarmung, womit die Opposition zur petrarkistischen Unerreichbarkeit der Dame bereits in der Überschrift gesetzt ist. Opitzens Sonett Sie redet die Augen jhres Buhlen an / den sie vmbfangen wurde oben zitiert (S. 333), ein weiteres lautet Uber den Ort / da sie jhren Adonis zum ersten vmbfangen, ein drittes An jhres Liebsten Augen / als sie jn küsset.198 Auf den Eröffnungsvers dieses dritten Sonetts »IHr Wohnhauß vnd Losier der Liebe / last empfinden« (v. 1) setzt Fleming in Vers 2 einen Zitier——————— 197

198

Hinweise auf diese Entwicklungen bei deutschen Barockautoren finden sich bei Erwin Rotermund: Affekt und Artistik. Studien zur Leidenschaftsdarstellung und zum Argumentationsverfahren bei Hofmann von Hofmannswaldau. München 1972; E. Rotermund: Der Affekt als literarischer Gegenstand: Zur Theorie und Darstellung der passiones im 17. Jahrhundert. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. von Hans Robert Jauß. München 21983, S. 239–270; Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von ›Agrippina‹. Göttingen 1986, bes. S. 34–80; Barbara Bauer: Apathie des stoischen Weisen oder Ekstase der christlichen Braut? Jesuitische Stoakritik und Jakob Baldes ›Jephtias‹. In: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. von Conrad Wiedemann und Sebastian Neumeister. 2 Bde., Wiesbaden 1987, Bd. 2, S. 453–474; Vf.: Reichsidee und Liebesethik, S. 82–92. Opitz: Weltliche Poemata 1644, Bd. II, S. 373/374.

355 verweis, um sodann das von Opitz nur angedeutete Kussmotiv überbietend zu besetzen: PAUL FLEMING An Ihren Mund / Als Er Sie ümbfangen hatte. Itzt hab’ ich / was ich will / und was ich werde wollen. Du Wohnhauß meines Geists / der als zu einer Thür’ itzt ein / itzt aus hier geht; Ihr güldnen Pforten Ihr / die auch die Götter selbst umb schöne neiden sollen; Ihr hohen Lippen ihr / die ihr so hoch geschwollen von feuchter süße seyd; itzt hab’ ich eure Zier; Das Wesen / das man selbst dem Leben setzet für / dem täglich wir ein Theil von unserm Leben zollen. Ihr Bienen / die ihr liegt an Hyblens süßen Brüsten / und saugt die Edle Milch / den Honigreiff mit Lüsten / hier / hier ist mein Hymet. Komt / fliegt zu mir herein. Seht / wie das hohe Thun / das trefliche / das starcke / das der Mund meinem giebt / sich regt in Seel und Marcke; 199 Ach! daß mein gantzer Leib doch nichts als Mund soll seyn!

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Gleich der Eröffnungsvers setzt jenes Motiv der erotischen Dichtung, das sie von der orthodox petrarkistischen prinzipiell trennt, nämlich das der erotischen Präsenz im Gegensatz zur minnesemantischen Unerreichbarkeit: »Itzt hab’ ich / was ich will«.200 Jenes Stichwort ›itzt‹ der erotischen Präsenz wird in den Quartetten viermal wiederholt (vv. 1. 3. 6), in den Terzetten wird es ersetzt durch das ›hier‹ / ›hier‹ (v. 11 und bereits v. 3). Das Sonett, dessen Vorlage bei Opitz noch an die Augen gerichtet war, entfaltet mit der Adressierung an den Mund nun durchgängig eine olfaktorische Sensualität, die jede Tendenz der Vergeistigung ausschließt, ja es ist ausdrücklich vom ›Wohnhaus meines Geists‹ und vom Neid der ›Götter‹ die Rede, bevor ausschließlich Geschmackserlebnisse zur Sprache kommen: ›feuchte Süße‹ der ›Lippen‹ (v. 6), ›süße Brüste‹ (9), ›edle Milch‹ und ›Honig‹ (10).201 Wenn in der Pointe Mark und Seele sowie der ganze Leib in jenem küssenden und schmeckenden Mund aufgehen wollen, so zielt sie neben der sexuellen Vereinigung ganz offensichtlich auf die explizite Negation jenes Idealismus, der über die distanzierte Dame eine geistige Elevation zu erreichen suchte. Neben der Affirmation des erotischen Affekts impliziert das scherzhafte petrarkistische Sonett eine Negation der idealistischen Vorgaben des orthodoxen Petrarkismus. Für die Erotisierung bietet sich in besonderer Weise auch die objektbezogene epigrammatische Tradition an. Bilden die persönlichen Accessoires der petrarkistischen Dame gewöhnlich distanzsetzende Substitute ihrer Gegenwart, wie oben im Fall von Spiegel (S. 314) oder Sonnenschirm (S. 316) beschrieben, ——————— 199 200 201

Fleming: Teütsche Poemata, S. 604f. Vgl. zu diesem Motivkomplex auch Vf.: Petrarkismus und Präsenz. Interessant ist im Vergleich hierzu Föckings ausführliche Beschreibung der Übertragung des antiken Bienenmotivs der erotischen Madrigalistik auf die geistliche Thematik bei Torquato Tasso und bei Angelo Grillo; Föcking, S. 208–221

356 so lassen sich diese Substitute auch explizit erotisch markieren, wie im Sonett von Johann Georg Schoch aus seiner Sonettsammlung von 1660: JOHANN GEORG SCHOCH Auff den Demant an Amandens Perel-Schnure. WAs spielst du kostbahr Glaß / du Demant / in Corallen / Dein Glantz ist nur entlehnt / womit du also prangst; Denn du auch darum nur an ihrem Halse hangst / Daß ihre Schönheit kan durch deine Scheiben fallen. Doch zwar / du kanst mit Recht dich rühmen noch für allen/ Weil du bis an den Sitz der holen Brüste langst / Dich auch / wer weis wie tieff / in ihren Busen trangst / Und spielst / so offt du wilst / mit den verbuhlten Ballen. Doch muss ich wieder dich der Ungebier beklagen: Must du die Härtigkeit denn hier zusammen tragen? Dich kan kein Stahl / kein Schlag / zu einer weiche bringen / Nur Blut. Ihr Hertz ist auch fast härter als du Stein; Doch weil es kan / wie du / durch Blut erzwungen seyn; 202 Was klag ich? kan ichs doch / wie hart es ist / erzwingen.

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Die körperliche Nähe, in der das Schönheitsaccessoire gewöhnlich zur Dame steht, bietet sich für eine solche erotisierende Behandlung geradezu an. Verknüpft ist es hier mit der traditionellen Hyperbolik – der Diamant als bloßer Abglanz der Schönheit der Dame – und mit der ebenso topischen Metaphorik ihrer Herzenshärte. Neu erst ist die Pointe mit ihrer Anspielung auf das Blut, das hier wiederum eindeutig auf den sexuellen Akt verweist und den Grad der erotischen Explizitheit, den Fleming geboten hatte, nochmals überbietet. Der Drang zur Anstößigkeit, der sich in der deutschen Entwicklung der erotischen Scherzlyrik in der Nachfolge der petrarkistischen Tradition im 17. Jahrhundert so intensiv zeigt, ist mit dem Hinweis auf den spielerischen und fiktiven Charakter und auf einen generellen emanzipatorischen Zug unter- oder gar fehlbestimmt. Es kommen hier verschiedene Impulse zusammen. Eine Grundlage bildet die Positivierung der erotischen Affektivität, die einerseits im Zusammenhang mit dem Wandel der Affektauffassung im Zuge der Zurückdrängung des stoizistischen Rigorismus im Verlauf des 17. Jahrhunderts steht, andererseits mit der gewandelten Einstellung zu Ehe und Sexualität im Protestantismus und speziell im Luthertum. Eine voreheliche (Fechner) und eheliche Auffassung des petrarkistischen Liebesaffekts erlaubte neben der Petrarkismus-Satire eben auch eine Positivierung des Affekts, wie oben bereits beschrieben. Ausdruck dessen sind die stets wiederkehrenden Hinweise auf die Naturgemäßheit und Gottgewolltheit des erotischen Begehrens, die einen legitimierenden Charakter besitzen, die aber auch einen naturrechtlichen und moraltheologischen Hinter——————— 202

Schoch: Erstes Hundert Liebes-Sonnet, Nr. 38, S. 38f., in: Schoch (Hervorhebung im Original durch größere Schrifttype); vgl. dazu auch Vf: Gezielte Anstößigkeit. Geschlechterverhältnisse eines ›galanten‹ Petrarkismus bei Schoch und Hoffmannswaldau. In: Francesco Petrarca in Deutschland. Hg. Aurnhammer 2006, S. 243–255.

357 grund aufzuweisen haben.203 Hinzu kommen die satirischen Effekte, die den petrarkistischen Idealismus samt seiner asketischen Tendenz als illusorisch entlarven. Dies war in den vorgestellten Sonetten jeweils deutlich zu spüren. Angesichts einer sich sowohl am Petrarkismus als auch an antik-erotischen Traditionen schulenden gegenreformatorischen Literaturproduktion, die Sprache und Stil der geistlichen und weltlichen Thematik ganz weitgehend eingeebnet hat, kann sich dieser satirische Effekt auch gegen bestimmte konfessionelle Ausprägungen der geistlichen Lyrik richten. Nicht umsonst ist die Erotisierung des Nonnenmotivs in der weltlichen Lyrik von Lutheranern derart beliebt.204 Doppelt ist also die Affirmation des Sexuellen konnotiert, als Explikation eines naturrechtlichen Sachverhaltes einerseits, als satirische Auseinandersetzung mit historisch überholten beziehungsweise konfessionell zu distanzierenden Werthorizonten andererseits. Diese Doppelbewegung erst scheint jene Dynamik zu ermöglichen, die die explizite Benennung und Beschreibung des sexuellen Begehrens auf exzeptionelle Weise immer weiter vorantreibt. Das petrarkistische Accessoire entwickelt sich auf diesem Weg immer stärker zu einem Objekt des Zugangs und der Präsenz, wie im Sonett Christian Hoffmanns von Hoffmannswaldau, der ein petrarkisch nicht legitimiertes Tür- oder Wandloch zum erotischen Accessoire macht. Das Sonett ist im ersten Band der Neukirchschen Sammlung erstmals gedruckt, wobei Benjamin Neukirch jedoch in den Text eingegriffen hat, was zu einer Sinnentstellung führte. Ich beziehe mich deshalb im Folgenden auf eine (emendierte) Version der Dresdner Sammelhandschrift M 216.205 CHRISTIAN HOFFMANN VON HOFFMANNSWALDAU Auff Lesbien. ES dachte Lesbia / sie sässe gantz allein / Dieweil sie wohl verwahrt die fenster und die thüren; Doch ließ sich Sylvius den geilen fürwitz führen / Und schaute durch ein loch in ihr gemach hinein. Auff ihrem lincken knie lag ihr das rechte bein /

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Vgl. auch: Vf.: Tendresse und Sittenlehre; sowie bezogen auf Hoffmannswaldau: Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit 4/II, S. 193–222. Vgl. Hoffmannswaldaus Epigramm Auff eine Nonne oder Christoph G. Burgharts Sonett An eine Nonne; Benjamin Neukirch: Anthologie. Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte erster theil. Nach einem Druck vom Jahre 1697 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten. Hrsg. von A. G. de Capua und E. A. Philipps. Tübingen 1961, S. 127; Christian Hölmann: Galante Gedichte mit Christoph G. Burgharts Gedichten. Hg. von Franz Heiduk. München 1969, S. 192; beide abgedruckt in: Der galante Stil. 1680–1730. Hg. von Conrad Wiedemann. Tübingen 1969, Nr. 74 und Nr. 84. Die detaillierte Begründung für die vorliegende Textgestalt habe ich an anderem Ort vorgelegt: Vf: Gezielte Anstößigkeit, S. 253–255. Der Unterschied zur Neukirchschen Fassung betrifft die Anrede, die Sprecherposition und die Personalpronomina in v. 11/12, was eine erhebliche Sinnverschiebung bewirkt. Bei Neukirch heißt es: »Er sahe selbst den ort! / wo seine hoffnung stund. Ň Es lachte Sylvius / sie sprach: du bist verlohren«; Neukirch, Bd. 1, S. 45.

358 Die hand war höchst bemüht / ihr schüchlein zuzuschnüren / Er schaute / wie der moß zinnober weiß zu zieren / Und wo Cupido will mit lust gewieget seyn. Es ruffte Sylvius: wie zierlich sind die waden Mit warmen schnee bedeckt / mit helffenbein beladen! Ich sahe selbst den ort! / wo meine hoffnung stund. Es lachte Lesbia / sie sprach: du bist verlohren / Zum schertzen bist du dir / und mir zur pein erkohren: Denn deine hoffnung hat ja gar zu schlechten grund.

Dem Loch, das die Stelle des distanzierenden Accessoires einnimmt und das zugleich zum drastischen Bild des Gesehenen und Gemeinten wird, ist hier nun eine schäferliche narratio zugeordnet, die das erotische Begehren im Naturzustand zu zeigen unternimmt.206 Überlagert ist dies von einer petrarkistischen Metaphorik, die gemeinsam mit dem galanten Cupido – jener Miniaturausgabe des Amor der alten Minnetradition – zur Umschreibung der signifikanten weiblichen Körperteile herangezogen wird: ›moß‹ und ›zinnober‹, ›warmer schnee‹207 und ›helffenbein‹. Auch der Vorwurf der narratio ist petrarkistischen Ursprungs: es ist das vielbehandelte Zürnen der Dame wegen eines Übergriffs des liebenden Ich.208 Das Motiv der Schmerzliebe im vorletzten Vers bezeichnet nichts als die sexuelle Unerfülltheit. Immer unverblümter richtet sich die Epigrammatische Pointe der galanten Sonette auf den Sexualakt als das ultimative Ziel des erotischen Begehrens. Im Schlussvers erscheint das petrarkistische Accessoire des Loches einerseits als Metapher des weiblichen Geschlechts, andererseits aber als buchstäblicher Ausdruck jenes ›schlechten grunds‹, den der bloße Sexualtrieb einer Liebesverbindung bietet. Die petrarkistische Szenerie verwandelt sich in den erotisierten galanten Adaptionen zusehends in ein schäferliches Ambiente. Dies ist insofern schlüssig, als die bukolische Tradition stets auf einen Naturzustand gerichtet war, vor allem eben auch auf den des Liebesaffekts. Im Unterschied zum ursprünglichen asketischen Idealismus der petrarkistischen Frauenliebe ist die bukolische Liebe von jeher säkular ausgerichtet, so dass der Diskurs in dieser Hinsicht der Kussdichtung vergleichbar ist. Auch die schäferliche Annäherung an die geliebte Dame durchbricht den petrarkistischen Idealismus.

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207

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Auf das schäferliche Votum der Liebesdichtung im 17. Jahrhundert insgesamt hat Conrad Wiedemann hingewiesen: Heroisch – Schäferlich – Geistlich. Zu einem möglichen Systemzusammenhang barocker Rollenhaltung. In: Schäferdichtung. Referate der 5. Arbeitsgruppe beim 2. Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur vom 28. bis 31. August 1976 in Wolfenbüttel. Hg. von Wilhelm Voßkamp. Hamburg 1977, S. 96–122, hier: S. 106. Die von Hoffmannswaldau häufiger gebrauchte oxymorale Fügung ›warmer Schnee‹ ist unmittelbar petrarkischen Ursprungs, vgl. Canz. 157, v. 9: »La testa òr fino, et calda neve il volto«; Petrarca: Canzoniere, S. 731. Ursprung des Motivs ist Canz. 11, die Ballata »Lassare il velo o per sole o per ombra«; Petrarca: Canzoniere, S. 52.

359 CHRISTIAN HOFFMANN VON HOFFMANNSWALDAU Sonnet. Straffe des fürwitzes. ALs ich die Lesbie nechst in der kammer fand / Da sie sich überhin und schläffrig angeleget; So schaut ich eine brust / die schöner äpffel träget / Als iemals vorgebracht das reiche morgen-land. Die brunst zog meinen geist / der fürwitz trieb die hand Zu suchen / was sich hier in diesem zirck beweget. Diß hat der Lesbie so grossen zorn erreget / Daß sie in höchstem grimm ist gegen mich entbrand; Sie trieb mich von sich weg / sie stieß mich zu der seiten / Sie hieß mich unverweilt aus ihren augen schreiten. Ich sprach / indem sie mich aus ihrer kammer stieß / Dieweil ich allzukühn und mehr als sichs gebühret / Die mir verbotne frucht der äpffel angerühret / 209 So stößt ein engel mich ietzt aus dem paradieß.

5

10

Auch hier folgt die Periodenführung dem Reimschema mit Pointe auf dem Schlussvers: a b b a . a b . b a . c c . d e e . d ; drucktechnisch ist das Sonett ohne Einzüge im Block gesetzt. Die Identifikation von erotischer Präsenz und paradiesischem Zustand bildet einen Topos des diskursiven Repertoires dieser Art von erotischer Scherzdichtung, die über die Rezeption bei den galanten Autoren der Jahrhundertwende bis ins 18. Jahrhundert getragen wird. Man hat die rhetorischen Mittel der galant-erotischen Scherzdichtung nicht selten ähnlich beschrieben wie die des Petrarkismus. Es zeigt sich nun, dass die Übereinstimmung mit einer bestimmten Art von petrarkistischer Dichtung vor allem in der Tendenz der Epigrammatisierung besteht. Man kann sogar sagen, dass die Epigrammatisierung des Petrarkismus in gewisser Hinsicht parallel zur Erotisierung verläuft. Gemeinsam ist beiden Tendenzen die Zurückweisung des idealistischen Renaissancediskurses, der mit dem orthodox-klassizistischen Petrarkismus identifiziert wird. Diese Zurückweisung wird gern auch ganz unmittelbar zum Ausdruck gebracht, so in dem bekannten Sonett von Christoph Eltester, das sich im ersten Band der Neukirchschen Sammlung findet: CHRISTOPH ELTESTER Die liebe steigt nicht über sich / sondern unter sich. DEin auge solte mir zum tempel neulich dienen / Allein der große brand that meiner seelen weh; Drum zog sie sich hinab zu deiner wollust see / Und kühlte wieder sich mit nectar und rosinen. Sie tranck und ward beräuscht aus deinen mund-rubinen / Und taumelte von dar auff deiner brüste schnee / Die zweyen bergen gleich / von wegen ihrer höh / Am gipffel etwas roth / sonst gantz beeiset schienen.

5

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B. Neukirch: Anthologie. Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte anderer theil. Nach dem Erstdruck vom Jahre 1697 mit einer kritischen Einleitung und Lesarten. Hg. von A.G. de Capua und E.A. Philipps. Tübingen 1965, S. 7.

360 Doch / weil hier kälte war / sie aber nackt und bloß / So kroch sie endlich gar in deinen warmen schooß / Da ward ihr allererst ihr lager angezeiget. Climene / zürne nicht. Sie folget der natur / Sie geht den regeln nach / und hält der liebe spur / 210 Die mehrmals unter sich / nicht aber auffwerts steiget.

10

Dieses pointenorientierte Sonett hat eine klare Gliederung nach Quartetten und Terzetten. Gegenstand ist der in bekannter Metaphorik vorgeführte sexualisierte Seelenkuss der Tradition der Kussdichtung. Verbunden ist dies mit dem typisch galanten Motiv der Naturgemäßheit des erotischen Geschehens, was in der Pointe zu einer sexuellen Umkehrung des traditionellen Idealismus der Liebesdichtung geführt wird. Auch dieser Zusammenhang ist topisch und entspricht exakt der Pointe des Hoffmannswaldauschen Nonnen-Epigramms, in dem von der ›Auferstehung des Fleisches‹ die Rede ist. Die erotische Scherzdichtung provoziert in der deutschen galanten Tradition gerade den asketisch-idealistischen Zug des orthodoxen Petrarkismus. Sie stützt sich dabei auf einen protestantischlutherischen Hintergrunddiskurs, der die erotische Askese als unnatürlich und moralisch nicht leistbar dargestellt hat. Das Beharren auf dem natürlichen Charakter der Sexualität ist der topisch gewordene Ausfluss dieses Diskurses in der erotisch-galanten Scherzdichtung im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert.

3.11

Gattung und Diskurs

Das Sonett ist eine formal bestimmte Gattung, was es bereits bei seiner Entstehung von den damals geläufigen Gattungen abhebt, die jeweils durch eine Kombination formaler und diskursiver Merkmale bestimmt waren. Dieses Formprimat führt zu einer prinzipiellen Offenheit den verschiedensten Inhalten gegenüber. Dennoch treibt auch hier der starke intertextuelle Sog im literarischen Prozess eine Dominanz bestimmter Diskurse hervor. Der älteste dieser gattungstypischen Diskurse ist beim Sonett der mittelalterliche Minnediskurs, der sich über das Werk Petrarcas und eben vor allem auch über die Gattungstradition des Sonetts bis in die Moderne fortpflanzt. Zwischen den Bedingungen der Form, den Konzepten der zeitgenössischen Poetik und den Ideologemen des Diskurses ergeben sich dabei jeweils enge und literarhistorisch aufschlussreiche Wechselbeziehungen. Diese können als ein genuiner Bestandteil der Gattungsgeschichte betrachtet werden. Im Fall des petrarkistischen Diskurses ist der Zusammenhang mit der Gattungsgeschichte besonders deutlich, auch wenn die dem Petrarkismus assoziierten Liebeskonzeptionen mitsamt ihren charakteristischen sprachlichen Ausprägungen in den unterschiedlichsten Gattungen aufgegriffen und thematisiert werden. Die Basis des Petrarkismus bildet nicht die philosophische Liebeskonzeption, sondern das auf bestimmte Gattungen bezogene poetologische Nachahmungs——————— 210

Neukirch, Bd. 1, S. 50f.

361 gebot. Insofern handelt es sich im engeren Sinn um ein gattungsgegründetes Projekt, das seine Dynamik ganz weitgehend im Rahmen der Tradition des Sonetts entfaltet hat. Petrarkismus ist ein Bestandteil der Sonettgeschichte. Schwieriger ist die Beantwortung der umgekehrten Frage: inwiefern ist die gattungsgeschichtliche Charakteristik des Sonetts auf den Petrarkismus oder auch auf andere spezifische Diskurse verwiesen? Das vorliegende Kapitel sollte die intensive Wechselwirkung dieser Bereiche sichtbar machen. Die historische Entwicklung selbst einer so formal bestimmten Gattung ist unmittelbar an diskursive, ideologische und institutionelle Bedingungen geknüpft, die die Gattungsgeschichte auf unterschiedliche Weise bestimmen. Dabei gehört der Diskurs der Gattung nicht als ein notwendiges Merkmal zu. Da allerdings gelten soll, dass Gattungen prinzipiell nicht über hinreichende und notwendige Merkmale zu bestimmen sind, ist Kontingenz ohnehin für alle Gattungsmerkmale anzunehmen, seien sie formaler oder diskursiver Natur. Letztendlich erscheint die Form selbst lediglich als ein bestimmter Ausdruck diskursiver Momente, der zwar als abstrakter universeller einsetzbar und damit besser tradierbar ist, der aber selbst ebenfalls dem historischen Wandel unterliegt. Dass der Diskurs als Gattungsbestandteil zu betrachten ist, wird auch dadurch unterstrichen, dass er selbst als Gattung funktioniert. War oben gesagt worden, dass Gattungen Klassifizierungsverfahren darstellen, die über sämtliche kommunikativen Merkmale hinweg operieren, so führt dies zu einer Pluralität von Gattungsklassifikationen: Der gleiche Text ist als Lyrik, als Sonett, als Huldigungsgedicht, als Schäfergedicht oder als petrarkistisches Gedicht identifizierbar, ohne dass sich diese Gattungshinsichten ausschließen würden. Die Tradierung solcher Gattungen erfolgt dabei auf die gleiche Weise, unabhängig davon, ob sie rein formal bestimmt sind, oder ob diskursive Merkmale eine Rolle spielen, wie bei den letzten drei der genannten Gattungsbezeichnungen. Genau dies war auch das Resultat des vorliegenden Kapitels zum petrarkistischen Sonett des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Wie für das Sonett festzustellen war, dass transkulturelle Tradierung über Differenzsetzungen und über die Identifikation mit Fremdgattungen funktioniert, gilt auch für den petrarkistischen Diskurs, dass er über Distanzierungsbewegungen und mittels diskursiver Überkreuzungen tradiert wird. Gegenüber der klaren Identifizierbarkeit der formal bestimmten Gattung erweist sich der Diskurs lediglich als historisch variabler, schneller wandelbar und weniger definit. Er ist in stärkerem Maß situationsbezogen und damit historisch. Für den Diskurs ist es wiederum die formal bestimmte Gattung, die ihm eine größere historische Konstanz verleiht. In diesem Sinn hängt der Petrarkismus am Sonett und er wird mit dem Sonett tradiert. Doch auch das Sonett hängt am Petrarkismus, denn von diesem bezieht es seine Signifikanz. Die bloße Form macht keine Dichtung. Man kann nun auch den Petrarkismus innerhalb der deutschen Sonettdichtung als ein differentielles Phänomen beschreiben. So dokumentiert er eine grundsätzliche Distanzierung gegenüber dem ursprünglichen petrarkistischen Impuls, was anhand der verschiedenen Akzentsetzungen bei Martin Opitz gezeigt wurde. Zugleich wird der petrarkistische Diskurs in Deutschland auf ganz unterschiedliche Weise ideologisch neu besetzt. In den dabei zum Aus-

362 druck kommenden Negationen und Modifikationen der überkommenen Motive profiliert er sich jeweils neu. Dies macht die Analyse der entsprechenden Verschiebungen von Motiven und Ideologemen historisch aufschlussreich. Für die deutsche Rezeption des Petrarkismus im Sonett des 17. Jahrhunderts ergibt sich ein vielschichtiges Bild. Deutlich ist die verminderte Verbindlichkeit der orthodoxen imitatio-Poetik, mit der der Petrarkismus in Italien ursprünglich verbunden war. Diese verminderte Verbindlichkeit kommt in den entsprechenden Distanzierungsbewegungen zum Ausdruck. Dazu gehört unter anderem die von Beginn an starke Präsenz antipetrarkistisch-parodistischer Auseinandersetzungen mit der Tradition. Darüber hinaus erfolgen Umdeutungen der überlieferten Semantik im Sinn aktueller ideengeschichtlich relevanter Positionen. Dies wurde oben anhand der späthumanistischen Philosophie des Neustoizismus, der gegenreformatorisch inspirierten geistlichen Lyrik mit ihrer Betonung heilsgeschichtlicher Deutungsansätze sowie protestantisch-lutherischer Motive wie der Assoziation von Sexualität und Ehe im ehelichen oder scherzhaft-erotischen Petrarkismus demonstriert. Als besonders interessant erwies sich dabei die Wechselwirkung der zunehmend einflussreichen arguten Epigrammpoetik mit dem orthodoxen und klassizistischen Petrarkismus. Der Prozess der Epigrammatisierung erfasste im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts alle poetischen Bereiche und wuchs sich europaweit zur epochalen Ästhetik der argutia aus. Dem Sonett kam dabei eine Sonderstellung zu, denn dieses war qua Gattung sowohl dem Renaissanceklassizismus Bemboscher Prägung verpflichtet als auch über die Epigrammidentifikation in der nachfolgenden europäischen Rezeption unmittelbar den arguten Stiltendenzen der Zeit ausgesetzt. Die Epigrammatisierung des Sonetts erweist sich nun als das bevorzugte Mittel zur heterogenen Überformung der petrarkistischen Orthodoxie. Dabei zeigt sich, dass das Konzept des Petrarkismus in der Wahrnehmung späterer Epochen vor allem gerade mit diesen epigrammatisierten Varianten der PetrarcaNachahmung identifiziert wurde. Entsprechend hielt man beispielsweise die Lyrik Paul Flemings dann für besonders traditionsverhaftet und ›petrarkistisch‹, wenn sie tatsächlich besonders epigrammatisch war. Für individualistisch und subjektorientiert in einem modernen Sinn konnte man sie dagegen dann halten, wenn sie auf die epigrammatischen Akzentuierungen zugunsten eines einfacheren Stilideals verzichtete und dafür eher dialogisch-kommunikative Merkmale in den Vordergrund traten, wie sie von der Gattung des Briefs repräsentiert wurden. Mit dem Brief trat dabei nämlich ein Paradigma in den Vordergrund, das im nachfolgenden 18. Jahrhundert ins Zentrum des poetologischen Interesses geriet und das damit in erhöhtem Maß anschlussfähig wurde.

4

Sonett als Lied in Aufklärung und Romantik

4.1

Neue Grundlagen für das Sonett im Zeitalter der Aufklärung

Die Verbundenheit der Sonettform mit dem poetischen und poetologischen Umfeld der Frühen Neuzeit, mit dem klassizistischen Formdenken, mit Rhetorik und imitatorischer Poetik machte die Abwendung vom Sonett zum Ausdruck des kulturellen Wandels. Entsprechend schwer fiel eine Erneuerung der Form im 18. Jahrhundert. Derartige Prozesse kennen keine historische Notwendigkeit. Historische Gattungen geraten im Zuge geschichtlichen Wandels immer wieder außer Kurs und manche erholen sich davon nicht mehr. Der Untergang des klassischen Epos ist ein Beispiel dafür. Allerdings verschwand dieses erst aus dem Gattungsspektrum, nachdem mit dem Roman eine andere Großgattung für die Umsetzung der narrativen Schreibweise gefunden war. Die Sonettform unterliegt keinen ähnlich negativen mediengeschichtlichen Rahmenbedingungen wie das Epos. Sie ist selbst bereits ein Produkt des Schriftzeitalters und bleibt deshalb medial weiterhin aktuell. Für die Wiederbelebbarkeit des Sonetts spielt einerseits das Vorhandensein einer großen literarischen Tradition im europäischen Umfeld eine Rolle, andererseits die Vieldimensionalität der Form selbst. Dazu zählt ihre relative Kürze und die variable Strukturiertheit im Innern, aber auch ihre Erweiterbarkeit zum großen Werk durch die Bündelung zu Zyklen, eine bemerkenswerte formale Geschmeidigkeit also sowohl im Inneren wie nach außen. Gattungstheoretisch gesprochen sind dies sehr allgemeine Merkmale der Form, die die historische Entfaltung der werthaltigen Gattungstradition bedingen. Die formale Anpassungsfähigkeit durch komplexe Struktur und handliche Kürze, die durch die Bindungsfähigkeit in Zyklen keine kleinteilige Beschränkung erzwingt, stellt in Verbindung mit der Dignität der Gattungstradition die Anschließbarkeit und damit die Überlebensfähigkeit des Sonetts sicher – eine Aussage, die man von heute aus auch auf seine zukünftige Entwicklung beziehen kann. Mit dem Auslaufen der imitatorischen Poetik erlebt die Geschichte des Sonetts im Zeitalter der Aufklärung eine weitere tiefe Zäsur. Zunächst wird es insgesamt eng mit der poetologischen Tradition assoziiert. Wie die an die rhetorische Tradition gebundene Poetik selbst wird es als willkürlich und künstlich beschrieben und im Rahmen der aufklärerischen Stilkritik grundsätzlich abgewertet. Als artifizielle Form repräsentiert es geradezu die Merkmale der untergegangenen Dichtungsepoche. Die poetische Anknüpfung an die Gattungstradition erfolgt danach nur sehr zögerlich und mit einiger Wirkung erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Als Voraussetzung einer Neubewertung erscheint

364 hier eine neue poetologische Fundierung der Form. Man kann in Poetiken der Aufklärung eine Tendenz feststellen, die detaillierten Reimvorschriften der Tradition zu negieren und stattdessen eine Begründung der Form auf ›vernünftigen‹ Grundlagen zu schaffen. In diesen Zusammenhang kann man die theoretische Assoziation von Sonett und Lied stellen, die nun größere Aufmerksamkeit gewinnt. Letztlich begründet diese Identifikation einen neuen Topos der Form, indem sie zu einer strophischen Auffassung des Sonetts und zu einer entsprechenden Beachtung der Binnengliederung führt. Es bleibt dabei allerdings nicht, denn langfristig wirksamer wurde die Assoziation von Sonett und geometrisch-tektonischer Form, die von der romantischen Sonettpoetik zum Ende des Jahrhunderts entfaltet wird. Auch hier wird die innere Gliederung hervorgehoben, doch zielt die Poetik nun wieder auf eine strengere Fügung der Form. Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, dass die tektonische Sonettauffassung die liedhafte Auffassung erst in einem zweiten Schritt überlagert, und dass sie wichtige Forderungen zur Binnengliederung von dieser übernimmt. Beide Erklärungsversuche geben der Form eine wissenschaftlich begründete und überhistorisch gültige Basis, sei es durch den Rückbezug auf das Lied, das über das Medium des Gesangs anthropologisch fundierbar ist, sei es mit einer mathematischen oder philosophischen Grundlegung des Sonettschemas, wie sie die frühromantische Sonettpoetik entfaltet. Das Interesse an einer wissenschaftlich begründeten Poetik führt auch zu einer verstärkten Beachtung der älteren Geschichte der Gattung. Tatsächlich stellt denn auch der Rückgriff auf die italienische Tradition des Sonetts eine Möglichkeit dar, ein Gattungsmodell jenseits der nicht mehr akzeptierten epigrammatischen und imitatorischen Traditionen zu gewinnen. Die stanzenartige italienische Sonettform passt zudem zur liedhaften Auffassung und sie lässt sich von der überkommenen Tradition gut abheben. Die Aneignung des Sonetts ist im 18. Jahrhundert insofern aus mehreren Gründen eng an den erneuten Rückgriff auf Petrarca gebunden. Dies geht einher mit einer generellen PetrarcaRenaissance im Rahmen der empfindsamen Liebesdiskurse der Zeit, wobei die Rezeption des exemplarischen Liebhabers Petrarca der Neubewertung seiner bevorzugten Gedichtform vorausgeht. Erheblich intensiviert wird dieser Zusammenhang schließlich noch durch die frühromantische Rezeption der Literatur des italienischen Mittelalters als exemplarisch moderner Literatur. Form- und Diskursgeschichte sind insofern wiederum eng aufeinander bezogen.

4.2

Artifizialität als paradigmatisches Sonettmerkmal

Die Einsicht, dass sich an Gattungen bestimmte Wertungen knüpfen, die sich im historischen Verlauf abschleifen können und die zum Gegenstand von Umwertungsprozessen werden, lässt sich für das Sonett im 18. Jahrhundert auf eindrucksvolle Weise demonstrieren. Das Sonett verliert hier im europäischen Rahmen für mehrere Dekaden seine Wertschätzung als poetische Form. Dafür lassen sich eine Reihe von Gründen anführen. Ein Grund ist darin zu sehen,

365 dass es auf fundamentale Weise mit der frühneuzeitlichen imitatio-Poetik verknüpft erscheint. Dies hat dazu geführt, dass es im 16. und 17. Jahrhundert zur geläufigen poetischen Münze und zu einer der beliebtesten lyrischen Formen überhaupt wurde. Das Sonett und der ihm assoziierte Petrarkismus stellt eine Art Medium der imitatorischen Poetik selbst dar: als klassische Ausprägung einer strikten, am Ciceronianismus geschulten imitatio-Vorstellung, die sich wesentlich auf die Sonettform richtet. Das Verfassen von Sonetten geht insofern stets auch mit einer Auseinandersetzung mit der imitatio-Vorstellung einher. Darüber hinaus hat der epigrammatisch-kasuale Zuschnitt des Sonettverständnisses bei der Ausbreitung des Sonetts eine große Rolle gespielt. Wie die oben vorgestellten Sammlungen poetischer Wälder zeigen, wird es neben Ode und Epigramm als eine der lyrischen Formen behandelt, denen jeweils eigene ›Bücher‹ gewidmet sind. Im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts vollzieht sich europaweit nach und nach eine Abwertung der Form. Sie verläuft in gewissem Sinn parallel zur zunehmenden Kritik am imitatio-Konzept, die in der Querelle des Anciens et des Modernes wie in der philosophischen Autoritätskritik von Descartes bis Christian Thomasius zum Ausdruck kommt. Für das Sonett ist es vor allem die Forderung nach einem natürlichen und ungezwungenen Stil, durch die es in die Kritik gerät. Erst durch diese Forderung kommt die Form als besonders artifizielle in den Blick. In der älteren Tradition war das weitgehend fixierte Reimschema noch kein Grund, dem Sonett besondere Künstlichkeit zu bescheinigen, zumal Regelung im Rahmen der Regelpoetik nicht negativ bewertet wurde. Die Betonung der Artifizialität hängt dagegen unmittelbar mit dem modernen Gegenbegriff der Natürlichkeit zusammen, der sich für das Sonett als doppelwertig erweist: einerseits bildet die Natürlichkeitsforderung die wichtigste Grundlage für die Abwertung der Form im Zeitalter der Aufklärung, andererseits ist die Artifizialität als deren Kehrseite Ausgangspunkt für die besondere und herausgehobene Rolle der Sonettform innerhalb der Entwicklung der modernen Lyrik. Aufgrund seiner exemplarischen Artifizialität kann das Sonett schließlich zum Inbegriff des Kunstcharakters selbst werden, zu einem Symbol der Kunst schlechthin. Das Prädikat der Künstlichkeit wird dem Sonett relativ früh zugesprochen und begleitet es durch das 18. Jahrhundert hindurch.1 Es ist kein Zufall, dass es in Deutschland bei Christian Weise auftaucht, dem Erneuerer der Rhetorik im Sinn politischer und galanter Nützlichkeitsmaximen. Bei den Poetikern im Umfeld der galanten Dichtung am Ende des 17. Jahrhunderts finden sich zwei Neuerungen in der Behandlung des Sonetts: zum einen wird die überkommene ——————— 1

Vgl. zum Niedergang der Sonettform gegen Ende des 17. und im beginnenden 18. Jahrhundert die jeweiligen Abschnitte der geläufigen Gattungsgeschichten. Am detailliertesten ist Welti, S. 129–140; Anmerkungen aus geistesgeschichtlicher Sicht: Paul Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 41976, S. 240–242; im europäischen Horizont: Mönch: Das Sonett, S. 164–168; Fechner: Zur Geschichte des deutschen Sonetts, S. 26; ferner: Schlütter: Sonett, S. 99–101.

366 Auffassung des Sonetts als Epigramm für dessen innere Disposition fruchtbar gemacht. So wird jetzt nicht mehr nur auf die Bedeutung der Schlusspointe für das Sonett hingewiesen, sondern es wird auch die Scaligersche Beschreibung der Epigrammstruktur auf das Sonett übertragen. So schreibt Christian Weise in Der Grünen Jugend Nothwendige Gedancken (1675): »Und ist in der DISPOSITION dahin zu sehen/ dass in den ersten acht Zeilen der Vorsatz oder PROTASIS, in den letzten sechsen APODOSIS oder der Nachsatz begriffen sey«.2 Darin zeigt sich ein Bemühen, der äußeren Form eine innere Disposition entsprechen zu lassen, wie dies Scaliger für das Epigramm versucht hatte. Diese Forderung findet sich fast wörtlich in der Poetik des Magnus Daniel Omeis (1704) wieder, der nun darüber hinaus empfiehlt, die Quartette und Terzette mit den Perioden zur Deckung zu bringen, also mit einem Punkt oder einem Komma abzuschließen.3 Außerdem empfiehlt Omeis, Quartette und Terzette rhetorisch zu verknüpfen. Damit fordert er womöglich erstmals eine Verklammerung der beiden Teile des Sonetts: es sei nämlich eine »sonderbare Zierde wann der Nachsatz schöne Oratorische Wiederholungen / oder auch remotiones oder antitheses derer Dinge / so in der Protasi vorgekommen / in sich hält«.4 Auch Johann Burkhard Mencke alias Philander von der Linde vertritt 1710 diese epigrammatische Dispositionsregel, die er allerdings dreischrittig auslegt: »Billig sollten auch die ersten 8. Zeilen den völligen Vortrag, die folgenden drey einen netten Einwurff oder Gegensatz und denn die drey letzten einen ingenieusen Schluss in sich begreiffen; [...].«5 Interessant ist hier, dass die alte Epigrammpoetik des Sonetts im Zeitalter der Aufklärung genutzt wird, um die Strukturierung des Sonetts aus seiner ——————— 2

3

4 5

Christian Weise: Der Grünen Jugend Nothwendige Gedancken/ Denen Uberflüssigen Gedancken entgegen gesetzt / Und Zu gebührender Nachfolge/ so wol in gebundenen als ungebundnen Reden / allen curiösen Gemüthern recommendirt. Leipzig 1675, S. 356, in: C. Weise: Sämtliche Werke. Bd. 21: Gedichte II. Hg. von John D. Lindberg. Berlin, New York 1978, S. 340. Ähnlich wiederholt wird diese Beschreibung auch in Christian Weise: Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen / Welcher gestalt Ein Studierender In dem galantesten Theile der Beredsamkeit was anständiges und practicables finden soll / [...]. Leipzig 31702 (zuerst 1692), 1. Teil, S. 37. Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung Zur Teutschen accuraten Reim- und DichtKunst / durch richtige Lehr-Art / deutliche Reguln und reine Exempel vorgestellet: [...]. Nürnberg 21712, S. 109–114. Als Quelle für die Forderung der ›Zweiteiligkeit‹ nennt Welti im Anschluss daran wohl irrtümlich den Abbé Mathieu de Montreuil: Œuvres. Paris 1666. Omeis erwähnt Montreuil allerdings lediglich als Beispiel einer entsprechenden Sonettpraxis: beachtet habe dies »insonderheit Monsieur de Montrevil in seinen Poësies; welcher allezeit nach den vierdten / acht- und eilften Vers / einen Punct hat.« Omeis: Gründliche Anleitung, S. 111; vgl. Welti, S. 133, Anm. 1. Tatsächlich finden sich neben Madrigalen, Rondeaus und Stances bei Montreuil nur wenige Sonette, die allerdings alle die entsprechende Bedingung einhalten (vgl. Montreuil S. 453, 471, 489, 537, 584, 603, 623). Omeis: Gründliche Anleitung, S. 112. [Johann Burkhard Mencke:] Philanders von der Linde Vermischte Gedichte, Darinnen So wol allerhand Ehrengedichte, [...] nebst einer ausführlichen Unterredung Von der Deutschen Poesie und ihren unterschiedenen Arten enthalten. Leipzig 1710, S. 268; vgl. auch Welti, S. 137f.

367 Logik heraus zu bestimmen und rational zu erklären. Tatsächlich wird diese Dispositionsregel gerade im 18. Jahrhundert als poetologische Forderung an das Sonett aufrechterhalten. Sie überlagert sich in ihrem Strukturierungsimpetus schließlich mit der strophischen Sonettauffassung, die doch ganz anderer Provenienz ist. Die auf verschiedenen Ebenen zu beobachtende Tendenz zu einer Betonung der Binnengliederung des Sonetts erscheint als Effekt einer zunehmend rationalen und analytischen Betrachtungsweise im Zeitalter der Aufklärung. Parallel zum Hervortreten einer solchen inneren Disposition gerät offenbar das formale Interesse am Reimschema ein wenig in den Hintergrund. Es erscheint nun als bloße Äußerlichkeit oder gar als Künstelei. Die Aufmerksamkeit auf die Artifizialität und die damit einhergehende Abwertung des Sonetts ist ein europäisches Phänomen. Entsprechende Bemerkungen über die »rigoureuses Loix« des Sonetts finden sich bereits in der Art poétique des Nicolas Boileau, von wo aus sie nach Deutschland gelangen. Boileau dichtet, dass Apollo das Sonett zur Strafe der französischen Dichter ersonnen habe, wobei er es aber immer noch hochschätzt: »On dit à ce propos, qu’un jour ce Dieu bizarre | Voulant pousser à bout tous les Rimeurs François«.6 Im Zeitalter des französischen Klassizismus hatte das Sonett auch als geläufige Gelegenheitsform bereits an Boden verloren. Das galante Sonett tritt in der Konkurrenz gegen die Madrigale in freien Versen zurück,7 eine Tendenz, die in Italien schon an der Wende zum 17. Jahrhundert zu beobachten war.8 Die entsprechenden Bedenken werden vermutlich von Christian Weise erstmals für Deutschland formuliert: »Allein die Deutschen mögen sich stellen wie sie wollen / so hab ich doch wenig Sonnette gesehen / da man allen Zwang hätte verbergen können / und da man nicht mit der Invention weit glücklicher fortkommen wäre / wenn man die Sclaverey mit den Reimen nicht allzuweit extendiret hätte«.9 Unmutsäußerungen über die Strenge der Form entwickeln sich bei den Galanten. Bei Christian Friedrich Hunold und Erdmann Neumeister ist zu lesen: »Unter allen kömmt mir diese Art Gedichte entweder am schwersten vor, oder ich habe einen Eckel an ihrem gezwungenen Wesen, dass ich sie nicht gern mache«.10 Gottsched schließlich spricht ebenfalls davon, dass es »unter den Sinngedichten keinen geringen Platz verdienet, weil es so schwer zu machen ——————— 6

7 8 9 10

Nicolas Boileau-Despréaux: L’Art poétique II,82f. In: Boileau-Despréaux: Œuvres complètes. Hg. von Françoise Escal. Paris 1966, S. 165. Boileaus Vers wird zitiert von Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer besonderer Theil. Hg. von Joachim Birke und Brigitte Birke. In: Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. 6,2, Berlin, New York 1973, S. 222 (Ausgabe A–C) und S. 531f. (Ausgabe D). Jasinski, S. 128–131. Fuchs, S. 261; Hutton, S. 50; Schulz-Buschhaus: Das Madrigal, S. 244–252; Föcking, S. 210 und passim. Weise: Curiöse Gedanken (1702), 1. Teil, S. 37. [Christian Friedrich Hunold, Erdmann Neumeister]: Die Allerneueste Art, Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschafft geneigten Gemühtern [...] ans Licht gestellet. Von Menantes. Hamburg 1728, S. 241.

368 ist«. Doch führt dies unmittelbar auch zur poetischen Geringschätzung der Form: Meinestheils glaube ich, daß eher ein eigensinniger Reimschmidt, als Apollo, die Regeln des Sonnets ausgedacht: weil diesem gewiß an solchem gezwungenen Schellenklange nichts gelegen ist. Am wenigsten glaube ichs, was Boileau hinzugesetzt. UN SONNET SANS DEFAUT VAUT SEUL UN LONG POEME. Es ist bald so, als wenn ich sagte, ein künstlich gebautes Kartenhaus wäre eben so viel werth, als ein großer Pallast. Doch man kann hier jedem Liebhaber seinen Geschmack lassen. Wenn Horaz einen Poeten mit einem Seiltänzer vergleicht, so kann man die Meister der Sonnette mit einem solchen vergleichen, der mit geschlossenen Beinen tanzet. Es ist wahr, daß dieses künstlicher ist; wenn er gleichwohl Sprünge genug machet und keine Fehltritte thut. Aber verlohnt sichs wohl der Mühe, der gesunden Vernunft solche Fessel anzulegen, und um eines einzigen guten Sonnets halber, welches von 11 ungefähr einem Dichter geräth, viel hundert schlechte geduldig durchzulesen?

Interessant ist hier die unmittelbare Verschränkung des Merkmals der Künstlichkeit mit der expliziten literarischen Abwertung. Zugleich wird der Gegensatz von Kunst und Natur kultiviert, indem die Artifizialität als eine ›Fessel‹ der ›gesunden Vernunft‹ aufgefasst wird, so dass die Vernunft das Prädikat der Natürlichkeit zugesprochen bekommt. Im gleichen Maß, in dem Natur und Vernunft gegen Tradition und Autorität ausgespielt werden, verliert das Sonett an literarischer Wertschätzung.12 Die Schweizer Bodmer und Breitinger äußern sich kaum dazu, Hagedorn vergleicht den sonettierenden Poeten mit einem Berg, der eine Maus gebiert.13 Als Beispiele für die Abwertung des Sonetts werden in der Regel einige wenige zeitgenössische Sonette genannt. Zum einen ist dies das Ungereimte Sonett von Christian Gryphius, für dessen Reimlosigkeit allerdings Vorbilder im 16. Jahrhundert angegeben werden können, und das sich ganz traditionell als eine Liebesabsage an eine Alte erweist, wofür die ›Ungereimtheit‹ die Metapher abgibt.14 Dies richtet sich dann allerdings kaum gegen die Sonettform selbst. Als selbstreferentieller Text erweist sich das ebenfalls bekannte, aus dem Französischen übersetzte Sonett von Johann Burckhard Mencke mit dem Titel Kein ——————— 11 12

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Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 6,2, S. 222f. (3. Aufl. 1742 [C], S. 619f.). Interessant ist hier, dass Gottsched die abwertenden Passagen in der erweiterten vierten Auflage der Critischen Dichtkunst von 1751 (Ausgabe D) wieder streicht und sich darauf konzentriert, eine eigene Theorie des Sonetts als einer Liedform zu entfalten. Je besser er das Reimschema des Sonetts auf diesem Weg rational motivieren kann, desto weniger paßt die Abwertung der Form in die Argumentation; Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 6,2, S. 531–537. Friedrich von Hagedorn: Der Berg und der Poet. In: F.v. Hagedorn: Poetische Werke. Mit seiner Lebensbeschreibung und Charakteristik und mit Auszügen seines Briefwechsels begleitet von Johann Joachim Eschenburg. 5 Bde., Hamburg 1800, Bd. 2, S. 73f.; vgl. Welti, S. 143 mit weiteren Belegen. Christian Gryphius: Poetische Wälder. Faksimiledruck der Ausgabe von 1707. Hg. von James N. Hardin und Dietrich Eggers. Bern, Frankfurt a.M., New York 1985, S. 826 (Erstdruck: 1698); der Text wird unten zitiert: S. 405.

369 Sonnet, das die Sonettform selbst thematisiert. Bereits Welti hat darauf hingewiesen, dass es für diese Art von Sonetten, die das Sonetteschreiben selbst gleichsam synchron zur eigenen Entstehung zum Gegenstand haben, Vorbilder bei Hurtado de Mendoza und Lope de Vega gibt.15 Zu ergänzen ist, dass die Tradition des Sonett-Sonetts bereits ins italienische Mittelalter zurückreicht.16 Wieder aufgegriffen wird sie beispielsweise in August Wilhelm Schlegels bekanntem Zwei Reime heiß ich viermal kehren wieder.17 Menckes Sonett lautet folgendermaßen: PHILANDER VON DER LINDE Kein Sonnet. Poësies de Voiture p. 66. Bey meiner Treu es wird mir Angst gemacht; Ich soll geschwind ein rein Sonnetgen sagen, Und meine Kunst in vierzehn Zeilen wagen, Bevor ich mich auff rechten Stoff bedacht; Was reimt sich nun auff agen und auff acht? Doch eh ich kan mein Reim-Register fragen, Und in dem Sinn das A B C durchjagen, So wird bereits der halbe Theil belacht. Kan ich nun noch sechs Verse darzu tragen, So darff ich mich mit keinen Grillen plagen: Wolan da sind schon wieder drey vollbracht; Und weil noch viel in meinem vollen Kragen, So darff ich nicht am letzten Reim verzagen, 18 Bey meiner Treu das Werck ist schon gemacht.

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Der ironische Tonfall ist nicht zu überhören, und so verweist das Scherzgedicht über das Sonetteschmieden vor allem auf den technischen Charakter der Form und auf die Beliebigkeit des Inhalts. Impliziert ist offenbar ein Wissen um das vielfache Schreiben von minderwertigen Sonetten. Insofern korrespondiert bei diesem Gedicht das zur Schau gestellte Merkmal der Artifizialität in der ironischen Präsentation ebenfalls seiner impliziten literarischen Abwertung. Auch in England, das für die Sonettentwicklung im 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielen wird, ist die Abwertung des Sonetts mit dem Merkmal der großen Artifizialität verknüpft. Allerdings herrscht mit der elisabethani——————— 15

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Welti nennt zusätzlich Nachahmungen und Übersetzungen von Lopes Gedicht durch Regnier-Desmarais im Französischen, durch Williams im Englischen und Marino im Italienischen: Welti, S. 137, Anm. 1 und 2. Vgl. zu den Sonett-Sonetten von Pieraccio Tedaldi und Antonio Pucci: Weinmann, S. 30– 32; zur modernen Tradition: Paul Goetsch: Sonette über das Sonett. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997) 261–280. August Wilhelm Schlegel: Sämmtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. 12 Bde., Leipzig 1846, Bd. 1, S. 304. [Johann Burkhard Mencke:] Philanders von der Linde Schertzhaffte Gedichte, Darinnen So wol einige Satyren, als auch Hochzeit- und Schertz-Gedichte, Nebst einer Ausführlichen Vertheidigung Satyrischer Schrifften enthalten. Leipzig 1706, S. 202. In der dritten Auflage von 1722 heißt es »Bey meiner Treu!«; Leipzig 1722, S. 20.

370 schen Tradition und mit den wenigen Mustersonetten des im 18. Jahrhundert hochgeschätzten John Milton eine gegenüber Deutschland andere Ausgangslage. Dennoch stellt sich auch hier die Frage, inwiefern die Sonettform dem Englischen überhaupt angemessen sei. Samuel Johnson verkündet 1755 in seinem Dictionary: »It is not very suitable to the English language, and has not been used by any man of eminence since Milton«,19 was die Sonettistin Charlotte Smith in der kurzen Vorrede ihrer erfolgreichen Elegiac Sonnets mit der Bemerkung »I am told, and I read it as the opinion of very good judges, that the legitimate Sonnet is ill calculated for our language« aufgreift.20 In England standen die Autoren vor der zusätzlichen Frage, ob sie der einheimischen elisabethanischen Tradition, dem auf die Italiener zurückgreifenden Vorbild Miltons oder dem Modell Petrarcas selbst folgen sollten.21 Für Smith meint das ›legitimate Sonnet‹ hier die ursprünglichen italienischen Schemata. Dabei darf man die Kenntnis der Originale allerdings kaum voraussetzen.22 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts waren außer den Sonetten von Milton weder die Texte der Elisabethaner noch die der Italiener allgemein bekannt. Sogar Shakespeares Sonette wurden zum einen aus moralischen Gründen und zum anderen aufgrund der Geringschätzung der Gattung noch 1793 von George Steevens aus seiner Werkausgabe ausgeschieden.23 Stand in England einerseits die Frage nach dem rechten Vorbild und damit nach dem zu befolgenden Reimschema auf der Tagesordnung, so war die Vorstellung vom Reimschema oft nur sehr vage. Adaptionen elisabethanischer und italienischer Muster existierten nebeneinander. Die Bevorzugung einer englischen Sonderform wurde nicht selten mit der Kompliziertheit der italienischen Form begründet; ein Argument, das Hand in Hand ging mit der Vorstellung von der übermäßigen Artifizialität des Sonetts. Eine Reihe von Belegen dafür versammelt Raymond Havens. So konstatiert Samuel Johnson, dass selbst ein Genie wie Milton dem Sonett nicht habe aufhelfen können: »Milton, Madam, was a genius that could cut a Colossus from a rock; but could not carve heads upon cherry-stones«. Der bereits erwähnte Shakespeare-Herausgeber George Steevens formuliert noch in den achtziger Jahren, das Sonett sei »a metrical whim [...] composed in the highest strain of affectation, pedantry, circumlocution, and nonsense«. Zeitschriften verkündeten durchweg Verdammungsurteile über das »antiquated sonnet« mit seiner »tendency towards affectation« (The ——————— 19

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Samuel Johnson: A dictionary of the English language. 2 Bde. London 1755, Bd. 2, Stichwort »sonnet«; vgl. auch Sylvia Mergenthal: Charlotte Smith and the Romantic Sonnet Revival. In: Feminist Contributions to the Literary Canon: Setting Standards of Taste. Hg. von Susanne Fendler. Lewiston, N.Y. 1997, S. 65–79, bes. S. 68. Preface to the first and second editions. In: Charlotte Smith: The Poems. Hg. von Stuart Curran. New York, Oxford 1993, S. 3. Raymond Dexter Havens: The Influence of Milton on English Poetry. Cambridge 1922 (darin: »Milton and the Sonnet, with a History of the Sonnet in the Eighteenth and Early Nineteenth Centuries«, S. 478–548), S. 478. Havens, S. 480, 484f. Havens, S. 480f.

371 Critical), das Sonett sei »harsh, formal and uncouth« (The Monthly), »metaphysic rubbish that [...] still appears under the title of Sonnets« (New London Magazine) und noch 1803 behauptet die Annual Review: »Sonnets [...] at best are but stiff difficult trifles, and surely more remote from the simplicity which they often affect than any other class of poems in our language«.24 Selbst Samuel Coleridge, der viel zur Wiederbelebung der Form beigetragen hat, steht – im übrigen ohne weitere eigene Textkenntnis – den Gedichten Petrarcas zunächst sehr skeptisch gegenüber und sieht sich nicht in der Lage, »to discover either sense, nature, or poetic fancy in Petrarch’s poems; they appear to me all one cold glitter of heavy conceits and metaphysical abstractions«.25 Die Abwertung des Sonetts im Zeitalter der Aufklärung hat unmittelbar mit bestimmten ideologischen Besetzungen zu tun, deren Inhalte generell der Kritik verfallen sind. In England korreliert sie mit einer grundsätzlichen Distanz zur elisabethanischen Tradition, die als der Inbegriff einer überholten Epoche erschien.26 Ein Gegengewicht bildet hier lediglich das Werk von John Milton, der in einigen wenigen Sonetten eine Erneuerung der Tradition unternommen hatte, indem er die elisabethanisch-epigrammatische Form vermied und sich an die Tradition der ›hohen‹ Sonettdichtung anschloss, wie sie etwa Giovanni della Casa repräsentierte. Er schrieb keine Liebessonette, sondern Gelegenheits-, Korrespondenz- und politische Sonette in italienischen Reimschemata mit zahlreichen Enjambements im Dienst einer ›Erschwerung‹ und stilistischen Anhebung der Form. An diese Sonette aus puritanisch-republikanischem Geist konnte im 18. Jahrhundert in England ebenfalls angeschlossen werden.27 In Deutschland ist die Lage bereits bei den Galanten zwiespältig. Einerseits treten Sonette aufgrund ihrer Artifizialität in der dichterischen Praxis zurück, andererseits wird dies durch die Vorbildfunktion, die die Dichtung des Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau für die Galanten erfüllte, ein wenig konterkariert. In der Neukirchschen Sammlung finden sich eben noch zahlreiche Sonette ——————— 24

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Belege nach Havens, S. 521f.: Boswell’s Johnson. Hg. Hill, IV, S. 305; William Shakespeare: Plays and Poems. Hg. James Boswell. 1821, XX, S. 358f. Anm. (Steevens); The Critical 26 (1768) 198; The Monthly 71 (1784) 368; New London Magazine 5 (1789) 212; Annual Review 2 (1803) 564; bei Havens außerdem weitere Belege. Samuel Taylor Coleridge: Introduction to the Sonnets. In: S.T. Coleridge: Poems. 2nd edition, to which are now added Poems by Charles Lamb, and Charles Lloyd. Bristol, London 1797, S. 71; Coleridge hat später in einem handschriftlichen Kommentar zu dieser Stelle die Wertung beschämt zurückgenommen: »The best of the joke is that at the time I wrote it, I did not understand a word of Italian, and could therefore judge of this divine Poet only by bald translations of some half-dozen of his Sonnets.« S.T. Coleridge: The Complete Poetical Works. Hg. von Ernest Hartley Coleridge. Vol. 2: Dramatic Works and Appendices. Oxford 1912, S. 1147. »It seemed to them Gothic and uncouth, it did not square with the rules of Aristotle and Boileau, it lacked the elegance and refinement introduced by Waller and perfected by Pope. Strange as it may appear, even the sonnets of the greatest Elizabethan did not meet with their approval.« Havens, S. 480; vgl. auch: Stuart Curran: Poetic Form and British Romanticism. New York, Oxford 1986, S. 30. Havens, S. 482; Spiller, S. 188–197 (mit einem Überblick über die Reimschemata und einer guten stilistischen Charakteristik); zum Begriff der ›Erschwerung‹ siehe oben, S. 279.

372 gerade dieses Autors. Da jedoch mit der aufklärerischen Kritik am rhetorischen Stil des Barock schließlich die Galanten selbst und auch ihr Musterautor Hoffmannswaldau abgewertet wurden, gab es in Deutschland nach dem ersten Drittel des neuen Jahrhunderts keine entsprechenden Anknüpfungspunkte mehr.

4.3

Sentimentaler Diskurs und Petrarca-Begeisterung

Im 18. Jahrhundert war die Wiederbelebung des Sonetts zunächst an eine Neubesetzung ihrer zentralen Gehalte geknüpft. Nicht das Merkmal der Artifizialität, das Verfolgen der Nachahmungspoetik und der rhetorische Stil waren anknüpfungsfähig, es mussten vielmehr moderne Inhalte gefunden werden, die dem Sonett auch historisch angemessen waren. Für die klassische Liebesthematik geschah dies unter anderem über die langsame Umwertung der petrarkischen Liebesauffassung, die sich zunächst außerhalb des Sonetts vollzog. So übte die affektive Intensität des petrarkischen Liebesmodells auf die Gefühlskultur des empfindsamen Zeitalters eine fortdauernde und sich zunehmend verstärkende Faszination aus. Der Liebesdiskurs von Petrarcas Canzoniere wird unabhängig von der Sonettform gewürdigt. Ein spätes Zeugnis für diese Trennung von Form und Inhalt bildet der kleine Dialog, der im Jahr 1803 im Zusammenhang des sogenannten romantischen Sonettenkriegs in August von Kotzebues Berliner Zeitschrift Der Freimüthige erschienen ist: Aber – sagte einer meiner Freunde – viele Sonette von Petrarch sind doch in der That gar trefflich. – Allerdings! – antwortete ich. – Nur nicht darum, weil es Sonette sind, sondern dessenungeachtet. Hätte dieser Dichter Geschmack genug besessen, den Inhalt seiner Sonette in andere, passendere Formen zu gießen; so würden die meisten seiner Gedichte 28 der Art, vielleicht alle, noch schöner gerathen seyn.

Die inhaltliche Komponente, die im 18. Jahrhundert ein erneuertes Interesse gewinnt, ist der petrarkische Liebesdiskurs selbst, die Erzählung einer unbedingten, unerfüllt bleibenden Liebe von transzendenter Dignität. Diese Erzählung besitzt mehrere Aspekte, die im Diskurs der Empfindsamkeit und der Romantik aufgegriffen werden können. Der Diskurs der Sensibilität überformt den petrarkischen Liebesdiskurs. Für diese Überformung ist gegenüber dem überkommenen Petrarkismus eine Umakzentuierung entscheidend. Klaus W. Hempfer und Gerhard Regn haben herausgestellt, inwiefern der petrarkistische Liebesdiskurs durch einen konstitutiven Konflikt von Affekt und Norm gekennzeichnet ist.29 Dieser Konflikt wird bei Petrarca in der beispielhaften Liebesabsage des petrarkischen Dichters zugunsten des in der Jungfrau Maria verkörperten religiös-normativen Prinzips ——————— 28 29

Karl Reinhardt: Ueber das Sonett, in: Der Freymüthige, oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser, Nr. 164 (14. Oktober 1803), S. 654. Vgl. für diese Bestimmung Regn: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik, S. 52; außerdem Hempfer: Probleme, pass.

373 aufgelöst. Die Explikation der Norm bildet das Telos des frühneuzeitlichpetrarkistischen Dichtens, während der individuelle Affekt diese Norm einerseits gefährdet, er aber andererseits zu ihrer Explikation dient. Das widersprüchliche Verhältnis von Affekt und Norm nährt den Diskurs, es generiert seine konstitutive Paradoxie, wird aber systematisch jeweils einer Lösung zugeführt, die in der Aufhebung oder Transformation des konfliktträchtigen Affektverhaltens resultiert. Dieses Modell bedarf im Zeitalter der modernen Empfindungskultur einer grundsätzlichen Umwertung, da sich das Verhältnis von Individualität und Sozialität beziehungsweise Normativität in grundlegender Weise wandelt. Insofern Sozialität in der nachaufklärerischen Moderne nicht mehr vom Gemeinwohl, sondern vom Individuum aus gedacht wird, wird der Affekt als dessen unmittelbarer Ausdruck signifikant. Als Zeichen der authentischen Empfindung des modernen Subjekts wird er eindeutig positiv besetzt, wogegen die Norm als Prinzip der Gefährdung durch Fremdbestimmung abgewertet wird. Man kann diesen Umwertungsprozess als den Diskurs der Empfindsamkeit oder der Sensibilität bezeichnen. Die positive Besetzung des Affekts im Gegensatz zur von außen herangetragenen überindividuellen Norm macht den modernen Petrarca zum romantischen Liebhaber. Dazu passt die Unerfülltheit seiner Liebe. Die Unerfülltheit des empfindsamen Affekts wirft das Subjekt in eine Melancholie, in der seine Individualität kristallisieren kann. Nichts vermag die Individualität des Ich unverwechselbarer zu umreißen, als die Intensität des Affekts, den seine Unerfülltheit nährt.30 Die frühen empfindsamen Anverwandlungen des Motivs der petrarkischen Liebe vollziehen sich außerhalb des Sonetts. Petrarcas Liebe wird im Sinn der modernen Gefühlskultur reinterpretiert. Die Geschichte dieser Rezeption im 18. und 19. Jahrhundert hat Katrin Korch unter dem Titel »Der zweite Petrarkismus« aufgearbeitet.31 Die maßgeblichen Autoren der Zeit verzichten tatsächlich meist völlig auf das Sonett. Vom jungen Friedrich Gottlieb Klopstock ist lediglich eine Briefstelle überliefert, in der er ankündigt, einen Liebessonettzyklus ——————— 30

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»Where the Renaissance had played its variations on the ecstasies of love and religion, the later eighteenth century reared its monument to unavailing sorrow«; Curran: Poetic Form, S. 30. Katrin Korch: Der zweite Petrarkismus. Francesco Petrarca in der deutschen Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts. Aachen 2000. Quellen zur Petrarca-Rezeption im 18. Jahrhundert finden sich bei W. Söderhjelm: Petrarca in der deutschen Dichtung. Helsingfors 1886; Lidia Pacini: Petrarca in der deutschen Dichtungslehre vom Barock bis zur Romantik. Köln 1936; Jean Livescu-Leahu: Deutscher Petrarkismus. Phil. Diss. Straßburg 1942 (auch: Iasi 1943). Der Petrarkismus-Begriff ist bei Livescu geistesgeschichtlich gefasst und meint die Rezeption und Anverwandlung Petrarcas vor allem im Sinne der ›Wendung zum Ich hin‹ und als ›dichterisches Erfassen der seelischen Geheimnisse‹ (S. 27); knappe Hinweise zur europäischen Rezeption bietet auch Gerhart Hoffmeister: The Petrarchan Mode in European Romanticism. In: European Romanticism. Literary Cross-Currents, Modes, and Models. Hg. von G. Hoffmeister. Detroit 1990, S. 97–111.

374 verfassen zu wollen.32 Es ist nicht dazu gekommen, zeigt aber zumindest, inwiefern die Sonettform schon hier als mögliches Medium des Liebesaffekts aufgefasst wird. Zugleich widerspricht die Form aber grundsätzlich den zeitgenössischen Prinzipien des freien Verses und der Reimlosigkeit, wie sie von Klopstock kultiviert wurden. Klopstock hat tatsächlich kein einziges Sonett verfasst, doch gestaltet er die Liebe von Petrarca und Laura in einer gleichnamigen Ode von 1748 als sentimentales Ereignis.33 Das Gedicht ist an Fanny gerichtet und entfaltet auf paradigmatische Weise das sentimentale Register der Liebesmelancholie: Andern Sterblichen schön, mir kaum angeschaut, Ging der silberne Mond vorbey. Thränend wand ich von ihm mein melancholisches Müdes Auge dem Dunkeln zu. Dreymal schlug mir mein Herz. Dreymal erbebtest du In mir, Tochter des ewigen Hauchs, Seele, zur Liebe gemacht. Dreymal erschrekte dich Deiner Einsamkeit bang Gefühl.

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In dieser Stimmung des sich seiner Empfindung versichernden Subjekts werden aktuelle poetisch Liebende beschworen, die die Tränen des weinenden Dichters empfangen sollen: Bring sie, Himmlischer! dann zu den Unsterblichen, Denen zärtlich ihr Herz auch schlug: Zu der göttlichen Rowe, oder zur Radikin, Die im Frühlinge sanft entschlief: Oder zur Doris hinauf, die noch ihr Haller weint, Wenn er die jüngere Doris sieht:

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Das Traumbild von Petrarca und Laura ist nun in diese Reihe empfindsamer Liebender34 eingefügt: Laura sah ich im Traum, bey ihr den fühlenden Liedervollen Petrarca stehn. Sie war jugendlich schön. Nicht wie das leichte Volk Rosenwangichter Mädchen ist,

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An Johann Adolf Schlegel vom 25. Juli 1748. In: [Friedrich Gottlieb Klopstock:] Briefe von und an Klopstock. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. Hg. von J.M. Lappenberg. Braunschweig 1867, S. 8; vgl. auch Welti, S. 141, Anm. 1. Als »Beginn der enthusiastischen Petrarca-Verehrung in Deutschland« wird die Ode von Korch, S. 125–133, diskutiert. Eine detaillierte Analyse bietet inzwischen Jörg-Ulrich Fechner: Klopstocks Petrarch und Laura (und die Nachfolger – und die Folgen?). In: Francesco Petrarca in Deutschland. Hg. Aurnhammer 2006, S. 313–347; vgl. auch: Barbara Becker-Cantarino: »Petrarca und Laura«. Erotische Performativität und Imaginationen bei Gleim und Klopstock. Ebd., S. 297–312. Gemeint sind die englische Autorin Elisabeth Rowe und Johanna Elisabeth Radike, die 1747 verstorbene Verlobte von Klopstocks Freund Johann Andreas Cramer; Doris ist der Dichtername der Ehefrau Albrecht von Hallers, auf die dieser seine berühmte Trauerode Soll ich von deinem Tode singen? gedichtet hat; vgl. Fechner: Klopstocks Petrarch und Laura, S. 342–346.

375 Die gedankenlos blühn, und im Vorübergehn Von der Natur, und im Scherz gemacht, Leer an Empfindung und Geist, leer des allmächtigen Triumphirenden Götterbliks.

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Der Gegensatz zwischen dem fühlenden Petrarca und der beseelten Schönheit Laura einerseits und den gedankenlosen scherzhaft Schönen markiert genau den Unterschied von empfindsamem Ideal und galanter Tradition, von Gefühl und Scherz, von Petrarca und Petrarkismus, wie man ihn nun zu sehen begann.35 Die Identifikation von Empfindung, Geist und transzendenter Signifikanz hebt sich entschieden ab vom frühneuzeitlichen Kontext, in dem Affekt und Geist kontrastiv pointiert waren. Laura war jugendlich schön – Ihre Bewegungen Sprachen alle die Göttlichkeit Ihres Herzens – Und werth, werth der Unsterblichkeit, Trat sie hoch im Triumph daher, Schön wie ein festlicher Tag, frey wie die heitre Luft, Voller Einfalt, wie die Natur. 36 An ihr klopfendes Herz legte Petrarca sich.

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Das Pathos der Minnetradition wird eindrucksvoll beschworen und auf die Sensibilität des Liebenden abgebildet: die göttlich anmutende Schönheit Lauras, ihr festlich-triumphaler Auftritt, das Motiv der heiteren Luft werden entgegen der Tradition assoziiert mit Einfalt und Natürlichkeit, den Merkmalen moderner Authentizität. Die in der Minnetradition unüberwindliche Distanz zwischen Liebendem und Geliebter wird ersetzt durch empfindsame Nähe; Petrarca darf seinen Kopf hier an die Brust Lauras legen, um unmittelbaren Kontakt zu ihrem empfindenden ›klopfenden‹ Herzen aufzunehmen. Chiffreartig sind so die widerstreitenden Merkmale zwischen überkommener Tradition und moderner Lesart zusammengefügt.37 Zugleich wird die Grenze von Dichtung und Leben systematisch überspielt: Petrarca wirkt nicht primär über seine Dichtung und deren Formenwelt, sondern er wirkt als Modell einer Liebesauffassung und Liebeshaltung, er persönlich wirkt als authentisch Liebender. Eine weitere Beförderung des Interesses an Petrarca geht von Johann Nikolaus Meinhard (1727–1767) aus, der in den Jahren 1763 und 1764 seine Versuche über den Charackter und die Werke der besten Italienischen Dichter in zwei Bänden zum Druck bringt, die sich ausführlich mit Leben und Werk Petrarcas befassen.38 Meinhard bezieht beides ausdrücklich aufeinander, wenn ——————— 35 36

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Pacini, S. 29f., zu Meinhards Kapitel Über die Nachahmer Petrarcas; siehe zu Meinhard unten: S. 375, Anm. 38. Der Text des Erstdrucks Darmstadt 1771 ist vollständig wiederabgedruckt bei Fechner: Klopstocks Petrarch und Laura, S. 316f; textidentisch in: Klopstocks Oden und Elegien. Hg. Fechner. Stuttgart 1974 (Sammlung Metzler. 126.). Eine Diskussion der Ode bei Pacini, S. 21–25; vgl. zu Klopstocks Petrarca-Auffassung und zu einzelnen Anklängen in anderen Klopstock-Oden auch Livescu-Leahu, S. 58–66. Johann Nicolaus Meinhard: Versuche über den Charackter und die Werke der besten Italienischen Dichter. 2 Bde., Braunschweig 1763 und 1764; vgl. die Rezension von Les-

376 er befindet: »Diese Poesien sind durchgehends das Ebenbild des Dichters. Sie zeigen eine sanfte Seele, eine zärtliche und blühende Einbildungskraft, die in der Natur nur das Liebliche und das Zierliche suchet, ein empfindliches Herz«, und er sieht Petrarca vor allem in der Nachfolge Platons.39 Petrarcas Sprache gilt ihm vor allem als Empfindungsausdruck. Dass er sie sogar als ›naiv‹ bezeichnen kann, erstaunt geradezu: Solche Empfindungen auszudrücken, hat er sich selbst eine Sprache geschaffen, die seinem Gegenstande und seinem Genie die angemessenste war, die lieblichste, die reinste, die sanfteste, deren sich jemals ein Dichter bedient hat. Man findet in seinem Stil eine gewisse delicate Weichlichkeit, etwas Naives, das man beym Lesen besser empfinden, als 40 beschreiben kann.

Bei seinen von Lessing wie von Johann Gottfried Herder gelobten PetrarcaÜbersetzungen konzentriert er sich ausdrücklich auf Gedichte, die der eigenen Zeit nahe lagen, so auf »Gemählde von sinnlichen Gegenständen der Natur«, die »alle Nationen intereßiren, welche die Ergötzungen der Einbildungskraft fühlen können.«41 Vor allem die »Lebhaftigkeit der Einbildungskraft, und der Reichthum an Bildern« zeichne die Italiener laut Meinhard im Blick auf die aufklärerischen poetologischen Debatten aus. Sie betrachteten die Dichtkunst »als eine blosse Mahlerey.«42 Petrarca wird als vollendeter Dichter gepriesen, »lauter Empfindung« sei seine Poesie.43 Auch das italienische Sonett wird von Meinhard in diesem Sinne vom traditionellen Epigrammsonett abgesetzt und ausdrücklich als eine Liedform aufgefasst: Ich muß nur noch anmerken, daß die Italiener das Sonnett anders betrachten, als die Franzosen, oder wir, zu der Zeit, da wir noch Sonnette machten. Wir sahen einen gewissen epigrammatischen Witz als ein nothwendiges Ingredient an; wir glaubten, daß der Lauf der Gedanken immer in demselben steigen, daß es am Ende mit etwas Unerwartetem schliessen müßte. Aber für die Italiener ist das Sonnett nichts anders, als eine kleine Ode, die zuweilen eine Moral, zuweilen nur ein Gemählde, oder eine Empfindung ausdrückt, 44 wie verschiedne von den kleinen Oden des Horaz.

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sing: Briefe die neueste Literatur betreffend. 23. Teil, 332. Brief, in: Lessing: Werke, Bd. 5, S. 323–329; zu Meinhard: Söderhjelm, S. 9–12; Johanna Schneider: Johann Nicolaus Meinhards Werk über die italienischen Dichter und seine Spuren in der deutschen Literatur. Phil. Diss. Marburg 1911; Pacini, S. 25–30; Livescu-Leahu, S. 69–77; auch: Wolfgang Beutin: »So ein Werk hat uns gefehlt ...« – Johann Nicolaus Meinhard (1727–1767) und sein Beitrag zur Renaissance-Rezeption. In: W. Beutin: Vom Mittelalter zur Moderne. Bd. 2: Von der Aufklärung bis zum 19. Jahrhundert. Hamburg 1994, S. 9–19; sowie Korch, S. 17–29. Meinhard, Bd. 1, S. 261. In der zweiten Auflage von 1774 wird in diesem Zusammenhang auch auf Jean-Jacques Rousseau hingewiesen: vgl. Meinhard: Versuche, 21774, Bd. 1, S. 190. Meinhard, Bd. 1 (1763), S. 264f. Meinhard, Bd. 1 (1763), S. 289. Alle Zitate: Meinhard, Bd. 1 (1763), S. 8. Meinhard, Bd. 1 (1763), S. 267. Meinhard, Bd. 1 (1763), S. 271.

377 Damit ist die Differenz von französisch-deutschem Epigrammsonett und italienischem Sonett als eine von Epigramm und Ode und von Witz und Empfindung beschrieben, so dass Petrarca unmittelbar als das angemessenere Muster erscheint. Die Hinwendung zum Sonett Petrarcas und die Zurückweisung des Barocksonetts ist damit aus dem Geist einer empfindsamen Petrarca-Begeisterung heraus bereits theoretisch formuliert, bevor überhaupt neue Sonette an die Öffentlichkeit getreten sind. Im gleichen Jahr 1764 beginnt in Amsterdam die monumentale dreibändige Petrarca-Biographie des Abbé Jacques François de Sade zu erscheinen, die um die Lauraliebe und die Sonette herumgebaut ist, und die die Gedichte als Ausdruck einer hehren und zugleich zärtlichen Leidenschaft vorstellt: »Ils nous présentent l’idée d’un passion honnête, qui sert de modele aux cœurs tendres et vertueux, [...].«45 Die hymnisch-sentimentale Erhöhung der Liebe von Petrarca und Laura bei Klopstock und die literarhistorische Würdigung bei Meinhard gehen in der Mitte des 18. Jahrhunderts geradezu mit einer Petrarca-Begeisterung einher, die vor allem im Umkreis der Halleschen und Halberstädter Anakreontik um Johann Wilhelm Ludwig Gleim zu einer ganzen Reihe von Petrarca- und LauraDichtungen führt, die in den bereits genannten einflussgeschichtlichen Studien dokumentiert sind. Mit dem Kreis um Gleim stand Meinhard in unmittelbarem Kontakt. Gleim wiederum bemühte sich zeit seines Lebens, die unterschiedlichsten Dichtungstraditionen aufzugreifen und fruchtbar zu machen. Seine Petrarca-Beschäftigung geht bis in seine Jugend zurück, und bereits in der Ausgabe seiner Lieder von 1749 findet sich ein eigener Versuch im Sonett.46 Die ältere Einflussforschung hat die anakreontischen Bemühungen um Petrarca in aller Regel für unbeholfen gehalten und darin entsprechende negative Einschätzungen gegenüber der Anakreontik selbst fortgeschrieben. Allenfalls hat man an den Petrarca-Adaptionen den Versuch gewürdigt, der in der Regel kritisch betrachteten thematischen Begrenztheit und Oberflächlichkeit der anakreontischen Dichtung entgegenzuarbeiten und würdevollere und tiefgehendere Gegenstände zu erschließen. Aus nachromantischer Sicht erscheint dieses Vorgehen dennoch lediglich als ›Notbehelf‹.47 Hier empfiehlt es sich, den zeitgenössischen ästhetischen Kontext in Betracht zu ziehen, um die Anverwandlung der Figur Petrarcas in ihrer Konsequenz genauer zu erfassen. ——————— 45

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Jacques François Paul Aldonze, Abbé de Sade: Mémoires pour la vie de François Pétrarque. 3 Bde. Amsterdam 1764–67, Bd. 1, S. 111f. (vgl. die Übersetzung: Abbé de Sade: Nachrichten zu dem Leben des Franz Petrarca aus seinen Werken und den gleichzeitigen Schriftstellern. Lemgo 1774; vgl. Korch, S. 40–49, und unten, S. 456). Einen nennenswerten Einfluß hatte zudem die petrarkische Stilisierung der Nouvelle Héloïse des JeanJacques Rousseau (1761), die bereits Meinhard »als den besten Commentar über den Petrarca« bezeichnet; Meinhard (1774), Bd. 1, S. 190. Belege für Gleims frühe Petrarca-Beschäftigung bei Livescu-Leahu, S. 51–55; vgl. auch unten, S. 390. Livescu-Leahu, S. 111: »Wenn sie auch damit keine ewige Dichtung geschaffen haben, ist doch ihr Streben löblich, über die eigene, oberflächliche, nach aussen gerichtete anakreontische Dichtungsart hinauszukommen und die Tiefen der eigenen Seele ergründen zu wollen.« Ein solches Urteil operiert offenbar mit nachromantischen Wertungskategorien.

378 Den Zusammenhang der anakreontischen Dichtart mit den Konzepten der Aufklärungsästhetik von Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier, die die Ästhetik auf das sinnliche Vermögen des Menschen zu gründen suchte, haben vor allem Theodor Verweyen und Gunther Witting herausgestellt.48 So konnte einerseits das Interesse des Halleschen Kreises an den ästhetischen Debatten und ihre unmittelbare Kenntnis derselben nachgewiesen werden, obwohl sich dieses kaum in poetologischen Äußerungen niedergeschlagen hat. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei Baumgartens Bestimmung des poetischen Gedichts als einer ›oratio sensitiva perfecta‹, mit der die sinnliche Vergegenwärtigung gemeint ist: »Die sinliche Rede ist ein Gedicht, wenn alles darin übereinstimt sinliche Vorstellungen zu erregen«.49 Mit der Anlehnung der Anakreontiker an die Baumgartensche Ästhetik ist implizit eine kritische Stellungnahme gegenüber der pietistischen Moralisierung der Lebenspraxis verknüpft: man kann die anakreontische Exposition sinnlichen Lebensgenusses als eine Verteidigung der orthodox-lutherischen Adiaphora-Lehre verstehen, die seitens der Pietisten scharfen Angriffen ausgesetzt war.50 Dabei spielt die Freistellung des ästhetischen Bereichs von moralischer Beurteilung eine zentrale Rolle. Dieser ästhetische und kulturgeschichtliche Kontext bildet den aufschlussreichen Hintergrund einer Dichtungspraxis, die sich ganz und gar nicht theoretisch und gelehrt geben will, die aber durchaus als das Programm einer poetischen Aufwertung und Vergegenwärtigung von Sinnlichkeit beschrieben werden kann. Dorothee Kimmich hat dies folgendermaßen plastisch umrissen: Rokoko-Poesie will nicht pathetisch, nicht barock-schwülstig sein, sie will nicht gelehrt und steif, nicht düster und schwermütig, nicht regelkonform und nicht systematisch sein. Sie kennt keine Helden und großen Taten, nicht Eros und Thanatos, sondern die Erotik des kleinen Amor und den Tod als Bruder des Schlafs. ›Witz‹ als gelehrte Kombinationskunst

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Theodor Verweyen: Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? Zur ästhetik-theoretischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakreontik. In: GRM 25 (1975) 276–306; T. Verweyen: »Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik«. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der »sinnlichen Erkenntnis«. In: Zentren der Aufklärung. Bd. I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Hg. von Norbert Hinske. Heidelberg 1989, S. 209–238; T. Verweyen, Gunther Witting: Zur Rezeption Baumgartens bei Uz, Gleim und Rudnick. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Hg. von T. Verweyen. Tübingen 1995, S. 101–119; zuvor auch in: ZfdPh 113 (1994) 496–514; T. Verweyen/G. Witting: Zum philosophischen und ästhetisch-theoretischen Kontext der Rokoko-Anakreontik (mit einem unbekannten Brief A.G. Baumgartens an J.W.L. Gleim im Anhang). In: Dichter und Bürger in der Provinz. Johann Peter Uz und die Aufklärung in Ansbach. Hg. von Ernst Rohmer und T. Verweyen. Tübingen 1998, S. 1–30. Verweyen/Witting zitieren dies unter anderem aus einer neuentdeckten Quelle, bei der es sich wahrscheinlich um die Mitschrift eines Kollegs von Georg Friedrich Meier in Halle handelt, die Paul Jacob Rudnick (1719–1741) in ein Exemplar der Baumgartenschen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus schrieb; Verweyen/Witting: Zur Rezeption Baumgartens, S. 111. Zum theoretischen Kontext der Bestimmung: Verweyen: Emanzipation der Sinnlichkeit, S. 293, dort auch weitere Literatur. Verweyen: Emanzipation der Sinnlichkeit, bes. S. 297–306.

379 ist ebensowenig gefragt wie schwerfällige Reflexion über die menschliche Seele und das Jenseits. Scherzhaft, lustig, tändelnd, munter und leicht soll die Dichtung sein. Das »Scherzhafte« ist dabei eine fröhliche, sinnliche Bewegtheit, die den erotischen Reiz 51 miteinschließt.

Es sind diese Voraussetzungen, die mitzubedenken sind, wenn man die Zielrichtung der anakreontischen Petrarca-Rezeption erfassen will. Es konnte sich nicht um ein Interesse an der inneren, christlich-augustinischen Konfliktlage des petrarkischen Liebeskonzepts handeln, nicht um ein Ausschreiten jenes Konflikts von Affekt und Norm, der in der antithetischen Schmerzliebe sein rhetorisches Äquivalent besitzt. Vielmehr richtet sich auch die Petrarca-Begeisterung auf die Affektivität selbst, auf die unheroische Feier des Sinnlichen, wie dies Gleim programmatisch auf Anakreon bezieht: »Verwirft das Lob der Helden, | Und singt von Wein und Liebe«.52 Man kann die einzelnen Aspekte dieser Haltung auf beispielhafte Weise etwa in folgendem kleinen Gedicht wiederfinden, das Johann Nikolaus Götz (1721–1781), Dichterfreund von Gleim und Johann Peter Uz, Petrarca in den Mund legt: JOHANN NIKOLAUS GÖTZ Petrarch. Meine allererste Reime, Jene bilderreiche Träume, Wenn ich, o ihr Myrtenbäume, An der Schönheit Busen sang: Werden leicht den Preis gewinnen; Dann ein Heer von Charitinnen Schützt sie vor dem Untergang, Und das süse Gift der Sinnen, Die Empfindungen darinnen, Rühren und gefallen lang. Amor, Kinderchen von Floren, Liebt euch alle sonder Zwang; Aber Rosen, mit Auroren An dem ersten May gebohren, Gibt er, aus geheimen Hang, In dem Busenschmuck für Chloren, In dem Kranz für Leonoren 53 Allemahl den ersten Rang.

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Dorothee Kimmich: Inszenierungen des geglückten Tags. Zur impliziten Poetik bei Johann Peter Uz und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, S. 158–175, hier: S. 159f. Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Anakreon. In: J.W.L. Gleim: Versuch in Scherzhaften Liedern und Lieder. Nach den Erstausgaben von 1744/45 und 1749 mit den Körteschen Fassungen im Anhang kritisch hg. von Alfred Anger. Tübingen 1964, S. 5. Johann Nikolaus Götz: Gedichte aus den Jahren 1745–1765 in ursprünglicher Gestalt. Hg. von Carl Schüddekopf. Stuttgart 1893, S. 74. Der Bezug auf Petrarca wurde in späteren Ausgaben entfernt und es wurden weitere Änderungen im Text vorgenommen; es trägt dann den Titel »Der Dichter von seinen Liebesliedern«; J.N. Götz: Vermischte Gedichte. Hg. von Karl Wilhelm Ramler. Bd. 3, Mannheim 1785, S. 235.

380 Das Postulat einer zwanglosen Sinnlichkeit richtet sich nicht zuletzt auch gegen poetischen Regelzwang und bevorzugt die leichte, angenehme Form der spielerisch gereimten anakreontischen Kurzverse, die der festgefügten Sonettform so entgegengesetzt sind. Im vorliegenden Gedicht kann man allerdings in der ungewöhnlichen Beschränkung auf nur vier verschiedene Reime, die sich wiederholt umschlingen, eine Reminiszenz an die wichtigste Form petrarkischer Gedichte erkennen, wobei der reimlose erste Vers das zu konterkarieren scheint und gehörig quersteht: A b b c d d c d d c e d e e d e e d . Im Grunde jedoch ist Petrarca hier eher Gegenstand des Diskurses als poetisches Modell. Seine Dichtungen als ›bilderreiche Träume‹ zu bezeichnen, setzt sie exakt in den Kontext jener sinnlichen Mannigfaltigkeit ein, den die zeitgenössische Ästhetik beschwört, auch wenn Bilderreichtum und Traumcharakter kaum der überkommenen Vorstellung von Petrarcas Liebesdichtung entsprechen. Hier ist es die sinnliche Erregung, sind es die »Empfindungen«, die »rühren und gefallen«, philosophische Schlüsselbegriffe des aufgeklärten Zeitalters. Der in Vers 11 unvermittelt auftauchende Amor ist denn auch nicht der mächtige Seelenbeherrscher Petrarcas, sondern er ist ein blumenstreuender Rokoko-Amor und »liebt euch alle sonder Zwang«. Will man die Schlusspassage (v. 13–18), die tatsächlich zwei passable Sonett-Terzette abgeben würde, allegorisch verstehen, könnte man auch die Rosen auf die in Rede stehenden Reime Petrarcas beziehen, die wie die anderen Blumen mit erotischem Beiklang den Mädchen geflochten werden. Sowenig hier der historische Petrarca zu seinem Recht kommt, so deutlich ist seine Hereinnahme in das konsequente Programm einer affirmierten Sinnlichkeit. Das Konfliktpotential der petrarkischen Liebeskonzeption musste dabei zwingend ausgeschlossen werden. Die Schmerzliebe, Antithetik und die Melancholie haben in diesen Versen keinen Platz. Aus Sicht des traditionellen Petrarkismus unterstreicht dies die Umwertung des überkommenen Konflikts von Affekt und Norm: der Liebesaffekt selbst ist hier nun für sich genommen bereits poetischer Ausweis und ästhetisches Ziel. Sowohl die Widerständigkeit im Formalen wie die Anverwandlung der Thematik lässt sich in zahlreichen Petrarca-Dichtungen der Anakreontiker aufzeigen. So veröffentlicht Gleim, das Haupt der Halleschen und Halberstädter Anakreontik, im Jahr 1764 einen Zyklus Petrarchische Gedichte, der diese Zwitterstellung ebenfalls dokumentiert. Wesentlich deutlicher als Götz schrammt Gleim in seinem Eröffnungsgedicht am Modell des Sonetts vorbei, als wolle er um jeden Preis einer Regelbefolgung entraten, die in ein korrektes Sonett münden würde: JOHANN WILHELM LUDWIG GLEIM Erscheinung der petrarchischen Muse. O welch ein Glanz um mich! welch himmlisches Gesicht! Welch eine Schönheit ohne Mängel! Welch eine sanfte Miene! Seh’ ich nicht, O Himmel, deinen schönsten Engel? Kein Auge hat ein sterblich Weib so schön, Von so vollkommner Anmuth je gesehn,

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381 Das jeden, wenn er es erblickt, Mit himmlischer Gewalt entzückt. Die Erd’ ist nicht dein Vaterland; Wer hat, fragt’ ich, o Göttin! dich gesandt? Welch eine frohe Bothschaft bringest du? Holdselig lächelte ihr Mund mir zu: Ein goldnes Buch, auf dem: Petrarca, stand, Nahm sie hervor, gab mir es in die Hand, 54 Und sagte: Lies’! ich las, und sie verschwand.

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Schon die Graphie des Gedichts weist auf das Sonett, doch mischen sich bei näherem Zusehen Kreuz-, Paar- und umschlingende Reime aus vier-, fünf- und sechshebigen Jamben mit fast durchgängig männlichem Reimschluss, und ein am Ende angefügter dritter Reimvers auf den letzten Paarreim stört sogar noch das graphische Bild des Sonetts, ohne dass dieses nun aber ein Schweifsonett ergäbe. Die Reimordnung ist a b a b c c d d e e f f e e e . Immerhin hatte Gleim schon in seinem bereits erwähnten frühen Belinde-Sonett die Reime in den Quartetten nicht symmetrisch gesetzt: a b b a B A B A c d c d c d . Beides deutet darauf hin, dass der Regelverstoß gezielt gesetzt ist, dass also die Annäherung ans Sonett nicht ohne Vorbehalt vorgenommen wird.55 Im Vergleich zum Beispiel von Götz fällt beim vorliegenden Gedicht der würdevolle Duktus mit den zahlreichen Petrarca-Reminiszenzen auf, der sich vom geläufigen anakreontischen Ton abhebt. Die ›petrarchische Muse‹ wird als vollkommene himmlische Schönheit von größter Anmut bezeichnet, ein Überbietungsgestus, der antike mit petrarkischen Elementen verbindet. Die Schönheitsbeschreibung, die petrarkischer Hyperbolik folgt, richtet sich allegorisierend auf die Dichtung selbst, die vom Vorbild offenbar vor allem poetische Anmut und Schönheit gewinnen soll. Damit ist neben dem Liebesmodell Petrarca erstmals Petrarca auch als ein poetisches Modell thematisiert. Die nachfolgenden Gedichte des kleinen Zyklus petrarchischer Gedichte bieten anakreontische Liebesszenen in variabler Liedform, so das zweite An Damon: Wir ließen uns im Schatten nieder, Die Nachtigall sang Liebeslieder, Wir hörten zu, sie sang Uns beyde, mich und sie, In zärtliche Melancholie. Und, Freund! da schlang Ich meinen Arm vertraulicher um sie. Sie hinderte mich nicht; Ich gab den ersten Kuß, da stieg Ein hohes Roth in ihr Gesicht.

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[Johann Wilhelm Ludwig] Gleim: Petrarchische Gedichte. In: Friedrich Wilhelm Gleims Sämmtliche Werke. Bd. 1, Karlsruhe 1820, S. 338f. Korch schließt wegen der ›verfehlten Sonettform‹ auf einen bloß ›vordergründigen‹ Einfluss Petrarcas. Im weiteren weist sie auf die christliche Sakralisierung der Figur der Geliebten und auf die Augustinus-Reminiszenz des Schlussverses hin; Korch, S. 84–86.

382 Ich bat sie, mir ihr Herz zu schenken; Sie schenkt’ es mir. O angenehmer Sieg! 56 O süßes Angedenken!

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So leichtfüßig ging es nicht im galanten Spätpetrarkismus zu. Neben der Beschwörung der petrarkischen Muse sind den Gedichten signifikante Motive eingearbeitet, so am Anfang das der Fußspur der Geliebten im Gras:57 »Hier sah’ ich sie zum erstenmal, o Freund! / Hier, wo von ihr der Fußtritt noch erscheint« (v. 1–2), oder in empfindsam gedeuteten Schönheitstopoi: »da floß von ihrer Wange / Wie eine Lilje weiß, wie eine Rose roth, / Ein heißer Thränenbach«, in einem Der dritte Tag im Merz 1753 überschriebenen Gedicht, das die petrarkische Datierung des innamoramento aufnimmt und damit den autobiographischen Bezug als Authentizitätssignal setzt.58 Für die Petrarca-Begeisterung in der Mitte des Jahrhunderts sind zahlreiche Belege angeführt worden.59 Insgesamt ist ihnen aus Sicht des alten Petrarkismus die Positivierung des Liebesaffekts gemeinsam, die den petrarkischen Liebesdiskurs in den modernen Subjektivitätsdiskurs überführt. Der formale Vorbehalt, der dabei zunächst herrscht, kann als eine durchaus produktive Distanznahme zum alten Petrarca und zum Petrarkismus verstanden werden. In der nachromantischen Literaturkritik ist eine solche Einschätzung allerdings verlorengegangen und man bezichtigte die Dichter im Kontext der Aufklärung der Seichtheit. Um die Differenz zwischen nachromantischem und aufklärerischanakreontischem Petrarca-Verständnis zu ermessen, ist eine ältere literaturwissenschaftliche Stellungnahme aufschlussreich: Bei allen vermissen wir zuerst ein richtiges Verständniss für den Laurasänger, das heißt einen Sinn für die formale Vollendung PETRARCA’S, sowohl im Betreff der Gedanken, wie ihrer äusseren Umkleidung. GLEIM wie GÖTZ, SCHMIDT wie JACOBI, alle glauben sie, dass die nota characteristica der petrarchischen Lyrik bloss das unaufhaltsame Besingen der Geliebten sei; dass sie damit eifrig fortfahrend ihrem Meister treu in den Spuren folgen. Sie sehen vollständig davon ab, dass sie kein wahres, inneres Gefühl (zuweilen sogar keinen Gegenstand ihrer Liebe, wie Klamer SCHMID [!]) haben, und sie wissen nicht, dass es ihnen durchaus an dichterischer Empfindung gebricht. Sie verlassen schon in ihren Bearbeitungen petrarchischer Sonette und Canzonen die gegebene Form, um die Gedanken des Dichters in spielende anakreontische Metra umzusetzen. Sie sehen nicht ein, welch’ ein Widerspruch dieses ist, sie begreifen nicht, dass die Beibehaltung der Formen PETRARCAS eine unerlässliche Bedingung für die Erhaltung seiner Gedanken sei. Sie begreifen es nicht,

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Gleim: Sämmtliche Werke, S. 339f. Vgl. Canz. 162: Lieti fiori et felici; Canz. 243: Fresco, ombroso, fiorito et verde colle; Petrarca: Canzoniere, S. 744 und 986. Gleim: Sämmtliche Werke, S. 341; die Datierung der Liebesbegegnung findet sich bei Petrarca in Canz. 211, v. 12f., Petrarca: Canzoniere, S. 896. Es finden sich weitere Beispiele von Götz, von Uz, eine Sammlung Phantasien nach PETRARCAS Manier (1772) des späteren Sonettdichters Klamer Schmidt, Gedichte von Johann Georg Jacobi, Göckingk, Michaelis, Friedrich Schmit, Daniel Schiebeler und zahlreiche Dokumente der Petrarca-Begeisterung im Halberstädter Anakreontiker-Kreis; Söderhjelm, S. 13f.; Theodor Feigel: Vom Wesen der Anakreontik und ihrem Verlauf im Halberstädter Dichterkreis mit besonderer Berücksichtigung Klamer Schmidts. Phil. Diss. Marburg 1909, S. 75–85; Pacini, S. 34–37; Livescu-Leahu, S. 80–111.

383 aber unbewusst merken sie, wie schwer es geht, und dann ziehen sie ihre anderen Muster, die ihnen mehr geläufig sind, herbei und mischen petrarchischen Platonismus mit anakreontischer Lüsternheit oder horazianischem Epikureismus, die tief empfundenen Betrachtungen des Italieners mit den leichten, äusserlichen, geblümten Spielereien der französi60 schen Erotiker.

Hier wird deutlich, wie sehr sich die Semantik des Gefühls zum Ende des 19. Jahrhunderts hin verändert hat, wobei die Qualität des Sentiments auch im spätromantischen Geist der Literaturwissenschaft weiterhin die ausschlaggebende Rolle spielt: »wahres, inneres Gefühl«, wie es inzwischen heißt. Das dezidiert historische Verstehen eines Petrarca, das von der Einflussforschung hier eingeklagt wird, ist allerdings nicht das Anliegen der Dichter des Zeitalters der Aufklärung. Dass sie den petrarkischen Platonismus mit seinem Leib-SeeleDualismus umformen, ist vielmehr ihr zentrales Telos. Es ist erforderlich, um die Positivierung des sinnlichen Affekts umzusetzen, in dessen Zeichen Petrarca im 18. Jahrhundert überhaupt erst die Bühne betritt.61 Diese grundlegende Verschiebung erlaubt es, dass die Figur des sensiblen Petrarca die sich wandelnden literarischen Moden überdauert. Als in den siebziger Jahren das neue Sonett auftaucht, herrscht bereits der Tonfall des Sturm und Drang. Ein eigenwilliges Beispiel eines Sturm-und-Drang-Petrarca noch außerhalb des Sonetts stellt der Zyklus Petrarch von Jakob Michael Reinhold Lenz von 1774 dar, der sich der petrarkischen Kanzonenform annimmt und der seinen Helden Petrarca ganz nach Art eines bürgerlichen Werther schildert. Dieser Bezug wiederum ist kein zufälliger, ist doch ein Vorbild des Werther, die Figur des Mont Preux in Rousseaus Nouvelle Héloïse, reichlich mit Zügen petrarkischer Liebesentsagung versehen. Insofern kehrt hier ein paradigmatisches Liebeskonzept des 18. Jahrhunderts über die Werther-Gestalt in die PetrarcaVorstellung zurück.62 Signifikant ist dabei wiederum der charakteristische Unterschied der bei Rousseau im Grunde in der fernen Nachfolge der Préciosité und damit auch in guter französischer Tradition stehenden ethischen Leitlinie der entsagenden Affektbeherrschung, wie sie in der Gestalt der Julie gezeichnet ist, im Unterschied zur deutschen Tendenz einer weitgehenden Positivierung und religiösen Überhöhung des Liebesaffekts.63 Konsequenterweise wird Petrarca bei Lenz zum tragischen Opfer seiner Leidenschaft, wobei sich gerade im Untergang die Identität des Subjekts gegen die Mechanismen der Gesell——————— 60 61 62 63

Söderhjelm, S. 18f. Als ein ›Verfehlen‹ des Vorbilds beschreibt selbst Korch noch diese konstitutive Differenz, die damit letztlich noch dem Muster der älteren Einflussforschung folgt; Korch, S. 73–94. Vgl. auch Jörg-Ulrich Fechner: Die alten Leiden des jungen Werthers. Goethes Roman aus petrarkistischer Sicht. In: Arcadia 17 (1982) 1–15. Mit Akzent auf den Unterschied von Goethes Jugend- und Alterswerk weist darauf Voisine hin. Die Differenz entspricht jedoch auch langfristigen nationalkulturellen und konfessionellen Tendenzen. Jacques Voisine: Von den »Wonnen des Gefühls« zum »Bildungsroman«. Der Einfluß der ›Neuen Heloise‹ auf die Generation des ›Werther‹. Übs. von Margot Staerk. In: Goethes ›Werther‹. Kritik und Forschung. Hg. von Hans Peter Herrmann. Darmstadt 1994, S. 174–192; zuerst frz. in: Études germaniques 5 (1950).

384 schaft zu profilieren vermag. Damit kehrt eine Konfliktstruktur in die Figur zurück, die die Aufnahme der Leidensthematik, der Melancholie und der entsprechenden petrarkischen Stilfiguren erlaubt.64 Lenz weist gleich in einem Vorbericht darauf hin, dass er nicht den ›ängstlichgetreuen Geschichtsschreiber‹ zu machen gedenke, zugleich aber vermerkt er die auf die Lauraliebe bezogenen Lebensdaten des historischen Petrarca. Sein mehrteiliges Gedicht formt die italienischen Kanzonenstanzen nach, allerdings nur äußerlich in unregelmäßigen paargereimten Versen. Petrarca wird anfangs als Muse angerufen und idealistisch markiert als derjenige, »den itzt der Tod | getraut mit Lauren hat«.65 Die Liebe wird als universale sympathetische Kraft beschworen (125) und Petrarca als ihr authentischer Sänger: »Du einziger, der fühlte was er sang« (125, v. I,21). Sein Charakter ist »Ein junges offnes Herz, ganz dem Vergnügen | gestimmt« (v. I,23f.), eine Gestalt des Aufklärungszeitalters also, die vom Affekt erfasst wird: Ein Blick, ein Blitz: und ewig wird es wüten Das unglückselge Feur, sein ganzes Sein Ward nun Verlängerung der höchsten Pein Sie ging um Gottes Leiden anzubeten Und ahndte nicht, sie sei bestimmt zu töten, Zu peinigen, ach, ein ihr ähnlich Herz, Sie aller Menschen Lust, sein ewger Schmerz. [125]

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Die ursprünglich immer asymmetrische petrarkische Liebe ist nun wechselseitig und durch Ähnlichkeit im Herzen begründet. Die Begegnung in der Kirche wird aufgegriffen. Die dolendi voluptas aber rührt nicht aus einer dem Affekt eigenen Problematik, sondern aus dessen Konflikt mit äußeren Widerständen. Der traditionelle Konflikt von Affekt und Norm wird zum modernen Konflikt von Subjekt und Gesellschaft. Die Schönheitsattribute Lauras dienen der religiösen Überhöhung des Affekts selbst: »es war nichts Sterbliches, ihr Gehen« (125, v. I,39), »Engel flammten mit, | Unzähliche in ihren goldnen Haaren« (126, v. I,42f.). Petrarca spricht zu ihr und versucht »gebrochne halbe Töne | Zu stammeln« (126, v. I,68f.), es ist die reine Sprache des Affekts. In der an das Gedicht anschließenden Vorrede zu seiner Kanzonenübersetzung formuliert Lenz dies nochmals explizit. Er möchte Petrarca so übersetzen, dass »aber auch das ganze Abgebrochene, Stoßweise [!] Seufzende, Notgedrungene, wahrhaftig Leidenschaftliche des Originals in die Übersetzung hinübergetragen werden können« (134). Die Positivierung und religiöse Überhöhung der Liebe kommt im folgenden geradezu paradigmatisch zum Ausdruck: Wie war die Andacht rein in Lillas Mauren! Wie betete Petrarch zu seiner Lauren

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Vgl. auch die detaillierte Analyse des Texts bei Korch, die auf die Passionsanalogien und auf die Parallele zu Tasso hinweist; Korch, S. 183–199. Jakob Michael Reinhold Lenz: Petrarch. Ein Gedicht aus seinen Liedern gezogen. In: J.M.R. Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. München, Wien 1987, Bd. 3, S. 124–136, hier: S. 124, v. I,1f.

385 Und Laura zu Petrarch. Der Gott der sie Erschaffen und erlöst, sahs ohne Neid, verzieh. Was konnt’ er Würdger’s sehn auf diesem Schattenrisse Von Welt, den er illuminiert, als Küsse Zwei sich verwandter Seelen, die sein Bild In ihren Augen wiesen, die sein Geist erfüllt. [...] Entzog sie gleich ihm heut von Männerherzen Das edelste. Schon fühlt’ er seine Schmerzen Schon sah er ihn auf seinem Angesicht Vor Lauren hingestreckt – und ging nicht ins Gericht. [127]

I,85

I,90 I,95

Die Gottgemäßheit einer Liebe verwandter Seelen ist die diametrale Verkehrung der petrarkischen Konstellation, die kaum expliziter auszudrücken wäre. Im zweiten Gesang konstruiert Lenz nun eine Werbung des adligen Colonna um Laura und installiert so eine Dreiecksbeziehung im Sinn der Nouvelle Héloïse oder Werthers, grundiert von einem Gegensatz zwischen der Authentizität des subjektiven Gefühls und der Macht gesellschaftlichen Ansehens: Ein Schatz kann nie in schlimmre Hände fallen Als in des Reichen. Gott du weißts, von allen Die jemals liebten, härmte niemand sich Mit tiefrer innrer Sehnsucht ab als ich – [129]

II,35

Als Laura Colonna erhört, verfällt der Dichter in eine Melancholie, die von Petrarcas Solo et pensoso inspiriert ist:66 So bald er das erfuhr, sah unser Dichter An allen die ihm nahten, Furiengesichter, Von jedem Menschenblick gepeinigt, schoß der Strom Ins Meer zurück, er flog ins Vaterland, nach Rom. [130]

II,65

Liebesmelancholie und Todeswunsch schließen sich an, schließlich eine Reise zu Laura. Das Wiedersehen gerät zu Petrarcas Liebestod. Lauras Liebe wird nochmals manifest: »Und Lauren mit Geschrei vom Ritter sich | Losreißen sah und auf ihn zu – –« (133, v. III,91f.), Petrarca stirbt und Laura klagt Gott an: »Die Träne, die die schwarze Glut umzog, | Die aus dem schönsten Aug’ erzürnt gen Himmel flog, | Ihn anzuklagen« (v. III,99ff.), und Gott klagt mit: »die für Reue zittern | Ihn machte – laut in klagenden Gewittern | bezeugt er seinen Anteil« (v. III,101ff.). Der tödliche Ausgang wird zur Demonstration der Authentizität der – gottgemäßen – Liebe des bürgerlichen Subjekts und Petrarca wird zur modernen Gestalt. Die Aktualisierung des petrarkischen Liebesdiskurses hat sich in den vorgeführten Beispielen außerhalb oder zumindest auf einer Gattungsgrenze des Sonetts vollzogen, die es jeweils erlaubt, den Gebrauch der Form prinzipiell zu dementieren. Die Differenz zur Gattungstradition wird entschieden festgehalten und gepflegt. Der petrarkische Diskurs selbst hat sich dabei über die bloße Demonstration eines aufklärerischen Optimismus’ bereits deutlich hinausbe——————— 66

Canz. 35; Petrarca: Canzoniere, S. 189.

386 wegt. Die gesellschaftlichen Konfliktlagen des revolutionären Zeitalters werden zunehmend in die antagonistische Gestaltung des seelischen Innenraums hineingetragen. Dem entspricht inzwischen auch nicht mehr die betont leichtfüßige scherzhaft-gesellige Formensprache des sogenannten Rokoko, wie sie in den anakreontischen Versen zum Ausdruck kam. Die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts werden zur Dekade der Wiedergeburt des Sonetts.

4.4

Authentischer Affektausdruck und Sonett als Elegie

Im Vorwort ihrer Elegiac Sonnets von 1784 schreibt Charlotte Smith (1749– 1806), ihre kleinen Gedichte seien nicht eigentlich legitime Sonette, »but they consist of fourteen lines, and appear to me no improper vehicle for a single Sentiment,«67 wobei sie als Anlass für diese Gedichte autobiographische Situationen benennt: »Some very melancholy moments have been beguiled by expressing in verse the sensations those moments brought.«68 Neue Sonette tauchen in England mit einem leichten Vorsprung gegenüber Deutschland auf, wobei die Frage einer Einflussnahme unklar ist.69 Die Ausgangssituation ist in England für die Gattung etwas günstiger, insofern hier die Sonette von John Milton ein Vorbild bereitstellen, das eine höhere Anschlussfähigkeit besaß als die außer Kurs geratenen Barocksonette der deutschen Tradition. Damit verbunden war in England eine Abwendung von der Liebesthematik und ein stärkerer Kasualbezug. Als ein wichtiger Anreger des neuen Sonetts gelten Thomas Edwards (1699–1757), der bereits 1748 vierzehn Sonette veröffentlicht,70 und der Oxforder Literaturprofessor Thomas Warton (1728–90), dessen Texte früh unter seinen Studenten kursierten, bevor sie 1777 erschienen. Sie machten die Natur zu ihrem Gegenstand und hatten damit eine starke Wirkung auf die Folgezeit.71 Erst später berühmt wurde auch das Trauergedicht, das Thomas Gray 1742 auf den Tod seines Freundes Richard West verfasste, und das in beispielhafter Weise Natur und Seelenzustand im Ausdruck unüberwindlichen Leids in eine Beziehung zueinander setzt. Grays Sonett ist durchgängig ——————— 67 68 69

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Smith: The Poems, S. 3. Mergenthal: Charlotte Smith, S. 69f. Sonette im traditionellen Stil gab es vereinzelt immer wieder, so beispielsweise von Johannes Westermann (1742–1784), der sich um eine thematische Erneuerung bemühte, formal aber im Reimschema und in Alexandrinern der frühneuzeitlichen Tradition folgte; J. Westermann: Die Allerneusten Sonneten, Den Liebhabern der Dichtkunst zum Vergnügen. Bremen 1765–67; vgl.: Welti, S. 143–147; drei Beispiele abgedruckt in: Das deutsche Sonett. Hg. Fechner 1969, S. 115f. Solche Versuche blieben gattungsgeschichtlich ohne Folgen. Auch in England werden mehr als in Deutschland immer wieder vereinzelt Sonette geschrieben, die meist erst Jahrzehnte später zum Druck gelangen, und die für die Wiedergeburt des Sonetts kaum eine Bedeutung haben; vgl.: Havens, S. 490f. Edwards bezieht sich dabei auf Spenser, Shakespeare und die Italiener und entspricht zugleich dem Miltonschen Vorbild; Havens, S. 493. Havens, S. 497; Beispieltexte: A Century of Sonnets. The Romantic-Era Revival, 1750– 1850. Hg. von Paula R. Feldman und Daniel Robinson. New York, Oxford 1999, S. 27.

387 alternierend gereimt (a b a b a b a b c d c d c d ), was jedoch nicht auf eine Verbindung zum alten sizilianischen Schema hinweist, sondern eher auf eine solche zum schlichten Distichon der Elegie. Die Analogie des Sonetts zur Elegie, die nun zunehmend auftaucht, kongruiert offenbar mit der sentimentalen Interpretation der Form. Man hat Grays Trauergedicht als die bewegende Kraft im Hintergrund der romantischen Sonetterneuerung bezeichnet.72 Die paradigmatische Korrelation von Naturbild und der Melancholie des Subjekts ist charakteristisch: THOMAS GRAY Sonnet On the Death of Mr. Richard West In vain to me the smiling mornings shine, And redd’ning Phœbus lifts his golden fire: The birds in vain their amorous descant join; Or chearful fields resume their green attire: These ears, alas! for other notes repine, A different object do these eyes require. My lonely anguish melts no heart but mine; And in my breast the imperfect joys expire. Yet morning smiles the busy race to chear, And new-born pleasure brings to happier men: The fields to all their wonted tribute bear: To warm their little loves the birds complain: I fruitless mourn to him, that cannot hear, 73 And weep the more, because I weep in vain.

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Das sogenannte sentimentale Sonett spielt in England eine vorherrschende Rolle bis in die Romantik hinein. Besonders wirkungsvoll werden die Elegiac Sonnets von Charlotte Smith, die den elegisch-sentimentalen Charakter bereits im Titel führen und die 1784 erscheinen, um zahlreiche Auflagen bis ins 19. Jahrhundert zu erleben.74 Smith war zugleich eine Autorin erfolgreicher sentimentaler Romane. Sie nutzt das Sonett zum Ausdruck eines »single sentiment«, das häufig mit Naturszenen verbunden wird. Der formale Anknüpfungspunkt ist damit vor allem die Kürze und Geschlossenheit, die geeignet erscheint, das einzelne Gefühl in seiner relativen Einfachheit aufzunehmen. Im Mittelpunkt steht das empfindende Subjekt, die bevorzugte Gefühlshaltung ist die der Traurigkeit und der Melancholie, was sie wie bereits erwähnt in der Vorrede zu ihrem Sonettbuch explizit formuliert. Die inhaltliche Fokussierung wird durch die Assoziation zur Elegie gedeckt. Liebessonette finden sich weiterhin kaum, ——————— 72

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»Gray’s elegiac sonnet, the suppressed record of his unfulfilled secret life, is the motive force underlying the entire Romantic revival of the sonnet, a model for hundreds of poets [...]«; Curran: Poetic Form, S. 30. [Thomas Gray:] The Poems of Mr. Gray. To which are Prefixed Memoirs of his Life and Writings by W. Mason, M.A. London 21775, S. 60 (Erstdruck); auch in: A Century of Sonnets, S. 26; Thomas Gray: English Poems. Original and Translated from the Norse and Welsh. Hg. von D.C. Tovey. Cambridge 1922, S. 102. Charlotte Smith: Elegiac Sonnets. 1789. Facsimile reprint, Oxford 1992.

388 allerdings adaptiert sie die petrarkische Rollenhaltung des unerwidert Liebenden in äußerst bezeichnender Weise in fünf Sonetten Supposed to be written by Werter.75 Signifikant ist im folgenden Beispiel die Kreuzung des petrarkischen Einsamkeitsmotivs mit Wertherscher Todessehnsucht und einer entsprechenden Naturszenerie. Das Reimschema ist elisabethanisch: CHARLOTTE SMITH By the Same. To Solitude (1784) O Solitude! to thy sequester’d vale I come to hide my sorrow and my tears, And to thy echoes tell the mournful tale Which scarce I trust to pitying Friendship’s ears! Amidst thy wild-woods, and untrodden glades, No sounds but those of melancholy move; And the low winds that die among thy shades, Seem like soft Pity’s sighs for hopeless love! And sure some story of despair and pain, In you deep copse thy murm’ring doves relate; And, hark, methinks in that long plaintive strain, Thine own sweet songstress weeps my wayward fate! Ah, Nymph! that fate assist me to endure, 76 And bear awhile – what Death alone can cure!

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Das Sonett nimmt hier einen Reihungscharakter an, indem verschiedenen Details der Naturszene bestimmte Empfindungswerte zugeordnet werden, die sich in ihrer additiven Anordnung zu einem intensiven Bild fügen. Formale Gesichtspunkte des Sonetts spielen dabei keine vorherrschende Rolle, lediglich führt das elisabethanische Reimschema zur Bündelung in einem Schlusscouplet. Als Ausdruck der bestimmten Empfindung und speziell der Melancholie des Subjekts ist es zurückgebunden an eine biographische Beglaubigung. Smith fordert ihre Leser in der Vorrede auf, sie selbst als Sprecherin der Gedichte aufzufassen und sie mit »sensibility of heart« und »simplicity of taste« zu lesen.77 Diese autobiographische Rückbindung der Empfindung wird beglaubigt durch die situative Konkretisation der Naturerlebnisse. So richten sich zahlreiche von Smiths Sonetten an bestimmte, historisch genau umrissene Orte. ——————— 75

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Mergenthal: Charlotte Smith, S. 72; zu Smith auch: Florence May Anna Hilbish: Charlotte Smith, poet and novelist (1749–1806). Univ. Diss. Philadelphia 1941; Loraine Fletcher: Charlotte Smith: a critical biography. Basingstoke, usw. 1998; zu den Sonetten: Havens, S. 502f.; Curran: Poetic Form, S. 30ff.; Brent Raycroft: From Charlotte Smith to Nehemiah Higginbottom: Revising the Genealogy of the Early Romantic Sonnet. In: European Romantic Review 9 (1998) 363–392; auch in feministischer Perspektive haben Smith und andere Sonettistinnen des 18. Jahrhunderts verstärkte Aufmerksamkeit erfahren: Stella Brooks: The Sonnets of Charlotte Smith. In: Critical Survey 4 (1992) 9–21; Deborah Kennedy: Thorns and Roses. The Sonnets of Charlotte Smith. In: Women’s Writing 2.1 (1995) 43–53; Daniel Robinson: Reviving the Sonnet. Women Romantic Poets and the Sonnet Claim. In: European Romantic Review 6 (1995) 98–127; Sarah M. Zimmerman: Romanticism, lyricism, and history. Albany, N.Y. 1999, S. 39–72. Smith: The Poems, S. 27. Smith: The Poems, S. 3; vgl.: Mergenthal, S. 69.

389 Topisch geradezu wird hier das Fluss-Sonett, das bekanntlich eine petrarkische Tradition besitzt. So tragen ihre Sonette Titel wie Written on the sea shore. – October, 1784, To the River Arun, To melancholy. Written on the banks of the Arun, October 1785, (alle zuerst 1786) oder gar: Written September 1791, during a remarkable thunder storm, in which the moon was perfectly clear, while the tempest gathered in various directions near the earth (1792).78 Man hat in feministischer Perspektive die Dominanz von Autorinnen im England des späten 18. Jahrhunderts mit genau dieser Kombination alltäglicher Detailtreue einerseits und einer durch die gesellschaftliche Randstellung motivierten gebrochenen Sensibilität in Verbindung gebracht, die die subjektive Identität in ihrer Differenzerfahrung zum äußeren Kontext informiert.79 Die Verbindung von Empfindung, autobiographisch beglaubigter Subjektivität und konkreter Naturszenerie beherrscht in England bis zum Ende des Jahrhunderts auch das Raisonnement über das Sonett, soweit es nicht die Form betrifft. So formuliert Samuel Taylor Coleridge in der Vorrede zu seinen Sonetten von 1796: »The Sonnet then is a small poem, in which some lonely feeling is developed«, und: In a Sonnet then we require a developement of some lonely feeling, by whatever cause it may have been excited; but those Sonnets appear to me the most exquisite, in which moral Sentiments, Affections, or Feelings, are deduced from, and associated with, the scenery of Nature. Such compositions generate a habit of thought highly favourable to delicacy of character. They create a sweet and indissoluble union between the intellectual and the material world. Easily remembered from their briefness, and interesting alike to the eye and the affections, these are the poems which we can ›lay up in our heart, and our soul,‹ and repeat them ›when we walk by the way, and when we lie down, and when we rise up.‹ Hence the Sonnets of BOWLES derive their marked superiority over all other Sonnets; 80 hence they domesticate with the heart, and become, as it were, a part of our identity.

Das sentimentale Sonett erlebt in den achtziger Jahren in England eine starke Verbreitung,81 wobei der für Coleridge wichtigste Autor im Anschluss an Charlotte Smith William Lisle Bowles ist (1762–1850). Seine Fourteen Sonnets, written chiefly on Picturesque Spots during a Tour von 1789 befolgen im Unterschied zu ihr eher die italienischen Reimschemata, im sentimentalen Diskurs aber intensivieren sie noch die biographisch konkretisierte Naturszene. Bowles fügt die Sonette zu einem Reisezyklus zusammen. In einer späteren Vorrede (1805) verweist er darauf, dass seine Gedichte vom Tod einer von ihm geliebten jungen Frau angeregt worden seien, offenbar im Unterschied zu solchen Dichtungen, bei denen der Dichter gar keinen persönlichen Anteil am

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Smith: The Poems, S. 20. 30. 34. 52. »The two features of women’s poetry we have been examining, an investment in quotidian tones and details and a portrayal of alienated sensibility, [...].« Stuart Curran: Romantic Poetry. The I Altered. In: Romanticism and Feminism. Hg. von Anne K. Mellor. Bloomington 1988, S. 185–207, bes. S. 199–203, hier: S. 203. Coleridge: The Complete Poetical Works, Vol. 2, S. 1139. Curran: Poetic Form, S. 30.

390 beschriebenen Leid habe.82 Bowles Reisesonette kennen ebenfalls wieder das Fluss-Sonett in zahlreichen Varianten: »To the River Tweed«, »On leaving a Village in Scotland«, »To the River Itchin, Near Winton«, »At Dover Cliffs, July 20, 1787«.83 In Deutschland taucht das Sonett in den siebziger Jahren mit leichter Verzögerung gegenüber England und auch in zunächst noch deutlich geringerer Quantität auf, ohne dass man konkrete Einflüsse nachzeichnen könnte. Wie in England herrscht auch in Deutschland große formale Freiheit, wovon im folgenden Abschnitt die Rede sein wird. Gleichwohl geht das Sonett formal wie im Affektdiskurs hier eigene Wege. Das sentimentale Natursonett spielt in Deutschland nicht die gleiche Rolle, es lässt sich aber ebenfalls die Kombination von Affektausdruck und situativ-biographischer Beglaubigung nachweisen. Das auf das Biographische gelenkte Interesse war schon an der Entwicklung des Petrarca-Diskurses abzulesen. Nahezu gleichzeitig mit dem Werk Meinhards über die italienische Dichtung erscheint in Paris 1764 eine monumentale Petrarca-Darstellung des Abbé Jacques-François de Sade, die bis 1774 unter Beteiligung des Sonettpioniers Klamer Schmidt und auch Wilhelm Heinses ins Deutsche übersetzt wird.84 Das Interesse am Wiederaufgreifen des Sonetts wächst langsam an. Nach einigen bereits erwähnten einzelnen Versuchen folgen nach und nach Zeitschriftenveröffentlichungen mit unterschiedlicher Reichweite und Wirkung. Ein Zeichen für das Interesse Gleims am Sonett ist sein bereits mehrfach erwähntes Gedicht von 1749 mit dem Titel Belinde. Ein Sonnet. Es besteht aus jambischen Fünfhebern mit einer für das Jahrhundert charakteristischen Reimordnung a b b a b a b a c d c d c d . Die liedhafte Auffassung und das prinzipiell gebrochene Verhältnis zum Sonett kommt indirekt auch darin zum Ausdruck, dass Gleim den Text später zu einem zweistrophigen Lied Belinde mit dem alternierenden Reimschema a b a b a b c d c d c d verkürzt hat.85 Im Göttinger Musenalmanach von 1773 findet sich als Kuriosität Ludwig August Unzers (1748–1774) ›chinesisches Sonett‹ Tcheou. Unzer stand ebenfalls dem Kreis um Gleim nahe. Das Sonett ist offenbar im Zusammenhang seines Buches über die chinesische Gartenkunst entstanden.86 1776 und 1777 folgen dann im Teutschen ——————— 82

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Die Behauptung, diese Frau sei gestorben, ist unwahr; es wird also vom Dichter eine Fiktion eingeschoben, um diese Beglaubigung tatsächlich zu gewährleisten, vielleicht auch, um eine Wiederanknüpfung an die Realität zu verhindern; Bowles war immerhin Kleriker. Die Zusammenhänge diskutiert Curran: Poetic Form, S. 32; vgl. zu Bowles auch Havens, S. 514f. Alle Titel zuerst 1789, hier zitiert nach William Lisle Bowles: Sonnets and Other Poems. London 71800, S. 8–13; leichter greifbar auch in: A Century of Sonnets, S. 44–48. Abbé de Sade: Nachrichten zu dem Leben des Franz Petrarca (Die Übersetzer waren neben Klamer Schmidt Johann Lorenz Benzler (1747–1817) und Wilhelm Heinse); Feigel, S. 89– 91; Korch, S. 40–49; vgl. zu De Sade auch unten, S. 456. Die spätere Liedfassung ist in der Körteschen Ausgabe gedruckt; beide Varianten in Gleim: Versuch in Scherzhaften Liedern und Lieder, S. 160 und 227. Ludwig August Unzer: Ueber die chinesischen Gärten. Eine Abhandlung. Lemgo 1773; das Sonett: Göttinger Musenalmanach 1773, S. 124; auch in: Das deutsche Sonett. Hg. Fechner 1969, S. 117; vgl. außerdem Feigel, S. 86 Anm. 8.

391 Merkur in mehreren Folgen Sonette von Klamer Schmidt (1746–1824) und 1779 stehen neun Sonette in den in Nürnberg erscheinenden Gedichten von Friedrich Schmit (1744–1814).87 Den Durchbruch und weite Anerkennung erlebt die Gattung erst mit dem Sonettzyklus in der zweibändigen Gedichtausgabe Gottfried August Bürgers im Jahr 1789, fünf Jahre später als die Elegiac Sonnets der Charlotte Smith. Das neuerwachte Interesse an Petrarca hatte dazu geführt, dass das Sonett gleichsam an der Tagesordnung war. Die Motivation ging allerdings vom petrarkischen Liebesdiskurs aus und führte nicht unmittelbar zum Sonett, gegen das die Vorbehalte der Künstlichkeit und der mangelnden Authentizität noch stark waren. Im Zentrum der entsprechenden Äußerungen etwa von Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der hier als Mentor gelten kann, steht denn auch nicht die Forderung nach dem Sonett, sondern die nach einem neuen Petrarca, was zumindest eine Verbindung von Form- und Diskursgebrauch meint. Die Konzentration auf den Affekt zeigt sich in diesem Zusammenhang auch in dem Dichterdialog zwischen Gleim und Schmidt um diese Frage. XV. Halberstadt den 25 Dec. 1770. Herr C. Gleim an den Verfasser, in einen geschenckten Petrarch geschrieben. Werd’ uns Petrarch Amintas; es zu werden, Hast du das Herz, hast du den Geist: Nur Laura fehlet, und auf Erden Ist keine; keine reiszt Zu staunender Betrachtung dich empor, Als, die Petrarch verlor. Im Himmel nur, im Himmel suche 88 Das Mädchen, und in diesem Buche!

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In einem Brief vom April 1771 wünscht er Schmidt die Begegnung mit einer entsprechenden Muse: Wenn Sie die Quelle bey der Molkenmühle diesen Sommer oft besuchen, und dann einmahl eine Laura, neben ihr sitzend, antreffen; dann, hoff’ ich, wird die Vaterländische Quelle zu einem Vaterländischen Petrarch sie begeistern. Das Mädchen, oder die Quelle 89 wird dieses Wunder zu Wege bringen.

Schmidt antwortet in einem Gedicht und weist Gleim selbst die Rolle des neuen Petrarca zu, da zwar einerseits: »Für meinen höchsten Wunsch auf Erden | Den Deutschen ein Petrarch zu werden, | Fehlt Laurens Gegenwart und eine Quelle mir!« (114). Der in der Literatur immer wieder kommentierte Mangel einer ——————— 87 88

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Friedrich Schmit: Gedichte. Nürnberg 1779; vgl. Welti, S. 150f.; Feigel, S. 88. Klamer Eberhard Karl Schmidt: Phantasien nach Petrarka’s Manier. Halberstadt, Lemgo 1772, S. 110f., vgl. dazu: Söderhjelm, S. 14; Feigel, S. 77; Livescu-Leahu, S. 92f.; Pacini, S. 35; Korch, S. 95–120. Halberstadt den 14 ten April 1771, Herr C. Gleim an den Verfasser. In: Schmidt: Phantasien nach Petrarka’s Manier, S. 112f.

392 Laura erweist sich bei näherem Zusehen als ein Huldigungstopos für den älteren Gleim: KLAMER EBERHARD KARL SCHMIDT XVII. Antwort des Verfassers. [...] Allein das Mädchen und die Quelle, Gesetzt, ich hätte sie, Sie führten mich vielleicht bis an des Tempels Schwelle, Doch in den Tempel nie: Zu diesem Sitz der Sympathie, Wo, statt der Musen, Engel sangen; Ist, außer dir, o Gleim, noch keiner eingegangen, Weil keiner, ausser dir, Petrarchens Geist empfangen. [...] [116f.]

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Ungeachtet dieser Bescheidenheitstopik lässt Schmidt ein Jahr später seine am stärksten petrarkisierende Dichtung folgen, die Elegieen an meine Minna, 30 durchnummerierte Gedichte in Anlehnung an Petrarca mit Texten wie An Minna’s Hände, die sich einzelnen Körperteilen zuwenden, oder dem auf den Karfreitag, dem Tag, an dem Petrarca seiner Laura begegnet sein will. Drei ausdrücklich ›nach dem Sonett des Petrarka‹ benannte Texte verzichten gleichwohl wie alle anderen noch durchweg auf die Sonettform.90 Es ist so überraschend wie bezeichnend, dass Klamer Schmidt wie etwas später und unabhängig von ihm Charlotte Smith den petrarkischen Diskurs auf die Form der Elegie bezieht, wobei vor allem deren affektiv-sentimentaler Ausdruckswert zum Fokus der Adaption wird. Angesichts der Schmidtschen Versuche in der Nachahmung Petrarcas warnt Leopold von Goeckingk in einem scherzhaften Sinngedicht vor einer rein imaginierten Empfindung.91 Dass dem neuen Petrarca die lebendige Erfahrung fehle, ist schon zeitgenössisch zum Topos erhoben und gern kommentiert worden. In einem Brief an Johann Georg Jacobi wundert sich Johann Heinrich Merck, wie Schmidt die bei Petrarca gegebene »Stimmung der Seele« vernachlässigen konnte, indem er in den Kornfeldern des Halberstädtischen Himmels ohne Laune, ohne Catholische Religion, ohne Provenzalische Sprache, ohne furchtsames Schaudern vor dem Annahen seiner Gottheit, ohne Jahre lang geprüfte Sehnsucht, ohne Kampf der Platonischen und irrdischen Liebe, bloß auf seine ausgesuchte Sprache und Gleimsche Harmonie gestüzt, so was hat 92 unternehmen können.

Die Übertragung solcher Erwartungen auf die Sonettform war offenbar nach wie vor nicht selbstverständlich. Immerhin hatte Meinhard schon 1763, wie im ——————— 90 91 92

Klamer Eberhard Karl Schmidt: Elegieen an meine Minna. Lemgo 1773, S. 34–40. Feigel, S. 77; Göckingks Verse An H. Schmidt in Halberstadt in Leopold F. von Göckingk: Sinngedichte. 2 Bde., Halberstadt 1772, 2. Hundert, S. 11. Brief Merck’s an J. G. Jacobi. In: Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache Litteratur und Kunst 5 (1856) 171–173, hier: S. 173; vgl. auch Feigel, S. 84f.

393 letzten Abschnitt (S. 376) zitiert, den empfindsamen Charakter des italienischen Sonetts betont. Dies greift Unzer, der Dichter des ›chinesischen Sonetts‹ von 1773, im Rahmen seiner Übertragung Giovan Maria Crescimbenis von 1774 auf, wenn er auf die Möglichkeiten des Affektausdrucks im Sonett hinweist: Das Sonett eigne sich demnach besonders »zum Ausdruck aller sanften Empfindungen. Der gemäßigte Gang des Sonetts stimmt sehr gut mit der zärtlichen Leidenschaft überein, wenn sie zumal so viel Spekulatives besitzt, wie die platonische Liebe der wälschen Dichter.«93 Unzers Darstellung führt vermutlich auch als erste die neue italianisierende Schreibweise ›Sonett‹ ein, die Bürger dann aufgreifen wird. Meinhard und Schmidt schrieben demgegenüber noch ›Sonnett‹. Unzer empfiehlt ausdrücklich ein Wiederaufgreifen der Sonettdichtung gerade wegen ihres empfindsamen Charakters: »Es wäre zu wünschen, daß wir diese Dichtungsform nicht ganz aus unseren lyrischen Gedichten verbanneten, welche ohnehin bey uns sehr sententiös sind« (9f., Anm.). Dabei weist er Meinhards Kritik zurück, Petrarcas Sonette seien zum Schluss hin oft zu matt. Er formuliert eine ungewöhnlich elaborierte Beschreibung der Form, die die Abschnitte als liedhafte ›Strophen‹ und ›Halbstrophen‹ anspricht: Wenn man die Versart des Sonetts betrachtet; so findet man, daß sie am geschicktesten dazu ist, eine Empfindung, oder ein lebhaftes Bild auszudrücken, welches Anlaß zu einer geschickten Anwendung giebt. Die beiden ersten Strophen der Sonetts dienen dazu, diese Empfindung, dieses Bild, zu schildern; sie sind voll und harmonisch. Die beiden dreyzeiligen Halbstrophen verlangen ihrer Natur nach entweder einen beruhigten, gemäßigtern Affekt, oder die Sprache der Application der Betrachtung. Daher sind sie auch weniger melodisch, weniger schmeichelnd fürs Ohr. Der Dichter also, der im Dichten ein lenimen, eine Linderung seiner Schmerzen sucht, wählt sich das Sonett als die schicklichste Versart zu seinem Endzwecke. Er läßt anfänglich seiner Empfindung vollen Lauf. Ist im Dichten sein Affekt besänftigt worden; so ist es ja auch natürlich, daß die letzten Verse seines Gedichts einen gelassenern Ton, einen ruhigern Gang nehmen, der der Stimmung seines 94 Herzens angemessen ist.

Feigel vermutet, dass Schmidt sich von Unzers Empfehlung des Sonetts zu seinen eigenen Versuchen habe anregen lassen, und es gibt tatsächlich charakteristische Entsprechungen. Die Schmidtschen Sonette, die 1776/77 im Teutschen Merkur erscheinen, zeichnen sich durch eine gewisse thematische Breite aus, aber auch durch eine Unverbindlichkeit, die ihren Erfolg in Grenzen hielt. Die erste Serie von sechs Sonetten95 hat sowohl ein Freundschaftssonett mit petrarkischer Schifffahrtsmetaphorik (Monologe) als auch einen Schäferscherz (An die Wiese bey *) und ein Trauergedicht (Die todte Elmire) und ist also recht heterogen. Die ersten beiden sind Liebessonette im Sturm und Drang-Duktus und entsprechen recht gut der Unzerschen Charakterisierung: ——————— 93 94 95

Ludwig August Unzer: Nachrichten von den älteren erotischen Dichtern der Italiener. Hannover 1774, S. 9, vgl. auch: Feigel, S. 86. Unzer: Nachrichten, S. 23f. Das sechste, Ueber Doris Genesung, ist mit der unaufgelösten Sigle Fl. signiert und stammt möglicherweise nicht von Klamer Schmidt; es ist mit den beiden ersten auch abgedruckt in: Das deutsche Sonett. Hg. Fechner 1969, S. 119.

394 KLAMER EBERHARD KARL SCHMIDT: I. An Thais. O Thais, Thais, mein geliebtes Leben, Wenn Arm in Arm geschmiegt, und Herz auf Herz gedrückt, Mein Mund auf deinem nun der Liebe Blüten pflückt, So wüthig, ha! daß Stamm und Wurzel beben. Wenn von der Sprache leztem Feuerleben Nur noch ein Seufzer brennt, worinn das Herz erstickt; Wenn unsre Seelen, nun, ins Auge vorgerückt, Sich leiser fragen, leiser Antwort geben. Dann Thais, kraisen sich die Himmel und die Erden Wie Wirbel um mich her, woraus die Schlossen werden! Verwegen, wie ein Aar, der in die Sonne schaut, So schau’ ich zum Olymp, und frage, frage laut: »Ihr Götter, hab ich nicht Elysium auf Erden? »Für wenn doch habt ihr wohl das Eurige gebaut?«

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II. An ebendieselbe. Last auf Last, von hundert tausend Wonnen, Liegt auf meinem Wesen gar zu schwer, Wie das Rasen schwüler Mittagsonnen Auf dem Aerndte-Felde, das umher Funken sprüht; die Schnitter sind entronnen, Hände, Wagen, Tennen, bleiben leer; Zephir liegt, wie Raupen, angesponnen Auf den Blumen, Scherze nebenher! Lieb’, o Liebe, welche ein tödlich Wüten! Herz und Sinnen, meines Geistes Blüten, Stehn verbrannt, die Häupter all gesenkt: Ah! sie harren auf die schöne Stunde, Bis von Doris rosenrothem Munde 96 Sie ein Kuß mit neuer Wonne tränkt!

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Formal sind schon diese beiden Beispiele recht unterschiedlich: das erste überwiegend in Alexandrinern und mit umschlingenden Quartettreimen, das zweite in fünfhebigen Trochäen und kreuzgereimten Quartetten, worauf im folgenden Abschnitt noch einzugehen ist. Gleich das Eröffnungssonett aber wartet auf mit einer leidenschaftlichen gedoppelten Anrede, mit Bildern körperlicher Nähe, mit kraftgenialischem Ausruf und Vokabular, mit einer Äußerung des Liebesaffekts im Stil des Sturm und Drang also. Gelungen ist die Rücknahme dieses ›Feuerlebens der Sprache‹ in das stillere Seelengespräch der Augen im zweiten Quartett, während im Sextett eine Art Raisonnement einsetzt, das im Bild des zur Sonne fliegenden Adlers und eines mythologischen Kontexts das Liebesglück zu fassen sucht. Wie eingefangen erscheint die Leidenschaft in die Form, liest man den Text vor dem Hintergrund der Äußerungen von Unzer. Auch das zweite Sonett setzt ein mit einem gewichtigen Bild des Affekts und mit gedoppelten Termini. Dem ungewöhnlichen Bild von der ›Last der ——————— 96

Der Teutsche Merkur, April 1776, S. 10f.

395 Wonnen‹ folgt ab Vers 3 die Ausfaltung des agrarischen Vergleichsbereichs, der mit Enjambement ins zweite Quartett hinüberreicht und der wiederum mythologisch und möglicherweise als Reminiszenz an Petrarca97 stilistisch angehoben wird. Nicht schlüssig wirkt die Rede vom ›tödlichen Wüten‹ in bezug auf die ›Wonnen‹ in Vers 1, die wiederum von ›neuer Wonne‹ eines Kusses im Schlussvers ›getränkt‹ werden soll. Die Bilder gleiten zum Teil in spätgalanten Scherz aus und bleiben in der anakreontischen Positivität des Affekts befangen. Noch das Trauergedicht Die todte Elmire stellt die himmlische Wiederbegegnung als schäferliches Stelldichein dar: »O Engel, Engel, laß mich dein Gespiele werden!« Der Forderung einer Vertiefung des Affekts in der Nachahmung Petrarcas werden die Sonette Klamer Schmidts trotz ihres gattungsgeschichtlich innovativen Charakters nicht wirklich gerecht, und dies hat ihren literarischen und literaturgeschichtlichen Rang von Beginn an geschmälert.98 In der literaturwissenschaftlichen Rezeption werden ihm in der Regel die Sonette des Italienkenners Friedrich Schmit entgegengehalten. In dessen Gedichtsammlung von 1779 finden sich verstreut neun einzelne Sonette, darunter Einzelbeispiele, die der Forderung einfachen Gefühlsausdrucks in der kurzen Form des Sonetts besser entsprechen, ohne dass ihnen eine größere Wirkung beschieden gewesen wäre. Formal entsprechen die Texte denen im Teutschen Merkur.99 Das folgende Beispiel geht einigen der späteren Forderungen der Romantiker bereits entgegen. FRIEDRICH SCHMIT An den Mond Verloschen ist der Sonne Glanz nunmehr, Und düstre Nacht würd’ izt die Erde dekken. Doch, sanfter Mond, du milderst ihre Schreken Und kleidest dich in Sonnenschimmer sehr! Ihn streuest du wohlthätig um dich her, Läßt jeden Reiz nicht die Natur verstekken, Läßt manches Blümchen uns noch izt entdekken, Das unserm blik verborgen blieb bisher. So kleidet die Erinnrung in den Schimmer Des Glüks sich mir, das mir entfloh auf immer. Und heitert meines Schiksals dunkle Nacht, Zeigt mir ihr Bild, um die ich mich verzehre

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Canz. 310: Zephiro torna, e ‘l bel tempo rimena; Petrarca: Canzoniere, S. 1190. Vgl. das Urteil von Welti: »zumeist haben wir es mit anakreontischer Grazientändelei zu tun«, aber auch: »So hob KLAMER SCHMIDT die Form auf die Höhe der damaligen Lyrik und machte sie dadurch wieder lebensfähig«; Welti, S. 148. Schmit: Der Stern (S. 55, trochäisch); Sonnet an Fatme (91, troch.); An den Mond (157); Das Glük (160); An Julchen (162); An eine Freundin (163); Aufmunterung (165, troch.); Ergast an einige Blumenpflanzen, mit denen ihn Arriga kurz vor ihrer Abreise beschenkte (198); An das Glük (252). Schmit mischt gern fünf- und sechshebige Verse und er verwendet nicht selten identische Reimworte. Im Reimschema folgt er dem in der Zeit üblichen, das Fatme-Sonett gibt sich dagegen exotisch in sechs- und fünfhebigen paargereimten Trochäen A A b b A A b b C C d E E d . Vgl. auch: Welti, S. 150 und 151, Anm. 1–3.

396 Und ruft, wie du, der Wehmuth sanfte Zähre 100 Hervor, die süß mir alles Leiden macht.

Hier ist die Entsprechung von Affektausdruck und Naturbild in die Sonettgliederung eingeformt, so dass das Gedicht in den Quartetten in zwei Perioden zunächst das Licht der Gestirne und dann dessen Auswirkung auf die Natur beschreibt. Das erste untereinander reimende Verspaar der Terzette stellt in einem Satz den Vergleich von Naturbild und subjektiver Empfindung her, um in den Schlussversen dem Affekt der Wehmut Raum zu geben, der mit dem Antagonismus des ›süßen Leids‹ auf eine petrarkische Formel gebracht wird. Die Graphie des Sonetts folgt dem italienischen oder auch französischen Vorbild, das Reimschema dem überkommenen französischen. Der Weg lag offenbar nahe, doch bedurfte es eines stärkeren Modells, um dem Sonett als zeitgemäßer Ausdruckseinheit von poetischer Form und subjektiver Empfindung schließlich zum Durchbruch zu verhelfen. Gewicht erlangte es in Deutschland erst in der Gestalt des autobiographisch beglaubigten Liebessonettzyklus, wie ihn Gottfried August Bürger in seinen Gedichten von 1789 neu erschuf.

4.5

Sonett als Lied und Heterogenität der Form

Ältere Darstellungen weisen meist tadelnd darauf hin, dass die Sonettdichter des 18. Jahrhunderts die verbindliche Form des Sonetts noch nicht erfasst hätten, was dann gern als ästhetisches Defizit gewertet wird. Unter der verbindlichen Form wird das romantische Sonettmodell verstanden, das ja mit dem Anspruch formuliert wurde, ein überhistorisch gültiges Modell bereitzustellen, und das seine Glaubwürdigkeit aus seinem Rückgriff auf das klassische petrarkische Vorbild bezog. Eine solche teleologische oder auch essentialistische Gattungsperspektive kommt beispielsweise in der Diskussion um den Formgebrauch Klamer Schmidts zum Ausdruck: ob er nämlich den fünfhebigen Jambus nun verbindlich als Hauptvers für das Sonett eingeführt habe – so Welti –, was ihn zum Vorläufer der romantischen Regel machen würde, oder ob er – so Feigel korrigierend dazu – »keines dieser Versmasse künstlerisch ganz zu würdigen wußte«.101 Betrachtet man die Situation der Sonettform im 18. Jahrhundert unabhängig von der späteren Entwicklung, muss man zu anderen Schlüssen kommen. So zeigt sich, dass der prekäre und legitimationsbedürftige Gebrauch des Sonetts zu einem verstärkt experimentellen Umgehen mit der Form führte. Man kann darin eine Parallele zu Andreas Böhns Beobachtung für das 20. Jahrhundert sehen: »Durch die Ablehnung und parodistische Verspottung in den sechziger und siebziger Jahren scheint das Sonett gewissermaßen soweit geläutert worden zu sein, dass es auch ohne experimentelle Modifikationen wieder ——————— 100 101

Schmit, S. 157. Welti, S. 148f.; Feigel, S. 88.

397 verwendet werden kann.«102 Experimenteller Formgebrauch kann Ausdruck einer Formskepsis sein, die dem Aufgreifen des Überkommenen den Vorbehalt noch jeweils einschreiben muss. Darin unterscheiden sich solche Phasen im übrigen grundsätzlich von der wichtigen ersten Experimentalphase der Sonettgeschichte im Werk des Guittone d’Arezzo: Dort wurde eine fixierte, engumrissene und ideologisch festgelegte Form aufgebrochen und neuen Zwecken dienstbar gemacht, indem die Form gleichsam multipliziert und damit neu erfunden wurde. In den späteren Epochen zeigt sich dagegen das Problem, mit einer äußerst heterogenen Überlieferung unter Bedingungen einer negativen Gesamteinschätzung umgehen zu müssen. Auch hier lohnt nochmals ein Blick nach England, wo sich der Eindruck formaler Heterogenität bestätigt. Parallel zu Deutschland findet sich der Vorbehalt, dass das italienische Sonettmodell wegen seiner starken Reimanforderungen in der eigenen Sprache Schwierigkeiten bereite, die poetisch eher als hinderlich denn als produktiv erfahren werden. Hinzu kommt der generell traditionsfeindliche Impuls des Aufklärungszeitalters, der eine Rationalisierung und Neubegründung der überkommenen Form nahelegt. In England standen im 18. Jahrhundert aufgrund der starken nationalen Tradition verschiedene Modelle zur Nachahmung bereit. So hatte bereits das elisabethanische Modell im Zeichen der Epigrammpoetik den Weg einer Vereinfachung der Reimanforderungen gewählt. Das Sonett hatte hier drei kreuzgereimte Quartette mit jeweils neuen Reimen und ein Schlusscouplet, war also durch bestimmten Umfang, nicht aber durch ein hochkomplexes Reimschema gekennzeichnet. Dem 18. Jahrhundert näher lag allerdings das Vorbild John Miltons, der erneut auf die italienischen Muster zurückgegangen war, der zahlreiche Emjambements verwendete und in den Terzetten kaum je ein Schlusscouplet.103 In dieser Lage ergeben sich nun gleichsam unterschiedliche Schulen, die stärker diesem oder jenem Vorbild zuneigen oder auch experimentelle Wege gehen. Die frühen Autoren folgen häufig dem Vorbild Miltons, das zitierte Sonett von Thomas Gray (oben, S. 387) dagegen verwendet einfache alternierende Reime nach Art der Elegie. Charlotte Smith hält das italienische Reimschema, das sie zugleich als ›legitimate‹ bezeichnet, wie ebenfalls bereits zitiert für dem Englischen nicht angemessen und setzt ihre Sonette nach elisabethanischem Muster (vgl. oben, S. 365). Beide Paradigmen erlauben mannigfache Kombinationen, so werden beispielsweise umschlingende Quartettreime mit Reimwechsel zwischen den Quartetten benutzt oder in den Terzetten zweireimige Alternation. Gern wird am Schlusscouplet festgehalten, dem ein alternierend oder umschlingend gereimtes Quartett voransteht, also c d c d e e oder c d d c e e beziehungsweise c d d c e e . Eine ungefähre Auszählung von Havens zeigt, dass das elisabethanische Schema gegenüber dem petrarkischen langsam an Boden gewinnt, dass aber die weit überwiegende Zahl von Sonetten in irgendeiner Weise irregulär ——————— 102 103

Böhn, S. 59. Havens, S. 483f.; Spiller, S. 190f.

398 ist.104 Die Verwendung des elisabethanischen Schemas folgt seiner Ansicht nach dabei weniger einer Theorie, als einfach einem Usus.105 Die relativ freie Behandlung des Reimschemas spiegelt sich auch in poetologischen Formulierungen wieder, die nicht die konkrete Anordnung, sondern lediglich die Anzahl der Reime regeln. Demnach wird im 18. Jahrhundert in England ein Sonett für legitim gehalten, das in den Quartetten nicht mehr als zwei verschiedene Reime verwendet, wobei die Anordnung dieser Reime freigestellt bleibt. 106 Zum Teil wird gleiches für die Terzette gefordert. In solcher Perspektive erscheint Thomas Grays Reimschema a b a b a b a b c d c d c d als die paradigmatische Verwirklichung eines regulären Sonetts. Die große Variabilität der Sonettform führt nun in einem weiteren Schritt zu Versuchen strengerer Beschränkung. Im Gegensatz zu Charlotte Smith kritisiert Mary Robinson in der Vorrede zu ihrem Zyklus Sappho and Phaon (1796) die formale Willkür der Sonettschreiberei und beharrt auf der Befolgung des ›legitimen‹ petrarkischen Schemas, das sie in der Praxis noch einschränkt, indem sie in den Terzetten auf Variation verzichtet und auf die umschlingend gereimten Quartette das zweireimig alternierende Sextett folgen lässt: a b b a a b b a c d c d c d .107 Streng gibt sich auch Anna Seward in ihren seit 1770 verfassten Original Sonnets on Various Subjects (1799). In einem Brief vom 20. Oktober 1786 empfiehlt sie das Versenjambement im Anschluss an Milton als probates Mittel, um den monotonen ›Klingeleffekt‹ des regulären Sonetts zu vermeiden: Your objection to the monotonous chime of the legitimate sonnet, from the four times repeated rhyme, would be just, if the sense were carried on, as in the couplet, to the end of each line. But that jingling effect is entirely done away where the verses run into each other with undulating flow, and varied pause, after the manner of blank verse, as in the sublime 108 anathema of Milton on the massacre at Piedmont.

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Havens zählt nach Dekaden aufgeteilt von 1740 bis 1800 insgesamt 636 strikt petrarkische Sonettquartette, 451 elisabethanische und 1398 irreguläre, wobei sich unter den irregulären einige verbergen, die in einem weiteren Sinn auch als petrarkisch anzusehen sind; Havens, S. 523f.; zahlreiche Textbeispiele in: A Century of Sonnets. Havens, S. 524. Die Erwägung von Silvia Mergenthal, dass Charlotte Smith die elisabethanische Form womöglich ohne historischen Rückgriff – da für einen solchen keine expliziten Belege existieren – gleichsam ›neu erfunden‹ habe, ist wenig plausibel; Mergenthal, S. 69. Havens, S. 487, verweist für diese Auffassung neben der Encyclopaedia Britannica auf Chambers Cyclopaedia in den Auflagen von 1728 und 1752. Möglicherweise gibt es für diese Definition italienische Vorbilder. Es ist bemerkenswert, dass man eine ähnlich liberale Bestimmung in Deutschland bereits im 17. Jahrhundert bei Harsdörffer und bei Zesen finden kann: »darunter sich allewege die ehrsten vier weibliche / und vier männliche gleich reimen. Die schränk- und um-wechselung der reime stehet einem jeden frei;« Zesen: Deutscher Helicon, 1649, S. 234; vgl. dazu Leighton, S. 17. Die 44 Sonette sind vollständig abgedruckt in: A Century of Sonnets, S. 73–89; vgl. Curran: Poetic Form, S. 31. Anna Seward: Letters written between the years 1784 and 1807. 6 Bde., Edinburgh 1811, Bd. 1, Brief 40 (Miss Scott), S. 186.

399 Auch Seward hält eine Sonettoktave für legitim, die sich auf zwei Reime beschränkt. Deren Anordnung sieht sie als frei an, so dass für sie Quartette a b b a a b a b oder a b b a b b a a regulär sind. In den Terzetten ist entsprechend auch das Schlusscouplet auf einen fünften Reim erlaubt, sofern dieses allerdings nicht dazu dient, eine abgegrenzte Periode und Pointe zu bilden. Seward lehnt den epigrammatischen Pointenschluss für das Sonett strikt ab und verlangt einen durchgehenden Gedankengang. In einem anderen Brief vom 29. Dezember 1795 erklärt sie, that the legitimate sonnet generally consists of one thought, regularly pursued to the close; and that nothing can be less necessary, indeed more improper, than a new or detached thought for the conclusion; and that brilliance, epigrammatic turn or point, belong not to that species of composition; which, notwithstanding the lightness of its name, is of rather a grave and severe character. An harmonious and impressive close, provided it be not 109 epigrammatic or detached, but connected with the subject, must be an advantage.

Empfohlen werden hier Merkmale einer Sonettkunst, die auf John Milton zurückgehen und über diesen auf den hohen Stil der gegenepigrammatischen Tradition eines Giovanni della Casa und Pietro Bembo. Die von Seward hervorgehobenen Charakteristika finden sich konzentriert in dem von ihr genannten Beispiel von Milton. Sein Sonett auf das piemontesische Massaker folgt dem Reimschema A B B A A B B A C D C D C D und setzt markante Enjambements ein, um die geschilderten Grausamkeiten zu betonen, und zwar gleich im ersten Vers – »whose bones / Lie scattered« – verstärkt aber im zweiten Teil – »that rolled / Mother with infant down the rocks« – und besonders deutlich am Übergang von Quartetten und Terzetten – »Their moans / The vales redoubled to the hills«: JOHN MILTON Sonnet XV. On the Late Massacre in Piedmont Avenge O Lord thy slaughtered saints, whose bones Lie scattered on the Alpine mountains cold, Even them who kept thy truth so pure of old When all our fathers worshiped stocks and stones, Forget not: in thy book record their groans Who were thy sheep and in their ancient fold Slain by the bloody Piedmontese that rolled Mother with infant down the rocks. Their moans The vales redoubled to the hills, and they To heaven. Their martyred blood and ashes sow O’er all the Italian fields where still doth sway The triple Tyrant: that from these may grow A hundredfold, who having learnt thy way 110 Early may fly the Babylonian woe.

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Seward, Bd. 4, Brief 28 (Miss Ponsonby), S. 144f. John Milton: Complete shorter poems. Hg. von John Carey. London 22007, S. 342f.

400 Es muss kurios erscheinen, wie hier Lösungen für die Sonettstrophe entworfen werden, die der in Deutschland zu beobachtenden Tendenz der strophischen Gliederung völlig zuwiderlaufen, die aber dem Sonett ebenfalls auf dem Weg einer formalen Regulierung einen höheren poetischen Rang zuzumessen suchen. Dies zeigt, dass die Betonung der Sonetteinschnitte letztlich nur eine unter verschiedenen Möglichkeiten war, ein modernes Sonett zu entwerfen. Über den Einfluss der italienischen Aufklärungspoetik und dann vor allem der deutschen Romantik war es allerdings genau diese Forderung nach einer primären Beachtung der Binnengliederung und ihre Interpretation im Sinn einer gleichsam klassischen Gedichtform, die das europäische Sonett in den folgenden Jahrzehnten beeindrucken sollte. In England war eine solche Poetik des Sonetteinschnitts bis zum Ende des Jahrhunderts nicht erwogen worden.111 Noch der junge Coleridge gibt sich in seiner Introduction to the Sonnets 1796 gegenüber der Form äußerst liberal. Ohne einen Zugang zu Petrarca zu haben, sieht er keinerlei Sinn in der Beachtung einer strengen Reimordnung. Essentiell erscheint ihm lediglich die Begrenzung auf eine bestimmte Verszahl, »it may as well be fourteen as any other number«,112 um dem Sonett eine Einheit und ›totality‹ zu verleihen. Die konkrete Zahl hält er dabei für völlig willkürlich. Wichtiger ist ihm die inhaltliche Bestimmung der Entwicklung des ›einsamen Gefühls‹, wie oben bereits angeführt. Respecting the metre of the Sonnet, the Writer should consult his own conveniences. – Rhymes, many or few, or no rhymes at all – whatever the chastity of his ear may prefer, whatever the rapid expression of his feelings will permit; – all these things are left at his own disposal. A sameness in the final sounds of its words is the great and grievous defect of the Italian language. That rule, therefore, which the Italians have established, of exactly four different sounds in the Sonnet, seems to have arisen from their wish to have as many, not from any dread of finding more. [1139f.]

Die Reimbeschränkung des Sonetts erscheint ihm also als das Ergebnis eines Defizits der italienischen Sprache, das zu übernehmen kein Anlass bestehen könne. Die oben beschriebene Auffassung des regulären Sonetts, wie sie in Enzyklopädien nachzulesen war, wird hier nochmals explizit formuliert. Als Vorkämpferin wird mit deutlicher Ironie Anna Seward genannt, deren Bemühungen er für dogmatisch und deren Ergebnisse er für ›laborious trifles‹ hält. Das Befolgen strenger Sonettregeln erscheint Coleridge noch 1796 als unpoetisch: But the best confutation of such idle rules is to be found in the Sonnets of those who have observed them, in their inverted sentences, their quaint phrases, and incongruous mixture of obsolete and spenserian words: and when, at last, the thing is toiled and hammered into fit shape, it is in general racked and tortured Prose rather than any thing resembling Poetry. [1140]

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Havens, S. 486f. Coleridge: Complete Poetical Works, Bd. II, S. 1139.

401 Die formale Auffassung des Sonetts ist im 18. Jahrhundert auch in Deutschland in Bewegung geraten. Eine nennenswerte Bedeutung hat dabei zunächst die Übertragung der logischen Analyse der Epigrammstruktur auf die Sonettanordnung gehabt. In den Poetiken ist dies wie erwähnt erstmals bei Christian Weise aufgetaucht und wird von da an fortgeschrieben; so 1704 bei Magnus Daniel Omeis, der neben der logischen Zweiteiligkeit von Vor- und Nachsatz ohne weitere Begründung einen Periodenschluss zwischen Quartetten und Terzetten empfiehlt, also eine Binnengliederung in ( 4 + 4 ) + ( 3 + 3 ) Verse. Johann Burkhard Mencke bezieht die Dispositionsregel 1710 auf eine Unterteilung in ein Oktett und zwei Terzette, mithin 8 + ( 3 + 3 ) (vgl. für die Zitate oben, S. 365, Anm. 4 und 5). Das Zedlersche Universal-Lexicon erwartet 1743 bereits, dass das Sonett »in zwei Absätze getheilet wird, deren erster aus acht, der andere aus sechs Zeilen bestehet.« Auch hier wird eine Dispositionsregel angeführt: »Die besten Sonnete sind, wo der erste Absatz den Vortrag enthält, und mit der vierten Zeile ein vollkommener Sinn beschlossen wird: in dem letzten Absatz aber die Folge aus dem vorhergehenden durch spielende Reden auf einen artigen Schluss geführet worden«, also ( 4 + 4 ) + 6 .113 Die Festlegung einer bestimmten logischen Binnengliederung ist demnach seit Christian Weise unabhängig vom Reimschema zu einem festen Bestandteil der Sonettdefinition geworden, auch wenn die Anwendung auf das Sonett nicht zu ganz eindeutigen Lösungen führt, da offenbar eine Inkongruenz zwischen logischem und poetischem Schema bestehen bleibt. Die Dispositionsregel selbst wird von der Epigrammpoetik übernommen.114 So zeigt sich hier eine Ambivalenz der Epigrammatisierung bezüglich der Sonettgliederung, insofern die Epigrammpoetik im 16. Jahrhundert zunächst dafür gesorgt hatte, dass die alte Gliederung des Sonetts in piedi und volte zugunsten einer blockhaften Anordnung in den Hintergrund getreten war, um eine solche Gliederung nun über die logische Analyse der epigrammatischen argutia in verwandelter Weise erneut einzuführen. Ebenfalls von Bedeutung sind bei den Versuchen einer Binnengliederung des Sonetts die älteren Versuche einer musikalischen Auffassung im Sinn der pindarischen Ode gewesen, von denen oben bereits berichtet wurde. Sie wurden einigermaßen eingängig von Philipp von Zesen diskutiert (vgl. oben, S. 264). Bei einem pindarischen Sonett »sollte mann billich drey Strophen oder Gesätze daraus machen / also / dass ich das erste gesätze nach Art der pindarischen Oden einen Satz / das ander einen Gegensatz / das dritte einen Abgesang nennen möchte«, so dass es »aus zweyen vier-versichten Getichten / (welche die Frantzosen Quadrains nennen) und von einem Sechsversichten (Sixain genennt) zusammen gesetzt [...].«115 Für ein solches Sonett wird nun sogar der Reim——————— 113

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Johann Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges UNIVERSAL LEXICON Aller Wissenschaften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Bd. 38, Halle, Leipzig 1743, Sp. 806. Vgl. Leighton, S. 17f. Zesen: Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 246.

402 wechsel vom ersten zum zweiten Quartett erwogen (ebd.), außerdem wird die sonst in dieser Zeit unübliche terminologische Unterscheidung von Quartetten und Sextett erwähnt. Die hier vorgegebene Einteilung ( 4 + 4 ) + 6 wird entsprechend der Odenkonvention nun auch strophisch gesetzt. In Zesens Beispiel steht über dem ersten Quartett die Überschrift »Satz«, über dem zweiten »Gegensatz« und über dem Sextett »Abgesang« (247); die Reimordnung dabei ist: Satz: a b b a Gegensatz: a b b a Abgesang: c c d e e d . Erneutes Interesse gewinnt die Frage der Binnengliederung im Zeitalter der Aufklärung. Es ist Gottsched, der nach anfänglichen Vorbehalten gegenüber der Sonettform zu einer eigenen Theorie des Sonetts ausholt, die sich auf dessen musikalische Strukturiertheit zu besinnen sucht. Er verweist als historische Quelle zunächst auf die Literaturgeschichte Crescimbenis, der zu entnehmen sei, dass die frühesten Sonette weniger genau geregelt gewesen seien und erst Petrarca »dem Dinge seine rechte Ordnung gab.«116 Indem er das Sonett als eine ursprünglich sangbare Form auffasst, motiviert Gottsched das Regelwerk. Das Sonett wird auf 14 Zeilen aus endecasillabi beziehungsweise Alexandrinern festgelegt. Weiter heißt es: 4) Müssen dieselben vierzehn Zeilen, richtig in vier Abschnitte eingetheilet werden; davon die ersten beyden, jeder vier, die beyden letzten aber, jeder drey Zeilen bekommen. 5) Müssen die zwo ersten Abschnitte einander in den Reimen vollkommen ähnlich seyn, ja in acht Zeilen nicht mehr als zwey Reime haben: so daß sich einmal der erste, vierte, fünfte und achte, sodann aber der zweyte, dritte, sechste und siebente mit einander reimen. Endlich 6) müssen die drey und drey im Schlusse sich wieder zusammen reimen; doch so, daß man einige mehrere Freyheit dabey hat. Indessen lehret mich das Beyspiel des Petrarcha, daß auch diese beyden Dreylinge auf einerley Art ausfallen müssen, damit man sie auf einerley Melodie singen könne. Denn kurz und gut: die zwei ersten Vierlinge müssen nach der ersten Hälfte der Singweise, die, wie gewöhnlich, wiederholet wird; die zwey letzten Dreylinge aber nach der andern Hälfte der Melodie, die gleichfalls wiederholt 117 wird, gesungen werden können. Dieß ist der Schlüssel, zu allen obigen Regeln.

Die in sich tendenziell jeweils symmetrische Struktur von Quartetten und Terzetten wird von Gottsched also auf einen musikalischen Ursprung des Sonetts zurückgeführt und damit auf das ursprüngliche Movens der Poesie, denn: »Oben ist erwiesen worden, dass die Musik zur Erfindung der Poesie den ersten Anlass gegeben« (3). Entsprechend ergibt sich eine Viergliedrigkeit des Sonetts mit jeweils wiederholtem Auf- und Abgesang und die Forderung nach entsprechender Perioden- und Sinnführung. Die neue Theorie ersetzt damit die Epigrammatisch-logische Dispositionsregel durch eine musikalische Begründung aus dem Liedcharakter, ohne sich dabei aber von der dreiteiligen Struktur der

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Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 6,2, S. 532; vgl. auch oben, S. 368. Die gleiche Formulierung findet sich in seinem Handbuchartikel »Sonnet« von 1760: J.Chr. Gottsched: Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Zum Gebrauche der Liebhaber derselben. Leipzig 1760, Sp. 1500. Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 6/2, S. 533f.

403 pindarischen Ode leiten zu lassen.118 Erst so kann das Sonett konsequent als vierteilig aufgefasst werden. Gottsched übernimmt diese neuen Maximen offenbar aus dem Italienischen, und zwar vermutlich aus dem 1742 im dritten Teilband der Literaturgeschichte des Jesuiten Francesco Saverio Quadrio erschienenen umfangreichen Sonettkapitel.119 Nach einer Erörterung des Sonettursprungs und einer Zurückweisung des Epigrammsonetts handelt der dritte Abschnitt dort in ausgesprochen programmatischer Weise von den Sinneinschnitten innerhalb des Sonetts: »Dimostrasi, qual divisione di sensi aver voglia il Sonettto [sic!].«120 In diesem Zusammenhang findet sich bereits der entschiedene Bezug des Sonetts auf die Liedform: Was die Unterteilung in vier und vier und in drei und drei betrifft, so findet sich darin nicht die gleiche Entsprechung, und zwar, weil diese Bauform gewissermaßen eine Arie darstellt, die aus zwei Teilen zusammengesetzt ist. Der erste Teil besteht aus dem ersten Quartett, dem das zweite wie eine Wiederholung folgt. Der zweite Teil besteht aus dem 121 ersten Terzett, auf das wiederum das zweite Terzett als eine Art Wiederholung folgt.

Daraus wiederum leitet Quadrio die strikte Forderung nach einer Übereinstimmung von syntaktischer und formaler Gliederung und die Zurückweisung des Enjambements an den Sonetteinschnitten ab. Letztere muss er gegen eine Tradition vertreten, die gerade im Enjambement ein Mittel zur ›Erschwerung‹ der Lektüre und damit zur stilistischen Anhebung gesehen hatte. Deshalb verweist Quadrio auf Beispiele von Petrarca und Giovanni della Casa. Diese Dichter galten als Sonettisten eines ausgesprochen hohen Stils, von denen es nun heißt, sie hätten gleichwohl die ›Versbrechung‹ des Enjambements nur selten gebraucht.122 Im gleichen Sinn soll nun das Einpassen der Syntax in die Sonettgliederung dem Stil zugute kommen, wobei Quadrio noch weiter geht und im Idealfall sogar bei jedem zweiten Vers einen syntaktischen Einschnitt sehen will: »Die rechten Sinneinschnitte, die zu beachten sind, sollten also nach jedem zweiten Vers stehen, so dass dort unser Gedanke endet oder es wenigstens eine

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Gottsched sieht dennoch auch den Bezug zu diesem Modell: »Kurz, ein Sonnet ist eine Art von pindarischer Ode«; Gottsched: Handlexicon, Sp. 1502. Francesco Saverio Quadrio: Della storia e della ragione d’ogni poesia. Bd. I: Bologna 1739; Bde. II–V: Mailand 1741–1752, zum Sonett: Bd. II/2 (1742), S. 12–71. »Es ist zu zeigen, welche Sinneinschnitte das Sonett aufweisen sollte.« Quadrio, S. 23. »Che se la divisione di quattro, e quattro, e di tre, e tre, non pare aver seco stessa uguaglianza, ciò è, per che tale Componimento è quasi un Aria di due Parti composta. La prima è il primo Quadernario, della quale il Quadernario secondo è come la ripetizione. La seconda è la prima Terzina, della quale la seconda è altresì quasi ripetizione.” Quadrio, S. 23 (Üs. T.B.). »e per dare maggior grandezza, e maestà al suo dire non avesse con troppa frequenza spezzati i versi« / »und um der Rede des Sonetts mehr Größe und Majestät zu verleihen, muss man die Verse nicht allzu häufig brechen«; Quadrio, S. 24; vgl. zur Erschwerung des Sonetts auch oben, S. 279.

404 kleine Pause mit einem Semikolon oder zumindest einem Komma gibt.”123 Zur Begründung wird bei Quadrio wie bei Gottsched der mündliche Vortrag angeführt, der die Gliederung nur hörbar machen könne, wenn sie syntaktisch unterstrichen werde: »Der Grund besteht im Erfordernis des Verses, nach dessen Rezitation eine Pause zu lassen, weil sonst sein Maß und seine Harmonie nicht wahrgenommen würden. Wenn der Sinn es dagegen nötig macht, unmittelbar fortzufahren, wird eines dieser beiden Dinge notwendigerweise eintreten [...].«124 Es geht um eine Erleichterung der Lektüre im Dienst des mündlichen Vortrags und der Sangbarkeit und nicht mehr wie beim Epigrammsonett im Dienst einer pointierten Argumentation. Erreicht werden soll dadurch ein tendenziell aufklärerisches Ziel: »e più chiaro, e più amabile«, Klarheit und Wohlgefallen.125 Bei der Auswahl von Beispielen stellt Gottsched fest, dass es schwer sei, Texte zu finden, die der aufgestellten Regel durchweg entsprechen: »Denn bald schließt der Verstand nicht mit der vierten, bald nicht mit der achten, bald nicht mit der eilften Zeile. Bald sind die letzten zwey Dreylinge, an Ordnung der Reime einander nicht gleich, u. s. w.«126 Sogar das besonders gelobte An sich von Paul Fleming (siehe oben, S. 330) zeige »einen Fehler: dass nämlich, bey der dritten Zeile der zweyten Hälfte, der völlige Sinn nicht aus ist, sondern sich erst mit der folgenden endet« (ebd.). Die Zitate zeigen, welch scharfe Zäsur die aufklärerische Poetik hier bereits für die Bewertung von Sonetten bedeutet, die auf der Basis einer rationalen Umdeutung des Formverständnisses neue Wertungskriterien an die Hand bekommt. Die Wirkung dieser Bestimmungen Gottscheds in seiner Zeit scheinen zunächst gering gewesen sein, doch kehren sie auf verändertem Fundament in der romantischen Sonettpoetik wieder. Man hat diese Kontinuität selten wahrgenommen und meistens als bloße Kuriosität abgetan und somit unterschätzt.127 Die Tendenz zu einer Binnengliederung des Sonetts und zur Beachtung einer inneren Form war also bereits auf der Basis der alten Epigrammpoetik zu beobachten und setzt sich unter neuen Begründungsversuchen fort. In den Vordergrund tritt dabei die Identifikation des Sonetts mit der Form des Lieds und die daraus resultierende strophische Auffassung der Binnengliederung. In der Sonettpraxis entspricht dem eine schrittweise Veränderung der Sonettgraphie, indem Sonette vereinzelt und auf unterschiedliche Weise in Absätze gegliedert ——————— 123

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»I giusti termini poi de’ sensi, da osservarsi, saranno ad ogni secondo verso; di modo che in esso fa termini il nostro concetto, o almeno far vi si possa mezza posa, con un mezzo punto, o almeno con una virgola.« Quadrio, S. 24. »La ragione è, perché il verso stesso di per se domandando, che dopo essersi recitato, il leggitore alquanto si posi, perché il suo numero, e la sua armonia ne sia osservabile; se il senso obbligherà colui a progredire più avanti, una di queste due cose ne seguirà necessariamente [...]«; Quadrio, S. 24. Quadrio, S. 24. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, S. 535. Vgl. Mönch: Sonett, S. 67; Fechner: Zur Geschichte des deutschen Sonetts, S. 31; Leighton, S. 26.

405 werden, was ihnen bereits ein strophisches Aussehen verleiht. Zuerst taucht dies in Deutschland beim sogenannten pindarischen Sonett auf, das mit Zwischenüberschriften für Satz, Gegensatz und Abgesang versehen ist und so in drei Blöcke aufgeteilt erscheint. Während dies eine bloße Sonderform ist, setzt Christian Gryphius seine Sonette am Ende des 17. Jahrhunderts bereits in zwei Absätze, wobei die männlich endenden Verse eingezogen bleiben. Die Perioden folgen entsprechend bereits dieser Gliederung. So überspielt das folgende bereits oben erwähnte ungereimte Sonett die Quartettgrenze mit einem Enjambement, vollzieht aber zwischen Oktett und Sextett einen klaren logischen Einschnitt, der der graphischen Wiedergabe entspricht. Der Einfluss der epigrammatischen Dispositionsregel ist hier deutlich zu erkennen. Man kann es als ein Experiment lesen, inwiefern die strukturierenden Mittel, zu denen neben dem weiter beachteten Wechsel von männlichen und weiblichen Versschlüssen und dem durchgehaltenen Alexandriner auch der Gesamtumfang und die logische Binnengliederung gehört, die Identität der Form auch ohne Reim zu gewährleisten vermögen. Vor allem im Sextett wird dann auch mit dem fehlenden Reim gespielt, indem eine Reihe von gleichklingenden unbetonten Silben die Verse beschließen. In den Poetiken der Folgezeit wurde im Anschluss daran stets die Frage nach der Möglichkeit eines ungereimten Sonetts diskutiert.128 CHRISTIAN GRYPHIUS Ungereimtes Sonett OB gleich Cloridalis auf ihre Marmor-Kugeln / Die / wie ein ieder sagt / der Himmel selbst gewölbt / Und auf ihr Angesicht / das Sternen gleichet / trozt / Ob schon / wie sie vermeynt / des Paris goldner Apfel Vor sie allein gemacht / ob gleich viel altes Silber In ihrem Kasten ruht / doch ists ein eitler Wurf / Den sie nach mir gethan; ich bin gleichwie ein Felß / Und lieb ein kluges Buch mehr als der Venus Gürtel. Die Liebe reimet sich so wenig mit Minerven / Als eine Sterbe-Kunst zu Karten und zu Würffeln / Das Braut-Bett in die Gruft / Schalmeyen zu der Orgel / Ein Mägdchen und ein Greiß / als Pferde zu den Eseln / Als Mußiug zum Smaragd / als Rosen zu den Disteln / 129 Als diese Verse selbst / ja fast noch weniger.

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Das Urteil, dass die Reimvorschriften des Sonetts übertrieben streng, artifiziell und unpoetisch seien, bewirkt insgesamt eine liberalere Haltung. Die Laxheit, mit der dies in der Poetik von Hunold und Neumeister formuliert ist, deutet auf die Entwicklung im 18. Jahrhundert voraus: Ich erachte, man würde eben vor keinen Poetischen Rebellen ausgeschrien werden, wenn man auch die ersten acht Reime anders setzte, als etwann ordentlicher Weise zu geschehen

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So bei Omeis: Gründliche Anleitung, S. 111. C. Gryphius, S. 826; in Zeile 4 ist der Druckfehler »Och schon« emendiert worden; vgl. auch den Text nach der Ausgabe von 1718 in: Welti, S. 239f., dazu: S. 131.

406 pfleget, nur daß die achte Zahl nicht vermindert oder vermehret werde. Gestalt ich auch 130 solches bey den Frantzosen selbst wahrgenommen.

Als sehr viel später in diesem Jahrhundert die neuen Sonette im Umkreis der Halberstädter Anakreontik entwickelt werden, herrscht eine gleichermaßen offene Auffassung des Sonett-Reimschemas vor. Poetiken und Handbücher wie das Zedlersche oder Gottschedsche Lexikon und noch Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste fordern für die Quartette zwar durchweg die umschlingenden Reime, doch schon Gottsched befindet, die Reimgleichheit der beiden Quartette sei bloß »zufällig; und von den Italienern wegen des Ueberflusses reimender Wörter in ihrer Sprache beliebet worden.«131 Entsprechend suchen die neuen Sonettdichter systematisch die Variation der Quartettreimordnung. Gleims frühes Sonett Belinde von 1749 hat wie gesagt a b b a b a b a c d c d c d ,132 Unzers ›chinesisches Sonett‹ Tcheou von 1773 hat a a b b c c d d e e f g g f , 133 ein frühes Sonett von Klamer Schmidt aus den Elegieen an meine Minna aus dem gleichen Jahr mit dem Titel An dem Morgen des Charfreytages, woran es stark regnete hat A B A B C D D C E F E F G G .134 Auch wenn dies zunächst experimentell anmutet, eine Analyse der Sonette im Teutschen Merkur von 1776 und 1777 bestätigt die Beobachtung einer eigenen Charakteristik der Sonettreimschemata, die im Umfeld der Halberstädter Anakreontiker entworfen werden. In den beiden genannten Jahrgängen stehen auf vier Hefte verteilt 21 Sonette mit verschiedenen Signaturen.135 Formal unterscheiden sich die fünf mit »G.« signierten Sonette vom Januar 1777 und die beiden »Sch.« signierten vom Oktober 1777 von den anderen in verschiedenen Hinsichten, so dass es sinnvoll erscheint, diese sieben Texte separat auszuwerten. Die Sonette sind vom April 1776 bis zum Januar 1777 von I. bis XIX. durchnumeriert (im folgenden: 1–19), die vom Oktober 1777 tragen neue Nummern I. und II. (im folgenden: 20–21). Bei allen 21 Sonetten sind im Druck Oktett und Sextett voneinander abgesetzt, alle arbeiten mit abwechselndem Reimgeschlecht und haben im Oktett zwei und im Sextett zwei oder drei Reime. Bei Nr. 1–14 sind die Quartette voneinander und vom Sextett abgesetzt, also 4 + 4 + 6 ; bei Nr. 15–21 – also den mit »G.« und »Sch.« signierten – bilden Oktett und Sextett jeweils einen Block, also 8 + 6 . ——————— 130 131 132 133 134 135

[Hunold/Neumeister]: Die Allerneueste Art, S. 243. Gottsched: Handlexicon, Sp. 1502. vgl. oben, S. 377, Anm. 46. vgl. oben, S. 390, Anm. 86. Schmidt: Elegieen an meine Minna, S. 70f; vgl. dazu Korch, S. 219–221. Im April 1776 fünf mit »S.« signierte Sonette und eins mit »Fl.« (Nr. 1–6, S. 10–13); im Juli 1776 nochmals fünf mit »S.« und eins mit »Fl.« (Nr. 7–12, S. 196–200); im Januar 1777 zwei mit »C.S.« und fünf mit »G.« (Nr. 13–19, S. 24–28); im Oktober 1777 zwei mit »Sch.« (Nr. 1–2, S. 88f.). Die Siglen »S.«, »C.S.« und »Sch.« werden Klamer Schmidt zugeschrieben, »Fl.« und »G.« gelten als anonym. Dazu kommt eine mit »K.« signierte ungereimte Übersetzung Petrarkas 269. Sonett, die für die formale Analyse außer Betracht bleiben muß; Der Teutsche Merkur, April 1777, S. 7.

407 Im Vers lässt sich keine eindeutige Tendenz festmachen. Insgesamt überwiegt der Alexandriner: zwölf der 21 Sonette stehen ausschließlich oder überwiegend in dem frühneuzeitlichen Sonettvers, fünf sind jambisch und vier trochäisch, von den jambischen sind wiederum zwei vierhebig, der Rest fünfhebig.136 Drei der trochäischen Sonette sind von Klamer Schmidt (Signatur »S.« und »C.S.«), die beiden in vierhebigen Jamben sind von G., dessen drei andere Alexandrinersonette sind. Beim Reimschema sind die Quartette bei zwölf der 21 Sonette gleich gebaut und lauten entweder a b b a a b b a (7) oder a b a b a b a b (5). Bei den ungleich gebauten Quartetten haben sechs von neun eine Kombination der beiden Varianten, entweder a b a b a b b a (3), a b a b b a a b (1), a b b a b a b a (1) oder a b a b b a b a (1). Nur zwei Sonette haben von den beiden Grundmodulen abweichende Quartette, einmal a a b b a b a b und einmal a b a a b b a b . Es lässt sich also eine Tendenz zur Variation feststellen, die sich auf das Reimschema und auf die Symmetrie der Quartettreimordnung richtet, so dass etwa jedes zweite Sonett vom überkommenen Muster in bestimmter Weise abweicht. In den Terzetten finden sich zunächst einige nach dem im 17. Jahrhundert auch in Deutschland vorherrschenden französischen Muster c c d e e d (3) oder c c d e d e (3). Voranstehenden Paarreim haben sogar neun der 21 Sonette, die alle von Klamer Schmidt stammen (Nr. 1.–4. 8. 10. 12.–14.), eins davon mit der relativ unkonventionellen Form c c d d e e (Nr. 8). Zudem findet sich bei acht Texten ein Schlusscouplet nach englischem Muster, vier davon sind von Schmidt, zwei von Fl. und zwei von Sch. Die Autoren verwenden außerdem in sieben Fällen gleichgebaute Terzette, wie sie Gottsched empfohlen hatte: c c d e e d (3), c c d c c d (1) oder c d d c e e (3), auf Schmidt entfallen davon vier, auf Fl., G. und Sch. jeweils eins. Der Autor mit der Signatur G. unterscheidet sich von den anderen durch einen zweiteiligen Satz der Sonette gegenüber dem sonst dreiteiligen und durch eine Neigung zu zweireimigen Terzetten in vier von fünf Beispielen. Drei davon haben konventionelle Quartette a b b a a b b a . Drei seiner Texte haben Alexandriner, die beiden anderen vierhebige Jamben. Letzteres findet sich bei keinem der anderen Autoren. G. arbeitet außerdem verstärkt mit Enjambements, während bei den anders signierten Sonetten die Satzführung bereits klar der Sonettgliederung eingefügt ist.137 Drei von G.s Sonetten haben Enjambements, am durchgängigsten das Alexandrinersonett An die Nymphen mit Reimtausch zwischen den Quartetten und mit zweireimigen Terzetten:

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137

Das erste Sonett An Thais hat in den aufeinander reimenden Versen 1, 4, 5 und 8 fünfhebigen Jambus und in allen anderen Alexandriner; es ist hier als Alexandrinersonett gezählt. Korch sieht bei Schmidt eine allmähliche Entwicklung des formalen Interesses aus dem stofflichen; vgl. Korch, S. 222–226, zum genannten Sonett: S. 222f. Eine Ausnahme bildet das oben zitierte zweite Sonett An Thais (S. 394), das den Satz vom ersten ins zweite Quartett führt: »Auf dem Aerndte-Felde, das umher | Funken sprüht; die Schnitter sind entronnen«.

408 G. An die Nymphen. Ihr Nymphen, Amor ists’! Ihr Nymphen fliehet weit! Sein Bogen ist gespannt! Von seinen letzten Siegen Ermüdet, liegt er hier auf Rasen! laßt ihn liegen! Er schläft so sanft, so sanft! – O schlief er, eine Zeit, In meinem Herzen so! Ihr Nymphen, mit Vergnügen Will ich sein Wächter seyn, will ich mit Tapferkeit Sein Bett vertheidigen, und ohne Schüchternheit Hier diesen Lorbeerzweig auf ihn herunterbiegen! So treu bewach’ ich ihn! Und, wenn er dann erwacht; Dann, o ihr Nymphen! dann, dann will zu seinen Füssen Ich ihn um Ruhe flehn! er hat so manche Nacht An euren Bächen mich um meinen Schlaf gebracht! Gestehen will ich’s nur, und sollt es euch verdrießen! 138 Mich lüstet, so wie er, der Ruhe zu genießen!

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10

Man kann insgesamt feststellen, dass die Sonette des Teutschen Merkur von 1776/77 das überkommene Sonettschema auf verschiedenen Ebenen variieren. Experimentiert wird mit fünf- und vierhebigen jambischen und mit trochäischen Versen, mit asymmetrisch angeordneten Quartettreimen und mit zweireimigen sowie parallel angeordneten Terzettreimen. Als übergeordnetes Prinzip kann man dabei die Variation selbst erkennen: es handelt sich um den Versuch einer vorsichtigen Abgrenzung gegenüber dem überkommenen Modell, der zugleich auf Kontinuität setzt. Dabei findet die Abgrenzung nicht an einer bestimmten Stelle statt, also etwa bezüglich des fünfhebigen Jambus. Welti wollte darin noch die entscheidende Neuerung sehen. Im fünfhebigen Jambus stehen lediglich drei der 21 Sonette, die alle von Klamer Schmidt stammen (Nr. 4. 8. 9.), während der Alexandriner insgesamt überwiegt. Als Neuerung dieser Texte erscheint nicht dies oder überhaupt die Installierung neuer Fixierungen, sondern die mehrdimensionale Variation und Abänderung von überkommenen Regeln. Legt man neben diese Beispiele die Sonette Gottfried August Bürgers von 1789, so zeigen sich durchaus noch Parallelen, erkennbar ist aber auch die Rücknahme bestimmter Varianten. Der Alexandriner und weitgehend auch das Enjambement sind nun ausgeschieden, von elf Sonetten sind drei jambisch und acht trochäisch. Die Sonette sind graphisch in vier Absätze gegliedert und die Quartette reimen bis auf eine Ausnahme a b b a a b b a mit abwechselnder Kadenz. In den Terzetten setzt sich die Tendenz zur Zweireimigkeit fort. Das Grundmodul bildet dabei die Alternation c d c d c d (1), wobei meist an einer Stelle die Reimfolge vertauscht wird: c d d c d c (3), c d c d d c (3). Von den dreireimigen Sextetten haben drei ein Schlusscouplet c d d c e e , c d c d e e oder ——————— 138

Der Teutsche Merkur, 1. Vierteljahr 1777 (Januar), S. 26f. Führt man das Reimschema mit einer Bezeichnung von Sinneinschnitten und Enjambements (durch »~«) an, so hat dieses Gedicht etwa ein Schema ( a / B ~ B / a ~ B ~ a ~ a ~ B ) ( c D ~ c ~ c ) ( D / D ) , es beachtet also den Mitteleinschnitt und gewinnt eine gewisse Geschmeidigkeit gerade aus der Kombination von Alexandriner und Enjambement, mithin jenen Mitteln, die aus dem deutschen Sonett zunächst einmal verschwinden sollten.

409 c c d d e e und eins alterniert c d e c d e . Die auffälligste Gemeinsamkeit dieser Veränderungen besteht im Ausscheiden der französischen Modelle sowohl im Vers wie im Reimschema. In dieser Perspektive gewinnt die Variationsfreude der Sonettdichtung des 18. Jahrhunderts einen neuen Akzent, denn sie erweist sich auch als das Ergebnis des Paradigmenwechsels vom französischen zum italienischen Modell. Während die Reimordnung im französischen Sonett nämlich mit umschlingendem Quartettreim und Paarreim am Beginn der Terzette wenig Spielraum zeigte, verkündeten die italienischen Poetiken keineswegs nur ein kanonisches Modell, sie brachten vielmehr zahlreiche Beispiele der langen Geschichte der Reimpermutation bei. So unterscheidet Quadrio prinzipiell zwischen zwei- und dreireimigen Terzetten. Was die Korrespondenz der Terzette betrifft, so wurde diese entweder mit genau zwei Reimen vorgenommen, was man als einen ›verketteten‹ Reim (Rima Incatenata) bezeichnete, oder mit drei Reimen, was man Rima Atterzata nannte. Hinsichtlich der Verkettung jedoch, d.h. der Verknüpfung dieser beiden Reime nahmen sich die Dichter die Freiheit, 139 diese in unterschiedlicher Art auszuführen.

Vor dem Hintergrund der stets dreireimigen Terzette der Franzosen und weitgehend auch der deutschen Barocktradition musste so sowohl die Zweireimigkeit als auch die Reimvariation als spezifisch italienisch erscheinen. Auch für die Quartette nennt Quadrio fünf Varianten, die von Petrarca benutzt worden seien I. a b b a a b b a , II. a b a b a b a b , III. a b a b b a b a , IV. a b a b b a a b , abgewertet wird dagegen eine schon mehrfach erwähnte irreguläre Form, die Cino da Pistoïa aufgebracht haben soll: V. a b b b b a a a (31). Gerade die oben beobachteten Kombinationen alternierender und umschlingender Reime sind also hier sanktioniert. Man wird demnach sagen können, dass die für die frühen Sonette kennzeichnenden Merkmale asymmetrischer Quartettreimung, zweireimiger Terzette und einer großen Variationsfreude Kennzeichen einer Hinwendung zur italienischen Sonettpoetik und zum italienischen Sonettmodell sind. Gleichwohl geschieht dies im Teutschen Merkur noch nicht in ausschließender Weise. Erst bei Bürger sind die typisch französischen Merkmale des Alexandriners und des Paarreims am Terzettbeginn, die keine italienische Entsprechung haben, und auch das Enjambement vollends ausgeschieden. Die Einsicht, dass die Experimentierfreude dieser Sonette auf italienische Vorbilder zurückgehen könnte, wurde erst im nachhinein dadurch verschüttet, dass die Romantiker später ebenfalls unter Berufung auf Petrarca den umgekehrten Schluss einer weitgehenden Rücknahme der Reimvariation ziehen sollten.

——————— 139

»Quanto alle corrispondenze delle Terzine si è praticato di farle o con due rime precisamente; il che Rima Incatenata si appellò; o con tre rime; il che Rima Atterzata fu detto. L’incatenamento nondimeno, o sia la legatura di quelle due rime si presero la libertà i Poeti di farla in varie maniere.« Quadrio, S. 26.

410

4.6

Subjektivität und Lebenswahrheit im Sonettzyklus Bürgers

Die Wiedereinführung des Sonetts ist insgesamt begleitet von der Frage der poetischen Bewertung der Form. Hier wird ein entscheidender Schritt mit den Sonetten Gottfried August Bürgers getan, die in der zweiten Auflage seiner Gedichte 1789 erscheinen. Damit tritt ein renommierter Autor mit Sonetten auf, die thematisch über den anakreontischen Ton hinausgreifen und die auch vom Gegenstand her ein größeres Gewicht beanspruchen. Die Frage der Wertung setzt sich von hier bis zum romantischen Sonettenkrieg und schließlich zu August Wilhelm Schlegels groß angelegtem wissenschaftlichem Legitimationsversuch fort, den er der Sonettform in seinen Vorlesungen von 1803 und 1804 angedeihen lässt. Um dem Sonett in Deutschland erneut Raum zu verschaffen, musste es vom Ruch der kleinen scherzhaften Klangspielerei befreit werden. Bürgers Sonette entstehen aus einer unmittelbaren persönlichen Zusammenarbeit mit Schlegel, der sich in Göttingen damals gemeinsam mit dem älteren Lehrer für die romanische Form begeisterte.140 Formal setzen die Sonette Bürgers die vorangegangenen Tendenzen fort, sie sind jedoch in der Hinwendung zum italienischen Sonett konsequenter als die Vorgänger: der Vers beschränkt sich auf fünfhebige Trochäen und Jamben, die graphische Gliederung ist wie bei den italienischen Vorbildern durchgängig viergliedrig, nun aber mit voneinander abgesetzten Absätzen markiert, die Satzführung ist dieser Gliederung eingepasst und entspricht zumeist auch Quadrios Forderung, in den Quartetten mit jedem zweiten Vers einen syntaktischen Abschluss zu verbinden. Es gibt keine Alexandriner und Enjambements mehr, der französische Paarvers am Beginn der Terzette ist ausgeschieden, lediglich die abwechselnde Kadenz ist beibehalten. Entscheidend ist aber nicht nur die Fortentwicklung der Form. Bürger verbindet mit seinen Sonetten den modernen Subjektivitätsdiskurs und dessen Medium der Liebesmelancholie, den kraftvollen Tonfall des Sturm und Drang und die sentimentalen Aspekte der Petrarca-Begeisterung seiner Zeit. Die Aufwertung des Sonetts hängt auch mit der Zyklusform zusammen, die mit ihrer Ausweitung des Textumfangs immer schon der Aufwertung der lyrischen ——————— 140

Vgl. die ältere biographische Forschung: Friedrich Düsel: Bürger und Schlegel. In: Zeitschrift für deutsche Sprache, Paderborn 1896, S. 56–64, Teil II zur Sonettendichtung: S. 218–225; Wolfgang von Wurzbach: Gottfried August Bürger. Sein Leben und seine Werke. Leipzig 1900, zu Schlegel und zur Sonettdichtung: S. 263ff.; Siegfried Kadner: Gottfried August Bürgers Einfluß auf August Wilhelm Schlegel. Phil. Diss. Kiel 1919, zu den Sonetten Schlegels S. 42–50; insgesamt zu Bürger ferner Lore Kaim-Kloock: Gottfried August Bürger. Zum Problem der Volkstümlichkeit in der Lyrik. Berlin (DDR) 1963; Günter Häntzschel: Gottfried August Bürger. München 1988. Vgl. zum vorliegenden Kontext auch bereits Vf: Poesie des Lebens, Poesie der Poesie. Die Wiedergeburt des Sonetts bei Gottfried August Bürger, August Wilhelm Schlegel und Johann Wolfgang Goethe. In: Erscheinungsformen des Sonetts. 10. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik. Hg. von Theo Stemmler und Stefan Horlacher. Tübingen 1999, S. 201–243; zu Bürger: S. 209–222.

411 Kleinform diente. Diese Zyklusform ist bei Bürger äußerlich nicht eindeutig markiert, doch ist sie dem Leser nahegelegt durch die Rahmenbildung der Sonette und ihre thematische und narrative Einheit, der sich auch die drei dazwischenstehenden Lieder einfügen: das ebenfalls an Molly gerichtete An Adoniden in sechs vierzeiligen Strophen aus vierhebigen Jamben mit umschlingenden Reimen, das der Geliebten in den Mund gelegte Mollys Abschied in sieben vierzeiligen Strophen aus fünfhebigen kreuzgereimten Trochäen und das genannte Hohe Lied in 42 zweiteiligen Strophen in vierhebigen Trochäen mit einem symmetrischen Schema A b A A b C d d C d .141 Bezüge zur eigenen Lebensgeschichte, zum zeitgenössischen Liebesdiskurs und zur Gattungstradition des Sonettzyklus tragen zur Komplexität und zur Wirkung von Bürgers Sonettdichtung bei und heben sie über die bis dahin bekannten Versuche hinaus. Der petrarkistische Zyklus aus Liebessonetten hatte in Deutschland in der Frühen Neuzeit keine nennenswerte Tradition ausgebildet, und das merkt man noch in der Entwicklung der modernen Sonettdichtung. Während in anderen europäischen Literaturen schnell der Anschluss an die jeweils eigenen nationalen Traditionen gesucht wird, bleibt die deutsche Literatur in ihrer umfassenden Zurückweisung der einheimischen Barocktradition auf Vorbilder angewiesen, die ihr als fremde gegenübertreten. Um dies zu sehen, genügt ein Blick auf das Ausmaß der Produktion von Sonettzyklen in England und in Frankreich im 19. Jahrhundert, mit der die in Deutschland in keiner Weise zu vergleichen ist.142 Insofern gibt es für Bürgers Versuch wenig einheimische Vorbilder, und doch bewegt er sich auf überraschende Weise auch in einer Tradition ehebezogener petrarkisierender Sonettistik, die gerade für Deutschland bereits im vorangehenden Jahrhundert charakteristisch war. Bürgers Werk ist ein kleiner Zyklus von 14 Gedichten, davon 11 Sonette und ein langes Gedicht, das als Das hohe Lied von der Einzigen, in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermählung überschrieben ist. Das zwischen die Sonette gestellte Langgedicht wurde von ihm besonders geschätzt, und es wird im Gedicht selbst als ›geistiger Adon‹ thematisiert. Die liedhafte Form und die Stellung im Sonettenzyklus rückt es in die Nachfolge der petrarkischen Kanzone, was durch eine congedo-artige Autoreferenz am Schluss zusätzlich bestätigt wird (siehe dazu unten, S. 418). Die Anlage der Gedichtfolge geht auch mit den eingeschalteten Liedern auf einen kleinen Canzoniere aus. Bürger bezieht das petrarkische Modell der Liebesklage und der Liebesfeier auf seine eigene Lebensgeschichte. Er entgeht damit den Künstlichkeiten eines verschäferten oder wertherisierten Petrarca und schafft eine Verbindung von traditionellem Gattungsmodell und modern geforderter subjektiver Authentizi——————— 141

142

Im deutschen Sonett der Frühen Neuzeit wurde das Reimgeschlecht nach französischem Vorbild alterniert, was in den Reimschemata bislang nicht dargestellt wurde. Da die Behandlung des Reimgeschlechts seit Bürger signifikant wird, werden männliche Kadenzen im folgenden im Reimschema mit Kleinbuchstaben dargestellt. Vgl. die repräsentative Liste von rund 260 englischen Sonettzyklen des 18. und 19. Jahrhunderts im Anhang von: William T. Going: Scanty Plot of Ground. Studies in the Victorian Sonnet. Den Haag 1976, S. 157–173.

412 tät. Bürgers persönliche Liebes- und Ehegeschichten sind in mehrfacher Hinsicht literarisch dokumentiert worden, vor allem die Dreiecksliebe, die ihn den Schwestern Dorette und Auguste Leonhart verband. Bekanntlich heiratete er die ältere Dorette, als Auguste noch zu jung war, liebte dann aber leidenschaftlich die jüngere Schwester. Dorette willigte schließlich in ein Zusammenleben zu dritt ein, bei der sie die Ehefrau, Auguste aber die Geliebte des Dichters war, die denn auch ein Kind von ihm bekam. Die spannungsreiche Konstellation währte nicht lange, da wenige Zeit später Dorette nach der Geburt eines Kindes starb. Bürger heiratete daraufhin Auguste, aber auch sie verstarb bei der Geburt ihres zweiten Kindes.143 Es ist verblüffend, wie diese traurige Geschichte bestimmte im 18. Jahrhundert verbreitete und geradezu topische Konstellationen der Geschlechterbindung erfüllte. Im Zentrum steht dabei die konsequente Idealisierung der Liebe, die an deren Unerfülltheit gebunden ist, und die erst den melancholischen Selbstbezug und damit die Manifestation der individuellen Identität des liebenden Subjekts ermöglicht. Genau hier ergibt sich die Schnittstelle zur Lauraliebe Petrarcas, worauf oben bereits hingewiesen wurde. Dreierkonstellationen, die gewissermaßen als Garant für die Unerfüllbarkeit einer Leidenschaft gelten können, stehen entsprechend im Mittelpunkt einiger klassischer Erzählungen des Jahrhunderts: Rousseaus Nouvelle Héloïse, Johann Wolfgang Goethes Stella und Werther können genannt werden, noch die Wahlverwandtschaften variieren das Thema. Oben war zu sehen, dass auch die Liebe Petrarcas bei Lenz im Sinn einer Dreierkonstellation pointiert wurde. Entsprechend fügt es sich, wenn Klamer Schmidt anhand der Biographie De Sades auch für den historischen Petrarca eine solche Dreierkonstellation ausmacht: Aber mehr als eine Stelle in seinen Gedichten läßt vermuthen, daß seine Leidenschaft oft nichts weniger als Platonismus gewesen sey; [...]. Das schlimmste bey der Sache war, daß er seine Leidenschaft auf einen Gegenstand warf, der sie nicht erwidern durfte. Ehe die Memoires des Sade herausgekommen sind, haben alle Gelehrten, selbst die Italiäner, wenn sie die Laura nicht gar als ein Ideal ansahen, dieselbe für eine unverheirathete Dame gehalten. Einem Ausländer war es vorbehalten, der Welt mit Ehestiftungen und Testamentern zu belegen, daß Petrarchs Geliebte mit einem gewissen von Sade, viele Jahre 144 lang, im Ehestande gelebt habe.

Ein Liebesideal, das daran seinen Wert erkennt, dass es das gesellschaftlich Gewährte transzendiert – und gerade darin lag seine Modernität beschlossen –, musste die Unerfüllbarkeit zu seinem Katalysator machen. So ist es beinahe unvermeidlich, dass das Modell der unerfüllbaren Liebe nicht nur die literarischen Mythen der Zeit beherrschte, sondern auch Eingang in die Lebensgeschichte ambitionierter Protagonisten fand, sei es in der Form der wiederholten Flucht, wie bei Goethe, oder in der des ungebremsten passionierten Zugriffs, ——————— 143 144

Gottfried August Bürger: Ehestands-Geschichte. Berlin, Leipzig 1812; auch als Neudruck: Berlin [1904]. Klamer Eberhard Karl Schmidt: Gesänge für Christen. Lemgo 1773, S. 11–13.

413 wie bei Bürger. Unerfüllbarkeit hieß entsprechend nicht, dass man die Erfüllung der Leidenschaft nicht mit allen Mitteln herzustellen versuchte.145 Diese Überlegungen sollen hier nur die Folie bilden, um Bürgers Adaption der petrarkischen Geschichte zu ermessen. Ein großer Teil seiner Liebesgedichte ist jener zweiten Frau, der jüngeren Schwester Auguste Leonhart gewidmet, die er poetisch als ›Molly‹ anspricht. Ein Teil ihrer Geschichte ist auch der Gegenstand der Folge von Sonetten und Liedern der Sammlung von 1789, von der hier die Rede ist. Behandelt wird in diesen Gedichten nicht die Dreieckskonstellation, sondern allein die spätere Heirat mit Molly und ihr Tod. Im Blick auf die petrarkische Vorgabe ist dies konsequent, denn Bürger spielte in seiner Geschichte durchaus nicht die Rolle des unerfüllt schmachtenden Liebhabers, so dass diese sich schlecht hätte ›petrarkisieren‹ lassen. An die Stelle dessen tritt hier nun die Verlusterfahrung, die im Tod Lauras ebenfalls ihre Entsprechung in der Vorlage hat. Bürgers Sonette umfassen sowohl die leidenschaftliche Liebeserfüllung in der Hochzeit als auch die Erfahrung des Verlusts, und sie können damit noch an eine sekundäre Tradition anschließen. Eine Interpretation des petrarkischen Liebesmodells im Sinn ehelicher Liebe hat es, wie oben beschrieben, gerade im protestantischen Raum immer wieder gegeben, markant in Edmund Spensers Amoretti and Epithalamion von 1595 und im deutschen Raum nachgeahmt von Georg Rodolf Weckherlin in seinen Buhlereyen von 1624, bei beiden der eigenen Ehefrau gewidmet.146 Inwiefern Bürger daran bewusst anschloss, ist unklar und vielleicht unwahrscheinlich.147 Eine eheliche Interpretation des Petrarkismus war in der deutschen Literatur seit dem 17. Jahrhundert allerdings stets eine naheliegende Option, die gleichermaßen gegen den überholten Idealismus, die Sinnenfeindschaft und den katholisierend-asketischen Zug des petrarkischen Modells Front zu machen erlaubte. Die Parallelität des Bürgerschen Hohen Liedes zu Spensers Epithalamion ist tatsächlich erstaunlich, denn in beiden Fällen handelt es sich um überschwängliche Preislieder auf die Hochzeit, die einem darauf hin geordneten Sonettzyklus beigesetzt sind, bei Spenser als Abschluss, bei Bürger im Zentrum. Beide beziehen sich in formaler Hinsicht auf die petrarkische Kannzone. Das Eröffnungssonett Bürgers thematisiert zunächst die Differenz der Dichtung zum galanten und anakreontischen Liebesscherz und betont demgegenüber die Einmaligkeit und Intensität des Affekts.

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Hinweise auf die zeitgenössische Topik derartiger Dreierkonstellationen und auf weitere ›Fälle‹ auch im Umfeld Bürgers gibt Heidi Ritter: Liebe und Ehe bei Gottfried August Bürger – Wirklichkeit und Poesie. In: G.A. Bürger und J.W.L. Gleim. Hg. von HansJoachim Kertscher. Tübingen 1996, S. 137–148, bes. S. 147f. Vgl. dazu Vf.: Georg Rodolf Weckherlins Buhlereyen-Zyklus; auch oben, S. 337, Anm. 157. Bekannt ist zumindest, dass er Sonette von Paul Fleming kannte, die ihm sein Freund Meyer übersandt hatte und die er sprachlich überarbeitete; Düsel, S. 219 Anm. 1.

414 GOTTFRIED AUGUST BÜRGER Die Eine. Sonett Nicht selten hüpft, dem Finken gleich im Haine, Der Flattersinn mir keck vors Angesicht: «Warum, warum bist du denn so auf Eine, Auf Eine nur bei Tag und Nacht erpicht? Ha! glaubst du denn, weil diese dir gebricht, Daß Liebe dich mit Keiner mehr vereine? Der Gram um sie beflort dein Augenlicht; Und freilich glänzt durch diesen Flor dir Keine. Die Welt ist groß, und in der großen Welt Blühn schön und süß viel Mädchen noch und Frauen. Du kannst dich ja in manches Herz noch bauen.« –

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Ach, alles wahr! Vom Rhein an bis zum Belt Blüht Reiz genug auf allen deutschen Auen. 148 Was hilft es mir, dem Molly nur gefällt?

Bürgers Maxime der Volkstümlichkeit ist kenntlich an der sprachlichen Einfachheit, die auf allegorische und mythologische Akzente weitgehend verzichtet. Ausrufe wie »Ha!« und »Ach!« und Wiederholungen emotionalisieren die Sprechweise im Stil des Sturm und Drang, die dialogische Gestaltung trägt gleichfalls zur szenischen Verlebendigung bei. Sie zeigt im übrigen auch, dass den Sonetten ein intensives Studium der Gattungsgeschichte vorangegangen war, denn das Dialogsonett ist eine sehr alte Tradition. Der thematisch angesprochene Gegensatz von erotischer Leichtlebigkeit und hartnäckiger Bindung wiederholt eine Opposition, die von den Galanten noch mit umgekehrtem Akzent gegen die petrarkische Leidensbereitschaft ausgespielt wurde. Hier wird dagegen nun die spielerisch-scherzhafte Erotik unter Verweis auf die subjektive Neigung abgewiesen: ›Was hilft es mir?‹ Positioniert das Eröffnungssonett den Affekt des liebenden Dichters im literarhistorischen Raum, so zeigt es auch damit Gattungsbewusstsein, dass auf petrarkische Details wie die Distanzierung des Affekts im Sinn jugendlichen Irrtums verzichtet ist.149 Denkbar wäre hier allerdings ohnehin nur eine Konterkarierung gewesen, denn der moderne Konflikt von Affekt und Norm wird nun ——————— 148

149

Gottfried August Bürger: Sämtliche Werke. Hg. von Günter und Hiltrud Häntzschel. München 1987, S. 124 (Der Zyklus: S. 124–146); neuere Deutungen der Bürgerschen Sonette sind selten, ein einzelnes Sonett außerhalb des Zyklus bespricht Martin Stern: Gottfried August Bürgers Sonett ›An das Herz‹. In: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hg. von Reinhold Grimm und Conrad Wiedemann. Berlin 1968, S. 171–187; allgemein zur Liebesdichtung Alfons Höger: ›Und etwas anders noch ...‹. Galanterie und Sinnlichkeit in den Gedichten Gottfried August Bürgers. In: Text und Kontext 9 (1981) 250–270; Ulrich Müller: ›Darf ich noch ein Wörtchen lallen?‹: Gottfried August Bürgers Liebeslyrik in der Tradition des europäischen Mittelalters. In: Gottfried August Bürger (1747–1794). Beiträge der Tagung zu seinem 200. Todestag, vom 7. bis 9. Juni 1994 in Bad Segeberg. Hg. von Wolfgang Beutin und Thomas Bütow. Frankfurt a.M. 1994, S. 81–94. Gemeint ist die Rede vom »primo giovenile errore« in Canz. 1 v. 3.

415 nicht mehr zugunsten der Norm, sondern zugunsten des Affekts und damit des subjektiven Ich entschieden. Das zweite Sonett des Zyklus stellt eine unmittelbare Adaption eines der berühmtesten Sonette Petrarcas dar, das schon für die Einsambkeit des Gryphius und für unzählige andere den Vorwurf bildete. Überall Molly und Liebe. Sonett In die Nacht der Tannen oder Eichen, Die das Kind der Freude schauernd flieht, Such’ ich oft, von Kummer abgemüht, Aus der Welt Gerassel wegzuschleichen. Könnt’ ich nur, wie allem Meinesgleichen, Auch sogar der Wildnis, die mich sieht, Und den Sinn zu neuer Arbeit zieht, Bis ins Nichts hinein zur Ruh’ entweichen! Dennoch ist so heimlich kein Revier, Ist auch nicht ein Felsenspalt so öde, Daß mich nicht, wie überall auch hier

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Liebe, die Verfolgerin, befehde; Daß nicht ich mit ihr von Molly rede, Oder sie, die Schwätzerin, mit mir.

Die Anlehnung an Solo et pensoso ist recht eng, gleichwohl gelingt es Bürger in diesem seinem vielleicht bekanntesten Sonett, die Gestaltung des locus desertus mit ihrer Amormythologie wirklich erscheinen zu lassen.150 Aus dem abstrakten Topos macht er einen dunklen deutschen Wald und aus dem Fluchtmotiv einen Wunsch nach dem Nichts, eine Todessehnsucht, wobei er auf die Abwehr der Menschen, die bei Petrarca wichtig ist, praktisch verzichtet.151 Sowohl die allegorische Belebung der Naturobjekte wie die Benennung des Gottes Amor ist unscheinbar; letzteren als »Liebe« neu zu personifizieren, vermeidet jedes Antikisieren, wahrt aber Petrarcas Pointe. Mit dieser Formulierung folgt Bürger deutlich der Prosaübersetzung Meinhards, die hier ganz ähnlich lautet: »wo mir die Liebe nicht folge, wo sie sich nicht mit mir, und ich mit ihr mich unterhalte.«152 Mit dem Einsamkeitssonett setzt Bürger an die zweite Stelle seines Zyklus jenes petrarkische Motiv, das die Liebesmelancholie als subjektive Selbstschau kultiviert und das beispielhaft die Grenzziehung von Ich und Welt bezeichnet. Das Subjekt zieht sich einerseits in Abgrenzung von der gesellschaftlichen Umwelt auf einen Ort des Selbst zurück, der in der Natur lokalisiert wird, andererseits ist es durch die eigene, es selbst konstituierende Affektivität in der Liebe auf ein Gegenüber angewiesen. In dieser widersprüchlichen Bewe——————— 150

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152

Vgl. zur Geschichte dieses Topos Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974. »et gli occhi porto per fuggire intenti / ove vestigio human la rena stampi«; Canz. 35 v. 3f. Korch agiert in ihrer Analyse auch hier im Stil der Einflussforschung, wenn sie vor allem die Abweichungen von Petrarca notiert und zugleich das spätere Schlegelsche Sonettmodell als ultima ratio quasi normativ voraussetzt; Korch, S. 229–232. Meinhard, Bd. 1 (1763), S. 305.

416 gung konstituiert sich das Ich gegenüber der Welt. Sie findet in der petrarkischen Liebesparadoxie eine historische Entsprechung, die dazu geführt hat, dass Petrarcas Liebe auch zu einem modernen – romantischen – Mythos werden konnte. Bürgers Sonette folgen durchweg dem Prinzip, das petrarkische Vorbild in seinen zentralen Topoi in den Dienst des modernen Subjektivitätsdiskurses zu stellen. Dazu gehört sowohl die idealische Überhöhung der Geliebten, ihr Schönheitspreis wie die Klage über die Unerfüllbarkeit der Liebe. Den Gegensatz von gesellschaftlicher Anerkennung und individueller Liebesleidenschaft, der oben schon bei Lenz festzustellen war, behandelt das vierte Sonett. Für Sie mein Eins und Alles. Sonett Nicht zum Fürsten hat mich das Geschick, Nicht zum Grafen, noch zum Herrn geboren, Und fürwahr nicht hellerswert verloren Hat an mich das goldbeschwerte Glück. Günstig hat auch keines Wesirs Blick Mich im Staat zu hoher Würd’ erkoren. Alles stößt, wie gegen mich verschworen, Jeden Wunsch mir unerhört zurück. Von der Wieg’ an, bis zu meinem Grabe, Ist ein wohl ersung’nes Lorbeerreis Meine Ehr’ und meine ganze Habe.

5

10

Dennoch auch dies Eine, so ich weiß, Spendet’ ich mit Lust zur Opfergabe, Wär’, o Molly, dein Besitz der Preis.

Fünfhebige Trochäen und die Periodenschlüsse zu jedem zweiten Quartettvers sowie am Schluss der zweireimig alternierenden Terzette zeigen wieder eine festgefügte Form. Als semantische Opposition macht der Text den Gegensatz von mangelndem weltlichem Rang und vorhandener poetischer Fähigkeit auf, die wiederum vom Wert der Liebe übertroffen wird. Künstlerlorbeer und Liebeserfüllung fungieren als die modernen Chiffren der Selbstfindung, die in den Terzetten des Sonetts einander überbietend gesetzt sind. Das fünfte Sonett ist dem Schönheitslob gewidmet (Die Unvergleichliche), das folgende kreuzt die Idealisierung mit einer Szene intimer Nähe, dessen entfernte petrarkische Entsprechung wohl das Lob der Augen der Geliebten darstellt. Der versetzte Himmel. Sonett Licht und Lust des Himmels zu erschauen, Wo hinan des Frommen Wünsche schweben Muß dein Blick sich über dich erheben, Wie des Betenden voll Gottvertrauen. Unter dir ist Todesnacht und Grauen. Würde dir ein Blick hinab gegeben, So gewahrtest du mit Angst und Beben Das Gebiet der Höll’ und Satans Klauen.

5

417 Also spricht gemeiner Menschenglaube. Aber wann aus meines Armes Wiege Molly’s Blick empor nach meinem schmachtet:

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Weiß ich, daß im Auge meiner Taube Aller Himmelsseligkeit Genüge Unter mir der trunkne Blick betrachtet.

Das Sonett in Trochäen ist Bürgers einziges mit der später von Schlegel bevorzugten Reimfolge A B B A A B B A C D E C D E , und es steht sogar in durchweg weiblichen – hier durch Großbuchstaben bezeichneten – Reimen. Das Gedicht bildet semantisch wiederum einen Gegensatz. Die Quartette beschreiben das antagonistische christliche Weltbild, das zwischen Himmel und Hölle zu wählen hat. In den Terzetten wird dieses als bloßer Menschenglaube aufklärerisch distanziert und dem subjektiven Liebesaffekt entgegengesetzt: das Gerede vom christlichen Himmel ist in den aufwärts gerichteten Blick der Geliebten versetzt. Wieder wird ein Bereich gesellschaftlicher Wertschätzung negiert und vom subjektiven Affekt überboten. In der intimen Umarmung, im Blick der Augen und der Metapher der Taube ist der Liebesidealismus in eine kleine erotische Szene gefasst, die körperliche Nähe und geistiges Überschreiten zur Deckung bringt. Die Opposition von gesellschaftlichem Außen und affektivem Innen kommt markant nochmals im folgenden Sonett zum Ausdruck, das im Rückgriff auf die Rede vom Naturrecht der Liebe, das den gesellschaftlichen Konventionen entgegensteht, einen alten Topos der Hoffmannswaldauschen Liebesdichtung aufzugreifen scheint. Neben die Erneuerung der petrarkischen Melancholie tritt jeweils die Affirmation des subjektiven Affekts. Naturrecht. Sonett Von Blum’ und Frucht, so die Natur erschafft, Darf ich zur Lust, wie zum Bedürfnis, pflücken. Ich darf getrost nach allem Schönen blicken, Und atmen darf ich jeder Würze Kraft. Ich darf die Traub’, ich darf der Biene Saft, Des Schafes Milch in meine Schale drücken. Mir front der Stier; mir beut das Roß den Rücken; Der Seidenwurm spinnt Atlas mir und Taft. Es darf das Lied der holden Nachtigallen Mich, hingestreckt auf Flaumen oder Moos, Wohl in den Schlaf, wohl aus dem Schlafe hallen.

5

10

Was wehrt es denn mir Menschensatzung, bloß Aus blödem Wahn, in Molly’s Wonneschoß, Von Lieb’ und Lust bezwungen, hinzufallen.

Die Aufzählung in den Quartetten erinnert an manche barocke Summation und wird von einer typisch Bürgerschen Folge von schleifenartig sich umkehrenden Wiederholungen von ›darf ich‹ und ›ich darf‹ insistierend gegliedert. Diese Aufzählung kontrastiert das Naturrecht der Sinnlichkeit einer ihm entgegenstehenden gesellschaftlichen Ordnung, die als willkürlich erscheint und die dem subjektiven Affekt entgegensteht. Die Inanspruchnahme des Naturrechts zur

418 Rechtfertigung der menschlichen Affektivität erinnert sowohl an entsprechende Argumente der galanten Lyrik eines Hoffmannswaldau und wörtlich an ein bekanntes Lied in der Neukirchschen Sammlung153 als auch an die Verteidigung der Sinnlichkeit im Rahmen der lutherischen Adiaphora-Lehre, die im Hintergrund des anakreontischen Impulses gestanden hatte.154 Eine solche Argumentation ist denkbar unpetrarkisch, doch bindet sie die galante und anakreontische Affirmation des Affekts in eine Situation von Unerfüllbarkeit und Liebesleid ein. Den Höhepunkt der Folge bildet Bürgers Hohes Lied von der Einzigen, das an zehnter Stelle der 14 Gedichte steht und das als Hochzeitslied angekündigt wird. Das hohe Lied von der Einzigen, in Geist und Herzen empfangen am Altare der Vermählung Hört von meiner Auserwählten, Höret an mein schönstes Lied! Ha, ein Lied des Neubeseelten Von der süßen Anvermählten, Die ihm endlich Gott beschied!

5

Mit dem Hohen Lied ändert sich der Impetus, da es in der Hochzeit die affektive Erfüllung feiert, wo die Sonette vorher wie nachher Situationen der Unerfülltheit beschreiben. Der Rhythmus der vierhebigen Trochäen ist stürmisch und kraftvoll und auch die Motive, Bilder und Expressiva geben sich triumphal. So taucht beispielsweise das Westwindmotiv auf, nicht um die Melancholie der Liebestrennung zu kommunizieren, sondern zur affektiven Steigerung: Ha, nicht linder Weste Blasen Wehte mich zu Lieb’ und Lust! Nein, es war des Sturmes Rasen! Flamme, Steine zu verglasen Heiß genug, entfuhr der Brust!

175

Das Hochzeitsmotiv führt im Sinn des traditionellen Epithalamiums zu einer Beschwörung der Sexualität, zu der ein altertümlicher emblematisierender Aufwand getrieben wird, der von kraftgenialischem Gestus widerklingt: Arm um Arm dann um einander! An einander Brust und Brust! Wenn du dann in heißer Lust – Ha, du bist ein Salamander, Wenn du nicht zerlodern mußt! –

230

——————— 153

154

Gemeint ist die vierte Strophe der Ode Albanie / gebrauche deiner zeit: »Albanie / soll denn dein warmer schooß | So öd und wüst / und unbebauet liegen? | Im paradieß da gieng man nackt und bloß / | Und durffte frey die liebes-äcker pflügen / | Welch menschen-satz macht uns diß neue weh? | Albanie.« Neukirch, Bd. I, S. 71. Vgl. dazu oben, S. 378, Anm. 48 bis 50.

419 Die Liebeserfüllung nimmt den Klang des revolutionären Zeitalters an: Erd’ und Himmel! Eine Solche Sollt’ ich nicht mein eigen sehn? Über Nattern weg und Molche, Mitten hin durch Pfeil’ und Dolche Konnt’ ich stürmend nach ihr gehn. Mit der Stimme der Empörung Konnt’ ich furchtbar: Sie ist mein! Gegen alle Mächte schrein, Tempel lieber der Zerstörung, Eh’ ich ihrer mißte, weihn.

315

Am Ende geht Bürger ganz im Sinn der Kanzonentradition zur Selbstanrede des Liedes über: Schwing’, o Lied, als Ehrenfahne Deinen Fittig um ihr Haupt!

371

Und ganz wie manch scharfsinniger Scherz von Renaissancesonettisten wird dem Dichter sein Lied zum leiblichen Sohn: Ach! dies bange süße Drücken Macht vielleicht ihr Segensstand Nur der jungen Frau bekannt. Trägt sie so nicht vom Entzücken Der Vermählungsnacht das Pfand? Ah, nun bist du mir geboren, Schön, ein geistiger Adon!

400 401

Das Hohe Lied bildet im Zentrum der Gedichtfolge den Höhe- und Umschlagpunkt, der die Sonette der unerfüllten Liebesklage von denjenigen auf den Tod der Geliebten trennt. Die Struktur reproduziert damit die biographisch gedeutete Canzoniere-Einteilung in die in vita- und die in morte-Gedichte bezüglich Lauras, was durch Bürgers eigene Lebensgeschichte gedeckt wird. Die Sonette bleiben so durchweg auf einen Klagegestus bezogen und erlauben die fortgesetzte Aktualisierung petrarkischer Topoi. Den Schluss bilden vier Sonette auf den Verlust Mollys. Verlust. Sonett Wonnelohn getreuer Huldigungen, Dem ich mehr als hundert Monden lang, Tag und Nacht, wie gegen Sturm und Drang Der Pilot dem Hafen, nachgerungen! Becher, allgenug für Götterzungen, Goldnes Kleinod, bis zum Überschwang Stündlich neu erfüllt mit Labetrank, O wie bald hat dich das Grab verschlungen! Nektarkelch, du warest süß genug, Einen Strom des Lebens zu versüßen, Sollt’ er auch durch Weltenalter fließen.

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420 Wehe mir! Seitdem du schwandest, trug Bitterkeit mir jeder Tag im Munde. Honig trägt nur meine Todesstunde.

Wieder findet sich hier die klare Strukturierung des Gedichts, in diesem Fall mit einem präzise gesetzten Enjambement im letzten Terzett, das wie ein Bruch des Rhythmus wirkt: A b b A A b b A c D D c ~ E E . Semantisch wird es von einer Folge verwandter Begriffe strukturiert: »Wonnelohn« – »Becher« – »Nektarkelch« – »Wehe mir!«, um mit einem im Sinn des Todeswunsches interpretierten Dulcamaro, einem Bittersüß, zu schließen, das keine idealisierende Wendung und keine transzendente Tröstung mehr impliziert. Der Verlust der Geliebten bleibt ein buchstäblicher. Weitere drei Sonette der Klage und Desillusionierung beschließen den Zyklus: Trauerstille, Auf die Morgenröte und Liebe ohne Heimat: Liebe ohne Heimat. Sonett Meine Liebe, lange wie die Taube Von dem Falken hin und her gescheucht, Wähnte froh, sie hab’ ihr Nest erreicht In den Zweigen einer Götterlaube. Armes Täubchen! Hart getäuschter Glaube! Herbes Schicksal, dem kein andres gleicht! Ihre Heimat, kaum dem Blick gezeigt, Wurde schnell dem Wetterstrahl zum Raube. Ach, nun irrt sie wieder hin und her! Zwischen Erd’ und Himmel schwebt die Arme, Sonder Ziel für ihres Flugs Beschwer.

5

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Denn ein Herz, das ihrer sich erbarme, Wo sie noch einmal, wie einst erwarme, Schlägt für sie auf Erden nirgends mehr.

Das Reimschema mit zweireimigen Terzetten gibt dem Sonett eine weitgehend homogenisierte Form (a B B a a B B a c D c D D c ), die Quartette und Terzette sind semantisch deutlich gegeneinander abgesetzt. Im Zentrum steht die subjektive Erfahrung, die aus dem Scheitern der Liebe keine weitergehende Bedeutsamkeit mehr abzuleiten vermag. Die prometheische Selbstüberhebung des sensualistischen Sturm und Drang-Subjekts mündet in eine Erfahrung von Leere, die im heftigen Auf und Ab des Bürgerschen Zyklus aus Sonetten und Liedern deutlich zum Ausdruck gebracht ist.155 Bürger bindet das Sonett also in einen narrativ strukturierten Zyklus ein, vermittelt ihm durch autobiographische Beglaubigung entschieden affektive Authentizität, stiftet durch die eheliche Interpretation der erotischen Thematik die Anschließbarkeit an eingeführte Konzeptionen der protestantisch-naturrecht——————— 155

Als Generationserscheinung beschreibt Ueding diesen Komplex: Gert Ueding: Von der unheilbaren Liebe als Stimulans der Poesie. Der Dichter Gottfried August Bürger. In: G. Ueding: Die anderen Klassiker. Literarische Porträts aus zwei Jahrhunderten. München 1986, S. 13–34, bes. S. 26f.

421 lich geprägten Sittenlehre und blendet gleichzeitig im intertextuellen Rückbezug unentwegt den gattungsgeschichtlichen Horizont des petrarkischen Liebesmodells ein. Sein Projekt gewinnt auf diese Weise Tiefe und Breite und erlaubt bereits ihm selbst und den Zeitgenossen, darin eine wirkungsvolle und zeitgemäße Erneuerung der Sonettform zu erkennen.

4.7

Wertungsfragen im Zusammenhang mit Bürgers Sonetten

Bürger war sich der innovativen Natur seiner Sonettdichtung bewusst. Er widmet ihr eine lange Passage in der Vorrede zu seiner Gedichtausgabe. Dort handelt er sogleich von der allgemeinen Geringschätzung der Form in Deutschland, befürchtet aber auch eine Flut schlechter Sonette in der Nachfolge der eigenen Versuche. Seine Bemerkungen sind deutlich um eine allgemeine Aufwertung bemüht, wobei eine strenge Regelbeachtung der Qualitätssicherung dienen soll: [...] wenn es gut ist, so schlägt es mit ungemein lieblichen Klängen an Ohr und Herz. Das Hin- und herschweben seiner Rhythmen und Reime wirkt auf meine Empfindung beinahe eben so, als ein von einem schönen, anmutigen, bescheidenen jungen Paare, schön und mit bescheidener Anmut getanztes, kleines Menuett, und in dieser Stimme halte ich es für sehr wahr, was Boileau sagt: Un sonnet sans défaut vaut seul un long poëme. Es ist aber, glaube ich, nicht allein alsdann gut, wann seine mechanischen Regeln, die nach Boileau Apoll aus Bizarrerie für dasselbe erfunden und festgesetzt haben soll, auf das genaueste beobachtet werden, wiewohl man, pour pousser au bout tous les rimeurs, und 156 um die Unberufenen abzuwehren, wohl tut, dieselben auf das genaueste beizubehalten.

Hervorgehoben ist die musikalische Klangqualität und eine gewisse Kleinteiligkeit, bezüglich der Regeln aber ist eine Tendenz zu größerer Strenge eingeschlagen. Zwei Argumente werden gegen den Vorwurf der Künstlichkeit und der übermäßigen Technizität gesetzt: einmal die Behauptung der organischen Einheit des Sonetts, so dass also gleichsam klassische Schönheitskategorien in Anspruch genommen werden: Sondern vornehmlich alsdann ist das Sonett gut, wann sein Inhalt ein kleines, volles, wohl abgerundetes Ganzes ist, das kein Glied merklich zu viel, oder zu wenig hat, dem der Ausdruck überall so glatt und faltenlos, als möglich, anliegt, ohne jedoch im mindesten die leichte Grazie seiner hin und her schwebenden Fortbewegung zu hemmen. Es muß aus der Seele, es muß von Zunge und Lippen gleiten, glatt und blank, wie der Aal, welcher der Hand entschlüpfend auf dem betauten Grase sich hinschlängelt. Wenn man versuchte, das gute und vollkommene Sonett in Prose aufzulösen, so müßte es einem schwer werden, eine Silbe, ein Wort, einen Satz aufzugeben, oder anders zu stellen, als alles das im Verse stehet. [17]

——————— 156

Gottfried August Bürger: Gedichte 1789. Erster Teil. Vorrede. In: Bürger: Sämtliche Werke, S. 9–24, hier: S. 16f.

422 Die These von der übermäßigen Schwierigkeit des Sonettdichtens nach italienischem Muster wird dagegen von Bürger zurückgewiesen: Ein gutes deutsches Sonett kann demjenigen, der nur einigermaßen Ohr hat, seiner Sprache mächtig ist, und ihren Knoten, deren sie freilich leider! genug hat, auszuweichen verstehet, nicht viel schwerer sein, als jedes andre kleine gute Gedicht von diesem Umfange; [...]. [16]

Das Argument wird gleich noch mal wiederholt: Allein dem Meister der Kunst doch nicht sogar viel schwerer und zwangvoller, als jedes andre kleine Lied. Darf denn dieses etwas andres sein, als gleichsam ein Hauch, leicht aus der Brust empor gehoben und von den Lippen weggeblasen; nicht aber herausgewürgt, gehustet, geräuspert, gekrächzet, geröchelt? [17]

Die Aufwertung des Sonetts zielt hier erstmals auf eine Idealisierung der Form selbst. War das Sonett in der Frühen Neuzeit vor allem aus imitatorischen Erwägungen gerechtfertigt, so verfiel sein Formgesetz danach dem Verdacht der Willkür. Indem Bürger das Sonett im Licht einer klassizistischen Vollkommenheitsästhetik als eine Idealform beschreibt, wird dieser Verdacht ins Gegenteil gekehrt: aus Willkür wird Notwendigkeit. Zugleich wird der Topos von der besonderen Schwierigkeit der Form für die deutsche Sprache erneut mit einem Hinweis auf die Lieddichtung negiert. Die Schwierigkeit dient vielmehr nun dazu, den Meister des Sonetts von demjenigen zu scheiden, der der Form aus eigenem Unvermögen nicht gewachsen sei. Schwierigkeit wird damit indirekt wertvoll. Das Modell der organischen Geschlossenheit des Sonetts allerdings kann als ein Paradigmenwechsel erscheinen, der bereits auf die Sonettästhetik im Zeichen des romantischen Idealismus vorausweist. Die neuen Sonette erwecken allenthalben Aufmerksamkeit. Ein anonymer früher Rezensent bezeichnet sie als einen »Kranz aus zwölf schönen Blumen«, von denen keine »ohne Schimmer, keine ohne Geruch« sei.157 Georg Schatz hält das an Solo et pensoso angelehnte Überall Molly und Liebe für »ungleich schöner, als das italienische, aber doch noch nicht ganz vollkommen«, er rügt einige Ausdrücke als allzu gesucht.158 Kritischer ist ein anderer Rezensent aus einem eher allgemeinen Vorbehalt gegenüber der Form heraus; allerdings hält er das von Bürger in die Vorrede eingeschaltete Sonett von August Wilhelm Schlegel für gelungener, als dessen eigene.159 Schlegel wiederum verweist in seiner Rezension ebenfalls mit Nachdruck auf die Sonette: Eine merkwürdige Erscheinung in dieser Sammlung ist, eine Anzahl Sonetten, unter denen ein paar eine Idee des Petrarca zum Grunde haben, die meisten aber dem Dichter ganz

——————— 157 158 159

Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste 39 (1789), 2, S. 181– 220, in: Bürger: Sämtliche Werke, S. 1104–1128, hier: S. 1120. [Georg Schatz in:] Allgemeine Deutsche Bibliothek 96 (1790), S. 97–105, Bürger: Sämtliche Werke, S. 1096–1104, S. 1103. P.L.I. in: Oberdeutsche allgemeine Literaturzeitung 1789, St. 102, 2.9., Sp. 395–400, in: Bürger: Sämtliche Werke, S. 1090–1096, hier: S. 1091.

423 gehören. Wir können sie nicht kürzer und nachdrücklicher würdigen, als wenn wir sagen, daß die Foderungen, die der Dichter an ein vollkommnes Sonett macht, und die selbst in den meisten Sonetten des Petrarca nicht erfüllt sind, darin fast immer in dem Grade erreicht sind, wie es in unserer Sprache möglich ist. Vermutlich werden sie indessen eine Menge angeblicher Kunstrichter gegen sich haben, die den Wert des Reimes in unserer Poesie nicht eingestehen, und nicht ahnden, wie tief die Metrik in das innerste Wesen der 160 Dichtkunst eingreift.

Schlegel bezieht das Sonett also bereits 1789 in grundsätzlicher Weise auf die Frage des Reims und verbindet dessen Wertschätzung so mit den ihn beschäftigenden poetologischen Fundamentalien. Damit ist die spätere Zentralstellung des Sonetts für die romantische Bewegung bereits angedeutet. Das Sonett wird bereits hier als eine Art antiklassizistisches Manifest positioniert. Diese Zuspitzung ist gleichwohl an dieser Stelle noch nicht zwingend. Auch Friedrich Schiller findet in seiner epochalen Kritik der Gedichte Bürgers für dessen Sonette freundliche Worte. Dies mochte auch mit ihrer gleichsam klassischen Akzentuierung durch Bürger zusammenhängen. Schiller nimmt dabei die Charakterisierung der Form durch den Autor auf, wenn er ihren liedhaften Klang und ihre Anforderung an den Dichter hervorhebt. Er erklärt Bürgers Sonette zu Mustern ihrer Art, die sich auf den Lippen des Deklamateurs in Gesang verwandeln, wünschen wir mit ihm, daß sie keinen Nachahmer finden möchten, der nicht gleich ihm und seinem vortrefflichen Freund, Schlegel, die Leier des pythischen Gottes spielen 161 kann.

Diese Einschätzung steht Schillers Kritik des Bürgerschen Individualismus und Sensualismus, der Klage über die mangelnde Idealität und Exemplarizität seiner Dichtung entgegen, die er zur Exposition jenes klassisch-idealistischen Kunstprogramms nutzt, das dem ›philosophierenden Zeitalter‹ (970) angemessen sein soll. Dass der starke Formaspekt des Sonetts dem eher entgegenkam, als etwa der rauschhafte Gang des Hohen Liedes, liegt auf der Hand.162 ——————— 160

161

162

[August Wilhelm Schlegel in:] Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1789 (109. Stück vom 9. Juli 1789), S. 1089–1092, in: Bürger: Sämtliche Werke, S. 1088–1090, hier: S. 1089. Vgl. auch August Wilhelm Schlegel im Neuen Deutschen Museum 2 (1790) 205– 214 und 306–348; auch Wurzbach, S. 266f. Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte, in: Schiller: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. 5 Bde., München 91993, Bd. 5, S. 970–985, hier: S. 984; auch in: Bürger: Sämtliche Werke, S. 1141–1154; vgl. dazu Walter Müller-Seidel: Schillers Kontroverse mit Bürger und ihr geschichtlicher Sinn. In: Formenwandel. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann. Hg. von W. Müller-Seidel und Wolfgang Preisendanz. Hamburg 1964, S. 294–318; Günter Oesterle: Friedrich Schillers Polemik gegen die Gedichte Gottfried August Bürgers und die Antwort der romantischen Schriftsteller. In: Positive Dialektik. Hoffnungsvolle Momente in der deutschen Kultur. Festschrift für Klaus L. Berghahn zum 70. Geburtstag. Hg. von Jost Hermand. Oxford [u.a.]: Lang 2007, S. 101–115. Schiller bezeichnet das Hohe Lied zunächst als das »hervorragendste Stück«, um dann aber Bürgers »gewisse Bitterkeit« und »kränkelnde Schwermut« zu tadeln, die sich nicht selten »in die Grenzen des Wahnsinns« verliere. Wenn er es abschließend als »ein sehr vortreffli-

424 Bürgers Erwartung, dass seine Sonette zahlreiche Nachahmer finden würden, bestätigte sich rasch. In den Musenalmanachen der neunziger Jahre finden sich viele Beispiele von Sonetten in der Bürgerschen Art.163 Für die Generation der Frühromantiker sind die Gedichte Bürgers das maßgebliche lyrische Vorbild, und sie dichten ihre Sonette im folgenden Jahrzehnt in seiner Manier. Dabei tritt eine Funktion der Sonettform in den Vordergrund, die es historisch bereits häufig eingenommen hatte: es dient zunehmend als poetischer Verständigungstext in der freundschaftlichen Dichterwidmung und befördert so unter anderem die Konvergenz der frühromantischen Bewegung. Angestoßen hatte dies Bürger selbst, indem er in der Vorrede zu seinen Gedichten das Talent seines Schülers August Wilhelm Schlegel besonders herausgestellt hatte und ein Sonett aus dessen Feder einrückte. Das Lieblichste stand damit sogar den eigenen Sonetten voran. AUGUST WILHELM SCHLEGEL Das Lieblichste Sanft entschläft sich’s an bemoosten Klippen, Bei der dunkeln Quelle Sprudelklang. Lieblich labt’s wann Glut das Mark durchdrang, Traubensaft in Tropfen einzunippen. Himmlisch dem, der je aus Aganippen Schöpfte, tönt geweihter Dichter Sang. Göttlich ist der Liebe Wonnempfang Auf des Mädchens unentweihten Lippen. Aber Eines ist mir noch bewußt, Das der Himmel seinen liebsten Söhnen Einzig gab, die Wonne milder Tränen;

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10

Wann der Geist, von Ahndung und von Lust Rings umdämmert, auf der Wehmut Wellen 164 Wünscht in Melodieen hinzuquellen.

Thematisch wendet sich dieses Sonett in fünfhebigen Trochäen mit wechselnder Kadenz und Reimordnung A b b A A b b A c D D c E E von der petrarkisierenden Liebesszenerie ab, um eine Reihe von subjektiven Empfindungen als Zugang zur göttlichen Sphäre der Dichtung zu beschreiben. Im Gegensatz zu Bürger liegt das Gewicht dabei nicht mehr auf der Manifestation eines subjektiven Wollens, das sich in einer markanten Rhetorik kundgibt. Auffällig ist vielmehr eine Reduktion von Geschehen in Verben der Zuständlichkeit, die eine Verlangsamung der Zeit bewirken: »entschläft« – »labt« – »durchdrang« – »einzunippen« – »schöpfte« – »tönt« – »umdämmert« – »hinzuquellen«. Zentral ———————

163 164

ches Gelegenheitsgedicht« bezeichnet, so weil »die idealische Reinheit und Vollendung mangelt, die allein den guten Geschmack befriedigt«. Es ist der individuelle autobiographische Bezug und der spürbare persönliche Affekt, auf den sich Schillers Kritik bezieht; Schiller, Bd. 5, S. 982f. Drei Beispiele dafür in: Das deutsche Sonett. Hg. Fechner 1969, S. 128f. Bürger: Sämtliche Werke, Vorrede, S. 18; auch in: A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 344; dort kleinere abweichende Lesarten.

425 wird auch das Moment der Klanglichkeit in Alliterationen und Assonanzen: »Sanft entschläft sich’s« – »dunkeln Quelle Sprudelklang« – »Lieblich labt’s wann Glut« – »Traubensaft in Tropfen« – »Schöpfte, tönt« – »Wehmut Wellen | Wünscht«. Als wichtigstes Organisationselement der Quartette des Sonetts werden Motive der Transzendenz im Zusammenhang solcher Zustandsbeschreibung in der aufwärts gerichteten Adjektivreihe »sanft« – »lieblich« – »himmlisch« – »göttlich« in Anspruch genommen. Damit sind bereits hier entscheidende Elemente frühromantischer Dichtungspraxis gegenwärtig. Bürger verbindet den Abdruck dieses Gedichts mit einer bedeutenden Würdigung des jungen Autors, seines Talents, Geschmacks und seiner Kenntnisse, und sagt von dessen Sonetten, dass sie »das eigensinnigste Ohr des Kenners befriedigen müssen.«. Er nennt dies selbst ein »Wort der Weihe, in meinem ganzen Leben das erste,« und Schlegel seinen »Lieblingsjünger, dessen Meister« er »gern heißen möchte« (18). Überboten wird diese Würdigung noch von einem Widmungssonett, das sich unter den Gedichten findet: GOTTFRIED AUGUST BÜRGER An August Wilhelm Schlegel. Sonett Kraft der Laute, die ich rühmlich schlug, Kraft der Zweige, die mein Haupt umwinden, Darf ich dir ein hohes Wort verkünden, das ich längst in meinem Busen trug. Junger Aar! Dein königlicher Flug Wird den Druck der Wolken überwinden, Wird die Bahn zum Sonnentempel finden, Oder Phöbus Wort in mir ist Lug. Schön und laut ist deines Fittichs Tönen, Wie das Erz, das zu Dodona klang, Leicht und stark dein Aufflug sonder Zwang.

5

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Dich zum Dienst des Sonnengotts zu krönen, Hielt’ ich nicht den eignen Kranz zu wert; 165 Doch – dir ist ein besserer beschert.

Bürger inszeniert seine Empfehlung Schlegels kraft seiner gesamten Autorität als ein Wort der Dichterweihe. Diese Form des Verständigungstexts im Widmungssonett sollte zu einer zentralen Ausdrucksform der frühromantischen Bewegung werden, was natürlich dazu beigetragen hat, dass das Sonett als Gattung bald zu einem Politikum innerhalb der poetischen Auseinandersetzungen um die neue Dichterschule wurde.

——————— 165

Bürger: Sämtliche Werke, S. 157; vgl. auch Schlegels Sonett An Bürger, das ebenfalls in fünfhebigen Trochäen steht und das schon kurze Zeit später im Göttinger Musenalmanach von 1790 (S. 111) erschienen ist (A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 352); vgl. zu den Sonetten Schlegels auch Korch, S. 234–244.

426

4.8

August Wilhelm Schlegels Aufwertung von Silbenmaß und Reim

Das Sonett wird im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zunehmend von der sich formierenden frühromantischen Bewegung besetzt und experimentell auf unterschiedliche Weise erprobt. Treibende Kraft ist dabei August Wilhelm Schlegel, der neben einer umfangreichen Sonettproduktion in diesen Jahren an der Integration des Sonetts in die entstehende frühromantische Philosophie und Poetik arbeitet. Die dabei entwickelten Auffassungen von Metrum und Reim münden in die Berliner Vorlesung über Die Geschichte der romantischen Litteratur von 1803/04, die im Rahmen ihrer Behandlung Petrarcas auch theoretisch ein neues formales Paradigma der Sonettform entwirft. Der Einfluss von Schlegels Innovationen erstreckt sich über das 19. Jahrhundert hinaus auf die gesamte Sonettmoderne und ist deutlich auch in den anderen europäischen Literaturen zu spüren. Parallel zu diesen Bemühungen wurde das Sonett von den Dichtern der romantischen Bewegung in zahlreichen Widmungs- und Freundschaftsgedichten zur Selbstverständigung genutzt, auf weltanschaulich-philosophische Themen ausgeweitet und in Drama und Roman integriert. Dies führte zu einer unmittelbaren Identifikation der Sonettform mit der romantischen Bewegung selbst. Ausdruck dessen ist der im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts aufflammende ›Romantische Sonettenkrieg‹, eine kritische Gegenreaktion der klassizistischen Partei, die auf die romantische Ästhetik insgesamt zielt. Das Sonett ist zu einem Markenzeichen der Romantik geworden, eben weil es eng in deren philosophisch-poetologisches Gesamtprojekt einbezogen wurde. Die Schlegelsche Sonettphilosophie hat die gattungsgeschichtliche Beschäftigung mit dem Sonett bis in die moderne Forschung hinein dominiert und deren Wertungen beherrscht. Die tektonische Auffassung der Form stellt noch für Walter Mönch den nur um den Preis der Gattungsverfehlung zu umgehenden Wesenszug des Sonetts dar.166 Die durchgehend weibliche Kadenz wird bis heute von Gattungsgeschichtlern als die ›strenge‹ und ›korrekte‹ Form betrachtet, die sich durch weitgehende Angleichung an das italienische Vorbild auszeichnen soll. Welti bezeichnet es als die »strengste Nachahmung der italienischen Idealform« und als die »höchste formale Vollendung des deutschen Sonettes«.167 Die Freiheiten des älteren Sonetts im 18. Jahrhundert galten demgegenüber meist nur noch als Ausdruck von technischem Unvermögen oder künstlerischer Unreife.168 Daraus resultiert ein merkliches Desinteresse der älteren Forschung an der Entwicklung des frühromantischen Sonetts vor dessen Kodifizierung von fünfhebigem Jambus und weiblichem Reim. Man muss sich demgegenüber erinnern, dass die Variabilität der Sonettform im 18. Jahrhundert programmatischen Charakter hatte und dass man mit der Minderung der Schwierigkeit der Reimfindung den unterschiedlichen sprachli——————— 166 167 168

Mönch: Das Sonett, S. 33–41; Schlütter: Sonett, S. 3–11. Welti, S. 169 und 172. So erkennt Welti in den an Bürger gerichteten Jugendsonetten des Novalis »Unreife in Form und Inhalt«; Welti, S. 175.

427 chen Gegebenheiten im Italienischen und Deutschen Rechnung tragen wollte. Die parallelen Bestrebungen in England unterstreichen dies. Auch für Schlegel ist festzuhalten, dass er in den Anfangsjahren diese Variabilität durchaus offensiv ausschöpfte, und zwar über das bei Bürger bereits festgelegte Maß hinaus. Der Kodifikation der neuen Sonettform geht eine längere Phase des Experimentierens voraus, die noch nicht unbedingt auf eine solche Festschreibung zielte. Diese tritt schlagartig ein, als sich die Frühromantiker 1799 in Jena zusammenfinden. Man kann deshalb davon ausgehen, dass die Kodifikation der romantischen Sonettform ein unmittelbares Resultat des persönlichen Austauschs im Kreis der Jenaer Frühromantiker ist. Die Affinität der Romantiker zum Sonett hängt nicht nur mit dessen mittelalterlich-›romantischer‹ Herkunft zusammen, sondern auch mit der Rolle des Reims im Sonett. In den poetologischen Überlegungen von August Wilhelm Schlegel spielen die klanglichen Elemente der Sprache, also vor allem Rhythmus und Reim, eine herausragende Rolle. Seine Sonettpraxis – nicht zuletzt in seinen Übersetzungen – und seine poetologischen Bemühungen befruchten sich in diesen Jahren wechselseitig. Hinsichtlich des Reims zeigt sich früh eine Diskrepanz zwischen den Auffassungen von August Wilhelm und von Friedrich Schlegel. Friedrich geht in seinem poetologischen Denken ganz von der griechischen Literatur aus und misst dem Reim zunächst keine nennenswerte Bedeutung zu. Er hält ihn sogar insgesamt für einen Ausdruck der ›ursprünglichen Künstlichkeit‹ der modernen ästhetischen Bildung.169 Der Dissens ist in den Betrachtungen über Metrik dokumentiert, die Wilhelm seinem Bruder 1793 in mehreren handschriftlichen Briefen zukommen lässt. Gleich zu Beginn zitiert er Friedrich mit den auf Bürger bezogenen Worten: »Es scheint mir etwas sehr Untergeordnetes zu sein, schön zu reimen in unsrer Sprache.«170 August Wilhelm entwickelt in der Folge eine sprachphilosophisch verankerte Theorie der Metrik und des Reims, die auch zur Grundlage seiner Sonettauffassung wird. Er entfaltet diese ausführlich in seinen Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache, die 1795 und 1796 in Schillers Horen erscheinen. Es ist August Wilhelm darum zu tun, die rhythmischen Eigenschaften der Sprache als ursprüngliche poetische Phänomene zu beschreiben. Dahinter steht die bei der Übersetzung von Dante, Petrarca und Shakespeare gewonnene Perspektive auf die grundlegende poetische Bedeutung rhythmischer und reimtechnischer Sachverhalte. Wenn er am Anfang seiner Überlegungen das Bild des mit technischen Schwierigkeiten ringenden Dichters heraufbeschwört, so erinnert der Vergleich mit dem Prokrustes-Bett an einen Gemeinplatz der Sonettkritik: Er muß sich knechtischem Zwange mit der stolzen Miene der Freiheit unterwerfen. Seine mit Feßeln beladenen Hände und Füße bewegt er zum leichten anmuthigen Tanze. Du

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Ernst Behler: Frühromantik. Berlin, New York 1992, S. 67, darin zu August Wilhelm Schlegels Sprachphilosophie: S. 61–90, zur Lyriktheorie der Brüder: S. 191–197. A.W. Schlegel: Betrachtungen über Metrik. An Friedrich Schlegel. In: Sämmtliche Werke. Bd. 7, Leipzig 1846, S. 155–196, hier: S. 155; dazu Behler: Frühromantik, S. 67.

428 glaubst, er ruhe wollüstig auf Rosen, während er sich auf dem Bette des Prokrustes peinlich 171 dehnt oder krümmt.

Gegen dieses Vorurteil von der Äußerlichkeit metrischer Regulierung will Schlegel nun deren Universalität erweisen: »Ueberall finden wir die Poesie vom Silbenmaß begleitet, damit verschwistert, davon unzertrennlich« (101), und: »Meine Absicht ist, dir darzuthun, dass das Silbenmaß keinesweges ein äußerlicher Zierrat, sondern innig in das Wesen der Poesie verwebt ist« (107). Es ist für die romantische Poetik kennzeichnend, dass sie systematische Fragestellungen stets historisch perspektiviert und geschichtsphilosophisch aufzulösen versucht. Entsprechend führt August Wilhelm Rhythmus und Reim auf den Ursprung von Sprache und Poesie selbst zurück. Insofern sie Teil der ursprünglichen Poetizität der Sprache sind, sind sie auch entscheidende Mittel zu ihrer Repoetisierung. Auf das Stichwort der Repoetisierung kann man August Wilhelm Schlegels gesamte Sprach- und Poesiekonzeption beziehen. Der Gedankengang vollzieht dabei jeweils eine dialektische Bewegung, die von der ursprünglichen Einheit der Momente zu einer Entäußerung in Verschiedenheit führt, aus der sich die Aufgabe einer synthetischen Wiederzusammenführung des Getrennten ergibt. Dieser romantische Synthesisgedanke verwirklicht jene spezifische ›Denkbewegung‹, die Jochen Bär im Anschluss an Arthur Henkel als ›konnotativ-synthetische‹ im Gegensatz zu einer ›denotativ-analytischen‹ gekennzeichnet hat.172 Sie entspricht unter anderem auch der Fichteschen Bewegung des Selbstbewusstseins. Im Blick auf die ursprüngliche Einheit aller Dinge zielt sie auf die ›Verknüpfung‹ und Vermittlung jener allenthalben aufgebrochenen Gegensätze, die die moderne Welt hervorgebracht hatte. Diese Vermittlung soll die Aufgabe der Kunst beziehungsweise der Poesie sein. In Schlegels Überlegungen zu Metrik und Reim kehrt dieser Gedanke wieder, und zwar hinsichtlich des Verhältnisses von Musik und Sprache, von Naturlaut und Zeichen und von Poesie und Prosa: »In ihrem Ursprunge macht Poesie mit Musik und Tanz ein untheilbares Ganzes aus.« Aber: »Dagegen bestehen jetzt Poesie und Musik ganz unabhängig von einander: ihre Werke ——————— 171 172

A.W. Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. In: Sämmtliche Werke, Bd. 7, S. 98–154, hier: S. 100. Jochen A. Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Berlin, New York 1999, S. 34, S. 102; Arthur Henkel: Was ist eigentlich romantisch? In: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. von H. Singer und B. v. Wiese. Köln, Graz 1967, S. 292–308; wieder in A. Henkel: Der Zeiten Bildersaal. Studien und Vorträge. Stuttgart 1983, S. 93–106, hier: S. 95; zur frühromantischen Sprachauffassung außerdem: Eva Fiesel: Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik. Tübingen 1927; Friedrich Kainz: Die Sprachästhetik der deutschen Frühromantiker. In: Aurora 7 (1937) 116–127; Helmut Gipper, Peter Schmitter: Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. Ein Beitrag zur Historiographie der Linguistik. Tübingen 21985; Helmut Gipper: Sprachphilosophie in der Romantik. In: Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Hg. von Marcelo Dascal u.a. Berlin, New York 1992, Erster Halbband, S. 197–233.

429 bilden sich vereinzelt in den Seelen verschiedner, oft sich mißverstehender Künstler, und müßen absichtlich darauf gerichtet werden, durch die Täuschung des Vortrages wieder eins zu scheinen.«173 Entsprechendes stellt sich für die Geschichte der Sprache dar: So wie sie auf der einen Seite, vom Verstande bearbeitet, an Brauchbarkeit zu allen seinen Verrichtungen zunimmt, so büßt sie auf der andern an jener ursprünglichen Kraft ein, die im nothwendigen Zusammenhange zwischen den Zeichen der Mittheilung und dem Bezeichneten liegt. So wie die gränzenlose Mannichfaltigkeit der Natur in abgezognen Begriffen verarmt, so sinkt die lebendige Fülle der Töne immer mehr zum todten Buchstaben hinab. [105]

August Wilhelm Schlegel stellt zunächst zwei entgegengesetzte Theorien vom Ursprung sprachlicher Bedeutung vor, die auf die Fragestellung von Platons Kratylos zurückgehen: »Die Sprache ist entweder aus Tönen der Empfindung ganz allein, oder aus Nachahmungen der Gegenstände ganz allein, oder aus beiden zusammen entstanden.« (112). Als Empfindungsausdruck ist die Sprache motiviert und mit sich selbst identisch, in ihrem Bezug auf Gegenstände sind die Zeichen dagegen konventionell, willkürlich und auf bloße Nützlichkeit ausgerichtet. Dieser Gegensatz von Empfindungsausdruck und Zeichencharakter der Sprache entspricht dem von Poesie und Prosa.174 Schlegel plädiert nun zwar für den theoretischen Mittelweg zwischen beiden Positionen und also für eine Erklärung des Sprachursprungs aus beiden Prinzipien, doch weist er darauf hin, dass dem Anteil der Empfindung auch von den vermittelnden Philosophen zu wenig Rechnung getragen werde (120). Die Tendenz der gesamten Schlegelschen Argumentation ist eine Aufwertung des sinnlichen Elements gegenüber den Verstandesanteilen im Konzept der Sprache und der Poesie. Empfindung hat demnach an der Sprache immer schon Anteil »im lebendigen Vortrage der Rede und in den Geberden« (114), so dass der Ausdruck der Gefühle als eine universelle Sprache des Menschengeschlechts erscheint: Könnte man dieß schöne Gleichniß nicht auch auf die Mittheilung der Gefühle anwenden, und, um sie zu erklären, an jenes Gesetz der tönenden Körper erinnern, nach welchem gleichgestimmte Saiten, ohne sich sichtbar zu berühren, nur durch die erschütterte Luft ihre Bebungen gegenseitig bis zu einander fortpflanzen? Aber wie es auch zugehen mag: wohl uns, daß ein innigeres Band des Mitgefühls, als der eigennützige Ideenhandel des Verstandes, das menschliche Geschlecht zu einem Ganzen verknüpft! [114]

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A.W. Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. In: Sämmtliche Werke, Bd. 7, S. 103f.; vgl. auch: Barbara Naumann: »Musikalisches Ideen-Instrument.« Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik. Stuttgart 1990, S. 140–148; Susanne Holmes: Synthesis der Vielheit. Die Begründung der Gattungstheorie bei August Wilhelm Schlegel. Paderborn 2006, S. 59–80. 174 Bei der Sprachursprungstheorie bezieht sich Schlegel unter anderem auf Hemsterhuis; vgl. auch Wolfgang Kayser: Geschichte des deutschen Verses. Zehn Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten. Tübingen 41991, S. 111f.; Behler: Frühromantik, S. 71f.

430 Solcher Empfindungsausdruck begleitet die Sprache, ohne dass er etwas mit ihrem Zeichencharakter zu tun hätte und »von irgend einer Uebereinkunft abhienge« (115). Als ebenso ursprünglich wie die Sprache selbst bestimmt nun Schlegel die Poesie, und zwar im unmittelbaren Zusammenhang mit ihren sinnlichmusikalischen Momenten, mit Rhythmus und Takt. Bemerkenswert ist daran der naturalistische Charakter der Herleitung, insofern er die Anlage zum Takt für eine körperliche Gegebenheit erklärt, die zum Ursprung von Musik, Tanz und Poesie wird, wo sie den unmittelbaren Ausdruck der Leidenschaft zu überformen beginnt. Der Takt wirkt dabei als ein körperlicher Zügel des maßlosen Ausdrucks der Leidenschaft. So leitete den Menschen dann der Instinkt, oder, wenn man lieber will, eine dunkle Wahrnehmung auf das Mittel, sich dem berauschendsten Genuße ohne abmattende Anstrengung lange und ununterbrochen hingeben zu können. Unvermerkt gewöhnten sich die Füße nach einem Zeitmaße zu hüpfen, wie es ihnen etwa der rasche Umlauf des Bluts, die Schläge des hüpfenden Herzens angaben; nach einem natürlichen Gesetze der Organisation mußten sich die übrigen Geberden, auch die Bewegungen der Stimme in ihrem Gange darnach richten; und durch diese ungesuchte Uebereinstimmung kam Takt in den wilden Jubelgesang, der anfangs vielleicht nur aus wenigen oft wiederholten Ausrufungen bestand. [137]

Schiller, in dessen Horen Schlegels Briefe erschienen, kritisierte den Autor an dieser Stelle in einem Brief vom 10. Dezember 1795, indem er im idealistischen Sinne einforderte, auf die dualistische Natur des Menschen Rücksicht zu nehmen, und in der ursprünglichen Entstehung des Rhythmus das Wirken der moralischen Natur und damit des Formtriebs zu erkennen. Schlegel kam diesem Einwand in seinem abschließenden Brief ein Stück weit entgegen, doch zeigt sich auch, inwiefern Schillers Einwand der zugrundeliegenden Schlegelschen Intention entgegensteht, den Anteil der sinnlichen Seelenkräfte an der Entstehung und am Wesen der Poesie hervorzuheben.175 Erst nachdem das Zeitmaß den unmittelbaren Empfindungsausdruck in Tanz und Musik überführt hat, tritt das fiktionale Prinzip der Nachahmung und das »Aufdämmern des vorher schlafenden Triebes nach Schönheit« hinzu: »Es musste endlich dahin kommen, dass man sich durch Hülfe der Phantasie freiwillig aus einem ruhigen Zustande in lebhafte Regungen versetzte. So entstand eigentlich Dichtung« (152). Am Ursprung der Poesie ist diese gemäß dieser Erörterungen folglich ›lyrisch‹ und spontan (»improvisiert«, S. 152f.) und dem Ausdruck von Empfindungen hingegeben, in einem weiteren Schritt tritt das Moment der Phantasie und der fiktionalen Nachahmung hinzu. Zu ihrer ursprünglichen Ausstattung gehören die klanglichen Merkmale der Sprache eher als die signifikativen, die ihr prosaisches Element ausmachen. Der Empfindungsausdruck im Sprachklang vor allem erscheint als poetisch. Die ästhetische Grundlegung von Metrik und Reim, die über das Konzept des Zeitmaßes vorgenommen wird, beschreibt Silbenmaß und Klangmomente ——————— 175

Kayser: Geschichte des deutschen Verses, S. 112f.; Behler: Frühromantik, S. 68.

431 gemeinsam als ursprüngliche und damit als wesentliche poetische Phänomene. Bei Schlegel dient dies auch dazu, die auf die Nachahmung der antiken Prosodie gerichteten Bemühungen des Klassizismus des 18. Jahrhunderts etwa bei Klopstock zu relativieren und die klanglichen Elemente der modernen Sprachen und Literaturen aufzuwerten.176 Alliteration, Assonanz und Reim werden als Gleichlaut auf der Basis der qualitativen Merkmale der Silben bestimmt: Gleichlaut von Konsonanten, von Vokalen oder von beidem im Reim. Dem Reim zugrunde liegt das Merkmal der ›Verknüpfung‹ und ›Paarung‹ (438): »Daher liegt im Reime das romantische Prinzip, welches das entgegengesetzte des plastischen Isolirens ist. Allgemeines Verschmelzen, hinüber und herüber ziehen, Aussichten ins Unendliche« (438f.). Dies sind bloße Stichworte des Vorlesungsmanuskripts von 1801/1802, die zeigen, wie die klangliche Intensivierung in der Dichtungspraxis zugleich theoretisch in den Entwurf einer romantischen Philosophie der Kunst und der Poesie integriert wurde. Diese Theorie sollte unter anderem dem Sonett entgegenkommen und zu seiner Legitimation beitragen. Der Übersetzer August Wilhelm Schlegel war gerade darum bemüht, die grundsätzliche poetische Dignität von Versmaß und Reim zu erweisen. Sein Modell verkehrte das alte Verdikt der Artifizialität der reimtechnischen Zurüstungen in eine ursprüngliche poetische Qualität. Eine Aufwertung des Sonetts im Konzert der poetischen Formen war die beabsichtigte Folge.

4.9

Gattungsmischung und Zusammenführung der Künste im frühromantischen Sonett

Eine solche Aufwertung sollte offenbar auch in der dichterischen Praxis erreicht werden. Schlegel veröffentlicht in den neunziger Jahren zahlreiche Sonette in Musenalmanachen, zunächst vor allem Übersetzungen von Petrarca. In formaler Hinsicht ändert sich dabei zunächst gegenüber Bürger wenig, allerdings war oben zu erkennen, dass klangliche Momente eine verstärkte Rolle zu spielen beginnen. Im Zusammenhang damit scheint auch Schlegels erstes Experiment mit durchgängig weiblichen Reimen zu stehen, dem einzig Bürgers oben (S. 416) zitiertes trochäisches Sonett voranging. Im Jahr 1790 erscheinen im Göttinger Musenalmanach außer dem zitierten Dichtersinn drei weitere Sonette mit den Reimschemata A B B A A B B A C D E C D E , A B A B B A B A C C D E E D und A B A B A B A B C D D C E E . Die ausschließlich weibliche Kadenz dieser Sonette galt zu der Zeit als irregulär, und Schlegel erinnert sich 1799, »dass mich korrekte Kunstrichter sehr getadelt haben, weil ich in einigen Sonetten nach dem Petrarca, von denen übrigens nicht mehr die Rede seyn kann, lauter weibliche Reime gebraucht hatte«.177 Zwei dieser Sonette sind Petrarca——————— 176 177

A.W. Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik [1798–1803]. Hg. von Ernst Behler. Paderborn, u.a. 1989 (Kritische Ausgabe der Vorlesungen. 1.), S. 430–438. August Wilhelm Schlegel: Der rasende Roland. Eilfter Gesang. Nachschrift des Uebersetzers an Ludwig Tieck. In: Athenaeum II (1799) S. 277–284, hier: S. 283.

432 Übersetzungen, das erste ist das erste Gemäldesonett Schlegels mit dem Titel Cleopatra von Guido Reni, das in der Gedichtausgabe von 1800 mit zwei weiteren zum kleinen Zyklus der Gemählde zusammengeführt wird.178 Mit dem Gemäldesonett von 1790 greift Schlegel auf die von Giambattista Marino im 17. Jahrhundert aufgegriffene Tradition zurück. Das älteste Vorbild geht sogar bis auf Guittone d’Arezzo zurück. Dieser Rückgriff sollte sich als sehr erfolgreich erweisen, schuf er doch für das Sonett eine Verbindung zur bildenden Kunst, die für die zeitgenössische ästhetische Reflexion eine entscheidende Rolle spielte. Interessant ist allerdings auch, dass das Gemäldesonett wie das ebenfalls von den Romantikern so geschätzte Freundschafts-, Widmungs- und Künstlersonett auf die epigrammatische Sonett-Tradition mit ihrem heteronomen Objektbezug zurückgeht und eben nicht auf die klassische Petrarca-Tradition, auf die Schlegel doch mit seinen formalen Modifikationen zielt. Marino hatte in La Galeria 624 Gemälde- und Skulpturgedichte, hauptsächlich Madrigale, aber auch Sonette und Kanzonen, zusammengestellt. Die Titelgebung entspricht derjenigen von Schlegel: seine Gedichte tragen Titel wie Leda di Lodovico Civoli (Nr. 35), Calisto di Guido Reni (Nr. 36) oder Madonna del Correggio (Nr. 114).179 Die von Schlegel eingeführten Sonette auf Gemälde können nun bereits als ein Ausdruck jener Zusammenführung und Verknüpfung der Künste aufgefasst werden, die die Frühromantiker der modernen Literatur als Diagnose stellten und die sie zum antiklassizistischen Programm erhoben.180 Mit dem Gemäldesonett überschreitet das Sonett der Frühromantik von Beginn an systematisch den genuinen Gattungsraum der Sonettform, der Lyrik und der Poesie überhaupt. Die intensive Fortschreibung dieses Verfahrens zeigt in der Folge deren programmatischen Charakter. Das Cleopatra-Sonett stellt dafür bereits im Jahr nach den Bürger-Sonetten ein frühestes Zeugnis dar. Der Text ist auch in formaler Hinsicht bemerkenswert, da er erstmals die später für vorbildlich erklärte Verbindung von umschlingenden Quartettreimen, durchgängiger weiblicher Kadenz und dreireimig-alternierenden Terzetten vorstellt. Bei der Bildvorlage handelt es sich nach meinem Dafürhalten um den ——————— 178

179 180

Die Petrarca-Übersetzungen sind Nie weilt‹ ich noch in so geheimen Gründen! (Canz. 280: Mai non fui in parte ove sì chiar vedessi; Göttinger Musenalmanach 1790, S. 82; A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 59) und O donna! wallt denn ewig dieser Schleier (Canz. 11: Lassare il velo o per sole o per ombra; Göttinger Musenalmanach 1790, S. 151; Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 9). Die Gemäldesonette II. Leda von Michelangelo und III. Io von Correggio: A.W. Schlegel: Gedichte. Tübingen 1800, S. 183f.; auch in A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 329f. Als ältere Arbeit zu Schlegels Lyrik ist zu nennen: Erich Wulf: August Wilhelm Schlegel als Lyriker. Berlin 1913. Giambattista Marino: La Galeria. Hg. von M. Pieri. Padua 1979; vgl. auch Friedrich, S. 702–704. Vgl. zur theoretischen Entwicklung der Frage der Gattungsmischung zuletzt Sven Gesse: Genera mixta. Studien zur Poetik der Gattungsmischung zwischen Aufklärung und Klassik-Romantik. Würzburg 1997, bes. die Abschnitte zu Schelling und Friedrich Schlegel, S. 152–167 und 187–210; auch Peter K. Kapitza: Die frühromantische Theorie der Mischung. Über den Zusammenhang von romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chemie. München 1968.

433 Selbstmord der Cleopatra, der heute dem Reni-Schüler Guido Cagnacci zugeschrieben wird. Anders als die bekannten Darstellungen des Sujets durch Guido Reni zeigt dies eine schlafende Cleopatra mit hellen Haaren, die dem Text des Sonetts in allen Einzelheiten entspricht. Die Wiedergabe des Bildes ist gleichwohl hier nur illustrativer Natur. Es ist eine offene Frage, inwiefern den Gedichten Reproduktionen zugrunde liegen.

Abb. 19: Guido Cagnacci: Selbstmord der Cleopatra (1660), KHM, Wien

AUGUST WILHELM SCHLEGEL Cleopatra von Guido Reni Wie schlank ihr Leib im Schlummer hingegossen Auf Flaum sich wiegt, von keiner Hüll’ umfangen! So goldnes Haar ist auf so schöne Wangen, So zarten Hals, noch nie herabgeflossen. Doch Todesnacht hat schon ihr Aug’ umschlossen, Den Lippen ist der kühne Geist entgangen; Sie selber gab den Stichen wilder Schlangen Die Lilienblüthen, die am Busen sprossen. Oft hat ja Liebe Götter umgestaltet: O Heldin, hätt’ auch dich ein Gott berücket, Beneidend deinen Reiz dem Land der Todten! Hielt jener nicht, der mit dem Donner waltet, Als Schlang’ Olympien brünstiglich umstricket? Du hättest ihm der Freuden mehr geboten.

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434 Das Sonett181 arbeitet sprachlich wiederum verstärkt mit den klanglichen Mitteln der Alliteration und der Assonanz: »schlank ihr Leib im Schlummer« – »auf Flaum [...] umfangen« – »so goldnes [...] so schöne [...] so zarten Hals« – »doch Todesnacht hat schon [...] umschloßen« – »sie selber gab den Stichen wilder Schlangen« – »beneidend deinen Reiz«. Zugleich gestaltet es eine klare Tektonik in der Abfolge der Themen Schönheit (1. Quartett), Tod (2. Quartett), Liebe (1. Terzett) und mythologischer Zeus-Vergleich (2. Terzett). Mit der Pointe wird die historische Figur in den Erzählbereich der Ovidschen Metamorphosen hinübergespielt, was offenbar ihre endliche Schönheit mythologisch überhöhen soll. Von der Mythologie heißt es später in der KunstlehreVorlesung, sie sei »eine wahre Erweiterung unsrer Weltansicht, eine poetische Natur in der realen, was zu ihr gehört, ist, wiewohl es als Thatsache betrachtet wird, nie vergangen, sondern immer neu und gegenwärtig.«182 Die Terzette entfalten mit der Benennung der Möglichkeit von Cleopatras göttlicher Metamorphose im Anschluss an die sinnliche Beschreibung der Quartette das fiktionale Potential des sprachlichen Mediums, wie es der bildlichen Darstellung selbst nicht möglich war. Die Auswahl der Bilder für die drei Gemäldesonette geht auf historische und mythologische Szenen, die einem intensiven Empfindungsausdruck gewidmet sind. Sie behandeln dabei alle ein erotisches Szenario. Vor allem gilt dies für die beiden Jupiterbilder, die Leda des Michelangelo und die Io des von den Romantikern überaus geschätzten Correggio.183 Beide werden erst in der Gedichtausgabe von 1800 gedruckt, als der durchgängig weibliche Reim im Sonett für die Romantiker zur Regel geworden ist. Die Io ist wahrscheinlich sogar von Ludwig Tieck verfasst, denn August Wilhelm schreibt am 16. August 1799 in einem Brief an diesen: Höre, ich werde mir ein Sonett von Dir zum Geschenk ausbitten. Ich habe in dem alten auf die Cleopatra die Terzinen zurecht gerückt, das auf die Leda aus meinem eignen Italiänischen übersetzt, und möchte nun noch einen Pendant auf die Io von Correggio dazu haben, die Du wohl aus dem englischen Kupferstiche kennen wirst. Du mußt dies aber ein wenig strenge arbeiten, damit man es wirklich für mein Werk 184 halten kann.

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Das Sonett: A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 328; Erstdruck: Göttinger Musenalmanach 1790, S. 65; das vorliegende Bild: Guido Cagnacci: Selbstmord der Cleopatra. Leinwand, 153x168,5 cm, Kunsthistorisches Museum Wien, Inv. Nr. 260. Vgl. zur zeitgenössischen Reproduktionstechnik Beate Reifenscheid: Raffael in den Bildmedien des 18. Jahrhunderts. In: Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik. Hg. von Silvio Vietta. Stuttgart, Weimar 1994, S. 33–60. Schlegel behandelt historische und mythologische Gemälde im engen Zusammenhang im Rahmen seiner Vorlesung über die Kunstlehre: A.W. Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik [1798–1803], S. 349–364, hier: S. 354. Vgl. zu Tiecks Correggio-Begeisterung insgesamt: Hildegard Nabbe: Ludwig Tiecks Verhältnis zu Correggio. In: Seminar 13 (1977) 154–169; das Sonett auf die Io wird dabei jedoch nicht erwähnt. L. Tieck: Briefe an Ludwig Tieck. Hg. von Karl von Holtei. 3 Bde., Breslau 1864, Bd. 3, S. 232, die Hervorhebungen im Original; auch in: [L. Tieck:] Ludwig Tieck und die Brüder

435 Das Sonett findet sich in der Folge ausschließlich in den Werkausgaben Schlegels: AUGUST WILHELM SCHLEGEL / LUDWIG TIECK III. Io von Correggio Verhüllend will sich Nebel um sie legen, Doch bleibt vom Nacken nieder zu den Sohlen Der zarte Bau der Glieder unverhohlen, Und schön’res noch erräth der Blick verwegen. Entzücken scheint sich durch sie hin zu regen, Und, vor Entzücken, tiefres Athemholen. Und, seh’ ich recht? es kommt ein Mund verstohlen Dem Rosenantlitz aus dem Duft entgegen. Dein Loos, Ixion, hat sich hier verkehret: Du wolltest kühn der Göttin Leib umfangen, Und eine Wolke blieb in deinen Armen. Doch Io’s Reiz hat andern Trug gelehret, dass eine Wolk’ in liebendem Verlangen, Und in der Wolk’ ein Gott sie muss 185 umarmen.

Abb. 20: Correggio: Jupiter und Io (um 1530), KHM, Wien

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185

Schlegel: Briefe. Hg. und kommentiert von Edgar Lohner. München 1972, S. 41f.; ein Antwortbrief ist nicht nachgewiesen; der Kommentar von Lohner geht nicht auf den Sachverhalt ein. A.W. Schlegel: Gedichte, S. 184; auch in: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 330. Die Io des Correggio befindet sich wie der Cagnacci in Wien: Correggio: Jupiter und Io. Leinwand, 163,5x74 cm, Kunsthistorisches Museum Wien, Inv. Nr. 274.

436 Wieder gewinnt man den Eindruck, dass das Sonett zugleich von lyrischklanglichen und von tektonisch-argumentativen Momenten beherrscht wird. Die Quartette kontrastieren ähnlich wie im Cleopatra-Sonett Außen- und Innenansicht, die äußeren Glieder und das innere Entzücken, während die Terzette dem Bild eine pointenhafte vergleichende und überbietende Ausdeutung geben. Auch hier sind die klanglichen Elemente vor allem in den Quartetten präsent: »Verhüllend will sich Nebel um sie legen« – »vom Nacken nieder [...] Glieder« – »Entzücken [...] Entzücken«. In den Terzetten wird erneut die genuin poetische Fähigkeit genutzt, dem Gegenstand ein Analogon an die Seite zu stellen und damit eine Reflexion anzufügen. In diesem Fall ist es der Mythos von Ixion, der Hera umfangen wollte, woraufhin ihm Zeus die Wolke Nephele unterschob. Der Vergleich besteht allein im Bild der erotischen Wolkenumarmung und dient im Sonett zur Konstatierung der Göttlichkeit der Liebesbegegnung. Stärker als in der Tradition der Liebessonettistik eignet den Gemäldesonetten eine distanzierte Haltung des lyrischen Subjekts, die sich im reflektierenden Gestus der Terzette kundtut. Die betonte Tektonik des Sonetts wird einer Dialektik von Subjekt und Objekt und von Empfindung und Mythologie dienstbar gemacht. Das Sonett fügt sich so entschieden in das konzeptionelle Feld der frühromantischen Reflexion ein. Man kann in der Folge beobachten, inwiefern das von August Wilhelm neu eingeführte Gemäldesonett innerhalb des sich formierenden frühromantischen Kreises fortgeschrieben wurde. In den Jahren 1791 bis 1794 bringt August Wilhelm Schlegel weitere Petrarca-Übersetzungen im Göttinger Musenalmanach und in Beckers Taschenbuch zum geselligen Vergnügen 1794. Er kommt vom ausschließlich weiblichen Reim in dieser Zeit wieder ab und verwendet sehr variable Schemata auch in den Quartetten.186 Welti rechnet solches der »Ungeschicklichkeit des Anfängers« zu, doch entspricht es durchaus einfach der auf Variation gerichteten Sonettauffassung der Zeit.187 Im zweiten Band des Athenaeum veröffentlicht August Wilhelm Schlegel 1799 einen umfangreichen Dialog mit dem Titel Die Gemählde, in den am Schluss ein Zyklus von Gemäldesonetten eingeschaltet ist, der später in den Lyrikausgaben separiert und erweitert auftaucht.188 Der Dialog spielt in einer Galerie und enthält zahlreiche ausführliche Gemäldebeschreibungen. Vorab wird auf die Fähigkeit der Sprache hingewiesen, die einzelnen Künste über sich ——————— 186

187 188

1791: a B a B a C a C d d E E f f – A b A b C d d C e F e F g g – a B B a a B B a C d C d E E – A b b A A b b A c D D c D c ; 1792: A b b A c D c D e F F e G G – a B a B B a B a C C d E d E – A b b A c D D c E E f G f G ; 1794: A b b A c D c D e F e F g g – A b b A A b b A c D D c E E – A b b A A b b A c D D c E E ; nach A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 3–78. Welti, S. 161. A.W. Schlegel: Die Gemählde. Gespräch. In: Athenaeum II (1799) 39–151; in erweiterter und neuer, nummerierter Ordnung stehen die Sonette als Geistliche Gemählde in A.W. Schlegel: Gedichte, S. 159–169; außerdem wieder in: A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 305–315. Dazu knapp Wilker-Huersch, S. 31f.

437 hinauszuführen: »Gemeinschaft und gesellige Wechselberührung ist die Hauptsache« (49); »Und so sollte man die Künste einander nähern und Uebergänge aus einer in die andre suchen. Bildsäulen belebten sich vielleicht zu Gemählden, [...] Gemählde würden zu Gedichten, Gedichte zu Musiken; [...]« (49f.). Die höchste Vollkommenheit dabei setzt eine poetische Behandlung voraus, man müsse »die Töne mit Wahl zusammenstellen, und die Bewegungen nach Gesetzen ordnen« (48). Nach einer Betrachtung zahlreicher Meisterwerke, die in Raffaels Madonna gipfeln, wird erneut darauf hingewiesen, wie sehr die Künste einander bedürften: »Ohne gegenseitigen Einfluss würden sie alltäglich und knechtisch, und die Poesie zu einem unkörperlichen Fantom werden« (134). Die bildenden Künste inspirieren sich an der Poesie und versinnlichen deren Ideen. Umgekehrt benötigt die bildende Kunst Deutungshilfen zur symbolischen Auffassung ihrer fremden Gegenstände, vor allem der christlichen Mythologie. Da der moderne Republikanismus »nie etwas übermenschliches ersinnen« werde, könne man entweder der alten Mythologie oder »den göttlichen und heiligen Personen eines noch bestehenden und wirkenden Glaubens fortbildend« huldigen (136). Schlegels Geistliche Gemählde bilden den Höhepunkt und Abschluss des Gemäldegesprächs. Sie unternehmen es, dem Glauben »als schöne freye Dichtung [...] unvergängliche Dauer« zu verleihen (136), indem sie eine »Verwandlung von Gemählden in Gedichte« (137) darstellen. Sie tun dies ganz selbstverständlich in der Form des Sonetts. Die Titel der Sonette lauten Ave Maria – Christi Geburt – Die heiligen drey Könige – Die heilige Familie – Johannes in der Wüste – ›Mater dolorosa‹ – Die Himmelfahrt der Jungfrau – Die Mutter Gottes in der Herrlichkeit – sowie außer Konkurrenz und ohne Titel nachgestellt eine Magdalena.189 Wo die mythologisch-erotischen Gemälde noch pointenhaft waren, versenken sich die geistlichen in den Ausdruck selbst: AUGUST WILHELM SCHLEGEL Ave Maria. Die Jungfrau ruht, nur Demuth ihr Geschmeide, Im Abendschatten an der Hütte Thor. Sie weiß nicht, daß sie Gott zur Braut erkohr, Doch stilles Sinnen ist ihr Seelenweide. Da sieh! ein Jüngling tritt im lichten Kleide, Den Palmenzweig in seiner Hand, hervor. Voll süßen Schauers bebet sie empor, Denn seine Stirn ist Morgenroth der Freude. Gegrüßt, Maria! tönt sein holder Mund, Und thut das wundervolle Heil ihr kund, Wie Kraft von oben her sie soll umwallen.

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Im Gespräch wurden drei Magdalenen – von Franceschini, Batoni und Correggio – verglichen (88–97). Im Dialog werden weitere Vorlagen der Sonette genannt, »die Himmelfahrt der Jungfrau von Guido Reni zu Düsseldorf«, Johannes der Täufer von Andrea del Sarto oder Raffael und für die Geburt Christi Correggios Nacht (142f.).

438 Und sie, die Arm’ auf ihre Brust gelegt, Wo sichs geheim und innig liebend regt, 190 Spricht: Mir geschehe nach des Herrn Gefallen!

»Jungfrau ruht, nur Demuth« – »Abendschatten an der Hütte« – »stilles Sinnen ist ihr Seelenweide« – »tritt im lichten« – »gelegt [...] geheim [...] geschehe [...] Gefallen« – »innig liebend«: Neben den an Anfang und Ende gesteigerten Klangwirkungen ist der Text ganz auf den Symbolgehalt jungfräulicher (und mütterlicher) Demut konzentriert, die ihn vom ersten zum letzten Vers umschließt. Es sind vier Aspekte des Bildes auf die vier Sonettabschnitte verteilt: Jungfrau : Jüngling : Jüngling : Jungfrau, wobei der Text jeweils Intentionalität und Sukzession thematisiert, Momente also, die im Bild nur indirekt vermittelbar sind. Von Maria heißt es: »Sie weiß nicht«, im zweiten Quartett wird Plötzlichkeit– »Da sieh!« – und Intentionalität ausgesprochen – »Voll süßen Schauers [...] Denn [...]«; das erste Terzett gibt die Rede des Engels wieder und das zweite die ihre. Insofern kann tatsächlich vom Versuch einer sprachlichen Steigerung des Bildes die Rede sein, die durch die Form des Gedichts jedoch ganz ›poetisch‹ bleiben soll. Die dichterische Bearbeitung hat auch eine hermeneutische Funktion. In seiner Berliner Vorlesung zur Kunstlehre behandelt Schlegel die christliche Ikonographie im Zusammenhang der antiken Mythologie in der Malerei. Hier schlägt er eine Unterscheidung symbolischer und mythologischer Komposition vor, wobei die symbolische die allgemeine Bedeutsamkeit bezeichnet, die auch in historischen oder mythologischen Bildern vorherrschen kann: So ist Maria, ›wo nicht die göttliche Majestät das vorwaltende in ihr seyn soll,‹ das Bild der reinen Weiblichkeit, sie vereinigt im Geist und in der Gesinnung, was, materiell betrachtet nur in verschiednen Epochen des Lebens Statt finden kann, Jungfräulichkeit und Mütterlichkeit; Maria Magdalena hingegen ist das Bild der Reue über gemisbrauchte Jugend und Schönheit. Beyde Vorstellungen würden verständlich seyn, auch ohne alle 191 Bekanntschaft mit dem katholischen Christenthum.

Man kann die religiöse Überformung der ästhetischen Anschauung zu diesem literarhistorischen Zeitpunkt auf die Wirkung der 1796 erschienenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck zurückführen.192 Auf dem Umweg über die bildende Kunst ist die Sonettdichtung an dieser Entwicklung sogleich an prominenter Stelle beteiligt. ——————— 190 191 192

A.W. Schlegel: Die Gemählde, S. 137. A.W. Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik I [1798–1803]. Hg. von Ernst Behler. Paderborn, u.a. 1989 (Kritische Ausgabe der Vorlesungen. 1.), S. 350. Vgl. u.a. die beiden Gemäldeschilderungen in freien Versen: Wilhelm Heinrich Wackenroder, L. Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Hg. von Richard Benz. Stuttgart 1994 [Erstdruck: Berlin 1797, recte: 1796], S. 41–45. Vgl. dazu Martin Bollacher: Wackenroders Kunst-Religion. Überlegungen zur Genesis der frühromantischen Kunstanschauung. In: GRM 30 (1980) 377–394; M. Bollacher: Wackenroder und die Kunstauffassung der frühen Romantik. Darmstadt 1983.

439 Mit den Gemäldesonetten hat Schlegel grundsätzlich eine für das romantische Sonett entscheidende Tradition erschlossen, die in der Folge auf unterschiedliche Kunstgegenstände ausgeweitet werden konnte. 1789 erscheinen im Neuen Teutschen Merkur sechs Gemäldesonette des im Umkreis der Schlegels verkehrenden Übersetzers Johann Diederich Gries, die in seiner Gedichtsammlung von 1829 wiederabgedruckt sind.193 Es handelt sich um drei Sonettpaare zu gleichen Motiven und somit um eine Art von Bildvergleich. Thematisiert werden zum Teil die gleichen Bilder wie bei Schlegel: Herodias von Carlo Dolce und von Leonardo da Vinci, Magdalena von Pompeo Batoni (hier: Battoni) und von Marcantonio Franceschini und Cäcilia von Carlo Dolce und von Raffael. Wie Schlegel bevorzugt auch Gries empfindungsbetonte Frauendarstellungen, wobei das Repertoire der Bilder recht eng umgrenzt scheint. Die Cäcilia des Raffael erfährt bereits eine begeisterte Würdigung in den Herzensergießungen. Unter dem Gesichtspunkt der Gattungsmischung lassen sich den Gemäldesonetten unmittelbar die Sonetteinlagen in Dramen und Romanen anschließen, die zur gleichen Zeit ebenfalls mit Eifer vorangetrieben werden. Ludwig Tieck wird durch den Kontakt mit den Gebrüdern Schlegel auf das Sonett aufmerksam gemacht. Als der ›Dichter‹ im Kreis der Frühromantiker wird er in den Jahren bis 1805 zum Autor einer großen Zahl von Sonetten in unterschiedlichen Kontexten und in unmittelbarem Anschluss an die Vorgaben von August Wilhelm Schlegel.194 Sein umfangreiches Trauerspiel Leben und Tod der heiligen Genoveva, an dem er im Jahr 1799 schreibt, greift einen Märtyrerinnenstoff auf und verarbeitet ihn vor allem im Zeichen der Gattungsmischung.195 Vor allem lyrische Formen in den unterschiedlichsten Vers- und Strophenmaßen durchsetzen das Drama, darunter eine Reihe von Sonetten. Ziel war der Entwurf eines lyrischen Dramas, das aus dem Wechsel von Empfindungswerten leben sollte. Vorbild sollten die Werke von Shakespeare und von Calderón de la Barca sein. Die Genoveva wurde nie auf der Bühne aufgeführt, doch hatte sie in der Zeit einen beträchtlichen Erfolg als eine Art romantisches Programmwerk. Tieck las es an zwei Abenden im Dezember 1799 in Jena Goethe vor, der sich davon ——————— 193

194 195

Johann Diederich Gries: Gedichte und poetische Übersetzungen. 2 Bde. Stuttgart 1829, Bd. 1, S. 212–217. Entsprechend des frühen Entstehungsdatums von 1789 zeichnen sich die Sonette durchgängig durch abwechselndes Reimgeschlecht aus. Gemeinsam mit den anderen Frühromantikern verwendete Gries ab 1799 nur noch weibliche Reime. Zur Integration von Tieck in den Kreis der Frühromantiker: Roger Paulin: Ludwig Tieck. Eine literarische Biographie. München 1988, S. 93ff. L. Tieck: Leben und Tod der heiligen Genoveva. Ein Trauerspiel. Neue, verb. Aufl., Berlin 1820; dazu: Ludwig Stockinger: Ludwig Tiecks ›Leben und Tod der heiligen Genoveva‹. Konzept und Struktur im Kontext des frühromantischen Diskurses. In: Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Hg. von Uwe Japp, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Tübingen 2000, S. 89–118; ältere Literatur, knapp:: Roger Paulin: Ludwig Tieck. Stuttgart 1987, S. 54f.; R. Paulin: Ludwig Tieck (1988), S. 109–113; Johann Ranftl: Ludwig Tiecks Genoveva als romantische Dichtung betrachtet. Graz 1899, zu Prosa und Metrik: S. 222–235, zum Sonett: S. 227f.; Gertraut Mathilde Rübsam: Stimmungskunst in Tiecks »Genoveva«. Phil. Diss. Zürich 1954.

440 äußerst angetan zeigte.196 Der Wechsel epischer und lyrischer Elemente und die Einfügung zahlreicher romanischer Strophenformen war Konstruktionsprinzip des Dramas. Die Sonette heben dabei bestimmte Szenen besonders heraus, sie erfüllen eine gewisse Rahmenfunktion und begleiten Schlüsselszenen der Zentralfiguren Golo und Genoveva.197 WILHELM TIECK Leben und Tod der Heiligen Genoveva GENOVEVA. Wie oft hab’ ich in vorger Zeit gestanden, Mich aus dem Klosterfenster ausgelehnt, Was hat mein kindisch Herz damals gewähnt, Von unbekannten, fernen, goldnen Landen. Da wußt ich nichts von süßen Liebesbanden, Doch war mein Herz nach Liebe hingesehnt, Die Wange ward von Freud’ und Leid’ bethränt, Bis meine Blicke dann die Sterne fanden. Dann fühlt ich Himmelskräfte niedersteigen, Und jedes Ringen war in mir gestillt, Das Irdische lag da wie ausgeglommen:

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Sah ich das Gold des Mondes zwischen Zweigen, So war mein Herz mit Wonne ganz erfüllt, – 198 Dies fühl’ ich jetzt in mir zurücke kommen.

Die Reime sind hier noch nicht weiblich wie in anderen Sonetten des Stücks, das damit die Umbruchssituation 1799 recht genau spiegelt. Die Tektonik ist beachtet, doch ist die dialektische Strukturierung nicht sehr auffällig, in allen Teilen herrscht eine träumerische Stimmung vor. Der männliche Reim in den Quartetten ist zur zweisilbigen Assonanz erweitert, was den Klang verstärkt: »gelehnt« / »gewähnt« / »gesehnt« / »beträhnt«. Es finden sich Adjektivhäufungen nach romanischem Vorbild: »Von unbekannten, fernen, goldnen Landen«, Alliterationen, Assonanzen und Binnenreime: »Die Wange ward von Freud’ und Leid’« – »das Gold des Mondes zwischen Zweigen«, dreimal das Wort »Herz«. Das Sonett Tiecks verstärkt die lyrische Tendenz des Schlegelschen und hält sich dabei an dessen tektonische Vorgaben. Im lyrischen Drama nimmt es die Stelle einer intensiven szenischen Lyrisierung ein, stark situations- und handlungsgebunden, freier aber dadurch auch von Konventionen der Pointierung, die bei Schlegel weiterhin ihre Rolle spielen. Die Integration des Sonetts in epische und dramatische Formen geschieht am leichtesten in Widmungssonetten, wie die beiden Zueignung betitelten am Ein——————— 196

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Einige Zeugnisse dazu bei Klaus Günzel: König der Romantik. Das Leben des Dichters Ludwig Tieck in Briefen, Selbstzeugnissen und Berichten. Berlin (DDR) 21986, S. 199– 201. Emil Hügli: Die romanischen Strophen in der Dichtung deutscher Romantiker. Zürich 1900, darin eine Analyse der Genoveva, S. 89–94. Tieck: Leben und Tod der heiligen Genoveva, S. 68.

441 gang von Novalis’ Heinrich von Ofterdingen.199 In die Romanform integriert finden sich Sonette wenig später in Clemens Brentanos Godwi, der 1801 und 1802 erscheint.200 Hier sind nun Sonette als Kunstwerksonette in die Handlung eingebettet, so dass beide Tendenzen der Gattungsmischung nochmals verbunden sind. Wieder bilden die Sonette Schlüsselstellen des Werks. Die sehr verwickelte Geschichte Godwis ist ausgespannt zwischen verschiedene idealisierte Frauengestalten, die jeweils durch Bildwerke ikonographisch typisiert werden, wobei den Bildwerken wiederum bildbeschreibende Sonette zugeordnet sind. In der Geschichte des älteren Godwi gibt es die marienikonographisch gestalteten Schwestern Marie und Annonciata, in denen sich moralische und ästhetische Werte, Tugend und Sinnlichkeit gegenüberstehen. Ihnen entsprechen zwei Sonette: »Am Hügel sitzt sie, wo von kühlen Reben | ein Dach sich wölbt« auf Annonciatens Bild, »Im kleinen Stübchen, das von ihrer Seele, | An reiner Zierde uns ein Abbild schenket«, auf das Mariens, das wiederum eine Verkündigungsszene darstellt.201 Gespiegelt werden die Bilder nochmals in der Geschichte des jüngeren Godwi durch das Steinerne Bildnis der Mutter – wiederum Marie in Madonnenpose (S. 162f.) – und Violettens Grabmal, die Statue eines gefallenen Mädchens, das der Lust nachgegeben hat, und das »die Poesie nur noch im Wahnsinne erringt« (332), »die Apotheose eines verlornen Kindes« (327), »Wollust, Jugend, Freiheit, Liebe und Poesie im Siege des Wahnsinns den Göttern geopfert« (331). Auf den Sockel dieses Denkmals sind vier allegorische Reliefs aufgebracht, die Statue selbst erscheint als Apotheose. Der Erzähler Maria verfasst auf diese Statue vier Sonette und als Die Apotheose eine auf mehrere Stimmen verteilte Kanzone (335ff.). Formal entsprechen die Sonette inzwischen dem romantischen Usus, nur an zwei Stellen erlaubt sich Brentano Enjambements (1. Relief, Vers 4), einmal allerdings sogar über den achten Vers hinweg (2. Relief). Das dritte Sonett beschreibt den allegorischen Sieg des ›Genusses‹, der die Gestalt eines Fauns annimmt: CLEMENS BRENTANO Godwi Violettens Denkmal. Drittes Relief Im Himmel irrt ihr Blick und an der Erde Ringt sie in wilder Blöße hingegeben.

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201

Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von HansJoachim Mähl und Richard Samuel. 3 Bde., München, Wien 1978. Bd. 1: Das dichterische Werk, S. 239. Ebenfalls aus dem Jahr 1800 stammen die sogenannten Minna-Sonette Brentanos, ein Zyklus von acht Liebessonetten, der briefweise der angedichteten Minna Reichenberger übermittelt wurde und der erst 1921 zum Druck kam. Er ist in modernen Ausgaben enthalten, das erste Sonett beginnt »Es saß ein Kind ganz still zu meinen Füßen«. Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Hg. von Ernst Behler. Stuttgart 1995, S. 371f., die Bildbeschreibungen dazu S. 357–362; die Sonette auf Annonciata und auf Marie sollen auf Brentanos Schwestern Bettine und Meline bezogen sein. Vgl. insgesamt Vf.: Frühromantik ohne Protestantismus. Zur Eigenständigkeit von Clemens Brentanos Godwi-Roman. In: FDH 2002, S. 185–211, mit weiteren Literaturangaben.

442 In Lust ersterbend, voll von heißem Leben, Uebt sie gereizt, so reizende Geberde. Auf daß ihm währe, was sie sich gewährte, Legt schlau der Faun ihr, der in Lustgeweben Nun gürtellos die freud’gen Hüften schweben, Den Gürtel um das Aug, wie Lust ihn lehrte. In süßem Schmerz will sie die Arme ringen, Und schlägt das Tambourin in wilden Lüsten, Die Tauben buhlen auf den holden Brüsten,

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Es bebt der Schwan in seines Todes Singen, Es bricht in seines Liedes Lieb’ und Leiden, Der Genius der Lyra goldne Saiten. [336]

Das rauschhafte Motiv, das auf die Femme-fatale-Mythologien und den Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts vorausweist, generiert eine sprachliche Atemlosigkeit, die der durchgängigen Tektonik des Sonetts reizvoll widerstrebt, indem sie sich fortlaufend der Bildbeschreibung hingibt. Die Übermittlung der Bedeutungsdimension ist ganz den allegorisch-mythologischen Figuren überlassen, ohne noch eigens ausgedeutet zu werden. Ausdeutung steht vielmehr im erzählerischen Kontext, wo es zur ›allegorischen‹ Geschichte dieses dritten Reliefs heißt, es zeige, »wie sie der Genuß besiegt, ihr den Gürtel löset, und von dem Schooße um die Augen legt« (332). Als der Erzähler Maria die Gedichte Godwi überreicht, weist er selbst auf deren Eigenart hin. Godwi nimmt sie entgegen: Ich danke Ihnen, sagte er, und drückte mir die Hand, es standen ihm Thränen in den Augen; ich danke Ihnen für die Sonette, und erlauben Sie, daß ich sie abschreibe. Ich danke Ihnen für Ihre Thränen, erwiederte ich, welche die fehlenden [!] Pointe meiner Sonette so schön ersetzen, und erlauben Sie, daß ich diese Thränen abschreibe. [341]

Empfindung statt Pointe, damit wird eine Entwicklung affirmiert, die das Sonett durch das gesamte 18. Jahrhundert hindurch genommen hatte, ohne sich doch leicht von der älteren Tradition lösen zu können. Die etwas jüngere Generation der Romantiker ist offenbar freier von klassizistischen Rücksichten und Denkweisen, als noch der ältere Schlegel, und sie fährt die vor allem auch theoretisch neu eröffneten Möglichkeiten mit Entschiedenheit ein. Brentano lässt im Godwi bereits über den Versuch spotten, Petrarca-Sonette zu übersetzen: Man versuche es einmal mit dem Petrarch, wenn mehr herauskömmt, als ein gereimtes Florilegium, an dem man die Botanik seiner Poesie studieren kann, wenn mehr herauskömmt, als eine officinelle Übersetzung, wenn nicht jedes Sonnet ein Recept an ein Wörterbuch wird, wo man des Reimes wegen immer die Surrogate statt der Sache nehmen muß, statt Citronensäure Weinstein, statt Zucker Runkelrüben, so will ich den Entschluss aufgeben, sollte ich je lieben, eine Reihe deutscher Sonnette zu machen, die keiner ins Italiänische übersetzen wird. [293]

Das romantische Konzept der Gattungsmischung und die traditionellen Erwartungen an eine einheitsstiftende Gattungspoetik konfligieren nicht nur in den zeitgenössischen poetologischen Erörterungen, sie sind auch an einem verhältnismäßig kleinen Ausschnitt, wie ihn die Sonettpoetik darstellt, zu beobachten. Den Verschleifungen, die die Lyrisierung und die Mischung von Sonetten mit

443 episch-dramatischen Großprojekten mit sich bringen, stehen die Forderungen nach einer stilistischen Aufwertung durch die Beachtung fester Gattungsregeln entgegen. Die Klanglichkeit und die Tektonik der Form gehen nicht in jedem Fall Hand in Hand, sie bilden vielmehr widerstrebende Tendenzen in der Sonettpraxis selbst. Offenkundig wird dies, wenn man die späteren Wertungen etwa in der Sonettgeschichte Weltis liest, die zu einem nicht anders als klassizistisch zu nennenden Sonettideal zurückgefunden haben. Da sind dann »für sich bestehende Sonette« gefordert,202 die Genoveva-Sonette sind allerdings »mitten in den Dialog gestreut«: »Den Forderungen eines gut gebauten Sonettes entsprechen sie selten«, Tieck gebühre lediglich »das zweifelhafte Verdienst, das Sonett im Drama eingeführt zu haben« (176). Vervollständigt werden die frühromantischen Bemühungen um eine Zusammenführung der Künste im Sonett von Ludwig Tiecks Gedichten über die Musik, die 1802 entstanden sind, aber erst in der Gedichtausgabe 1821 gedruckt werden. Ein größerer Teil davon sind Sonette. Sie sind angeregt vom häuslichen Gesang altitalienischer Vokalmusik durch die drei Töchter des Grafen von Finckenstein in Ziebingen.203 Sie sind zum Teil allegorisch, eine Heilige Cäcilia ist darunter, die Musiker Giovanni Pierluigi da Palestrina, Benedetto Marcello und Pergolese werden bedichtet, aber einige Texte sind auch ganz der musikalischen Erfahrung hingegeben, so das folgende, das in den Namen Una und Clara zwei der Finckenstein-Schwestern benennt, die ungenannte dritte aber, Hulda, wohl anspricht: LUDWIG TIECK Gedichte über die Musik Gesang Wann du erhebst den lichten Ton zum Singen, Una den tiefen goldnen Klang drein gießet, Von Clara’s Zaubermund ein Feuer fließet, Seh ich die Himmelsgeister lieblich ringen. Bald wollen die Gespielen dich bezwingen, Von deiner Süße wird ihr Zorn versüßet, Doch wie der lichte Ton wie Morgen grüßet, Muß ihn das klingende Meer in Wellen schlingen. Bald schwimmt er oben wieder wie die Blume, Die Wogen kämpfen, und er wird ein Strahlen, Er zuckt wie Liebesblitze in den Wellen,

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Welti, S. 177. Zu einer der Töchter, Henriette von Finckenstein, entwickelte sich eine langjährige und komplizierte Liebesbeziehung. Die Sängerinnen werden in den Gedichten unter den Namen Hulda, Una und Clara angedichtet; Ruprecht Wimmer: Einzelkommentar. In: L. Tieck: Gedichte. Hg. von R. Wimmer. Frankfurt a.M. 1995 (L. Tieck: Schriften. 12 Bde. Hg. von Manfred Frank u.a., Bd. 7), S. 633–635 und 640.

444 Krystalle leuchten freundlich, in den hellen Spiegeln muß sich dein herrlich Bildnis malen, 204 Maria steht gekrönt im Heiligtume.

Die Quartettreime sind einander als Assonanz angenähert, zahlreiche Klangeffekte begleiten eine Sprache, die die Musik nachzubilden sucht, noch ein Holperer wie »das klingende Meer in Wellen schlingen« fließt in seiner Lautbildung dahin und macht die Worte selbst zum klanglichen Ornament.

4.10

Das Sonett als Verständigungsform im Kreis der Frühromantiker

In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts findet eine weitgehende Okkupation der Sonettform durch die sich als Gruppe formierenden Frühromantiker statt. Diese Aneignung vollzieht sich gleichsam unwillkürlich auf verschiedenen Feldern, wobei die literarhistorischen Studien der Autoren dazu führen, dass ganz spezifische ältere Traditionselemente des Sonetts aufgegriffen und für die eigenen Intentionen fruchtbar gemacht werden. Neben den Gelegenheits- und Widmungssonetten treten dabei vor allem Traditionen ins Blickfeld, die die verschiedenen Künste und Künstlerpersönlichkeiten betreffen. Insofern trifft sich das freundschaftliche Widmungssonett mit dem Künstler- und mit dem Kunstwerksonett. Kurz nach Erscheinen des Bürgerschen Bandes 1789 sendet der siebzehnjährige Novalis zwei Widmungssonette als Proben des eigenen Schaffens an Bürger. NOVALIS An Bürgern den Sänger der Deutschen Trotz der Jugend, die um meine Wangen Kaum noch erst den Pflaum des Jünglings schlang, Fühlt ich doch oft der Empfindung Drang Und der Ehrfurcht schimmerndes Verlangen Meinen Busen hehr und hold umfangen, Hörte früher Wollust Zaubersang; Doch der Musen süßer Lautenklang Ließ die Pfeile nicht zu mir gelangen, Die Verführung auf mich abgeschnellt; Und darum will ich auch nimmer fliehen, Will mich süße Musenlust entglühen,

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Wenn Apollo meinen Busen schwellt, Will den Berg mich zu erklimmen mühen, 205 Den herunter Bürgers Quelle fällt.

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Tieck: Gedichte, S. 148; vgl. zur Auffassung der Musik bei Wackenroder und Tieck, aber ohne Bezug auf die hier genannten Texte Naumann, S. 8–122. Novalis, Bd. 1, S. 43.

445 Das Sonett folgt auf Anhieb eher der Schlegelschen als der Bürgerschen Spur. Auch hier ist die Zuständlichkeit thematisch, ein wenig Mythologie wird für die eigene Dichterberufung aufgewandt, mehr als die Tektonik interessiert die Entwicklung der Klanglichkeit, auffällig vor allem die reichen Assonanzen und Reime: »Jünglings schlang« / »Empfindung Drang« – »Wollust Zaubersang« / »süßer Lautenklang« – »nimmer fliehen« / »erklimmen mühen«. Zwei weitere Sonette preisen Bürger und ein kleiner Zyklus aus vier Sonetten ist August Wilhelm Schlegel gewidmet. Der Zyklus hat in Anlehnung an Schlegels im Herbst 1789 erschienene Petrarca-Übersetzungen in den Quartetten Kreuzreime. Der Vers »Auch ich bin in Arkadien gebohren« ist ein Zitat der ersten Strophe von Schillers Ode Resignation, die 1786 in der Thalia erschienen war.206 Novalis nutzt diesen Vers, um die vier durchnummerierten Sonette zusammenzubinden, indem er ihn als ersten und achten Vers des ersten und als ersten Vers des vierten Sonetts setzt. NOVALIS An He[rrn A. W.] Schlegel 1 Auch ich bin in Arkadien gebohren; Auch mir hat ja ein heißes volles Herz, Die Mutter an der Wiege zugeschworen Und Maaß und Zahl in Freude und in Schmerz, Sie gab mir immer freundlich himmelwärts Zu schaun, wenn selbst die Hoffnung sich verlohren; Und stählte mich mit Frohsinn und mit Scherz; Auch ich bin in Arkadien gebohren! Komm, reiche mir die brüderliche Hand! Zu Brüdern hat uns die Natur erkohren, Und uns gebahr ein mütterliches Land. Ich habe Dir längst Liebe zugeschworen, Gern folgsam meinem bessern Genius. 207 Gib mir die Hand, und einen Bruderkuß!

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Der enthusiastische Ausdruck gemeinsamer poetischer Zielsetzungen, die hier in der gleichen landsmannschaftlichen Herkunft und im himmelwärts gerichteten Blick symbolisiert werden, findet im Dichter-Widmungssonett ein dankbares Mittel der Selbstverständigung. Dies wird von den Mitgliedern der sich langsam formierenden frühromantischen Bewegung in den folgenden Jahren mehrfach aufgegriffen und leitet die Gattung von der petrarkisch inspirierten Liebesthe——————— 206

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In Schillers Gedicht bildet »Auch ich war in Arkadien geboren« den ersten und vierten Vers der ersten Strophe; somit ist auch die Wiederholung des Verses bei Novalis Zitat; vgl. Schiller, Bd. 1, S. 130; sowie den Kommentar in Novalis, Bd. 3, S. 22f. Novalis, Bd. 1, S. 45f. Die vier Sonette variieren wie die frühen Petrarca-Übersetzungen Schlegels und also wie in der Zeit vor Bürger das Reimschema recht weitgehend: 1. Ab Ab bAbA c Bc Bdd; 2. Abb A Abb A ccD e e D; 3. Ab Ab bAbA cD D cD D; 4. Ab Ab Ab Ab cc D e e D. Zur Metrik der Schlegelschen Petrarca-Übersetzungen auch Welti, S. 161f., irreführend sind die wertenden Anmerkungen zu Novalis: Welti, S. 175f.

446 matik zu poetologisch-programmatischen Themen hinüber. Das Sonett bleibt sentimental, zugleich aber wird es theoretisch und parteiisch. Bereits im Jahr nach Bürgers Gedichtausgabe, also 1790, erscheinen Sonette von Schlegel im Göttinger Musenalmanach. Es handelt sich um ein erstes Gemäldesonett (S. 65), Petrarca-Übersetzungen (S. 82 und 151), eine Gegenwidmung An Bürger (S. 111) und ein programmatisches Gedicht (S. 3), das in den späteren Ausgaben der Schlegelschen Lyrik jeweils an den Anfang gestellt wurde, obwohl es noch im Bürgerschen Sinn verfasst war, jambisch mit wechselnder Kadenz und kreuzgereimt in den Quartetten: AUGUST WILHELM SCHLEGEL Dichtersinn. Sonett. Obschon der Jünger ungehirnte Rotte So frech entweiht des Sängers hohes Amt, Obschon das Volk zu schlaffem Lob’ und Spotte Manch halbverstandnes Götterlied verdammt: Doch schwör’ ich Huldigung dem Musengotte, So wahr ein Funk’ in mir vom Himmel stammt. Oft hat mir, einsam, in der Weihung Grotte Sein wunderbares Wort den Geist entflammt. Ich werbe nicht um Ruhm, um Lorbeerkronen; Wer nicht um ihretwillen Phöbus Kunst Mit Liebe pflegt, erbuhlt nicht Phöbus Gunst.

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Des Dichters Werk soll seinem Schöpfer lohnen. Sein goldner Pfeil ereilet rasch das Ziel, 208 Und still genügt ihm seiner That Gefühl.

Viel Prätention ist hier bereits im Spiel. Die Kunst wird wieder als himmlisch angesprochen, ihr entspricht die einsame Begeisterung des Künstlers, die abgegrenzt wird gegen äußere soziale Bedingungen, handle es sich um Gefolgschaft oder um Kritik, und die im Gegensatz dazu als autonom und selbstgenügsam gekennzeichnet wird. Zugleich bilden Identifikation und Abgrenzung ein Motivpaar dieser Sonette, das nicht zuletzt gruppendynamische Funktionen erfüllt. Dafür steht die charakteristische Opposition von ›Dichtersinn‹ und ›ungehirnter Rotte‹. Aus den Zeilen spricht insgesamt der gesteigerte Kunstwille, der die Jahre nach der Französischen Revolution in Deutschland kennzeichnet. Die Kunstreflexion trat dabei zunehmend in den Dienst kultureller und nationaler Selbstvergewisserung. Es ist eine Zeit programmatischer Gruppenbildungen mit starker Intention auf Außenwirkung – sowohl im Fall der Weimarer Klassik wie in dem der ›neuen‹ Schule, als die sich die Frühromantik sah. Beide Entwicklungen treffen sich im Bemühen um ein kulturelles Gegenprojekt zum französischen aufklärerisch-klassizistischen Vorbild.209 In diesem Prozess der ——————— 208 209

A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 1, S. 7; vorher: Göttinger Musenalmanach 1790, S. 3. Vgl. zum Jenaer Kreis: Rudolf Haym: Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Berlin 1870; Paulin: Ludwig Tieck (1988), S. 93ff.; Manfred Frank:

447 programmatischen Gruppenbildung, der im Fall der Frühromantiker in jener persönlichen Zusammenkunft im Haus der Schlegels in Jena im Jahr 1799 und 1800 ihren Höhepunkt hatte, spielte die vor allem von August Wilhelm Schlegel kultivierte Sonettform als Verständigungstext eine besondere Rolle. Die oben entfaltete gattungstheoretische These vom ideologischen Potential, das identifizierbare Textstrukturen bereithalten, lässt sich hier unmittelbar demonstrieren. Das Sonett war in mehrfacher Hinsicht als romantische Form ausweisbar, aufgrund seiner mittelalterlichen Abkunft, seiner sentimentalen Zurüstung und auch seiner Gegenstellung zu Aufklärung und Klassizismus des 18. Jahrhunderts. Dass das Sonett in der französischen Literatur der Zeit keine Rolle spielte, passte ebenfalls gut ins Konzept. Als Verständigungstext ist das Sonett zu bezeichnen, insofern es zu programmatischen und integrativen Zwecken einer als zusammengehörig empfundenen Gruppe von Wissenschaftlern und Künstlern gebraucht wurde.210 Eine solche programmatische Verwendung lässt sich unterscheiden von literarischexperimentellen Umgangsweisen mit der Form, wie sie im vorangegangenen Abschnitt diskutiert wurden. Sie greift unter anderem zurück auf die weitgehend ungebrochene Tradition der Gelegenheitsdichtung, die vor allem in der Frühen Neuzeit im Zeichen des Epigramms eng mit dem Sonett verbunden war. Integrativ wirkt natürlich auch eine differentielle Gestaltung der Form selbst. Es ist insofern kein Zufall, dass die Durchsetzung der folgenschweren Modifikation der Sonettform, die mit dem Namen August Wilhelm Schlegels verbunden ist, mit der persönlichen Zusammenkunft des Romantikerkreises in Jena 1799 zusammenfällt. Die formalen und theoretischen Konzepte dazu lagen bereits vor. Ein Experiment mit durchgängig weiblichen Reimen im Sonett hatte August Wilhelm bereits in drei Sonetten im Göttinger Musenalmanach von 1790 gemacht. Er hatte dafür Kritik geerntet und es zunächst nicht wiederholt. An dieser Stelle war also offenbar eine programmatische Zäsur möglich. Mit dem weiblichen Reim im Sonett konnte der Schlegelkreis eine Differenz zu allen ›anderen‹ Sonettversuchen der Zeit setzen und das eigene Sonett gleichsam zum Markenartikel entwickeln. Das neue Sonett fällt zusammen mit einem weiteren Markenartikel der Schlegel-Brüder, der Zeitschrift Athenaeum. Hier veröffentlicht August Wilhelm im zweiten Band 1798 seine neun Geistlichen Gemählde, wobei vier der neun Sonette durchgängig weibliche Reime aufweisen: 3. Die heiligen drei Könige, 4. Die heilige Familie, 7. Mater dolorosa und 8. Die Himmelfahrt der Jungfrau, eigentümlicherweise alle mit dem gleichen, von Schlegel später favorisierten Reimschema A B B A A B B A C D E C D E . Zwar bildet diese Form hier noch die Minderzahl, ab 1799 aber wird sie bei allen Autoren des ——————— 210

Der Jenaer Freundeskreis. In: Tieck: Phantasus. Hg. von M. Frank. Frankfurt a.M. 1985 (Tieck: Schriften. 6.), S. 1156ff. Ich übernehme den Begriff von Andreas Böhn, der damit die besondere Rolle des Sonetts innerhalb der Literatur der DDR bezeichnet: Böhn, S. 86.

448 Kreises absolut vorherrschend. Lediglich die Reimpermutation in den Terzetten findet sich noch als geläufige Variation. Die Produkte der mit dem Jenaer Kreis einsetzenden Sonettenflut erscheinen in großer Zahl im Jahr 1800 im Athenaeum, Tiecks Poetischem Journal, in der Genoveva, die im zweiten Band seiner Romantischen Dichtungen gedruckt wird, sowie in August Wilhelm Schlegels umfangreicher Ausgabe mit Übersetzungen und eigenen Gedichten.211 Einen auf die Jenaer Gruppenbildung bezogenen Charakter haben vor allem die Athenaeums-Sonette. An erster Stelle steht hier ein Widmungssonett von August Wilhelm An Ludwig Tieck, dann folgen vier Sonette von Friedrich Schlegel: 1. Die Reden über die Religion, 2. Schellings Weltseele, 3. Das Athenaeum und 4. Zerbino. Mit großer Geste werden also Schleiermacher, Schelling, die Brüder Schlegel und Tieck mit ihren charakteristischen Werken zusammengestellt; zugleich bildet dies ein umfassendes Panorama aus Theologie, Philosophie, Philologie und Poesie. FRIEDRICH SCHLEGEL 3. Das Athenaeum Der Bildung Strahlen all’ in Eins zu fassen, Vom Kranken ganz zu scheiden das Gesunde, Bestrebten wir uns treu in freyem Bunde, Und wollten uns auf uns allein verlassen: Nach alter Weise konnt’ ich nie es lassen, So sicher ich auch war der rechten Kunde, Mir neu zu reizen stets des Zweifels Wunde, Und was an mir beschränkt mir schien, zu hassen. Nun schreyt und schreibt in Ohnmacht sehr geschäftig, Als wärs im tiefsten Herzen tief beleidigt, Der Platten Volk von Hamburg bis nach Schwaben.

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Ob unsern guten Zweck erreicht wir haben, Zweifl’ ich nicht mehr; es hats die That beeidigt, Daß unsre Ansicht allgemein und kräftig.

Selbstmanifestation und Abgrenzung – »Der Platten Volk« – dominieren den Text wie auch die anderen Sonette: Schleiermacher und Schelling wird Einblick in tiefliegende Wahrheiten bescheinigt, sich selbst und Tieck wird auch die Polemik zugute gehalten: [...] Ergötzlich spielen drein mit Narrenschwänzen

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Theater, Aufklärung und Nikolai. So mahl denn Tieck! Mahl ferner unverdrossen der Schriftensteller albernste Tendenzen.

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Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Dritter Band, Berlin 1800; L. Tieck: Poetisches Journal. Erster Jahrgang, Jena 1800; L. Tieck: Romantische Dichtungen. Bd. 1, Jena 1799 (Zerbino, Der getreue Eckart), Bd. 2, Jena 1800 (Genoveva, Melusina, Rothkäppchen); A.W. Schlegel: Gedichte. Tübingen 1800.

449 Weniger krude wirkt der recht umfangreiche Zyklus, den Tieck in seinem Poetischen Journal unter dem Titel Erinnerung und Ermuntrung erscheinen lässt. In veränderter und ergänzter Form kommt dieser in seiner Werkausgabe 1821 unter dem Titel Blätter der Erinnerung wieder zum Druck. In deutlich autobiographischer Ordnung sind hier mit Widmungssonetten an die Jenaer Freunde weitere an Familienmitglieder und an persönliche Freunde Tiecks zusammengeführt. Der wohlkomponierte Zyklus aus 20 Sonetten beginnt mit einem an einen ungenannten Schulfreund An – – und als weiteren an den früh verstorbenen Friedrich Toll. Es folgen vier Gedichte An Wackenroder.212 Ein später ausgeschiedenes Sonett kontrastiert dessen Tod mit der Hochzeit Tiecks: »So war es denn verhängt, dass immer Freuden | Nur sollten mit den Leiden wechselnd kommen« (492). Auch die beiden folgenden titellosen Texte sind wohl an seine Frau Amalie gerichtet, dann folgt eines an seine Schwester Sophie – An Sophia –, ein weiteres ohne Titel, und zwei an seinen Bruder Friedrich – An Friedrich Tieck –, eins davon ohne Titel.213 Daran schließen sich weiter in biographischer Abfolge Sonette An A. W. Schlegel, An Friedrich Schlegel, An Novalis, An S–z und An F. Bernhardi an.214 Den Abschluss des ursprünglichen Zyklus bilden die später ausgeschiedenen Gedichte »Kommt Freunde denn, es soll die Fahrt beginnen« und »Der Irrtum sinket unter mit den Jahren«, die die geistige Aufbruchsstimmung und die persönlichen Differenzen thematisieren. Dieser programmatische Aspekt, die ›Ermunterung‹, fiel in der späteren Edition weg und das Programm schrumpft zur Erinnerungsthematik. Verschiedene Personen werden dann aussortiert, einige kommen dazu, vor allem zwei Nachrufsonette auf Novalis, eine ganze Reihe von Texten wird entpersonalisiert und mit abstrakten Titeln versehen. Der Titel und die Zusammenstellung des Zyklus und seine spätere Modifikation hebt den persönlich verbindenden und programmatischen Charakter des Werks hervor. Gut erkennen kann man dies auch an dem Sonett für August Wilhelm Schlegel, das in der späteren Fassung ab dem achten Vers umgeschrieben wird. Was anfangs zeitbezogen und programmatisch war, wird nun in der ——————— 212 213

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Tieck: Poetisches Journal, 473–492; kritische Ausgabe in der Anordnung der Ausgabe von 1841 mit Kommentar in: Tieck: Gedichte, S. 121ff. Die titellosen Texte erhielten in der späteren Ausgabe abstrakte Titel, die an Amalie gerichteten wurden ausgeschieden oder entpersonalisiert und verschoben, das zweite »Wie vieles Leben ist verhülltes Sterben!« (Nr. 8, S. 480) heißt später Leben, »Schau ich des Lebens weite wüste Meeren« (Nr. 9, S. 481) heißt dann Poesie. Nach dem Sonett An Sophia folgte »Als im Ruin die Welt sich wild geboren« (Nr. 11, S. 483; später: Erkennen), nach dem an Friedrich »Wohl gibt es Sturm und Krieg« (Nr. 13, S. 485; später: Kampf). Vgl. dazu insgesamt den Kommentar von Ruprecht Wimmer in Tieck: Gedichte, S. 619– 631, außerdem die Texte auf S. 492f. und den Kommentar dazu S. 762f. Mit »S – z« (Nr. 17, S. 489) ist Christian Wilhelm Schütz (1776–1847) gemeint, später heißt das Gedicht An einen jüngeren Dichter. Das Sonett An F. Bernhardi (Nr. 18, S. 490) wird später aus dem Zyklus entfernt und trägt dann den Titel Trost, was mit Bernhardis gescheiterter Ehe mit Tiecks Schwester Sophie und dem damit verbundenen Zerwürfnis zusammenhängt; vgl. auch den Kommentar in Tieck: Gedichte, S. 400. 628f. 725f.

450 Rückschau abgemildert und verallgemeinert.215 Hier folgt der ursprüngliche Text aus dem Jahr 1800: LUDWIG TIECK Erinnerung und Ermuntrung 14. An A. W. Schlegel Schon fängt die alte Nacht sich an zu hellen, Und wieder scheinen hell aus klarer Ferne Die hohen Bilder, freundlich liebe Sterne, Piloten auf der weiten Bahn der Wellen. Wen kümmerts, daß die Hund’ am Ufer bellen? Besteig’ dein Schiff mit frohem Muthe gerne, Such’ fremdes Land und Meer, sieh neue Sterne, Bald wird die Barbarey in sich zerschellen. Irrlichter gehn zu ihrem Sumpf hernieder, Allseitig wird die Kunst vom Himmel blühen, Kein Wolkendampf auf ihrem Glanze ziehen.

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Es regen sich die ungebohrnen Lieder, Bald wird die Welt in Liebesfarben brennen, 216 Dann wird sie dankbar deinen Namen nennen.

Tieck ist lyrischer als die Schlegel-Brüder es sind, doch wahrt auch er sehr genau die strophische Gliederung. Das zweite Quartett bringt einerseits die stets wiederholte Differenzsetzung auch zu den Kritikern und andererseits das Aufbruchs- und Eroberungssymbol der Schifffahrt in fremde Länder. Die zukunftsorientierten Passagen, die mit »Bald wird« (v. 8) einsetzen, werden später abgeändert. Der programmatische und einheitsstiftende Impetus der ursprünglichen Version tritt damit zurück. Das gleiche Motiv ist wohl ausschlaggebend für das Ausscheiden der beiden letzten Sonette des Zyklus. Das vorletzte nimmt die Metapher des soeben zitierten Texts auf und verkündet hoffnungsfroh die gemeinsame heroische und zukunftsfrohe Zielsetzung der frühromantischen Gruppierung. LUDWIG TIECK Erinnerung und Ermuntrung 19. Kommt Freunde denn, es soll die Fahrt beginnen, Die Segel schwellen und das Meer ist eben, Seid unbesorgt, wenn unten Wolken schweben, Der Nebel muß im Sonnenschein zerrinnen. Das Land fliegt fort, nach kurzer Frist gewinnen Wir Heimat, neue Freunde, muntres Streben Muß gegenseitig uns im Sturm beleben, Wer einmal auf der Flut kann nicht von hinnen.

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Welti hält die spätere Fassung für »schöner und wahrer« und weist auf die entsprechende Bearbeitung im Sonett an Friedrich Schlegel hin; Welti, S. 177f. Tieck: Poetisches Journal, S. 486; die spätere Fassung: Tieck: Gedichte, S. 125f. und S. 625.

451 Vertraut euch selbst, vertraut dem edlen Mute, Schon singen fremde Vögel: seid willkommen! Schon grüßen uns süßtönende Gesänge.

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Es jauchzt die Woge unter uns, sie flute Empor! So ist Columbus hingeschwommen 217 Fand Land und stand voll Mut im Flut-Gedränge.

Die umfangreichste Manifestation neuer Sonettdichtung erscheint im gleichen Jahr 1800 in der Gedichtausgabe des August Wilhelm Schlegel, wo abgesehen von den Übersetzungen, die 1804 in den Blumensträußen zu finden sind,218 der größte Teil seiner Sonettproduktion bereits versammelt ist. Vieles ist hier zum ersten Mal gedruckt. Auch enthält der Band die Zyklen Geistliche Gemählde, Die italiänischen Dichter, Gemählde und Cervantes, die neben der Einbeziehung der Malerei und religiöser Motive die literarische Programmatik im Sonett zur Darstellung bringen. Der Dichter-Zyklus beispielsweise bedichtet die Reihe der für vorbildlich erklärten Autoren der italienischen Literaturgeschichte: Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariosto, Torquato Tasso und Guarini. Der Cervantes-Zyklus richtet sich an einzelne Werke, zusätzlich zu den Zyklen finden sich einzelne Sonette wie eines auf Shakspeares Sonette und übrige Jugendgedichte, Der Reim und die Poesie oder das berühmt gewordene Das Sonett.219 Die Sonettform wird somit zur unmittelbaren Proklamation poetologischer und weltanschaulicher Sachverhalte herangezogen, die damit zugleich in eine poetische Darstellung eingebunden sind. Durch die Pflege des gruppenbezogenen Widmungsgedichts wird die Evokation der historischen Vorbilder und die programmatische Selbstbestätigung und Selbstdarstellung in enge Verbindung gebracht. Das Sonett als Form wird als ein Medium des Werttransfers genutzt: Durch die Anhebung von Thematik und Stil und die philosophische Aufwertung des Reims wird das Sonett selbst als Form angehoben. Damit verbunden ist die Aufwertung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Epochen einerseits und die der eigenen geistigen Zielsetzungen wie auch der diese vertretenden Personen. Es ergibt sich ein komplexes System von Wertungsakten, innerhalb dessen ——————— 217

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Poetisches Journal, S. 491; auch: Tieck: Gedichte, S. 492f. Tiecks Sonettdichtung setzte sich in den folgenden Jahren noch fort im Prolog zur Magelone (1803) und den Sonetten zum Romanprojekt Alma (1803). Ein scherzhaftes und bereits distanziertes Resümee stellt der Zyklus Die Kunst der Sonette (1805) dar, der auf dem Höhepunkt des ›Sonettenkriegs‹ verfasst wurde, aber erst in der Werkausgabe 1821 zum Druck kam. Sieben Sonette, darunter ein dialogisches, reflektieren in scherzhaftem Ton und mit gehöriger Selbstironie auf eine Sonettenkunst, die vor lauter Reimspielerei nichts aufzuweisen hat, »was man Gedanken nennt« (S. 396–399, hier: S. 397 v. 13). Zum beliebten Anthologiesonett wurde »Ein nett honett Sonett so nett zu drechseln« (397f.). Tiecks scherzhafte Begabung brachte gerade mit diesem vorläufigen Schlusswort des neben Schlegel wichtigsten Dichters des frühromantischen Sonetts eines seiner reizvollsten Erzeugnisse hervor. A.W. Schlegel: Blumensträusse italienischer, spanischer und portugiesischer Poesie. Berlin 1804. A.W. Schlegel: Gedichte, der eigene Sonett-Teil: S. 159–216. In der Ausgabe der Poetischen Werke (1811) blieb die Anordnung grundsätzlich erhalten, so auch weitgehend in der Ausgabe von Böcking: A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 1, Inhaltsverzeichnis und S. 303–379.

452 das Sonett eine klar identifizierbare Funktion erfüllt. Die wiederum ist nicht in jedem Fall bündig und überzeugend an entsprechende ästhetische Umsetzungen rückgekoppelt. Es ergibt sich die Gefahr, das kleine Formkunstwerk des Sonetts zum austauschbaren Proklamationsinstrument zu verwandeln und so in seiner Dignität implizit bereits wieder in Frage zu stellen. Man kann sicher sagen, dass die starke Identifikation der literarisch-kulturellen Parteiung mit der historischen Form einerseits zu deren rascher Prominenz beigetragen hat, sie andererseits aber auch zum Gegenstand des Parteienstreits hat werden lassen. Der sogenannte romantische Sonettenkrieg entspringt aus genau dieser Konstellation.220 Er ist auch Ausdruck einer Überhitzung und Überforderung der Gedichtform, die den hochgesteckten neuen Ansprüchen poetisch keineswegs auch bereits entsprechen konnte. Sonettdichtungen von hohem literarischem Rang hatte die neue Sonettbegeisterung bislang nämlich keine hervorgebracht.221 Die bedeutendsten Lyriker der Zeit vor 1800 bewegten sich noch auf klassizistischem Boden. Schiller und Hölderlin fanden nicht zum Sonett, Goethe halbwegs ernstlich erst im Kontext des Sonettenkriegs im Jahr 1807. Programmatischer Wille überwog noch deutlich das poetische Vermögen. Gelungen aber war eines: die Positionierung der Sonettform im Zentrum des poetischen und poetologischen Diskurses, ihre prinzipielle Aufwertung im Konzert der lyrischen Formen und ihre Identifikation mit dem Projekt eines entschieden modernen Gedichts.

4.11

Romantische Sonettphilosophie und ideales Gedicht

Die Theorie des Sonetts, die August Wilhelm Schlegel in seiner Vorlesung von 1803/04 vorstellt, beruht auf den Formexperimenten und Überlegungen des vorangegangenen Jahrzehnts, und sie nimmt in Anspruch, durch Rückgang auf die ›klassische‹ italienische Form bei Petrarca die verbindliche Auffassung des Sonetts gewonnen zu haben. Gerade in diesem Anspruch liegt ihr normatives ——————— 220

221

Die vorliegende Analyse schließt mit dem Schlegelschen Entwurf der romantisch-modernen Sonettform in seinen Vorlesungen von 1803 und 1804 und geht nicht mehr auf die Entwicklung im 19. Jahrhundert ein. Über den Sonettenkrieg berichtet ausführlicher Welti, S. 197–216; einige Quellentexte sind zusammengestellt in: Das deutsche Sonett. Hg. Fechner 1969, S. 338–366. Besonders hervorgehoben wird aus dem Sonettwerk August Wilhelm Schlegels meist das Todten-Opfer (später: Todtenopfer für Augusta Böhmer), das ebenfalls noch aus dem Jahr 1800 stammt und 1802 im Schlegel-Tieckschen Musenalmanach erscheint (Musen-Almanach für das Jahr 1802, S. 171–186). Es ist ein kleiner Zyklus aus neun Gedichten auf den Tod der jungen Tochter Caroline Schlegels, der auch aufgrund der persönlichen Betroffenheit aus dem bisherigen Rahmen etwas herausfällt. Gleichwohl setzt sich der kasuale Charakter der Sonettdichtung auch hier fort. Ein eröffnendes Lied stellt den Kontrast her zum jugendlichen Unendlichkeitsstreben: »Ich wollte dieses Leben | Durch ein unendlich Streben | Zur Ewigkeit erhöh’n«; es folgen sechs Sonette sowie eine Kanzone und ein weiteres Sonett, die letzten beiden jeweils betitelt An Novalis. Der Dichterfreund war Anfang 1801 ebenfalls gestorben. Auf eine nähere Behandlung dieses Zyklus wird hier verzichtet.

453 Moment. Schlegels Entwurf der romantisch-modernen Sonettform ist durch unterschiedliche Bedingungen geprägt, er gibt sich historisch und analytisch, doch nimmt er sehr bestimmte und keineswegs selbstverständliche Festlegungen vor, die zum Teil heteronomen Motivationen folgen. Nicht zu übersehen ist etwa das starke kulturstrategische, letztlich nationale Interesse, das sich in der entschiedenen Abwendung von allen französischen Einflüssen dokumentiert. Diese Tendenz bestimmt das allgemeine Klima der Zeit und wirkt sich bis in die Detailbestimmungen zur Sonettform hinein aus. Auch der insgesamt gesteigerte Kunstwille ist im kulturellen Gesamtklima der neunziger Jahre zu verorten. Die ›neue Schule‹ um die Brüder Schlegel wendet sich insgesamt gegen eine diagnostizierte kulturelle Verflachung, gegen die ›platte‹ und ›prosaische‹ Kunstübung der spätaufklärerisch-absolutistischen Gesellschaft. Ihr Ziel ist eine geistig-philosophische Neubesinnung, ein Zugewinn an poetischer Dignität, der sich auch in der Bewertung der einzelnen Gattungen bemerkbar macht. Dem Sonett soll dabei nach Auffassung August Wilhelm Schlegels eine zentrale Stellung zukommen. Daraus resultiert sein starkes Interesse an der Aufwertung der Form, die mit einer auch stilistischen Anhebung einhergehen soll. War eine solche Tendenz der stilistischen Anhebung bereits insgesamt in der Idealisierungsforderung der Schillerschen Bürger-Kritik erkennbar, so ist sie unmittelbar im späteren Kommentar August Wilhelms zu Bürgers Einschätzung des Sonetts abzulesen. Bürger hatte in der Vorrede zu seinen Gedichten auf die vielfältige Verwendbarkeit der Sonettform hingewiesen: Das Sonett ist übrigens eine sehr bequeme Form, allerlei poetischen Stoff von kleinerm Umfange, womit man sonst nichts anzufangen weiß, auf eine sehr gefällige Art an den Mann zu bringen. Es nimmt nicht nur den kürzern lyrischen und didaktischen sehr willig auf, sondern ist auch ein schicklicher Rahm um kleine Gemälde jeder Art, eine artige 222 Einfassung zu allerlei Bescherungen für Freunde und Freundinnen.

Die Charakterisierung hat die traditionellen Verwendungsweisen im Blick, sowohl die lyrischen wie die lehrhaft-argumentativen, aber auch die kasualen und epigrammatischen Traditionen der Form. Gleichwohl klingen Bürgers Epitheta hier sehr nach Rokoko: klein, gefällig, schicklich und artig sind Bewertungen, die sich einem romantischen oder idealistischen Programm nicht mehr fügen. Dies gilt trotz der Tatsache, dass auch die Frühromantiker den didaktischen und kasualen Verwendungsweisen des Sonetts durchaus einiges abgewinnen konnten. Als ›kleine Form‹ sollte das Sonett nicht dargestellt werden, damit wäre es im Kontext der neuen poetologischen Entwürfe nicht relevant gewesen. Konsequent folgt hier also Schlegels Kritik an Bürger: »Alles läuft bei ihm auf die Merkmale der Kleinheit, Niedlichkeit und Glätte hinaus, durch welche Forderungen die antithetische Symmetrie und unveränderliche Architektonik

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Bürger: Gedichte 1789, Vorrede. In: Bürger: Sämtliche Werke, S. 18f.

454 des Sonetts durchaus nicht erklärbar wird.«223 Schlegels theoretische Sonettauffassung ist hier bereits ausgeprägt. Es ist gerade die bei Bürger zu beobachtende »lose, diminutive [...] Vorstellung vom Sonett«, die zu überwinden sei. Der Weg dazu ist die Betrachtung des »wahren Wesens« der Gattung in einer »Theorie des Sonetts« (133). Das Ziel einer stilistischen Anhebung und Aufwertung kommt deutlich zum Ausdruck: Das Beispiel der großen italiänischen und spanischen Meister belehrt uns, daß für das Sonett nichts zu groß, stark und majestätisch sei, was sich nur irgend nach materiellen Bedingungen des Raumes darein fügen will. Ja, es fordert seiner Natur nach die möglichste Fülle und Gedrängtheit, und Bürgers Sonette scheinen mir nicht genug gediegnen Gedan224 kengehalt zu haben, um dem Nachdruck ihrer Form ganz zu entsprechen.

Die theoretische Grundlegung des Sonetts, die Schlegel wohl gegen Ende der neunziger Jahre entwickelt hat, formuliert er in seiner Berliner Vorlesung über romantische Poesie vom Winter 1803/04 im Zusammenhang mit der Behandlung Petrarcas. Die Darstellung ist vielschichtig und es spiegeln sich in ihr grundsätzliche Widersprüche der frühromantischen Ästhetik. Auch in der Sonettpoetik treffen die historisch-progressiven Momente der neuen Ästhetik mit ihren überkommenen klassizistischen Tendenzen zusammen; es trifft sich die Betrachtung der Form unter dynamisch-dialektischen Gesichtspunkten mit derjenigen einer naturalisierenden und essentialistischen Gattungsauffassung.225 Das Sonett wird zugleich unter dem Aspekt der Verknüpfung des Disparaten und der Gattungsmischung wie unter dem klassizistischen Ideal einer vollkommenen Form beschrieben.226 Dies ist Ausdruck des Gegensatzes der modernen historistischen Geschichts- und Literaturauffassung und der klassizistischen Ästhetik. Es ist von der Erwartung geprägt, dass die heterogene moderne Entwicklung schließlich zu einer wiederum objektiven und der klassischen Antike überlegenen Kunst- und Lebenstotalität führen müsse. In solchem Blickwinkel musste der modernen Kunstform zugleich dynamischer Widerspruch und poetische Vollkommenheit zugesprochen werden. August Wilhelm macht die Sonettform zu einem Inbegriff dieser Konstellation. Die Form wird damit zum philosophischen Argument. Im Zuge seiner Geschichte der romantischen Literatur stellt August Wilhelm Schlegel als die »drey Häupter und Stifter Aller modernen Kunstpoesie, Dante, ——————— 223

224 225

226

A.W. Schlegel: Über Bürgers Werke (1800). In: A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 8, (1846), S. 64–139, hier: S. 132; zuerst: A.W. und Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken. Bd. 2, Königsberg 1801, S. 3–96. A.W. Schlegel: Sämmtliche Werke, Bd. 8, S. 132f. Vgl. zum immanenten Naturalismus der klassisch-romantischen Gattungsauffassung insgesamt Willems. Von einer »organischen Konzeption der Kunst« spricht S. Holmes, S. 214; den essentialistischen und ›apriorischen‹ Charakter der romantischen Gattungsbegriffe und das gewandelte Verhältnis des Einzeltexts zur Gattung beschreibt Trappen, S. 208–224. Stellvertretend für diesen Widerspruch bei Friedrich Schlegel: Gesse, S. 187–210.

455 Petrarca und Boccaccio«227 heraus. Er bringt diese tre corone in die dialektische Beziehung des Dreischritts, wobei Petrarca den Mittelpart zwischen der Vergeistigung Dantes und der Versinnlichung Boccaccios einnimmt: Petrarca steht in der Mitte, er sucht die Verschmelzung, und sie ist ihm wirklich gelungen: hier ist vollendete Harmonie. [...] Beym Petrarca ist beydes im Gleichgewichte: die Göttlichkeit der Schönheit läßt sich zum Liebreiz herab, und der Reiz läutert sich zur sittsamsten Anmuth herauf. [176]

Die Verschmelzung von Sinnlichkeit und Göttlichkeit im petrarkischen Liebesmodell erscheint Schlegel als ein Höhepunkt der poetischen Entwicklung der romantischen Literatur, der insbesondere auch in der Verklärung der Weiblichkeit zum Ausdruck kommt. Was als auffallendes Motiv bereits bei den Gemäldesonetten kenntlich wurde, wird hier nun ausdrücklich als ein romantisches Vermittlungsmotiv herausgestellt: die Idealisierung der Weiblichkeit erfasst die leibseelische Doppelnatur des Menschen auf eine Weise, die der Antike völlig unbekannt war. Diese habe dem weiblichen Geschlecht vielmehr stets unrecht getan. Demgegenüber sei »wohl für das Ganze der romantischen Poesie eine besondre Vorliebe des weiblichen Geschlechts« (176) zu hoffen, was bei den genannten Autoren zu sehen sei: Dante’s Beatrice identifizirt sich fast mit dem Urbilde der Madonna; Boccaccio’s Fiametta gehört in die Familie der antiken Götterbild.[er]; Laura steht auf dem unaussprechlich rührenden Übergange zwischen Sterblichkeit und Verklärung, weniger als die himmlische Jungfrau, mehr als ein irdisches Weib. [177]

Der Zusammenhang ist bedeutsam und muss doch hier beiseite gelassen werden: Mit der religiösen Verklärung des Weiblichen rückt die romantische Literatur den ideologischen Mittelpunkt bürgerlicher Lebenszusammenhänge, der in der Familie und in der doppelten Rolle der Frau als Geliebter und als Mutter verkörpert ist, ausdrücklich ins Zentrum einer genuin modernen Mythologie.228 Die romantische Madonnenbegeisterung gehört in dieses Fach und auch Petrarcas Laura wird genau diesem Kontext assoziiert. Als auch biographisch greifbare Person wird Laura zum Ausdruck jener Poetisierung des Lebens selbst, die ein wesentliches Ziel der frühromantischen Bemühungen um die moderne Literatur und Kunst bildet.

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228

A.W. Schlegel: Vorlesungen über Ästhetik [1803–1827]. Textzusammenstellung von Ernst Behler. Paderborn, u.a. 2007 (Kritische Ausgabe der Vorlesungen. 2,1.), S. 1–194, hier: S. 144 (Seitenangaben im Text im folgenden ohne weitere Angabe in Klammern); dazu auch grundsätzlich, aber ohne Bezug zum Sonett Ernst Behler: Die italienische Renaissance in der Literaturtheorie der Brüder Schlegel. In: Romantik und Renaissance. Die Rezeption der italienischen Renaissance in der deutschen Romantik. Hg. von Silvio Vietta. Stuttgart, Weimar 1994, S. 176–195. Vgl. stellvertretend für diesen Zusammenhang Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. Frankfurt a.M. 22000, S. 187–202 und öfter.

456 Schlegel beginnt seine Vorlesung zu Petrarca mit Angaben zum biographischen Kontext.229 Im Anschluss folgt eine charakteristische Kritik des französischen Petrarca-Biographen Abbé de Sade, dem gerade die entscheidenden Einsichten abgingen. Es fehle bei de Sade die »Darstellung vom Geiste des Zeitalters« und vor allem zur »Geschichte der Liebe«, wobei es falscher Vorwitz sei »mehr wissen zu wollen als in den Gedichten steht. [...] Sade versteht sich schlecht auf Poesie« (157). Die Pointe von Schlegels Überlegungen an dieser Stelle bildet die Einsicht, dass der Canzoniere selbst bereits die Vermittlung von Leben und Poesie herstelle, dass also die Idee, ein »Leben des Petrarca mit Einflechtung der Gedichte an den gehörigen Stellen« (157) zu verfassen, verfehlt sei. Schlegel verweist auf einen ehemaligen derartigen Gedanken seinerseits, aber gerade auch die Darstellung De Sades folgt einem solchen Schema, an den Gedichten entlang eine Biographie zu schreiben.230 Der prosaische Charakter des Werks des Abbé de Sade lässt Schlegel erkennen, dass die gesuchte Vermittlung längst geleistet war: Die Sammlung von Petrarca’s Gedichten ist schon Roman. Es giebt ja dergleichen in Briefen, warum nicht in Canzonen und Sonetten? Es braucht keine zusammenhängende Erzählung, Lücken in der Zeit dürften seyn, wenn nur das Eine vollständig da ist. Wesen des Romans, das Poetische im Leben überhaupt aufzufassen, also auch einer speciellen Biographie. Wozu die störenden prosaischen Umgebungen? [157]

Die Vermittlung von Leben und Poesie, die man sich vom biographischen Projekt erhofft hätte, ist offenbar im Kunstwerk selbst hergestellt, das als Roman dieses ›Eine‹ vollständig zu vermitteln vermag. Schlegel geht nun im weiteren von einer unmittelbaren Einflechtung dieses Werks in den Lebenslauf aus. Sowohl habe Petrarca »auch Jahre lang nachher ausgebessert« als auch sei die »Stellung und Anordnung ohne Zweifel von Petrarca selbst und chronologisch«, gewissermaßen also natürlich vom Leben selbst geschaffen, insofern manche Stücke unmittelbar aufeinander bezogen sind: »Die Liebe bildet das Leben rhapsodisch« (157). Das Bruchstückhafte andererseits ist selbst Teil der Vergeistigung des Lebens: »Die unausgefüllten Zwischenräume von einem Seelenzustande zum andern geben échappées de vue ins unendliche« (157). Insofern die »Darstellung des Innerlichen« neben dem weniger wichtigen Historischen das eigentliche Element des Romans sei, wird der Canzoniere als »ein wahrer und vollständiger lyrischer Roman« bestimmt (157). Diese Kennzeichnung ist bemerkenswert, handelt es sich doch um eine Sammlung, die ausschließlich aus Gedichten besteht und keinerlei Prosaelemente enthält, was Schlegel als »Zutrauen zu den Lesern« begreift, die keiner zusätzlichen narrativen Stütze bedürften (157). ——————— 229 230

Das Vorlesungsskript besteht zunächst lediglich aus Stichworten, die dann folgende Besprechung der Sonettform jedoch ist sprachlich ausgearbeitet. De Sade: Mémoires; August Wilhelm Schlegel hat dieses Werk ausführlich exzerpiert; es existieren 38 Seiten handschriftliche Auszüge dazu; vgl. Lavinia Mazzucchetti: A.W. Schlegel und die italienische Literatur. Zürich 1917, S. 21.

457 Gegenstand des Canzoniere ist nun die Entwicklung vom »Wechsel der Leidenschaften« zur »demüthige[n] Sehnsucht nach dem Ewigen« mit einem Abschlussgebet »An die Jungfrau Maria. Also mit religiösem Gefühl eingefaßt« (158). Die romantische Perspektive auf die Verklärung des Irdischen in der Lauraliebe zeigt sich ansatzweise irritiert über das Dementi im ersten Sonett Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono, wo Petrarca seine Leidenschaft zu Laura reuig als jugendlichen Irrweg bezeichnet, in Schlegels Worten: »alles, auch diese Liebe, eitel« (158). Überraschend ist Schlegels Auflösung dieser petrarkischen Selbstrücknahme der Frauenliebe, deren augustinisch-asketische Tendenz nicht sehr gut ins romantische Liebeskonzept passen will. August Wilhelm erkennt hier: »Tragische Ironie in dieser Selbstvernichtung des Göttlichen in seiner Liebe«, sieht aber im abschließenden Mariengebet des Werks das Göttliche als enthülltes Geheimnis des ganzen wiederhergestellt: »Madonna im Hintergrund. Emporringen zu der reinsten ihrer würdigen Liebe« (158). Die Identifikation des Göttlichen mit dem Mythos der Frauenliebe ist ein charakteristisches romantisches Missverständnis Petrarcas, das in seiner Weise durchaus konsequent ist und das bis in unsere Tage deutliche Spuren in der PetrarcaPhilologie hinterlassen hat, wovon hier nun allerdings nicht die Rede sein kann.231 Schlegel sieht demnach in seiner Darstellung Petrarcas Canzoniere als ein Hauptwerk der romantischen Literatur, das als lyrischer Roman entgegengesetzte Gattungen und damit das Subjektive und das Objektive verknüpft, und er sieht das Liebesgeschehen um Laura als einen höchsten Ausdruck der religiösen Beseelung des Sinnlichen und einer Poetisierung des Lebens selbst. Indem er das Sonett hier verortet, ist es dem Verdacht gefälliger Kleinheit bereits denkbar ferngerückt. Da Sonett und Kanzone Petrarcas wichtigste Formen waren und er zugleich der einflussreichste Autor in der Geschichte dieser Formen, die er »zur Vollendung gebracht« (158), schaltet Schlegel ihre Analyse nun hier in die Petrarca-Vorlesung ein. Einleitend weist er auf die zeitgenössische Wiederentdeckung von Sonett und Kanzone in der deutschen Literatur hin, die er für äußerst wichtig hält: »Denn die durch Philosophie gesteigerte und so auch in die Poesie übergehende Selbstanschauung des Geistes fodert ihren Ausdruck in der höchsten lyrischen Gattung, und die bisher üblichen Formen standen in der mittleren Region« (159). Für diese mittlere Region werden die erneuerte Elegie und Ode genannt. Das sangbare Lied kommt für Schlegel an dieser Stelle offenbar nicht in Betracht, heißt es doch von den neueren gereimten Odenstrophen, dass sich die meisten »nicht über den Charakter des populären und für singbare Melodien bestimmten Liedes erheben« konnten (159). Hier kommt eine Abwer——————— 231

Tatsächlich hat erst die neuere Petrarca-Forschung die strukturellen Momente des Canzoniere und die heilsgeschichtliche Signifikanz von Reuemotiv am Anfang und Hinwendung zu Gott am Ende ernstgenommen. Auf die Forschung kann hier nicht verwiesen werden, stellvertretend genannt sei Bernhard König: Das letzte Sonett des ›Canzoniere‹. Zur architektonischen Funktion und Gestaltung der ultime rime Petrarcas. In: Interpretation. Hg. Hempfer/Regn 1983, S. 239–257.

458 tung des Lieds zum Ausdruck, die einen Hinweis geben kann, warum das Sonett von Schlegel eben nicht im Sinn des Lieds, sondern vor allem als geometrische und tektonische Form betrachtet wird. Damit ergab sich offenbar die Möglichkeit, eine moderne lyrische Form zu beschreiben, die in der Gediegenheit der Gestalt und von ihren plastisch-tektonischen Eigenschaften her den klassischen antiken Formen zu entsprechen vermochte. Im Bereich der Lyrik sollte das Sonett offenbar Formen wie die modernisierte Elegie oder Ode übertreffen. Von Sonett und Kanzone heißt es bei Schlegel, dass sie das Geheimnis des Reims im höchsten Maß zum Ausdruck bringen. Sie treten nach dieser Darstellung unmittelbar an die Spitze der romantischen Lyrik. Innerhalb der Diskussion des Sonetts weist Schlegel zunächst den überkommenen Vorwurf der Artifizialität zurück und erinnert, dass das Moment der formalen Schwierigkeit prinzipiell für jede Versifikation gelte. Dennoch ist das alte aufklärerische Vorurteil, es handle sich beim Sonett um ein Virtuosenstück (160) und eine Gattung mit einer »bloß capriciösen Willkühr ihrer Regeln« (159), Ausgangspunkt für August Wilhelms Unternehmung, die »Nothwendigkeit« der Sonettregeln »so viel [wie] möglich mathematisch zu construiren« (159). Das Ziel ist mithin spekulativ hoch gesteckt. Die Basis der theoretischen Ableitung der Sonettform soll dabei das Konzept des Reims bilden, das wie oben beschrieben sprachphilosophisch bereits mit dem Ursprung von Sprache und Poesie verknüpft wurde. Wie Schlegel die Metrik über Takt und Rhythmus an physiologische Merkmale geknüpft hatte, wird der Reim den Prinzipien der Verbindung und der Trennung zugeordnet, mithin also noch grundlegenderen ›chemischen‹ und metaphysischen Fundamentalien.232 Dahinter steckt auch hier August Wilhelms Interesse einer fundamentalen Aufwertung der romantischmodernen Reimformen in Auseinandersetzung mit der ursprünglichen Reimfeindschaft des Aufklärungsklassizismus im 18. Jahrhundert. Das Mittel dazu ist selbst ein aufklärerisches, indem der Reim als Ausdruck eines philosophischen Prinzips aufgefasst wird: »Die materiellste und unmittelbarste Wirkung des Reimes ist die, Verse zu verbinden und zu trennen« (161). Schlegels Meisterstück besteht nun darin, die von ihm inzwischen favorisierte Reimordnung des idealen Sonetts mit verblüffender Konsequenz aus den postulierten Prinzipien der Verbindung und der Trennung herzuleiten, und zwar derart, dass die Quartette des Sonetts das verbindende Moment repräsentieren und die Terzette das trennende, und dass beides wiederum eine ideale Einheit bildet. Die auf diese Weise abgeleitete Reimordnung ist diejenige mit umschlingenden Quartettreimen und dreireimig alternierenden Terzetten: A B B A A B B A C D E C D E (160). Die Vierteiligkeit des Sonetts soll sich nach Schlegel mit Notwendigkeit ergeben: Nach der doppelten Wirkungsart des Reimes, der verbindenden und trennenden, zerfällt das Sonett in 2 Hälften, deren jede einer davon gewidmet ist. Die verbindende geht natürlich voran, weil die Energie nur durch den Gegensatz mit jener recht gefühlt werden

——————— 232

Vgl. Kapitza.

459 kann. Ferner kann der Reim sich nie seines Wesens entäußern, welches doch ursprünglich im Paaren besteht, es muß also in jeder Hälfte eine sich wiederhohlende Verdoppelung vorkommen, wodurch beyde wieder in zwey gleichsam im Ganzen auf einander reimende Hälften zerfallen. Somit wären schon die 4 Glieder des Sonetts ziemlich befriedigend abgeleitet. [161]

Der transzendentalphilosophische Fichtesche Stil der Ableitung ist gut erkennbar. Notwendigkeit wird spitzfindig zelebriert. So soll sowohl das Voranstehen der Quartette als auch die Wiederholung von Quartetten und Terzetten dem übergeordneten Prinzip der Paarung geschuldet sein. Das Modell der Reimpaarung wird so potenziert und auf die Strukturebene der Sonettabschnitte angewendet, so als bildeten Quartette und Terzette als Ganze untereinander ›reimende‹ Einheiten. Dies setzt natürlich grundsätzlich eine symmetrische Anlage der Sonettabschnitte voraus, wie sie im 18. Jahrhundert in der Regel gerade vermieden worden war. Die Symmetriebildung ist tatsächlich kein liedhaftes Merkmal. In der Betonung der Symmetrie zeigt sich erneut die Hinwendung zu graphischvisuellen Prinzipien der Sonettpoetik. Der umschlingende Quartettreim wird folgendermaßen begründet: Das einfachste Beyspiel, wie der Reim Verse paart, ist das Couplet; dieses ist aber nichts ausgezeichnetes, da es bey dem gemeinsten Gebrauche des Reimes schon vorkommen muß, und alle Versverknüpfung durch ihn davon ausgeht. Der Reim verknüpft aber nicht bloß unmittelbar neben einander stehende Zeilen, sondern auch entfernte durch die gleiche Beziehung des Gleichlauts, ›und zeigt hierin schon eine weit bedeutendere Macht über Sinn und Gehör‹. Eine Stufe höher steht also schon eine Strophe wo ein Couplet von 2 andern verknüpften Zeilen eingefaßt wird: ABBA. [161f.]

Die Ableitung ist einigermaßen mühsam und nimmt Zuflucht zu einer hierarchischen Modellbildung, die sich am Grad der Komplexität orientiert. Komplexer sei der umschlingende Reim auch gegenüber dem alternierenden Quartettreim A B A B , da er verschiedene Paarungsweisen beinhalte, was ihm den Vorzug gebe. In einer solchen 4zeiligen Strophe ABBA, werden nun aber je zwey gepaarte Verse von zwey andern getrennt. Das Verhältniß der trennenden und paarenden Kraft wäre also gleich und sie reimen gleichsam auf einander. Die letzte soll aber das Übergewicht erhalten: wie steht dieß einzurichten? Offenbar nicht anders als durch eine neue Paarung. [162]

Schlegel folgt hier und im folgenden gedanklich weitgehend der Darlegung, die August Ferdinand Bernhardi 1801 in seiner Sprachlehre gegeben hatte.233 Die aufeinanderfolgenden Argumente setzen unter der Hand zahlreiche Prämissen. Sie sind in ihrer Logik recht fragil, erwecken aber den Eindruck der Stringenz. ——————— 233

Bernhardi nennt es bereits die »schönste Harmonie«: »Denn in der Reimstellung herrscht die in vier Versen nur mögliche Gegenüberstellung. Folgende nehmlich sind nur denkbar. Einmahl der Reim folgt unmittelbar, dies geschieht in beiden Quartetten, in den eingeschlossenen Versen, oder der Reim ist durch zwei Verse geschieden, dies geschieht durch die einschließenden Reime. Indem nun aber die beiden Strophen verkettet sind, werden die einschließenden Reime eingeschlossen, und die eingeschlossenen einschließende, und so reimen beide Arten sowohl unmittelbar, als auch durch zwei Verse gesondert.« A.F. Bernhardi: Sprachlehre. Berlin 1801, S. 428.

460 Letztlich wurzelt diese Überzeugungskraft in den grundlegenden numerischen Verhältnissen des Sonetts. Auch darauf kommt Schlegel zu sprechen: Folglich steht nun das Paarende zum Trennenden im Verhältniß des doppelten zum einfachen, und was wohl zu merken, da die dem Reim als solchem wesentliche Grundzahl 2 ist, im Verhältnisse des Quadrats zu seiner Wurzel. Die ganze Zahl der Zeilen aber 8 ist die 3te Potenz davon, der Cubus. [162]

Die Darlegung zielt auf die Symmetrie des Sonetts. Die Auszeichnung der Symmetrie ist dabei im Grund zirkulär, da von vornherein nur das symmetrisch angelegte Reimschema ABBA zugrunde gelegt wurde. Ein weiteres argumentatives Hilfsmittel stellt auch in diesem Zusammenhang die Dialektik dar: da jedes Prinzip stets seinen Widerspruch mit sich führt, lassen sich auch widerstrebende Motive gut in das Modell integrieren. Im Fall der Quartette ist dies die Trennung der äußeren Verse des umschlingenden Reims, die das Prinzip der Paarung negativ zu bestätigen haben. Die Reimordnung der Quartette wird folglich in einer verschlungenen Argumentation in genau der Form bestätigt, in der sie bestätigt werden soll. Das zeigt auch ein weiteres Argument, das ausschließen soll, dass das Sonett mehr als zwei Quartette habe. Nach arithmetischen Gesetzen wäre eine weitere Potenzierung stets möglich. Schlegel thematisiert damit eine historisch auch umgesetzte Möglichkeit, die im 13. Jahrhundert allerdings eher musikalisch motiviert war. Um solches auszuschließen, schwenkt er von der Arithmetik zur Geometrie: »hier dürfte aber aus Gründen, welche zu entwickeln uns nöthigen würde, auf die innersten Gründe zurückzugehen, die Geometrische Constructions-Art die angemessene seyn« (162f.). In der Geometrie aber sind die räumlichen Dimensionen auf drei beschränkt: Die zuerst gezogne Linie der Länge bestimmt den ganzen Cubus, und ist seine Grundanschauung, da sie nachher bloß mit sich selbst vervielfacht wird. Eben so vernimmt das Ohr einzig mit dem Reim der beyden ersten Zeilen etwas neues, (nachher ist alles Wiederkehr derselben Gleichlaute) und diese geben dem übrigen seine Bestimmung; mit den 2 letzten Zeilen des 1ten Quartetts kommt die Breite hinzu, das Quadrat wird vollständig, und rückt nachher in dem 2ten Quartett nach beyden Dimensionen in die Dicke oder Tiefe fort. So ist das Ganze wirklich der Cubus der anfänglich hingestellten 2, nämlich der anfangenden verschiednen, nachher aber immer wiederkehrenden Reime. [163]

Das gelungene Bild lässt die Quartettordnung tatsächlich als geometrisch notwendige erscheinen. Es bezieht seine Überzeugungskraft nicht nur aus dem Faktum der zweimaligen symmetrischen Verdoppelung, als die man die Quartette beschreiben kann, sondern zudem aus der anschaulichen Evidenz: als graphisch identifizierbare Form ist das Sonett stets auch visuell präsent und macht mit dem Bild seiner doppelten Vierzeiler die Assoziation zu Quadrat und Kubus zusätzlich plausibel. Die Analogie beruht auf genau dieser Vierzahl und auf nichts sonst. Der umschlingende Reim scheint dem Quadrat dagegen keinesfalls näher zu sein, als der alternierende. Zumindest ist dies keine Frage für Mathematiker, sondern allenfalls eine für Gestaltpsychologen. Eine entsprechende visuelle Evidenz liegt im weiteren auch in der Assoziation der Terzette mit dem Dreieck. Die Drei steht für das Prinzip des Trennenden

461 und bildet also den dialektischen Widerpart des Paarungsprinzips der Quartette. Schlegel muss hier nun mit weiteren Hilfsargumenten einige logische Abwege ausschließen: so kommt die kleinste ungerade Zahl Eins nicht in Frage, da ihr als singuläres Prinzip der Gegensatz zum Paaren fehlt; zwei nicht aufeinander reimende Verse, die sich wiederholten – c d c d – kommen ebenfalls nicht in Frage, da sie ein Quartett ergeben würden, das keinen grundlegenden Gegensatz zum ersten Teil des Sonetts bildete. Die Zahl Drei muss es also sein, doch wird sie nicht potenziert – dann müsste das Sonett drei Terzette haben –, da dies »das Irrationale der Grundzahl aufheben würde« (163). Dieses letzte Argument ist nicht völlig schlüssig, da auch die Verdoppelung des Terzetts dieses ›Irrationale‹ bereits aufhebt. Durch eine Potenzierung des Terzetts wäre viel eher die Symmetrie des Sonetts gestört als die Irrationalität. Hinkt die logische und geometrische Ableitung an solchen Stellen, so wird die Argumentation davon nicht wirklich beeinträchtigt. Schwieriger wird es dagegen beim Prinzip der Reimvariation in den Terzetten, das dem Sonett seit seinen ersten Tagen eingeschrieben ist. Hier hat Schlegel keine wirkliche Erklärung, sondern er begnügt sich mit der Benennung bestimmter überlieferter Varianten. Die Variation widerspricht natürlich von Grund auf dem klassizistischen Vollkommenheitsprinzip, das in der romantischen Gattungspoetik stets mit am Werk ist. So ist Schlegels Argumentation auf die Ableitung der ›vollkommensten‹ Form ausgerichtet, was ihn übersehen lässt, dass es sich bei der bedingten Variation des Reimschemas um ein grundlegendes Merkmal der überlieferten Sonettform handelt. Dass er dies übersieht, hat er ebenfalls bereits mit Bernhardi gemein.234 Es führt dazu, dass die Sonettform stark singularisiert wird. Gleichwohl kann Schlegel die Variation der Terzettschemata nicht aus der Welt schaffen, und so wird sie nur zu dem Zweck in die Diskussion einbezogen, um aus dem überlieferten Fundus das ›vollkommenste‹ Reimschema auszufiltern. Die gelindeste Form des Terzetts ist nun die von 2 in einander eingreifenden Terzinen, CDC | DCD |. Ich nenne sie die gelindeste, weil in jedem Terzett nur Ein Reim unbeantwortet gehört wird. Man könnte also meynen, das paarende Prinzip habe hier ja dennoch die Oberhand, da 2 Reime in 6 Zeilen 3mal wiederkehren. [163]

Aus der bisherigen Argumentation dürften die zweireimig alternierenden Terzette kaum abzuleiten sein, und so wird dazu auch kein Versuch unternommen. Sie werden lediglich auf das Prinzip der Trennung bezogen, das sie denn mit einem weiteren Hilfsargument leidlich zu illustrieren vermögen: Allein man muß darauf achten, daß durch den Abschnitt die beyden Terzetts zu Strophen werden, welches eigentlich den Begriff einer befriedigend geschloßnen Reimpaarung mit sich führt; daß folglich die überschüßige Zeile in jeder am stärksten auffällt, und die beyden einfassenden nur als nothwendige Zugabe erscheinen. [163f.]

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Auch Bernhardi will bereits »nur die einfache, classische und zierlichste Art« des Sonetts anführen, für die anderen Formen verweist er auf die italienischen Poetiken; Bernhardi, S. 427.

462 Im traditionellen Sonett wurden die Binnenunterteilungen niemals als Strophen aufgefasst. Dies ist erst das Resultat der liedhaften Betrachtung des Sonetts im 18. Jahrhundert, die sich erst dann auch graphisch entsprechend manifestiert. Für das moderne Sonett kann man dagegen im Anschluss an die Poetik der Sonetteinschnitte von einer strophischen Auffassung des Sonetts sprechen, wie hier von Schlegel ausdrücklich formuliert.235 Dies bildet allerdings nur das Hilfsargument zur Erläuterung des ›getrennten‹ Charakters der zweireimig alternierenden Terzette. Die Erklärung ist bemüht; dass die Form ›gelinde‹ sei, drückt nichts anderes aus, als dass sie sich denkbar schlecht ins Argument fügt. Dennoch wird sie wohl deshalb nicht abgelehnt, weil sie von jeher als Terzettreimschema überliefert ist und auch von Petrarca häufig verwendet wurde. Beispielhaft wird das trennende Prinzip dagegen von den dreireimig alternierenden Terzetten vertreten, die innerhalb der einzelnen Terzette nicht reimen. Bey dem ersten Terzett muß es dem Ohre vorkommen, als wollte das Gedicht gar reimlos werden, und erst mit der letzten Zeile wird alle Dissonanz in Consonanz aufgelöst. Diese Form achte ich daher für strenger und größer, und es finden durch die Stellung der Reime im 2ten Terzett hierin noch Gradationen Statt; die wo Vers 1 und 6 mit einander reimen gränzt fast an das Herbe. Der Meister wird nach der Beschaffenheit des Gegenstandes zu variiren wissen, nicht selten mag die erst erwähnte gelindere Form den Vorzug verdienen. [164]

Variation nach dem Gegenstand wird erwähnt, nicht aber systematisch abgeleitet. Schlegel hat es versäumt, das Prinzip der Variation als genuin modernes Prinzip ins Spiel zu bringen und damit die implizit klassizistische, auf die Vollkommenheit der Gestalt gerichtete Tendenz seiner Argumentation auszubalancieren. Sein Sonettmodell bleibt so gut wie ausschließlich auf den Entwurf der Idealform ausgerichtet. Für die Terzette erscheint die Reimordnung c d e c d e als prävalent. Die Permutation wird erwähnt, nicht aber näher erörtert; sie gilt als gleichermaßen auf Reimtrennung bezogen (c d e d c e ; c d e e d c ; c d e d e c ). Auch darin folgt Schlegel wiederum Bernhardi.236 Aus systematischen Gründen ausgeschieden werden die Varianten mit Reimpaarung in den Terzetten, die auch bei Petrarca kaum eine Rolle spielen. Dazu zählen die recht beliebten Varianten mit Schlusscouplet wie c d d c e e und die beiden französischen Terzettformen. Der antifranzösische Affekt, der in den kulturellen Bemühungen in Deutschland an der Wende zum 19. Jahrhundert auf vielen Ebenen zu verzeichnen ist, nicht zuletzt auch im Entwurf einer eigenen Klassik im Anschluss an griechische Vorbilder, erscheint im Rahmen der Sonettpoetik geradezu als ein Ausschlussprogramm jeglichen französischen Einflusses. Unter Verweis auf die ursprüngliche petrarkische Sonettform werden ausnahmslos alle Merkmale, die das deutsche Sonett seit dem 17. Jahrhundert aus Frankreich übernommen hatte, eliminiert. Nicht alle Modifikationen in dieser Richtung gehen auf August ——————— 235 236

Von Sonett-›Strophen‹ spricht bereits Unzer (vgl. oben, S. 393), ebenso Bernhardi, S. 427. Auch Bernhardi betrachtet die Terzette unter dem Gesichtspunkt der Reimtrennung: »Noch würksamer aber wegen der größern Trennung der Reime ist folgende c d e e d c .« Bernhardi, S. 428.

463 Wilhelm Schlegel zurück, doch treibt er die Entwicklung entschieden weiter voran – nicht selten mit entsprechendem Kommentar. Ein entscheidender Schritt dabei ist die Zurückweisung von Paarreimen in den Terzetten. Die in Frankreich seit Marot dominierenden Terzettreimanordnungen c c d e e d und c c d e d e waren die weitaus verbreitetsten im deutschen Barocksonett und noch im 18. Jahrhundert. Bei Bürger finden sie sich bereits nicht mehr und Schlegel entzieht ihnen nun sogar noch die theoretische Legitimation. Gleiches gilt für den Alexandriner und den ausschließlich weiblichen Reim. Sowohl der Alexandriner als auch der Gebrauch des abwechselnden Reimgeschlechts ist französischer Herkunft und gelangt im 17. Jahrhundert nach Deutschland. Der Alexandriner findet sich im Sonett noch bis in die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts und verschwindet erst mit Bürger, das abwechselnde Reimgeschlecht wird im Sonett bis zur Frühromantik generell beachtet. Es wurde oben gezeigt, wie August Wilhelm Schlegel 1790 mit ausschließlich weiblichen Reimen im Sonett experimentiert und wie dies seit der Jenaer Zusammenkunft der Frühromantiker von den diesem Kreis assoziierten Dichtern zur verbindlichen Form erhoben wird. Zur Begründung geht Schlegel in seiner Vorlesung davon aus, dass ungleiche Zeilenlängen im Sonett von den Verhältnissen des Reims ablenken würden, was sich zunächst auf die systematische, der Kanzone folgende Kombination von Lang- und Kurzversen – Elf- und Siebensilbler – in älteren italienischen Sonderformen des Sonetts – so beim Doppelsonett – bezieht. Dieses Argument wird nun unmittelbar auf das wechselnde Reimgeschlecht im deutschen Sonettvers übertragen: Aus eben dem Grunde auch die Abwechselung der männlichen und weiblichen Reime, welche ja schon eine Verschiedenheit im Maaße der Zeilen macht. Am vorzüglichsten ist der weibliche Reim, als der vollständige, welcher den Gleichlaut der accentuirten Sylbe in der Nicht-accentuirten allmählich aushallen läßt. Den männlichen nennen die Italiäner sehr treffend rima tronca, den abgebrochnen. [165]

Gerade das letzte Argument lässt sich nicht so einfach auf die deutsche Sprache übertragen, die sehr reich an betonten einsilbigen Worten ist. Charakteristisch ist weiterhin das Häufen von verschiedenartigen Argumenten, die ein bestimmtes Modell des Sonetts fundieren sollen: Verschiedenheit wird in diesem Fall negativ, ›Vollständigkeit‹ im Reim positiv gewertet. Die Rhetorik der klassizistischen Vollkommenheitsästhetik wird herangezogen, um Klangreichtum zu rechtfertigen: Da bey dem sehr beschränkten ganz geschlossenen Umfang des Sonetts erwartet werden kann, daß jede Stelle durch das Vollkommenste in ihrer Art ausgefüllt werde, so verdient der durchgängige weibliche Reim ohne Frage den Vorzug. [165]

Im Fall der Versart erscheint die Mittelzäsur des Alexandriners als ästhetisches Manko, da der Vers hier »in zwey halbe zerfalle, wovon dann der erste reimlos und der andre gereimt ist« (165). Dagegen breche sich der Elfsilbler immer ungleich, wodurch seine Einheit gewahrt bleibe. Die Rede vom Elfsilbler ist an dieser Stelle ungewöhnlich, da doch im Deutschen die Verse nicht nach Silben gezählt werden; allerdings ergibt sich durch die Festlegung des Versschlusses

464 tatsächlich auch im Deutschen ein fester, quasi elfsilbiger Vers. Schlegel erlaubt sich an dieser Stelle eine Anmerkung zum französischen Sonett: Man darf sich nicht wundern, daß bey den Franzosen die Sonette zeitig aus der Mode gekommen, da die in ihrer Sprache für nöthig erachteten Alterationen der ursprünglichen Italiänischen Form: ihre Alexandriner, ihr Wechsel der männlichen und weiblichen Reime, und die Ausschließung jeder Zusammenstellung von mehr als 2 verschiednen, der Gattung schon den größten Theil ihres Werthes und ihrer Bedeutung geraubt hatten. Kam nun vollends die unmusikalische Freyheit des Enjambemens dazu, so konnte es völlig überflüßig scheinen, Sonette zu schreiben. [165]

Die Nichtigkeitserklärung des französischen Sonetts tritt in ihrer Entschiedenheit an die Seite der Nichtigkeitserklärung der klassizistischen französischen Tragödie und bildet ein kulturpolitisches Datum, vor dem die Art und Weise ihrer Begründung sekundär erscheint.237 Das zeigt schon der Sachverhalt, dass vom Shakespeare-Sonett an dieser Stelle einfach geschwiegen wird, und hier wäre ein mindestens so striktes ablehnendes Urteil unumgänglich gewesen. Die Ablehnung der Merkmale des französischen Sonetts wird scheinbar zwingend gemacht, und sie ruht doch auf sehr unterschiedlichen Argumenten von sehr unterschiedlicher Geltungskraft. Der Alexandriner war ein inzwischen insgesamt überholter Vers, und es erscheint müßig, seine Leistung für das Sonett der Frühen Neuzeit anzuzweifeln. Der Wechsel des Reimgeschlechts war im Deutschen bewährt. Seine Ausschließung aus dem Sonett ist eine experimentelle Zuspitzung frühromantischer Poetik, die nicht zuletzt als antifranzösische Manifestation und als identitätsstiftende Formalie mit immerhin interessanten Perspektiven für die Gattung gewertet werden muss: eine Innovation im deutschen Sonett. Die Zurückweisung der Reimpaarung in den Terzetten wendet sich konsequent gegen das epigrammatische Sonettmodell der Frühen Neuzeit, das das Sonett blockartig konstruierte. Sie bildet eine Weiterentwicklung der im 18. Jahrhundert neu aufgekommenen liedhaften Sonettauffassung mit ihrer strophischen Deutung der Binnengliederung. Vor allem aber bildet sie ein Resultat der dialektischen Deutung dieser Gliederung im Sinn einer antithetischen Konstruktion. Die Zurückweisung des Enjambements folgt im gleichen Zug. Sie ist schlüssig vor dem Hintergrund der Poetik der Sonettgliederung, zu bewerten wäre sie allein unter ästhetischen Kategorien. Motiviert aber ist der gesamte Akt einer forcierten Poetik des romantisch-modernen Sonetts, als den man die Schlegelsche Unternehmung bezeichnen muss, unter anderem auch von dem entschiedenen Willen, die französischen Elemente aus dem deutschen Sonett zu entfernen. Die Motivation des neuen Sonetts ist auch eine der Nationalisierung. Das wichtigste Resultat der neuen Sonettpoetik ist die strikte dialektische Auffassung der Binnengliederung, von der die Zurückweisung der Terzettreimpaare wie des Enjambements abhängt. Die Übertragung der formalen Bedingungen auf die inhaltliche Gestaltung führt zur Ausweitung des Sonettmodells ——————— 237

Vgl. zur Problematik der Schlegelschen Wirkung in Frankreich: Chetana Nagavajara: August Wilhelm Schlegel in Frankreich. Sein Anteil an der französischen Literaturkritik 1807–1835. Mit einer Einleitung von Kurt Wais. Tübingen 1967.

465 auf die innere Form, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zum zentralen Argument der modernen Sonettpoetik wurde. Die paarende und trennende Kraft des Reimes kann man auch als Gleichheit und Entgegensetzung bezeichnen, und deswegen muß das Sonett auch im Gehalt wie in der Form Symmetrie und Antithese in der höchsten Fülle und Gedrängtheit vereinigen. Symmetrie ist erstlich zwischen den beyden Quartetts und dann ebenfalls den Terzetts unter sich, die Hauptantithese zwischen den beyden Hälften. [164]

Auch die Form/Inhalt-Entsprechung ist bereits bei Bernhardi formuliert.238 Das Stichwort von der Antithese erinnert sowohl an die alte Dispositionsregel der epigrammatischen argutia wie an die Analogie zur pindarischen Ode, doch ist dies nun Teil einer neuen, vornehmlich tektonischen Auffassung der Sonettgliederung. Es ist, um das obige zu bestätigen, bemerkenswerth, daß die letzte Hälfte des Sonetts wirklich der häufigste Anfang der großen gereimten lyrischen Strophen in der Canzone ist. Diesem zu Folge ist es Regel, daß das letzte Terzett das Ganze wieder in sich concentrirte, das vorhergehende Terzett wird meistens zur Vorbereitung auf den mächtig entscheidenden Schluß verwandt werden müssen, und die Quartetts enthalten die Exposition, oft in Aufzählung des Gleichartigen, zuweilen auch in Darlegung der Gegensätze. [166]

Nicht so sehr eine bestimmte logische Abfolge ist entscheidend, als vielmehr die Gegeneinandersetzung der nun isolierten Blöcke im Sonett. Konsequenterweise setzt Schlegel an diese Stelle einen Architekturvergleich, der die geometrisch-klassizistische Gestalt des neuen Sonetts eindringlich beschreibt: Soll ich es durch ein Gleichniß aus der Architektur deutlicher machen so denke man sich einen länglicht viereckigen Tempel, die zweyten Seitenwände, welche ihn einschließen, von der schlichtesten Bauart und ohne Verzierung sind die Quartetts; die schmalere Hinterseite gleicht zwar auf gewisse Weise dem Fronton, ist aber doch am wenigsten in der Erscheinung hervorzutreten bestimmt: diese würde dem ersten Terzett entsprechen; die Vorderseite endlich krönt wie das letzte Terzett, und schließt das ganze, giebt dessen Bedeutung im Auszuge, und zeigt an den stützenden Säulen und dem deckenden Giebel die reichste Architektonische Pracht, jedoch immer mit einfacher Würde. [166]

Dieser Vergleich der Gestaltung des Sonetts mit der Form eines klassischen Tempels ist markant und informativ.239 Schlegels Modell ist weit in die Richtung einer tektonischen Sonettauffassung vorangeschritten, was eine Abwendung von der mehr lyrischen Auffassung impliziert, wie man sie tendenziell in Sonetten von Tieck und von Brentano finden kann. Das Sonett gelangt damit ——————— 238

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»Da der Gegensatz ein so wesentlicher Theil der Schönheit des Sonettes ist, so giebt es demselben eine große Zierde, wenn auch der Gedanke, welcher dargestellt wird, sich in Antithesen spaltet, und da pflegen die Dichter die Quartette zur Aufstellung des Gegensatzes und Widerspruches anzuwenden, in dem ersten Terzett die Auflösung und Aussöhnung vorzubereiten, und in dem letzten die befriedigende Idee selbst aufzustellen.« Bernhardi, S. 430. Vgl. zur inneren Form auch Mönch: Das Sonett, S. 33–41; Schlütter: Sonett, S. 8–11. Friedhelm Kemp hält diesen Vergleich für besonders lächerlich und ›unanschaulich‹; Kemp, Bd. 1, S. 17.

466 nun gleichsam rückwärts wieder in den Bannkreis einer epigrammatischen Auffassung, wie man sie in den weltanschaulichen und kasualen Sonetten des Athenäum gesehen hatte. August Wilhelm formuliert dies ausdrücklich: Man sieht leicht ein, daß durch so feste Verhältnisse, eine so bestimmte Gliederung das Sonett gewaltig aus den Regionen der schwebenden Empfindung in das Gebiet des entschiednen Gedankens gezogen wird. Dadurch ist es unstreitig für manche Freunde des melodischen Hin- und Herwiegens in weichen Gefühlen, welche eine solche Herrschaft des Gemüths über seine eignen es ganz erfüllenden Bewegungen nicht begreifen noch dulden mögen, abschreckend geworden. [...] Im Sonett hingegen ist aller unbestimmte Fortgang abgeschnitten: es ist eine in sich zurückgekehrte, vollständige, und organisch articulirte Form. [166f.]

Die frühromantische Sonettpoetik hat damit einen längeren Weg genommen, der die Konzeption der Form in mehrfacher Hinsicht verändert hat. August Wilhelm Schlegels Sonettbeschäftigung war ein Resultat seiner entschiedenen Hinwendung zur italienischen Literaturgeschichte, die als Abwendung vom französischen Vorbild und von dessen klassizistischen Maßgaben motiviert war. Das Sonett gewann damit Wert als ein Gegenmodell zu Aufklärung und Klassizismus. Von den zaghaften Versuchen, die das Sonett im früheren 18. Jahrhundert zum Gefäß eines single sentiment machten oder die Empfindungen eines ›neuen Petrarca‹ hervorzubringen versuchten, ist es in den Mittelpunkt eines epochalen poetologischen Entwurfs gerückt, als beispielhafte Gedichtform etabliert und in sämtlichen Einzelmerkmalen philosophisch motiviert worden. Es ergibt sich eine Gefahr der theoretischen Überforderung. Die weit getriebene Aufwertung der Form erstreckt sich schließlich unmittelbar auf die zu behandelnden Gegenstände und führt zur Forderung nach Objektivität und gedanklichem Gewicht. Es kann geradezu als Ironie erscheinen, dass Schlegel das Sonett hier zurück in den Bereich des Epigramms führt. So schlüssig und geschlossen die Sonettphilosophie bei August Wilhelm Schlegel wirkt, es kommt gerade deshalb darauf an, ihre Bruchstellen zu beachten und die offenen Fäden aufzunehmen, die sie hin und wieder liegengelassen hat. Das Sonett ist hier nicht zuletzt zu einem Opfer der Dialektik geworden. Die integrative Kraft des dreischrittigen dialektischen Denkmodells liegt auf der Hand, und Schlegel hat ihm offenbar das Sonett unterworfen. Es gab dazu durchaus Anlass, denn das epigrammatische Dispositionsschema, mit dem man seit dem 17. Jahrhundert die Sonettgliederung zu erläutern versucht hat, legte eine dialektische Ausdeutung unmittelbar nahe. Dennoch hatte Schlegel auf anderem Wege begonnen. Schlegels Legitimationsbemühungen hatten zunächst beim Reim angesetzt. Indem er den Reim auf sprachphilosophischem Weg zu einem grundlegenden poetischen Prinzip erhob, konnte das Sonett als exemplarische Reimform und also vor allem als musikalische Form erscheinen. Dies schloss noch an die aufklärerischen Versuche an, die Sonettstruktur unter Rückgriff auf Charakteristika des Liedes zu erläutern. Unter Gesichtspunkten der Gattungsmischung ließ es sich zur Lyrisierung von Drama und Roman verwenden, zugleich erlaubte die epigrammatische Heteronomie den Bezug auf Künstler und Kunstwerke, was zur Einbeziehung des Sonetts in die Auseinanderset-

467 zung mit den verschiedenen Künsten und speziell mit der Malerei führte. Das starke theoretische Interesse ließ das Sonett so zu einem geeigneten Instrument der Reflexion werden. Als Reimklangobjekt war es einerseits Inbegriff der poetischen Form, andererseits erlaubte seine überlieferte Kasualität den gedanklichen Bezug und die Repräsentation von Kunst und Philosophie selbst in der Andichtung von Personen und Objekten. Die dialektische Ausdeutung der Sonettstruktur schließt an diesen Zug zur Epigrammatik an, stellt aber ein wiederum neues Motiv dar. Mit der Dialektik wird das einzelne Sonett selbst zum Ort der Synthesis, zum Prinzip der Trennung und der Verbindung, des Subjektiven und des Objektiven. Alle denkbaren Widersprüche sollen in seiner erratischen Struktur damit bereits enthalten sein, es ist »die Strophe der Strophen, die Strophe par excellence, in welcher alle Haupt-Conjunctionen und Disjunctionen vereinigt sind« (166). Es bemächtigt sich der Form eine organologische, quasi klassizistische Rhetorik der Abgeschlossenheit; wie es Schlegel ausdrückt: »es ist eine in sich zurückgekehrte, vollständige, und organisch articulirte Form.« Damit aber wird es erneut zum Fall für die Regelpoetik. Es ist zur vollkommenen Form erklärt und in seiner Struktur präzise festgelegt. Indem es sowohl seiner Struktur wie der Thematik nach im Zentrum des poetologischen Diskurses installiert wurde, ist das Sonett zum Symbol der Kunst selbst geworden. Von daher definiert sich seine Rolle innerhalb der modernen Geschichte der Lyrik. Sie unterscheidet sich für das Sonett erneut grundlegend von derjenigen der vorangegangenen Jahrhunderte und stellt bei allen Rückgriffen, die davon in der Folge angeregt werden, einen wiederum völlig neuen Topos der Sonettform dar.

Schluss: Zur Historizität des Sonetts August Wilhelm Schlegels Konstruktion des Sonetts bildet bis ins 20. Jahrhundert hinein zumindest in Deutschland einen entscheidenden Ausgangs- und Bezugspunkt der modernen Sonettpoetik.1 Seine Aufwertung der Gattung machte es zu einem lyrischen Paradigma der Folgezeit und in seiner tektonischen Deutung zu einer gleichsam klassischen Form. Dies springt umso deutlicher hervor, betrachtet man es im Kontext der vorausliegenden Geschichte. Das klassische Sonett Schlegels muss vor diesem Hintergrund als eine romantischmoderne Konstruktion betrachtet werden. In letzter Konsequenz erscheint sie als das Resultat eines aufklärerischen Raisonnements, das einen bislang imitatorisch fundierten Gattungsbegriff durch einen naturalistischen zu ersetzen sucht. Zur ›Natur‹ wird ihr bezeichnenderweise der alte Fokus der imitatorischen Tradition: das Sonett Petrarcas. Schlegel vollendet dabei eine Gedankenbewegung, die bereits in der früheren Aufklärung einsetzt. Seit dieser Zeit suchte man die Regeln des Sonetts rational und im Rückgriff auf seine liedhafte Struktur zu deduzieren. Diese liedhafte Struktur war durch die frühneuzeitliche Epigrammpoetik des Sonetts außer Blick geraten. Sie führte bei Poetikern der Aufklärung wie Quadrio oder Gottsched zur Forderung einer strophischen Auffassung der Sonettgliederung und einer entsprechenden Behandlung der Periodenführung und der Semantik. Unterschiede ergaben sich dabei aus der mehr oder weniger engen Bindung der Konzepte an das imitatorische Gattungsvorbild Petrarcas. Schlegels Mathematisierung des Sonetts vollzieht auf dieser Grundlage nun eine weitere Verschiebung. Die Sonettstruktur wird nicht mehr primär musikalisch, sondern sie wird geometrisch und tektonisch begründet. Diese Veränderung der Metaphorik ist folgenreich. Impliziert nämlich eine musikalische Begründung ein Denken in Kategorien der Wiederholung und der Variation, so bezieht sich das geometrische Modell auf das graphisch-visuelle Medium und nimmt sich plastische Gegebenheiten zum Vorbild. Schlegels Vergleich des Sonetts mit einem griechischen Tempel macht die Abhängigkeit von der klassizistischen Ästhetik der Zeit deutlich. Ihr entspricht die Durchsetzung der symmetrisch-gegliederten Sonettgraphie und die Auffassung der Form als erratische Struktur. Das romantische Sonett folgt auf mehreren Ebenen einer Tendenz der Totalisierung. Einerseits ist es Teil einer ausgreifenden Universalisierung der Poetik, die auf eine Ästhetisierung des Lebenszusammenhangs insgesamt zielt. Dies ——————— 1

So auch Schindelbeck, S. 10.

470 führt zu einer gezielten Überschreitung von Gattungsbegrenzungen der klassizistischen Normpoetik. So erscheint den Romantikern das Sonett im Zyklus Petrarcas als Roman, der unmittelbar in den Lebenszusammenhang eingelassen ist. Im entsprechenden Sinn einer Totalisierung beziehungsweise Romantisierung der Form wirken die forcierten Gattungsverschmelzungen, die konkret zu einer Einbettung von Sonetten in größere poetische Gattungen wie Roman und Drama und zur Kombination mit anderen lyrischen Formen führen. Zudem wird die medienüberschreitende Heteronomie betont. Im Bezug auf die Nachbarkünste Musik, Malerei und Plastik wird eine Totalisierung von Sinnlichkeit und Sprache in der Kunst überhaupt angestrebt. Einer solchen Totalisierung scheint der musikalisch-tektonische Doppelcharakter des Sonetts besondere Nahrung zu geben. Ebenfalls totalisierend wirkt das Thematisieren poetologischer und philosophischer Zusammenhänge in verstärkt reflexiv ausgerichteten oder auch in personen- oder gruppenbezogenen Widmungssonetten. In allen Fällen erscheint das Sonett als die Manifestation einer spezifisch poetischen Wertigkeit. Das Sonett selbst wird als ein Mittel zur Poetisierung eingesetzt. Eine parallellaufende Tendenz richtet sich auf den Entwurf des ›vollkommenen‹ Gedichts. Die Fixierung des Sonetts auf der Basis universeller mathematischer Grundlagen ist zunächst angeregt von einem Legitimationswillen der auf den Reim gegründeten Form im Zusammenhang mit den poetologischen Auseinandersetzungen um klassische und moderne Gattungen, doch geht sie darüber hinaus, indem sie auf die Idee des vollkommenen Kunstwerks zielt. Auch darin ist eine Tendenz zur Totalisierung zu erkennen, die in die entgegengesetzte Richtung weist. Haben die heteronomen Positionierungen des Sonetts eine ›progressive‹ und zentrifugale Tendenz zur Dissoziation und Sprengung der Form, so wirkt die Perfektibilitätsidee nach innen und damit formstabilisierend. Beide Bewegungen sind Kennzeichen der Moderne, sowohl das Prinzip der überschreitenden Progression wie das der absoluten Perfektibilität. Philosophisch zusammengedacht sind sie in der Figur der Dialektik. Ohne in eine allgemeine Erörterung der philosophischen Dialektik zu verfallen, lässt sich dieser Zusammenhang für die Poetik des Sonetts konkretisieren. Die romantische Dialektik stellt eine philosophische Konstruktion dar, die die Erfahrung moderner Heteronomie in einer ästhetisch angelegten Denkfigur zu überwinden und rückgängig zu machen sucht. Sie entfaltet eine Metaphorik der Verschmelzung in Gestalt eines zahlenmystisch motivierten Dreischritts, dessen geschichtliche Herkunft sich bis auf die patristische Trinitätsspekulation zurückverfolgen lässt. August Wilhelm Schlegel macht nun die Form des Sonetts in zugespitzter Weise zum Austragungsort dieser Spekulation. Indem er den Reim auf die metaphysischen Prinzipien des Verbindens und des Trennens bezieht und damit letztlich auf die sympathetischen Grundkräfte der Natur, wird das Sonett zum Prototyp der Dialektik selbst. Es soll die Prinzipien des Widerspruchs und der Verknüpfung zum ästhetischen Ausgleich bringen, indem es sie mehrfach gegeneinander abwiegt. Das Sonett wird zu einem Ort der dialektischen Synthesis und Harmonie und insofern zum vollkommenen Gedicht. Derartige Zuspitzungen können gattungsgeschichtlich äußerst produktiv wirken, zugleich stellen sie eine radikale Verengung dar. Man kann die frühro-

471 mantische Sonettpoetik in dieser Hinsicht und in ihrer Wirkungskraft vielleicht nur noch mit der imitatorischen Orthodoxie des bembistischen Petrarkismus vergleichen, der eine Aufwertung der Gattung ebenfalls auf dem Weg einer scharfen poetologischen Verengung erreichte. Es ist nun entscheidend, das darin wirkende normative Moment festzuhalten. Bis in moderne Gattungsdarstellungen hinein wird die Schlegelsche Sonettform als ›strenge‹ und historisch legitimierte Ausprägung verstanden. Dagegen ist zu konstatieren, dass es sich um eine genuin moderne, an einem klassizistischen Perfektibilitätsideal ausgerichtete Gattungskonstruktion handelt, durch die eine Reihe von Möglichkeiten und Traditionen ausgeschlossen werden. Es ist keineswegs ausgemacht, dass die romantische Fixierung des Sonetts der Form in jedem Fall zuträglich war. Es handelt sich dabei um eine Frage der ästhetischen Wertung, die im Blick auf die nachfolgende Gattungsgeschichte zu beantworten ist. So ist beispielsweise das Argument zu bedenken, das in der englischen Milton-Nachfolge aufgekommen war, wo darauf hingewiesen wurde, dass der starren Gliederung des Sonetts am besten mit syntaktischen Brechungen zu begegnen sei, wie sie das Enjambement bereitstelle. Miltons Sonettpoetik griff dabei auf den klassischen Petrarkismus eines Giovanni della Casa zurück, dessen Bemühungen um eine Stilanhebung Ulrich Schulz-Buschhaus als ›Erschwerung‹ der Gedichtlektüre beschrieben hat.2 Es wurden damit rhetorische Maßgaben des hohen Stils in die Sonettpoetik eingebracht, um über solche Stilanhebung den poetischen Rang petrarkistischen Dichtens zu steigern. Verglichen damit weist die von der strophischen Liedpoetik herkommende Forderung nach einer Deckung von Sonettgliederung und Periodenführung in die entgegengesetzte Richtung: sie kann zu einer noch verstärkten Statik der Form beitragen. Die Aufwertung des Sonetts in der frühromantischen Poetik ist Teil eines gesamteuropäischen Prozesses, auf den sie wiederum selbst stark einwirkt. Zugleich ist die Entwicklung eine plurale, denn die anderen Nationalliteraturen verfügen zum Teil über eine weitaus mächtigere eigene Tradition von Sonettdichtung, auf die zurückgegriffen werden konnte. In England sind Samuel Taylor Coleridge und William Wordsworth die Vermittler, in Frankreich später erst Charles Augustin Sainte-Beuve.3 Die Flut von zyklischen Sonettdichtungen im England des 19. Jahrhunderts ist nicht anders als durch die Wirkungskraft der großen elisabethanischen Tradition zu erklären.4 In Frankreich steht das Sonett bald im Zentrum der mit dem Namen Baudelaire verbundenen lyrischen Revolution. Diese Stellung ist nicht ohne die fundamentale Aufwertung zu verstehen, die das Sonett innerhalb der deutschen Romantik erfahren hat.5 Dabei wird bei Baudelaire eine formale Vielfalt gepflegt, die sich vom deutschen Modell wieder entfernt hat. So werden Momente einer Brechung der Sonett——————— 2 3 4 5

Schulz-Buschhaus: Giovanni della Casa. Dazu Jost; Gendre. Going; Daniel Robinson, Paula R. Feldman: Introduction. In: A Century of Sonnets, S. 3–19. Das Sonett ist bei Baudelaire keinesfalls bloß »zufällig gewählt«, wie Hans-Jürgen Schlütter vermutet hat; Schlütter: Sonett, S. 61.

472 gliederung bereits hier verstärkt zur Geltung gebracht. Über den Symbolismus wirkt diese ›moderne‹ Tradition des Sonetts um die Wende zum 20. Jahrhundert nach Deutschland zurück, wo sie die an Schlegel geschulten Sonettpoetiker auf die Probe stellt. Der Ausblick auf die pluralisierenden Tendenzen der europäischen Sonettistik des 19. Jahrhunderts sollte andeuten, dass der Entwurf des romantischen Sonetts – wie man dieses Paradigma aufgrund seiner literarhistorischen Herkunft nennen kann – neben der Anhebung und Aufwertung der Gattung eine deutliche Einschränkung von Möglichkeiten bedeutete, die leicht in einen formalistischen Konservatismus führen konnte. Ein solcher lag ohnehin im Geist der Zeit. Das auf die Romantik folgende restaurative Bemühen um eine Sicherung von überkommenen Ordnungszusammenhängen führte zu einer weiteren Festigung der Form. Friedrich Sengle konstatiert, »dass die von A. W. Schlegel eingeleitete Restauration des Sonetts erst in der Biedermeierzeit ganz legitim wird und bei Eichendorff, Schulze, Platen, Mörike, Rückert, Hebbel u.a. zu einer neuen Blüte der Form führt«.6 Symptomatisch dafür ist etwa die zur Floskel erstarrte Bewertung der Sonette des August von Platen, deren herausragende Qualität für das 19. Jahrhundert vornehmlich in ihrer ›Formvollendung‹ gesehen wurde, womit eine weitgehend treue Erfüllung des Schlegelschen Sonettmodells gemeint ist.7 Die Einschränkung von Möglichkeiten bedeutete auch eine Erleichterung der Nachahmung, denn die ›strenge‹ Sonettform konzentriert den poetischen Anspruch vornehmlich auf formale Fragen, was nicht unerheblich zu einer Sonettenflut minderer Qualität beigetragen hat. Bereits Heinrich Welti hat dies ——————— 6 7

Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 2, Stuttgart 1972, S. 554–558, hier: S. 557f. Welti rühmt die »so große Vollendung und Reinheit der Form«, was »ihn füglich unter die großen Sonettisten aller Zeiten« einreihe; er spricht vom Sonett »in seinem strengsten und höchsten Stile«; Welti, S. 226. Sie gehörten auch »wegen der vollendeten Architektur der Gliederung [...] zu dem Höchsten, was deutscher Sonettdichtung jemals gelungen ist«, so Rudolf Schlösser: August Graf von Platen. Ein Bild seines geistigen Entwicklungsganges und seines dichterischen Schaffens. 2 Bde. München 1910, Bd. 1, S. 577. Vom »unbedingten Ethos der formalen Meisterschaft« spricht Wilker-Huersch, S. 50. Mönch: Das Sonett, S. 185, betont Platens »mustergültige Sprachreinheit und poetische Formenschönheit«, von Wiese die »gewollte Reinheit der Form« und die »Kunst des vollendeten Sonettes«; Benno von Wiese: August von Platen: Sonett. In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Hg. von B.v. Wiese. 2 Bde. Düsseldorf 1956, Bd. 2, S. 118–127, hier: S. 121 und 123. Bei Fechner gilt er als »strengster, individueller Formkünstler«; Fechner: Zur Geschichte des deutschen Sonettes, S. 29. In Bezug auf einen spezifischen Formtraditionalismus spricht Mitlacher, S. 16, schließlich von den »Platen-Epigonen«. Für eine grundsätzliche Kritik an der idealisierenden Platen-Deutung anhand seiner Ghaselen vgl. Heinrich Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen 1995, S. 79–116, sowie zum Gesamtzusammenhang Vf: Der Ruf der Gondoliere. Genretheorie, Formpoetik und die Sonette August von Platens. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hg. von Steffen Martus, Stefan Scherer und Claudia Stockinger. Bern 2005, S. 295–325.

473 in Bezug auf August Wilhelm Schlegels Bestimmungen kritisch angemerkt.8 Er wollte aus einer verstärkt nationalliterarischen Perspektive eine Erneuerung und Rettung der Form in der vor allem mit Rückert einsetzenden vaterländischen Sonettdichtung der Freiheitskriege erkennen.9 Auch hier geht jedoch vieles auf die universelle Verwendbarkeit der Sonettform zurück, die durch die romantische Poetik auf den Weg gebracht wurde. Erst dies hatte dem Sonett einen poetischen Wert per se vermittelt, der es erneut instand setzte, auch politische Gegenstände poetisch zu erhöhen. Das Sonett des 19. Jahrhunderts nimmt verstärkt auch wieder den Charakter einer Gebrauchsform an. Von langfristig entscheidender Auswirkung war die Schlegelsche Sonettpoetik auf die gattungstheoretische Reflexion, der sie das Modell einer historisch verbindlichen Idealform vermittelte. Vor allem entwickelte sie sich zur Grundlage der ästhetischen Wertung nach geradezu mechanischen Gesichtspunkten. Neben der Verwendung der weiblichen Reime wurde die Beachtung der Sinneinschnitte zwischen Quartetten und Terzetten zum maßgeblichen Kriterium.10 Mit idealistischem Impetus wird eine solche Position noch 1956 von Walter Mönch in seiner großen, komparatistisch angelegten Gattungsgeschichte vorgetragen, zum Teil unter wörtlicher Anlehnung an August Wilhelm Schlegel: Die Zweigliedrigkeit ist das wesentlichste innere Gesetz des Sonetts. Oktave und Sextett stehen im Verhältnis von Aufgesang und Abgesang. In der Dynamik seiner Form erkennen wir die Bewegung von Expansion und Kontraktion. Im Aufgesang haben wir eine Erwartung, im Abgesang eine Erfüllung; im Aufgesang eine Spannung, im Abgesang eine Entspannung; und so entspricht die äußere Gliederung des Sonetts der polaren Spannung der Inhalte: Wenn die Oktave eine Voraussetzung, Verwicklung, Behauptung, Analyse enthält, 11 so ist das Sextett eine Folgerung, Lösung, ein Beweis, eine Synthese.

In dieser Bestimmung kreuzen sich die Strukturelemente der Stollenstrophe mit den Dispositionselementen des Epigramms, wobei eine Reihe von deskriptiven Metaphern hinzugefügt wird. Die theoretischen Bemühungen in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts laufen in ihrer Tendenz zur Sicherung der Form parallel zur entsprechenden Sonettproduktion.12 Als Bezugspunkt einer solchen Sicherung lag auch hier noch der Schlegelsche Entwurf eines gleichsam klassi——————— 8

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»Gar leicht wurde so der Form ein ungebührliches Übergewicht über den Gehalt verliehen. Diese Emancipation der Form vom Inhalt, wie sie Schlegel vollzog, als er die Form als an sich selbst bedeutend und wirksam darstellte, mußte zu einem unvernünftigen Formalismus führen.« Welti, S. 174. »Das Sonett wurde in den Kreis der vaterländischen und politischen Poesie gezogen und errang sich so als Mitkämpfer für die große Sache auch die Gunst des Volkes, welche ihm der Unfug der Romantiker verscherzt hatte.« Welti, S. 219. Zentral wird »die Betonung seines dualistischen Charakters; der große Einschnitt ist fast noch wichtiger als die harmonische Rundung des Ganzen«, stellt Sengle unter Hinweis auf zeitgenössische Poetiken fest und bezieht es auf eine »Strukturform der damaligen Lyrik«, auf das ›zweiteilige Gedicht‹; Sengle: Biedermeierzeit, Bd. 2, S. 558. Mönch: Das Sonett, S. 33; bezüglich des Reims wiederholt Mönch die Worte Schlegels: »Dem Reim wohnt eine doppelte Wirkung inne: Er verbindet und trennt zugleich«, worauf das gesamte Argument zur Legitimation der Binnengliederung folgt (ebd., S. 33f.). Dazu knapp Schindelbeck, S. 15.

474 schen Sonetts nahe. Mönch fügt der Schlegelschen Legitimation noch weitere hinzu, so als müsse ein verborgenes Gesetz metaphorisch umkreist werden. So greift er zurück auf Walter Bährs ebenfalls gegen moderne Auflösungstendenzen gerichteten, in der Sache allerdings irrigen Vergleich der Sonettgliederung mit dem Goldenen Schnitt, den Mönch wohlwollend kommentiert, obwohl er auf den mathematischen Fehler hinweist.13 Auf literarischem Gebiet wird ebenfalls recht großherzig die ›Verwandtschaft‹ zu Strukturierungselementen der Sestine, der Terza Rima und der pindarischen Ode, der Kanzone und der Elegie sowie des Distichon und schließlich noch des Epigramms herausgestellt (35ff.). Da Mönch die lange Geschichte des Sonetts recht souverän überblickt, vermeidet er bei solchen Hinweisen allzu starke Verkürzungen. Der Abschnitt über die innere Struktur endet mit der Thematisierung der Paradoxien von formaler Schwierigkeit und poetischer Leichtigkeit, von Formerfüllung und Formsprengung, von Mikrokosmos und Makrokosmos, von Tektonik und Musikalität. Damit kommt er auf die Dialektik des Sonetts zurück: Kein lyrisches Gebilde hat in gleichem Maße die Elemente von Rationalität und Magie in sich wie der streng tektonisch gegliederte Vierzehnzeiler, in welchem Architektur zu Musik wird. Beharrung und Beweglichkeit, Statik und Dynamik, Sein und Werden verschwistern sich in dieser Gestalt. Der Kunstverstand, sichtbar in der fassadenhaften Disposition der Gedicht-Teile, behauptet sein Recht neben dem irrationalen Gefühl; vielmehr sind beide unzertrennlich eins in den festumzirkelten Grenzen des im Atem des Auf- und Abgesangs dahinströmenden Gedichts. Das Sonett ist die vollendete Krasis von Gemüt und Verstand, Herz und Geist, Seelischem und Intellektuellem, der Weichheit des Empfindens und der Härte dialektischen Denkens. Mystik und Scholastik, die zwei hochentwickelten Denkformen des Mittelalters, haben in der ältesten Sonettdichtung ihre Spur hinterlassen. 14 Das Sonett ist eine Geburt aus Eros und Geist.

Mönch bleibt hier ganz dicht an der romantisch-dialektischen Auffassung des Sonetts, die er durchaus normativ auslegt. Die Kongruenz von äußerer und innerer Form, von Reimordnung und dispositorischer Gliederung wird als das Wesen des Sonetts aufgefasst und wirkt gegenüber zahlreichen experimentellen Entwicklungen der Moderne, aber auch gegenüber Teilen der Tradition als Ausschließungsargument. Es ist nicht ohne Ironie, dass der Gegenentwurf, den Johannes R. Becher 1956 vorlegt, dem Modell von Schlegel und Mönch in der Tendenz konservativer Fixierung kaum etwas nachgibt. Dabei macht der DDRAutor den Versuch, die Sonettpoetik über das Konzept der Form/Inhalt——————— 13

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So war hier festzustellen, dass »das mathematische Verhältnis von annähernd fünf zu acht des goldenen Schnittes sich auf drei zu vier beim Sonett wandelt, doch werde der gedankliche Gehalt jenes Lehrsatzes von dieser Abweichung nicht mitberührt«; Walter Bähr: Der Goldene Schnitt am Sonett. In: Das literarische Echo 22 (1919) Sp. 281–283. Dass die SonettProportion dem Goldenen Schnitt gar nicht wirklich entsprach, spielte keine besondere Rolle, wichtig war vielmehr der Verweis auf das überhistorische Formgesetz. Noch Hugo Friedrich erwähnt den Aufsatz zustimmend. Mönch nennt in diesem Zusammenhang noch einen weiteren geometrischen Strukturierungsversuch von Albrecht Schaeffer: Dichter und Dichtung. 1923; Friedrich, S. 30; Mönch: Das Sonett, S. 34f., S. 281–283. Mönch: Das Sonett, S. 40.

475 Dialektik zu ideologisieren und auf die gängigen Kontroversen zwischen sozialistischer und konventioneller Ästhetik abzubilden. So wird das Schlegel/Mönchsche Modell für formalistisch erklärt und »die dialektische Struktur des Sonetts als die entscheidende Formfrage behandelt«.15 Bechers Aneignung der Gattung entwickelt eine unfreiwillige Komik, wenn er sein Unverständnis der modernen Sonettkonjunkturen bekundet. So bleibt ihm völlig unklar, weshalb das Sonett in der Aufklärung und im Werk von Schiller und Hölderlin nicht zu Hause war, warum es aber von den Romantikern so geschätzt wurde. Dieses Unverständnis gründet in der Überzeugung, dass dem Sonett »in seiner strengen Vernünftigkeit jede Art von Irrationalität und Mystizismus fremd ist«, was nun genau gegenläufige historische Konjunkturen erwarten lassen sollte (337). Hier entwickelt die Gleichsetzung von Sonettform und marxistischer Dialektik ihre Eigengesetzlichkeit. Neu an Bechers Versuch ist der ausschließliche Bezug der dialektischen Disposition des Sonetts auf die Seite des Inhalts: Im Sonett wird das Bewegungsgesetz des Lebens zum Inhalt (und zwar auf inhaltlich verschiedene Art), das aus Satz, Gegensatz und der Auflösung in einem Schlussatz besteht 16 oder aus These, Antithese und Synthese.

Der hier explizit gemachte metaphysische Hintergrund der dialektischen Spekulation zeigt die gemeinsamen Wurzeln der romantischen und der marxistischen Konzeption auf: beiden galt die Dialektik als das ›Bewegungsgesetz des Lebens‹.17 Becher trennt dies aber nun vollständig vom Reimschema des Sonetts, indem er die verbindliche dialektische Durchführung des Inhalts fordert. Wo diese nicht gegeben sei, verkomme das Sonett zum »Vierzehnzeiler« (333), der eben kein Sonett sei. Dirk Schindelbeck hat in dieser Radikalisierung des Gedankens der inneren Form noch 1988 die Möglichkeit einer Sonettbestimmung erblickt, die auch den modernen, experimentellen Formen der Gattung Rechnung zu tragen vermöchte. Um ein möglichst geschmeidiges Modell zu erreichen, stützt er sich jedoch nicht auf das starre dialektische Schema, sondern er legt diesem Hugo Friedrichs Formulierung vom Sonett als ›lyrischem Syllogismus‹18 sowie eine ›kybernetische‹ Betrachtungsweise zugrunde: ——————— 15 16 17

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Johannes R. Becher: Philosophie des Sonetts oder kleine Sonettlehre. Ein Versuch. In: Sinn und Form 8 (1956) 329–351, hier: S. 336. Becher, S. 330. Dabei täuscht sich Becher, wenn er sein Modell des dialektischen Sonetts für ein vor allem inhaltlich bestimmtes hält. Auch die dreischrittige Anlage der Dialektik stellt ein formales Prinzip dar. Becher unterschätzt zudem das romantische Sonett Schlegels, denn dessen Forderung nach einer Beachtung der Sonettabschnitte in der Behandlung des Sinns zielt ebenso auf eine Verschränkung von Sinn und Form. Die Gefahr des Formalismus liegt nicht in der grundsätzlichen Würdigung des Formaspekts, sondern in dessen philosophischer Überforderung. Eine solche Überforderung der Form findet sich sowohl bei Schlegel wie auch bei Becher. Friedrich, S. 33, spricht hier allerdings nicht mit systematischem Anspruch; dazu: Schindelbeck, S. 16f.

476 Das Sonett als lyrischer Syllogismus kommt einer poetischen Methode gleich, die Aussagen formt und an einen bestimmten Lösungspunkt bringt. Es arbeitet als methodisches Gedicht zwischen verschiedenen Spannungszuständen und vermag aufgrund seiner methodischen Vollständigkeit (eben zu verschiedenen Bewegungsabläufen disponiert zu sein, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren) ein hohes Quantum an Leistung innerhalb 19 eines begrenzten Rahmens zu bringen.

Andreas Böhn nennt dies »eine stark abstrahierte Version des Konzepts der ›inneren Form‹«,20 und tatsächlich erscheinen die bestimmenden Merkmale der logischen Disposition verflüchtigt zu einer offenen Ablaufform innerhalb eines begrenzten Umfangs. Ein möglichst variables Modell poetischen Schließens wird zur Gattungsbestimmung erhoben, dem noch Momente der poetischkybernetischen Selbstreferenz und Selbstreflexion hinzugefügt werden, die das Sonett zum exemplarischen ›Kunstgedicht‹ machen sollen. In Schindelbecks typologischem Entwurf dreier »Entwicklungsstränge sonettischer Formrealisation im 20. Jahrhundert«21 tritt schließlich zusätzlich noch das Traditionsverhältnis in den Vordergrund, wenn er einen ›konservativen Formgebrauch‹ von einem negativ geprägten ›kritischen‹ und einem innovativ-experimentellen ›ingenieusen‹ Formgebrauch unterscheidet. Der Blick auf diese Überlegungen zur Sonettform zeigt einen grundsätzlichen Abstand zum Diskussionsstand der neueren Gattungstheorie, deren im ersten Teil dieser Untersuchung herausgearbeitete Prämissen in keiner Weise eingeholt werden. Sind im Rahmen der theoretischen Erörterungen die Unzulänglichkeiten einer merkmalsorientierten Gattungsdefinition deutlich sichtbar geworden, so geht die Theorie des Sonetts in der Grundlegung der konkreten Gattungsgeschichte weiterhin diesen Weg.22 Die Konsequenz ist eine zunehmend abstrakte und immer weniger distinkte Beschreibung der Form. In dieser Hinsicht erweist sich die größere Flexibilität, die das Konzept der ›inneren Form‹ gegenüber experimentellen Sonettvarianten erreicht, als teuer erkauft, denn ›dialektische Struktur‹, ›lyrischer Syllogismus‹ und ›lyrischer Prozessor‹ können nicht mehr als Minimalbestimmungen bereitstellen, die eine möglichst große Klasse von Objekten umfassen sollen. Der Gattungsbegriff bleibt dabei grundsätzlich ahistorisch angelegt. Er ist nicht an pragmatisch-soziale und institutionelle Bedingungen geknüpft, er nimmt keine Rücksicht auf intertextuelle Bezüge und auf die literarische Reihe oder auf den Einfluss metatextueller Reflexion. Welche konkreten Konsequenzen sind aus den eingangs angestellten komplexen gattungstheoretischen Erörterungen für das Konzept des Sonetts zu ziehen? An erster Stelle steht der vollständige Verzicht auf eine an Merkmalen ——————— 19 20 21 22

Schindelbeck, S. 17. Böhn, S. 11. Schindelbeck, S. 46–67. Bei Schindelbeck bildet eine verbindliche Bestimmung von überhistorischen Merkmalen das Ziel, wenn er einen Sonettbegriff anstrebt, »der eine tragfähige, am historischen Prozess orientierte Formentwicklung beschreiben kann und gleichzeitig die Grenzen und damit die Autonomie der Gattung zu sichern vermag«; Schindelbeck, S. 4.

477 orientierte definitorische Umschreibung, die historisch übergreifend sämtliche Ausprägungen des Sonetts erfassen wollte. An deren Stelle tritt jenes ›System der Gattung‹, das durch das Wechselspiel der durch variierende Textrekurrenzen konstituierten literarischen Reihe und ihrer metatextuellen Reflexion gebildet wird. Dieses Wechselspiel unterliegt dem historischen Wandel, der die radikale Veränderung der konstituierenden Bedingungen bedeuten kann. Solche Veränderungen werden umso wahrscheinlicher, je weiter sich eine literarische Gattung über differente Kulturräume hinwegbewegt, seien diese durch räumliche oder historische Differenz bezeichnet. Im Fall des Sonetts lässt sich dies exemplarisch beobachten, obwohl es von seinem historischen Ursprung her durch relativ wenige und sehr spezifische, rein formale Bestimmungen konstituiert war. Dieser Wandel der konstituierenden Bedingungen wurde hier an einigen epochalen Wendepunkten der Gattungsgeschichte nachgezeichnet. Eine solche Topik der historischen Gattung erscheint als ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer Bestimmung. Man kann diese Geschichte des Sonetts insgesamt als eine Geschichte der Differenz beschreiben. Dabei wirkt der transkulturelle Prozess selbst offenbar als entscheidender Motor der Gattungsmodifikation. Die Übernahme einer für wertvoll erachteten ›fremden‹ literarischen Gattung, die den Prozess der Historisierung in Gang setzt, bringt einen spezifischen Bedarf an wertender Abgrenzung hervor, der zur Differenzsetzung führt. Der Aneignung fremder Vorbilder korrespondiert in aller Regel der Akt der Selbstvergewisserung: die fremde Form ist als eigene zu kennzeichnen, was als Differenzsetzung beobachtbar wird. Es ist genau diese Differenz, in der die Gattung als transkulturelles und damit auch transhistorisches Phänomen konstituiert wird. Das Doppel von Kontinuität und Diskontinuität kann als Fortschreibung oder auch als Neubegründung einer Gattung beschrieben werden. So bildet schon der ›Ursprung‹ – im Sinne Walter Benjamins – das gleiche Doppelbild von Kontinuität und Diskontinuität. Die Entstehung des Sonetts lässt sich hier unmittelbar einfügen. Die sizilianische Hofkultur greift zur Begründung einer volkssprachlichen italienischen Literatur selektiv auf die prominenten provenzalischen Vorbilder zurück, setzt aber markante Differenzen sowohl im formalen wie im diskursiven Bereich, so gegenüber der ursprünglich feudal akzentuierten Liebeskonzeption. In diesem Kontext steht der Entwurf des Sonetts. Er ist insofern radikal, als er eine sehr fundamentale Differenz setzt, die sich auf der Ebene der Medialität bewegt. Ihr herausstechendes Merkmal ist die Isolierung und Fixierung einer Einzelstrophe und deren Fortschreibung als eigene Gattung, wobei die Fixierung mathematisch-numerologisch motiviert erscheint. Der Vorgang stellt dennoch vom Grundsatz her nichts anderes dar, als die Verschiebung einer überkommenen ›fremden‹ Gattung – der Kanzonenstrophe – auf ein kategorial anderes Feld. Gemäß der hier vorgenommenen Rekonstruktion dieses Vorgangs handelt es sich um die Überlagerung einer Liedform mit einer mathematisch-geometrischen Konstruktion. Das Sonett ist demnach im Ursprung eine numerisch fixierte Stollenstrophe, bildlich gesprochen eine mit spekulativem Impetus geometrisierte Liedform. Die Verschiebung wirkt als Aneignung und als Aufwertung. Das Sonett ist in der mehrfachen Wiederholung einer

478 identischen Form bereits als Gattung zukunftsgerichtet. Im Fall des sizilianischen Sonetts geht die Verschiebung mit der Behauptung eines höherwertigen universalistischen Liebeskonzepts und wahrscheinlich auch mit einer entsprechenden Universalisierung der Form durch Mathematik einher. Diese Merkmale waren als philosophischer und ästhetischer Ausdruck eines imperialen kulturellen Anspruchs zu deuten. Das gattungstheoretische Modell hängt von dieser konkreten historischen Deutung jedoch nicht ab. Für dieses ist allein das Zusammenspiel von kultureller Adaption, Gattungsmodifikation und Umwertungsakt entscheidend. Die Paradoxie der historischen Gattung besteht gerade darin, dass ihre Kontinuität in der Differenzsetzung gründet und dass ihre Abwandlung ihre Zukunft sichert. Ist die Differenzsetzung tiefgreifend, so wird man womöglich vom Ursprung einer neuen Gattung sprechen wie im Fall des Sonetts am sizilianischen Kaiserhof. Wie bedeutsam ist der Ursprung einer Gattung für deren Geschichte? Unter den Prämissen einer pragmatischen und historistischen Gattungstheorie ist er dies nur bedingt. Der Ursprung ist keinesfalls der Garant einer transhistorischen Geltung, für die seine Merkmale identisch fortgeschrieben würden. Er stellt per se keine Norm dar. Er stellt allerdings im Kontext einer Gattungsgeschichte einen Wert dar, da er als historisch vorgängiger das Mandat der Fortschreibung immer schon enthält. Insofern sich das System der Gattung über die literarische Reihe und deren metatextuelle Reflexion konstituiert und fortschreibt, spielt der Ursprung der Gattung stets eine bedeutende Rolle, die als Wert in Erscheinung tritt. Nun kann man gerade beim Sonett sehen, dass die Reflexion auf den Ursprung im Verlauf der Gattungsgeschichte immer wieder herangezogen wurde, um Modifikationen der Gattung auf den Weg zu bringen, dass dieser Ursprung aber durchaus unterschiedlich positioniert wurde. Seit der Frühen Neuzeit nahm mit der Kanonisierung Petrarcas dessen ›klassisches‹ Sonett die Stelle des Gattungsmodells ein, was von der romantischen Sonettpoetik nochmals erneuert und bekräftigt wurde. Erst die im 20. Jahrhundert erarbeiteten genaueren philologischen Erkenntnisse über die Umstände der Sonettentstehung haben die sizilianische Ursprungssituation wieder stärker in den Blick der Gattungsreflexion treten lassen. Ein Ausdruck dessen ist etwa der Rückgriff, den Raoul Schrott in seiner bemerkenswerten Anthologie ältester Lyrik mit einem Essay und Übersetzungen zu Giacomo da Lentini unternimmt. Der Gattungsursprung nimmt auch in systematischer Hinsicht eine herausgehobene Position ein, denn jeder Versuch einer Gattungsbestimmung nach Merkmalen muss eine Gattungsentwicklung bereits von ihrem Ursprung her beschreiben können. Innerhalb der Sonettgeschichte stellte dieser Sachverhalt lange Zeit eine eher prekäre Situation dar, da die Gattung sich jeweils an jüngeren Modellen wie dem Petrarcas orientierte und durchaus nicht am alten sizilianischen Modell mit seinen ausschließlich alternierenden Reimen. Hier führt die geschwundene Bedeutung der klassizistischen Sonettauffassung und die philologisch induzierte historische Perspektive eine neuerliche Änderung herbei, durch die der Ursprungscharakter des Sonetts auch für die zeitgenössische poetische Produktion wieder neues Interesse finden könnte.

479 Von welcher Bedeutung sind aber nun bestimmte grundlegende Merkmale einer Gattung, die sich über allen Wandel hinweg durchzuhalten scheinen? Für das Sonett kann man bei aller theoretischen Spitzfindigkeit und bei allen abweichenden Sonderformen, die man für jedes einzelne persistierende Merkmal als Gegenargument anführen kann, eine jahrhundertelange Konstanz bestimmter Eigenschaften kaum abstreiten. Vom Duecento bis heute ist jedes Sonett in irgendeiner Weise auf eine Konstellation von acht plus sechs Versen bezogen. Weniger durchgreifend, aber doch auch von unabweislicher Bedeutung ist eine gewisse argumentative Disposition und ein herausgehobener und betonter, weil formal vorgegebener Schluss des Gedichts. Persistent ist auch der mediale Doppelcharakter der Form zwischen akustischem Klangcharakter von Vers und Reim und graphisch-geometrischer Fixierung der Schriftform. Das Sonett erscheint in einzigartig zugespitzter Weise als oral und skriptural determinierte Form. Dieser Doppelcharakter wurde gerade im 20. Jahrhundert in zahlreichen graphisch-visuell gestalteten Sonetten thematisiert und experimentell herausgestellt – zum Schrecken der normativen Gattungstheoretiker und ihrer definitorischen Bemühungen. Ein weiteres, lange Zeit völlig unterschätztes Merkmal hat neuerdings Erika Greber in den Mittelpunkt der Sonettdiskussion gestellt, nämlich das kombinatorische Moment der variablen Reimschemata, das ebenfalls bereits vom Ursprung des Sonetts her beschreibbar ist, da bereits die Sizilianer mit den zwei- und dreireimigen Terzetten und der Möglichkeit der Durchreimung mehrere artifiziell modifizierte Reimschemata verwandten.23 Ein einzelnes Ursprungsschema ist bis heute nicht nachweisbar. Die Pointe einer historisch und pragmatisch ausgerichteten Gattungstheorie besteht nun darin, die Persistenz solcher Merkmale als historisch kontingent zu beschreiben. Sie erweisen sich als grundlegend, wenn sie im geschichtlichen Verlauf an unterschiedlichen Stellen immer wieder aufgegriffen und mit Inhalt gefüllt werden. Das heißt aber gerade nicht, dass sie aufgegriffen werden müssen. Ein Sonett muss nicht acht plus sechs Verse besitzen, es muss nicht argumentativ strukturiert sein, es muss weder musikalisch noch typographisch besonders akzentuiert sein und es muss auch nicht im Reimschema variieren. Es kann, wie im ersten Teil dieser Arbeit kategorisch für alle Gattungen festgestellt, prinzipiell jedes seiner Merkmale verändern. Seine Gattungsidentität wird nicht von einzelnen Merkmalen und nicht von einem Merkmalsbündel gewährleistet, sondern von einem systematischen Wechselspiel von Textrekurrenz – dem aktualisierenden Bezug auf Vorgängertexte – und Gattungsreflexion. Eingangs wurde festgestellt, dass kommunikationstheoretisch fundierte Modi beziehungsweise Schreibweisen eine besonders hohe Bindung an Gattungen besitzen können. Auch diese Bindung ist jedoch keine notwendige. Modus und Gattung sind im Anschluss an Gérard Genette konzeptionell grundsätzlich zu trennen. Ähnlich lose ist das Verhältnis von Medium und Gattung zu denken. Medien bilden bestimmte Gattungen als konventionalisierte Kommunikationsmuster aus, doch solche Gattungen können Mediengrenzen überschreiten und ——————— 23

Greber: Wortwebstühle. Greber: Textile Texte.

480 sich auch in anderen Medien reproduzieren. Gleichwohl kann dies nicht beliebig geschehen und die Gattungen besitzen eine erhöhte Bindung an die Medien, in denen sie traditionell realisiert sind. Welche kommunikativen Dimensionen, welche Medien oder Modi, werden nun für die Identifikation des Sonetts besonders signifikant? Die Frage kann hier nur provisorisch angesprochen werden, da eine ausgearbeitete Theorie der kommunikativen Dimensionen nicht vorliegt, doch kann man sich vor dem Hintergrund der Überlegungen zu Texttypologien auf möglichst universelle kommunikations- und medientheoretische Charakteristika beziehen. Vor diesem Hintergrund sind einige Merkmale des Sonetts fassbar. Als literarische Form ist es sprachbasiert. Über Vers und Reim ist es eng an die gesprochene Sprache und damit an die Codes der Stimme und an den akustischen Kanal geknüpft. Ein Sonett lässt sich innerhalb des akustischen Mediums allein auf der Basis von Lautmerkmalen bestimmen. Es erscheint klanglich definit. Eine bestimmte Abfolge von rhythmisierten und als Reim wiederholten Lauten ist eindeutig als Sonettstruktur identifizierbar. Dies gilt unabhängig von jeder semantischen Festlegung auf der Basis der Anordnungsprinzipien der lautlichen ›Materialität‹ der verwendeten sprachlichen Elemente. In diesem Sinn hat das Sonett eine orale Wurzel und kann als sprachliches Klangphänomen mit bestimmten akustischen Eigenschaften beschrieben werden. Dieses Merkmal macht sich innerhalb der Sonettgeschichte und der Geschichte seiner Poetik immer wieder bemerkbar, wenn es um die Begründung bestimmter Modifikationen der Form geht. So spielt die Musikalität des Sonetts sowohl für die Pluralisierungstendenzen des Duecento – die sich am Variationsspielraum der Kanzone orientieren – als auch im Rahmen der Gattungsreflexion des 18. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle. Sie kann zur Legitimation und Aufwertung bestimmter Sonettausprägungen herangezogen werden. Auf ihrer Basis lassen sich Vertonungen von Sonetten legitimieren, wie sie bei Serafino, bei Ronsard und innerhalb der petrarkisierenden Madrigalmusik vorkommen. Man muss allerdings vorsichtig bei der Bewertung dieser Vorgänge sein, denn sie stellen keine Rückkehr zu einem Gattungsursprung dar, sondern vielmehr eine sekundäre Interpretation des Klangcharakters im Sonett. Besonders deutlich wird dies bei der Madrigalmusik des 16. Jahrhunderts, die sich gerade auf den semantischen Ausdruckswert der Affektrede stützt und nicht auf den Klangwert. Tatsächlich ist der Zusammenhang der verschiedenen Tendenzen der Sonettvertonung mit der Gattungsentwicklung bislang kaum erforscht. Es lassen sich dabei auch formale Rückwirkungen auf das Sonett als Text aufzeigen, wenn etwa bei Ronsard die Variationsmöglichkeiten des Reims begrenzt werden, um die Texte kompatibel zu bestimmten Melodien zu machen. Im 18. Jahrhundert dient der Hinweis auf den Liedcharakter des Sonetts als Basis einer rationalen Rekonstruktion seiner formalen Bestimmungen – so bei Gottsched –, er führt aber auch zu einer Liberalisierung dieser Bestimmungen, da das Sonett im Vergleich zum Modell des Liedes überdeterminiert erscheint. In der romantischen Spekulation wird dies zu einer philosophischen Begründung der Sonettstruktur ausgebaut. Dabei wird der Variationsspielraum der Reimschemata wiederum eingeschränkt, während der klangliche Aspekt in der

481 Sonettpraxis auch zur Intensivierung dieses Klangcharakters genutzt wird. Auch hier ist die Analogie des Sonetts zum Lied in der Weise, in der sie vorgenommen wird, keineswegs zwingend. Weder ist beim Sonett von einer entsprechenden Verbindung von Text und Melodie auszugehen, noch ist die Analogie der Sonettabschnitte zu Liedstrophen wirklich schlüssig. Auf diese mangelnde Kongruenz hatte bereits Philipp von Zesen hingewiesen. Der musikalischklangliche Aspekt des Sonetts wird argumentativ genutzt, er führt aber tatsächlich durch die Abbildung auf die Liedgattung zu einer erneuten Modifikation der Form. Die Perspektive auf das Sonett als Klangobjekt ist als Argument durchaus mehrdeutig und wird zu einem Spielelement im Verlauf der Gattungsgeschichte. Der Klang lässt sich dabei nicht als dessen Wesen stilisieren oder als ein notwendiges Sonettmerkmal bestimmen. Es gibt reimlose Sonette und es gibt geradezu stumme Sonette, die aus bloßen Ideogrammen oder aus graphischen Objekten bestehen. Man kann allerdings tatsächlich sagen, dass solche Formen als eine Provokation des Gattungscharakters erscheinen, und dass sie regelmäßig in Poetiken und Gattungsgeschichten kritisch diskutiert werden. Der Reimcharakter ist ein in hohem Maß persistentes Merkmal der Sonettgattung und eines seiner wichtigsten Erkennungszeichen. Eine Beschreibung der Sonettform, die dessen Reimcharakter ignorieren wollte, würde schlechterdings für unvollständig gehalten. Der Punkt ist noch zu verstärken, denn das Sonett ist nicht nur als Klangobjekt definit, es ist sogar in herausgehobener Weise Klangobjekt: der Reim spielt beim Sonett eine vorherrschende Rolle, da es besonders reich und in besonders fixierter Weise reimt. Man denke nur an die Experimente mit Binnenreimen, Durchreimungen, Doppel- und Echosonetten oder an die Etymologie des Sonettbegriffs selbst. Es erscheint geradezu als das Reimgedicht schlechthin, und als solches wurde es historisch auch immer wieder präsentiert. Damit kann es auch exemplarisch für diesen medialen Aspekt des Literarischen stehen. Es ist in herausgehobener Weise Ausdruck des literarischen Klangcharakters. Dies führt dazu, dass die Assoziation der historischen Gattung Sonett mit dem klanglichen Code beziehungsweise einer klangbezogenen Schreibweise ausgesprochen eng ist und über Jahrhunderte immer wieder aktualisiert und fortgeschrieben wurde. Dennoch geht das Sonett im Unterschied zu liedhaften Formen gerade nicht in dieser Dimension auf. Bei der Analyse des Sonettursprungs war die Fixierung eines Tableaus aus acht plus sechs Versen als jene spezifische Differenz erschienen, die das Sonett von allen anderen bekannten lyrischen Formen abhebt. Diese Fixierung einer Einzelstrophe in Umfang und Proportion lässt sich im Gattungskontext der Kanzone kaum rechtfertigen; sie ist musikalisch-liedhaften Formen fremd, für die die Wiederholbarkeit der Melodie prinzipiell unbegrenzt ist. Statische Umgrenztheit eignet dagegen graphischen Realisationen durch ihre begrenzte Ausdehnbarkeit in der Fläche. Literarisch kennt man die scharfe Umfangsbegrenzung vor allem vom Epigramm, wo sie ursprünglich vom Schriftmedium und der Schreibfläche des Trägerobjekts vorgegeben war. Insofern erklärt sich die historisch aufgekommene Analogisierung des Sonetts mit dem Epigramm. Die Begrenzung ist beim Sonett allerdings numerisch fixiert, wo sie beim Epi-

482 gramm lediglich eine flexible Forderung nach Kürze darstellt. Die proportionale Fixierung des Sonetts verleiht diesem in der Schriftform eine unverwechselbare visuelle Gestalt, die unmittelbar wahrnehmbar ist, ohne dass man den Sonettklang verfolgen müsste. Insofern erscheint das Sonett parallel zu seiner Klanglichkeit als eine eminent graphische Gedichtform. Als graphische Gedichtform ist sie in herausgehobener Weise Ausdruck des literarischen Schriftcharakters.24 Die graphische Struktur des Sonetts ist zunächst ein Abbild seiner Klangstruktur. Dennoch stellt es eine entschieden eigene Realisation dar. Während die klangliche Struktur in der Sukzession wahrnehmbar ist, wird die graphische Struktur visuell und simultan evident. Auf beiden Wegen ist das Sonett identifizierbar, da auf beiden Wegen seine proportionale Ordnungsstruktur zum Ausdruck gebracht werden kann. Motiviert scheint diese Ordnungsstruktur aber von beiden Medien her zu sein. Sind Vers- und Klangordnung, Reimwiederholungen und Reimwechsel zwischen Auf- und Abgesang traditionelle liedhafte Motive, so handelt es sich bei der Fixierung von Vers, Reimordnung und Einzelstrophe um Motive, die zu einer identischen graphischen Gestalt des Sonetts führen und die vor allem in der Schriftform wahrnehmbar werden. Gerade diese Momente der Fixierung unterscheiden das Sonett in signifikanter Weise von anderen lyrischen Formen. Eine Ausnahme macht hier wohl einzig die Sestine, die jedoch bezeichnenderweise das Resultat einer ähnlichen mathematisch-kombinatorischen Überformung der strophischen Liedstruktur darstellt. Die kompakte Form des Sonetts ist über die Jahrhunderte in unterschiedlicher Weise typographisch repräsentiert worden, und stets war diese Graphie des Sonetts auch Ausdruck der poetologisch induzierten Auffassung der Form. Die frühesten Sonetthandschriften der toskanischen Codices markieren mit Majuskeln und Sonderzeichen vier piedi und zwei volte und damit den Stollencharakter des Sonetts, wie er in den zeitgenössischen Poetiken beschrieben wird. Erst am Ende des 14. Jahrhunderts werden Quartette und Terzette markiert, nachdem sich in den piedi die Reimpermutation a b b a a b b a durchgesetzt hat, die eine doppelte Symmetrie herstellt. In Italien, Spanien und Frankreich und zum Teil auch in anderen Literaturen wird eine Sonettgraphie üblich, die Quartette und Terzette durch hängenden Einzug markiert. Nachdem jedoch das Sonett seit der französischen Adaption im 16. Jahrhundert poetologisch als Epigramm gedeutet und die Binnengliederung durch die neuen französischen und englischen Reimordnungen zunehmend überspielt wurde, markierte man in England, den Niederlanden oder Deutschland verstärkt nur noch den Wechsel von männlichen und weiblichen Reimversen, was zu einer blockartigen Graphie mit je nach Reimschema unterschiedlich eingezogenen Verszeilen führte. Diese Graphie entsprach unmittelbar der des Epigramms. In England setzte sich dagegen eine nochmals andere Darstellung durch, die dem elisabethanischen Sonettschema entsprach: die blockartige Darstellung mit besonders markiertem Schlusscoup——————— 24

Erst in Reaktion auf den Medienwandel im späteren 20. Jahrhundert wird literaturwissenschaftlich auch der graphischen Repräsentation von Lyrik Rechnung getragen, so bei Burdorf, S. 41–52; vgl. auch Wehde, S. 119–211.

483 let. Erst die Assoziation des Sonetts mit Ode und Lied führte zur modernen, durchweg strophenartigen Darstellung der Form. Zunächst findet man dies als Ausnahmefall bei Weckherlin, außerdem dreistrophig bei den pindarischen Sonetten und im 18. Jahrhundert dann in unterschiedlichen Gliederungen, wobei die von der Epigrammpoetik übernommene Vorstellung einer argumentativen inneren Disposition des Sonetts die Auffassung beeinflusste. Es gibt infolgedessen sowohl zweigeteilte als dreigeteilte und viergeteilte Graphien. Letztere setzen sich in Anlehnung an die traditionelle italienische Gliederung in Deutschland und schließlich europaweit durch. Seitdem ist in der modernen Sonettdichtung auch in typographischer Hinsicht der Rückgriff auf sehr unterschiedliche Traditionen möglich, wobei die zweigeteilte Darstellung das alte Sonett Dantes evoziert, die blockhafte das Epigrammsonett des 16. und 17. Jahrhunderts, die mit Schlusscouplet das Shakespeare-Sonett und die viergeteilte strophische die dominante Schlegel/Petrarca-Tradition. Die Graphie spiegelt somit die historisch unterschiedlichen poetologischen Auffassungen wieder. Es ist erstaunlich, dass sie in der Gattungsgeschichtsschreibung bislang nur wenig beachtet wurde.25 Die auffällige visuelle Gestalt des Sonetts ist wie sein Klangcharakter in verschiedener Hinsicht anschlussfähig. Vor allem hat sie jene tektonische Sonettbetrachtung begünstigt, die das Sonett als ein Wechselverhältnis symmetrischer Textblöcke betrachtet. August Wilhelm Schlegel hat eine solche Visualisierung des Sonetts besonders weit getrieben, als er es mit Quadrat, Dreieck und Kubus in Verbindung brachte. Gerade dies erlaubte ihm die Stilisierung des Sonetts zur klassischen Form, wie sie am deutlichsten in seinem Vergleich mit einem griechischen Tempel erschien. Gattungstheoretisch bilden der Klangcharakter und die graphisch-geometrisch motivierbare Fixierung von Proportion und Umfang divergente medieninduzierte Merkmale des Sonetts, die im Lauf der Gattungsgeschichte immer wieder aktualisiert und zur Erneuerung der Form herangezogen wurden. In ihrem Verhältnis reproduziert sich die im ersten Teil dieser Arbeit behandelte Frage nach dem medialen Ort der Literatur. Wie für alle Literatur gilt für das Sonett, dass es sprachbasiert und alternativ mündlich und schriftlich codierbar ist. Die Schriftform kann dabei aber nicht bloß wie bei Mitlacher als lautabbil——————— 25

Eine Ausnahme bildet die bemerkenswerte Arbeit von Heinz Mitlacher, der darauf hinweist, dass das Sonett des 20. Jahrhunderts tendenziell wieder eher einstrophig aufgefasst werde, was sich auch auf das Druckbild auswirke; er bezieht sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf »die ›geometrische‹ schlegelsche Druckbild-Auffassung des Sonetts« in vier Absätzen. Mitlacher nutzt die medienbezogenen Aspekte der Klanglichkeit und der graphischen Gestalt des Sonetts zu einer stilistischen Typologie in geistesgeschichtlicher Perspektive, um das moderne Sonett zu beschreiben. Die Entgegensetzung von tektonischen und musikalischen Momenten ist dabei nicht als überhistorisch gültige, sondern lediglich als historisch signifikante Opposition entworfen. Er schließt damit an Alfred Mohrhenn und Karl Viëtor an; Mitlacher, hier: S. 41; Alfred Mohrhenn: Friedrich Hebbels Sonettdichtung. Berlin, Leipzig 1923, S. 45f.; auch: Deutsche Sonette aus vier Jahrhunderten.

484 dend aufgefasst werden. Sie ist vielmehr im oben diskutierten Sinn mehrfachcodiert, das heißt, dass die Schriftzeichen durch ihre typographische Anordnung in einer Weise signifikant sind, die sich nicht auf die Lautrepräsentation beschränkt. Sie sind im Sinn von Helmut Glück zugleich logo- und ideographisch: ihre typographische Anordnung bildet strukturelle Momente des Sonetts ab. Insofern kann die Graphie ein Sonett zur Darstellung bringen, ohne überhaupt noch auf Laute zu verweisen, wie dies beispielsweise Karl Rihas visuelle Sonette vorführen.26 Indem graphische Repräsentationen die strukturellen Momente verstärken oder abschwächen, stellen sie eine Interpretation der Form dar, was an der Geschichte der Sonettgraphie gut zu verfolgen war. Die graphische beziehungsweise typographische Repräsentation des Sonetts ist ein signifikantes poetologisches Datum. Der Durchlauf der Sprache durch mehrere Medien – ihre Crossmedialität, wie eine entsprechende Bezeichung in der modernen Medienwirtschaft lautet – führt zu einer Repräsentation, die mehrfach überdeterminiert ist, so etwa bei einem schriftlich repräsentierten Sonett: die Schriftzeichen geben das Klangphänomen qua Lautrepräsentation bereits eindeutig wieder, darüberhinaus aber können sie die signifikanten strukturellen Momente des Sonetts auch typographisch abbilden. Sie machen das Sonett so zusätzlich visuell kenntlich, was der Erleichterung und Beschleunigung der Kommunikation dient. Setzt man nun noch eine Gattungsbezeichnung in den Titel, so wird auf einer dritten Ebene Kommunikation durch Redundanz erleichtert. Der historische Gattungsprozess kann solche Redundanz nun kreativ nutzen, wo er auf differentielle Aktualisierung und Wertsetzung zielt. Ist ein Sonett sowohl akustisch als auch visuell und zusätzlich per Deklaration definit, so kann jede einzelne Bedeutungsebene eliminiert werden, ohne dass der Gattungsanspruch unkenntlich würde. Man kann ein Sonett typographisch anders und völlig ungewöhnlich anordnen, ohne dass es seinen Gattungscharakter zwingend verliert. Entsprechend kann man auf seine Klangcharakteristik – auf Vers und Reim – verzichten und es graphisch dennoch eindeutig identifizierbar machen, möglicherweise sogar unter völligem Verzicht auf Sprachzeichen als ein bloß visuelles Objekt. Da die Identität einer Gattung auf sozialer Übereinkunft beruht und ein Wahrnehmungsphänomen darstellt, ist ihre mediale Repräsentation letztlich ebenso kontingent, wie ihre Merkmalskomplexion. Die Überdetermination des Gattungscharakters lässt sich auch auf den vieldiskutierten argumentativ-dispositorischen beziehungsweise syllogistischen Charakter des Sonetts beziehen. Dabei werden die akustisch-visuell repräsentierten Strukturmomente des Sonetts nochmals semantisch übercodiert: in der syntaktischen Periodenführung, der jeweils eine Strukturierung der Aussage entspricht, sowie in der logischen Verknüpfung solcher Perioden und Aussagen. ——————— 26

Karl Riha: so zier so starr so form so streng. 14 text- und 9 bildsonette. Bielefeld 1988; ders: so kunst so eng. sonette anderer teil. In: Riha: Was ist heute mit mir los? Moritaten. Sonette. Short Poems. Gießen 1994, S. 57–72; dazu Böhn, S. 36; Greber: Textile Texte, S. 597f.

485 Auf diese Weise überlagern sich schließlich klangliche, typographische, syntaktische und dispositorische Strukturierungen des Texts. Auch hier kann die mehrfache Codierung die Kommunikation erleichtern, wenn sie kongruiert; gemeint ist jener Aspekt, den Schulz-Buschhaus in stilgeschichtlicher Perspektive als ›Erleichterung‹ beziehungsweise entgegengesetzt als ›Erschwerung des Sonetts‹ bezeichnet hat. Diese mögliche Kongruenz verschiedener Strukturmomente beim Sonett ist ein stilistisches Motiv und keine Gattungsnotwendigkeit. Gleiches gilt für die argumentative Disposition insgesamt: Sie kann markant durchgeführt sein und sie kann sich mit anderen Strukturelementen des Sonetts decken oder nicht. Die argumentative oder gar syllogistische Gestaltung stellt dabei kein notwendiges Merkmal eines Sonetts dar, und sie kann deshalb auch weitgehend zurückgenommen sein. Die Forderung Bechers, dass die dialektische Strukturierung als notwendiges Merkmal des Sonetts aufzufassen sei, stellt lediglich eine neue Variante einer normativ-essentialistischen Gattungsdefinition dar. An dieser Stelle liegt die Frage nahe, ob nicht auf den verschiedenen Ebenen die immer gleichen Strukturmomente des Sonetts reproduziert werden, ob sich also nicht Reimordnung, typographische Gestaltung und dispositorische Anordnung stets auf die gleiche abstrakte Struktur beziehen, die sich als eine bestimmte numerische Proportion darstellen lässt. Dazu ist festzustellen, dass eine solche Proportion – also etwa die seit den ersten Sonetten reproduzierte Anordnung von acht plus sechs Versen – zwar sicher das konstanteste Merkmal der Sonettgattung darstellt, dass sie aber ebenfalls weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Merkmal ist. Man kann das Sonett nicht auf ein abstraktes Gerüst reduzieren, da Gattungen keine abstrakten Gerüste sind. Ohne Bezugnahme auf einen intertextuellen Prozess im historischen Verlauf lassen sich historische Gattungen nicht beschreiben. Formale Momente stellt auch Erika Greber in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zur Gattungspoetik des Sonetts, wobei sie mit dem Prinzip der Kombinatorik auf ein wichtiges und bislang übersehenes Motiv aufmerksam macht. Indem dieses Prinzip den spielerisch-artifiziellen Charakter der Form betont, lässt es sich besonders auch der Sonettauffassung des 20. Jahrhunderts zuordnen, die in hervorgehobener Weise den exemplarischen Kunstcharakter des Sonetts fokussiert. Es bietet sich an, dieses Moment der Artifizialität der Form als einen genuin modernen Topos der Gattungsgeschichte zu analysieren. Der Vorschlag von Greber zielt allerdings auf die Gattungsgeschichte insgesamt. Sie stützt sich dabei – wie oben bereits angesprochen – auf das Prinzip der kombinatorischen Variation, das sie zu einer paradoxen Formulierung nutzt: »die Gattungs-Invariante des Sonetts ist seine Varianz«. Der Anspruch, damit eine »nicht-substantialistische« und »nicht-essentialistische Bestimmung des Sonetts« anzubieten, ist jedoch fraglich.27 Andreas Böhn hat bereits darauf hingewiesen, dass die Bestimmung nicht wirklich distinktiv ist und Sonette nicht eindeutig zu identifizieren erlaubt, und dass sie ebenfalls wieder bestimmte ——————— 27

Greber: Wortwebstühle, S. 64 und S. 60; die Hervorhebung im Original.

486 Traditionen ausschließt.28 Im Anschluss an die hier angestellten Analysen zur historischen Formentwicklung kann man feststellen, dass die kombinatorischen Motive bereits am Ursprung des Sonetts präsent sind und dass sie über die Jahrhunderte hinweg eine bedeutende Rolle spielen. Sie tun dies allerdings nicht als singuläre Basis der Gattung, sondern als ein hervorstechendes Merkmal, das selbst dem Wandel unterliegt. Die ersten Sonette stellen gegenüber der Kanzonentradition bereits eine Reduktion von Kombinatorik dar, sie vermeiden die Permutation und stellen die fixe Zahl offenbar über das Prinzip der Kombination. Der Prozess der Diversifikation im Anschluss an Guittone d’Arezzo ist eng mit einer Verstärkung kombinatorischer Verfahren im Sonett verbunden. Die italienische Sonettpoetik geriert sich seitdem insgesamt bis in weit spätere Jahrhunderte meist in der Art eines reimkombinatorischen Programms. Die Epigrammpoetik des Sonetts dagegen hat kaum kombinatorische Signifikanz, und auch die Sonettspekulation bei August Wilhelm Schlegel zeigt nur geringes kombinatorisches Interesse, ganz im Unterschied zur Sonettbehandlung im 20. Jahrhundert, namentlich im Kontext der Postmoderne. Diese Stichworte müssen genügen, um das Prinzip der Kombinatorik im Sonett selbst als historisches auszuweisen. Vor allem kann es nicht dazu dienen, die Gattungsgeschichte insgesamt ›kombinatorisch‹ aufzufassen.29 Dies hätte nur noch metaphorische Bedeutung und vernachlässigte dabei gerade jene vielfältigen historischen Gravitationskräfte, deren Einfluss auf die Gattungsgeschichte im Zentrum der vorliegenden Arbeit stand. Man kann gleichwohl etwas allgemeiner sagen, dass neben dem Reimcharakter die numerisch fixierte Strukturierung sprachlicher Elemente ein für das Sonett grundlegendes Merkmal darstellt. Ohne Bezugnahme auf eine solche Strukturierung ist die Aktualisierung eines Sonetts kaum denkbar, wäre ein Sonett kaum als ein solches wahrnehmbar. Dies beschreibt die Tatsache, dass ein Sonett vor allem formal bestimmt ist. Vor diesem Hintergrund könnte nun die alte Frage nach seinem Gattungscharakter gestellt werden. Man hat dem Sonett nicht selten einen Gattungscharakter überhaupt abgesprochen und es lediglich als eine bestimmte Strophenform aufgefasst. Gattungen sind jedoch keine Entitäten, sie sind vielmehr das Ergebnis kommunikativer Wahrnehmungsprozesse. Gattungen werden intersubjektiv als solche wahrgenommen und identifiziert. Die Rede von reinen Strophenformen dagegen bezieht sich ahistorisch auf bestimmte festliegende formale Merkmale; als Strophenform ist das Sonett also ahistorisch als Textsorte identifiziert. Fragt man allerdings nach der Historizität einer solchen Form, so fragt man nach relevanten Kontexten, nach Intertextualität und nach Wandlungsprozessen. Damit aber ist die Form als ——————— 28 29

Böhn, S. 12f. Greber erweckt diesen Eindruck, wenn sie die Verfestigung kanonisch gewordener historscher Sonettformen lediglich als »historisch sukzessive Ausschöpfung einer prinzipiell offenen Reimkombinatorik« gelten lassen will; Greber: Wortwebstühle, S. 61. Das Argument läuft Gefahr, historischen Wandel mit kombinatorischem Wandel zu verwechseln: ersterer ist in der Wahl seiner Mittel frei, letzterer ist per definitionem regelgeleitet. Vgl. zum Sonett als kombinatorischer Gattung auch Greber: Textile Texte, S. 568–599.

487 historische Gattung thematisiert. Da die Frage nach seiner geschichtlichen Entwicklung im Fall des Sonetts in hohem Maß signifikant ist und das Schreiben von Sonetten sich im Bewusstsein dieser Historizität vollzieht, ist es literaturgeschichtlich als eine historische Gattung aufzufassen. Aus dieser Argumentation folgt umgekehrt, dass man das Sonett auch als bestimmte Form beschreiben kann, wenn man es mit einem oder mehreren formalen Schemata identifiziert. Eine solche Beschreibung ist unproblematisch, wenn sie auf die Bestimmung einer Textsorte zielt und keinen Anspruch auf die Abbildung historischer Wandlungsprozesse erhebt. Der genuine Gattungscharakter des Sonetts ist in dieser Perspektive nicht durch eine genauere Festlegung inhaltlicher Bestimmungen gewährleistet, sondern durch die Historisierung des Formcharakters selbst. Die Dominanz des formalen Aspekts muss nicht systematisch zurückgenommen werden, um bestimmte exzentrische Realisierungen beschreiben zu können. Gattungstheoretisch zentral ist allerdings, dass die dominante formale Bestimmung des Sonetts kein notwendiges und hinreichendes Merkmal darstellt, sondern ein kontingentes Faktum der Literaturgeschichte. Sowohl die historisch und kulturell übergreifende Beliebtheit des Sonetts wie die erstaunliche Persistenz seiner formalen Charakteristika ist als das Ergebnis dieser formalen Konstitution aufzufassen. Das Prinzip der formalen Ordnung, der numerischen Relation und der spielerischen Kombinatorik ist wie das des Reimklangs von großer Universalität, und so ist die Forcierung dieser Merkmale im Sonett immer wieder aktualisierbar. Das System der Gattung hat darin einen integrativen Pol von großer historischer Flexibilität. Allerdings kann das Sonett als literarische Gattung jederzeit auch andere Wege beschreiten. Die Bestimmung der formalen Dimension – die Anordnung von acht und sechs Versen in geregelter Reimordnung – ist ein durch allen geschichtlichen Wandel hindurch dominantes Merkmal des Sonetts, doch ist es gleichwohl ein historisch kontingentes. Diese prinzipielle Differenz zu setzen, war das Ziel der Begründung des Begriffs der historischen Gattung im ersten Teil der Arbeit. Sie auch für die am meisten definite Form der Literaturgeschichte festzuhalten, war das Ziel der Darstellung im zweiten Teil.

Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Bibliothekssiglen BNP BSB HAB HLB SBB-PK SUB Göttingen UB Frankfurt UB München

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Zeitschriften- und Handbuchsiglen DVjS GRLMA GRM IASL LiLi RF RJb RLW ZfdPh

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Hg. von Hans Robert Jauß und Erich Köhler. Heidelberg 1972ff. Germanisch-Romanische Monatsschrift Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Romanische Forschungen Romanistisches Jahrbuch Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. 3 Bde., Berlin, New York 1997–2003 Zeitschrift für deutsche Philologie

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Quellen

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492 –

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Castel del Monte: Ostansicht mit Hauptportal Abb. 2: Rotierende Quadrate und Oktogon (nach Heinz Götze) Abb. 3: Castel del Monte: Axonometrische Darstellung des Erdgeschosses, Details schematisch Abb. 4: Castel del Monte: Axonometrische Darstellung des Obergeschosses, Details schematisch Abb. 5: Castel del Monte: Abwicklungsdarstellung der Innenhoffassaden Abb. 6: Castel del Monte: Innenhof, Wände der Räume 1, 8 und 7 Abb. 7: Castel del Monte: Innenhof, Wände der Räume 6, 5 und 4 Abb. 8: Castel del Monte: Dreirippengewölbe im Treppenturm 3, dem ›Turm des Falkners‹ Abb. 9: Castel del Monte: Dreiteiliges Andria-Fenster mit zweiteiligem Oberfenster in der Außenwand von Raum III Abb. 10: Castel del Monte: Achtrippengewölbe im Treppenturm 2 Abb. 11: Castel del Monte: Sechsrippengewölbe im Treppenturm 7 Abb. 12: Zwei Embleme aus Andreas Alciatus’ Emblematum Libellus mit deutscher Übersetzung von 1542. Abb. 13: Mittelalterliche Sonett-Graphie in Langzeilen Abb. 14: Quartette und Terzette mit Majuskeln (Ende 14. Jh.) Abb. 15: Italienische und französische Sonettgraphie Abb. 16: Englische Sonettgraphie Abb. 17: Sir Philip Sidney: Astrophel & Stella, 35 Abb. 18: Metrisch orientierte ›deutsche‹ Sonettgraphie Abb. 19: Guido Cagnacci: Selbstmord der Cleopatra (1660), Wien Abb. 20: Correggio: Jupiter und Io (um 1530), Wien

165 166 168 168 169 170 170 171 171 172 172 220 259 259 259 260 260 260 433 435

Abbildungsnachweise: Abb. 1, 3–11: Wulf Schirmer: Castel del Monte. Forschungsergebnisse. Abb. 2, 13–18: Originalgrafik Abb. 12: Bayerische Staatsbibliothek, München: Res/L.eleg.m.33. Abb. 19–20: Kunsthistorisches Museum, Wien.