Topik als Verfahren kultureller Selbstvergewisserung: Zur Aktualisierung rhetorischer Stoff-Findung bei Fontane und Raabe 9783110572919, 9783110570274

Inventio as a technique of organizing knowledge and text production became obsolete after 1800 because of its orientatio

198 105 2MB

German Pages 273 [282] Year 2019

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Table of contents :
Dank
Inhalt
I. Einleitung: die Findigkeit realistischer Erzählkunst
II. Topik und Kultur
III. ‚Reizende und verschlungene‘ Soziographien: topische Revisionen arabesker Romanpoetik in Theodor Fontanes Romantheorie und Cécile
IV. „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“: topische Reflexion biographischer inventio in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs
V. Schluss: Erzählte topische Stoff-Findung als roman- und kulturpoietisches Reflexionsverfahren
Bildnachweise
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Topik als Verfahren kultureller Selbstvergewisserung: Zur Aktualisierung rhetorischer Stoff-Findung bei Fontane und Raabe
 9783110572919, 9783110570274

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Christine Falk Topik als Verfahren kultureller Selbstvergewisserung

Studien zur deutschen Literatur

Herausgegeben von Georg Braungart, Eva Geulen, Steffen Martus und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 218

Christine Falk

Topik als Verfahren kultureller Selbstvergewisserung Zur Aktualisierung rhetorischer Stoff-Findung bei Fontane und Raabe

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT

ISBN 978-3-11-057027-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057291-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-057138-7 ISSN 0081-7236 Library of Congress Control Number: 2018958739 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank Diese für den Druck geringfügig überarbeitete Studie wurde im Februar 2017 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Konzeption und erste Teile entstanden im Rahmen des Graduiertenkollegs „Theorie der Literatur und Kommunikation“ der Universität Konstanz. Für vielfältige Anregungen der am Kolleg Beteiligten sowie die Förderung durch ein Promotionsstipendium der DFG und ein Wiedereinstiegsstipendium für Wissenschaftlerinnen des damaligen Frauenrats der Universität Konstanz bin ich sehr dankbar. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Gerhart v. Graevenitz für entscheidende fachliche Orientierungen in dieser Zeit und Prof. Dr. Almut Todorow, die die Ausarbeitung der Studie mit großer Aufmerksamkeit, inspirierenden Anregungen und steter Ermutigung begleitet hat. Großer Dank gebührt ferner Prof. Dr. Eva Geulen, die die Betreuung meiner zeitweilig unterbrochenen Arbeit engagiert übernommen und ihren erfolgreichen Abschluss durch wertvolle Hinweise und anregende Kolloquien gefördert hat. Letzteres gilt auch für Prof. Dr. Jürgen Fohrmann, dem ich darüber hinaus für die Zweitbegutachtung meiner Arbeit und die stets wertschätzende Zusammenarbeit sehr dankbar bin. Für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Studien zur deutschen Literatur“ des Verlags De Gruyter danke ich den HerausgeberInnen Prof. Dr. Georg Braungart, Prof. Dr. Eva Geulen, Prof. Dr. Steffen Martus und Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf. Mein Dank gilt überdies dem ‚Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft‘ der VG WORT für die Übernahme der Druckkosten sowie Dr. AnjaSimone Michalski und Susanne Rade für ihre geduldige und fachkundige Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage. Weiterhin danke ich den KollegInnen, deren Lektüre- und Gesprächsbereitschaft meine Arbeit beflügelt haben, u. a. Prof. Dr. Christian Sinn, Jens Wörner und Prof. Dr. Claudia Liebrand, ganz besonders aber Dr. Angela Gencarelli für ihre treffsicheren Kommentare, unzähligen Korrekturen und unermüdlichen Aufmunterungen. Von Herzen danke ich schließlich meinen Eltern, meiner Familie und meinen Freunden, die den Entstehungsprozess dieses Buches ermöglicht, mit ausdauernder Geduld begleitet und mich liebevoll unterstützt haben. Gewidmet ist die Studie meinen Kindern.

https://doi.org/10.1515/9783110572919-202

Inhalt Dank

V

I

Einleitung: die Findigkeit realistischer Erzählkunst

1

II 1 2

Topik und Kultur 17 18 Konzepte der Topik Topik als kulturelle Heuristik und kulturelles Archiv

28

III ‚Reizende und verschlungene‘ Soziographien: topische Revisionen arabesker Romanpoetik in Theodor Fontanes Romantheorie 38 und Cécile 39 1 Poetologie der Contretanz-Szenerie in Fontanes Freytag-Rezension 1.1 Verschlungenes Gewebe statt eines kausallogischen 40 Intrige-Fadens 1.2 Ästhetikgeschichtliche Bande zwischen Contretanz 44 und arabesker Schönheitslinie 1.3 Rhetorisch-soziologische Deutung arabesker textura: der Bürger 50 als ‚Kreuzungspunkt sozialer Kreise‘ 2 Erzählerische Inszenierung topisch-arabesker Romanproduktion 56 in Cécile 2.1 Die Schönheitslinie im arabesk verdoppelten 58 „Landschaftsbild“ 2.2 Massenmedialer Kontext: die journalistische Titelblatt61 Arabeske 2.3 Lesegewohnheiten des textura-Produzenten: der Feuilletonroman 67 als Roman ‚dahinter‘ 2.4 Stoff-Findung als Spracharbeit an den „Glanzstellen“ 72 des Lektüreweges 2.5 Arabeske Schau-Plätze und ciceronianische loci im Harz: touristische Sehenswürdigkeiten als Orte kultureller 80 Selbstvergewisserung 2.5.1 Topisches templum und kulturelle ‚Eintracht‘ 90 in der Differenz der Deutungen (Villa im Wald) 2.5.2 Leere Rahmen und der kulturelle „Werth der historischen 93 Anekdote“ (Schlossmuseum) 2.5.3 Kulturelle Grenzpolitik: moralische Abriegelung 100 der topischen loci

VIII

Inhalt

2.6

2.7

2.8

Imaginäre Relektüre der loci als Verfahren realistisch-arabesker 104 textura-Produktion 108 2.6.1 topoi als soziale Rahmen 2.6.2 Arabeske textura der topisch erarbeiteten Cécile113 „Charakteristik“ 2.6.3 Plastischer ‚Realismus‘ als topisch-arabesker 116 Simulationseffekt 122 „Wandlung zum Guten und Gesunden hin“ 124 2.7.1 Anfängliche soziokulturelle Integration Céciles 2.7.2 Topische Trauma-Bearbeitung und Sprachfindung 125 Céciles Melodramatischer ‚Glückswechsel‘ und kontingentes 134 Erzählende

IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“: topische Reflexion biographischer inventio in Wilhelm Raabes 143 Die Akten des Vogelsangs 145 1 Erzählte Aktenlektüre als Szene der inventio 151 2 Krumhardts topisches Archiv des Vogelsangs 3 Die Medialität der „Akten“: selbstredende Quellen, lokale 157 Augenzeugenschaft 161 4 Disziplinäre Anschlüsse: Amateurhistoriographie und Jurisprudenz 168 5 Der sozial-moralische Rechtsstreit im Vogelsang 171 6 Strittige Grenzziehungen: die Rahmung des Vogelsang-Archivs 6.1 Hitzigs Biographiemodell „actenmaeßigen Erzaehlen[s] 177 eines fremden Lebens“ als rahmendes Formativ 6.2 inventio solo ohne iudicium: die Entscheidungsverweigerung 185 des Freundesbiographen 193 7 ‚Topik der Zeugenschaft‘ 8 Latenz oder Präsenz der Vogelsang-Topik: Kulturkonzepte 201 im Widerstreit 8.1 Das Ende der Vogelsang-Kultur? Veltens Erbeverbrennung als fixierendes Ding-Narrativ und Initiation Krumhardts 212 zum topischen Kulturstifter 8.2 Kontingente Wiederauferstehung der Vogelsang-Kultur aus dem Geist des ‚Gemeinplatzes‘ 222 V

Schluss: Erzählte topische Stoff-Findung als roman- und kulturpoietisches 231 Reflexionsverfahren

Inhalt

Bildnachweise

251

253 Literaturverzeichnis 253 Quellen 254 Forschungsliteratur 265

Personenregister Sachregister

269

IX

I Einleitung: die Findigkeit realistischer Erzählkunst „Finder oder Erfinder?“ – Das ist die Frage, die Friedrich Spielhagen in seinem gleichnamigen Essay von 1871 im Blick auf den realistischen Dichter bewegt.1 Als einer der erfolgreichsten Romanciers des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der heute vornehmlich als Realismus-Theoretiker rezipiert wird,2 erklärt Spielhagen die Stoff-Findung zum zentralen Einsatzpunkt des Erzählens. Sie vor allem sei es, die über den realistischen – in seinen Worten „moderne[n]“ 3 – Charakter des Romans entscheide. Die Frage nach dem Verhältnis von ‚Finden‘ und ‚Erfinden‘ im dichterischen Schaffensprozess stellt sich Spielhagen daher mit besonderer Dringlichkeit. Gegen Ende des Essays beantwortet er sie mit dem Resüme, […] daß es bei der künstlerisch=poetischen Thätigkeit ebenso zugehen werde, wie bei den übrigen Thätigkeiten auch; daß auch in dieser aus nichts nichts kommen könne; das Objekt dem Subjekt freundlich entgegenkommen müsse, wenn der Kontakt, die Verbindung, Verschmelzung beider möglich werden soll; oder, um den uns geläufigen Ausdruck zu gebrauchen: der große Erfinder allemal zuvor ein glücklicher Finder gewesen sein werde.4

Der zitierte ‚geläufige Ausdruck‘, der das ‚glückliche Finden‘ gegenüber dem ‚großen Erfinden‘ in Anschlag bringt, liest sich wie ein Plädoyer für ein nichtemphatisches, fast handwerkliches Dichtungsverständnis. Ganz anders als das romantisch-genieästhetische etwa stellt es genaues Beobachten der eigenen Umwelt und breite Lebenserfahrung des Dichters über seine schöpferische Phantasiebegabung und nähert das Erzählen im Roman anderen professionellen oder alltäglichen Tätigkeiten an, bei denen es auf Erfahrung und Übung ankommt. Diese Lesart erscheint plausibel vor dem Hintergrund, dass Spiel-

1 Friedrich Spielhagen, Finder oder Erfinder? (1883) In: Ders., Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, hg. v. Walter Killy, Göttingen 1967, S. 3–34. 2 Zu Spielhagens zeitgenössischem Ansehen als „a major novelist in the German language“ und seinem späteren nachhaltigen Ausschluss aus dem Kanon realistischer Romanciers vgl. Jeffrey L. Sammons, Friedrich Spielhagen. Novelist of Germany’s False Dawn, Tübingen 2004, S. XI f. Speziell zu Spielhagens Romantheorie vgl. Sammons, Spielhagen, S. 52–69, sowie Fritz Martini, Zur Theorie des Romans im deutschen ‚Realismus‘. In: Reinhold Grimm (Hg.), Deutsche Romantheorien, Bd. 1, Frankfurt am Main 1968, S. 186–208, und ausführlich Winfried Hellmann, Objektivität, Subjektivität und Erzählkunst. Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens. In: Grimm (Hg.), Romantheorien, S. 209–261. 3 Spielhagen, Finder, S. 13. 4 Spielhagen, Finder, S. 33. https://doi.org/10.1515/9783110572919-001

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I Einleitung: die Findigkeit realistischer Erzählkunst

hagen den „moderne[n] Dichter“ generell auf die Produktion von Gegenwartsromanen verpflichtet 5 und diesen absolute „Objektivität“ 6 verordnet: Über die Wahl des fiktiven Helden und seiner Handlungen hinaus sollen im Romantext keinerlei persönliche Entscheidungen, Vorstellungen oder Vorlieben des Dichters erkennbar werden. Im Blick auf die Wahl des Helden selbst, die laut Spielhagen das „Principium“ der dichterischen Stoff-Findung bildet,7 steht für ihn „außer aller und jeder Frage […], daß der wahre Künstler nun und nimmer ohne Modell arbeiten wird […].“ 8 Und „gerade die kluge, gewissenhafte Benutzung“ seiner Helden- oder Subjektmodelle, die ihm aufgrund seiner Lebenserfahrung „in reichster Zahl und Auswahl zu Gebote stehen,“ 9 gilt Spielhagen als Garantie für eine gelingende, ‚lebendige‘ Darstellung der Gegenwart. Durch sie unterscheide sich der „moderne“ Dichter „vom leeren Phantasten einerseits und vom prosaischen Pfuscher andererseits“.10 Der zitierte ‚geläufige Ausdruck‘ vom ‚großen Erfinder‘ als ‚glücklichem Finder‘ ist somit als Empfehlung an den Dichter zu verstehen, von den phantastischen Erfindungen der Romantik Abstand zu nehmen und sich auf die Menschen und Ereignisse zu konzentrieren, die ihm gewissermaßen vor der Haustür begegnen. Ähnlich formulierte ein anderer bekannter, zeitgenössisch jedoch weniger populärer Schriftsteller einmal: Wenn man bedenkt, was für wunderliche Geschichten tagtäglich in dieser Welt geschehen, so muß man sich wundern, daß es immerfort Leute gegeben hat und noch gibt, welche sich abmühten und abmühen, selbst seltsame Abenteuer zu erfinden und sie ihren leichtgläubigen Nebenmenschen durch Schrift und Wort aufzubinden.11

5 Spielhagen, Finder, S. 13 ff. 6 Zitiert nach Hellmann, Objektivität, S. 209. 7 Spielhagen, Finder, S. 25. 8 Spielhagen, Finder, S. 28; Hervorh. Ch. F. 9 Spielhagen, Finder, S. 28. 10 Das Zitat lautet im Zusammenhang: „Denn gerade die kluge, gewissenhafte Benutzung seiner Modelle, die ihm in reichster Zahl und Auswahl zu Gebote stehen, ist es, was den Künstler vom leeren Phantasten einerseits und vom prosaischen Pfuscher andererseits unterscheidet; ist es, was seinen Gestalten das vollkräftige Leben, die Fülle sprechender Züge giebt, daß sie, wie ein Porträt Titians oder van Dyks, aus dem Rahmen der Dichtung heraustreten und unter uns wandeln zu können scheinen.“ (Spielhagen, Finder, S. 28). 11 Zitiert nach Wilhelm Fehse, Wilhelm Raabe: Sein Leben und seine Werke, Braunschweig 1937, S. 155f. In Raabes Die Akten des Vogelsangs wird sich die hier propagierte Aufmerksamkeit für vorgängige, in der Alltagswelt des Dichters bereits vorhandene ganze „Geschichten“, als eine dezidiert kulturpoetische erweisen, die auch die vorgängige Textualität und kulturpolitische Funktionalität dieser Geschichten mitbeachtet. Vgl. Kapitel IV dieser Arbeit, v. a. IV.7 und IV.8.

I Einleitung: die Findigkeit realistischer Erzählkunst

3

Während Wilhelm Raabe, von dem diese Zeilen stammen, gleich ganze „Geschichten“, also bereits komplexere narrative Verknüpfungen von Protagonisten und ihren Handlungen, in der außerliterarischen Gegenwart auffinden zu können meint, beschränkt sich das ‚glückliche Finden‘ nach Spielhagen auf „das Principium, […] die Conception der Idee und de[n] erste[n] große[n] Entwurf des Planes mit dem Helden (das passende Modell einbegriffen)“.12 Demgegenüber muss die „Geschichte“ des Helden, „welche in ihrem Laufe der Roman ist“,13 hernach erst noch ‚erfunden‘ werden.14 Ordnet Spielhagen das Finden und Erfinden als aufeinanderfolgende Phasen im dichterischen Schaffensprozess an,15 setzt – in explizitem Bezug auf Spielhagen – ein dritter namhafter realistischer Dichter, Theodor Fontane nämlich, beides in einen noch stärkeren Gegensatz: „Das Wort Spielhagens: ‚finden, nicht erfinden‘ enthält eine nicht genug zu beherzigende Wahrheit; in der Erzählungskunst bedeutet es beinah alles.“ 16 Noch deutlicher als Spielhagen distanziert Fontane das von der Genieästhetik propagierte ‚große Erfinden‘. Diesem hatte Spielhagen zu Beginn seines Essays das antike Dichtungsverständnis gegenüberstellt, das nur ein ‚Finden‘ und gar kein ‚Erfinden‘ kenne: Zwar bezeugt Telemach, daß: ‚Jenen Gesang ja ehret das lauteste Lob der Menschen, Welcher den Hörenden rings der neueste immer ertönet;‘ aber er und kein antiker Mensch hat jemals unter diesem Neuen und Neuesten ein vom Dichter Erfundenes verstanden, sondern vielmehr: was gerade in dem Augenblick im Munde der Menschen umlief, womit sich gerade in dem Augenblicke die Phantasie der Menge beschäftigte; und das also eben, weil es ein Bekanntes, Vertrautes war, sie vor allen anderen Stoffen anlockte und ihre Herzen mächtig bewegte.17

Ebenso hat Fontane bei dem in der Realität Vor-Findlichen, das seiner Ansicht nach in der Erzählkunst ‚fast alles‘ bedeute, außerliterarisch bereits vorhande-

12 Spielhagen, Finder, S. 25. 13 Spielhagen, Finder, S. 24. 14 Spielhagen, Finder, S. 25 ff. 15 Zwar betont Spielhagen an einer Stelle ausdrücklich, dass beide Weisen der Stoff-Findung de facto nicht klar getrennt werden könnten, sondern „daß sie fortwährend ineinander spielen“ (vgl. Spielhagen, Finder, S. 34), doch spricht sich solche Sukzessivität auch deutlich in seinem bereits oben zitierten Fazit aus, demzufolge „der große Erfinder allemal zuvor ein glücklicher Finder gewesen sein werde“ (Hervorh. Ch. F.). 16 Theodor Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, Autobiographisches nebst anderen selbstbiographischen Zeugnissen (1898), hg. v. Kurt Schreinert und Jutta Neuendorff-Fürstenau. In: Ders., Sämtliche Werke, hg. v. Kurt Schreinert, Bd. XV, München 1967, S. 149–305, hier S. 225. 17 Spielhagen, Finder, S. 3 f.; Hervorh. Ch. F.

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I Einleitung: die Findigkeit realistischer Erzählkunst

ne, sprachlich-textuelle Produkte im Sinn – sprachlich konstituierte facta, readymades gewissermaßen, die der Dichter für sich sprechen oder auch gleich erzählen lassen könne, also das, was „im Munde der Menschen umlief, womit sich gerade in dem Augenblicke die Phantasie der Menge beschäftigte“. Das belegt eine andere Aussage Fontanes zur Stoff-Findung: Auf die Wahl des Stoffes kommt es an. […] Wer seine Sache versteht, braucht nicht zu produzieren, sondern nur zu redigieren. Das Produzieren stört nur die Freiheit des Gestaltens in höherem Sinne.18

Das Wort „redigieren“ weist auf den sprachlich-textuellen Charakter des vom Dichter der Realität entnommenen Stoffes hin und attestiert der „Erzählungskunst“ in erster Linie einen redaktionell-kombinatorischen Charakter. Die „[K]unst“ liege dann darin, dem Vor-Findlichen im Sinne von fertigen Sprachstücken als Zitiertem und Kombiniertem im neuen textuellen Zusammenhang eine zusätzliche, „höhere[ ]“ Sinnebene abzugewinnen.19 Erstaunlicherweise lässt Spielhagen unmittelbar nach seinem Hinweis auf die Antike diesen Aspekt sprachlicher Vorprägung des realistischen Erzählstoffes wie auch den seiner Herkunft aus der „Phantasie der Menge“ fallen. Stattdessen wird das ‚glückliche Finden‘ des Helden, das doch nach Maßgabe eines der Realität abgeschauten Subjektmodells geschehen soll, „das jeder finden könnte, wenn er sich die Mühe des Suchens nähme“,20 unvermittelt zur passiven Empfängnis einer „Idee“ umgedeutet, die sich göttlicher Eingebung verdankt: Das „Principium […] – die Conception der Idee […] (das passende Modell einbegriffen) – […] war ihm, sage ich, doch gleichsam aus den Wolken, aus der Götter Schoß gefallen, wie ein jedes Glück; und wenn man das Wort nicht zu buchstäblich nehmen will – in einem Augenblick geboren.“ 21 Das ‚Erfinden‘ der „Geschichte“ hin-

18 Fontane zitiert nach Hans-Friedrich Rosenfeld, Zur Entstehung Fontanescher Romane, Groningen, Den Haag 1926, S. 38. 19 Seit Rosenfeld hat die Forschung immer wieder auf die Dialogizität von Fontanes Texten hingewiesen, die sich durch seine Aufnahme kurrenter Redeweisen auszeichne und so die soziokulturell signifikanten Sprachgewohnheiten der eigenen Zeit ausstelle. Vgl. etwa Rudolf Helmstetter, Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus, München 1998, S. 98: „Fontane benutzt die Zeitungen und das gesellschaftliche Tagesgespräch als eine Art (nicht mehr [in Topos-Katalogen, Ch. F.] kodifizierter) Topik der Lebenswelt, er scheut sich nicht, kolportierte Geschichten, gesellschaftliche Skandale aufzugreifen, er individualisiert und differenziert die darin kondensierte soziale Typik.“ 20 Spielhagen, Finder, S. 3. 21 Spielhagen, Finder, S. 25.

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gegen wird als mühevolle ‚Fleißarbeit‘,22 als ein langwieriges wechselweises „[A]ccommodieren“ 23 von „Idee“ („innere[m] Bild“) und dem „ganz bestimmten Modelle“ beschrieben. Wenn sich aber auch das bestimmte „passende Modell“ der göttlichen, demnach ‚reinen‘ Eingebung verdankt, wird der Einsatz der Stoff-Findung, in dem doch eigentlich „das Objekt dem Subjekt freundlich entgegenkommen“ soll, wieder zu einer recht einseitig-subjektivistischen, zudem undurchschaubaren, weil divinatorischen Angelegenheit. Der „Kontakt, die Verbindung“ von Subjekt und Objekt kann und braucht deshalb auch nicht weiter erforscht zu werden. Paradoxerweise stellt solch genialischer Subjektivismus der Stoffwahl Spielhagens Konzept der objektiven modernen Dichtung nicht infrage. Bereits zuvor gibt er freimütig zu, dass in den meisten Fällen der Dichter sich selbst zum Modell nehme, also „Dichter, Held und Modell eine und dieselbe Person“ seien.24 Vielmehr ist dieser Subjektivismus conditio sine qua non des objektiven Romans im Sinne Spielhagens, denn er garantiert, dass die Werke des modernen Dichters „mit Notwendigkeit“ „aus seinem innersten Sein […] hervorquellen; daß die Reihenfolge derselben das notwendige Produkt gleichsam seiner inneren Entwickelung mit den Evolutionen des Zeitgeistes ist […].“ 25 Durch die göttlich gestiftete Trias Dichter-Modell-Held spricht sich also der ‚Geist der Zeit‘ wie durch ein Sprachrohr unumwunden aus – mehr ‚Objektivität‘ ist für einen Gegenwartsroman freilich nicht zu haben. Von daher ist es nur konsequent, dass Spielhagen dem Dichter bei der konkreten Ausgestaltung des Erzähltexts alle weiteren stimmlichen Einmischungen untersagen möchte, ihm etwa von narrativen Einreden und reflektierenden Kommentaren eines Erzählers, bzw. gleich ganz von der Einsetzung einer Erzählerinstanz, abrät.26 Offen tritt hier zutage, was die Realismusforschung poetologischen Positionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder als „Etikettenschwin-

22 Spielhagen, Finder, S. 25 und S. 33: Diese „Bedingung […], der sich, will er erfolgreich sein, der Arbeiter auf jeglichem Gebiete geistiger Thätigkeit unterwerfen muß […,] ist Fleiß und abermals Fleiß, und Fleiß zum drittenmale: Fleiß, dem nichts zu groß, aber auch nichts zu klein ist; Fleiß, der wieder und wieder feilt und schabt […].“ 23 Spielhagen, Finder, S. 27. 24 Spielhagen, Finder, S. 19. Das gelte insbesondere für den jungen Dichter. Der ältere, der „das Stadium der Glühhitze jugendlich beschränkter Subjektivität glücklich überwunden“ habe, könne schon eher „mit allem Ernst, mit aller Innigkeit, mit leidenschaftlicher Liebe in die Natur eines Wesens sich versenk[en], welches eben nicht er selbst [ist].“ Doch auch dann werde der „wahre Dichter“ stets auf die „Beobachtungen, welche der Dichter an sich selbst“ mache, rekurrieren (Spielhagen, Finder, S. 21 und S. 22). 25 Spielhagen, Finder, S. 11. 26 Vgl. Martini, Theorie, S. 205, und Sammons, Spielhagen, S. 56.

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I Einleitung: die Findigkeit realistischer Erzählkunst

del“ 27 angekreidet hat: dem Anspruch nach ein empirisches Vorgehen zu praktizieren, um dann doch die „Idee“ des Dichtersubjekts regieren zu lassen, die hier nun kurzerhand mit dem Hegelschen objektiven ‚Weltgeist‘ kurzgeschlossen wird. Unzweifelhaft dürfte die Reaktivierung des göttlichen Dichter-furors durch Spielhagen die Funktion haben, dem bloßen ‚glücklichen Finden‘ des realistischen Dichters doch noch etwas von der „scheue[n] Ehrfurcht“ zu retten, die das genieästhetisch geeichte Publikum bisher dem ‚großen Erfinder‘ „als einem Auserwählten, Gottbegnadigten und Begeisterten“ 28 vorbehalten hat. Vor allem bezeugt die Stilisierung des realistischen Dichters zum ‚göttlichen‘ Medium des ‚objektiven Geistes‘ die Tendenz der Zeit zur Ausblendung der Rhetorizität literarischer Texte: Statt wie die „‚alte Rhetorik‘ stets mit einer visiblen Sprecherrolle“ zu rechnen, […] wird nun die sprechende oder schreibende und das Sprechen nur fingierende Person mediatisiert. Die Kunst spricht jetzt nur, wenn der Künstler in der Sprache verschwindet. Etwas, die Sprache, die Poesie, die Geschichte usw. kommt durch die Person hindurch. Nicht mehr die Rhetorik erzeugt also die Form, durch die die Laute Gestalt gewinnen, sondern die Apostrophe von etwas Vorsprachlichem ergreift die Person, macht sie nun zum Medium und führt zu einem Ergebnis, das nicht einfach auf eine Regel zurückgeführt werden kann […].29

An Spielhagens programmatische Anweisungen haben sich die wenigsten Erzähltexte des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehalten, seine eigenen eingeschlossen.30 Hingegen finden sich in dieser Zeit Romane, die nicht nur offen gegen das auch von anderen Realismusprogrammatikern propagierte Gebot der Objektivität verstoßen – etwa indem sie autoreferentiell romantheoretische Bilder ihres Autors aus anderen Schriften verwerten oder eine das Erzählte wie das eigene Erzählen beständig kommentierende Erzählerfigur zur Sprache kommen lassen – sondern die auch gerade die Frage der Stoff-Findung realistischen Erzählens auf der Ebene der histoire als Problem ihres Helden verhandeln. Diese Romane, die Rede ist von Theodor Fontanes Cécile aus dem Jahr 1886 und Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs von 1896, tragen mit der Problematisierung der Stoff-Findung des Erzählens einen, wenn nicht den zentralen Aspekt

27 Vgl. Gerhard Plumpe, Einleitung. In: Edward McInnes und Gerhard Plumpe (Hg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890, München, Wien 1996, S. 17–83, hier S. 83. Näheres dazu siehe unten, Kapitel III.2.6.3. 28 Vgl. Spielhagen, Finder, S. 3. 29 Jürgen Fohrmann, Vorbemerkung. In: Ders. (Hg.), Rhetorik und Performanz, Stuttgart 2004, S. VII–X, hier S. IX. 30 Dazu ausführlicher Sammons, Spielhagen, S. 55, der hier auch explizite Relativierungen von Spielhagens Objektivitätsgebot in Briefen Fontanes zitiert.

I Einleitung: die Findigkeit realistischer Erzählkunst

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der zeitgenössischen poetologischen Diskussion um den Gegenwartsroman innerhalb der Diegese aus: Fontanes Cécile erzählt die Erforschung der Fakten zur Geschichte der Hauptfigur Cécile durch ihren Verehrer Gordon, der dank des geheimnisvollen Reizes ihrer gesellschaftlichen Nonkonformität einen „Roman“ ‚hinter‘ ihr vermutet und diesen gewissermaßen nachzuzeichnen, nachzuschreiben versucht. Die Akten des Vogelsangs von Raabe entwerfen ebenfalls eine fiktionale Stoff-Findungs-Szene, nun die eines biographischen Erzählens. Ich-Erzähler Krumhardt protokolliert darin sein Studium der „Akten des Vogelsangs“,31 aus denen er die Lebensgeschichte seines verstorbenen Jugendfreundes zu rekonstruieren sucht, wobei er die Auswahl der relevanten Fakten wie ihre Konstellierung durchgängig als Problem reflektiert. Wie Spielhagen rücken diese Texte die Stoff-Findung als denjenigen Moment der Textproduktion in den Blick, der für den „Kontakt, die Verbindung“ von „Subjekt“ und „Objekt“, von Textproduzent und realer Geschichte (im doppelten Sinn von Historie und Narration), letztlich von Empirie und Phantasie entscheidend ist, profilieren diesen Moment und damit auch den „Kontakt, die Verbindung“ beider aber gänzlich anders als Spielhagen. Stoff-Findung wird in ihnen als ein quasi-methodisches Lese-Verfahren in Szene gesetzt – Lese-Verfahren im doppelten Sinn von Auflesen und Lesen, also im Sinne eines Aufsammelns einzelner, für die zu erzählende gegenwartsbezogene Geschichte bedeutungsvoller Sprachstücke einerseits und ihrer Verknüpfung zu einer sinnhaften Textstruktur andererseits. Im Zuge dieses Lese-Verfahrens werden, anders als beim divinierten Heldenmodell Spielhagens, die ‚verbindenden‘, d. h. für die jeweiligen Auswahl- und Verknüpfungsentscheidungen relevanten Mittel in ihrer Vielfalt, ihrer Abhängigkeit von der „Phantasie der Menge“ und oft auch materiellen Stofflichkeit – als kulturelle Medien – reflektiert und zur Anschauung gebracht. Ihre Nutzung erscheint demnach als Strategie oder auch Intuition, die medial geprägt ist, keinesfalls aber als göttliche Eingebung. Solche medio- und kulturologische Reflexion der ‚verbindenden Mittel‘ realisieren beide hier untersuchten Texte dadurch, dass sie die erzählten Lese-Verfahren zum Zwecke der Stoff-Findung mehr oder weniger offensichtlich auf das topische loci-Verfahren der antiken Rhetorik beziehen und die ‚verbindenden Mittel‘ als Äquivalente der Gemeinörter der Topik zu verstehen geben. Die Topik wurde insbesondere von Aristoteles und Cicero als Hilfsverfahren der inventio entwickelt. Mit der inventio hatte die Rhetorik eine regelrechte Finde-Lehre konzipiert. Über Jahrhunderte leitete sie die Stoff-Findung nicht nur

31 Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs. In: Ders., Sämtliche Werke, BA, hg. v. Karl Hoppe, 19. Bd., Göttingen 1970, S. 211–408, hier S. 216, S. 404 und S. 408; im Folgenden nachgewiesen mit der Sigle A und Seitenzahlen.

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I Einleitung: die Findigkeit realistischer Erzählkunst

der Redeproduktion, sondern auch der gelehrten Textproduktion an – und zwar der poetischen wie nicht-poetischen. Spätestens seit der ‚Rhetorisierung der Poesie‘ in der Spätantike, mit der das System der Rhetorik zu „Generalnenner, Formenlehre und Formenschatz der Literatur überhaupt“ wurde,32 operiert die rhetorische Findelehre über die Grenze Dichtung/Nicht-Dichtung hinweg.33 Wie für alle öffentlich kommunizierten Texte gilt auch für poetische Texte folglich die Orientierung am „rhetorischen Dreieck von Redner, Rede und Adressat“.34 Stets ist auf ihre Wirkung beim Publikum zu achten, was in Raabes Distanzierung unglaubwürdiger, weil erfundener Abenteuergeschichten noch oder wieder anklingt. Auch Dichtung hat sich als Teil öffentlicher Argumentationszusammenhänge zu sehen und dem schon und insbesondere im Zuge der Stoff-Findung Rechnung zu tragen.35 Zuständig hierfür ist das Kernstück der inventio, die Topik. Als untergeordnete ars im Sinne einer techné hat sie dafür zu sorgen, dass die Stoff-Findung nicht der Willkür zufälliger Eingebung und Assoziation überlassen bleibt, sondern möglichst systematisch auf vorfindliche, gesellschaftlich verbürgte facta rekurriert, die als besonders wirkungsvoll gelten und aus dem allgemein anerkannten Wissensbestand, dem sensus communis, herzuleiten sind – eben auf das ‚Bekannte und Vertraute‘, das, wie Spielhagen formuliert, die „Phantasie der Menge beschäftigte“ und „vor allen anderen Stoffen anlockte und ihre Herzen mächtig bewegte“. Damit zitiert er Aristoteles, der von „endoxa“ spricht und darunter das versteht, was „die meisten […] oder die Gebildeten, und zwar alle oder die meisten; oder Leute mit gesundem Menschenverstand […] oder

32 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen, Basel 1993, S. 79. 33 Obwohl Redner und Dichter dem Verständnis der Rhetorik nach unterschiedliche Aufgaben erfüllen sollen, nämlich die „Einflußnahme auf das Publikum“ einerseits und „die konzentrierte[ ] […] Nachbildung [mimesis, Ch. F.] der menschlichen und außermenschlichen Wirklichkeit“ andererseits, zeigt die „Literaturgeschichte […] einen von vornherein gegebenen und stetig andauernden gegenseitigen Durchdringungsprozeß zwischen Rede und Dichtung: einerseits stellt die Rede mimetische, also dichterische Elemente in ihren Dienst […], andererseits muß die Dichtung für die gedankliche und sprachliche Ausarbeitung ihres mimetischen Vorhabens die gleichen Mittel benutzen wie die Rede […].“ So Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, S. 42 f. 34 Uwe Hebekus, Topik/Inventio. In: Miltos Pechlivanos et al. (Hg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1995, S. 82–96, hier S. 86. 35 Vom Standpunkt der Rhetorik kommt auch Texten, die nicht im strengen Sinn argumentativ sind (etwa narrativen oder lyrischen), ein Argumentcharakter in weitem Sinn zu. Daher kann auch ein Typus der „literarischen Erzählung“, die „Vorgangserzählung“ nämlich, so sie „nicht wahr, aber wahrscheinlich“ ist, „argumentum“ heißen. Vgl. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 165.

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die Sachverständigen […]“ 36 als relevantes Wissen erachten. Die Elemente dieses Wissensbestands sind die topoi;37 in der lateinischen Tradition heißen sie loci. Sie können unterschiedlichster Art sein, reichen von abstrakten Denkmustern bis hin zu „fertige[n] Sprachstücke[n]“.38 Diese topoi oder loci muss die Topik sammeln und für die Nutzung durch die Rede- oder Textproduzenten geordnet verfügbar halten. Letzteres geschieht zumeist in der Form von topoi-Katalogen, die die Textproduzenten der Reihe nach abgehen können. Jeder topos (wörtlich ‚Ort‘) bietet ihnen einen neuen „Gesichtspunkt“,39 eine andere sozio-kulturell bedeutsame Perspektive auf ihren Gegenstand, aus der sie ihn betrachten und prüfen können, ob ihm von hier aus argumentationsrelevante Aspekte abzugewinnen sind. Dieses räumliche Verfahrenskonzept und mit ihm den topos- bzw. locus-Begriff hat die Topik der antiken Mnemotechnik (ars memoriae) entlehnt.40 „Ursprung der Topik ist somit eine Methode der Gedächtnisschulung“, in deren Rahmen topoi „sowohl Orte in der physischen Welt als auch die Vorstellung da-

36 Zitiert nach Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt am Main 1976, S. 47 f. 37 Die durchgängige Kleinschreibung und Kursivierung des Wortes topos in dieser Studie soll verdeutlichen, dass der topos-Begriff hier nicht im heute noch geläufigen Sinne eines Gemeinplatzes oder Klischees verwandt wird, sondern in dem weiteren eines soziokulturell relevanten Argumentationsgesichtspunkts, wie ihn Bornscheuer in seiner bereits genannten wegweisenden Studie zur aristotelischen und ciceronianischen Topik rekonstruiert und als „Grundelement[ ] der gesellschaftlich-ideologischen Selbstkonstitution“ interpretiert hat (Bornscheuer, Topik, S. 108). Dieser topos-Begriff umfasst zwar die Aspekte der Gemeinplätzigkeit und Klischeehaftigkeit, ist darauf aber nicht zu reduzieren. Laut Bornscheuer kommen ihm „vier verschiedenartige Hauptmomente“ zu: „die kollektiv-habituelle Vorprägung (Habitualität), die polyvalente Interpretierbarkeit (Potentialität), die problemabhängige, situativ wirksame Argumentationskraft (Intentionalität) sowie die sich gruppenspezifisch konkretisierende Merkform (Symbolizität)“. Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 105. 38 Roland Barthes, Die alte Rhetorik. In: Ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, S. 15–101, hier S. 77. 39 Bornscheuer, Topik, S. 29: Nach Aristoteles „[…] ist ein Topos daher zu definieren als ein zur Gewinnung neuer Diskussionsargumente empfehlenswerter ‚Gesichtspunkt‘.“ 40 „Topik ist als Wissensverwaltung ganz wesentlich Wissenschaft vom Gedächtnis. Das Ziel von Topik ist enzyklopädische Ressourcenbildung. Im Gedächtnis werden die Ressourcen verfügbar gehalten. Die artes memoriae sind aus diesem Grunde ein unentbehrlicher Teil der Topik.“ (Wilhelm Schmidt-Biggemann, Was ist eine probable Argumentation? Beobachtungen über Topik. In: Thomas Schirren und Gert Ueding (Hg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen 2000, S. 243–256, hier S. 248.) Auf diesen Zusammenhang haben auch schon Berthold Emrich in „Topik und Topoi“. In: Max L. Baeumer (Hg.), Toposforschung, Darmstadt 1973, S. 210–251, hier S. 228, sowie Volker Saftien in „Raumwahrnehmung und rhetorische Topik im kulturellen Vergleich“. In: Weimarer Beiträge 40 (1994), S. 376–388, hier S. 377, hingewiesen.

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von im Gedächtnis“ 41 sind. Im Gegensatz zur ars memoriae, die sich als Speicher- und Reaktualisierungsverfahren jedweden Wissens nutzen lässt, hat sich die ars topica auf eine bestimmte Wissensart, auf die endoxa des sensus communis, das „Horizontwissen“ 42 einer Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe, spezialisiert. Sie fungiert als Heuristik wie als Archiv dieses sensus communis und macht diesen mit dem Katalogverfahren zugänglich. In eben diesem Sinne als Stoff-Findungs-Verfahren für die Textproduktion, das zugleich die Er- und Vermittlung kulturellen Gemeinsinns, insbesondere auch seiner Grenzen, leistet, wird die topische techné in Fontanes Cécile und Raabes Akten zum literarischen Gegenstand – nunmehr unter den Bedingungen der Moderne. Das arbeiten die beiden Analysekapitel III und IV in eingehenden Lektüren der Texte heraus. Die Stoffsuche Gordons zur Geschichte Céciles etwa folgt insofern dem Prinzip des topischen Katalogverfahrens, als hier der traditionell metaphorisch-imaginäre Gang über die loci im Sinne von Fundstellen gesellschaftlich relevanten Wissens wörtlich genommen und als Spaziergang über die touristischen Orte des Harzes in den realen Raum transponiert ist – Museum, Denkmal, Kirche werden als topoi, als Orte der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung in Zeiten unsicherer Verfügung über einen einheitlichen sensus communis kenntlich. An diesen Orten eruiert Gordon je neue Wissensdaten über Céciles Andersartigkeit und kommt so zu einem differenzierten ‚empirischen‘ Wissen zu ihr, das sie der Berliner Gesellschaft anschließbar macht, bevor er dieses Wissen zum Schluss (nach Beendigung des topischen Spazier- und Leseganges!) einem einzigen gesellschaftlichen Stereotyp opfert, das Cécile wieder ausschließt. Einerseits wird so das topische loci-Verfahren zum zentralen narrativen Strukturprinzip von Fontanes Text, das über weite Strecken nicht nur dessen plot und Chronologie, sondern auch die Entfaltung des erzählten Raums organisiert. Andererseits wird das Verfahren in seiner Funktionsweise als Lesetechnik beobachtbar, die zwischen individueller Geschichtsproduktion und gesellschaftlichem sensus communis vermittelt und gerade in Zeiten unsicherer kultureller Grenzen die Verläufe dieser Grenzen zu erkunden und abzusichern erlaubt. Die erzählte und vom fiktiven Erzähler Krumhardt beständig problematisierte Stoff-Findung in Raabes Die Akten des Vogelsangs wird, anders als in Cécile, vom Text nicht nur performativ, sondern auch konstativ als topische ausgewiesen. Dass das Problemlösungsverfahren des Erzählers in erster Linie als ein topisches Eruieren, Sortieren und Kombinieren, also Selegieren und Redigieren, der endoxa des Vogelsang-Kollektivs in der Form vorgeprägter ‚fertiger Sprach-

41 Saftien, Raumwahrnehmung, S. 377. 42 Bornscheuer, Topik, S. 104.

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stücke‘ verstanden werden soll, belegen präzise intertextuelle Bezüge zu älteren Formen biographischen und juristischen Erzählens, deren jeweilige Verfahren der Geschichtsproduktion auf der Grundlage von Akten im expliziten Rückgriff auf die rhetorische Topik reflektiert wurden. Wie in Fontanes Cécile führt die erzählte topische Stoff-Findung in den Akten nicht nur zu einem Entwurf des sensus communis der maßgeblichen kulturellen Formation – in Cécile der Berliner Gesellschaft, in den Akten des Nachbarschaftskollektivs aus der Vorstadt „‚Zum Vogelsang‘“ (A 219) –, sondern entscheidet auch über den Einschluss der am Rande stehenden Hauptfigur, Céciles bzw. Krumhardts, in diesen kulturellen Zusammenhang. Diese Befunde sind bisher sowohl der Forschungsliteratur zu den Texten als auch derjenigen zu poetologischen Problemen des Realismus allgemein entgangen. Zwei profunde Fontane-Studien haben zwar bereits auf die rhetorische Topik Rekurs genommen, um die alltagssprachliche, intertextuelle und stereotype, das Stereotype aber zugleich auch transgredierende Qualität Fontanescher Erzähltexte zu erfassen: so die 1998 erschienene Arbeit Rudolf Helmstetters zur diskursgeschichtlichen Prägung Fontanescher Romane durch die Bildungspresse43 und Uwe Hebekus’ 2003 publizierte Untersuchung zum Reflex von Fontanes Kriegs- und Erzähltexten auf die „Geschichtskultur“ des 19. Jahrhunderts als diskursformierendes Medienensemble.44 Im Gegensatz zur vorliegenden Studie tragen sie die Topik als mögliche Analyseperspektive für Fontanes Poetik aber von außen an die untersuchten Texte heran. Wichtige Textbefunde bei Helmstetter etwa ließen sich durchaus auch in anderen Termini, z. B. als Zitatmontagen, beschreiben, denn sie belegen zwar stoffliche Entlehnungen Fontanescher Texte aus der zeitgenössischen „Topik der Lebenswelt“, insbesondere der Bildungspresse, weisen die textuellen Kombinatoriken dieses Vorfindlichen mehrheitlich aber gerade als von der journalistischen (und rhetorischen) Topik geschiedene aus. Demgegenüber zeigt Hebekus den topischen Charakter auch der Kombinationsverfahren in Fontanes historiographischen und literarischen Texten auf, wenn er deren Prägung durch technische und textuelle Medien der zeitgenössischen Geschichtskultur und ihre jeweilige – nicht immer, aber durchaus auch kritische – kulturpolitische Relevanz zur Geltung bringt. Kulturkritik wird so vor allem als eine die geschichtskulturelle Topik der Zeit erweiternde, transgredierende amplificatio kenntlich, die nicht in ein utopisches Jenseits von Kultur führt. Das belegt etwa Hebekus’ Fazit zu Irrungen, Wirrungen, in dem sich allerdings auch die Verengung seiner Beobachtungsperspektive auf eine „Topik

43 Helmstetter, Geburt des Realismus, S. 97–107. 44 Hebekus, Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historistischen Historie und bei Theodor Fontane, Tübingen 2003, S. 31–35 sowie S. 231 ff.

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der Erinnerung“ andeutet: „Der Text […] erteilt durch seine Verfahren der Repräsentation von Geschichte der in ihm selbst reflektierten begrenzten ‚Findigkeit‘ und inventio der historistischen Historie, deren gewissermaßen ‚gehegter‘ Topik der Erinnerung eine Absage.“ 45 Noch deutlicher in diese Richtung geht die einzige Arbeit, die im Blick auf Raabes Erzähltexte die Topik ins Gespräch bringt: Die ars topica wird in Frauke Berndts 1999 publizierter Studie zur „Anamnesis“ in der Erzählliteratur von Moritz, Keller und Raabe explizit schon im Titel als „Topik der Erinnerung“ 46 spezifiziert und mit einem ganz bestimmten topischen Archiv, mit dem tradierten Fundus von Metaphern und Denkfiguren für das Erinnern, respektive das Gedächtnis, identifiziert, auf den Raabes Prosa in spezifischer Weise rekurriere.47 Die ars topica als Verfahren interessiert demnach allenfalls als ars memoriae und nicht als kulturelle Heuristik, die Inhalte und Umfang des topischen Archivs erst eruieren muss. Konsequent spricht Berndt von einer „memoria-technische[n] Topik“.48 Auch der Aspekt der prozessualen Konstituierung eines aktualen sensus communis durch deren Gebrauch rückt dabei in den Hintergrund. Entsprechend hat Berndt in den auch von ihr behandelten Akten des Vogelsangs die textinterne poetologische Auseinandersetzung mit der topischen techné als kulturpoietisches Stoff-Findungs-Verfahren, das einen solchen Fundus als kulturellen Gemeinsinn allererst erzeugt, nicht beachtet.49

45 Hebekus, Klios Medien, S. 234, Hervorh. Ch. F. 46 Berndt, Anamnesis: Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz – Keller – Raabe), Tübingen 1999. 47 Berndt, Anamnesis, S. 317. Neben antiken Gedächtniskonzepten umfasst die von Berndt beobachtete „Topik der Erinnerung“ bei Raabe vielfältige, auf das Erinnern und Vergessen bezogene Bildungsstandards der Philosophie- und Literaturtradition (vgl. dies., Anamnesis, u. a. S. 317). Demgegenüber hat Helmut Mojem in seiner einschlägigen Studie zu Raabes Odfeld ein weit allgemeineres, etwa auch Mythen einschließendes Reservoir an kulturellen Topoi, aus dem Raabes Narrativierung der Historie schöpft, herausgearbeitet. Dieses reflektiert er allerdings nicht vor dem Hintergrund der Topiktradition, sondern als Ausweis einer überbordenden intentionalen Intertextualität Raabeschen Erzählens (vgl. ders., Der zitierte Held. Studien zur Intertextualität in Wilhelm Raabes Roman Das Odfeld, Tübingen 1994). 48 Berndt, Anamnesis, S. 8. 49 Gleichwohl ist wenig nachvollziehbar, dass alle drei genannten Studien in einschlägigen Gesamtdarstellungen zum deutschsprachigen Realismus der jüngsten Zeit kaum Beachtung gefunden haben, weder in Sabina Beckers Studie Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900, Tübingen, Basel 2003, noch dem von Christian Begemann herausgegebenen Sammelband Realismus. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2007, auch nicht im Band Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa, der 2010 in Berlin erschienen ist und von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke ediert wurde, noch auch in Moritz Baßlers Sammelband Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne, Berlin, Boston 2013.

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In Raabes Roman wie in Fontanes Cécile wird aber – in deutlichem Unterschied zu Spielhagens ‚Mediatisierung‘ der Sprecherrolle im realistischen Text, die seine Rhetorizität ausblendet – die rhetorisch-topische Verfahrensweise realistischer Erzählkunst mit ihren kulturpoetischen wie -politischen Implikationen auf der Ebene des Erzählten selbst verhandelt; zwar zunächst nicht als Stoff-Findungsverfahren eines dichterischen, sondern alltäglich-pragmatischen Erzählens, doch ist Letzteres in beiden Fällen unmittelbar auf das dichterische Erzählen zu beziehen: in Cécile insofern, als Gordons topische Geschichtsrekonstruktion im Text unmittelbar auf die Form des feuilletonistischen Fortsetzungsromans bezogen wird – die Form, in der wie fast alle Fontane-Texte auch Cécile vorab veröffentlicht wurde; in den Akten insofern, als Raabes Titelgebung die Identifizierbarkeit seiner literarischen Akten des Vogelsangs mit den topisch produzierten „Akten des Vogelsangs“ seines fiktiven Erzählers suggeriert.50 Damit stellen beide Autoren nicht nur das erzählte faktual-„pragmatisch[e]“ (A 227), sondern auch ihr eigenes fiktional-literarisches ‚realistisches‘ Erzählen in den Rahmen „gesellschaftliche[r] Einbildungskraft“,51 also der „Phantasie der Menge“, und bezeugen eine kombinatorische, nicht-emphatische Vorstellung von Dichtung. Weit vor Lothar Bornscheuers wegweisender kulturalistischer TopikInterpretation nehmen die Texte von Fontane und Raabe auf die Topik Rekurs, um den „Literatur-Begriff in den Raum der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikation zurückzuholen“.52 Dadurch erweisen sie den literarischen Produktionsprozeß als ein „‚Problemlösungsverfahren sui generis‘“ 53 und postulieren einen „prinzipiellen Zusammenhang zwischen ästhetischer und politischsozialer Sensibilität“.54 50 In Paratexte hebt Gérard Genette auf den Transgressionseffekt solcher Werktitel ab, die einen textintern durch eine Figur oder den Erzähler geprägten Titel wiederholen. Er versteht sie vor allem als „Mehrdeutigkeitsfaktor: die Anwesenheit eines Werks im Werk, wobei der Titel dem Binnenwerk entlehnt wird und sich nicht mehr sagen lässt, ob er sich thematisch auf die Diegese oder rein bezeichnend auf das Werk im Werk bezieht: […].“ Auch werde damit häufig die implizite „Erzählabmachung“ missachtet, „die erforderte, dass dieser Text [der Binnentext, Ch. F.] nicht um seinen literarischen Charakter und folglich um die Existenz seines Paratextes wüsste.“ Diese Titel tragen also dazu bei, die Differenz zwischen Fiktion und Realität, zwischen fiktivem (z. B. nicht-literarischem) und realem (literarischem) Text zu verunsichern (vgl. Gerard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main 1989, S. 84, hier Anm. 30, und S. 85). Zu solchen Transgressionseffekten vgl. auch Rand Sabry, Quand le texte parle de son paratexte. In: Poétique 69 (1987). 51 Diese Formulierung (Hervorh. Ch. F.) ist dem Untertitel der einschlägigen Topik-Studie Lothar Bornscheuers von 1976 entnommen, der lautet: Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. 52 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 25. 53 Bornscheuer, Topik, S. 25 54 Bornscheuer, Topik, S. 25.

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Die beobachteten Aktualisierungen der ‚alten Topik‘ in der erzählkünstlerischen Praxis von Fontane und Raabe mögen für ihre Zeit anachronistisch anmuten, hat doch die Topik seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine starke Abwertung erfahren; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist sie kaum noch bekannt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie haben mit dem Geltungsverlust der Beredsamkeit und der Rhetorik insgesamt zu tun, erklären sich aber auch aus tradierten Grundannahmen und historischen Spielarten der Topik selbst, die im folgenden Kapitel II ausführlicher zur Sprache kommen werden. Grundsätzlich zeugt die Topiktradition von einem funktional-kombinatorischen Umgang mit den in Texten und Gegenständen gespeicherten Wissensbeständen einer Gesellschaft, einem Umgang, der mit neueren, vor allem idealistisch und geschichtsphilosophisch motivierten Auffassungen von Dichtung und Wissenschaft unvereinbar schien. Gemeinhin gilt die funktional-kombinatorische Wissensorganisation der Topik untrennbar geknüpft an ein strikt topologisches, ahistorisches Denken, das einen geschlossenen Wissenshorizont voraussetzt. Sie halte im Rahmen einer „philosophia perennis […], die ein – durch Offenbarung – gesichertes Wissen annimmt“,55 „ahistorische[ ] Verbindungsregeln“ 56 zur zweckdienlichen „Verbindung von Situationen“ 57 öffentlicher Kommunikation und der „ihnen zukommenden“ endoxischen Wissenselemente bereit. Seit der „Herausbildung des Kollektivsingulars ‚Geschichte‘“ „im 18. Jahrhundert“ 58 und erst recht seit der „prinzipiellen Historisierung des europäischen Kultursystems durch den Historismus des 19. Jahrhunderts“ 59 gelten der das topische Wissen absichernde Rahmen der philosophia perennis als zerbrochen und die topischen Auffindungs- und Anordnungsregeln als obsolet. Diese Historisierung nimmt insbesondere im Vorfeld der Revolution von 1848 an Fahrt auf, was sich laut Jürgen Fohrmann unter anderem daran ablesen lässt, dass „Bewegung“ „als nun ganz futuristisch angelegter Begriff“ aufkommt und als „Versprechen zur Moderne“ 60 verstanden wird. Dieser Begriff kursiert aber „nicht nur als

55 Wilhelm Schmidt-Biggemann, Einleitung in die I. Sektion. In: Fohrmann (Hg.), Rhetorik, S. 3–6, hier S. 3. 56 Nicolas Pethes, ‚In jenem elastischen Medium‘. Der Topos ‚Prozessualität‘ in der Rhetorik der Wissenschaften seit 1800 (Novalis, Goethe, Bernard). In: Fohrmann (Hg.), Rhetorik, S. 131– 151, hier S. 134. 57 Gemeinsam mit dem Folgezitat ist dies eine Abwandlung eines auf die Rhetorik allgemein gemünzten Satzes aus Fohrmanns „Vorbemerkung“. In: Ders. (Hg.), Rhetorik, S. IX. 58 Vgl. Reinhart Koselleck, Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen. In: Ders. und Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 211–222, S. 211. 59 Vgl. Hebekus, Topik/Inventio, S. 85. 60 Vgl. Jürgen Fohrmann, Einleitung. In: Ders. und Helmut J. Schneider (Hg.), 1848 und das Versprechen der Moderne, Würzburg 2003, S. 7–14, hier S. 9; beide Hervorh. im Original.

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Wort“, sondern prägt „auch als Struktur die Diskurse nachhaltig“ 61: ‚Bewegte Zeit‘ meint nicht mehr ein zyklisches Kommen und Gehen prinzipiell vergleichbarer Jahres- und Lebenszeiten, sondern ein Fortschreiten des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens auf einem nach vorne offenen Zeitstrahl ins Ungewisse. Wenn aber in neuer Weise ‚Zeit‘ in das Denken eintritt, wird der alte Raum gegen einen offenen Horizont ausgetauscht, und dies mit damals kaum abzusehenden Folgen. Es ereignet sich ein Diskurswechsel, der mit den politischen Schlagworten ‚Leben‘, ‚Jugend‘, ‚Gegenwart‘, ‚Emancipation‘ usw. eine strukturelle Umpolung unserer Semantik auf ‚Bewegung‘ hin versucht und dabei gleichzeitig einen radikalen Bruch mit dem Vorgängigen inszeniert.62

Dieser Befund erhellt aber auch, dass die Radikalität dieses ‚Bruchs‘ vielfach inszenatorischen Charakter hat, weshalb vorsichtig mit allzu trennscharfen Scheidungen und definitiven Verabschiedungen umzugehen ist. Entsprechend betont die aktuelle Topikforschung, […] daß sich dieses Zerbrechen adäquat nicht als Bruch und damit als vollständiger Verlust der traditionellen Muster deuten läßt, sondern daß die Mechanismen der Ablösung ihrerseits vielschichtiger sind, als es die prägnante These einer Generalüberholung metaphysischer Gültigkeit durch Historisierung nahelegt. Topik und Semantik erfahren so etwas wie eine Verflüssigung der inneren Stuktur, sowohl, was die Genese, als auch, was die Applikation betrifft.63

Eindrücklich bestätigt werden diese Differenzierungen dadurch, dass sich selbst in maßgeblichen Texten der prinzipiell dem ‚Kollektivsingular Geschichte‘ verschriebenen historistischen Geschichtsschreibung Repräsentationsformen von Geschichte nachweisen lassen, die eine „Retopikalisierung der Geschichte unter den reflektierten Bedingungen von Verzeitlichung“ betreiben.64 In umgekehrter Blickrichtung ist zu fragen, ob der Wissenshorizont vor 1800 stets und überall für geschlossen gelten darf, wenn etwa signifikante Unterschiede zwischen dem aristotelischen und ciceronianischen Topikkonzept aus sozialhistorischer Sicht darauf zurückzuführen sind, dass die Grenzen der eigenen Kultur und damit auch die Stabilität ihres Wissensbestands für Aristoteles als sicher gelten konn-

61 Fohrmann, Einleitung, S. 9; Hervorh. im Original. 62 Fohrmann, Einleitung, S. 10; zweite Hervorh. Ch. F. 63 Schmidt-Biggemann, Einleitung, S. 4 f. 64 Vgl. Uwe Hebekus, Geschichte als Ort und Figur. Retopikalisierungen historischen Wissens im Historismus. In: Fohrmann (Hg.), Rhetorik, S. 152–175, hier: S. 156; erste Hervorh. Ch. F., zweite im Original.

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ten, für Cicero hingegen durchaus nicht.65 Schließlich ist zu beachten, dass zum topischen „Anordnen und Auffinden […] das Kombinieren als dritte topische Operation hinzu[tritt], und mit ihr ein temporalisiertes Schema: […] das Stiften von Analogien, die als gestiftete potentiell wieder aufhebbar, also vergänglich sind.“ 66 Auszugehen ist deshalb davon, dass der „Bruch mit der Vorstellung einer räumlichen Organisation die Topik selbst zu signifikanten Umstellungen zwingt, die weder mit ihrem Ende noch mit ihrer schlichten Kontinuität zu verwechseln sind.“ 67 Sehr genau ist deshalb in den Blick zu nehmen, wodurch der Rückgriff auf die rhetorische Topik in Cécile und Die Akten des Vogelsangs motiviert sein könnte und was er unter den Bedingungen einer ‚bewegten Moderne‘ aufzuzeigen und zu reflektieren erlaubt. Da beide Texte, wie angedeutet, die topische techné als ein Verfahren zur Eruierung und Vermittlung kulturellen Wissens wiederentdecken und erproben, ist das kulturelle Wissen, das sie in ihren inventioSzenen in den Blick bringen, keinesfalls ein rein stoffliches Wissen, ein angehäufter Wissensbestand ihrer eigenen kulturellen Formation, den man ihnen wie historischen Quellen entnehmen könnte.68 Vielmehr ist es ein kulturologisches Wissen darüber, wie, mit welchen (rhetorischen und anderen medialen) Verfahren die eigene kulturelle Formation zu ihrem Wissensstoff und mit diesem zu einem sensus communis kommt – wie ‚homogen und verlässlich verfügbar‘ oder ‚inszeniert und beschworen‘ dieser auch verstanden werden mag. Wenn sich „moderne[ ] Formen von Topik“ dadurch auszeichnen, dass in ihnen „die Frage danach, was Ordnung ist, sein soll und kann, an die Stelle der externen Legitimation durch Metaphysik tritt“,69 dann ist die beständige Thematisierung und Problematisierung der Frage, ‚was kulturelle Wissensordnung am Ende des 19. Jahrhunderts ist, sein soll und kann‘, in Fontanes Cécile und Raabes Die Akten des Vogelsangs Ausweis einer ‚modernen Topik‘.

65 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 85 ff., sowie die näheren Ausführungen hierzu in Kapitel II.2 dieser Arbeit. 66 Pethes, Topos ‚Prozessualität‘, S. 134, Hervorh. im Original. 67 Pethes, Topos ‚Prozessualität‘, S. 136, Anm. 13. 68 Vgl. Marion Doebelings Überlegungen zum fraglichen historischen Zeugniswert realistischer Dichtung in „Introduction: Breaking the Mimetic Chain – Patterns of Cultural Unground“. In: Dies. (Hg.), New Approaches to Theodor Fontane. Cultural Codes in Flux, Columbia 2000, S. IX–XXII, hier S. XI, sowie Eva Geulens Kritik an einer Realismusforschung, die mit ihrer „wissenschaftliche[n] Erhellung des in literarischen Texten gespeicherten Wissens den Historismus des 19. Jahrhunderts tendenziell reproduzier[e]“. Vgl. dies., Schwierigkeiten mit Raabes Frau Salome. In: Michael Neumann und Kerstin Stüssel (Hg.), Magie der Geschichten. Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Konstanz 2011, S. 417–428, hier S. 419. 69 Schmidt-Biggemann, Einleitung, S. 5.

II Topik und Kultur Aus aktueller rhetorikgeschichtlicher Perspektive fungierte die Topik, wie oben grob skizziert, als Heuristik sowie als Archiv des sensus communis einer kulturellen Formation und machte diesen typischerweise mit dem Katalogverfahren zugänglich.1 Dieser Funktionsbeschreibung korrespondieren drei zentrale Topikbestimmungen, die prinzipiell aufeinander zu beziehen sind, zu verschiedenen Zeiten aber unterschiedlich akzentuiert wurden. Nach Roland Barthes in „Die alte Rhetorik“ 2 kann man sie folgendermaßen differenzieren: Die Topik ist oder war: 1. eine „Methode“ der Stoff- bzw. Argumentfindung auf der Grundlage des für den Redeproduzenten und sein Publikum jeweils relevanten sensus com-

1 Mit ‚aktueller rhetorikgeschichtlicher Perspektive‘ ist die wachsende Zahl von Veröffentlichungen gemeint, die sich an den bereits zitierten wegweisenden Darstellungen der antiken Topik von Roland Barthes und Lothar Bornscheuer aus den 1970er Jahren orientieren, die ihrerseits wichtige Anregungen von Ernst Robert Curtius’ Kompendium Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (zuerst: Bern 1948) und Theodor Viehwegs prägnanter Schrift Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung (München 1953) erhalten haben. Unter diesen Publikationen sind v. a. zu nennen: Gerhart v. Graevenitz’ Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit (Suttgart 1987) sowie die Sammelbände Topik und Rhetorik von Schirren und Ueding (Tübingen 2000) und Rhetorik als kulturelle Praxis von Renate Lachmann, Riccardo Nicolosi und Susanne Strätling (München 2008), hier v. a. die Beiträge von Almut Todorow, „Topik und Pressediskurs. Zur Aktualisierung gesellschaftlicher Einbildungskraft im November 1918: ‚Die deutsche Revolution‘“. In: Schirren, Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik, S. 393–409, und „Intermediale Bildtopik und Presse“. In: Lachmann, Nicolosi, Strätling (Hg.), Rhetorik als kulturelle Praxis, S. 225–240). Einschlägig sind ferner die drei bereits zitierten Publikationen von Uwe Hebekus, „Topik/Inventio“, Klios Medien und „Geschichte als Ort und Figur“, und schließlich der von Jürgen Fohrmann herausgegebene Sammelband Rhetorik und Performanz (Stuttgart 2004). Alle diese Arbeiten postulieren und erproben die Operationalisierbarkeit der Topik für diskurs- und mediengeschichtliche bzw. kulturpoetische Forschungen. Demgegenüber hält die klassische Rhetorikwissenschaft mehrheitlich an dem im Kontext der Schulrhetorik tradierten engeren, argumentationslogischen Topik-Verständnis fest. Das belegen etwa die neueren Einträge zu „Topik“ und zu „Topos“ im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (hg. v. Gert Ueding, Bd. 9, Tübingen 2009, Sp. 605–626 und Sp. 630–724), in denen Bornscheuer wohl Erwähnung findet, seine kulturalistische Interpretation der Topik als ‚Heuristik gesellschaftlicher Einbildungskraft‘ aber nicht weiter geführt wird. Zur Kritik an diesem späten und nur vereinzelten Anschluss der klassischen Rhetorikwissenschaft an kulturund medienwissenschaftliche Fragestellungen vgl. Almut Todorow, Intermedialität. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding. Bd. 10: Nachträge, Tübingen 2012, Sp. 399– 410, hier 403 f. Ausnahmen in dieser Hinsicht bilden etwa Helmut Schanzes Beitrag „Die Medialisierung der Rhetorik“ in Heinrich F. Pletts Sammelband Die Aktualität der Rhetorik (München 1996, S. 48–56) sowie die Sammelbände Medienrhetorik von Joachim Knape (Tübingen 2005) und Bildrhetorik (Baden-Baden 2007) von Knape und Elisabeth Grüner. 2 Barthes, Alte Rhetorik, S. 67 ff. https://doi.org/10.1515/9783110572919-002

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munis, 2. ein „Raster von Leerformen“ im Sinne von Suchformeln oder, mit Ciceros Ausdruck, ‚Fundstellen von Argumenten‘3 und 3. ein „Vorrat ausgefüllter Formen“, also ein Archiv der für diesen sensus communis konstitutiven semantischen wie syntaktischen Wissenselemente.4

1 Konzepte der Topik Die schulrhetorische Tradition hat stark dazu beigetragen, die Topik auf die zweite Funktion, die Rasterfunktion, zu reduzieren und sie mit der schematischen Anwendung antiker topos-Kataloge zu identifizieren.5 Der bekannteste ist die im Mittelalter auf einen griffigen Merkvers in Hexameterform gebrachte Fragenreihe: „Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando“.6 Sie wirkt in vereinfachter Form bis heute in praktischen Anleitungen zur Produktion von journalistischen Artikeln und Schulaufsätzen fort.7 Wirkmächtig waren auch

3 So lautet, frei übersetzt, die klassische Definition von Cicero, die die topische Raummetaphorik mit derjenigen der Jagd verknüpft: topoi sind ihmzufolge „sedes et quasi domicilia omnium argumentorum“ – „die Fundstellen und gewissermaßen die Behausungen aller Beweise“, an denen der Redner auf der Jagd nach treffenden Argumenten Beute machen kann. Vgl. Marcus Tullius Cicero, De oratore/Über den Redner, Lateinisch–deutsch, hg. u. übersetzt v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007, 2. Buch, S. 204 §162 und S. 198 §147. 4 Dieser Aufgliederung lassen sich auch drei der „vier Geltungsbereiche der Topik“ zuordnen, die Wilhelm Kühlmann und Wilhelm Schmidt-Biggemann in ihrem Artikel „Topik“ im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft entfalten: Die Topik als ‚Methode‘ kommt mit dem „aristotelische[n] Kategoriensystem (Definition, Proprium, Genus, Akzidenz)“ in den Blick, „das die ‚Technik‘ schlüssiger Argumentationen vermittelt.“ Die Rasterfunktion klingt an in dem „von Cicero und Quintilian systematisierte[n] Denkverfahren […] des Suchens und Findens von Merkmalen zur Darstellung eines strittigen und zweifelhaften Sachverhalts“. Die Speicherfunktion der Topik wird schließlich expliziert als „ein Bestand standardisierter Sentenzen, Exempel, Themen und Mustergeschichten, oft bezogen auf die verallgemeinerte Problem-Ebene der sog. Gemeinplätze (‚loci communes‘ […]) […].“ Der vierte im Artikel angeführte Geltungsbereich ist die „Erinnerungslehre (Mnemonik)“, die „seit dem Spätmittelalter ausgebaut [wurde] zur ordnenden Inventarisierung und mentalen Vergegenwärtigung variabler Wissensbestände.“ (Vgl. dies., Topik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, hg. v. Jan-Dirk Müller, Berlin, New York 2003, S. 646–649, hier S. 646). 5 Bornscheuer, Topik, S. 118 f. 6 Zitiert nach Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 252. 7 Conrad Wiedemann hat darauf hingewiesen, dass die sachtopische a re-Fragereihe noch im „Erkennungsliedchen“ der Sesamstraße ‚Wer? Wie? Was? Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm!‘ nachlebt und dort als Anregung zu kritischer Hinterfragung der jeweiligen Gegenstände verstanden wird. Vgl. ders., Topik als Vorschule der Interpretation. Überlegungen zur Funktion von Topos-Katalogen. In: Dieter Breuer und Helmut Schanze (Hg.), Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, München 1981, S. 233–255, hier S. 247.

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der sach- und der personenorientierte topos-Katalog (die a re- bzw. a personaTopik), die im Kontext der antiken Gerichtsrhetorik ausgebildet wurden und sich der Unterteilung des römischen Zivilrechts in Sachen- und Personenrecht verdanken.8 Der a persona-Katalog etwa hat bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die Stoff-Findung und -Organisation (auto-)biographischer Texte geprägt.9 In dieser ‚bloßen‘ Anwendungsfunktion musste die Topik der idealistischen Originalitätsästhetik um 1800 zum Ärgernis werden. Die Vorstellung vom Dichtergenie, das laut Kant nicht wissen kann, „wie sich seine phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in seinem Kopfe hervor und zusammenfinden“,10 war mit dem Konzept einer in gesellschaftliche Argumentationszusammenhänge eingebundenen und gar noch regelgeleiteten Textproduktion nicht vereinbar. Die „Topik des Aristoteles“, so Kant, sei etwas, dessen „sich Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten für seine [sic] vorliegende Materie schickte, und darüber, mit einem Schein von Gründlichkeit, zu vernünfteln, oder wortreich zu schwatzen.“ 11 Doch lässt sich die Topik nicht auf die mögliche Funktionalisierung ihres loci-Verfahrens als quasi-„kybernetische[s] Programm[ ]“ der „rhetorische[n] Maschine“ 12 reduzieren. Kant missachtet, dass selbst bei der Anwendung bestehender Kataloge, insbesondere des aristotelischen, ein „erhebliches Maß ingeniöser Phantasie“ 13 gefragt ist. Anders als der mnemotechnische 8 Vgl. Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 254. Cicero formuliert den sachorientierten topos-Katalog im freien Anschluss an Aristoteles so: „Coniugata, e genere, e forma, e similitudine, e differentia, e contrario, ex adiunctis, ex antecedentibus, e consequentibus, e repugnantibus, e causis, ex effectis, e comparatione maiorum aut parium aut minimorum.“ Bei ihm findet sich ansatzweise auch der a persona-Katalog, der von Quintilian folgendermaßen ausgeführt wird: „genus, natio, patria, sexus, aetas, educatio, habitus corporis, fortuna, conditio, animi natura, studia, affectatio, antefacta, antedicta, commotio, consilium, nomen“ (beide zitiert nach Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 252 und S. 254). 9 Vgl. Goldmann, Stefan, Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiographie. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 660–675. 10 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790). In: Ders., Werkausgabe, Bd. 10, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, S. 244. 11 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft I (1787). In: Ders., Werkausgabe, Bd. 3, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, S. 291. Vgl. auch Lamys Topikbestimmung: Sie sei eine Sammlung von „kurzen und leichten Mitteln zur Stoffindung, um sich selbst über gänzlich unbekannte Gegenstände auslassen zu können“ (zitiert nach Barthes, Alte Rhetorik, S. 68). 12 Vgl. Barthes, Alte Rhetorik, S. 68 und S. 52. 13 Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 253. Ihm zufolge liegt das kreativ-erfinderische Potential des topischen loci-Verfahrens in dessen logischer Grundoperation. Diese bestimmt er als Entfaltung der Analogie eines Begriffs (ders., Probable Argumentation, S. 251 f.) und verweist auf ihre konstitutive Funktion für das rhetorische acumen, das in Barock und

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Gang durch den imaginierten Raum, der die Aktualisierung des Gespeicherten in einer festgelegten Reihenfolge garantieren soll, ist das Abgehen der loci topischer Kataloge nicht als streng lineares und, im Blick auf das Aufgefundene, vorhersehbares Procedere zu verstehen.14 Vielmehr hat man sich die topoi als Wegmarken vorzustellen, die für unterschiedlichste Argumentationsgänge genutzt und durchaus übersprungen oder umorganisiert werden können; den „entscheidenden Maßstab der Auswahl liefert jeweils der gegebene Problemzusammenhang.“ 15 Deshalb wird die Struktur einer Topik häufig mit der eines Netzes oder Geflechts verglichen.16 Stets geht es darum, mit Hilfe der loci eine möglichst universale Fülle (copia) denkbarer Aspekte des jeweiligen Gegenstands zu eruieren, um aus ihr vielfältige Argumente für den eigenen Diskurs zu gewinnen. Zentral für die Topik ist daher das „‚Auswahlverfahren‘“.17 Denn es braucht eine besondere Anstrengung – in Ciceros Topik iudicium (Kritik) genannt –, um im Sinne des eigenen Argumentationsinteresses die Anwendung der loci zu steuern und der eruierten Fülle eine „‚hermeneutische‘ Richtung“ 18 zu geben. Gerade das „kaleidoskopische[ ] Topoi-Arsenal“ des Aristoteles wird in der neueren Topikforschung als Anleitung zu „eine[r] höchst bewegliche[n] Technik des assoziativ-kombinatorischen Standortwechsels“ 19 interpretiert, die nicht nur der Orientierung, sondern auch der Umorientierung20 des Rede- oder Textadressaten dienen können soll:

Aufklärung „Witz“ und in der Romantik „Humor“ genannt werde (ders., Probable Argumentation, S. 248). Nicht zuletzt lässt sich der Geniebegriff, den Kant gegen die Topik in Anschlag bringt, terminologisch auf das rhetorisch-topische ingenium zurückführen, vgl. Karl Josef Höltgen, John Drydens ‚nimble spaniel‘. Zur Schnelligkeit der inventio und imaginatio. In: Horst Meller und Hans-Joachim Zimmermann (Hg.), Lebende Antike: Symposium für Rudolf Sühnel, Berlin 1967, S. 233–249. 14 Bornscheuer, Topik, S. 45. Diese Differenz kommt bei Saftien nicht in den Blick; sie deutet sich allenfalls dort an, wo er den flexiblen Ebenenwechsel zwischen den verschiedenen status in der Statuslehre, einer römischen, auf die Jurisprudenz zugeschnittenen Variante der Topik, beschreibt (vgl. ders., Raumwahrnehmung, S. 379 f.). 15 Bornscheuer, Topik, S. 45. 16 Von einem „Formennetz[ ]“ spricht Barthes in „Die alte Rhetorik“, S. 68, und in seiner Balzac-Studie S/Z ist im Blick auf die lektüreleitenden Topoi (bzw. „Codes“) von „einer Art Netz“ die Rede, das sich in Balzacs Text zu einem „Netzwerk“ bzw. „Gewebe“, verdichte (vgl. ders., S/Z, Frankfurt am Main 31998, S. 25). 17 Bornscheuer, Topik, S. 40. Auf den „Modus der Wahl“ hebt auch Wiedemann ab, vgl. ders., Topik als Vorschule der Interpretation, S. 243. 18 V. Graevenitz, Mythos, S. 56. 19 Bornscheuer, Topik, S. 46. Die Topik sei zu verstehen als „Technik eines konsequenten ‚Alternativdenkens‘, eines fortgesetzten, doch für die Gebildeten stets erkennbaren und kontrollierbaren Standortwechsels.“ (Bornscheuer, Topik, S. 60). 20 Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 244.

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Die durch Tradition und Konvention legitimierten und für sämtliche Lebenssituationen bereitgehaltenen Denkformen und Bildungsstoffe sind in der griechischen Antike überlagert von einer agonal-dialektischen Mentalität, die sich nicht mit der Repetition des pedantisch Erlernten und der Reduktion der lebensbedeutsamen Problemfälle auf wenige Grundmuster begnügt, sondern die auf ständigen Perspektivenwechsel, auf Erweiterung, Vertiefung, Verfeinerung der bewährten Typik drängt. Hinter dem vielgeschmähten rhetorischen Formalismus verbirgt sich eine ebenso oft verkannte schöpferisch-progressive Variationskunst, hinter der so penetrant erscheinenden Wiederholung jahrhundertealter Topoi eine nicht weniger penetrante Sucht des Differenzierens, Uminterpretierens, Korrigierens.21

Die Geschichte der Topik ist demnach nicht nur durch die eindrückliche Persistenz bestimmter tradierter topos-Kataloge, sondern auch durch eine große Vielfalt historischer Varianten und Neuprägungen gekennzeichnet. Zur topischen Praxis gehörte immer auch, das loci-Verfahren als ein heuristisches zu verstehen und eigenständig loci-Sammlungen und -Kataloge anzulegen.22 Teils waren diese in erster Linie zum persönlichen Gebrauch bestimmt, wie die antiken hypomnêmata23 oder die humanistischen loci communes-Hefte.24 Darin versammelten Gelehrte die Lesefrüchte ihres Studiums in Form von Originalzitaten oder Paraphrasen, oft ergänzt durch eigene Anmerkungen und zumeist rubriziert unter bestimmten Titeln (loci), um sie für die persönliche Reflexion und Bildung sowie die spätere Text- oder Redeproduktion parat zu haben.25 Falls diese loci nicht überkommenen Katalogen folgten, hatten sie sowohl induktiven wie deduktiven Charakter: Einerseits waren sie durch entdeckte Parallelen im studier-

21 Bornscheuer, Topik, S. 59 f.; alle Hervorh. Ch. F. 22 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 117 f.: „Hier ist noch einmal daran zu erinnern, daß der aristotelische Ausdruck ‚topisches Verfahren‘ (topikos tropos) im engeren Sinne das ‚Verfügen über Topoi‘ bzw. das ‚Anlegen von Topoi-Katalogen‘ meint, also zwischen dem von Aristoteles […] erhobenen ‚methodos‘-Anspruch, der ja später sehr eingeschränkt wird, und einem bloßen ‚Instrument‘-Charakter schwankt.“ 23 Vgl. Michel Foucault, Über sich selbst schreiben. In: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV: 1980–1988, hg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2005, S. 503–521, hier S. 507 ff. 24 Vgl. Heinrich F. Plett, Rhetorik der Gemeinplätze. In: Schirren, Ueding (Hg.), Topik und Rhetorik, S. 223–236, hier S. 226. 25 Für die hypomnêmata hält Foucault fest, dass sie „gleichsam ein materielles Gedächtnis des Gelesenen, Gehörten und Gedachten [bildeten], einen zur neuerlichen Lektüre und weiterer Reflexion bestimmten Schatz an Wissen und Gedanken. Außerdem bildeten sie den Rohstoff für systematischere Abhandlungen […].“ (Foucault, Schreiben, S. 507) Sie sollten aber „keineswegs an die Stelle eines möglicherweise unzulänglichen Gedächtnisses treten. Sie waren vielmehr Rohstoff und Rahmen für eine Übung, die immer wieder absolviert werden sollte: lesen, wieder lesen, meditieren, Gespräche mit sich selbst und anderen führen usw. […] Es geht um die Schaffung eines logos bioèthikos, eines Schatzes an hilfreichen Diskursen […].“ (Foucault, Schreiben, S. 507 f.).

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ten Material motiviert, andererseits lenkten sie im Sinne von Suchbefehlen die weitere Lektüre.26 Die Wahl der loci wie die der studierten Werke hatte stets die Doppelfunktion, die Anschlussfähigkeit der eigenen Produktionen an einen bestimmten Bildungshabitus zu garantieren wie auch sich selbst in Bezug auf diesen zu verorten.27 Vielfach erhoben die individuell angelegten Sammlungen und Kataloge aber auch einen umfassenden Geltungsanspruch und waren zur Veröffentlichung bestimmt. Das gilt für die zumeist topisch organisierten antiken Lehrbücher,28 die Commonplace Books der Renaissance29 und die enzyklopädischen Universaltopiken der Polyhistoren des 16. und 17. Jahrhunderts.30 Insbesondere letztere prätendierten, das gesamte relevante Wissen einer Disziplin, ihren sensus communis also, wenn nicht gar das allgemeingültige Weltwissen, abzubilden. Die Forschung zu diesen Textformen stellt jeweils die Ambivalenz ihrer topischen Wissensordnungen heraus, die zwar einerseits von dem Streben nach Systematik zeugen, andererseits jedoch keine Ordnungslogik im heutigen streng wissenschaftlichen Sinn kennen: […] die Gesichtspunkte, nach denen unterschieden und geordnet wird, [stehen] nicht in einem logischen einheitlichen Kontinuum. Wie schon die ‚Kategorien‘ des Aristoteles sperren sie sich gegen die Reduktion auf ein Prinzip, und in der Anwendung lassen sich die Begriffsebenen noch zusätzlich verschieben und überspielen. In der Anwendung kann Übergeordnetes jederzeit untergeordnet, Untergeordnetes zum leitenden Gesichtspunkt werden.31 26 Entsprechend sind topoi/loci als gemeinsame Gesichtspunkte, die aus Vergleichsoperationen resultieren (als „medii termini“) zu beschreiben. Zur zentralen Rolle des Vergleichs als „[t]echnisches Kernstück aller Topiken“ vgl. v. Graevenitz, Mythos, S. 62, S. 66 und v. a. S. 96 ff. 27 Mit Blick auf die hypomnêmata beschreibt Foucault diese „Subjektivierung des Diskurses“ als „Sorge um sich“. Doch handelt es sich weder um „intime[ ] Tagebücher“ noch „Berichte über spirituelle Erfahrungen“ oder „Selbstdarstellungen“: „Es geht nicht darum, dem Unsagbaren nachzugehen, Verborgenes zu enthüllen, das Ungesagte zu sagen, sondern darum, bereits Gesagtes festzuhalten, Gehörtes oder Gelesenes zu sammeln, und das zu einem Zweck, der nichts Geringeres ist als die Konstituierung des Selbst.“ (Foucault, Schreiben, S. 508, Hervorh. Ch. F.). 28 Vgl. v. Graevenitz, Mythos, S. 55. 29 Vgl. Plett, Gemeinplätze, S. 226 ff. 30 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983. 31 So v. Graevenitz in Mythos (S. 56) zu einem Lehrbuch des römischen Mythographen Marcus Terentius Varro, eines Freunds von Cicero. Zur „geregelte[n] und willentliche[n] Form des Umgangs mit Disparatem“, der auch die hypomnêmata kennzeichnet, vgl. Foucault, Schreiben, S. 510: Diese vereinen eine „Auswahl heterogener Elemente“, die heterogen bleiben. Von daher unterscheidet sich „[d]as Schreiben der hypomnêmata“ von der „Arbeit des Grammatikers, der ein ganzes Werk oder sämtliche Werke eines Autors kennen möchte. Es unterscheidet sich auch von den Lehren der Berufsphilosophen, denen es um die Einheit der Lehre einer jeweiligen Schule geht.“ Die loci communes-Hefte und Commonplace Books der Renaissance schwank-

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Zentrales Verknüpfungsprinzip, das diese „polyhistorischen Konfettihaufen“ 32 zusammenhält, ist der „topische Vergleich“, d. h. der Vergleich, der auch über logisch unvereinbare Klassen hin einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden vermag.33 Topoi als diese kleinsten gemeinsamen Nenner sind somit „vorlogische“ (beim Späthumanisten Gianbattista Vico heißen sie „phantastische[ ]“ 34) Gattungsbegriffe. Schon Aristoteles hatte seine Topik von der streng-logischen Analytik und Syllogistik geschieden wissen wollen und als systematisierendes Hilfsverfahren von Rhetorik und Dialektik verstanden. Im Unterschied zur späteren philosophischen Dialektik im Sinne Hegels oder des Materialismus umfasst der antike Dialektikbegriff eine weit allgemeinere Form der argumentativen „Problemreflexion“ 35 und -entfaltung, die sich an der disputatio, der an der platonischen Akademie entwickelten „klassischen Form des agonalen Streitgesprächs“,36 orientiert. Sowohl rhetorisches als auch dialektisches Argumentieren versteht Aristoteles als „entschlossen vorwissenschaftlich“,37 denn beides ist auf „solche allgemeinen Gegenstände (koina) [gerichtet], deren Erkenntnis in gewisser Weise allen (sc. gebildeten Menschen) möglich und keiner Einzelwissenschaft vorbehalten ist“.38 ten zwischen einfacheren, z. B. alphabetischen, und komplexeren Ordnungsschemata, etwa thematischen loci, konnten aber auch „philosophischen, theologischen oder pädagogischen System[en]“ folgen (Plett, Gemeinplätze, S. 228). Ziel war aber nicht die Perfektibilität der Systematiken, sondern die Erschließung des Stoffes für den „schnellen Zugriff“ (Plett, Gemeinplätze, S. 227). Auch waren diese Ordnungen steter Veränderung unterworfen, da viele dieser Commonplace Books durch Neuauflagen und Übersetzungen mehrfach variiert, umorganisiert und erweitert wurden. 32 V. Graevenitz, Mythos, S. 58. 33 V. Graevenitz, Mythos, S. 96. Am Beispiel der Theologia gentilis des Gerardus Ioannes Vossius erläutert v. Graevenitz in Mythos, S. 66: Der Topos, bei Vossius der topische Göttername, „ist Sitz von gesammelten Ähnlichkeiten. Eine Art kleinster gemeinsamer Nenner hat solche Ähnlichkeiten hervortreten lassen. […] Der medius terminus, eigentlich ein logisch eindeutiger Begriff aus dem Schlußverfahren der Syllogistik, wird mit seiner Fähigkeit, Ähnlichkeiten über die logischen Klassen hinweg aufzufinden, zum Denkprinzip der Topik.“ Vico, einer der prominentesten Vossius-Rezipienten, der hier nach v. Graevenitz zitiert wird, nennt dieses Denkprinzip „‚geschärft‘“; praktizieren würden es „jene, die zwischen weit auseinanderliegenden und sehr verschiedenen Sachverhalten irgendeinen Ähnlichkeitsbezug entdecken, in dem diese Sachverhalte miteinander verwandt sind […].“ Gerade dies sei „das Kennzeichen des ingenium und kann ‚Scharfsinnigkeit‘ genannt werden.“ 34 Vgl. Vico, zitiert nach v. Graevenitz, Mythos, S. 67, Hervorh. im Original. 35 Bornscheuer, Topik, S. 26. 36 Bornscheuer, Topik, S. 27. 37 Hebekus, Topik/Inventio, S. 83. 38 Aristoteles (Rhetorik I, I 1354a 1–3), zitiert nach Bornscheuer, Topik, S. 37. Genaueres zu Bornscheuers Rekonstruktion der aristotelischen Topik liefert Kapitel II.2.

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Der Unterschied zwischen dem topisch-dialektischen und dem streng logischen Argumentationsverfahren liegt v. a. „darin, dass die Dialektik nach den möglichen Bedingungen einer gegebenen Problemstellung, also nach den ‚Prämissen‘, die Logik jedoch nach den notwendigen Folgerungen aus gegebenen Prämissen fragt.“ 39 Gleichwohl avancierte die Topik in der Zeit der Renaissance und des Barocks zum dominanten Modell von Wissenschaft, das noch bis ins 18. Jahrhundert hinein sowohl die Hervorbringung als auch die Darstellung des Wissens regelte.40 Doch sah sich die Topik auch als Modell vorwissenschaftlicher wie disziplinärer Wissensordnung zusehends der Kritik ausgesetzt. Schon im Humanismus gab es Bestrebungen, „aus den topischen Denkitinerarien eine Methode sensu stricto machen“ 41 zu wollen. Insbesondere Petrus Ramus hat in seiner Dialektik dank der stärkeren Gewichtung des iudiciums vor der inventio entscheidende Vorarbeit für den streng-deduktiven cartesianischen Methodenbegriff geleistet.42 Mit dessen Durchsetzung als maßgeblicher modus operandi wissenschaftlicher Wissensgenerierung, geriet das, was zuvor lange den Reiz und die Wirkkraft der Topik ausgemacht hatte, in Misskredit: ihre Ambivalenz zwischen logischem System und materialorientiertem Inventar. Dem Ideal zweifelfreien Wissens konnte eine „gleichermaßen strukturierte und höchst flexible Assoziationslehre, […] die im Zweifel die Fülle des Assoziierbaren der Stringenz vorzieht“ 43 und „weder dem Phantom einer absoluten Gewißheit nachjagt, noch an die Möglichkeit eines absoluten Zweifels glaubt“,44 nicht mehr Genüge tun. Auch das Leistungsmoment der „alten Topik“, das Vico in seiner Scienza Nuova von 1725 noch heraus stellte und der „neuen“ cartesianischen Methode zur Beibehaltung anempfahl, fand keinen Anklang mehr: mit ihr nämlich über eine Technik dafür zu verfügen, die eigenen Forschungsfragen aus dem „allgemei-

39 Bornscheuer, Topik, S. 30. 40 Vgl. die bereits zitierte umfangreiche Studie zur Topica universalis von Wilhelm SchmidtBiggemann von 1983. 41 V. Graevenitz, Mythos, S. 57. 42 „Das iudicium, den zweiten Teil von Ciceros Topikmodell, hat Ramus dadurch besonders akzentuiert, daß er es in sich unterteilte und ihm durch diese Doppelung mehr Gewicht gegenüber der inventio gab. Ramus unterschied ein iudicium, ‚Kritik‘ im engeren Sinne, eine Logik, die den Status der einzelnen ‚Urteile‘ sicherte, und eine ‚Methode‘, die den ‚systematischen Sinn‘ eines jeden Urteils in einer ‚lückenlosen Deduktion‘ verankerte, ‚in der jedes Glied mindestens dichotomisch aufgeteilt (war), bis zur letzten Einzelerkenntnis, die damit vollständig definiert [war]‘“ (v. Graevenitz, Mythos, S. 70, mit Zitaten aus Schmidt-Biggemann, Topica universalis, S. 47; Hervorh. bereits bei Schmidt-Biggemann). 43 Vgl. v. Graevenitz, Mythos, S. 56. 44 Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962, S. 230.

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nen gesellschaftlichen Fragehorizont und Probleminteresse heraus“ zu entwickeln.45 So wurde die Topik als „Methodenlehre des Forschens und Findens“ 46 in ihren beiden Wirkbereichen, der Text- wie der Wissensproduktion, desavouiert – zum einen von Seiten der neu entstandenen Ästhetik zum anderen von Seiten der ‚neuen Wissenschaft‘, die beide für ihre Hervorbringungen Absolutheit im Sinne einer Autonomie von allgemein-gesellschaftlichen Argumentationszusammenhängen postulierten. In der Folge verschwand die Topik nahezu vollständig als Gegenstand oder auch nur Bezugspunkt sowohl wissenschaftsals auch text- und dichtungstheoretischer Reflexionen.47 Nur an wenigen Stellen begegnen im 19. Jahrhundert noch explizite Bezugnahmen auf topische Termini, die von einem umfänglicheren Verständnis der topischen techné zeugen. Goethe etwa reflektiert seine Lektüre einer Napoleon-Biographie von Walter Scott aus dem Jahr 1827 als topisches Verfahren:48 Die Rezeption der einzelnen Kapitel gleiche dem Abgehen von topoi, die ihn dazu veranlassten, jeweils eigene wie angelesene Erfahrungen mit der Zeit der französischen Revolution zu assoziieren. Im Ergebnis stehe ihm jetzt die Zeit seit 1789 „ganz klar, deutlich und zusammenhängend“ vor Augen, auch wenn er kaum noch zu unterscheiden wisse, was im Text gestanden bzw. was seine eigenen Erlebnisse ausgemacht habe.49 Dabei erfasst Goethe nicht nur sehr genau die Etymologie des Wortes ‚Kapitel‘ – es geht zurück auf lat. ‚caput‘: Kopf/Titel – das traditionell als Synonym zu topos verwendet wurde, sondern auch die Funktion von topoi als Schaltstellen zwischen kollektiver und individueller Erfahrung. Ebenfalls um historische Erkenntnis bemüht, doch nun im Sinne einer disziplinären Methode aktualisiert der Geschichtswissenschaftler Johann Gustav Droysen das topische Katalog-Verfahren für seine Forschungen: Die Gliederung seiner Historik, die in verschiedenen Fassungen zwischen 1857 und 1882 erschien, folgt erkennbar den Arbeitsschritten der ars rhetorica und bezeugt mit seinem Konzept „sittlicher Mächte“ als „Gesichtspunkte“ historischer Forschung50 seine Kenntnis des topischen loci-Verfahrens wie dessen kulturheuristischer Funktion. Zunächst unter dem Titel „Apodeixis“, in späteren Fassungen unter dem der „Topik“ schreibt

45 Zitat aus Bornscheuer, Topik, S. 25. Vgl. zu Vico auch Viehweg, Topik und Jurisprudenz, S. 15–18, sowie v. Graevenitz, Mythos, S. 65 ff. 46 Bornscheuer, Topik, S. 19, Hervorh. im Original. 47 Vgl. Todorow, Topik und Pressediskurs, S. 394. 48 Vgl. Goldmann, Topos, S. 660 f. 49 Zitiert nach Goldmann, Topos, S. 660. 50 Zitiert nach Hebekus, Klios Medien, 87 ff., hier S. 96, der eine ausführliche Darstellung von Droysens eigenwilliger Topik-Adaptation für die Geschichtsschreibung geliefert hat.

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er: Die „sittlichen Mächte“ bzw. „Ideen“, womit überzeitliche Konzepte wie das der Familie, des Volks, des Heiligen, des Rechts oder des Staats gemeint sind, dürfe der Historiker im Sinne einer „Fragenreihe“ auf „den je vorliegenden Tatbestand anwenden“.51 Das Aggregat dieser im Fragenkatalog gebündelten Gesichtspunkte versteht Droysen zugleich als „Substrat der eigenen Gegenwart, der eigenen kulturellen Formation“,52 das die historische Erkenntnis immer mitbestimme und deshalb als Interpretament reflektiert eingesetzt werden müsse. Schließlich vermitteln in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch wenige, kaum mehr allgemein rezipierte Lehrbücher von Altphilologen hauptsächlich schulrhetorisches Wissen über die Topik, so Richard Volkmanns Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht von 1872.53 Weit häufiger hat die ars topica als unreflektiertes, nicht mehr als topisch erkanntes methodisches Vorgehen die Praxis der Wissens- wie Textproduktion nach dem viel zitierten ‚Tod der Rhetorik um 1800‘54 noch mitbestimmt. Von der Persistenz topischer Fragenkataloge für das Aufsatztraining im Schulunterricht war bereits die Rede. Sie ist im Zusammenhang mit der „Pädagogisierung der Rhetorik“ 55 im 19. Jahrhundert zu sehen, die sich am veränderten gymnasialen curriculum ablesen lässt. Dieses ersetzt die Vermittlung rhetorischer Theorie und Regeln als Unterrichtsinhalt und den rhetorisch aufbereiteten Lehrvortrag als Unterrichtsmethode durch „die pädagogische Einübung ins Sprechen [und Schreiben, Ch. F.] der (National-)Sprache“.56 Diese Einübung geschieht allerdings „methodisch“, und das heißt immer noch rhetorisch-topisch „geleitet[ ]“.57 Auch der Umgang mit den in Schule und Universität vermittelten Bildungsgütern erinnert gerade wieder im „19. Jahrhundert des Sammelns“ 58 an die alte humanistisch-topische, auf Wiederverwendbarkeit in der öffentlichen Kommunikation gerichtete Praxis des Lesens und Lernens:

51 Alle Zitate nach Hebekus, Klios Medien, S. 96. 52 Zitiert nach Hebekus, Klios Medien, S. 96. 53 Die Erstausgabe ist 1872 bei H. Ebeling & C. Plahn in Berlin erschienen, eine zweite, überarbeitete Auflage 1885 im B. G. Teubner Verlag in Leipzig. 54 Stellvertretend für viele kritische Relativierungen dieser Diagnose vgl. Elias Torra, Rhetorik. In: Miltos Pechlivanos et al. (Hg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1995, S. 97–111, hier S. 104 ff. 55 Ingrid Lohmann, Bildung zur Beredsamkeit im Vormärz. Über die Transformation der Rhetorik durch öffentliche Allgemeinbildung. In: Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding (Hg.), Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 12: Rhetorik im 19. Jahrhundert, hg. v. Joachim Dyck, Tübingen 1993, S. 22–30, hier S. 23. 56 Vgl. Lohmann, Beredsamkeit, S. 30. 57 Vgl. Lohmann, Beredsamkeit, S. 30. 58 Geulen, Stellen-Lese. In: Modern Language Notes 116 (2001), S. 475–501, hier S. 492.

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Die große Zeit der Stellenmanie ist das 19. Jahrhundert mit seinen Katalogen, Enzyklopädien und Lesebüchern, in denen die literarischen Perlen zirkulieren, bis sich in Büchmanns Geflügelten Worten (1864) der bis heute gültige Zitatenvorrat des Bildungsbürgertums kanonisiert.59

Schließlich orientiert sich implizit auch die Präsentation des heterogenen, weil zunehmend disziplinär ausdifferenzierten Wissens der Zeit in der Bildungspresse des 19. Jahrhunderts noch oder wieder stark an traditionell topischen Verfahren der Wissensordnung.60 Charakteristisch für die journalistische „Wirklichkeitszubereitung“ 61 zu Beginn des Jahrhunderts ist etwa die Stückelung ‚der Welt‘, die Aufteilung von Vorgängen und Orten „in Tagesphrasierungen [und] topographische Stichwörter“ sowie die „fast ornamentale Wiederverknüpfung des Zerstückelten in der Anordnung dieser Rubriken nach Schemata des ‚lay outs‘ [sic]“ oder nach den Verknüpfungsregeln des topischen Vergleichs: Wie zu Zeiten der Humanisten wird die topische Vergleichs- und Verknüpfungskunst, das Auffindenkönnen eines medius terminus dazu benützt, um die Masse neuer historischer und politischer Daten zu reduzieren auf ein scheinbar geordnetes System von Ereignisgattungen.62

Ganz konkret bewältigt etwa die Deutsche Zeitung die Einteilung und übersichtliche Anordnung der Informationsfülle mittels „topischer Indices“, die stark an die loci der Erasmischen Topik erinnern.63 Die spätere Umbenennung in Na59 Geulen, Stellen-Lese, S. 492. 60 V. Graevenitz, Mythos, S. 187 ff. 61 Zu allen Zitaten in diesem Satz vgl. v. Graevenitz, Mythos, S. 187. 62 V. Graevenitz, Mythos, S. 190. Konkret heißt das: „Nicht systematische Kriterien, sondern die Vergleiche mit zu Prototypen, zu Exempelfällen erhobenen Ereignissen schaffen ein Geflecht topischer genera [topoi, Ch. F.] unter die sich andere, nicht weniger dramatische oder folgenreiche Ereignisse als species subsumieren lassen. ‚Neues‘ ist dann in der Tat unter der Sonne nicht mehr denkbar, denn Geschichte setzt sich nur in der Weise fort, daß die Ereignisund Exempelgenera der alten Historie sich mit species der neueren Vorkommnisse anreichern.“ (V. Graevenitz, Mythos, S. 190). 63 „Am Ende jeden Quartals veröffentlichte sie vier Register. Das erste bot ‚eine Inhaltsangabe der erzählten Begebenheiten unter dem Namen der Länder‘, das zweite, ‚moralische‘ Register ‚sollte zur Wiederholung der Urteile dienen, die die Leser beim Lesen der Zeitung selbst im Stillen gefällt hatten,‘ […]. Das dritte Register ‚faßte die guten Lehren, die in den Handlungen enthalten (waren) in Form von Sprichwörtern oder Merksätzen zusammen‘, und im Anschluß an diese loci communes des gesunden Menschenverstandes gab das vierte Register eine ‚Übersicht der erklärten Wörter‘ […]. Die Parallele zur Erasmischen Topik ist, so groß der zeitliche Abstand sein mag, unabweisbar. Auch in den Adagia war das bunte Gewimmel der Sentenzen und Sprichwörter nach loci sortiert worden und schon solche Zuweisungen hatten immer ein moralisches Urteil enthalten. Die Masse der so gebändigten, stets isolierten Sätze der Überlieferung hatten einen humanen sensus communis sowohl in antiquarischem wie in juridischdialektischem Sinne repräsentiert.“ (V. Graevenitz, Mythos, S. 197).

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tionalzeitung der Deutschen verrät, dass sie damit ganz ähnlich wie Erasmus’ Adagia die Statuierung eines sensus communis verfolgt, der nicht einfach abzubilden, sondern mit zu konstituieren ist. Gerade auch die seit Mitte des Jahrhunderts extrem auflagenstarken ‚Illustrierten Zeitschriften‘ und ‚Familienblätter‘, wie etwa Die Gartenlaube, stilisieren sich zu „Gedächtnisbücher[n]“ der Nation und folgen bei der Auswahl und visuell-textuellen Anordnung der präsentierten Wissensbestände erkennbar topisch-mnemotechnischen Verfahren.64 Für die vorliegende Untersuchung sind das wichtige Befunde angesichts der engen institutionellen Vernetzung realistischer Literatur und Literaturkritik mit dem Massenmedium ‚Familienblatt‘: Alle namhaften Autoren aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veröffentlichten ihre Werke im Vorabdruck in entsprechenden Organen,65 um sich zusätzliche Einnahmen sowie Popularisierungs- und Prestigegewinne zu sichern. Weiter gehend als der gymnasiale Unterricht kann deshalb die Bildungspresse als wesentliche Vermittlungsinstitution eines residualen Wissens über topische Theoreme und Verfahren gelten, dessen Aktualisierung diese Studie für Fontanes Cécile und Raabes Akten nachweisen will – ein diskurshistorischer Zusammenhang auf den zurückzukommen ist, zumal ihn Fontane in seinem Cécile-Text selbst ausstellt (vgl. Kapitel III.2.3).

2 Topik als kulturelle Heuristik und kulturelles Archiv Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass sich die Wiederentdeckung der Topik als Begriff und ihre Aktualisierung als kulturheuristisches Verfahren in den Textwissenschaften des 20. Jahrhunderts just einem Literaturwissenschaftler verdankt. Es war der Romanist Ernst Robert Curtius, der mit seinem Band Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von 1948 den toposBegriff wieder einem größeren wissenschaftlichen Publikum bekannt gemacht hat, auch über die Literaturwissenschaft hinaus.66 Curtius’ komparatistische 64 Vgl. v. Graevenitz, Memoria und Realismus. Erzählende Literatur in der deutschen ‚Bildungspresse‘ des 19. Jahrhunderts. In: Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, unter Mitwirkung v. Reinhart Herzog, München 1993, S. 283– 304, hier S. 288. 65 Dazu v. Graevenitz, Memoria, sowie Helmstetter, Geburt des Realismus, und Manuela Günter, Die Medien des Realismus. In: Begemann (Hg.), Realismus, S. 45–61. 66 Vgl. etwa die Aufnahme des topos- oder Topik-Begriffs im expliziten Anschluss an Curtius durch den Philosophen Otto Pöggeler und den Rechtsphilosophen und -soziologen Theodor Viehweg, die den Begriff für ihr jeweiliges Fach neuerlich fruchtbar zu machen suchen. Vgl. Otto Pöggeler, Topik und Philosophie. In: Breuer, Schanze (Hg.), Topik, S. 95–123. Und: Theodor Viehweg, Zur Topik. Insbesondere auf juristischem Gebiete. In: Breuer, Schanze (Hg.), Topik, S. 65–69; wie auch Viehweg, Topik und Jurisprudenz.

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Arbeiten zeugen einerseits von einem eher ‚materialen‘ Verständnis von topoi: Er fasst darunter unterschiedlichste, seit der Spätantike stets wiederkehrende Literaturbausteine (‚literarische Klischees‘) wie Trostformeln, die der antiken rhetorischen „Trostrede“ entstammen, typisch „poetische“ Eröffnungs- und Schlussformeln oder Motive („verkehrte Welt“, „puer senex“) und auch Metaphern wie Schifffahrt und Schauspiel.67 Andererseits kommt diesen materialen topoi im Zuge seines methodischen Vorgehens, das er als „Toposforschung“ bzw. „historische Topik“ bezeichnet, die Funktion heuristischer Suchformeln zu, die das Studium der literarischen Texte orientieren und systematisieren.68 Unter Topik versteht er demnach in erster Linie ein heuristisches Verfahren der Literaturgeschichtsschreibung, das der bis dato autor- und werkzentrierten Literaturgeschichte insofern zuwider läuft, als es eine große Zahl von Texten bekannter wie unbekannter Autoren auf Rekurrenzen hin absucht, auf diese Weise die fraglichen topoi eruiert und mit ihnen eine „elastisch[e] und modifizierbar[e]“ „Systematik“ 69 für das weitere literaturhistorische Studium gewinnt. Während viele ‚Toposforscher‘ im Gefolge von Curtius eher kleinteilige Motivgeschichte betreiben, erhebt er selbst mit seinem Aby Warburg gewidmeten Kompendium den Anspruch, gewissermaßen parallel zu dessen im MnemosyneAtlas versammelten „Pathosformeln“ 70„literarische Konstanten“ 71 zu sammeln und mit ihrer Zusammenstellung die unter der „Schicht […] des individuellen Erfindens“ 72 auffindbaren „unpersönlichen Stilelemente[ ]“ und „Strukturzusammenhänge“ der Wortkunst abzubilden. Ein Topos ist etwas Anonymes. Er fließt dem Autor in die Feder als literarische Reminiszenz. Er hat eine zeitliche und räumliche Allgegenwart wie ein bildnerisches Motiv. Die

67 Curtius, Europäische Literatur, S. 90 f., S. 95 ff., S. 104 ff. und S. 138 ff. Zu den Anregungen, die Curtius durch den Berliner Latinisten Eduard Norden und „das Bonner Philologische Seminar unter Usener und Bücheler“ für sein Verständnis von topos und Topik erhielt, vgl. Stefan Goldmann, Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 90 (1996), S. 134–149, hier S. 148. 68 Vgl. seinen kurzen Text „Topik als Heuristik“. In: Max L. Baeumer (Hg.), Toposforschung, Darmstadt 1973, S. 19–21. 69 Curtius, Heuristik, S. 19. 70 Warburg versteht unter „Pathosformel“ die formelhaft wiederkehrende Darstellung von mimischen und gestischen Gefühlsausdrücken in Bildern. Vgl. Aby Warburg, Dürer und die italienische Antike. In: Ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. v. Dieter Wuttke in Verbindung mit Carl Georg Heise, Baden-Baden 1980, S. 126. Neben der Widmung stellt Curtius diese Parallele dadurch her, dass er seine Form der Toposforschung mit der „Kunstgeschichte ohne Namen“ vergleicht, vgl. Curtius, Zum Begriff einer historischen Topik. In: Peter Jehn (Hg.), Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1972, S. 3–19, hier S. 9. 71 Vgl. Curtius, Historische Topik, S. 13. 72 Alle Zitate in diesem Satz entstammen Curtius, Historische Topik, S. 9.

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Toposforschung gleicht der ‚Kunstgeschichte ohne Namen‘ im Gegensatz zur Geschichte der einzelnen Meister.73

Über das „Gesamtbild der ma. Literatur“ 74 hinaus möchte er auf diese Weise gar die „Einheit“ „der westlichen Kultur“ 75 erweisen. Curtius will also auf eine überzeitlich-synchrone topoi-Struktur bzw. kulturelle (Literatur-)Semantik hinaus; kurz: auf das topoi-Archiv der europäischen Literatur. Wie schon Warburg intendiert er damit laut Uwe Hebekus […] eine Quadratur des Kreises: die Reetablierung eines ahistorischen sensus communis unter der Bedingung der prinzipiellen Historisierung des europäischen Kultursystems durch den Historismus des 19. Jahrhunderts.76

Gleichwohl verspricht sich Curtius ausgehend von dieser europäischen Literatur-Topik77 auch präzise kulturhistorische Einsichten: Insofern topoi „nicht starre, unveränderliche Schemata“ seien, sondern ihre „Bedeutung und Tragweite […] mit ihrer historischen Umwelt“ wechseln, könne man „an der Geschichte rhetorischer Formeln ein Stück Kulturgeschichte ablesen“.78 Das, was Curtius eher praktisch ausschöpft, denn theoretisch reflektiert, nämlich das Potential der ‚Topik als Heuristik‘, kulturelle Zusammenhänge zu erschließen und zu modellieren, hat Lothar Bornscheuer 1976 in seiner einschlägigen Studie Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft heraus gearbeitet. Ausgehend von den Topik-Entwürfen Aristoteles’ und Ciceros zeigt er auf, dass die kritisierte Ambivalenz der Topik zwischen System und

73 Curtius, Historische Topik, S. 9. Zu Curtius’ Bezugnahme auf Warburg vgl. auch Konrad Hoffmann, Was heißt ‚Bildtopos‘? In: Schirren, Ueding (Hg.), Topik und Rhetorik, S. 237–242, hier S. 237. 74 Curtius, Historische Topik, S. 9. 75 Curtius, Europäische Literatur, S. 9. 76 Vgl. Hebekus, Topik/Inventio, S. 85. Vgl. auch Geulens polemischen Curtius-Kommentar in „Stellen-Lese“, S. 479: „Tritt die Geschichte auf der Stelle, hat die Toposforschung freie Bahn.“ Allerdings lassen sich auch in maßgeblichen Texten der historistischen Historie, die sich dem Forschungstenor gemäß dem „Kollektivsingular Geschichte“ verschrieben hätten, Repräsentationsformen von Geschichte nachweisen, die durchaus als topische zu beschreiben sind und eine „Retopikalisierung historischen Wissens“ betreiben. Vgl. Hebekus, Geschichte als Ort und Figur, Titelwendung und S. 156 ff., sowie ders., Klios Medien, S. 43 ff. 77 Für seine Sammlung, also das aus seiner „historischen Topik“ als Methode resultierende Archiv, verwendet Curtius den Topik-Begriff allerdings nicht selbst. 78 Curtius, Historische Topik, S. 11; dort heißt es noch genauer: „Im Zusammenhang mit großen geschichtlichen Veränderungen, wie der Christianisierung und der Germanisierung der alten Welt, entstehen auch neue Topoi oder bilden sich alte um.“

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Inventar als bewusst in Kauf genommene „methodologische Unschärfe“ 79 zu deuten ist. Inwiefern diese für die Topik als techné vorwissenschaftlicher Problemreflexion im Rahmen von Rhetorik und Dialektik, also öffentlicher Kommunikation und Urteilsbildung, von Bedeutung ist, verdeutliche der erste programmatische Satz der aristotelischen Topik: Das Ziel dieser Abhandlung ist, ein Verfahren zu finden, mit dessen Hilfe wir [als Dialektiker bzw. Rhetoriker, Ch. F.] fähig sein werden, auf der Grundlage der herrschenden Meinungen über jede vorgelegte Zweifelsfrage zu einem Urteil zu kommen, und durch das wir uns in keine Widersprüche verwickeln werden, wenn wir selbst einer Argumentation standhalten wollen.80

Als Hilfsverfahren von Dialektik und Rhetorik, die über verschiedenste alltägliche Zweifelsfragen zu einem „Urteil“ kommen müssen, hat die Topik die „Grundlage der herrschenden Meinungen“, die Vor-Urteils-Struktur der endoxa zu eruieren. Deshalb hat sie mit einer doppelten „unübersehbare[n] Fülle“ 81 zu tun, mit derjenigen „aller vorwissenschaftlichen Denk- und Entscheidungsprobleme“ einerseits und mit den endoxa im Sinne „aller allgemein verständlichen Hilfsmittel zur Lösung dieser Probleme“ andererseits. Das topische Verfahren soll einen methodischen Umgang mit der Fülle des Heterogenen einüben, der sich Flexibilität gegenüber den konkreten alltäglichen Problemfragen und den möglichen konkreten Lösungsansätzen für diese bewahrt.82 In der Konsequenz ist auch der topos-Begriff bereits bei den antiken Gewährsmännern wie in der späteren Topikgeschichte nicht einheitlich zu fassen, denn was als „allgemein verständliches Hilfsmittel“ gelten kann, ist synchron und diachron durchaus unterschiedlich gesehen worden: Der Verfügungsraum an topischen Argumentationsmitteln […] umfaßt den gesamten Bereich von Sprache, Sitte und gesellschaftlichem Selbstverständnis, des Meinens und des herrschenden Bildungswissens, sämtlicher bewussten und unbewussten Kommunikations- und Verhaltensnormen. Jeder allgemeine oder konkrete, formale oder inhaltliche Gesichtspunkt, der in einem jeweils vorliegenden Problemzusammenhang eine neue und wichtige Perspektive eröffnet, darf als Topos gelten.83

79 Bornscheuer, Topik, S. 43; Hervorh. im Original. 80 Aristoteles, Topik, zitiert nach Bornscheuer, Topik, S. 26; Hervorh. Ch. F. 81 Alle Zitate in diesem Satz stammen aus Bornscheuer, Topik, S. 41. 82 „Topische Schulung beabsichtigt, das Argumentationsarsenal gerade in seiner disparaten Fülle verfügbar zu machen und für jede Gelegenheit offenzuhalten.“ (Bornscheuer, Topik, S. 53). Entsprechend deutet auch Foucault die antiken hypomnêmata als Einübungen in „eine geregelte und willentliche Form des Umgangs mit Disparatem (und soll dies auch bleiben)“; vgl. Foucault, Schreiben, S. 510. 83 Bornscheuer, Topik, S. 44 f.

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Den einen Pol dieser Bandbreite bilden abstrakt-logische Gesichtspunkte wie etwa die „kommunen Urteilsstrukturen“, die Aristoteles und, in seiner Nachfolge, mittelalterliche Logiker sammeln.84 Letztere suchten den aristotelischen Ansatz noch strenger zu logifizieren, denn auch die aristotelischen topoi stellten eine heterogene Mischung aus „[e]rkenntnis- und sprachlogische[n]“ wie „semasiologischen Grundfragen“ dar.85 Den anderen Pol bilden eher inhaltlich bestimmte Traditionselemente, so die ciceronianischen Gemeinplätze (loci communes) und die Exempla und Sentenzen, die etwa Erasmus in seinen Adagia anführt. Im einen Fall sind topoi eher „logische[ ] Systemstellen“ in einer systemlogisch orientierten „divisio“ – dann tendiert die Topik zur Logik.86 Im anderen Fall sind die topoi eher „inhaltliche Sammelstellen“ in einer „materialorientierten enumeratio“ – dann tendiert die Topik zum „Vorratshaus der Überlieferung“. Schon Barthes hat beide topos-Begriffe und damit beide Spielarten der Topik in einen Zusammenhang gestellt: Orte sind im Prinzip Leerformen; aber diese Formen haben sehr rasch die Tendenz aufgewiesen, sich ständig auf dieselbe Weise zu füllen, zunächst zufällige und in der Folge wiederholte, verdinglichte Inhalte zu transportieren. Die Topik wurde zu einem Speicher von Stereotypen, von eingebürgerten Themen, von ausgefüllten ‚Stücken‘, die nahezu zwangsläufig in die Behandlung jedes Gegenstandes eingebracht werden. Daher der historische Doppelsinn des Ausdrucks Gemeinplätze (topoi koinoi, loci communi): 1. Sie sind Leerformen, die allen Argumenten gemein sind (je leerer sie sind, um so verbreiteter sind sie); 2. sind sie Stereotypen, abgedroschene Phrasen.87

Den Zusammenhang zwischen den beiden topos-Begriffen expliziert Bornscheuer mit Hinweis auf die soziale Dimension der Topik als einen kulturfunktionalen: Anders als die philosophiegeschichtliche Aristotelesforschung argumentiere, sei die Funktion von topoi schon bei Aristoteles nicht allein erkenntnistheoretisch durch ihre Bestimmung als ‚wahrscheinliche‘ (vs. ‚wah-

84 Bornscheuer listet die folgenden Beispiele aristotelischer topoi auf: „Erkenntnis- und sprachlogische Überlegungen verschmelzen dabei mit den semasiologischen Grundfragen nach der ‚Identität‘ des Gemeinten, nach ‚Vieldeutigkeit‘, Bedeutungs-‚Differenz‘ und Bedeutungs-‚Verwandtschaft‘. Die drei letzten Aspekte bezeichnet Aristoteles zusammen mit der grundsätzlichen Aufgabe, Vordersätze aufzustellen – d. h. hier: thesenhafte Ausgangsprädikationen zu treffen –, als die Hauptmittel (organa) der Argumentationspraxis; an anderer Stelle werden die Aspekte Bedeutungs-‚Verschiebung‘, ‚Entgegengesetztes‘ und ‚Verwandtes‘ als die ‚brauchbarsten und allgemeinen Topoi‘ deklariert.“ (Bornscheuer, Topik, S. 32). 85 Bornscheuer, Topik, S. 32 f. 86 Alle Kurzzitate in diesem wie im folgenden Satz entstammen v. Graevenitz, Mythos, S. 57 und 56. 87 Barthes, Alte Rhetorik, S. 69; alle Hervorh. im Original.

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re‘) Grundannahmen zu fassen.88 Zentrale Norm topischen Denkens und Argumentierens sei vielmehr die soziokulturell zu deutende ‚allgemeine Verstehund Denkbarkeit‘: […] ‚allgemein‘ jetzt verstanden als Teilhabe an einer Kultur und deren Überlieferungen, an einem Traditionsschatz, an einem von den Inhalten und den Urteilsstrukturen der kulturellen Überlieferung bestimmten sensus communis.89

Damit hat Bornscheuer eine übergreifende funktionale Perspektive auf die heterogenen topos-Begriffe gewonnen, die den lange geführten Streit um den ‚richtigen‘ topos-Beriff obsolet macht. ‚Kultur‘ muss dabei nicht gleich, wie bei Curtius, großräumig mit dem europäischen Abendland identifiziert werden. Wichtig ist vielmehr, dass das allgemein Verstehbare, das ‚Wahr-Scheinliche‘ aus dem Blickwinkel der Topik immer „ein Wahrscheinliches für eine Gruppe von Menschen“,90 für ein bestimmtes „sprachlich-soziale[s] Kommunikationsgefüge[ ]“ 91 ist. Damit kann der gesamt-gesellschaftliche, aber auch, und sogar typischerweise, der begrenzte Kommunikationszusammenhang einer gesellschaftlichen Untergruppe gemeint sein, denn in der Regel kommt dem sozial Wahrscheinlichen zusätzlich ein „legitimatorisches Element“ 92 zu: Topik – verstanden als Inbegriff sämtlicher Sprach- und Argumentationsmuster, d. h. als Fundament der gesamten politischen, juristischen, literarischen und sonstigen ‚öffentlichen‘ Kommunikationspraxis […] – in diesem weiten Sinne ist Topik bis zur Entwicklung der neuzeitlichen bürgerlich-demokratischen Industriegesellschaft wesentlich die Substanz eines aristokratisch-elitären Bildungshabitus. Die Verfügung über das offizielle topische Instrumentarium ist ein unverzichtbarer Legitimationsausweis für die Zugehörigkeit zur gesellschaftlich führenden Klasse bzw. für den sozialen Aufstiegswillen der Mittelschichten.93

Der topische sensus communis zielt in erster Linie auf die „‚gesellschaftliche Wahrheit‘ nach Maßgabe der jeweils historisch-konkreten Bildungs- und Herrschaftselite“ 94 und lässt sich von daher dem Konzept des „Habitus“ annähern, das von dem Mediävisten Erwin Panofsky geprägt und von dem Ethnologen und

88 89 90 91 92 In: 93 94

Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 38 f. V. Graevenitz, Mythos, S. 56; Hervorh. im Original. Pöggeler, Topik und Philosophie, S. 98. Bornscheuer, Topik, S. 105. Vgl. Hubert Knoblauch, Topik und Soziologie. Von der sozialen zur kommunikativen Topik. Schirren, Ueding (Hg.), Topik und Rhetorik, S. 651–667, hier S. 652. Bornscheuer, Topik, S. 50. Bornscheuer, Topik, S. 49.

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Soziologen Pierre Bourdieu aufgegriffen wurde.95 Mit der Rede vom „Fundament“ schließt Bornscheuer seine soziokulturelle Deutung des topischen sensus communis an die traditionelle Vorstellung von der Topik als „Geburtshelferin des Latenten“ 96 an, konzipiert das Verhältnis von individueller Diskursproduktion und (sub-)kulturellem sensus communis als eines von Oberfläche und Tiefe,97 andernorts aufgenommen als parole und langue einer „Art generativer Grammatik“.98 Rekurriert die individuelle Textproduktion (parole) auf Elemente dieses kulturellen (bzw. subkulturellen) sensus communis (langue), indem sie bewusst oder unbewusst dessen topoi verwendet, hat sie Teil an demselben kulturellen (bzw. subkulturellen) Zusammenhang und bekräftigt und variiert ihn ihrerseits. Die Topik vermittelt gewissermaßen langue-Kompetenz, so dass der Rekurs der parole auf sie und damit die Teilhabe am angestrebten Bildungshabitus gelingt. Topoi sind für Bornscheuer demnach: […] weder leere Gemeinplätze noch ontologische Universalien noch anthropologische Naturkonstanten, sondern durch Sozialisierungs-, Bildungs- und Kommunikationsprozesse vermittelte und diese Prozesse ihrerseits rückwirkend steuernde Grundelemente der gesellschaftlich-ideologischen Selbstkonstitution.99

Für die Konstitution des kulturellen Zusammenhangs ist es aus Sicht der Topik allerdings unerheblich, ob die einzelnen Verwendungen dieser topischen

95 Seine Bezugnahme auf Panofsky und v. a. Bourdieu macht Bornscheuer in seinem TopikBuch, S. 12, Anm. 5, und S. 96 f., explizit. Bourdieu seinerseits rekurriert wiederholt auf topische Termini, etwa wenn er die selbstverständlich gewordene „kulturelle Ordnung“ einer Gruppe, ihr „kulturell Sakrale[s]“, als „doxa“ bezeichnet – nicht zu verwechseln mit „Orthodoxie“ oder „Dogma“, zu denen die doxa nach Bourdieu typischerweise erst in Krisenzeiten erhoben werden – oder wenn er konstatiert, dass die „Gegensatzpaare“, die ihmzufolge soziale „Felder“ strukturieren, als „Matrix von Gemeinplätzen, von Topiken fungieren“. Vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 1999, S. 298 (Hervorh. im Original) und S. 296, Anm. 18. 96 Vgl. Barthes, Alte Rhetorik, S. 69; Hervorh. im Original. 97 Vgl. Ciceros variantenreiche Ausprägungen der topischen Ortsmetaphorik: Wie bereits erwähnt, hatte er die Topik als „Jagd“ auf verborgene Argumentationsquellen bezeichnet, aus denen die Argumente für die konkrete Rede herauszuziehen wären. Vgl. auch Curtius, der überzeugt ist, mit Hilfe der Topik die „Kellerräume – und Fundamente! – der europäischen Literatur“ zu erschließen (Curtius, Europäische Literatur, S. 89). Entsprechend spricht Bornscheuer von der „Tiefenstruktur eines je bestimmten gesellschaftsgeschichtlichen Bildungshabitus“ (vgl. Bornscheuer, Topik, S. 19). 98 Vgl. Hebekus, Topik/Inventio, S. 85. 99 Bornscheuer, Topik, S. 108. Vgl. auch Saftien, der sie für seine „Historische Verhaltensforschung“ aufgreift und als „verbale Kristallisationspunkte eines interaktiven Verhaltens“ deutet (vgl. ders. Raumwahrnehmung, S. 385).

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Grundelemente zu identischen Deutungen und Argumentationen führen oder nicht. Entscheidend ist, dass innerhalb der überlieferten topischen Kategorien gedeutet wird.100 Die normative Kodifizierung, die die Topik beschreibt, ist von daher nicht per se zu identifizieren mit jener der „neuzeitlichen Sprachgesellschaften und -akademien im Dienst der Höfe und Staatskanzleien“ oder jener, die „die ideologische Parteihochschule des 20. Jahrhunderts“ 101 intendierte. Das erklärt sich aus der Herkunft der Topik aus der antiken Agonistik: Vor Gericht und in der disputatio gilt dezidiert das in utramque partem-Prinzip,102 das ausdrücklich das gegensätzliche Ausdeuten-Können ein und desselben Gesichtspunkts empfiehlt. Entsprechend wird auch der kulturelle Zusammenhang als Feld agonaler Argumentation verstanden.103 „Anders gesagt: Topik schreibt nicht eine Deutung der kulturellen Formation fest, sondern etabliert die kulturelle Formation als Deutungsgemeinschaft.“ 104 Selbst im Falle von materialen topoi ist der topisch eruierte sensus communis nicht per se mit Ideologie gleichzusetzen, ist die kulturelle Einheit, die sich in der Bezugnahme auf ihn konstituiert, keine semantisch eindeutig bestimmbare. Gleichwohl können sich die konkreten Bezugnahmen auf den jeweiligen topischen sensus communis darin

100 V. Graevenitz führt dies am Beispiel der topischen Sammlungen des römischen Mythographen Varro aus. Dieser trägt eine Fülle mythischer Figuren, deren vielfach variierte Geschichten und Deutungsmöglichkeiten zusammen. Dabei stellen Widersprüche zwischen diesen Deutungen sein ‚System‘ der römischen Überlieferung ersichtlich nicht infrage, denn: „Gleichgültig, wie man im einzelnen deutet, so lange man innerhalb der überlieferten Kategorien deutet, verwirklicht man die kulturell-theologische Einheit des ‚Römischen‘.“ (V. Graevenitz, Mythos, S. 54). 101 Beide Zitate entstammen Bornscheuer, Topik, S. 52. 102 Bornscheuer, Topik, S. 43; Hervorh. Ch. F. 103 Ganz ähnlich konkretisiert sich nach Bourdieu der „Habitus“ einer kulturellen Formation in einem „Feld“ als dem Bereich seiner Objektivierungen (z. B. Institutionalisierungen, Räume, Anlässe, Werke), das von agonaler Dynamik geprägt ist (vgl. Bourdieu, Regeln der Kunst, S. 285 und S. 288). Das „Feld der Kulturproduktion [ist] Schauplatz von Kämpfen“ um Position und Ansehen (um „symbolisches Kapital“) zwischen den Arrivierten als Inhabern der jeweiligen Definitionsmacht des Felds und den Newcomern als ihren Herausforderern (vgl. Bourdieu, Regeln der Kunst S. 355). 104 Hebekus, Klios Medien, S. 32; Hervorh. Ch. F. Vgl. das Beispiel des name-dropping: Schon das bloße ‚Fallenlassen‘ von Namen kann, ohne dass begleitend Positionen thematisiert werden müssten, ausgrenzend wirken. Vgl. auch Bornscheuers ‚Unschärfe‘-These im Blick auf die Schwierigkeit der Topikforschung, den topos-Begriff eindeutig zu definieren: Diese Unschärfe verdanke sich nicht einfach der Fülle unterschiedlicher historischer Begriffsverwendungen, sondern sei dem für die Topik konstitutiven Kulturverständnis geschuldet. Diesem gemäß lasse sich topos selbst für ein und dieselbe kulturelle Formation nur funktional, nicht inhaltlich definieren. (Bornscheuer, Topik, S. 43 f.).

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unterscheiden, wie stark sie die interne Lizenz zum „agonal-dialektischen“ 105 Argumentieren in Alternativen abbilden, und auch darin, wie offen oder hermetisch sie die Abgrenzung nach außen praktizieren.106 Dass beide – interne Differenzierungslizenz und Grad der Grenzabriegelung nach außen – zusammenhängen und zudem Rückschlüsse auf die jeweilige soziokulturelle Situation erlauben, deutet sich im Unterschied zwischen der aristotelischen Topik und ihrer Wiederaufnahme durch Cicero an, den Bornscheuer herausgearbeitet hat. Im Kontext der „inneraristokratischen Agonistik der griechischen Polisdemokratie und der ihr entwachsenen mußevollen, spielhaften philosophischen Disputation“ 107 kann Aristoteles die Topik als „inventorische[s] […] Organon einer problemorientierten Dialektik“ entwerfen, das „wesentlich auf das sach- und sprachanalytische Forschungs- und Argumentationsinteresse bezogen“ 108 ist. Demgegenüber gründet ihre Weiterentwicklung bei Cicero – seine Hervorhebung der loci communes, d. h. der für jede Redegattung geeigneten ‚großen‘, lebensbedeutsamen Themen („Tugend, Pflichterfüllung, […] Nutzen, Ehre, Schande“ 109), die v. a. zur Erregung von Pathos genutzt werden sollen – in einem starken „politsch-pragmatischen“ Führungs- und „Integrationswillen“ 110 angesichts unsicherer sozio-kultureller Einheiten und Grenzziehungen: [Ciceros] Rhetorikprogramm […] hat seinen historischen Ort in der Krisenzeit der römischen Imperialrepublik des 1. Jahrhunderts v. Chr. […] mit ihrer starken Popularenbewegung, einer unruhigen politisierten Plebs importierter Sklavenmassen und entlassener Heeresveteranen, plebiszitär-militärischen Triumviraten und deren Ausnahmegesetzgebungen.111

Aristoteles braucht sich gewissermaßen nicht um die gesicherten Grenzen der eigenen kulturellen Formation zu kümmern, so Bornscheuers Folgerung, sondern kann der differenzierten internen Problemaufschließung, kann der dialektischen „Sucht des Differenzierens, Uminterpretierens, Korrigierens“ 112 frönen. Als „Technik eines konsequenten ‚Alternativdenkens‘“ dringt die aristotelische

105 Bornscheuer, Topik, S. 59. Zum genaueren Verständnis vgl. das ausführliche Zitat auf S. 21 dieser Arbeit. 106 Vgl. Hebekus’ Rede von der „‚gehegte[n]‘ oder ‚enthegte[n]‘“ Topik (vgl. ders., Klios Medien, S. 234). 107 Bornscheuer, Topik, S. 85. 108 Bornscheuer, Topik, S. 89. 109 Zitiert nach Hebekus, Topik/Inventio, S. 90. 110 Bornscheuer, Topik, S. 86. 111 Bornscheuer, Topik, S. 85 f. 112 Bornscheuer, Topik, S. 60.

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Topik auf „die Erweiterung, Vertiefung, Verfeinerung der bewährten Typik“.113 Cicero hingegen benötigt in der beschriebenen Krisensituation seine „Gemeinplatztopik“ 114 allererst zur Stiftung kulturellen Zusammenhangs, zur deutlichen Markierung von dessen Grenzen. Zwar stellt auch sein topos-Katalog ein Sammelsurium heterogener Gesichtspunkte dar und empfiehlt auch er, mit dessen Hilfe den fraglichen Gegenstand in eine Fülle von benennbaren Sachaspekten (copia rerum et verborum) aufzulösen. Doch wird dank der von ihm präferierten topoi, den loci communes (bzw. quaestiones infinitae, s. o.), die „‚Lektüre‘ des besonderen Falles“ stärker „auf die Ideologeme der Adressaten“ zentriert.115 Zugleich soll die topisch erzeugte copia rerum et verborum vor allem den Eindruck erwecken, mit ihr den Gegenstand selbst zu haben.116 Im Dienst einer „politischpraktischen Psychagogik“ befördert Ciceros „Gemeinplatztopik“ eher die vereindeutigende Subsumierung des konkreten Problemfalls unter die loci communes, die so in ihrer kulturellen Bedeutsamkeit bestätigt werden. In beiden Spielarten des Topikgebrauchs allerdings bleibt die „Normativität der Topoi […] durch den dialektischen Reflexionsprozeß nicht unberührt, sie tritt vielmehr – bereichert, modifiziert oder vermindert – am Ende einer Diskussion neu in Erscheinung.“ 117

113 114 115 116 117

Bornscheuer, Topik, S. 60. Bornscheuer, Topik, S. 85. Hebekus, Topik/Inventio, S. 90. Bornscheuer, Topik, S. 82, und Hebekus, Topik/Inventio, S. 90. Bornscheuer, Topik, S. 101.

III ‚Reizende und verschlungene‘ Soziographien: topische Revisionen arabesker Romanpoetik in Theodor Fontanes Romantheorie und Cécile „Der unsre Zeit und unsre Kunst entstellende Realismus hat seine Gefahren, aber wie mir scheinen will, auch sein Recht und seine Vorzüge.“ Theodor Fontane, Cécile

Es ist, als sähe man von einer Galerie herab den reizenden und verschlungenen Touren eines Contretanzes zu. Jetzt Pas de Basque am Platz, nun Chaîne anglaise mit dem Paar gegenüber und endlich Grand tour und die Berührung aller untereinander.1

Mit dieser Contretanz-Szenerie setzt Fontane in einer Rezension von 1855 seinen Lektüreeindruck von Gustav Freytags Roman Soll und Haben ins Bild. Die Szenerie hat insofern poetologisches Gewicht, als sie den spezifischen Effekt der „vortreffliche[n] Komposition des Romans“ 2 auf Leserin und Leser veranschaulichen soll, in dem Fontane den gelungenen ‚Realismus‘ von Soll und Haben begründet sieht: Der Leser3 sehe sich durch den Text in die Position des Beobachters eines Bühnengeschehens versetzt und nehme wie „von einer Galerie herab“ das erzählte Geschehen als ein körperlich-bewegtes Ausagieren „verschlungene[r] Touren“ auf der Theaterbühne wahr. Im Cécile-Roman von 1886 kehrt eine Variation dieser Contretanz-Szenerie als literarisches Raumbild wieder – just an der Stelle, an der der junge Gordon die schöne Cécile zum ersten Mal wahrnimmt und vom Hotelbalkon herab ‚hinter‘ ihr einen „Roman“ lesen zu können glaubt.4 Dank der erzählerischen Reprise der Contretanz-Szenerie bezieht sich die Rede vom „Roman“ in Cécile auf die in der Rezension entwickelte wirkungsästhetische Romanpoetologie und führt sie textintern weiter. Die anschließend erzählte Cécile-Lektüre Gordons, die den „Roman“ hinter ihr hervorbringen soll, orientiert sich, so die zentrale These dieses Kapitels, in ihrer Vorgehensweise

1 Theodor Fontane, Gustav Freytag. ‚Soll und Haben‘. Ein Roman in drei Bänden (Leipzig 1855), Literarische Essays und Studien, hg. v. Kurt Schreinert, Bd. XXI/1, München 1963, S. 214–230, hier S. 219. 2 Fontane, Freytag, S. 219. 3 Der einfacheren Lesbarkeit halber und weil es im Cécile-Roman dezidiert um den männlichen Leserblick geht, wird im Folgenden nur noch vom ‚Leser‘ die Rede sein. 4 Vgl. Kapitel III.2.2 und III.2.3. An anderer, späterer Stelle ist im Roman auch explizit von dem Tanzen eines „Contre“ die Rede (vgl. Kapitel III.2.6 und III.2.7.1). https://doi.org/10.1515/9783110572919-003

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am topischen loci-Verfahren und ist als romanpraktische Einlösung und Ausdifferenzierung dieser frühen Poetologie zu lesen. Um das zu erweisen, sind zunächst die poetologischen Implikationen der Contretanz-Szenerie in Fontanes Freytag-Rezension zu entfalten. Mit der Szenerie, die keine genuine Erfindung Fontanes ist, sondern eine lange kunstästhetische Geschichte besitzt, knüpft Fontane seine Reflexion der Romanproduktion an die besonders in der Romantik virulente arabeske Romanpoetik an, unterzieht sie aber durch seine Ausrichtung auf den Leser einer wirkungsästhetischen und, wie zu sehen sein wird, rhetorisch-topisch orientierten Revision.

1 Poetologie der Contretanz-Szenerie in Fontanes Freytag-Rezension Die „vortreffliche Komposition“ von Freytags Soll und Haben beschreibt Fontane in seiner Rezension unmittelbar vor der Mobilisierung der Contretanz-Szenerie so: Weder verdanke sich Freytags narrativer Text spontaner Eingebung – er sei „keineswegs leicht und heiter hingeschrieben“ 5 – noch einem publikumswirksamen Kalkül – er realisiere keine „naive[ ] und fesselnde[ ] Herzählung [sic] der buntesten Ereignisse“.6 Vielmehr sei der Roman so „ernstlich aufgebaut“,7 dass keine unmotivierten Erzählelemente begegneten, seien es „Episoden und Abschweifungen“, seien es „überflüssige Personen“.8 Wir lernen unübertrieben hundert verschiedene Persönlichkeiten kennen, aber wir wagen die Behauptung, dass das Fortfallen der kleinsten und unscheinbarsten als eine fühlbare Lücke empfunden werden würde, so organisch ist alles ineinandergefügt. Daher glückt es auch dem Verfasser, den Tod aus dem Bereiche seines Romans beinahe ganz fernzuhalten. Er hat nirgends überflüssige Personen und braucht deshalb keinen sterben zu lassen.9

5 6 7 8 9

Fontane, Fontane, Fontane, Fontane, Fontane,

Freytag, Freytag, Freytag, Freytag, Freytag,

S. 217. S. 217. S. 217; Hervorh. im Original. S. 218. S. 218.

Anmerkung: Eine erste Version der folgenden Überlegungen zu Fontanes Freytag-Rezension wurde bereits unter dem Titel „Getanzte line of beauty – soziographische Perspektiven der Contretanz-Szenerie in romantheoretischen Überlegungen Theodor Fontanes“ in der Zeitschrift Variations 23 (2015): Tanz/Danse/Dance, hg. v. Marie Drath et. al, S. 55–68, veröffentlicht. Mit freundlicher Genehmigung des Peter Lang Verlags Bern wird sie hier in ausgeführter Form wieder abgedruckt.

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III ‚Reizende und verschlungene‘ Soziographien – Cécile

Fontane bezieht sich mit der Contretanz-Szenerie demnach insbesondere auf die durchkomponierte Figurenkonstellation und Handlungsfügung in Freytags Text. Deren „Vorschriften“ habe Freytag, so Fontanes zentraler Befund, „dem Drama und seinen strengen Anforderungen und Gesetzen“ 10 entnommen. Seine Orientierung am Drama sei kein „bloße[r] Zufall“, sondern „wohlüberlegt[e] Absicht“.11 Mit ihr setzt Freytag, so könnte man Fontanes Tanzvergleich ausbuchstabieren, gewissermaßen ein konventionelles Skript sozialer Interaktion in Szene, das dank seiner Vorgaben für das Personal, für Bewegungs- und Interaktionsfiguren sowie für ihre Abfolge ein personell, räumlich und zeitlich präzis bestimmtes Prozedere definiert.12 Diesem Prozedere eignet zudem ein ‚Progressionsmoment‘,13 weil es immer komplexere Formen der Interaktion realisiert: Von einzelnen Schritten und Sprüngen der sich gegenüber stehenden Einzelpaare am Platz (Pas de Basque) führt es über die Formierung kleinerer Gruppen (Chaîne anglaise) schließlich zum Kontakt aller Tänzer untereinander (Grand tour).14 Fontane scheint die ‚Gesetze des Dramas‘ somit als eine künstlerische Choreographie des Sozialen zu verstehen, die nur noch ausgefüllt und ausagiert werden muss, um einen Erzähl- bzw. Lektüreprozess in Gang zu setzen, der „jeden einzelnen zum Teilnehmer am Ganzen“ 15 macht.

1.1 Verschlungenes Gewebe statt eines kausallogischen Intrige-Fadens Man könnte versucht sein, Fontanes tanzmetaphorisch bekräftigtem Lob von Soll und Haben die Freude über eine gelungene Einlösung gängiger Forderungen der

10 Fontane, Freytag, S. 218. 11 Fontane, Freytag, S. 218. 12 Zu Personal und Aufstellung im Contretanz siehe Volker Saftien, Ars Saltandi. Der europäische Gesellschaftstanz im Zeitalter der Renaissance und des Barock, Hildesheim, Zürich, New York 1994, S. 236 f. 13 Saftien, Ars saltandi, S. 237 ff. Siehe weiter S. 239: Weil „immer mehr Paare in das Tanzgeschehen eingefädelt“ werden, gibt es „also ein ständiges Hinab- und Heraufrücken der Paare in der gassenförmigen Tanzaufstellung, wobei bei jedem Durchgang andere Paare miteinander figurieren.“ 14 Die sogenannte „Progression“ ist, genau genommen, eine bestimmte Variante des Contretanzes, die nicht notwendig realisiert werden muss, nach Saftien aber gerade die große Popularität dieses Tanzes begründete und „zum unverkennbaren Gütezeichen der englischen Art geselligen Tanzes wurde“ (Saftien, Ars saltandi, S. 238.). Die französischen „Contredanses“ kennen nur diese Variante (Saftien, Ars saltandi, S. 251). Fontanes Rückgriff auf französische Begriffe für die Darstellung des Tanzgeschehens im Zitat wie die narrative ‚Realisierung‘ des Contretanzes in Cécile sprechen dafür, dass just diese Variante hier im Fokus steht. 15 Fontane, Freytag, S. 219.

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zeitgenössischen Realismusprogrammatik abzulesen.16 Diese propagierte, wie auch bei Spielhagen zu lesen ist, insbesondere die Orientierung des ‚formlosen Romans‘ an den von ihm zusehends verdrängten, doch immer noch höher bewerteten, weil formstärkeren Gattungen der Epik, Lyrik oder eben des Dramas.17 Im Blick auf Letzteres galt insbesondere die Handlungspräsentation in einer linear fortschreitenden und kausallogisch motivierten „Intrige“ als vorbildlich.18 Sie verhindere, so etwa Julian Schmidt, eine „lose Verwebung von Handlungen, die ebensogut auch getrennt gedacht werden können“, und gliedere die „Akte zum Drama“, so dass „jeder […] eine notwendige Vorstufe des folgenden sein und der Schluß […] alle Fäden gewaltig zusammenfassen und in uns den Eindruck der Einheit hervorbringen“ kann. Im Ergebnis habe dann „jede Figur ihre bestimmte in die Architektonik des Ganzen gehörige Stellung“.19 Sogar die zeitgenössisch wohlfeile ideelle Ausgestaltung der kausallogischen Intrigenstruktur als fortschreitender Bildungsweg des Romanhelden vom jungen Mann, der „der Freundschaft begegnet und der Liebe“,20 zum arrivierten Mann, der im „Kampf“ „mit den harten Realitäten der Welt“, vor allem den Institutionen Ehe und Beruf, gereift ist,21 könnte man in Fontanes Vergleich mit dem Contretanz bekräftigt fin-

16 Das machen – allerdings ohne die Metapher des Contretanzes zu beachten – Gerhard Plumpe in „Roman“. In: McInnes, Plumpe (Hg.), Bürgerlicher Realismus, S. 529–689, hier S. 538 f., und v. Graevenitz in Theodor Fontane: Ängstliche Moderne. Über das Imaginäre, Konstanz 2014, S. 196 f. 17 Vgl. Plumpe, Roman, S. 530, sowie Clemens Pornschlegel, Theodor Fontane und die Entstehung des Gesellschaftsromans in Deutschland. In: Begemann (Hg.), Realismus, S. 157–172, hier S. 159. 18 Vgl. Julian Schmidt, Epos, Drama, Roman (1854). In: Gerhard Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1985, S. 217–224, hier S. 222: „Denn das eine wie das andere [Drama wie Epos, Ch. F.] soll uns eine Handlung versinnlichen, und wenn diese auf unsere Phantasie den richtigen Eindruck machen soll, so muß sie uns klar und verständlich exponiert, in übersichtlicher Gliederung und in fortschreitender Spannung weitergeführt und zu einem Knoten vereinigt werden, der schließlich eine Lösung findet. Was man also gemeinhin Intrige nennt, d. h. das notwendige und einheitliche Ineinandergreifen von Ursache und Wirkung, ist im Epos ebenso notwendig, wie im Drama.“ Auch Otto Ludwig hebt auf die Linearität und Geschlossenheit dramatischer Handlung ab, die auf Kausallogik beruhe: „Geschlossen, d. h. es muß einen gegebenen Anfang haben, alle seine wesentlichen Ursachen und Folgen müssen in das Werk fallen bis zu einer letzten Folge, die die Reihe für unser Interesse abschließt.“ (Otto Ludwig, Objektivität der dramatischen Dichtung (1872). In: Plumpe, Theorie, S. 289–290, hier S. 289). 19 Alle Zitate entstammen Schmidt, Epos, Drama, Roman, S. 222. 20 Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung (111939), zitiert nach Plumpe, Roman, S. 565. 21 Zu dieser Typik vgl. Hartmut Steinecke, Romanpoetik von Goethe bis Thomas Mann, München 1987, S. 53 ff., und Plumpe, Roman, S. 539 ff.

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den, so man dessen ‚Progressionsmoment‘ als Programm einer zunehmenden Vergesellschaftung von Individuen deutete. Doch zeichnen sich in Fontanes Kritik Differenzen zur Realismusprogrammatik ab, die gerade der Tanzvergleich erkennbar macht. Mit der Orientierung an den Gesetzen des Dramas meint Fontane nicht die Einhaltung der aristotelischen Regeln, etwa die Einheit der Handlung. Es geht ihm nicht um eine einzelne Dramenform und ihre etwaige Adaption zu einer linear erzählbaren kausallogischen Intrige im Roman. Explizit hebt er hervor, Freytag habe gerade „nicht einen ‚Faden gesponnen‘“,22 sondern gleich drei konkrete Dramenformen, also mindestens drei ‚Fäden‘, kombiniert: „Wir haben zwei Tragödien und ein Schauspiel.“ 23 Die Contretanz-Szenerie soll vielmehr den Lektüreeffekt eines komplexen, nicht linearen Formengefüges verbildlichen, in dem „drei in sich geschlossene Geschichten zu einem Ganzen […] verweb[t]“ 24 sind – also gerade das, was der Programmatiker Schmidt ausgeschlossen hatte. Die technisch-mechanische Webmetapher, die Fontane wiederholt zur Beschreibung dieser Kombinatorik heranzieht, steht in deutlichem Gegensatz zu seiner anfänglichen Rede vom „organisch[en]“ 25 Zusammenhang, der auch in vielen Programmschriften zum realistischen Drama oder Roman propagiert wird. Dort gilt die Erzählstruktur typischerweise dann als organisch, wenn die geforderten artistischen Konstruktionsmühen im finalen Text nicht zu erkennen sind und die Illusion einer natürlichen, ontologischen Ordnung entsteht.26 Zwar fordert Fontane in seiner Rezension auch, dass man zugunsten der theatralen Illusion „die Hände des Puppenspielers nicht sehen“ solle,27 doch steht dem die gleichzeitige Verwendung der Webmetapher entgegen. Denn sie entstammt einem „Repertoire langlebiger Metaphern“, die seit dem Mittelalter und wieder stark in der Romantik

22 Fontane, Freytag, S. 218. 23 Fontane, Freytag, S. 218. 24 Fontane, Freytag, S. 219. 25 Fontane, Freytag, S. 218. 26 Vgl. etwa Friedrich Theodor Vischers Rede vom „unorganische[n] Weg der Tendenz“, der für ihn gleichbedeutend ist mit „unpoetischer Absichtlichkeit“ (Friedrich Theodor Vischer, Theorie des Romans (1857), zit. nach Plumpe, Theorie, S. 240–247, hier S. 247), oder Otto Ludwigs Empfehlung, die „Natur“ als ein ‚unendliches Ganzes‘ dadurch nachzuahmen, dass die notwendige „Absicht des Dichters (im Plane)“, zugleich durch „die Ausführung […] wieder möglichst maskier[t]“ werde (Ludwig, Objektivität, S. 289). 27 Fontane, Freytag, S. 223 f. Die ‚Hände des Puppenspielers‘ sind hier auf einen stark wahrnehmbaren Erzähler bezogen, der seine Erzählung durch Reflexionen auf die dargestellten Personen begleitet. Diese Manier praktiziert Fontanes Cécile-Text keinesfalls. Gleichwohl erschließt sich dem Cécile-Leser die ‚Gemachtheit‘ der Realitätsillusion, wie zu sehen sein wird, gerade durch vielfältige Zitate und die besondere narrative Umsetzung der traditionellen Metaphorik arabesker Kunstästhetik.

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just für textimmanente Thematisierungen der Romanstruktur genutzt wurden, insbesondere um die philosophische Validität des Romangenres zu behaupten.28 Zwar war hierfür zumeist eine „‚platonische‘ Verhältnisbestimmung von Philosophie und Literatur“ maßgeblich,29 die die Wahrheitsfähigkeit des poetischen ‚Gewebes‘ an seine Analogie zu einer gleichfalls als ontologisch verstandenen, philosophisch ‚geschauten‘ Ordnung knüpfte;30 um ‚Maskierung‘ der „Absicht des Dichters (im Plane)“ 31 ging es hierbei jedoch nicht. Im Gegenteil handelte es sich vornehmlich um Formen doppelter Thematisierung: um „[p]ropositionale Thematisierungen“ „in ‚Prologen‘ und an strukturellen Knotenpunkten“ mit Hilfe dieser Metaphern, die zugleich „in performativem Theoretisieren eingelöst“, d. h. „im Vollzug [d]er Textstruktur erst eigentlich aus[ ]differenzier[t] und aus[ ]agier[t]“ 32 wurden. Dass Fontanes Lob der Webstruktur des Freytagschen

28 Vgl. v. Graevenitz, Contextio und conjointure, Gewebe und Arabeske. Über Zusammenhänge mittelalterlicher und romantischer Literaturtheorie. In: Walter Haug (Hg.), Literatur, Artes und Philosophie, München 1992, S. 229–257, hier S. 229 ff. Zu diesem Repertoire gehören neben dem ‚Gewebe‘ (contextio, entrelacement und textura) etwa auch der Schleier (velamen) und die ‚Arabeske‘. 29 V. Graevenitz, Contextio, S. 229. 30 Die Romantextura „ist contextio aus Erfundenem, Lügenhaftem oder gar Anstößigem“; sie galt in dieser Tradition gleichwohl dann als ‚wahr‘, wenn „sich in der contextio der Fabelstruktur ein Analogon der ‚wahren‘ contextio enthüll[te], der in den zählenden und messenden Künsten ebenso wie in Platons Philosophie rekonstruierten Schöpfertätigkeit“. Vgl. v. Graevenitz, Contextio, S. 236. Das Bild des ‚Gewebes‘ darf in diesem Zusammenhang nicht vorschnell einzig auf eine im Webrahmen mit Faden und Schuss produzierte, gleichmäßig gemusterte Textur bezogen werden. Bei Chrétien etwa wird contextio vor allem als das Ineinander-Verschlingen (entrelacement) von losen, weit auseinander liegenden Fäden beschrieben, das schließlich einen ‚Teppich‘ (tapisserie) produziert, der gerade nicht durch ein einheitliches Webmuster, sondern eine „ins Phantastische gesteigerte[ ] Struktur der Narrativität“ gekennzeichnet ist, die einer „Poetik der diversità“ folgt. Vgl. Karlheinz Stierle, Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit. In: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, Heidelberg 1980, S. 253–313, hier S. 275 und S. 286. 31 Vgl. Ludwig, Objektivität, S. 289. 32 V. Graevenitz, Contextio, S. 230, 231 und wieder 230. Hier kann man mit dem PoetologieHistoriker v. Graevenitz gegen den Rezensions-Interpreten v. Graevenitz argumentieren: Schon Fontanes Aufbietung der Gewebemetaphorik und erst recht der Tanzvergleich lassen Zweifel aufkommen, dass seine Forderung nach „der theatralischen Illusion“ mit der „herrschenden Lehrmeinung der Programmatiker“ glatt verrechnet werden kann (vgl. v. Graevenitz, Fontane, S. 196). Wie zu sehen sein wird, kommt es Fontane durchaus auf den Effekt theatralischer Präsenzerzeugung an; präsent werden sollen im Modus des ‚Als-ob‘ aber nicht nur die scheinbare Naturhaftigkeit des Erzählten, sondern zugleich die formalen und medialen Bedingungen, denen sie sich verdankt. Erkennbar werden soll mit der „theatralischen Illusion“ also zugleich der „Theaterrahmen“, der die Illusionserzeugung ermöglicht (vgl. Erving Goffman,

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III ‚Reizende und verschlungene‘ Soziographien – Cécile

Romans eben solche philosophisch-poetologische Selbstbezüglichkeit meint, also genau das, was die Programmatiker als „unpoetische Absichtlichkeit“ und „Tendenz“ distanzieren, unterstreicht die evozierte Tanz-Szenerie. Denn als Hauptleistung von Freytags Text kehrt sie den Effekt hervor, dass dem Leser eine Meta-Perspektive eröffnet werde („als sähe man von einer Galerie herab“), aus der er die Gewebestruktur des Texts (die „reizenden und verschlungenen Touren“) erkennen und, mehr noch, aus der er das spezifische, konventionelle Figuren verarbeitende Webmuster dieser textura („erst Pas de Basque am Platz, dann […]“) wie ein Schau-Spiel auf Distanz, eine artifizielle Vor-Stellung, beobachten könne. Der perspektivische Lektüreeffekt, der Fontane begeistert, ist nicht der, dass sich hinter den Schriftzeichen, die Freytag auf die Buchseite gesetzt hat, ein imaginärer Raum auftut, in dem sich der Leser in der dreidimensionalen Welt natürlicher Menschen und Handlungen wähnt und die Textualität dessen, was er liest, vergisst. Der perspektivische Über- bzw. Durchblick, den Freytags Text laut Fontane ermöglicht, ist einer, der den narrativ eröffneten imaginären Raum als einen Bühnenraum, als theatralen Kunstraum, wahrnimmt, in dem er erkennen kann, dass und inwiefern sich die ‚lebendige‘ Bewegung der vermeintlich natürlichen Menschen verschlungenen Linien auf der Tanzfläche verdankt; anders gesagt: der ihm die zweidimensionale textura von Soll und Haben, die spezifische Kombinatorik geschwungener Linien auf der Papierfläche, also ihre technisch-mediale Beschaffenheit, vor Augen führt.

1.2 Ästhetikgeschichtliche Bande zwischen Contretanz und arabesker Schönheitslinie Exakt auf diesem verdoppelten Blick, der zugleich die erzählerische Raumsimulation wie ihre artistisch-medialen Produktionsbedingungen sieht, liegt die Pointe von Fontanes Tanzvergleich. Das belegt die Beobachtung, dass sich der Literaturkritiker Fontane mit der Contretanz-Szenerie selbst auf vorgezeichneten Bahnen der Ästhetik bewegt. Nicht nur die Tanz- als Bühnen-Szenerie, auch ihre Entdeckung als (textimmanente) poetologische Metapher findet sich bereits in William Hogarth’ kunsttheoretischem Traktat Analysis of Beauty von 1753.33 Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main 1977, S. 143 ff.). Genaueres s. unten, Kapitel III.2.6. 33 Im Folgenden wird die deutsche Ausgabe von 1754 zitiert: William Hogarth, Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen, Berlin 1754. Die Breitenwirkung von Hogarth’ Traktat in der deutschen Kunst und Kunsttheorie beschreibt ausführlich Frederick Antal, Hogarth und seine Stellung in der europäischen Kunst, Dresden 1962, S. 238 ff. Diesem folgend fasst Günter Oesterle knapp zusammen: 1753 erschienen, wurde Hogarth’ Analysis of Beauty schon 1754 auf Deutsch unter dem Titel Zergliederung

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Hogarth, selbst praktizierender Künstler, sucht aus dem Blickwinkel einer Wirkungsästhetik, die sich an den geometrischen Konstruktionsgesetzen der Linearperspektive orientiert und sie in rhetorische Wirkungsbegriffe übersetzt,34 die Gesetzmäßigkeiten der Schönheit in Malerei und Plastik zu ergründen. Als zugleich geometrische und natürliche Elementarform, die in allem Schönen in Natur und Kunst zu finden sei, macht Hogarth die Ornamentform der Schlangen- bzw. Wellenlinie, der line of beauty and grace, aus. Im Falle der schönen Bewegung beim Tanz – und hier verweist Hogarth neben dem Menuett auf den Contretanz – erscheine die line of beauty gleich mannigfaltig variiert und verschlungen: Eine von den angenehmsten Bewegungen in Contertaenzen, und welche mit allen Grundsaetzen der Mannichfaltigmachung auf einmal uebereinstimmet, ist das, was man den Schlangentanz nennet. Die Figur desselben zusammengenommen ist eine Figur von etlichen S, oder eine Anzahl untereinander gewebter oder untereinander gewickelter Schlangenlinien, welche, wenn man setzen wollte, daß sie auf dem Fußboden gezogen waeren, wie Figur [123] aussehen wuerden [s. u. Abb. 1, Ch. F.].35

Und kurz zuvor heißt es in Bezug auf die visuelle Perspektive, von der aus der Contretanz beobachtet wird: Sie, die ‚untereinander gewebten oder gewickelten Schlangenlinien‘, „verursachen dem Auge ein ergetzendes Spiel, besonders wenn die ganze Figur auf einen Blick zu übersehen ist, wie in dem Komoedienhause, von der Gallerie.“ 36

der Schönheit publiziert und „seitdem ein halbes Jahrhundert lang kontrovers diskutiert: Lessing, Mendelssohn, Hagedorn, Lavater, Wieland, Merck, Herder, Lichtenberg, Jean Paul, Novalis und Goethe und noch die Spätidealisten Weiße und Vischer meldeten sich zu Wort.“ E. T. A. Hoffmann wollte „seine ersten gesammelten Erzählungen mit dem Untertitel ‚in Hogarth’ Manier‘ herausgeben.“ Vgl. Günter Oesterle, Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen ‚Der goldene Topf‘, Athenäum, Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 69–107, hier S. 76 f. Besondere „philosophische Ehre“ wird der Schönheitslinie bei Friedrich Schiller zuteil, der sie gleichfalls im Zusammenhang mit dem Contretanz-Bild in seinen Kallias-Briefen aktualisiert und zur „Linie der Freiheit“ erhebt. Vgl. Sabine Mainberger, Einfach (und) verwickelt. Zu Schillers ‚Linienästhetik‘. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths Analysis of Beauty, DVjs 2 (2005), S. 196–252, hier S. 209 und S. 196. Angesichts dieser Breitenwirkung ist es überraschend, dass das Hogarth-Zitat in Fontanes Freytag-Rezension wie auch die Virulenz der Contretanz-Szenerie für den Cécile-Roman bis dato übersehen wurde. 34 Vgl. v. Graevenitz, Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes West-östlichen Divan, Stuttgart 1994, S. 38. 35 Hogarth, Zergliederung, S. 88. Auch Hogarth konzediert der geschauten „Figur“ oder Textur aus verschlungenen Schönheitslinien demnach eine Variationsbreite zwischen festerer Web- und loserer Wickel-Struktur. 36 Hogarth, Zergliederung, S. 88.

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Abb. 1: William Hogarth, Zergliederung der Schönheit, vergrößerter Ausschnitt von Tafel 2.

Die buchstabengleichen Windungen auf der Tanzfläche („eine Figur von etlichen S“), die die schönen Bewegungen der Tänzer im Raum regieren – die „Tanz-Schrift des Schönen“ 37 – macht Hogarth seinem Leser auf einer Bildtafel gleich doppelt sichtbar: zum einen in einer zweidimensionalen Zeichnung auf einer kleinen Bildfläche am Rand (Abb. 1), zum andern dadurch, dass diese Bildfläche im Verbund mit vielen anderen eine Art Rahmen bildet, durch den der Leser wie durch ein Fenster oder eine Bühneneinfassung in den dreidimensional gestalteten Tanzsaal auf das Hin und Wider der tanzenden Füße blicken kann (Abb. 2). Noch weiter gehend setzt Hogarth’ Bildarrangement den Gegensatz von Zwei- und Dreidimensionalität sowohl im Rahmen als auch im Bildzentrum als einen übergängigen, durch die ornamentale Schlangenlinie vermittelten, in Szene: Die planen Täfelchen am Rand stellen Mikrostudien zur geometrischen Technik künstlerischer Raumillusion mithilfe der Schlangenlinie dar, und im illusionistischen Raumbild in der Mitte zieren plastische Statuen und plane Gemälde im Wechsel die Wandfläche des Saals, die dadurch wellenförmig mal durchbrochen, mal opak erscheint. Damit verweist Hogarth’ Bildtafel nicht nur auf das „Kernproblem der Linearperspektive, das dem ‚Transparenz‘-Prinzip zugrundeliegende Verhältnis von medialer Fläche und imaginärem dreidimensionalen

37 V. Graevenitz, Ornament, S. 93.

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Abb. 2: William Hogarth, Zergliederung der Schönheit, Tafel 2.

Raum“.38 Hogarth realisiert hier zugleich eine arabeske Bildstruktur, die in ihrer klassischen Form durch die „künstliche Spannung zwischen ‚Ornamentmodus und Bildmodus‘, de[n] changierende[n], oft kaum bemerkbare[n] Übergang von einer Dimension in die andere, das komplizierte Wechselspiel von illusionsfördernden und illusionshemmenden Gestaltungsfaktoren“ 39 gekennzeichnet ist. Damit zitiert er „die formgeschichtliche Heimat“ 40 der Schlangenlinie, die Arabeske. Diese (und mit ihr die Schönheitslinie) hat ihren „ästhetische[n] locus classicus“ 41 in den von Raffael gestalteten Vatikanischen Loggien und avanciert, durch Hogarth vermittelt, zu einer zentralen Form- und Bildsprache romanti-

38 V. Graevenitz, Ornament, S. 42. Was Hogarth „als Schreiber nur äquivok und in rhetorischer Verhüllung vermitteln kann“, habe er so „auf seine eigene sehr direkte Weise“ gezeigt. (V. Graevenitz, Ornament, S. 42). 39 Oesterle, Arabeske, S. 90 f. 40 Oesterle, Arabeske, S. 89. 41 Oesterle, Arabeske, S. 89.

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III ‚Reizende und verschlungene‘ Soziographien – Cécile

scher Kunst und Ästhetik.42 Für deren universalpoetisches Konzept ist die line of beauty and grace insbesondere deshalb interessant, weil Hogarth sie als „Inbild der Verbindung von artifizieller Konstruktion und simulierter Naturhaftigkeit, von Symbolik und formaler Struktur“ 43 aufnimmt und sie zum Angelpunkt einer Ästhetik der Wahrnehmung macht, die „nicht bei Abbildung und Abzubildendem“ 44 ansetzt, sondern beim „Sehen als ein[em] temporale[n] Vorgang“ und beim „aktiven Betrachter[ ]“.45 Während aber die Schönheit des Geschauten, für die die arabeske Schlangenlinie steht, in den älteren Ästhetiken, auf die Hogarth sich bezieht,46 und wiederum in der späteren, von ihm inspirierten romantischen Kunsttheorie metaphysisch begründet wird, insistiert Hogarth auf ihrem empirischen Charakter. Die line of beauty taugt ihm nicht deshalb zur Chiffre für Schönheit, weil sie im neuplatonischen Sinn geometrisch-mathematisch beweisbare und also ‚wahre‘, ‚reine Ideen‘ schauen ließe, sondern, weil sie sich in allem, was gemeinhin als schön gilt, wiederfinden und rekonstruieren lasse.47 Als Belege führt Hogarth eine Vielzahl von Erscheinungsformen in Natur und Kunst an: Die Schlangenlinie findet er wieder „als Grazie in sozialer Interaktion, als zweckmäßige, mannigfaltige, symmetrische, verwickelte Formen in Natur und Kunst, z. B. an Pflanzen (u. a. der Lilie) und antiken Statuen sowie an Dingen des Alltags, Ge-

42 Dazu ausführlich Günter Oesterle, Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels Brief über den Roman. In: Dirk Grathoff (Hg.), Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, Frankfurt am Main 1985, S. 233–292. 43 Sabine Mainberger, Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900, Berlin 2010, S. 31. 44 Mainberger, Experiment, S. 33. 45 Mainberger, Experiment, S. 35; Hervorh. im Original. Vgl. weiter: „Die Wahrnehmung nicht als passives Aufnehmen von Reizen, sondern als komplexe Aktivität des Subjekts und die ästhetische Wahrnehmung als ‚freies‘ Sehen verbinden Hogarths Überlegungen mit der wissenschaftlichen Ästhetik und Wahrnehmungstheorie des späteren 19. Jahrhunderts […].“ (Mainberger, Experiment, S. 36; Hervorh. im Original). 46 Nach Oesterle seien das die „Reizästhetik der Franzosen“, die Schönheit aus „dem Dunkel des Unerklärlichen, dem ‚je ne sais quoi‘“, ableite, sowie die naturphilosophische Kunsttheorie der Renaissance, die die „figura serpentinata“ „spekulativ[ ]“ begründet habe. (Oesterle, Arabeske, S. 76 f.). 47 Vgl. hierzu Antal: „Hogarth war somit der erste, der den Grundsatz der klassischen Kunsttheorie zurückwies, nämlich die Übereinstimmung von Mathematik und Schönheit.“ (Antal, Hogarth, S. 189) sowie v. Graevenitz: „Leonardo hatte seine Maschinenmodelle wie seine Anatomiestudien im geometrischen System der Linearperspektive entworfen, Kepler die Rechenmaschine im Zentrum der platonischen Seele gefunden. Auch Hogarth zeichnet das Ornament des perspektivischen Blicks [die line of beauty, Ch. F.] den ‚Maschinen der Natur‘ ein […]. Die platonische Seite der geometrischen Seele spricht Hogarth nicht mehr an.“ (V. Graevenitz, Ornament, S. 42 f.).

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wändern, Balustern [sic], Perücken, Stuhlbeinen etc. […]“ 48 und, nicht zuletzt, in der ‚schönen Literatur‘. Hogarth’ „Ansatz führt – innovativ für die Zeit – zur Äqualisierung der Objekte“.49 Allerdings gesteht er der Literatur, näherhin Miltons Paradise lost, im Blick auf die Erklärung schöner Bewegung eine besondere kunsttheoretische Dignität zu: Dieses Poem habe die Entdeckung der line of beauty als verborgenes Prinzip schöner Bewegung im Tanz (und indirekt auch im eigenen, den schönen Tanz ‚malenden‘ Text) bereits vorweggenommen: Milton malet in seinem verlohrnen Paradiese, da er das Tanzen der Engel um den heiligen Hügel herum beschreibt, den ganzen Begriff [der line of beauty, Ch. F.] in Worten: Mystischer Tanz – – verzogner Labyrinth; Eccentrisch rund, geschlungen richtig schoen, Just, wenn man glaubt, das Gegentheil zu sehn.50

Anders als Milton erscheinen Hogarth die schönen Verschlingungen aber gerade nicht mehr als ‚mystische‘ im theologischen, v. a. neuplatonischen Sinn, wenn er, wie gesehen, „die aus der Renaissance stammende metaphysische Kunsttheorie der Schönheitslinie“ in Empirie auflöst oder, wie Oesterle formuliert, „pragmatisiert[ ]“, „indem er sie soziologisch und psychologisch interpretiert[ ]“.51 Dieser Ausrichtung an allgemeinen Schönheitsvorstellungen, an einem ästhetischen consensus, korrespondiert Hogarth’ Übersetzung der linearperspektivischen Technik in rhetorische Begriffe, deren Maßstab die Wirkung auf das Publikum bildet.52

48 Oesterle, Arabeske, S. 75 f. 49 Mainberger, Experiment, S. 32. Die einbezogenen antiken Kunstwerke werden Mainberger zufolge dabei ihrer besonderen, die Klassik repräsentierenden Stellung enthoben: „Naturgegenstände und Artefakte, Statuen und lebendige Menschen, berühmte Kunstwerke aus Antike und Renaissance und zeitgenössischer Dekor oder gar Alltagsgeräte stehen hier auf der gleichen Ebene, und selbst die Farbe (im Hinblick auf die Abstufungen) und andere Künste: Tanz, Schauspiel, am Rande auch Musik und Literatur, soll jene Linie bzw. das in ihr verkörperte Prinzip zusammenhalten.“ (Mainberger, Experiment, S. 32 f.). 50 Hogarth, Zergliederung, S. 88. Im Zusammenhang mit dem Menuett-Tanz wird Shakespeares „Wintererzählung“ zitiert. (Vgl. Hogarth, Zergliederung, S. 86). – Auch hier ist mit „Just, wenn man glaubt, das Gegentheil zu sehn“ das gefährdende Umschlagsmoment der line of beauty and grace ins Gegenteil, ins Hässliche, Groteske, angesprochen. 51 Oesterle, Arabeske, S. 75. 52 „[D]ie Leitbegriffe, mit denen er Schönheit erklärt, haben auch den Hintergrund der rhetorischen Wirkungstheorie: ‚fitness‘ nähert sich dem ‚aptum‘, ‚variety‘ der ‚diversitas‘, die ‚simplicity‘ entspricht dem Ideal der ‚perspicuitas‘, die ‚quantity‘ der ‚überwältigenden Größe‘ gehört zum ‚genus sublime‘ des Erhabenen. Die Doppeldeutigkeit seiner Begriffe, ihre Zugehörigkeit zu zwei theoretischen Traditionen, der geometrischen und der rhetorischen, bewältigt

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Trotz aller Rationalsierungsbemühungen von Hogarth’ Text bleibt gleichwohl ein anderer mythisch-religiös motivierter Bedeutungsaspekt älterer Ästhetiken der figura serpentinata virulent, den Hogarth sich mit Miltons ‚mystischem Tanz‘ einhandelt: der Aspekt des erotischen Reizes nämlich, der traditionell mit der line of beauty als Schlangenlinie verbunden ist. Denn freilich feiert Miltons „Paradise lost“ den Tanz vor dem Hintergrund der Verführung Adams durch die von der Schlange verführte Eva als einen ‚mystischen‘. Eine Gefährdung des schönen sozialen Miteinanders im Contretanz durch das Verführungspotential der Frau deutet sich zwar weniger in Hogarth’ um empirische Rationalität bemühtem Text an, dafür umso mehr in seinen Bildtafeln, wo abgesehen von wilden, grotesk-hässlichen Zick-Zack-Bewegungen der „im Saal vorherrschenden Tanztrampel“ 53 insbesondere anzügliche Dreierkonstellationen54 den Betrachter das „Gegentheil“ (Milton) von „Grazie in sozialer Interaktion“, nämlich konfliktreiche Zusammenstöße, erahnen lassen.

1.3 Rhetorisch-soziologische Deutung arabesker textura: der Bürger als ‚Kreuzungspunkt sozialer Kreise‘ Die rhetorisch-soziologische ‚Pragmatisierung‘ der line of beauty durch Hogarth treibt Fontane in seiner Freytag-Rezension noch weiter: Auch er beruft sich auf einen nicht metaphysisch, sondern konsensuell begründeten Wahrheitsbegriff, wenn er Freytags Text gegen den Vorwurf verteidigt, dessen „Form“ 55 vermittle

Hogarth dadurch, daß er für die Erläuterung der primär rhetorischen Wirkungsbegriffe exempla aus der Technik der Linearperspektive anführt. […] Die Linearperspektive ist rhetorisiert worden.“ (V. Graevenitz, Ornament, S. 38). 53 Vgl. v. Graevenitz, Ornament, S. 42. Mainberger führt aus: „Links vorne tanzt in vorbildlicher Haltung, d. h. Körper und Gesten nach der Schönheitslinie modelliert, ein aristokratisches Paar; der Mann wird als Prince of Wales identifiziert. Laut Paulsons Kommentar tanzen die beiden Menuett, den höfischen Tanz par excellence. Neben ihnen bewegen sich weitere Paare, doch mit ihren nicht zueinander passenden Körpergrößen, steifen oder übertrieben gekrümmten Haltungen und eckigen Bewegungen erscheinen sie alle als Karikaturen. Sie tanzen einen Kontratanz. Einer anderen Deutung zufolge tanzen sie alle Kontertanz, nur eben die einen schön, die anderen komisch und grotesk. In jedem Fall aber ridikülisiert der Text diesen Tanz überhaupt nicht.“ (Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 220 f.; letzte Hervorh. Ch. F.). 54 Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 201. Mainberger referiert hier auf Beobachtungen von Ronald Paulson, die dieser in seiner Hogarth-Studie Hogarth, III, Art and Politics, 1750–1764 (Cambridge 1993, S. 56–131) sowie in der „Introduction“ zu seiner Ausgabe der Analysis of Beauty (New Haven, London) von 1997, S. xvii–lxii, darlegt. 55 Fontane, Freytag, S. 224; Hervorh. im Original.

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„keine Idee“,56 sondern allenfalls einen „Gemeinplatz“,57 bzw. „es fehle dem Buch der Hinblick auf das Göttliche oder, wenn dies Wort mißverstanden werden könnte, auf das Ideale“:58 Wir glauben vielmehr, daß der Grundgedanke jeder epochemachenden Arbeit immer ein einfacher sein muß und faktisch immer gewesen ist; der gedankliche Inhalt jedes guten Dramas läßt sich fast ausnahmelos auf ein simples Sprichwort zurückführen. Das ist kein Nachteil, das ist ein Vorzug. Das Aparte ist selten wahr, und nur das Wahre wirkt.59

Dem Vorwurf der Gemeinplätzigkeit begegnet Fontane mit dem Hinweis auf die wirkmächtige Weisheit ‚simpler Sprichwörter‘. Auf ein in diesem Sinn intersubjektives „Wahre[s]“ der Freytagschen textura sollten die Kritiker achten, statt in ihr „die sublime Höhe der eignen“, soll heißen: subjektiven „Ideen“ 60 wiederfinden und zu göttlichen ideae stilisieren zu wollen. Der Verweis auf die Wirkungsdimension des Sprichwörtlichen macht dieses „Wahre“ ganz im Sinne der rhetorischen Topik als eikos kenntlich, für das allenfalls der relative Wahrheitsanspruch des ‚Wahr-Scheinlichen‘ im konsensuellen und wirkungspsychologischen, nicht platonischen Sinn erhoben werden kann.61 Soziologisch-rhetorisch pragmatisiert, näherhin topisch gedeutet, wird von Fontane aber nicht nur der Wahrheitswert der von Freytags textura vermittelten „Idee“ 62, auch ihr

56 Fontane, Freytag, S. 225. 57 Fontane, Freytag, S. 225. 58 Fontane, Freytag, S. 226. 59 Fontane, Freytag, S. 225. 60 Fontane, Freytag, S. 225. 61 Dazu vgl. Barthes, Alte Rhetorik, S. 64 f. Diesen Rekurs Fontanes auf den „Gemeinplatz“ liest auch Fohrmann als Aktualisierung des ‚Wahrscheinlichkeits-Konzepts‘ der rhetorischen Topik, die im Zusammenhang mit Fontanes Suche nach einem „Normalitätsansatz“ für den literarischen Realismus jenseits anthropologischer Wesensbestimmungen des Menschen zu sehen sei (vgl. Fohrmann, Der Bilderrahmen des Realismus. In: Modern Language Notes 132 (2017), S. 734–752, hier S. 740 und S. 737). Fontanes Ersetzung der „Idee“ vom Menschen durch „eine zu Sprichwörtern geronnene Topik“, deren Topoi auf „jeden und niemanden gemünzt“ sein können, verweise auf den Transformationsprozess der Topik, die ihr WahrscheinlichkeitsKonzept am Ende des 19. Jahrhunderts infolge der massiven Ausdifferenzierung sozialer Bezüge und Redeanlässe nicht mehr durch überschaubare Angemessenheitskriterien absichern könne. Zwar soll sich laut Fontane also die „Wirklichkeit dieses Realismus […] nicht jenseits des Netzes topisch gesicherten und damit homogenisierten Weltwissens entfalten, […]. Andererseits ist dieses Netz kein wirklich stabiles […]“ und muss „immer aufs Neue in Übereinstimmung gebracht, ja ‚ausgehandelt‘ werden“ (Fohrmann, Bilderrahmen, S. 740 f.). Zur zentralen poetologischen Bedeutung eines solchen steten Aushandelns in Fontanes Cécile vgl. Kapitel III.2.5 dieser Studie. 62 Fontane, Freytag, S. 224; Hervorh. im Original.

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Geltungsbereich ist das Feld des Soziokulturellen.63 Was Fontane in Freytags textura-Inszenierung ‚erschaut‘ ist eine „Verherrlichung des Bürgertums und insonderheit des deutschen Bürgertums“.64 Dieses topische eikos, das Wahrscheinliche der bürgerlichen Kultur, versteht er nun weniger als semantisch definierbares Idealbild,65 sondern vielmehr als formelles Strukturbild: Soll und Haben zeige seinen Helden, den deutschen Bürger, in seiner gesellschaftlichen „Doppelstellung“. Er sei „zugleich ein Mittelpunkt seines Geschäfts und doch ein Punkt nur in der Peripherie eines großen Kreises, eines Triebrades, das sich der Staat nennt“.66 Mit dem Bürger als „Punkt“, in dem sich kleiner Geschäftskreis und großer staatlicher Kreis verbinden, kommt dieses Bild sehr nahe an die 1890 durch den Soziologen und Kulturphilosophen Georg Simmel geprägte formale, nicht-substantialistische Bestimmung des modernen vergesellschafteten Individuums als „Kreuzungspunkt unzähliger socialer Fäden“, d. h. „sociale[r] Kreise“, heran.67 Fontane war zwar nicht mit den Schriften Simmels ver-

63 Schon Schiller hatte auf die zu seiner Zeit bereits etwas ‚verblasste‘ Schönheitslinie zurückgegriffen, um „eine Brücke zwischen Ästhetischem und Ethischem zu schaffen“ (vgl. Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 211). Damit reagiere er laut Mainberger auf Kant, der im Paragraphen 16 seiner Kritik der Urteilskraft das „Ornamental-Arabeske“ zum Inbegriff ‚reiner Schönheit‘ erhebe, „der gegenüber die menschliche Schönheit nur eine ‚adhärierende‘, eine anhängende“, sei (Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 214). Nachdem die Schönheitslinie bei Kant also zur „Inkunabel rein formaler Ästhetik“ geworden sei, die die „potentielle[ ] Dezentrierung“ des Menschen als „Denkmöglichkeit eröffnet“, wolle der auf „Anthropozentrik“ bedachte Klassizist Schiller just an ihr die Möglichkeit einer Harmonisierung „von Sinnlichkeit und praktischer Vernunft, Natur und Willensautonomie“ aufzeigen (Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 214 f.). Dazu zitiert er u. a. Hogarth’ Contretanz-Szenerie, die er als „Sinnbild für das freie Agieren vieler, genauer für den ästhetischen Aspekt der Sozialität“ deute: „Ich weiß für das Ideal des schönen [d. h. nun auch ‚freien‘, Ch. F.] Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen Tanz. Ein Zuschauer auf der Galerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durchkreuzen, und ihre Richtung lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstoßen. Alles ist so geordnet, daß der eine schon Platz gemacht hat, wenn der andere kommt, alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunstlos ineinander, daß jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint, und doch nie dem andern in den Weg tritt. Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des andern.“ (Zitiert nach Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 217 f., Hervorh. durch Schiller). 64 Fontane, Freytag, S. 224; beide Hervorh. im Original. 65 Wie man das im Blick auf von Soll und Haben vermittelte ‚Werte‘ wie „Arbeitsfreude und Lustfeindlichkeit“, „Sittsamkeit und Unempfindlichkeit“, oder „Pflichttreue“ durchaus auch tun könnte, vgl. Plumpe, Roman, S. 569. 66 Fontane, Freytag, S. 227. Vgl. die Tänzer beim Contretanz, die zugleich Teil eines Paares, einer Paargruppe sowie der gesamten, prinzipiell offenen Paarreihe sind. 67 Georg Simmel, Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen. In: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 2: Aufsätze 1887 bis 1890. Über sociale Differenzie-

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traut, ihn verband aber eine „problematische[ ] Freundschaft[ ]“ mit dessen Lehrer, dem Sozial- und Völkerpsychologen Moritz Lazarus.68 Dieser hatte bereits das Bild vom „großen Kreise[ ] der Gesellschaft“, innerhalb dessen sich „kleinere Kreise und immer engere bis hinab zur Familie“ bilden, entworfen, sich die Anordnung der Kreise jedoch zunächst so vorgestellt, dass sie das Individuum konzentrisch umfassen.69 Fontanes Variante des Bildes in seinem Text zu Freytag, die die Forschung bislang außer Acht gelassen hat, entspricht demgegenüber eher jener späteren, „weniger glatte[n] und durchlässige[n]“ Fassung von Lazarus, die Simmel ausbuchstabiert und zur Berühmtheit gebracht hat: Darin „kreuzen die Kreise sich jetzt und das Ich rückt aus ihrem Mittelpunkt in die Kreuzungspunkte ihrer Peripherien“.70 Dieses Bild sich kreuzender Linien macht zunächst die unhintergehbare Vergesellschaftung des Bürgers ansichtig, ganz wie der Contretanz-Vergleich auch. Denn der Contretanz kennt von vornherein nur aufeinander bezogene, unmittelbar vergesellschaftete Individuen:71 Paare als kleinste soziale Einheiten, die sich gegenüber stehen und untereinander wie auch mit anderen Paaren interagieren. Anders als oben anvisiert inszeniert der Contretanz demnach nicht das Hineinwachsen eines ‚monadischen Individuums‘ in die konventionelle Gesellschaftsordnung, geht nicht vom Individuum im Gegensatz zur Gesellschaft, in die es sich zu integrieren hat, aus.72 Ebenso wenig ist der Contretanz ein Paartanz, der wie die heutigen Standardtänze isolierte Zweisamkeit signalisiert. „Vielmehr ist der individuelle Tänzer eingeflochten in ein Netz sozialer Beziehungen, in dem sein Tanzen erst sinnvoll wird.“ 73 Gleichwohl kommt der ertanzten Sozialstruktur, wie auch dem ornamentalen Kreislinien-Bild Fontanes (und Simmels), eine prinzipielle Offenheit zu: Der Contretanz stellt Gemeinsam-

rung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), hg. v. Heinz-Jürgen Dahme, Frankfurt am Main 1989, S. 109–295, hier S. 241; der Aufsatz stammt aus dem Jahr 1890. 68 Fontane kannte Lazarus aus den gemeinsam besuchten Vereinen Tunnel, Rütli und Ellora. Vgl. v. Graevenitz, Fontane, S. 90 ff. 69 Zitiert nach v. Graevenitz, Fontane, S. 97 und S. 252. 70 V. Graevenitz, Fontane, S. 251 f. 71 Vgl. Saftien, Ars saltandi, S. 262. Der Contretanz, den Fontane in seiner Szenerie zusätzlich in den theatralen Rahmen einer Bühneninszenierung versetzt, steht an und für sich nicht für natürliche Geselligkeit. Obwohl seine Ursprünge im Volkstanz liegen, ist er seit dem 18. Jahrhundert ein Inbegriff der strengen Anordnungen des Höfischen Tanzes, allenfalls noch überboten vom Menuett (vgl. Saftien, Ars saltandi, S. 240). 72 Zu Karriere und Kritik dieser dichotomischen Vorstellung, die lange eine „dominierende […] Interpretationsmatrix“ der Fontane-Forschung war, vgl. Claudia Liebrand, Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder, Freiburg 1990, 12 ff., sowie Helmstetter, Geburt des Realismus, S. 164 ff. 73 Saftien, Ars saltandi, S. 262.

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keit her und aus, ohne die Paare zu einer festen Gruppe, zu einer ‚geschlossenen Gesellschaft‘ zusammenzuschließen, denn seine Schritt- und Figurenfolge erlaubt es, immer mehr Paare „allmählich in den Tanz ein[zu]fädel[n]“,74 so dass beliebig viele am Tanz teilnehmen können. Die ‚Progression‘ des Contretanzes ist demnach weniger als Entwicklung, denn als fließbandähnliches Prozedere zu verstehen.75 Die „Herrlichkeit“ des deutschen Bürgers zeige Freytags textura dann dadurch, dass jener gerade aus dieser Doppelstellung heraus einen relativen „Blick fürs Allgemeine“,76 d. h. für seine unhintergehbare gesellschaftliche Verstrickung, gewinnen und dadurch ein „gewisses Maß“ 77 an Souveränität erreichen könne. Gustav Freytag zeichnet uns in seinem Kaufmann […] eine geistige Potenz, die traditionell diesen [im gegenwärtigen Zustand der „Zersplitterung“ verloren gegangenen, Ch. F.] Blick fürs Allgemeine und ihre Beziehungen zu ihm sich bewahrt hat. Er kann nicht mehr Politik machen, er kann nicht mehr direkt entscheidend eingreifen, aber er überschaut ein gewisses Maß von Rechten und Pflichten, auch jenseits der pfahlbürgerlichen Polizeitugend, deren gewissenhafteste Innehaltung seine Aufgabe und sein Stolz wird. […] Ein ganzer, ungeteilter Mann sein und doch dieser Doppelstellung genügen – das ist die Aufgabe dieses Kaufmanns, und diese Aufgabe löst er.78

Hier wird die Gleichzeitigkeit von „Doppelstellung“ und Ganzheitserfahrung betont. Freytags Bürger versteht sich als ‚Kreuzungspunkt sozialer Kreise‘ (wenn er „dieser Doppelstellung genügen“ will) und zugleich als „ungeteilter Mann“. Das ist nicht die Norm, denn der „verlorengegangen[e]“ „Blick fürs Allgemeine“, die „Zersplitterung“, ist „das übliche“.79 Die Ganzheitserfahrung ist aber auch nicht unmöglich oder etwa in Nischen jenseits der sozialen Verstrickungen verwiesen: Sie gilt Fontane vielmehr als eine Leistung soziokulturellen Verstehens („geistige Potenz“) aus der „Doppelstellung“ heraus und wird von ihm als ‚Überschau‘ konzipiert, in der der Bürger seine „Ganzheit“, sein je spezifisches Maß an Freiheiten und Begrenzungen („Rechten und Pflichten“), als durch seine „Doppelstellung“ bedingt erkennt.80 74 Saftien, Ars saltandi, S. 238. 75 Vgl. hierzu Saftien: „Die Progression der Paare in der Gasse hingegen wurde als Zeichen demokratischer Weltoffenheit und optimistischen Fortschrittsglaubens, ja sogar als Vorwegnahme der Epoche des Fließbandes gedeutet.“ (Saftien, Ars saltandi, S. 239) Vgl. auch die Nähe dieser Fließbandstruktur zu Ornamentbändern, die kunstvoll verschlungen, aber beliebig fortsetzbar sind. 76 Fontane, Freytag, S. 227. 77 Fontane, Freytag, S. 227. 78 Fontane, Freytag, S. 226 f. 79 Fontane, Freytag, S. 226. 80 Trotz dieser Aufmerksamkeit für den deutschen Bürger und der Betonung des für ihn erreichbaren ‚gewissen Maßes‘ an ‚Überblick‘ bzw. ‚Souveränität‘, hat die von Fontane aus dem

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Der Anspruch, den Fontane mit dieser Kritik im Jahr 1855 an die Erzählliteratur seiner Zeit stellt, ist somit nicht der, ein sprachliches Abbild realer Gesellschaft zu liefern, das seine Künstlichkeit verbirgt, oder mit der Ausstellung der eigenen artistischen textura einen „Hinblick auf das Göttliche“, auf Idealvorstellungen des Sozialen, zu gewähren. Vielmehr trägt ein Roman gemäß Fontanes Rezension dann zur „Blüte des modernen Realismus“ 81 bei, wenn er dem Leser Einsichten in Erscheinungsweisen des Sozialen – ein Verstehen von Sozialem – dadurch ermöglicht, dass er in arabesker Verdoppelung des Blicks nicht nur die Erscheinungsweisen selbst, sondern auch deren artistisch-mediale Produktionsbedingungen in einer theatralen „Tanz-Schrift des Schönen“,82 einer ornamentalen Soziographie, zur Anschauung bringt.

Contretanz-Bild herausgelesene „Verherrlichung des Bürgertums“ nichts mehr mit der idealistisch-anthropozentrischen Interpretation des arabesken Contretanzes als Sinnbild freiheitlicher Sozialität gemein, wie etwa Schiller sie vornimmt. (Vgl. oben Anm. 63). Zwar lässt auch Fontane den ästhetisch entworfenen Bürger Freytags zu einer Form der ‚Freiheit‘ in dem Sinne gelangen, dass er seine gesellschaftliche Einbindung und Beschränkungen anerkennt, doch bleibt dies, wie gesehen, auf ein ‚gewisses Maß‘ begrenzt sowie an eine „geistige Potenz“ des einzelnen Bürgers gebunden, die die ‚übliche‘ Selbstauflösung in der „Zerstreuung“ verhindert. Das liegt weit entfernt von Schillers Befähigung aller Tanzenden zum freimütigen Ziehen von sanft geschwungenen, d. h. Kollisionen mit den anderen vermeidenden Linien. Ebenso wenig kann Fontanes ‚ganzer, ungeteilter Mann‘ mit dem insbesondere von Jacob Burckhardt geprägten Konzept des „verdichteten und verklärenden Großen Individuums“ verrechnet werden (vgl. v. Graevenitz, Fontane, S. 159), das noch bei Lazarus als Gegenmodell zum funktionalistisch ausdifferenzierten Individuum begegnet. Trotz des Nachsatzes „Man gebe unserem Staate eine lange andauernde Reihe solcher Männer, und man wird an dem Wachsen und Gedeihen des Ganzen die Wirksamkeit der einzelnen ermessen können“ (Fontane, Freytag, S. 227) zielt Fontane vor allem auf das Individuum als funktionalistisch ausdifferenziertes – als ‚Durchschnittsmensch‘ im Wortsinn. Das belegen seine Aufmerksamkeit für Freytags einfachen Kaufmann, seine Evokation einer ganzen „Reihe solcher Männer“ und v. a. das im Verbund mit dem Contretanz evozierte Kreislinien-Bild. In diesem ist die Verwicklung der ornamentalen Linie ins Individuum hinein versetzt; sie trifft es gewissermaßen ‚ins Mark‘: Statt ihm eine lineare Kontur zu geben, die es eindeutig definierte, trägt sie zu seiner Auflösung ins Amorphe bei. Fontanes ‚gewisses Maß‘ an Souveränität des Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft erscheint so als prekäre, ja paradoxe Balance zwischen der Selbstauflösung in der „Zersplitterung“ (oder auch dem Ersticken in der Verstrickung) und der Selbstfindung in der partiellen ‚Überschau‘ auf sie. 81 Fontane, Freytag, S. 215. 82 V. Graevenitz, Ornament, S. 93.

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2 Erzählerische Inszenierung topisch-arabesker Romanproduktion in Cécile Ob diese ‚propositionale‘83 Poetologie Fontanes dem Roman Freytags gerecht wird, sei dahin gestellt. In jedem Fall kann sie als ‚Prolog‘ zu Fontanes eigenem, rund dreißig Jahre später entstandenen Cécile-Roman gelesen werden.84 Darin kehrt das räumliche setting der poetologisch gedeuteten Contretanz-Szenerie zunächst an einem wichtigen ‚strukturellen Knotenpunkt‘ des Erzähltexts als literarisches Raumbild wieder. Sie erfährt dort eine medienspezifische Präzisierung, um schließlich durch den weiteren Textverlauf ‚performativ eingelöst und ausdifferenziert‘ zu werden. Diese performative Umsetzung vollzieht Fontanes Text dank einer bemerkenswerten Aktualisierung des rhetorisch-dialektischen loci-Verfahrens der ‚alten Topik‘. Sowohl im Blick auf Figurenkonstellation und Handlungsfügung als auch hinsichtlich der Gestaltung der Erzählperspektive kann das zweite Kapitel des Romans (C 10–15) als wichtiger ‚struktureller Knotenpunkt‘ des Texts gelten. Hier begegnen sich die beiden Hauptfiguren zum ersten Mal: die als „Reconvalescentin“ (C 5) und „schöne Frau“ (C 8) eingeführte Cécile von St. Arnaud, die mit ihrem Mann per Eisenbahn zur Sommerfrische in den Harz gefahren ist (Kapitel 1), und Herr von Gordon-Leslie, weit gereister „Civil-Ingenieur“ (C 23), der sich von seiner Tätigkeit, Kontinente mit Telegraphenkabel zu verbinden, im Harz „ausruhen und eine gute Luft athmen und nebenher auch Plätze wieder sehen [will], die [ihm] aus [s]einer Kindheit her theuer sind“ (C 22). Bei dieser ersten Begegnung auf dem Balkon des gemeinsamen Hotels wird Gordon, „über seine Zeitung fort[blickend]“ (C 12), zum aufmerksamen Beobachter Céciles und beginnt angesichts ihrer Schönheit, ihres melancholischen Zugs und des Altersunterschieds zum Ehemann „Muthmaßungen“ (C 14, 15) über sie anzustellen – „auszuspinnen“ (C 15), wie der Text im Rückgriff auf die Fadenund Textilmetaphorik sagt. An dieser Stelle liegt der Ausgangspunkt für den erzählten Erforschungsprozess der schönen, rätselhaften Cécile, der, wie zu

83 Vgl. die zu Beginn dieses Kapitels unter III.1.1 zitierten Beobachtungen v. Graevenitz’ aus „Contextio“ zur typischen Verwendungsweise poetologischer Web-Metaphern in Romanen des Mittelalters und der Romantik. Diesen Beobachtungen zufolge nutzen die Romane die Webmetaphern „in Prologen und an strukturellen Knotenpunkten“ dazu, „[p]ropositionale Poetologien“ zu formulieren, die durch den Romantext „performativ eingelöst und ausdifferenziert“ werden. 84 Dieser wird zitiert nach Theodor Fontane, Cécile, Bd. 9 der Großen Brandenburgischen Ausgabe, hg. v. Hans Joachim Funke und Christine Hehle, Berlin 2000, im Folgenden ausgewiesen mit Sigle C und Seitenzahl.

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zeigen sein wird, im Sinne einer topischen inventio die spätere Interaktion der beiden wie auch der anderen Figuren und damit das gesamte weitere Romangeschehen maßgeblich bestimmt. Dieses Geschehen hat Fontane selbst in einem Brief prägnant so zusammengefasst: Ein forscher Kerl, 25, Mann von Welt, liebt und verehrt – nein, verehrt ist zuviel – liebt und umkurt eine schöne junge Frau, kränklich, pikant. Eines schönen Tages entpuppt sie sich als reponierte Fürstengeliebte. Sofort veränderter Ton, Zudringlichkeit mit den Allüren des guten Rechts. Conflikte; tragischer Ausgang.85

Zu präzisieren ist, dass dieses Geschehen dank seiner räumlichen Situierung in zwei etwa gleich umfängliche Teile unterteilt ist; der erste spielt im Harz, der zweite in Berlin. Im ersten Teil bestimmt das gemeinsame sightseeing in der Sommerfrische die Handlung: Gordon erwandert mit den St. Arnauds in einer wachsenden Touristengruppe die Sehenswürdigkeiten des Harzes, an denen Gordon Cécile ‚umkurt‘, sie scharf beobachtet und ihre rätselhafte Andersartigkeit immer deutlicher zu Tage tritt. Neben frappanten Bildungslücken fallen Gordon körperlich-mechanische Handlungen und Schwächeanfälle Céciles auf, die insbesondere seine oft sittenstrengen Kommentare an den besuchten Orten auslösen und vom Text selbst als „hysterische[ ] Paroxismen“ (C 148) bezeichnet werden. Mehr und mehr scheint sich Cécile im Laufe des Harzspaziergangs aber zu erholen. Nach einem kurzen Moment der Annäherung – dem indirekten und mit Handkuss besiegelten Eingestehen der gegenseitigen Neigung – und einem längeren Moment der Trennung aus beruflichen Gründen kommt es zum Wiedersehen in Céciles Berliner Wohnung. Eine Weile geht es hier bei täglichen Besuchen auf ihrem „Garten-Balkon“ (C 142) harmonisch zu: Cécile wirkt gesund, und Gordons Forscherdrang ist im „Glück dieser Tage“ (C 153) vorerst zur Ruhe gekommen. Ein fundamentaler Wendepunkt tritt ein, als Gordon aus einem Brief seiner Schwester erfährt, dass Cécile eine Fürstengeliebte war, ehe sie St. Arnaud heiratete. Weil diese Heirat als Mesalliance denunziert wurde, kam es zum Duell, in dem der Widersacher von St. Arnaud getötet wurde. Nach dieser ‚Entdeckung‘ sieht Gordon in Cécile zusehends nur noch die Fürstengeliebte, entbrennt in Leidenschaft und schreibt die melodramatische Vorgeschichte Céciles insofern weiter (und sich in diese Fortsetzung als Protagonist mit ein), als er nun Ansprüche auf Cécile geltend macht; St. Arnaud erfährt davon, es kommt zum Duell, Gordon stirbt, und Cécile begeht Selbstmord.

85 Theodor Fontane, Brief an A. Glaser vom 25. 4. 1885, zitiert nach Daragh Downes, Cécile. Roman. In: Fontane-Handbuch, hg. v. Christian Grawe und Helmuth Nürnberger, Stuttgart 2000, S. 563–574, hier S. 564.

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2.1 Die Schönheitslinie im arabesk verdoppelten „Landschaftsbild“ In der ersten Balkonszene im Harz nun begegnen sich nicht nur die Hauptfiguren zum ersten Mal; fast unmerklich geht hier auch die unpersönliche Erzählperspektive des ersten Kapitels in die personale Perspektive Gordons über:86 Er wird nicht nur zum erzählten Erforscher Céciles, sondern auch (über weite Teile) zum personalen Erzählermedium seines Forschungsprozesses. Dieser dezente Perspektivwechsel vollzieht sich just zwischen zwei differenten Blicken, die der Text dem Leser kurz nacheinander auf das vor dem Balkon ausgebreitete „Landschaftsbild“ (C 10) eröffnet. Der erste Blick, der noch allgemein dem „Dutzend Personen“ auf dem Balkon zugeordnet ist, erfasst dieses Bild als dreidimensionalen Raum. Der räumliche Eindruck verdankt sich dem Zusammenwirken dreier heterogener Bildbereiche, die, stark typisiert, Natur, Technik und Kunst ins Bild setzen: Das einzige Stück wilder Natur, die „Bergwand sammt ihren phantastischen Zacken“, gibt als Hintergrund dem Bild Tiefenschärfe und begrenzt zugleich den Blick. Hauptaugenmerk der Betrachter liegt zunächst auf den Insignien der die Natur bedrohenden Industrie in der Mitte („Feueressen und Rauchsäulen“, „dicke[r] Qualm“) und erfasst dann die „Parkwiese“ im Vordergrund: Diese war das Schönste der Scenerie, schöner fast als die Bergwand sammt ihren phantastischen Zacken, und wenn schon das saftige Grün der Wiese das Auge labte, so mehr noch die Menge der Bäume, die gruppenweis, von ersichtlich geschickter Hand in dies Grün hineingestellt waren. Ahorn und Platanen wechselten ab, und dazwischen drängten sich allerlei Ziersträucher zusammen, aus denen hervor es buntfarbig blühte: Tulpenbaum und Goldregen, und Schneeball und Akazie. Der Anblick mußte Jeden entzücken […]. (C 14)

Es ist das sogleich erkannte absichtsvolle Arrangement der vegetabilen Ordnung in Gruppen, Reihen und Paaren, das dem Betrachter das größte Vergnügen bereitet. Die Schönheit der Parkwiese erklärt sich demnach aus einer auf Wirkung bedachten kombinatorischen Ordnung unterschiedlicher Elemente. Das Nebeneinander natürlicher und technisch erzeugter Elemente im Gesamtbild (Bergwand-Industrie) wiederholt sich in der Parkwiese, dem dritten Element und Vordergrund des Bilds, in gesteigerter Form: Gras und Bäume sind mit Ziersträuchern, also qua Zuchttechnik erzeugten Pflanzen, in ein vielfältig variiertes künstliches Gefüge gebracht, in dem die Grenze zwischen Natur und

86 In der Terminologie der Narratologen Matías Martínez und Michael Scheffel wäre dieser Wechsel als Übergang von der ‚externen Fokalisierung‘ durch einen ‚extradiegetischheterodiegetischen‘ Erzähler zur (mehrheitlich) ‚internen Fokalisierung‘ durch einen ‚intradiegetisch-homodiegetischen‘ Erzähler zu charakterisieren. Vgl. dies., Einführung in die Erzähltheorie, München 92012, S. 67 und S. 84 f.

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Technik beständig umspielt und kaum noch auszumachen ist.87 Dass diese künstlerische Kombinatorik als arabeske verstanden werden kann, deutet sich hier schon an: Mit der Bezeichnung „Ziersträucher“ fällt der vorromantische Funktionsbegriff arabesker Ornamentik. Dieser konzedierte Blattranken und anderen Ornamentformen nur die marginale Rolle, als Bei-Werk das Hauptwerk im Mittelbereich dekorativ zu umspielen, wie etwa ein äußerer Zierrahmen, der ein Kunstwerk in Bild oder Schrift umgibt.88 Demgegenüber sind hier die Ziersträucher in den Zentralbereich des Bildes „hineingestellt“, und statt des künstlerischen genius zeichnet nun das ‚handwerkliche Geschick‘ mit seiner durch abstrakte Mittel (rhythmischen Wechsel, paarweise Gruppierung, Reihenbildung) erlangten Musterung des Raumes für das „Schönste der Scenerie“ verantwortlich. Trotz der Vermischung von Natur und Technik im Kunstraum ‚Park‘ erscheinen die drei Bildbereiche89 noch hart aneinander gefügt: Das Fabrikensemble mindert trotz eines beschwichtigenden „nicht allzu viel“ (C 10) den Reiz des Gesamtbildes,90 schmälert die Wirkung der beiden anderen Bereiche, und Bergwand und Parkwiese sind Konkurrenten im Wettstreit um den Vorrang in puncto Schönheit.91 Zusammengehalten wird die heterogene Bildkombination für die Betrachter auf dem Balkon rein formal durch den Architekturrahmen, den die zeittypisch verzierten Konstruktionselemente des Balkons bilden. Balustrade, Stützpfeiler und Überdachung werden zwar nicht erwähnt, durch das ‚Klappern‘ der „Jalousie-Ringe“ (C 11) aber evoziert. Die Reduktion auf Typisches, das Vorherrschen des vom Menschen Gemachten, das Geschick der Zusammenstellung des Ganzen, das durch eines seiner Teile erkennbar gemacht 87 Der Gegensatz ‚Gras/Bäume vs. Ziersträucher‘ liegt innerhalb des Naturkontinuums ‚Vegetation‘, das wiederum zum Material des Kunstraums ‚Park‘ wird. 88 Vgl. Oesterle, ‚Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente‘. Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske. In: Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert, hg. v. Herbert Beck, Peter C. Bol und Eva Maeck-Gérard, Berlin 1984, S. 119–139, hier S. 122 f. 89 – die man ‚phantastisch‘, ‚realistisch‘‚ und ‚artistisch‘ nennen könnte – 90 Diese beschönigende Beschreibung wird wenig später im 3. Kapitel konterkariert durch den bissig-spöttischen Kommentar zweier Berliner Touristen zum fraglichen Landschaftsbild: „‚Das also ist der Harz oder das Harzgebirge […]. Merkwürdig ähnlich. Ein bischen [sic] wie Tivoli, wenn die Kuhnheim’sche Fabrik in Gang ist. Sieh’ nur Hugo, wie das Ozon da drüben am Gebirge hinstreicht. In den Zeitungen heißt es in einer allwöchentlich wiederkehrenden Annonce: ›Thale, klimatischer Kurort‹. Und nun diese Schornsteine! Na, meinetwegen; Rauch conservirt [sic], und wenn wir hier vierzehn Tage lang im Schmook hängen, so kommen wir als Dauerschinken wieder heraus. Ach, Berlin! Wenn ich nur wenigstens die Roßtrappe sehen könnte.‘“ (C 17) 91 Vgl. die paradoxe Formulierung, die den Wettstreit nicht auflöst: „Diese [Parkwiese] war das Schönste der Scenerie, schöner fast als die Bergwand sammt ihren phantastischen Zacken […].“ (C 10)

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wird, und die Einfassung all dessen durch einen Zierrahmen verleihen dem erzählten dreidimensionalen Bild weniger den Charakter eines kultivierten Naturraums, denn den eines kulissenartigen, arabesk gestalteten Bühnenraums. Die Schönheit, die dieser schauen lässt, wird wie bei Hogarth durch den Hinweis auf die durchschlagende Breitenwirkung beim Publikum belegt: „Der Anblick mußte Jeden entzücken“ (C 11).92 Kurz darauf wird dasselbe Landschaftsbild von Gordons Blick erfasst. Eben noch in die Lektüre seiner Zeitung vertieft, schiebt er wegen eines schlecht geschriebenen „Leitartikel[s]“ (C 13) „das Blatt verdrießlich wieder bei Seite“ (C 14), fokussiert zunächst das „Gebirge“ ‚hinten-oben‘ und lässt seinen Blick „[z]uletzt […] auf dem Vordergrund“ (ebd.) ruhen. Dort beobachtet er, wie Cécile mit ihrem Mann „aus“ einem „Bosquet“ hervortritt, und folgt ihrem Weg wieder ein Stück zurück an den oberen Rand der Parkwiese.93 Im Zuge dieser Blickbewegung geschieht Bemerkenswertes: Die ‚Industrie‘ fällt nicht mehr als Störfaktor ins Auge, dafür werden die „Kieswege, die sich, in abwechselnd breiten und schmalen Schlängellinien, durch die Parkwiese hinzogen“ (C 14), sichtbar. Sie sind die schöne Variante der vom ersten Blick erfassten schroffen Zacken 92 Bereits Max Tau hat in seiner Studie Der assoziative Faktor in der Landschafts- und Ortsdarstellung Theodor Fontanes, Kiel 1928, auf den künstlich-schematischen Charakter von Fontanes Landschafts- und Ortsdarstellungen hingewiesen, auf deren „bühnenhaft-szenische[ ] Anordnung der Dinge“ (Tau, Assoziativer Faktor, S. 18). Unter anderem auf das hier analysierte „Landschaftsbild“ in Cécile bezogen, spricht Tau von einer „gestellten Landschaft“ (Tau, Assoziativer Faktor, S. 15) und konstatiert: „Es ist auffallend, daß Ausdrücke wie ‚Landschaftsbild‘ und ‚Szenerie‘ [sic] zur Darstellung dienen. Wo reine Gestaltung einer geschauten Landschaft gegeben werden müßte, finden wir eine Flächenlandschaft an ihrer Stelle, bei der eine Angabe der Verteilung der Dinge in einem abgeschlossenen Bildrahmen […] eine Raumvorstellung erwecken soll. Einzelne Teilbilder erscheinen neben- oder hintereinander gestellt, ohne eine Vorstellungseinheit zu ergeben (die durch Aufteilung, Richtungsangaben, Abgrenzung des reproduktiven Landschaftsbildes vorgetäuscht wird).“ (Tau, Assoziativer Faktor, S. 15). Zwar versteht Tau Fontanes Darstellungs-„Technik“ als „Kopierung von Werken aus dem Gebiete der bildenden Kunst“ (Tau, Assoziativer Faktor, S. 15), identifiziert aber keine konkreten Vorbilder, sondern bezieht dieses ‚Kopieren‘ auf den erwähnten und von ihm kritisierten Eindruck des Gestellten, Flächigen und Gerahmten. 93 Die Blickbeschreibung lautet im Zusammenhang: „Und das Blatt verdrießlich wieder bei Seite schiebend, sah er lieber auf das Gebirge hin, das er, seit länger als einer Woche, an jedem neuen Morgen mit immer neuer Freude betrachtete. Zuletzt ruhte sein Blick auf dem Vordergrund und verfolgte hier die Kieswege, die sich, in abwechselnd breiten und schmalen Schlängellinien, durch die Parkwiese hinzogen. Eins der Bosquets, das dem Sonnenbrand am meisten ausgesetzt war, zeigte viel Gelb und er sah eben scharf hin, um sich zu vergewissern, ob es gelbe Blüthen oder nur von der Sonne verbrannte Blätter seien, als er aus eben diesem Bosquet die Gestalten des St. Arnaud’schen Paares hervortreten sah. Sie bogen in den Weg ein, der, jenseits der Parkwiese, parallel mit dem Hôtel lief, so daß man, vom Balkon her, Beide genau beobachten konnte.“ (C 14)

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der Bergwand sowie des sich am Gebirge in einer Linie hinziehenden „dicken Qualm[s]“.94 Beide fallen mit dem Auftauchen der Schlängellinien nicht mehr als Grenzlinien einer unharmonischen Bildfügung ins Auge. Zwar sind jetzt erst alle drei Bildbereiche durch eine Linie voneinander abgetrennt,95 gleichwohl haben die entdeckten Schlängellinien den Effekt, zwischen den heterogenen Bildbereichen zu vermitteln, ihre gegenseitige Beeinträchtigung und Konkurrenz zu neutralisieren. Erst unter Gordons Augen, auf den zweiten Blick also, wird in dem bühnenartigen Landschaftsbild die Ornamentform der Schlangenlinie sichtbar und mit ihr die „Fähigkeit“ arabesker Kombinatorik, vorgängige heterogene „Kunstformen, Motiv- und Bildfelder in ein verjüngtes quasi ornamentales, das Heteronome gleichwohl bewahrendes, vielstimmiges Ensemble einzuschmelzen“.96 Mit „den Schlängellinien“ als Grundfigur des „Schönste[n]“ arabesker Bildgestaltung, die diese Gestaltung selbst erkennbar macht, mit dem „sich bald nähernden, bald entfernenden Paare“, dessen mäandernde Bewegung durch die line of beauty vorgezeichnet wird, sowie mit Gordon als personalisiertem Beobachter der „Scenerie“ vom Balkon herab vervollständigt sich das erzählte Landschaftsbild zur literarischen Postfiguration der Hogarthschen Contretanz-Szenerie.

2.2 Massenmedialer Kontext: die journalistische Titelblatt-Arabeske In Gordons Schau-Bild kommt auch die „künstliche Spannung zwischen ‚Ornamentmodus und Bildmodus‘“ 97 zur Geltung, also das Changieren zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, das die Szenerie bei Hogarth und in Fontanes Rezension kennzeichnet und das sie zur kunsttheoretischen Reflexionsfigur be94 Vgl. Hogarth’ Konfrontation verschiedener Linienarten in Zeichnung 71 (vgl. Abb. 1). Hier kommen neben der verdoppelten line of beauty u. a. Gerade und Zick-Zack-Linie zu stehen, wodurch erstere als die harmonischste und schönste ausgewiesen werden soll. 95 Die Bergzacken markieren den Übergang zum äußersten oberen Architekturrahmen, der am Gebirge hinziehende ‚dicke Qualm‘ ist Grenzlinie zwischen Bergwand und Industrie und der Schlängelweg, den die St. Arnauds einschlagen, bildet den Abschluss der Parkwiese zum Industrieensemble hin. 96 Vgl. Oesterle, Arabeske, S. 97, zur Leistung der romantischen Arabeske bei E. T. A. Hoffmann. Was mit dem ‚Bewahren der Heteronomie‘ gemeint ist, findet sich bei v. Graevenitz präzisiert: „Die Arabeske als ornamentale Konstellation von Rand und Mitte, die in ihren Gebilden die Zusammenfügung des Differenten unendlich oft wiederholt, die dem Differenten, wie bei Runge, zwar einen Symmetrieursprung als Einheitspunkt zuordnen kann, die aber dann im anders konstruierten Rahmen eben diesen Einheitsbezug wieder relativiert, diese Art von Arabeske veranschaulicht wie kein anderer Bildtyp, was ‚Differenz von Differenz und Einheit‘ als Arrangement-Regel bedeuten kann.“ (V. Graevenitz, Memoria, S. 297, Hervorh. im Original). 97 Oesterle, Arabeske, S. 90 f.

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fähigt, weil es auf die mediale Verfasstheit des Wahrgenommenen verweist. Dieses Changieren verdankt sich den leichten Variationen der Szenerie: der Umgestaltung der Tanzfläche zur Parkanlage, der Reduktion der tanzenden Paare auf ein Spaziergängerpaar98 sowie der spezifischen Linienführung der line of beauty, die nicht nur die Bewegung des Paares, sondern auch Gordons Betrachterblick in der geschilderten Weise lenkt. All das macht Gordons Landschaftsbild zu einer Simultanbildarabeske des „Banderolentyp[s]“.99 Deren zentrales Strukturmoment ist eine spezifische Form der Schlängellinie, die Wegbanderole, in deren Windungen perspektivische Einzelszenen so angeordnet sind, dass sie vom ornamentalen Band sowohl getrennt als auch verbunden erscheinen. Berühmtes Beispiel ist Moritz von Schwinds spätromantischer Bilderbogen Der gestiefelte Kater zum gleichnamigen Märchen (vgl. Abb. 3). Anhand dieses Bilderbogens wurden der ‚narrative‘ und der perspektivische Effekt der Banderolenarabeske so beschrieben: Den Schwüngen des Weges folgt beinahe unmerklich der jeweilige Perspektivwechsel, so daß die Landschaft sich in die Höhe staffeln kann, um die verschiedenen Szenen aufzunehmen. Dadurch entsteht eine Nahansichtigkeit, die dem kontinuierenden Erzählstil ebenso zugutekommt wie dem Charakter der lebendigen Fülle. […] Durch das Hochklappen der Landschaft durchdringen sich Raum- und Flächencharakter, durch das Spielen mit den Größenverhältnissen [und die Kombination märchenhafter und realistischer Szenen, Ch. F.] bleiben Realität und Fiktion in der Schwebe.100

Fontane und seinen zeitgenössischen Lesern war die Banderolenarabeske insbesondere durch die Titelblattgestaltung der Gartenlaube, des erfolgreichsten Massenblatts des 19. Jahrhunderts,101 wohlbekannt. Dessen Jahrgangstitelblatt (vgl. Abb. 4), das über Jahrzehnte nur eine einzige Variation erfahren hat,102 zeigt gleichfalls eine parkähnliche Landschaft, die aus heterogenen Bildbereichen, realistischen wie imaginär-allegorischen Szenen, zusammengesetzt ist. 98 Diese Reduktion ist insofern als vorläufig zu betrachten, als die Szenerie nur den Auftakt des erzählten Contretanzes bildet und der gesamte Text, wie im Folgenden zu sehen ist, als dessen Ausführung verstanden werden kann. 99 V. Graevenitz, Memoria, S. 303. Ausführlicher zu diesem Arabeskentypus am Beispiel Moritz von Schwinds Titelblatt-Gestaltung von Tiecks Der Gestiefelte Kater, vgl. Werner Busch, Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985, S. 90–95. 100 Busch, Die notwendige Arabeske, S. 92. 101 Die Gartenlaube gilt „in vielerlei Hinsicht“ als das „Flaggschiff des ganzen ZeitschriftenGenres“ (vgl. v. Graevenitz, Memoria, S. 296) bzw. als „einflussreichste[r] Exponent[ ] der Familienblatt-Kultur“ (vgl. Helmstetter, Geburt des Realismus, S. 77). Zu ihrer Geschichte und medialen Bedeutung vgl. auch Günter, Medien, S. 55 ff. 102 Das hier abgebildete erste Jahrgangstitelbild blieb von 1861 bis 1883 unverändert; das dann neu gestaltete Titelbild zierte die Jahrgangsbände bis 1902.

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Abb. 3: Moritz von Schwind, Der gestiefelte Kater, München 1850.

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Abb. 4: Jahrgangstitelblatt der Gartenlaube (1876), Leipzig Ernst Keil 1876.

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Die Wegbanderole, entlang derer diese Landschaft sich „in die Höhe staffel[t]“, erscheint hier verdoppelt als Schrift- und Pflanzenbanderole: „[A]us dem oberen Bildhintergrund werden entlang der [Schrift-]banderole die Episoden durch eine Simultanlandschaft bis zur Sockelzone des Vordergrunds geführt.“ 103 So gelangt der Betrachterblick „zum Arabesken-Ursprung“, zum […] Wurzelgrund der Pflanzenbanderole, die den Leser gegenläufig zur Schriftbanderole wieder hinaufführt, hinauf zu der in Bild und Titel doppelten ‚Gartenlaube‘, von dort hinaus auf den Weg der Spaziergänger, der Sonne entgegen, dem alten Licht der Aufklärung und Bildung.104

Gordons Blick auf das Landschaftsbild folgt, wie gesehen, exakt derselben Linienführung: von ‚hinten-oben‘ nach ‚vorne-unten‘ und wieder (ein Stück) zurück. Auch einen Ursprungspunkt macht er ‚vorne-unten‘ aus, wenn er im Bereich der Parkwiese, die das arabeske Kombinationsprinzip des Gesamtbilds ansichtig macht, einen Zierstrauch als den Quellpunkt der Sichtbarkeit und mäandernden Bewegung des Spaziergängerpaares wahrnimmt: Eins der Bosquets, das dem Sonnenbrand am meisten ausgesetzt war, zeigte viel Gelb und er sah eben scharf hin, um sich zu vergewissern, ob es gelbe Blüthen oder nur von der Sonne verbrannte Blätter seien, als er aus eben diesem Bosquet die Gestalten des St. Arnaud’schen Paares hervortreten sah. Sie bogen in den Weg ein, der, jenseits der Parkwiese, parallel mit dem Hôtel lief, so daß man, vom Balkon her, Beide genau beobachten konnte. (C 14)

Für einen Moment scheint das Paar mit dem Zierstrauch verwachsen, es wird aus der arabesk-grotesken Verbindung von (Zier-)Pflanze und Mensch in die Sichtbarkeit ‚geboren‘, um dann in deutlicher „Nahansichtigkeit“ dem mäandernden Weg zu folgen: „so daß man, vom Balkon her, Beide genau beobachten konnte“. Den Gegensatz von Raumillusion und medialer Fläche umspielt diese Banderolenarabeske demnach gleich mehrfach: Die Schaubühnentiefe des ‚Landschaftsbilds‘, die von der flächigen Parkwiese als Ergebnis arabesker Kombinatorik des Hotelgärtners (bzw. Fontanetexts auf der Papierseite) ausgewiesen ist, wird mit Gordons Entdeckung der line of beauty bzw. Wegbanderole rückprojiziert auf die Fläche eines Titelblatts mit ‚hochgeklappter‘ Banderolenlandschaft. Gegenläufig eröffnet Gordons Identifizierung des dreidimensionalen Zierwerks („Bosquets“) in der planen Wiesenfläche als Quellgrund der Beobachtbarkeit des Spaziergängerpaares eine Perspektive auf die unsichtbaren

103 V. Graevenitz, Memoria, S. 296. 104 V. Graevenitz, Memoria, S. 296. Der Gartenlaube, einem Grenzort zwischen innen und außen, Haus und Natur, ist Fontanes Hotelbalkon in Cécile vergleichbar.

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‚Wurzelgründe‘ des Sichtbaren. Angeregt durch die suggerierte Ergründbarkeit der Hintergründe des Sichtbaren, beginnt Gordon, sich in „Muthmaßungen“ zu dem Erscheinungsbild des Spaziergängerpaares zu ergehen: ‚Das ist Baden-Baden,‘ sagte der vom Balkon aus sie Beobachtende. ‚Baden-Baden oder Brighton oder Biarritz, aber nicht Harz und Hôtel Zehnpfund.‘ […] Und unter solchem Rechnen und Erwägen erging er sich in immer neuen Muthmaßungen darüber, welche Bewandtniß es mit dieser etwas sonderbaren und überraschenden Ehe haben möge. ‚Dahinter steckt ein Roman. […] Nun ich will es schon erfahren.‘ (C 14 f.)

In ‚witziger‘ Umkehrung des Argumentationsgangs der Freytag-Rezension ist hier das poetologische Potential der Contretanz-Szenerie angesprochen. Während der Leser Fontane ‚hinter‘ dem Roman Soll und Haben, d. h. in dem von diesem entworfenen imaginären Kunstraum, nicht nur die arabeske Struktur seiner textura, sondern diese als (Linien-)Bild für die realen medialen, mithin kulturellen Bedingungen sozialer Erscheinungsweisen entdeckt und diesen Lektüreeffekt durch das Contretanz-Bild veranschaulicht, entwirft der Romancier Fontane mit Hilfe des tradierten settings der Contretanz-Szenerie einen imaginären Kunstraum, setzt darin Gordon an den Platz des Lesers und lässt ihn ‚hinter‘ den für ihn realen sozialen Erscheinungsweisen, die er auf den „Schlängellinien“ im „Landschaftsbild“ schaut, einen „Roman“ vermuten, dessen textura es nun zu entdecken gilt. Der Logik der Contretanz-Szenerie folgend, muss es sich dabei um eine arabeske textura handeln, die nicht nur Einsichten in die sichtbaren sozialen Erscheinungsweisen ermöglicht, sondern zugleich die artistischmedialen Produktionsbedingungen dieser Einsichten zur Anschauung bringt – um eine „Tanz-Schrift des Schönen“ 105 also. Anders als in der Freytag-Rezension ist die ‚Schönheit‘ des Geschauten, die zur Auffindung der arabesken „Tanz-Schrift“ reizt, in dieser literarischen Reinszenierung der Contretanz-Szenerie nach dem Vorbild der Gartenlaube nun deutlich erotisch konnotiert: Es ist hier ganz konkret – wie auch in Hogarth’ Beschreibung der Urszene seines Interesses an der Schönheitslinie106 – der Blick des männlichen Beobachters auf den in Schlangenlinien sich bewegenden weiblichen Körper, der gebannt ist und das Rätsel der Schönheit ergründen will. Die von Hogarth seiner Analysis beigegebene „Ursprungslegende“ hat Sabine Mainberger als ein Beispiel neben anderen dafür angeführt, dass seine Analysis bei allem Rationalisierungsbemühen die alten Vorstellungen vom Sündenfall, die traditionell mit der line of beauty als Schlangenlinie verbunden sind, immer noch präsent hält:

105 Vgl. v. Graevenitz, Ornament, S. 93. 106 Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 221.

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Auch wenn das visuelle Vergnügen derart mit optischer Fachterminologie rationalisiert wird, bleibt der erinnerte Eindruck von der Schönheit der Schlangenlinie doch an die Weiblichkeit, an den Kontertanz und an dessen Beobachtung durch einen männlichen Zuschauer gebunden; ihre Macht stammt nicht zuletzt aus dem unerkannten sexuellen Begehren.107

Solches Begehren indiziert Fontanes Text in der Balkonszene recht explizit dadurch, dass Gordons wiederholte Blickschwenks nicht nur von den „phantastischen Zacken“ der Bergwand vorgeprägt werden, sondern auch durch den „Zick-zack“-Flug von Schwalben (C 10), der von St. Arnaud auf die Achtlosigkeit der ‚sich haschenden‘ und ‚miteinander spielenden‘ Tiere gegen sexualmoralische Grenzziehungen zurück geführt wird: Als Cécile fragt, „‚Vielleicht sind es Geschwister, oder vielleicht ein Pärchen?‘“ antwortet er: „‚Oder beides. Die Schwalben nehmen es nicht so genau. Sie sind nicht so diffizil in diesen Dingen.‘“ (C 12) Erotik, respektive sexuelles Begehren, ist, so buchstabiert Fontanes Cécile-Text Hogarth’ Contretanz-Szenerie hier aus, als Movens für das Streben nach ästhetischer Schönheitserfahrung alias ‚sozialem Verstehen‘ im arabesken Textspiel, dessen Reiz im Umspielen gesellschaftlicher Differenzen und Grenzziehungen liegt, stets mit zu bedenken. Das Begehren impliziert aber auch die Gefahr, dass die schöne Erkundung dieser Differenzen und Grenzen in phantastisch-abrupte Schwenks und konfliktreiche Zusammenstöße mündet.

2.3 Lesegewohnheiten des textura-Produzenten: der Feuilletonroman als Roman ‚dahinter‘ Fontanes literarisierte Contretanz-Szenerie bringt zudem eine in der Rezension ebenfalls noch nicht reflektierte mediale Bedingung des realistischen Romans zur Anschauung, die Gordons Einsichten in die Hintergründe von Céciles rätselhafter Erscheinung maßgeblich mitbestimmen wird: die Prägung von Gordons Wahrnehmung durch das Zeitungsmedium. Jedes Mal, bevor er Cécile auf dem Balkon (C 12) und im Landschaftsbild (C 14) in den Blick nimmt, liest er in der Zeitung.108 Ihr Rand, über den er im Zick-Zack hinweg und wieder zurück blickt, bildet demnach den untersten und das heißt: fundierenden Rahmen seines Landschaftsbilds mit Spaziergängerpaar. Die Blickschwenks, mit denen er dieses verfolgt, erscheinen als Fortsetzung seines Pendelblicks zwischen Zeitung

107 Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 221. 108 Auch im weiteren Textverlauf tritt Gordon wiederholt als Zeitungsleser in Erscheinung (C 63, 169).

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und Landschaft. So wird offensichtlich, dass sich Gordons Beobachtungstechnik an den Sehgewohnheiten der zeitgenössischen Bildungspresse orientiert. In deren Organen waren praktisch alle literarischen Texte der heute kanonischen (wie vergessenen) Autoren der Zeit, also auch Fontanes, im Erstdruck erschienen, bevor sie im Buchformat auf den Markt kamen.109 Das brachte nicht nur finanzielle Vorteile, sondern barg auch ein weit größeres Potential, Bekanntheit zu erlangen.110 Speziell in der Gartenlaube, die als „Flaggschiff“ 111 der Bildungspresse gilt, aber nicht nur hier, waren es just literarische Beiträge, die – im Fall von Romanen in Fortsetzungsabschnitte unterteilt – unmittelbar auf die Titelblätter folgten.112 Wenn also mit Gordons Entdeckung der line of beauty im Landschaftsbild die Titelblattarabeske der Gartenlaube assoziierbar wird und er dann sinniert: „Dahinter steckt ein Roman“, so ist die von ihm im weiteren Textverlauf produzierte textura seines Cécile-Romans in den medialen Kontext des feuilletonistischen Fortsetzungsromans gestellt.113 Dessen genrekonstitutives mediales „Schwanken“ 114 zwischen massenmedialer Unterhaltungsliteratur einerseits, die

109 Zu den medialen Wechselwirkungen zwischen Bildungspresse und realistischer Literatur des 19. Jahrhunderts sowie Fontanescher Prosatexte im Besondern, vgl. nach v. Graevenitz, Memoria, v. a. Helmstetter, Geburt des Realismus, Norbert Bachleitner, Kleine Geschichte des deutschen Feuilletonromans, Tübingen 1999, S. 32–39 und S. 65 ff. sowie Günter, Medien. 110 Vgl. Bachleitner zu den besseren Verdienstmöglichkeiten und zum vergrößerten LeserInnenkreis: „Die populären Familienzeitschriften, aber auch die Tageszeitungen erreichten schon im 19. Jahrhundert ein bei weitem größeres Publikum als die Buchausgabe eines durchschnittlich erfolgreichen Romans. Die erfolgreichen Periodika verfügten daher über ein ansehnliches Kapital, das sie unter anderem in Belletristik investierten. So wurde die Presse im 19. Jahrhundert zu einer bedeutenden Einkommensquelle für die Autoren, die unter Umständen mehr eintrug als das Veröffentlichen von Büchern. In gewisser Hinsicht waren Zeitschriften und Zeitungen maßgeblich daran beteiligt, daß sich der Typus des freien Schriftstellers herausbildete.“ (Bachleitner, Feuilletonroman, S. 22). 111 Vgl. v. Graevenitz, Memoria, S. 296. 112 V. Graevenitz, Memoria, S. 298. 113 Eine ähnlich komplexe Verschränkung von journalistisch vermittelter Trivialliteratur und romantischer Arabeske konstatiert Natalie Moser für Raabes Erzählung Meister Autor (vgl. dies., Die Erzählung als Bild der Zeit. Wilhelm Raabes narrativ inszenierter Bilddiskurs, Paderborn 2015, S. 138 ff.). Moser versteht die Arabeske als „genuin romantisches Prinzip“, das hier ausschließlich als Korrektiv gegen „die Vereinfachung und Trivialisierung des romantischen Erzählens in der Fülle von Gebrauchsliteratur vor allem in den Familienblättern und Zeitschriften“ diene (Moser, Bild der Zeit, S. 140). Demgegenüber kennzeichnet Fontanes Cécile die Arabeske als durchaus auch von den Familienblättern und Zeitschriften genutztes und von ihnen vermitteltes (Bild-)Prinzip, setzt es aber auch in erster Linie als Darstellungsform ein, die schematische Oppositionen und Hierarchisierungen verwirrt und infrage stellt (vgl. Fontanes am Ende dieses Teilkapitels zitierte explizite Wertschätzung der Arabeske als journalistischer Darstellungsform). 114 Bachleitner, Feuilletonroman, S. 20.

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mit ihrer je spezifischen Variation von (melo-)dramatischen Plot- und FormStereotypen nicht auf Information, schon gar nicht auf Faktizität, sondern auf Spannung und Affekterregung beim Leser zielt,115 sowie zeitungsmäßiger Nachricht andererseits, die im Bemühen um Information absolut neues und gesichertes Wissen zu vermitteln sucht – dieses Schwanken, das die Unterscheidung von Fiktion und Fakten verunsichert,116 ist hier präzise angesprochen: Gordons Satz „Dahinter steckt ein Roman“ verweist zum einen auf die Tendenz von Feuilletonromanen, Geschichten von Geheimnissen, von im Verborgenen ausgelebten Leidenschaften zu erzählen, etwa Ehebruchs-, Duell- und Selbstmordgeschichten. So mutmaßt er gleich im nächsten Satz, ob hinter der „etwas sonderbaren und überraschenden Ehe“ (C 14) der St. Arnauds eine Mesalliance oder Betrugsgeschichte stecken könnte.117 Das Titelblattzitat zwingt zum anderen aber auch 115 Bachleitner, Feuilletonroman, S. 20, im Anschluss an Luhmanns Bestimmung der „Realität der Massenmedien“. ‚Neues‘ kenne der Unterhaltungsroman nur als je besondere Variation herkömmlicher Schemata (vgl. Bachleitner, Feuilletonroman, S. 14). 116 Bachleitner, Feuilletonroman, S. 15 ff. Bachleitner argumentiert hier zum einen historisch: So sei etwa die Gattungsbezeichnung Novelle von novela, ital. für ‚Nachricht‘, abgeleitet, weil sie beide zunächst als Mitteilung eines unerhörten, neuen Ereignisses in der Volkssprache verstanden wurden (Bachleitner, Feuilletonroman, S. 18). Auch die ungenaue Spartentrennung zwischen Nachrichtenteil und Feuilleton als Unterhaltungsteil in den ersten Massenblättern und wieder in der heutigen Boulevardpresse erschwere mitunter die Unterscheidbarkeit zwischen Nachrichten- und Feuilletonbeiträgen und befördere gegenseitige Anschlüsse und Wechselwirkungen (Bachleitner, Feuilletonroman, S. 19 f.). Schließlich rückten für den Leser im 19. Jahrhundert Meldungen, die unter Rubriken wie ‚Aus aller Welt‘ oder ‚faits divers‘ subsumiert wurden, aufgrund ihres „kaum überprüfbare[n] Wahrheitsgehalt[s]“ in „eine große Nähe zu den Romanerfindungen. Entsprechend vielfältig sind auch die Möglichkeiten der Anknüpfung bzw. Überschneidung zwischen Nachrichten dieser Art und Roman.“ (Bachleitner, Feuilletonroman, S. 17) Zum andern zeigt Bachleitner, dass die „Auswahl-Selektoren“, die Luhmann für die Nachrichtenpräsentation in den Massenmedien dingfest macht, etwa: „Neuheit“, „Konflikte“, „Normverstöße“, „Merkwürdige[s]“ und ‚lokaler Bezug‘, „größtenteils auch auf den Feuilletonroman zutreffen“ (Bachleitner, Feuilletonroman, S. 15 ff.). 117 Vgl. „Er ist über 20 Jahre älter als sie. Nun das ginge schließlich, das bedeutet unter Umständen nicht viel. Aber den Abschied genommen, ein so brillanter und bewährter Offizier! Man sieht ihm noch jetzt den Schneid an; Garde-Oberst comme-il-faut, jeder Zoll. Und doch außer Dienst. Sollte vielleicht … Aber nein, sie kokettiert nicht und auch sein Benehmen gegen sie hält das richtige Maß. Er ist artig und verbindlich, aber nicht zu gesucht artig, als ob ’was zu caschiren [sic] sei.“ (C 15) In Emile Zolas Roman Das Geld, der erstmals zwischen 1890 und 1891 in der Zeitschrift Gil Blas als Fortsetzungsroman erschien, verwendet eine fiktive Figur den Begriff des ‚Romans‘ in eben diesem medial grenzüberschreitenden Sinn: Der ihr „unerwartet[e] Roman“ (Zola, Das Geld, Frankfurt am Main 2001, S. 208), der sie rührt und in ‚Erstaunen‘ versetzt, meint hier eine ihr ‚weitschweifig erzählte‘ Geschichte, die ein „seltsame[s] Geheimni[ß]“ zutage fördert (Zola, Geld, S. 208): die Existenz eines unehelichen Sohnes ihres Geliebten, der der Verführung eines jungen Mädchens entstammt, das, vom Vater des Kindes verlassen, in „Laster und

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dazu, dieses „Dahinter“ in einem materiell-medientechnischen Sinn zu verstehen und auf die räumliche Organisation der heterogenen Wissensbereiche und Darstellungsformen in der zeitgenössischen Bildungspresse zu beziehen, der auch die Feuilletonromane unterlagen – etwa auf das Verhältnis zwischen bildlichen und textuellen wie zwischen journalistischen und literarischen (wie auch wissenschaftlichen) Wirklichkeitsentwürfen in diesem Medium. Die Forschung hat bereits in einzelnen Texten Fontanes (in Effi Briest, Irrungen Wirrungen und Der Stechlin) arabeske Bildstrukturen ausgemacht und deren beobachtete Konzentration in den „Romananfänge[n]“ 118 als Beleg dafür genommen, dass sie die Portalfunktion der Titelblätter zitierend verdoppelten und verstärkten. Diese bestünde darin, dem Leser die spezifische (Überblicks-)Technik journalistischer „Wirklichkeitskonstitution“ 119 vor Augen zu führen. Die Texte markierten demnach die „Übertragungsgrenze“ 120 zwischen journalistischem und literarischem ‚Realismus‘121 und regten dazu an, auf das Verhältnis beider sowie auf gegenseitige Affizierungen und Kommentierungen zu achten.122

Elend“ zugrunde ging (Zola, Geld, S. 208). Entscheidend ist dann die fiktionsimmanente Faktizität dieses ‚Romans‘: die Frage, ob die erzählten Dinge „sicher“ seien und es „absolut verlässliche“ bzw. „blendende Beweise“ für sie gibt. (Den Hinweis auf Zola verdanke ich Angela Gencarelli). 118 V. Graevenitz, Memoria, S. 301. 119 V. Graevenitz, Memoria, S. 299. 120 V. Graevenitz, Memoria, S. 304. 121 Als ‚mimetischer‘ sei der ‚Realismus‘ in diesem medientechnischen Kontext und angesichts der Bedeutung arabesker Strukturen nicht zu fassen: „Denkbar wäre ja, daß die Unmöglichkeit von Abbildung der Wirklichkeit abgegolten würde durch den Verweis auf die Wirklichkeitsperspektivierung durch die Presse, daß ansonsten aber gegenüber einer solchen journalistisch vermittelten Realität die realistische Literatur sich wieder unmittelbar mimetisch verhielte.“ Dem steht der Rekurs auf die Formsprache der Arabeske in den Titelblättern wie den erzählenden Texten entgegen: „Durch die Übertragung des Re-arragement-Prinzips in ein Strukturrepertoire eigener Herkunft und eigener Tradition vermehren und thematisieren, praktizieren und reflektieren [die literarischen Texte, Ch. F.] die in der Presse herrschenden Regeln der Wirklichkeitskonstitution. ‚Mimetisch‘ ließe sich dies Verfahren allenfalls nennen, weil es aus dem System dieser Wirklichkeitskonstitution nicht heraustritt, sondern ihren Typus mit ihren eigenen Mitteln herausarbeitet. Zu diesem Verfahren wie zu der Wirklichkeitskonstitution, auf die es gerichtet ist, gehört die Einführung ganz und gar a-mimetischer Strukturen.“ (V. Graevenitz, Memoria, S. 299, Hervorh. im Original) Gemeint sind hier genuin literarische Verfahren wie das „Novellenschema“ mit seiner charakteristischen „Rahmenfiktion“ (v. Graevenitz, Memoria, S. 299) oder eben typische Strukturmerkmale der in der Romantik ausgeprägten „literarischen Arabeske“ (v. Graevenitz, Memoria, S. 300). 122 Nach Bachleitner sind Feuilletonromane einerseits (v. a. noch zu Beginn) am Text in Buchform orientiert, andererseits unterliegen sie bei ihrer Publikation in der Presse bestimmten Zwängen zur „formalen oder ideologischen Anpassung“ (Bachleitner, Feuilletonroman S. 10).

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Unbemerkt geblieben ist bisher das ins Textinnere versetzte präzise Zitat der Gartenlaube-Titelblätter in Cécile und seine bildliche Verschränkung mit der poetologisch bedeutsamen Contretanz-Szenerie.123 Dank dieser Verschränkung wird hier deutlicher als in anderen Fontanetexten das eigene Erzählen im Roman unter den Bedingungen moderner Öffentlichkeit als Erzählthema ausgestellt. Vor dem Hintergrund des doppelten Bildzitats nämlich ist der erzählte Erforschungsprozess Gordons nicht einfach als literarisch dargestellter Beobachtungsvorgang, geschweige denn als erzählte zeittypische soziale Interaktion zu nehmen.124 Im Sinne eines arabesken Bildportals signalisiert es vielmehr, dass hier die artistische Vorführung einer Romantextura-Produktion einsetzt, die an den Sehgewohnheiten der Presse orientiert ist und dem beweglichen Formprinzip einer getanzten line of beauty folgt. Erwartbar ist deshalb, dass diese textura sowohl das Zeug zum melodramatischen Rührstück (Liebesroman) mit starker Affektwirkung hat als auch – im Nachgang der selbstbezüglichen arabesken Bild- und Romankunst der Romantik – die eigene generische Form thematisiert, also im Hinweis auf die eigene Gemachtheit die Grenze zwischen Nachricht und Dichtung, Fakt und Fiktion umspielt.125 Dass solch relativierendes Spiel nicht 123 Dieses Übersehen von Cécile in der zitierten Forschung bestätigt Eda Sagarras Klage, dass auch die Fontane-Forschung der 1990er Jahre immer noch auf den „‚klassischen Fontanekanon‘“ konzentriert bleibt, der v. a. „Effi Briest, Irrungen Wirrungen oder Der Stechlin“ umfasst. (Vgl. dies., Vorurteil im Fontaneschen Erzählwerk. Zur Frage der falschen Optik in Cécile. In: Roland Berbig (Hg.), Theodorus victor: Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main et al. 1999, S. 121–136, hier S. 121) An der Sekundärliteratur zu Cécile sind wiederum bis heute die Ergebnisse profunder Studien zu einschlägigen Text-Kontext-Relationen des Fontaneschen Spätwerks weitgehend spurlos vorübergegangen. Im Zusammenhang mit den darin aufgezeigten Kontextbezügen und ihren roman- und medientheoretischen bzw. -historischen Implikationen spielen immer wieder arabeske Strukturen eine wichtige Rolle (vgl. v. Graevenitz, Memoria, S. 301 ff., Helmstetter, Geburt des Realismus, S. 158 ff., und Hebekus Klios Medien, S. 235 ff.). 124 So etwa Brüggemann, der in Cécile typische Formen urbaner Wahrnehmung verfolgt. Vgl. ders., Totenaugen und offenstehende Fenster oder Der Roman hinter dem Roman. Theodor Fontane, Cécile. In: Ders., Das andere Fenster. Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt am Main 1989, S. 202–232. 125 Dass bereits das Melodram per se ein beträchtliches „Potenzial zur Selbstthematisierung“ besitzt, belegen neueste Studien zum Melodram in Bettine Menke, Armin Schäfer und Daniel Eschkötter (Hg.), Das Melodram. Ein Medienbastard, Berlin 2014; vgl. darin insbesondere: Schäfer, Menke und Eschkötter, Das Melodram. Ein Medienbastard. Einleitung, S. 7–17, hier S. 8. Ob auf der Bühne, im Film oder im literarischen Text leiste es als „‚Bastardgenre‘“ eine bloß „lose[ ] formale[ ] Fügung“ unterschiedlicher medialer Elemente wie Drama, Tanz- und Musikeinlagen oder pantomimische Szenen, die im Dienste einer „gesteigerte[n] Affektivität des Handelns und Erlebens“ stehen und diese „mit raschen Glückswechseln verbinde[n]“ (Schäfer et al., Einleitung, S. 8). Die daraus resultierende ‚Überwucherung‘, Störung oder gar Zersetzung des „dramatischen [d. h. psychologisch-kausallogisch motivierten, Ch. F.] Hand-

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negativ zu verstehen ist, verdeutlicht die positive Kritik, die Fontane andernorts einem Zeitungsartikel angedeihen läßt, der diese Grenze ebenfalls – nun also auf der Seite der Nachricht – nicht scharf zieht, und zwar wiederum aufgrund seiner arabesken Form: Der gut geschriebene „Times“-Artikel ist eine Arabeske, die sich graziös um die Frage schlingt, ein Zierat, eine geistreiche Illustration; er ist kokett und will gefallen, fesseln, bezwingen, aber es fällt ihm nicht ein, auf alle Zeit hin überzeugen zu wollen.126

Deutlich hebt Fontane auf die Wirkungs- und auch Unterhaltungsintention des ‚gut geschriebenen‘ Artikels ab: Dieser stellt seinen Gegenstand als reizvollen aus (‚umschlingt ihn graziös‘) und macht ihn auf überraschende Weise bildlich anschaulich (‚illustriert ihn geistreich‘). Damit sucht er das Interesse des Lesers zu binden und ihn zu überzeugen („ist kokett und will gefallen, fesseln, bezwingen“), ohne den Anspruch zu erheben, absolut gesichertes Wissen vermitteln zu können („es fällt ihm nicht ein, auf alle Zeit hin überzeugen zu wollen“). Seine zentrale quaestio („die Frage“) lässt der arabeske Text letztlich unbeantwortet.127

2.4 Stoff-Findung als Spracharbeit an den „Glanzstellen“ des Lektüreweges Das arabeske Bildportal markiert darüber hinaus die Differenz zwischen Fontanes und Gordons Cécile-Roman, denn die Entstehung des Letzteren ist wie ein

lungszusammenhang[s]“ (Schäfer et al., Einleitung, S. 11) demonstriert, dass die Einheit dieses Genres als „disjunktive Synthese[ ]“ (Schäfer et al., Einleitung, S. 9, Hervorh. im Original) zu verstehen ist, die nicht „unter dem Primat der Handlung“ (Schäfer et al., Einleitung, S. 9), sondern unter dem theatraler Ostentation von „Nicht-Einheit“ (Schäfer et al., Einleitung, S. 12) steht. 126 Theodor Fontane, Die Londoner Tagespresse. In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 19, hg. v. Charlotte Jolles unter Mitwirkung v. Kurt Schreinert, München 1969, S. 163–247, hier S. 242. Laut Marion Villmar-Doebeling suche Fontane mit dieser Beschreibung das Essayistische des Feuilletonstils zu fassen, das dessen Affinität „zur abstrakten Kunst“ begründe und auch Fontanes eigenes Schreiben in L’Adultera kennzeichne (vgl. dies., Theodor Fontane im Gegenlicht. Ein Beitrag zur Theorie des Essays und des Romans, Würzburg 2000, S. 77). 127 Helmstetter, der diesem Fontane-Zitat einen klassischen Ornamentbegriff attestiert – die „konventionelle[ ] Bedeutung als sekundäres stilistisches Mittel“ – (ders., Geburt des Realismus, S. 9), ist nicht zuzustimmen. Wie beim „Zierstrauch“ als zentralem Bildelement der arabesken „Parkwiese“ zitiert Fontane mit „Zierat“ hier zwar die untergeordnete Zierrahmenfunktion, die die klassische Kunsttheorie der Arabeske konzedierte. Im selben Zuge erhebt er sie jedoch ganz im Sinne barocker bzw. romantischer Ästhetik zur zentralen Textfunktion: Der Zeitungsartikel erfüllt gemäß dieser Kritik seine grundlegende Vermittlungsaufgabe gerade dann, wenn er die jeweilige „Frage“ ‚bloß‘ rahmt.

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poetologischer Schau-Tanz in Fontanes Cécile-textura eingewebt, von ihr aber durchaus zu unterscheiden:128 Gordon schlägt gewissermaßen das Titelblatt der Gartenlaube zur Seite und beginnt mit der Lektüre seines Cécile-Romans. Die zum Gartenlauben-Titelblatt umgewandelte Contretanz-Szenerie liefert folglich einen starken Anhaltspunkt für Peter J. Bowmans Vorschlag, Fontanes Cécile als eine „Allegorie des Lesens“ zu deuten.129 Mitzulesen ist dann allerdings, dass in ihr zugleich eine ‚Allegorie der Textproduktion‘ steckt, dass Fontanes Text an dieser Stelle auf den untrennbaren Konnex von Textlektüre und Textproduktion verweist.130 Auf diesen hebt auch Barthes in seiner Studie S/Z ab, die Bowman zum Beleg seiner These zitiert: Die darin protokollierte Seminarlektüre eines realistischen Texts (Honoré de Balzacs Sarrasine) soll zum einen erweisen, dass erst die Lektüre aus den Schriftzeichen auf der Buchseite eine Romantextura konstituiert und diese nicht als feststehende Struktur, sondern als bewegliche und stets veränderliche „Strukturation“ 131 aufzufassen ist. Zum anderen legt Barthes mit der Nennung der „Codes“ auch die vorgängigen Bil-

128 Ohne die konkreten Formbezüge zur Bildungspresse zu sehen, weist auch Downes auf die Verschachtelung zweier Romane hin: „Hinter dem Roman namens Cécile liegt der Stoff eines andern, ‚inhaltreichen‘ Romans. Nicht diesen versteckten Roman aber lesen die Leser, sondern den davorliegenden – eine Trennung der hermeneutischen Ebenen, die Fontane im Cécile-Roman aufs ingeniöseste thematisiert, indem er Gordon, der Cécile anhaltend unter die Lupe nimmt, seinerseits unter die Lupe nimmt.“ (Downes, Cécile. Roman, S. 567). 129 Peter James Bowman, Theodor Fontane’s Cécile: An Allegory of Reading. In: German Life and Letters 53:1 January (2000), S. 17–36. 130 Diesen Konnex sprechen auch Magdalene Heuser und Sascha Kiefer an, ohne die arabeske Poetologie dieser Stelle zu erkennen (vgl. Heuser, Fontanes Cécile. Zum Problem des ausgesparten Anfangs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), S. 36–58, hier S. 39, und Kiefer, Der determinierte Beobachter. Fontanes Cécile und eine Leerstelle realistischer Programmatik. In: Literatur für Leser 26 (2003), H. 3, S. 164–181, hier S. 180 f.). Bowman konstatiert ganz richtig deutliche Parallelen zwischen Gordons Beobachtungstechnik und den von Barthes in S/Z vorgeführten und theoretisch reflektierten Kombinationsverfahren, durch die aus Textelementen in der Vorstellung des Lesers eine ‚Person‘ entsteht. Bowman versteht seine Befunde aber nur als Beitrag zur Präzisierung der histoire-Ebene des Texts: Auf der Höhe Barthescher Lektüretheorie thematisiere und problematisiere Cécile, wie eine Person am Ende des 19. Jahrhunderts sich von einer anderen Person ein ‚Bild‘ mache (Bowman, Allegory of Reading, S. 18 ff. und S. 22 ff.). Lektüre bleibt bei Bowman also reine Metapher für die interpersonale Beobachtung. Die poetologische Kommentierungsfunktion dieser Thematisierung, ihre Durchschlagskraft auf die discours-Ebene von Fontanes Text, die die Contretanz-Szenerie signalisiert – Gordon fertigt eben nicht nur ein Bild, sondern eine Romantextura an – bleibt Bowman verborgen. Auch entgeht ihm, dass in Cécile wie bei Barthes im Zusammenhang mit den fraglichen Kombinationsverfahren die Gewebemetapher und der Rekurs auf das loci-Verfahren der Topik eine zentrale Rolle spielen (zu Form und Texteffekten dieser Korrelation vgl. Kapitel III.2.4, III.2.5 und III.2.6.3 der vorliegenden Studie). 131 Barthes, S/Z, S. 25.

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dungs- und Lektüre-Erfahrungen offen, die diese „Strukturation“ des Texts im Zuge der (Seminar-)Lektüre bestimmen. Denn unter „Code“ versteht Barthes „eine Perspektive aus Zitaten“, den Verweis auf das, „was geschrieben worden war, das heißt auf das große Buch (der Kultur, des Lebens, des Lebens als Kultur) […].“ 132 Als solche bilden laut Barthes die „Codes […] eine Art Netz, eine Art Topik“, durch die im Lektürevorgang „der ganze Text hindurchgeht (oder vielmehr: indem er da hindurchgeht, wird er erst zum Text).“ 133 Barthes, der zeitgleich zu S/Z in „Die alte Rhetorik“ eine profunde Darstellung der rhetorisch-dialektischen Topik geliefert hat, vergleicht demnach die texterschließende, d. h. -konstituierende Funktion der angeführten „Codes“, die die kulturell geprägten Lese-, Seh- und Denkgewohnheiten der Seminarteilnehmer bündeln, mit der gegenstandserschließenden, also -konstituierenden Funktion der alten topischen loci.134 Mit der verfahrensmäßigen ‚Anwendung‘ der „Codes“, im Sinne eigens bestimmter loci, auf den studierten Gegenstand setzt Barthes den Text Sarrasine einer aristotelischen „Sucht des Differenzierens, Uminterpretierens, Korrigierens“ 135 aus und gelangt so zu einer Fülle semantischer und formaler Aspekte (Barthes: „Seme“/„Namen“/„Sinne“), die „abschätzen [hilft], „aus welchem Pluralem er gebildet ist“.136 Dadurch wird der Text nicht als „Spielart“

132 Barthes, S/Z, S. 25. Insgesamt geht Barthes von „fünf großen Codes“ aus, ohne ihre Auswahl und Anzahl näher zu begründen: dem „hermeneutischen“ Code, der die Perspektive eines Rätsels eröffnet, dem ‚Code der Seme‘, der den Leser Bedeutungselemente des Texts zur Vorstellung von einer Person bündeln lässt, dem „proaïretischen“ oder Handlungscode, der den Leser Handlungstypen erkennen lässt, dem „symbolische[n]“ Code, der symbolische Bedeutungen von Figuren, Räumen oder Handlungen lesbar macht, und schließlich dem „kulturellen“ Code (z. T. auch im Plural als „kulturelle Codes“), d. h. die Mobilisierung eines spezifischeren, z. B. epochen- oder klassenabhängigen Wissens durch den Leser. (Alle Zitate dieses Abschnitts entstammen Barthes, S/Z, S. 23 f.). „Längs zu jedem Ausgesagten lassen sich, so scheint es, off-Stimmen vernehmen: das sind die Codes: sie, deren Ursprung sich in der perspektivischen Masse des Schon-Geschriebenen ‚verliert‘, vernichten, indem sie sich miteinander verflechten, den Ursprung der Äußerung: das Zusammenwirken der Stimmen (der Codes) wird zur Schrift, dem stereographischen Raum, in dem sich fünf Codes, fünf Stimmen kreuzen: Stimme der Empirie (die Proaïresen), Stimme der Person (die Seme), Stimme der Wissenschaft (kulturelle Codes), Stimme der Wahrheit (die Hermeneutismen), Symbolstimme.“ (Barthes, S/Z, S. 25 f.). 133 Barthes, S/Z, S. 25. 134 Zur netzartigen Verzweigtheit von topos-Katalogen vgl. auch Wiedemann, Topik als Vorschule der Interpretation, S. 240. 135 Bornscheuer, Topik, S. 60. 136 Barthes, S/Z, S. 9. Zur Bezugnahme Barthes in S/Z auf die rhetorische Topik in diesem Sinne vgl. Hebekus, Topik/Inventio, S. 91: „Gegen solche Möglichkeit der Topik, zur Ideologiebeglaubigung zu mutieren, hat Barthes in seiner Balzac-Lektüre die Topik als Verfahren der Entideologisierung, der – wenn man so will – Veruneindeutigung aufgeboten. Sein Begriff der

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eines vorgängigen Text-„Modell[s]“ ‚lesbar‘,137 sondern in „seine[r] Einmaligkeit, seine[r] Differenz zu anderen Texten“ 138 ‚schreibbar‘. Das, was den Text ausmacht, was ihn einmalig macht, seine spezifische textura also, verdankt sich nach Barthes der ‚Transformationsarbeit‘ des Lesers an und mit den „Codes“: Die Menge der Codes stellt, sobald sie sich bei der Arbeit im Gang der Lektüre befinden, ein Geflecht dar (Text, Gewebe und Geflecht, das ist dasselbe). Jeder Faden, jeder Code ist eine Stimme; diese geflochtenen – oder flechtenden – Stimmen bilden das Schreiben: ist die Stimme allein, dann arbeitet sie nicht und transformiert nichts: sie drückt aus. Sobald aber die Hand [des Lesers, Ch. F.] eingreift, um die bewegungslosen Fäden zusammenzubringen und ineinander zu verquicken, gibt es Arbeit, Transformation.139

Die Korrespondenzen zwischen der erzählten Romanproduktion als Lektüreprozess in Cécile und Roland Barthes’ Lektüreunternehmung in S/Z gehen insofern über die von Bowman aufgezeigten hinaus, als auch Gordon ‚eine Art Topik‘ aufbietet, um den Gegenstand seiner „Studien“ (C 21) zum Text werden zu lassen. Eine buchstäbliche Topik sogar, denn die topoi oder loci, die ihn eine Vielfalt benennbarer Aspekte zu Cécile auffinden und zum „Roman“ ‚hinter‘ ihr verknüpfen bzw. ‚verflechten‘ lassen, sind die öffentlichen Orte des Harzes, die touristischen sights, die er mit Cécile aufsucht. Der gemeinsame Spaziergang, der als zentrales Narrativ die Handlungsführung und Personenkonstellation in der ersten Texthälfte organisiert, ist als Stoff-Findungsverfahren zu verstehen, das das klassische loci-Verfahren der ars topica in seiner Ortsmetaphorik wörtlich nimmt und in den konkreten Raum des Harzes transponiert.140 Mit dem

Interpretation ist eine Variante des aristotelischen Modells der Differenzierungsexplosion, zu der nun kein hermeneutisches Korrektiv, kein iudicium mehr hinzutritt […].“ 137 Barthes, S/Z, S. 7. 138 Barthes, S/Z, S. 7 f. 139 Barthes, S/Z, S. 160. Auch an anderen Stellen greift Barthes in S/Z zur Gewebemetaphorik, um das Verhältnis von „Codes“, also topischen loci, und Romantextura zu formulieren: „[J]eder Code ist eine der Kräfte, die sich des Textes bemächtigen können (von denen er das Netzwerk ist), eine der Stimmen, aus denen der Text gewebt ist.“ (Barthes, S/Z, S. 25) Und eine Seite zuvor heißt es bereits: Der „plurale[ ] Sinn“ einer gelesenen Sequenz sei „ein ständiges Flechten“. 140 Eine indirekte Bestätigung dieses Befunds liefern Fohrmanns Beobachtungen zu Fontanes Novelle L’Adultera von 1879/80, die eine „raumdifferentielle Topik“ entwerfe (ders., Bilderrahmen, S. 745): Auch hier konstituiere eine Sequenz „symbolisch codiert[er]“ Räume „die Grundstruktur der Roman- oder Novellenwelt und der narrativen Diegesis“ (Fohrmann, Bilderrahmen, S. 744), da ihre Abfolge die erzählten Handlungen und Konversationen der Figuren bestimme und die materielle Grundlage für das stets neue Aushandeln realistischer ‚Normalität‘ liefere – in meiner Cécile-Lektüre: des kulturellen Gemeinsinns, in den Cécile zeitweilig ein- und dann wieder ausgeschlossen wird.

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derart konkretisierten, man könnte auch sagen ‚realisierten‘, artistischen Verfahren der rhetorisch-dialektischen Topik wird das Banderolenschema der geschauten Titelblattarabeske im weiteren Textverlauf von Cécile narrativ eingelöst und die arabeske Romanpoetik der Contretanz-Szenerie ‚performativ ausagiert‘ und ‚ausdifferenziert‘. Den ersten Anhaltspunkt dafür, dass Gordons Vorsatz, den „Roman“ ‚hinter‘ Cécile „schon erfahren“ zu wollen, in eben diesem Sinn wörtlich zu nehmen ist, liefert die Eingangssequenz des fünften Kapitels, das vom ersten gemeinsamen, an der Table d’hôte des Hotels vereinbarten Ausflug handelt. Hier nimmt Gordon St. Arnaud „die Führung“ (C 23) an der Seite Céciles ab, der bis dahin für sie „den Cicerone“ (C 11), den Fremdenführer, ‚gemacht‘ hat.141 Als Kenner der Gegend „unterbreitet“ Gordon Cécile „seine Dispositionen“ (C 23) und empfiehlt ihr ein wohlüberlegtes Wegeprogramm. Dieses lässt sich als Engführung von Banderolenarabeske, topischem loci-Verfahren und realistischem Roman lesen: Die gnädige Frau, so waren seine Worte gewesen, möge nicht erschrecken, wenn er, statt des sehr steilen nächsten Weges, einen Umweg vorschlage, der sich nicht blos [sic] durch das, was er habe (darunter die schönsten Durchblicke), sondern viel, viel mehr noch durch das, was er nicht habe, höchst vortheilhaft auszeichne. Die sonst üblichen Begleitstücke harzischer Promenadenwege: Hütten, Kinder und aufgehängte Wäsche kämen nämlich in Wegfall. (C 23 f., Hervorh. im Original)

Der als Alternative zum direkten, steilgeraden Weg vorgeschlagene ‚Um-weg‘ zitiert, zumal er sich wenig später in einem „Schlängelwege“ (C 25) fortsetzt, die arabeske, sich vielfach um-wendende Wegbanderole als ikonographische Variante der line of beauty and grace. Wie diese an ihren Windungen perspektivische Einzelansichten darbietet, soll der „Umweg“ „die schönsten Durchblicke“ bieten.142 Im Zusammenhang mit der latinisierenden Rede von den „Dispositionen“ des nunmehr als „Cicerone“ agierenden Gordon evoziert der „Umweg“ das lociVerfahren der topischen inventio, und zwar im doppelten, metaphorischen wie nicht-metaphorischen Sinn: Die im 19. Jahrhundert gängige Redewendung ‚den Cicerone machen‘ bezeichnet zunächst schlicht die Betätigung als (‚redseliger‘)

141 Bereits an dieser Stelle wird die Harmonie des Contretanzes gestört, was ein spöttischer Kommentar St. Arnauds zu Gordons Führerqualitäten belegt. Die Paarstruktur verschiebt sich hier zur gefährlichen Dreierkonstellation, die aber am zweiten touristischen Ort mit der Malerin Rosa vorerst wieder korrigiert wird, indem sie dort in eine Formation aus zwei, später aus drei Paaren übergeht. 142 Auch später werden Ausflugsziele über „Schlängelpfad[e]“ (C 82), einen „Zickzackweg“ (C 111) bzw. „Weg[e]“, die sich „schängel[n]“ und den „Windungen“ des Flüsschens Bode „folg[en]“ (C 119), erreicht.

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Fremdenführer,143 der als Person oder in Buchform144 kenntnis- und wortreich Touristen die Sehenswürdigkeiten einer Gegend nahe bringt, sie also in der Tat von einem real-konkreten Ort zum anderen führt. Dass die Redewendung auf Cicero rekurriert, bezeugt aber nicht nur das in ihr abgespeicherte rhetorikgeschichtliche Wissen des Volksmunds um die eindrückliche persönliche Beredsamkeit des „rex eloquentiae“,145 sondern auch das Wissen darum, dass Cicero berühmte Anleitungen dazu verfasst hat, wie zu einer kenntnis- und wortreichen Rede, zu einer copia rerum et verborum146 zu gelangen sei. Darauf verweisen die „Dispositionen“ in Fontanes Text. Denn Ciceros Anleitungen zur kopiösen Rede finden sich insbesondere in seinen Schriften De inventione und Topica, in denen er dem Adressaten stets selbst zunächst seine ‚Dispositionen unterbreitet‘, ihn also über die im Folgenden abgehandelten Gesichtspunkte informiert,147 bevor er den noch unkundigen Redner dann zu diesen und derart in die fremden Gefilde der Beredsamkeit führt. Dabei rät er ihm allgemein zur Produktion eines Diskurses, der nicht etwa im brevitas-Stil der Philosophen einfach drauf los gehe, sondern den (Um)Weg über die Regeln der Kunst (ars) nehme.148 Konkret empfiehlt er ihm, im Geiste die nunmehr metaphorisch verstandenen, bereits von Aristoteles systematisierten Orte (topoi, loci) für die Stoff-Findung abzugehen, um an ihnen zu einer variantenreichen Fülle überzeugender Einsichten zu seiner quaestio, seinem jeweiligen Redegegenstand, zu gelangen. Vor allem die geschickte Befragung der quaestio durch das gezielte Aufsuchen von

143 In der vierten Auflage von Meyers Konversationslexikon (1885–1890/92) wird „Cicerone“ so erläutert: „(ital. spr. tschitsche-) in Italien Bezeichnung der Fremdenführer, vielleicht wegen ihrer Redseligkeit als Anspielung auf Cicero“. 144 Vgl. etwa Jacob Burckhardts durchaus nicht ironisch betiteltes Buch Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, das 1855 in Basel erschien. 145 Bornscheuer, Topik, S. 78. 146 Bornscheuer, Topik, S. 72 und S. 80 ff. 147 In De inventione und Topica etwa bereitet Cicero seinen Leser beständig auf das Kommende vor, indem er zunächst eine Liste der (Wege-)Punkte präsentiert, die er im Folgenden mit ihm durchzugehen gedenkt. Wenn er das dann (zumeist genau in der vorgegebenen Reihenfolge) tut, so erfolgt die Entfaltung der einzelnen Punkte wiederum nach Maßgabe einer Liste von Unterpunkten, so dass sich das Prinzip von vorangestellter Liste und ihrer ausdifferenzierenden Abarbeitung auf den verschiedenen Differenzierungsebenen der Texte wiederholt. Vgl. Marcus Tullius Cicero, De inventione I. In: ders., De inventione/Über die Auffindung des Stoffes, Lateinisch-deutsch, hg. u. übersetzt v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf, Zürich 1998, S. 24 ff., § 9 ff. bzgl. der Aufgaben des Redners; S. 44 ff., § 19 ff. bzgl. der Redeteile sowie ders., Topica/ Die Kunst, richtig zu argumentieren, Lateinisch-deutsch, hg., übersetzt u. erläutert v. Karl Bayer, München 1993, § 6 ff., S. 8 ff., bzgl. inventio und iudicium. 148 Vgl. Ciceros Berufung auf Aristoteles, der gelehrt habe, „nicht nach der Philosophen Art in einfacher Auseinandersetzung, sondern mit dem Reichtum der Redner im Für und Wider schmuck- und ausdrucksvoller sprechen zu können“ (zitiert nach Bornscheuer, Topik, S. 74).

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loci communes (‚Gemeinörtern‘), den allgemeinsten der dem breiten Publikum einleuchtenden Gesichtspunkte oder Vorstellungen, verhälfe dazu, dem Diskurs „Glanzstellen“ 149 zu verleihen, die „von der Art sind, dass der Eindruck entsteht, die Sache selbst hätte sie hervorgebracht“ 150 – verbale „schönste Durchblicke“ auf die ‚Sache selbst‘ gewissermaßen. Demnach stellt Fontanes Text an dieser Stelle in Aussicht, dass Gordon die getanzte line of beauty in seiner textura durch das Abgehen topischer Örter erzählerisch realisiert. Die Schönheitslinie, die in der Bildkunst wegen ihrer variety („Mannichfaltigmachung“ 151) als „Inbild der Verbindung von artifizieller Konstruktion und simulierter Naturhaftigkeit“ 152 gilt, soll also durch dasjenige Verfahren der rhetorischen Wortkunst umgesetzt werden, das als prädestiniert gilt für die artistische Herstellung einer sachhaltigen und so die ‚Naturhaftigkeit‘ der Sache ‚simulierenden‘ Wortfülle.153 Die Inbezugsetzung von ornamentaler Banderolenarabeske und topischer techné ist für das 19. Jahrhundert nicht abwegig. Bildgeschichtlich ist sie insofern vorbereitet, als „das Spaziergängerpaar [der Gartenlauben-Titelblätter, Ch. F.] die Herkunft des Banderolenschemas aus der Darstellung von Festzügen“ zitiert, also „des kollektiven Abschreitens von Bedeutungsörtern, übersetz-

149 Cicero, De inventione II, S. 207, § 49. 150 Cicero, De oratore II, S. 197, §146. Zu Ciceros „Amplifikationsrhetorik“ mit ihrer Fokussierung auf die loci communes („Gemeinplatz-Topik“) und ihrer „sprachästhetische[n] Kernthese […] von der Selbsterzeugung der Worte durch die Sachen bzw. von dem Anschein einer solchen Selbsterzeugung“ vgl. Bornscheuer, Topik, S. 61–90, insbesondere S. 80 ff. Mit dieser Konzeption der loci communes, die zu scheinbar res-erzeugten verba verhelfen sollen und die in De oratore entsprechend sowohl unter den inventorischen topoi als auch unter den Stiltopoi abgehandelt werden, setzt Cicero dazu an, inventio und elocutio ineinander zu blenden. 151 Vgl. Hogarth, Zergliederung, S. 88. 152 Mainberger, Experiment, S. 31. 153 Dazu vgl. Bornscheuer, Topik, S. 82. Eine vergleichbare rhetorische Interpretation der arabesken Schönheitslinie, die diese als „poetologische Linie[ ]“ eines ‚darstellenden Denkens‘ deutet, das im Gegensatz zum ‚dogmatischen‘ Philosophieren stehe, begegnet in Schillers Briefen an den Herzog von Augustenburg (vgl. Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 215 f.). In kritischer Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants propagiert Schiller hier einen ‚schönen‘ Denkund Schreibstil, der nicht wie der „dogmatische Vortrag in geraden Linien und harten Ecken voran[schreite]“, sondern „sich in freier Wellenbewegung fortwinde; die Überzeugung des Adressaten ergebe sich hier nach unmerklichen Richtungsänderungen durch freiwilliges Konsentieren.“ (Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 215.) Laut Mainberger ließen sich die beiden Liniendiagramme, die Schiller in seinen Kallias-Briefen anführt – die ‚schöne‘, für Freiheit stehende Wellenlinie und die ‚hässliche‘, Zwang und Gewalt versinnbildlichende Zick-ZackLinie – als poetologische Darstellungs-‚Diagramme‘ dieser gegeneinander geführten Denk- und Textverfahren lesen.

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bar ins mnemotechnische Abschreiten der Erinnerungsörter“.154 Die antike Mnemotechnik war aber nicht nur für die Organisation öffentlicher Festzüge und das bildliche Banderolenschema modellgebend; auch die Topik hat von ihr das räumliche Verfahrenskonzept und mit ihm den topos- bzw. locus-Begriff entlehnt.155 Der Konnex lässt sich noch enger fassen: Vor dem Hintergrund, dass die ars topica als spezialisierte ars memoriae verstanden werden kann, die nicht prinzipiell jedwedes, sondern speziell das für den sensus communis relevante Wissen verwalten soll, sind öffentliche Festzüge mit ihrer zentralen Funktion, den sensus communis eines Volkes zu bestärken, nicht nur als mnemotechnische, sondern präziser als topische Unternehmungen (Praktiken) zu beschreiben.156 Und als eine Miniatur bzw. Schwundstufe eines solchen öffentlichen Festzugs lässt sich der in Cécile erzählte Gang im stetig wachsenden Kollektiv über die touristischen sights in der Sommerfrische durchaus verstehen (vgl. Kapitel III.2.5 und III.2.6). Schließlich betont Gordon im zitierten Passus, dass sich der Umweg insbesondere „durch das, was er nicht habe, höchst vortheilhaft auszeichne. Die sonst üblichen Begleitstücke harzischer Promenadenwege: Hütten, Kinder und aufgehängte Wäsche kämen nämlich in Wegfall.“ (C 24, Hervorh. Ch. F.) Das erinnert an einschlägige Empfehlungen zur Stoff-Findung des realistischen Romans, wie sie in literaturprogrammatischen Artikeln der Bildungspresse häufig zu lesen waren und auch von Fontane selbst formuliert wurden: dass etwa der dritte Stand und soziales Elend, Krankes und Hässliches auszusparen seien zugunsten „grüner Stellen“ im Realen, an denen noch das „Ideal“ im Alltage sichtbar gemacht werden könne.157 Gordon wird hier demnach als programmatisch infor154 V. Graevenitz, Memoria, S. 296. 155 Vgl. etwa Emrich, Topik und Topoi, S. 228, Hebekus, Topik/Inventio, S. 85, und Saftien, Raumwahrnehmung, S. 377. Kühlmann und Schmidt-Biggemann verstehen umgekehrt die „Erinnerungslehre (Mnemonik)“ als eine von der Topik „abgeleitete“ Technik (vgl. dies., Topik, S. 646). In jedem Fall ist „Topik […] als Wissensverwaltung ganz wesentlich Wissenschaft vom Gedächtnis. Das Ziel von Topik ist enzyklopädische Ressourcenbildung. Im Gedächtnis werden die Ressourcen verfügbar gehalten. Die artes memoriae sind aus diesem Grunde ein unentbehrlicher Teil der Topik.“ (Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 248). 156 Zur Tradition öffentlicher Festzüge und Herrscheradvente vom 16. bis 18. Jahrhundert, die dem topischen Modell der in Amsterdam von volkstümlichen „Rhetorikerkammern“ veranstalteten Stadtumzüge („Ommegangs“) folgten, vgl. v. Graevenitz, Mythos, S. 121 ff. Der „stadtbürgerliche Umzug (Ommegang)“ und später – für Europa typischer – der „monarchische[ ] Einzug“ stellen „ein Medium dar, in dem Öffentlichkeit hergestellt, Mythologie aktualisiert und Topik als allgemeine Wahrnehmungsform praktiziert wurde. Das reichhaltigste Anschauungsmaterial für dieses Medium liefern die Herrschereinzüge in Frankreich mit ihrer Fortsetzung in den Festen der Revolution.“ (V. Graevenitz, Mythos, S. 131). 157 Plumpe, Einleitung, S. 53. Von den „grünen Stellen“ spricht Friedrich Theodor Vischer. Er versteht darunter Bereiche wie „traditional geprägte ländliche oder kleinstädtische Räume“

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mierter (Zeitungs-)Leser und Textproduzent ausgewiesen, der mit seiner Vermeidung der ‚üblichen‘, glanzlos-prosaischen Orte des Harzes dem „Verklärungs“Gebot des „poetischen“ bzw. „bürgerlichen Realismus“ nachzukommen trachtet. Allerdings ist das Programm- und mögliche Selbstzitat Fontanes an dieser Stelle mit Vorsicht zu genießen. Die vom arabesken ‚Bildportal‘ der ContretanzSzenerie markierte Differenz zwischen Gordons und Fontanes Romantextura158 verbietet es, Gordon kurzschlüssig als literarisches alter ego oder Sprachrohr Fontanes zu lesen. Schon angesichts der differenzierten Absetzungen Fontanes von den programmatischen Vorgaben zur ‚theatralischen Illusion‘ in seiner Freytag-Rezension ist es fraglich, ob er je bzw. noch 1886 die Stoffselektionsvorgaben des ‚programmatischen Realismus‘ eins zu eins vertreten hat. Folglich ist diesen drei Bedeutungsdimensionen des Harzspaziergangs, die Gordons „Dispositionen“ in Aussicht stellen – seine Lesbarkeit als arabesker Contretanz, als topischer Gang über sozio-kulturell bedeutsame Orte sowie als Stoff-Findung für eine realistische Romantextura – im weiteren Textverlauf genauer nachzugehen.

2.5 Arabeske Schau-Plätze und ciceronianische loci im Harz: touristische Sehenswürdigkeiten als Orte kultureller Selbstvergewisserung Alle Orte, zu denen Gordon Cécile in der Folge, halb geplant, halb intuitiv vorgehend, geleitet,159 sind reale Orte des Harzes, die Fontane zumeist persönlich oder „die vormoderne Welt der Geschichte“, die er der Dichtung für die Stoffwahl empfiehlt, weil sie die einzigen noch verbliebenen ‚poesiefähigen‘ Orte inmitten der ‚prosaischen‘ realen Lebensverhältnisse seien (vgl. Begemann, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Realismus, S. 7–10, hier S. 7). Als Orte des ‚Real-Schönen‘, an dem Wirklichkeit und Idealität noch zusammenfielen, erlaubten sie es der zeitgenössisch auf mimetische Abbildung programmierten Dichtung, ohne größeren Kunstaufwand ein ‚Kunst-Schönes‘ zu erzeugen (vgl. Claus-Michael Ort, Was ist Realismus? In: Begemann (Hg.), Realismus, S. 11–26, hier S. 16 f.). Bekanntlich hat sich auch Fontane in einem viel zitierten Artikel aus dem Jahr 1853 gegen „das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten“ ausgesprochen, zumindest hat er vor der ‚Verwechslung‘ von „Misere mit Realismus“ gewarnt und die Vorstellung kritisiert, allein mit der „Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen,“ sei dem „echten Realismus“ eine „glänzende Richtung vorgezeichnet“. Vgl. Theodor Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: Ders., Schriften zur Literatur, hg. v. Hans-Heinrich Reuter, Berlin 1960, S. 7–33, hier S. 12. 158 Vgl. oben Kapitel II.2.3. 159 Der Besuch des Quedlinburger Schlosses ergibt sich zwar insofern zufällig, als der von Gordon vorgeschlagene Spaziergang auf die Roßtrappe zur Bekanntschaft mit der Malerin Rosa Hexel geführt hatte und in der Folge zu Céciles Vorschlag, an deren Besichtigungsprogramm teilzunehmen und sie am nächsten Tag zu den Sehenswürdigkeiten Quedlinburgs zu begleiten. Während der Zugfahrt nach Quedlinburg fordert Cécile allerdings wieder Gordon auf, sein Be-

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kannte160 – so die ‚verwunschene‘ Villa im Wald, der Aussichtspunkt bei der „Roßtrappe“, das Schlossmuseum und die Kirche in Quedlinburg sowie der Ort Altenbrak, auf dessen Weg noch das Jagdschloss „Todtenrode“ 161 und ein Denkmal in Augenschein genommen werden. In dem „effet de réel“,162 den Fontane dank dieser Realitätsreferenzen erzielt, erschöpft sich die Funktion der sights in Cécile jedoch nicht, ebenso wenig darin, den fiktiven Figuren als Anlässe für „subjektive Imaginationen“ zu dienen, aufgrund derer sie ‚sozial verortet‘ werden können.163 Zu deutlich werden die realen Lokalitäten in Entsprechung zur ausgeführten Wegeprogrammatik mit Ortsmerkmalen der arabesken Kunstästhetik assoziiert. Als ‚Schau-Plätze‘ einer Banderolenarabeske sind die Orte bereits durch die Einfriedungen, die sie umgeben, gekennzeichnet: von Fenstern durchbro-

sichtigungs-„Programm“ zu erläutern, worauf es heißt: „Es seien vier Dinge da, darum sich’s lediglich handeln könne: das Rathhaus, die Kirche, dann das Schloß und endlich der Brühl.“ (C 41). In Quedlinburg, wo Gordon „seine Führerrolle wieder auf[nimmt]“ (C 46), werden im Blick auf Céciles Schwäche Rathaus und Brühl wieder von der Liste gestrichen (C 44), ihre spontane Kräftigung führt dann aber doch noch zum Rathaus-Besuch (C 55). Der große letzte gemeinsame Ausflug nach Altenbrak kommt ohne Gordons Zutun durch ein Gespräch an der Table d’hôte des Hotels zustande, während des Ausflugs übernimmt er an Céciles Seite aber wiederum die Führung. 160 Vgl. Anhang. In: Fontane, Cécile, S. 221. 161 Das Jagd-Motiv zieht sich durch den gesamten Text: Zuerst wird es im Kontext der CiceroZitate evoziert, dann an der Roßtrappe, an der sich die „tugendhafte Prinzessin“ vor dem sie verfolgenden „untugendhaften Ritter“ rettete, und hier, wo es um ältliche Fürsten geht, die zunächst „Wild“ erlegen und dann mit jungen Geliebten „Eros“ frönen, dem „göttlichen Knabe[n]“ mit Pfeil und Bogen. 162 Barthes, Le discours de l’histoire. In: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2 (1966–1973), hg. v. Eric Marty, Paris 1994, S. 47–57, hier S. 56. 163 Vgl. Katharina Grätz, Tigerjagd in Altenbrak. Poetische Topographie in Theodor Fontanes Cécile. In: Roland Berbig und Dirk Göttsche (Hg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus, Berlin, Boston 2013, S. 193–211, hier S. 200 und S. 198. Grätz ist zweifellos darin zuzustimmen, dass „topographische Referentialität und kartographisches Raumkonzept“ in Cécile nur bedingt die „Realitätsillusion“ fördern, da die „kompositorische[ ] Anordnung der Räume“ den „Kunstcharakter“ des Erzählens „deutlich hervor[hebt]“ (Grätz, Tigerjagd, S. 197 f.). Die Funktion dieser Anordnung sieht sie zutreffend darin, die „Wechselwirkung zwischen Figuren und Raum“ in Szene zu setzen: Zum einen wirke die „räumliche Umgebung […] wie ein Katalysator auf das Figurenbewusstsein“, treibe „verborgene Wünsche, Triebe und Ängste hervor“; zum anderen werde „vorgeführt, wie die Figuren den Raum mit ihren Vorstellungen und Projektionen überziehen.“ (Grätz, Tigerjagd, S. 199). Diese „Assoziationstechnik“ und ihre unzweifelhaft soziale Funktion wird auch die vorliegende Untersuchung noch beschäftigen (s. Kapitel III.2.5 und III.2.7), doch ist sie nicht allein wahrnehmungspsychologisch bzw. -soziologisch, sondern auch romanpoetologisch bedeutsam, was der Text durch die arabeske Überformung der besuchten Orte zu verstehen gibt (vgl. v. a. III.2.5, III.2.6.3 und III.2.8).

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chene Mauern, Zäune und Gitter, die die sights als demarkierte Plätze am kollektiv begangenen Schlängelweg kenntlich machen und wie arabeske Rahmenornamente den Durchblick auf die Orte sowohl gestatten als auch hemmen. Dank dieser regelmäßigen Differenzierung in Vorder- und Hintergrund entsteht an den genannten Orten der Eindruck von Dreidimensionalität, von perspektivischer Tiefe, der in der Formsprache arabesker Kunstästhetik die verstehende ‚Schau‘ eines ‚schönen‘, also ‚wahren‘ lebendigen Zusammenhangs verspricht. Hatte die Balkonszene die Bildlogik der Banderolenarabeske, die typischerweise Szenen imaginärer und ‚realer‘ Geselligkeit darbietet, mit dem Contretanz verknüpft, so sind auch die touristischen sights als Stationen oder ‚Positionen‘ des Contretanzes ausgewiesen, an denen soziale Bewegungs- und Interaktionsfiguren ausgeführt werden: Bei jeder Ortsbegehung stoßen gemäß der Progression des Contretanzes weitere, hauptsächlich als Paare eingeführte Personen hinzu.164 Schließlich werden die meisten Einfriedungen begleitet und verdoppelt durch klassische Varianten der Pflanzenarabesken (Weinranken und Girlanden), und auch der Ornamentbegriff kommt mehrfach explizit zur Sprache: Die Villa etwa ist „von einem goldenen Drahtgitter eingefaßt[ ], mit wildem Wein und Epheu dicht überwachsen[ ]“ (C 24); ein Denkmal im Schloss Quedlinburg ist am Sockel „mit Guirlanden ornamentirt“ (C 51, sic) und das Jagdschloss ‚zeigt‘ „etwas von Architektur und Ornament“ und ist „ganz von wildem Wein überwachsen“ (C 97). An jedem einzelnen Ort wird so die line of beauty im Sinne eines ‚als-ob‘-Signals in Erinnerung gerufen und der Leser darauf verwiesen, den innerhalb der arabesken Rahmung wahrnehmbaren ‚schönen‘, wahrhaft lebendigen Sozialzusammenhang als nicht organischen, sondern artifiziell und in der voranschreitenden Bewegung eines konventionellen Prozederes, hier: des als Contretanz zu verstehenden kollektiven Gangs über topische loci, hergestellten zu reflektieren. Im Blick auf solch arabeske Formsprache der Orte kommt dem „Aussichtspunkte“ bei der „Roßtrappe“ (C 26), der „Hauptsehenswürdigkeit der Gegend“ (C 36), eine Signalfunktion zu: Durch seine herausgehobene Lage bietet dieser Ort nicht nur dem Leser, sondern auch seinen fiktiven Besuchern einen durch Felsen umgrenzten panoramatischen Überblick über die Landschaft, einen ein-

164 Am Aussichtspunkt unterhalb der Rosstrappe gesellt sich zur Dreier-Gruppe aus Gordon und den St. Arnauds die „Thiermalerin“ Rosa hinzu, so dass die Gruppe nun aus zwei Paaren besteht und in dieser Formation auch Quedlinburg besichtigt. Am Ausflug nach Altenbrak, dem letzten Ziel der kollektiven Promenade durch den Harz (vgl. C 85 ff.), nimmt zusätzlich das sich beständig über die Harzer Geschichte streitende Paar aus Emeritus und dem Privatgelehrten Eginhard aus dem Grunde teil; in Altenbrak schließlich erweitert sich die Runde durch den dort lebenden Präzeptor und seine Frau.

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heitlichen Wahrnehmungsrahmen für alle Besucher also. Zugleich ermöglicht er dank eines fest installierten Teleskops („Perspektiv“, C 31) vielfältige Einzelansichten innerhalb dieses Rahmens, die die perspektivische Tiefe in ‚nahansichtige‘ Zweidimensionalität auflösen und formal durch den gemeinsamen Standort am „Aussichtspunkte“ zusammen gehalten werden. Mit diesem Wechselspiel von Gesamtbild und Einzelbildern, Fern- und „Nahansichtigkeit“, Dreiund Zweidimensionalität wiederholt sich an dieser einzelnen Station der kollektiv begangenen Wegbanderole wie in einer mise en abyme die Bildstruktur der Banderolenarabeske als ganze, an deren Windungen sich Einzelansichten auftun, die von der ornamentalen Rahmung durch die Banderole voneinander abgegrenzt und zusammengehalten werden.165 Wiederholt und in Erinnerung gerufen wird so Gordons gerahmter, perspektivierter Blick auf die Harzer Landschaft vom Hotelbalkon aus. Folglich können die sights als Orte verstanden werden, die Gordon und den anderen Spaziergängern, die nunmehr selbst als Contretänzer in die soziale Interaktion involviert sind,166 gleichwohl punktuelle ‚schöne‘ Einsichten, also Einsichten in die medialen Bedingungen ihrer Einsichten ermöglichen. Die besuchten Orte erlauben ihnen so eine begrenzte, relative Form der Selbstreflexion aus dem Contretanz, aus ihrer gesellschaftlichen Verstrickung, heraus.167 Inwiefern die „schönste[n] Durchblicke“ an den arabesk gerahmten Orten des kollektiven Schlängelweges ein ‚soziales Verstehen‘ meinen, das selbst wiederum auf seine medialen Bedingungen hin durchsichtig wird, erschließt sich durch die Parallelisierung von touristischen Orten und rhetorisch-topischen loci. Die Interpretation touristischer sights als topische loci, die sich im Realen konkretisiert und materialisiert haben, deutete sich bereits in der zitierten Redewendung ‚den Cicerone machen‘ an. Diese volkstümliche Sicht wird am ersten Ort, den die Spaziergänger nach Gordons „Dispositionen“ besuchen, wieder aufgegriffen. Die arabesk eingerahmte Villa im Wald nämlich, die „Stelle“, „um [deren] willen“ Gordon „den ganzen Umweg vielleicht nur gemacht hatte“ (C 25), kann als ein ciceronianischer locus im Wortsinn gelesen werden. Ihr setting evoziert die Wald- und Jagdmetaphorik, die Cicero in seinem Lehrbuch De

165 Diese besondere arabeske Doppelungsstruktur, in einem Teil des Ganzen dessen Kombinatorik zu wiederholen und reflektierbar zu machen, war in Fontanes Text bereits in der arabesk gestalteten „Parkwiese“ zu beobachten, die im Kleinen die Kombinatorik des gesamten „Landschaftsbilds“ anschaulich machte. 166 Am „Aussichtspunkte“ konstatiert der Text selbst, dass seine Besucher „paar- und gruppenweis“ (C 26) in Erscheinung treten. 167 Vgl. die relative „Übersicht über das Allgemeine“ des Freytagschen Kaufmanns aus seiner sozialen Verstrickung, seiner „Doppelstellung“ in Geschäft und Familie, heraus.

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inventione zur Veranschaulichung der topischen techné gebraucht.168 Cicero spricht hier vom ‚Wald‘ als einem undurchdringlichen Dickicht aus ‚vermischtem und vermengtem allgemeinen Material‘,169 das der Redeproduzent im Zuge der inventio wie ein Jäger durchstreifen muss, um die später als „Glanzstellen“ bzw. „Lichtpunkte“ 170 qualifizierten einschlägigen Plätze anzusteuern, an denen er Beute machen, nämlich passende „Argumente“ 171 (vgl. die Barthes’schen „Sinne“ oder „Namen“) zu seiner quaestio ‚herausziehen‘ kann. Die Villa ihrerseits liegt auf einem der „freiere[n] Plätze“ des „ein[ge]schlagen[en]“ Schlängelweges durch den Wald, dessen Undurchdringlichkeit betont wird: „Von beiden Seiten trat das Laubholz dicht heran […]“ (C 24). Mit der Charakterisierung des Orts als ‚einschlägige‘ „Stelle“ und Lichtung im chaotischen Waldesdickicht folgt Fontanes Text zwei entscheidenden Präzisierungen der vagen Ortsmetaphorik aristotelischer topoi, die Ciceros locus-Konzept impliziert: Zum einen differenziert Ciceros Umschreibung der loci communes als „Stelle[n]“ oder ‚Sitze von Argumenten‘ (sedes argumentorum) stärker zwischen topischem locus und den an ihm auffindbaren konkreten Sinnaspekten (Argumenten) zur quaestio. Mit dem locus selbst ist noch kein ‚Argument‘ einfach da. Wie ein „Stichwort“ (argumentorum nota) gibt er vielmehr einen bedeutungsreichen ‚thematischen Komplex‘ an, der erst im Blick auf die quaestio ‚sprachlich bearbeitet werden muss‘.172 Die zweite Präzisierung betrifft die „auf allgemeiner, öffentlicher Anerkennung beruhende hohe Bedeutsamkeit“,173 also die sozio-kulturelle Relevanz der loci. Diese wird durch das Bild der eingehegten und besiedelten Lichtung im Waldesdickicht insofern betont, als diese für cultura im ganz basalen Sinn steht, für die Rodung und Urbarmachung eines Ortes im undifferenzierten Naturchaos. Die Verwendung, also der Besuch topischer loci ist für Cicero zentrales

168 Vgl. auch Bornscheuer, Topik, S. 63. 169 Im Original heißt es: „silvam atque materiam universam ante permixtim et confuse exponere omnium argumentationum“, Cicero, De inventione I, § 34, S. 72. 170 Cicero, De inventione II, § 49, S. 207. 171 Vgl. seine bereits erwähnte Definition der topischen loci als ‚sedes argumentorum‘. 172 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 67. Cicero führe damit ein durchaus bei Aristoteles angelegtes topos-Verständnis weiter. Dieser verstehe topoi anders als die Sophistik nicht als ‚fertige Argumente‘ (= fertige Redeteile), sondern eher formal als ‚Ausgangspunkte‘, als (semio-)logische Prämissen für die enthymematische Argumentation (Bornscheuer, Topik, S. 63). Gleichwohl sei Ciceros locus-Begriff dank dieser metaphorischen Abtrennung nicht als „reiner Formbegriff“ zu verstehen (Bornscheuer, Topik, S. 64), denn während Aristoteles tendenziell eher formale Argumentationsgesichtspunkte im Blick habe, hebe Cicero auf „thematische bedeutungsreiche“ „Komplexe[ ]“ ab (Bornscheuer, Topik, S. 67), die den sonst eher der Philosophie zugewiesenen quaestiones infinitae vergleichbar seien (vgl. die ausführliche Analyse der für Cicero zentralen loci communes in Bornscheuer, Topik, S. 66 ff.). 173 Bornscheuer, Topik, S. 67.

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Mittel zur Produktion eines sozio-kulturell bedeutsamen, nämlich machtvollkulturstiftenden Diskurses, der im Rückkopplungseffekt wiederum die kulturelle Bedeutsamkeit der loci bestärkt.174 Das ist nötig, denn diese sind durch das Naturchaos beständig bedroht, worauf auch die Einfriedungen und der ‚dicht herantretende‘ Urwald in Fontanes Text hindeuten. Als ‚Anhaltspunkte‘ für den sozio-kulturellen Gemeinsinn, die einer als chaotisch empfundenen Realität künstlich abgerungen sind, hat rund hundert Jahre später auch der Historiker Pierre Nora die touristischen Orte unter dem Begriff der „lieux de mémoire“ 175 als zeittypisches Phänomen des mittleren und späten 19. Jahrhunderts analysiert. Infolge der „Beschleunigung der Geschichte“,176 die in dieser Zeit immer stärker wahrgenommen wird und einher geht mit einem „immer schnellere[n] Absturz in eine unwiderruflich tote Vergangenheit“, d. h. der „unterschiedslose[n] Wahrnehmung aller Dinge als verschwundener“, entsteht, so Nora, ein „Selbstbewußtsein im Zeichen des Abgelaufenen“ und mit diesem das Bedürfnis nach „Gedächtnisorte[n]“. Diese sind „zunächst einmal Überreste“ 177 des Vergangenen, die es zu konservieren gilt: Das, was eine Gemeinschaft, die bis in ihre Grundfeste in Wandel und Erneuerung hineingerissen ist, künstlich und willentlich ausscheidet, aufrichtet, etabliert, konstruiert, dekretiert, unterhält. […] Museen, Archive, Friedhöfe und Sammlungen, Feste, Jahrestage, Verträge, Protokolle, Denkmäler, Wallfahrtsstätten, Vereine sind Zeugenberge eines anderen Zeitalters, Ewigkeitsillusionen.178

In ihrer nie gesehenen Zahl und Vielfalt indizieren diese Gedächtnisorte, zu denen Nora explizit auch die „touristischen Stätten“ 179 zählt, das „Gefühl eines Abreißens des Gedächtnisses“,180 des sozialen „Gemeinsinn[s]“,181 im Sinne von

174 Bornscheuer, Topik, S. 108. 175 Vgl. Pierre Noras „Vorwort“ und „Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte“ in: Ders. Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 7–9 und S. 11–33, hier S. 7. ‚Offizielle‘ lieux de mémoire in Cécile sind insbesondere das Schlossmuseum, das Jagdschloss und das Denkmal; die Villa im Wald ist eher ein „halboffizieller“, „sentimentaler“, um nicht zu sagen privater Gedächtnisort Gordons, vgl. Nora zur ‚Dezentralisierung‘ und ‚Demokratisierung‘ bzw. zur „Atomisierung eines allgemeinen Gedächtnisses in Privatgedächtnisse“ im Zuge des von ihm beschriebenen Zeitphänomens der Überhand nehmenden Gedächtnisörter (Nora, Gedächtnisorte, S. 20 f. und S. 22). 176 Alle Zitate in diesem Satz sind Nora, Gedächtnisorte, S. 11, entnommen. 177 Nora, Gedächtnisorte, S. 17. 178 Nora, Gedächtnisorte, S. 17. 179 Nora, Gedächtnisorte, S. 31. 180 Nora, Gedächtnisorte, S. 11. 181 Nora, Gedächtnisorte, S. 18.

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„etwas als selbstverständlich Erlebte[m]“:182 „Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt.“ 183 Diesen Orten attestiert Nora eine paradoxe Funktion: Obwohl sie in erster Linie das Vergangene dem schnellen geschichtlichen Wandel entreißen und in der Gegenwart auf Dauer stellen sollen und sie dieses radikal Fremdgewordene „auf so sinnliche Weise“ wie „[n]ie zuvor“ 184 zu repräsentieren suchen, können sie ihre Besucher nicht ohne Weiteres in die vergangene Zeit und deren schwindenden Gemeinsinn zurückversetzen. Denn als artifizielle „Gedenkstätten“ 185 verbleiben sie zugleich im ‚Reich der Geschichte‘186 und „komplizieren“ ihrerseits „den einfachen Gebrauch des Gedächtnisses durch eine Reflexion über das Gedächtnis“.187 Es sind: Gerettete Orte eines Gedächtnisses, die wir nicht mehr bevölkern, halboffizielle und institutionelle, halbaffektive und sentimentale Orte; Orte der Eintracht, in denen doch kein Gemeinsinn mehr lebt, Orte, die weder politische Überzeugung noch leidenschaftliche Teilnahme mehr ausdrücken und in denen gleichwohl noch etwas von symbolischem Leben pocht.188

Als solche befördern sie also bei den Besuchern nicht bloß oder zum Wenigsten das Gedächtnis des Vergangenen, sondern vor allem das „Gedächtnis des Gedächtnisses“.189 Denn indem sie den „Abstand“ der Gegenwart zu einem „eingebundenen, gebieterischen und sich selbst nicht bewußten Gedächtnis, das Ordnung schaffend und allmächtig ist“,190 bezeugen, zeigen und bestärken sie die ‚Brüchigkeit‘ des gegenwärtigen Gemeinsinns. Dieser muss sich als historischer reflektieren, muss einsehen, dass er „bloß Geschichte ist, bloß Spur und Sparte“.191 Die Abtrennung von Gedächtnis und Geschichte, der die Gedächtnisorte sich verdanken und die sie dokumentieren, ist also just an ihnen selbst außer

182 Nora, Gedächtnisorte, S. 12. 183 Nora, Gedächtnisorte, S. 11. 184 Nora, Gedächtnisorte, S. 24: „Paradoxerweise fordert die Distanz die Annäherung, welche sie bannt und ihr zugleich ihr Vibrato gibt. Nie zuvor hat man auf so sinnliche Weise das Gewicht der Erde an den Stiefeln, die Hand des Teufels im Jahre 1000 und die üblen Gerüche der Städte im 18. Jahrhundert spüren wollen. Doch das künstliche Trugbild der Vergangenheit ist eben nur denkbar unter der Herrschaft der Diskontinuität. Die ganze Dynamik unseres Verhältnisses zur Vergangenheit liegt in diesem subtilen Spiel unüberwindlicher Ferne und schrankenloser Nähe.“ 185 Nora, Gedächtnisorte, S. 27. 186 Nora, Gedächtnisorte, S. 26. 187 Nora, Gedächtnisorte, S. 30. 188 Nora, Gedächtnisorte, S. 18. 189 Nora, Gedächtnisorte, S. 23. 190 Nora, Gedächtnisorte, S. 12. 191 Nora, Gedächtnisorte, S. 12.

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Kraft gesetzt. Es handelt sich um loci eines vergangenen gesellschaftlichen sensus communis, die sich die aktuelle Gesellschaft in der Form von Schau-Plätzen vor Augen führt, vorderhand um diesen zu bewahren, letztlich aber um sich des eigenen, als brüchig erfahrenen sensus communis zu versichern. So haben die Orte de facto Spiegelfunktion, es geht an ihnen um „die Entschlüsselung dessen, was wir sind, im Lichte dessen, was wir nicht mehr sind.“ 192 Man habe, so Nora, mit uneindeutigen, „vermischten, mutierenden […] Zwitterorten“ 193 zwischen Gedächtnis und Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod, Unbewusstem und Bewusstem zu tun. Genau genommen wäre dann aber im Blick auf touristische sights weniger von lieux de mémoire (loci memoriae) zu sprechen, wie Nora dies mit explizitem Verweis auf die antike Mnemotechnik tut,194 sondern präziser von lieux de topique (loci topicae), wie Fontanes Text dies mit implizitem Verweis auf die antike Topik nahelegt.195 Cicero hatte die topischen loci als eingezäunte „Lichtpunkte“ ins Bild gesetzt, die zu ihrer kulturstiftenden Funktionalisierung der ‚Durchforstung‘ durch den Jäger, d. h. der vielfältigen sprachlich-interpretativen Bearbeitung durch ihren Nutzer bedürfen.196 Ganz parallel führt Nora den kultursemiotischen bzw. -poietischen Wert der Gedächtnisorte auf ihr „[t]emplum“, ihre künstlich-sakrale Alltagsenthobenheit und unerschöpfliche Symbolkraft, zurück: Templum: aus der Unbestimmtheit des Profanen wird nach Raum oder Zeit, Raum und Zeit ein Feld herausgetrennt, ein Kreis, innerhalb dessen alles Symbol ist und Bedeutung hat.197

Aufgrund ihres uneindeutigen ‚Zwitterstatus‘ bedürfen sie wie die topischen loci nach Cicero der sprachlichen Bearbeitung, laden zu vielfältigen Assoziationen 192 Nora, Gedächtnisorte, S. 25. Den Effekt des Auf-sich-selbst-Verwiesenwerdens der aktuellen kulturellen Formation an diesen Orten fasst Nora in das Bild des Spiegels, das auch in Fontanes Text eine zentrale Rolle spielt (vgl. unten Kapitel III.2.5.2): „Das Gedächtnis als Spiegel, möchte man sagen, würfen die Spiegel nicht das Bild des Selben zurück, wo wir doch im Gegenteil in ihnen die Differenz entdecken wollten; und im Schauspiel dieser Differenz blitzt plötzlich die unauffindbare Identität auf.“ (Nora, Gedächtnisorte, S. 25). 193 Nora, Gedächtnisorte, S. 27. 194 Vgl. Nora, Vorwort, S. 7. 195 Für diese Präzisierung im Blick auf die von Nora untersuchten Örter der Geschichtskultur im 19. Jahrhundert plädiert bereits Hebekus, Klios Medien, S. 31 und S. 35. Zur prinzipiellen, historisch allerdings oft verwischten Unterscheidung zwischen loci memoriae und loci topicae vgl. Kapitel I, III.2.4 und IV.7. 196 Dieser Aspekt der Interpretationsbedürftigkeit topischer Orte entspricht dem Strukturmoment der „Potentialität“, die laut Bornscheuer jedem topos neben den drei anderen Strukturmomenten der „Habitualität“, „Intentionalität“ und „Symbolizität“ zukommt, vgl. Bornscheuer, Topik, S. 91–108. 197 Nora, Gedächtnisorte, S. 32.

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und Interpretationen, zu individuellen Anschlussversuchen und damit zur Aktivierung der (noch) vorhandenen Seh-, Denk- und Sprachgewohnheiten (endoxa) ein. Auch wenn sich dank der individuellen Anschlüsse keine inhaltliche Einhelligkeit zwischen den Besuchern einstellt, bilden diese doch durch die gemeinsame kommunikative Bezugnahme auf den jeweiligen Ort eine momentane funktionale Einheit.198 Die Brüchigkeit des sensus communis der Berliner Gesellschaft macht Fontane bereits dadurch sinnfällig, dass zwar alle Mitglieder der Touristengruppe aus Berlin stammen, sie aber sämtlich außerhalb bzw. in der Peripherie des politischen Machtzentrums der Gesellschaft im Kaiserreich stehen.199 Von einem

198 Vgl. die Parallele dieses Befunds zu Hebekus’ Beobachtungen zum Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, die die polyvalente Deutbarkeit der lieux de mémoire, ihre von Nora betonte „Fähigkeit zur Metamorphose“ (Nora, Gedächtnisorte, S. 27), als Grundbedingung ihrer Eignung zur kulturellen Einheits- oder Identitätsstiftung erweisen: Anlässlich der Einweihung des Denkmals im Jahr 1875 „[…] entspinnen sich Diskurse seiner Deutung, die paradoxerweise gerade durch ihre gegenstrebige Fügung die historische Figur Hermanns des Cheruskers zum Symbol der deutschen Nation aufbauen. […] Gerade durch die Überfülle seiner deutenden Inanspruchnahmen [durch das nationalkonservative und das liberale Lager, durch die Sozialisten und den politischen Katholizismus, Ch. F.] wird es, für sich selbst genommen, gewissermaßen semantisch entleert. Andererseits stiftet es genau durch diese Leere einen Indifferenzpunkt und eine Äquivalenzbeziehung der heterogenen Parteiungen, die sich durch die ihnen gemeinsame Bezugnahme auf es konstellieren. […] Als ‚leerer Signifikant‘ (Ernesto Laclau) ‚näht‘ so die historisch-mythologische Figur Hermanns die auseinanderstrebenden Kräfte zu einer imaginären Einheit [auf Zeit, Ch. F.] zusammen.“ (Hebekus, Geschichte als Ort und Figur, S. 159). Im Blick auf die topischen loci bei Aristoteles und Cicero spricht auch Bornscheuer von „interpretatorischer Polyvalenz“ (Bornscheuer, Topik, S. 99), die, wie hier, auch diametral entgegengesetzte Interpretationen erlaube: Um auf jedweden problematischen Gegenstand applizierbar zu sein, so Bornscheuer, ist „jeder Topos […] ‚an sich‘ unbestimmt-allgemein, eröffnet jedoch in einem bestimmten Problemzusammenhang für die verschiedenartigsten Interessen konkrete Argumentationsperspektiven.“ (Bornscheuer, Topik, S. 99) Vgl. auch: „Das Unbestimmt-Allgemeine bedeutet keinen Leerraum, sondern Komplexität. Die Interpretationsbedürftigkeit eines Topos fordert heraus, er inspiriert, er setzt Denken in Bewegung, er öffnet im konkreten Problemzusammenhang neue argumentative bzw. amplifikatorische Möglichkeiten.“ (Bornscheuer, Topik, S. 99). 199 Gordon ist prinzipiell dem verbürgerlichten Adel und damit der machtpolitisch führenden gesellschaftlichen Gruppe des preußischen Kaiserreichs zuzuordnen, gleichwohl musste er wegen ‚Schuldenmachens‘ (C 66) aus der Armee austreten und hat nun nach langjährigem Aufenthalt als Ingenieur in der Fremde den Status eines kosmopolitischen Außenseiters, der den Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen und innenpolitischen Entwicklungen verloren hat. Cécile und ihr Mann leben nach St. Arnauds Duell und Haftentlassung weitgehend isoliert in Berlin. Das Eingangskapitel zeigt, wie sie auf ihrer Reise in den Harz von einem hochrangigen Offizier zwar knapp „mit besonderer Artigkeit“ gegrüßt, doch hernach gemieden werden (C 8). Im Berlin-Teil des Texts erfährt man, dass sich ihre Sozialkontakte auf eine Runde fragwürdi-

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in der Gruppe selbstverständlichen, kohärenten und dominanten preußischen ‚Herrschaftswissen‘ ist von daher nicht auszugehen, vielmehr davon, dass die Teilhabe an diesem als problematisch empfunden und (mehr oder weniger dringlich) angestrebt wird. Zusätzlich macht Fontane den „Abstand“, die von Nora betonte Fremdheit, des an den topischen loci ausgestellten sensus communis für die Besucher dadurch besonders augenfällig, dass die besuchten Sehenswürdigkeiten im Harz nicht die Vergangenheit Berlins oder Preußens repräsentieren, sondern die des Harzes, der erst zu Beginn des Jahrhunderts preußisch wurde: Die Villa im Wald etwa steht für das ausgelöschte Leben einer ortsbekannten Familie, Schloss Quedlinburg repräsentiert als ehemaliger Wohn- und Regierungssitz der katholischen „Fürst-Abbatissinnen“ (C 48) deren frühere religiöse wie politische Macht im Harz, und das „Jagdschloß“ „Todtenrode“ (C 97) führt den Spaziergängern als Lustschlösschen aus „sehr bewegte[n] Tage[n]“ (C 97) die freizügige Sexualmoral der ehemaligen „Duodezfürsten“ (C 98) vor Augen. Gleichwohl werden die Orte von den Mitgliedern der Touristengruppe200 als sehenswert deklariert, also zu ihrer Unterhaltung und Bildung, kurz zu ihrer Orientierung in der Gegenwart als wichtig erachtet. Mit dem nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich Fernen und damit Fremden repräsentieren die Orte ‚das Andere‘ der Berliner Gesellschaft, die sich dadurch umso intensiver mit sich selbst beschäftigen kann. Folglich betreiben deren Vertreter in Cécile die „Ent-

ger, politisch diskreditierter Berliner Randexistenzen beschränken, die Gordon so kommentiert: „Was er, außer dem Hofprediger, bis dahin gesehen hatte, war nichts Hervorragendes gewesen, ziemlich sonderbare Leute, die sich allenfalls durch Namen und gesellschaftlich sichere Haltung, aber wenig durch Klugheit und fast noch weniger durch Liebenswürdigkeit ausgezeichnet hatten. Beinah alle waren Frondeurs, Träger einer Opposition quand même, die sich gegen Armee und Ministerium und gelegentlich auch gegen das Hohenzollernthum selbst richtete.“ (C 154) Eine Ausnahme bildet der Hofprediger Dörffel, der Cécile regelmäßig als Seelsorger besucht, an Soirees in besagter Runde aber nicht teilnimmt und so Cécile die volle gesellschaftliche Anerkennung versagt. Schließlich sind auch die im Harz erwanderten neuen Bekannten gesellschaftliche Sonderlinge: Rosa Bonheur ist Künstlerin und agiert nach eigener Aussage als „Thiermalerin“ hart an der Grenze des Frauen zugebilligten künstlerischen Freiraums; der theologische Emeritus wurde „‚um Mümmelns willen‘“ seines Amtes enthoben (C 30) und der Privatgelehrte Eginhard Aus dem Grunde steht als archäologischer Autodidakt außerhalb der institutionellen Wissenschaft; sein abenteuerliches Äußeres deutet die ökonomischen Probleme dieses Status an (C 18 f.). Zum Randgruppenpersonal von Cécile vgl. bereits Gerhard Friedrich, Die Schuldfrage in Fontanes Cécile. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 520–545, hier S. 521 und S. 545, sowie Horst Thomé, Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914), Tübingen 1993, S. 358. 200 – außerdem vom mitgeführten, demnach in Berlin verlegten Reiseführer –

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schlüsselung dessen, was [sie] sind“, nicht nur „im Lichte dessen, was [sie] nicht mehr sind“,201 sondern auch im Lichte dessen, was sie nie waren. Die wechselseitige Interpretation von touristischen sights und rhetorischtopischen loci macht letztere demnach, entgegen ihrer (kantischen) Abwertung zu formelhaften Denk- und Sprachschablonen ohne Erkenntnisfunktion, als kulturpoietisch bedeutsame „Grundelemente der gesellschaftlich-ideologischen Selbstkonstitution“ 202 reflektierbar. Frappant ist, dass nicht nur Fontanes Text dank der Contretanz-Evokation diese „Selbstkonstitution“, diesen funktionalen sozialen Zusammenhang (sensus communis), an den touristischen Orten als einen solchen vorstellbar macht, der sich ‚reizenden und verschlungenen Touren‘ innerhalb eines äußeren, den Blick fokussierenden (Bühnen-)Rahmens gehorcht, sondern dass auch Nora auf die Metaphorik ‚gesponnener‘ Fäden bzw. ‚ineinander verschlungener‘ Kreise innerhalb eines abgetrennten ‚Feldes‘ verfällt, um den offen-uneindeutigen Charakter der Gedächtnisorte, der zu soziokulturell verbindenden Anschlusskommunikationen motiviert, zu beschreiben: Mit Orten also haben wir es zu tun, doch mit vermischten, mutierenden, mit Zwitterorten, dicht gesponnen aus Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit – in einer Spirale des Kollektiven und des Individuellen, des Prosaischen und des Sakralen, des Unbewegten und des Beweglichen, einer Folge ineinander verschlungener Möbiusringe.203

2.5.1 Topisches templum und kulturelle ‚Eintracht‘ in der Differenz der Deutungen (Villa im Wald) Ein offen-uneindeutiger Charakter, Topizität in Ciceros Sinn bzw. das Norasche ‚templum‘, das zur kollektiven sprachlichen Bearbeitung reizt, eignet der Villa im Wald in besonderer Weise. Wiewohl es sich bei ihr um ein privates Wohnhaus und keine touristische Sehenswürdigkeit im strengen Sinn handelt, besitzt sie just das, was laut Nora „aus [Orten] Gedächtnisorte macht“, was sie „der Geschichte entzieh[t]“,204 nämlich künstlich-sakrale Alltagsenthobenheit und unerschöpfliche Symbolkraft. Ganz im Sinne von Gordons Absage an die gemeinen Orte des Alltags ist „diese Stelle“ mehrfach als eine außergewöhnliche markiert. Von ihrer Lage auf einer vom Waldesdickicht abgesetzten Lichtung und dem „vergoldete[n] Drahtgitter“, das sie einfasst, war schon die Rede. Darüber hinaus wird Alltagsenthobenheit im folgenden Passus sowohl durch die Abwesenheit menschlicher Regungen suggeriert, als auch durch die einzigen erkenn-

201 202 203 204

Nora, Gedächtnisorte, S. 25. Bornscheuer, Topik, S. 108. Nora, Gedächtnisorte, S. 27. Nora, Gedächtnisorte, S. 32.

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baren Spuren menschlichen Handelns, denn der angesiedelte exotische Pfau und die spezifische Bepflanzung des Gartens sind Elemente eines extravaganten Arrangements, das in besonderer Weise auf den ästhetischen Effekt beim Betrachter zielt und den Ort zu einem Schau-Platz macht. Nichts regte sich in dem Hause, nur die Gardinen bauschten überall, wo die Fenster aufstanden, im Zugwind hin und her, und man hätte den Eindruck einer absolut unbewohnten Stätte gehabt, wenn nicht ein prächtiger Pfau gewesen wäre, der, von seiner hohen Stange herab, über den meist mit Rittersporn und brennender Liebe bepflanzten Vorgarten hin, in übermüthigem und herausforderndem Tone kreischte. (C 24)205

Als derart hervorgehobener und arrangierter Ort, der Leblosigkeit und Bewegung, Leere und bunte Fülle zeigt, ist er Anhaltspunkt und Gedenkort für Gordon – „ich gehe täglich an diesem Hause vorüber und hole mir eine Predigt“ (C 25) – und verfehlt auch nicht seine Wirkung auf Cécile, die „betroffen stehen [bleibt]“ (C 25). Mit Nora könnte man von einem ‚halboffiziellen und sentimentalen‘ Gedächtnisort sprechen. Umgehend ergehen sich beide – gemäß der Contretanz-Logik interagiert an diesem ersten besuchten Ort zunächst ein einzelnes Paar – in Interpretationen seiner Symbolkraft: Cécile nimmt die leere Villa als Sinnbild einer nur temporären Leblosigkeit, die sich zu guter Letzt und garantiert in ewiges Leben in „Frieden“ und „Glück“ umwandeln wird: „Wie zauberhaft,“ sagte sie. „Das ist ja das ‚verwunschene Schloß‘ im Märchen. Und so still und lauschig. Wirkt es nicht, als wohne der Friede darin, oder was dasselbe sagt: das Glück.“ (C 25)

Demgegenüber erblickt Gordon in der Villa ein Symbol des Todes, den Schauplatz eines grauenvollen, im Selbstmord endenden Dramas, das er ganz im Stile einer Moritat zu einer sentenzartigen ‚Moral von der Geschicht‘ – der besagten „Predigt“ – verdichtet: Die, daß man darauf verzichten soll, ein Idyll oder gar ein Glück von außenher aufbauen zu wollen. Der, der dies schuf, hatte dergleichen im Sinn. Aber er ist über die bloße Coulisse nicht hinausgekommen, und was dahinter für ihn lauerte, war weder Friede noch Glück. Es geht ein finsterer Geist durch dieses Haus, und sein letzter Bewohner erschoß sich hier […]. Plätze daran Blut klebt, erfüllen mich mit Grauen. (C 25)

205 Eben solch deutliche Demarkierung, künstliches Arrangement und Alltagsferne kennzeichnen auch alle anderen Orte im Harz, die Gordon mit Cécile in der Folge aufsuchen wird. Mitunter haben sie zusätzlich sakralen Charakter (Kirche) oder bekommen ihn von den Besuchern zugesprochen wie im Fall dieser Villa, der Gordon die Funktion beimisst, ihn mit einer „Predigt“ zu versorgen.

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Beide inspiriert dieser locus, den sie ersichtlich als „Zwitterort[ ]“ zwischen ‚Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit, Prosaischem und Sakralem‘ empfinden, somit zur Aktualisierung vorgängiger, durch Sozialisation und Bildung vermittelter Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata (endoxa): zum einen der eher überzeitlichen, allgemein bekannten narrativen Schemata Märchen und Moritat,206 zum andern aber auch eines spezifischeren, historisch-medial konkretisierbaren sozial geteilten Wissens. Denn Gordon entfaltet in seiner zitierten Interpretation den ‚lokalen‘ topischen sensus communis zu diesem Ort, das gängige, durch das Gerede der Ortsansässigen, die fama, vermittelte Wissen über die Historie der Villa. Darüber hinaus verrät er zugleich seine Anhänglichkeit an die massenmedial, insbesondere von der Gartenlaube vermittelte Stereotypik des melodramatischen Romans. Dieser sicherte sich seine Stammleser dadurch, dass er mit seinen drastischen, oft blutigen plot-Elementen deren sittliche Lebensführung sowohl bestätigte (mittels abschreckender „Predigt“) als auch in ihrer Ereignis- und Bedeutungslosigkeit kompensierte (mittels wohligem, deshalb von Gordon täglich genossenem „Grauen“).207 Trotz ihrer divergenten Assoziationen gelangen die beiden Besucher an diesem Ort zu einem Moment der „Eintracht“,208 und zwar gerade nicht, weil es zu einer inhaltlich einhelligen Verständigung über die geäußerten Bildungsstandards und gesellschaftlichen ‚Gewissheiten‘ käme,209 sondern weil der Ort im formalen Sinn zu einer einhelligen Bezugnahme einlädt: So unterschiedlich, ja gegensätzlich Céciles und Gordons Interpretationen sind, basieren sie doch beide auf der Differenz von Schein und Sein.210 Beide können die Ambivalenz des Ortes zwischen lebloser Leere und bewegter Fülle nicht als eigentliche nehmen

206 Vgl. das in Fontanes Text als gängige Redeweise hervorgehobene „‚verwunschene Schloß‘“ (C 25). 207 Vgl. Fontanes kritische Charakterisierung des typischen Gartenlauben-Romans als „inhaltreichen Roman“, den, im Gegensatz zur „Kunst“, „sehr viele schreiben“ können (zitiert nach Ingrid Mittenzwei, Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen, Bad Homburg et al. 1970, S. 78). 208 Nora, Gedächtnisorte, S. 18. 209 Das geschieht an keinem der besuchten Orte. Insbesondere Gordon und die Malerin Rosa widersprechen sich häufig oder liefern sich regelrechte Schlagabtausche (C 35: „Wortgefecht[ ]“, C 43 f.: „Rosa wollte davon nichts wissen und stritt hartnäckig hin und her“, C 54: Rosas Widerspruch oder C 114: „scherzhafte Fehde“). Aber auch St. Arnaud ist öfter anderer Meinung (C 70 f.: „Streitfrage“), und in unablässigem Streit liegen gar der Emeritus der Theologie und der Privatgelehrte Eginhardt Aus dem Grunde (C 89: „Fehde“, „Streit“ ). 210 Anders hier Brüggemann, Das andere Fenster, S. 215, demzufolge Céciles Blick die „Übereinstimmung von Äußerem und Innerem“ sehen wolle, während Gordon die wahre, „in [der „Erscheinung“] verborgene[ ] Geschichte“ kenne. Doch auch Cécile legt etwas in die ambivalente Oberflächenerscheinung hinein, entscheidet sich für eine der möglichen Optionen.

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und verstehen in gegensätzlicher Weise jeweils die eine Seite als zeichenhaften Vorschein der anderen, indizieren damit aber gerade ‚Differenz‘ oder auch ‚Ambivalenz‘ als die formale Grundstruktur des Ortes. Darauf verweist auch der Pfau im Vorgarten, der diesem Ort wie ein Emblem beigegeben ist, gewissermaßen als Symbol seiner semiotischen Ambivalenz.211 Damit macht Fontanes literarische Gestaltung dieses realen Harzer sights in Cécile anschaulich, dass es just die semantische Offenheit bzw. Leere der topischen loci, ihre polyvalente Deutbarkeit ist, die ihre kulturpoietische Funktion als (funktionale) Einheit stiftende loci ermöglicht. 2.5.2 Leere Rahmen und der kulturelle „Werth der historischen Anekdote“ (Schlossmuseum) Das Museum im Schloss Quedlinburg, dem ehemaligen Sitz der Quedlinburger Äbtissinnen, stellt insofern ein Extrembeispiel eines topischen locus und Gedächtnisorts dar, als es das „templum“ touristischer Orte auf die Spitze treibt. Als „institutionelle“ Gedächtnisorte der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts sollten Museen dank der Fülle sinnlich wahrnehmbarer Vergangenheitsspuren, die sie versammelten, einen anderen Zugang zur Vergangenheit eröffnen als die wissenschaftliche Historiographie.212 Man versprach sich eine größere Intensität der Vergegenwärtigung des Vergangenen, dank derer das historisch „Wahre wie mit Einem Schlage erfaßt“ 213 werden könne. Angestrebt wurde also das, was 211 In der europäischen und asiatischen Ikonographie werden dem Pfau stets äußerst zwiespältige Charakteristika zugerechnet (vgl. Ernst Thomas Reimbold, Der Pfau. Mythologie und Symbolik, München 1983): Er ist „Todes- und Lebensvogel“ in einem (Reimbold, Pfau, S. 40), steht für Eheglück (Reimbold, Pfau, S. 32), „Auferstehung“ (Reimbold, Pfau, S. 39) und „himmlische[ ] Paradiesesfreuden“ (Reimbold, Pfau, S. 37) einerseits, andererseits aber auch – der hässlichen Füße und der unschön schreienden Stimme wegen – für hoffärtige und nur scheinhafte Schönheit (Reimbold, Pfau, S. 53), die den Verführten versklavt und ins Unglück stürzt. Man könnte angesichts dieses Emblems von einer „Merkform“ sprechen, die Fontane dem Ort beigegeben hat, so dass ihm auch das Strukturmoment der „Symbolizität“ zukommt, das Bornscheuer für jeden topos neben denen der „Habitualität“, der „Potentialität“ und der „Intentionalität“ in Anschlag bringt (vgl. Bornscheuer, Topik, S. 103 f.). 212 Zu den zahlreichen Museumsgründungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. insbesondere Wolfgang Struck, Konfigurationen der Vergangenheit. Deutsche Geschichtsdramen im Zeitalter der Restauration, Tübingen 1997, S. 139 ff. Zur Medienvielfalt in der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts allgemein vgl. Hebekus, Klios Medien. 213 So der Schweizer Rechtshistoriker und Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen, der in seiner „Lebens-Rückschau“ „zwei Wege zur Erkenntnis“ der Historie unterscheidet: „[…] der weitere, langsamere, mühsamere verständiger Kombination, und der kürzere, der mit der Schnelligkeit und Kraft der Elektrizität durchschritten wird, der Weg der Phantasie, welche von dem Anblick und der unmittelbaren Berührung der alten Reste angeregt, ohne Mittelglieder das Wahre wie mit Einem Schlage erfaßt. An Leben und Farbe ist das auf dem zweiten

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Nora im Blick auf die sinnliche „repraesentatio“ an den Gedächtnisorten ihr Distanz bannendes „Vibrato“ 214 nennt. Gemessen am zeitgenössisch derart motivierten Museumskonzept erweist sich das Quedlinburger Schlossmuseum allerdings „durch alle Räume hin […] als eine wahre Musterniete“ (C 48), denn es ist schlichtweg leer. Was es vordem an Kostbarkeiten besessen hatte, war längst fort, und so lag ihm [dem Kastellan], dem Hüter ehemaliger Herrlichkeit, nur ob, über Dinge zu sprechen, die nicht mehr da waren. Eine nicht leichte Pflicht. (C 48)

Die symbolkräftigen dinglichen Spuren der Vergangenheit, die auszustellen es verlohnt hätte – der Thron der Äbtissinnen und ein wertvoller „Krystallspiegel“, der das „Lieblingsstück“ (C 50) der letzten Äbtissin war –, sind verschwunden. Der Betrachtung zugänglich geblieben ist nur das nebensächliche Dekor: „die rothen Damasttapeten“ (C 49) und der „große[ ] aber leere[ ] Goldrahmen“ (C 49). Der Mangel an Anschaulichkeit wird in einem Hinweis des Kastellans fast karikierend auf den Punkt gebracht, demzufolge eine fehlende Tapete den fehlenden Thron indiziere (C 49).215 Hier wird der Mangel selbst signifikant: Absenz wird zum Zeichen für Absenz, gehütet und ausgestellt wird die Spur der Spur. Der museale Ort, der doch die „Kostbarkeiten“ der alten Zeit bewahren soll, stellt so in erster Linie ihr Verschwundensein und im selben Zuge den Gedächtnismangel der gegenwärtigen Zeit aus. Gerade dadurch aber ist er Gedächtnisort in Potenz: In besonders eindrücklicher Weise führt das leere Schloss vor Augen, dass das aktuelle Gedächtnis eine „abergläubische[ ] Verehrung der Spur“ 216 betreibt und also „bloß Geschichte ist, bloß Spur und Sparte“.217 Als ein leerer Architekturrahmen, in dem die leeren Dekorrahmen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, stellt er die nicht inhaltliche, sondern bloß formal-funktionale Rahmungsfunktion der topischen loci als Medien sozialen Zusammenhangs in Reinform aus; überdeutlich verweisen zudem die Rah-

Wege Erworbene den Verstandesprodukten mächtig überlegen.“ (Bachhofen, Mutterrecht und Urreligion, hg. v. Hans G. Kippenberg, Stuttgart 61984, S. 1–18, hier S. 10 f.; zitiert nach Hebekus, Klios Medien, S. 41). 214 Nora, Gedächtnisorte, S. 24. Mit „Vibrato“ bezeichnet Nora die körperlich-sinnliche Gebanntheit des Rezipienten durch den Eindruck „schrankenloser Nähe“, den die Gedächtnisorte „unter der Herrschaft der Diskontinuität“ gleichwohl herzustellen suchen. 215 „‚Also, der Thronsaal, gnädige Frau,‘ hob er an. ‚Und hier wo die Tapete fehlt, genau hier stand der Thron selbst, der Thron der Fürst-Abbatissinnen, ebenfalls roth, aber von rothem Sammt und mit Hermelin verbrämt.‘“ (C 49) 216 Nora, Gedächtnisorte, S. 19. 217 Nora, Gedächtnisorte, S. 12.

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mungen als ornamentale ‚als-ob‘-Signale auf die artifiziell-mediale Konstruktivität jeglichen hier zu erlangenden Zusammenhangs. Weil angesichts dieser interpretationsbedürftigen Leerstelle in extremis bei den Besuchern ‚Verlegenheit‘ (C 49) herrscht – sie finden so gut wie keine Anhaltspunkte vor, an die sie ihr gegenwärtiges Sehen, Denken und Sprechen assoziieren und derart zu einem momentanen Gemeinsinn kommen könnten – übernimmt es der Kastellan als institutionalisierter „Führer“ (C 49) des Orts, den brüchigen gegenwärtigen Gemeinsinn zu spiegeln, indem er ihn sprachlichnarrativ konstruiert: „[D]urch Erzählungskunst [suchte er] den absoluten Mangel an Sehenswürdigkeiten auszugleichen“ (C 49).218 Die Szene zeigt, inwiefern auch Erzählungen als ‚Gedächtnisorte‘ fungieren können,219 denn in seiner Not produziert der Kastellan eine bemerkenswert gemischte Form des Vortrags, einen ‚Zwitter‘ zwischen Gedächtnis und Geschichte, der anstelle der verschwundenen Dinge das fehlende „Vibrato“ kompensiert und die mediale Spiegelungsfunktion des Ortes absichert: Er unterzog sich [seiner ‚nicht leichten Pflicht‘, Ch. F.] mit vielem Geschick, indem er den herkömmlichen, an vorhandene Sehenswürdigkeiten anknüpfenden Kastellans-Vortrag in einen umgekehrt sich mit dem Verschwundenen beschäftigenden Geschichts-Vortrag umwandelte. Voll richtigen Instinkts ersah er hierbei den Werth der historischen Anekdote, die denn auch beständig aus der Verlegenheit helfen mußte. (C 48, Hervorh. im Original)

218 Vgl. Noras Beobachtung zur neuen, hervorgehobenen Rolle des Historikers im Zeitalter der lieux de mémoire: „Aus dem Zerfall der Gedächtnisgeschichte geht nun eine neue Gestalt hervor, ein Historiker, der im Unterschied zu seinen Vorgängern bereit ist, die enge, intime und persönliche Verbindung, die er zu seinem Gegenstand hat, zuzugeben. Mehr noch, sie zu verkünden, zu vertiefen, aus ihr nicht das Hindernis, sondern den Hebel seines Verständnisses zu machen.“ (Nora, Gedächtnisorte, S. 25). Vgl auch Hayden Whites Analyse des Droysenschen „Präsentismus“, der sich darin bekunde, „daß er darauf insistiert, daß der Gegenstand der historischen Untersuchung, der zur Enthüllung irgendeines Sinns verwendete Interpretationsrahmen und die Darstellungsform, die benutzt wird, um ihn in laufende theoretische und praktische Aktivitäten einzubinden, nicht durch die Daten selbst gegeben sind, sondern vom Historiker gewählt werden – in Reaktion auf Normen, die im Bewußtsein des Historikers mehr oder weniger präsent, der zeitgenössischen Praxis, die den sozialen Horizont des Historikers definiert, jedoch immer immanent sind. […] So […] kann jede vermeintliche Untersuchung der Vergangenheit nur eine Reflexion über jenen Teil der Gegenwart sein, der im Grunde entweder eine Spur oder eine Sublimierung irgendeines Teils der Vergangenheit ist.“ (Zitiert nach Hebekus, Klios Medien, S. 97, Hervorh. Ch. F.). 219 Vgl. Nora, der auch Texte – „Verträge, Protokolle“ oder Geschichtswerke, „die mit einer Umschichtung des Gedächtnisses einhergehen oder deren pädagogische Breviere bilden“ – als Gedächtnisorte analysiert. Vgl. Nora, Gedächtnisorte, S. 17 und 29 sowie Die ‚Histoire de France‘ von Ernest Lavisse. Pietas erga patriam. In: Ders., Gedächtnisorte, S. 34–72.

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Dient der „Kastellans-Vortrag“ üblicherweise vor allem dem Gedächtnis, d. h. der Pflege und Bewahrung der alten Zeit, indem er vorhandene Vergangenheitsrelikte kommentierend rahmt und dadurch das „Vibrato“ ihrer Präsenz steigert, muss er im leeren Museum Qualitäten eines „Geschichts-Vortrags“ entwickeln: Er muss über Verschwundenes handeln und dieses, um es kommentieren zu können, allererst erzählerisch präsent machen. Das bedeutet vor allem eine ‚Umkehrung‘ der medialen Funktion und Wertigkeit seiner Rede: Aus der randständig-rahmenden Funktion tritt der Vortrag heraus und wird zum zentralen Medium, das die Re-präsentation des unsichtbar Gewordenen in der Mitte der leeren Dekorrahmen zu leisten hat. Wenn der Erzähler vermerkt, dass der Kastellan hierzu „[v]oll richtigen Instinkts“ auf die Anekdote zurückgreife,220 entspricht das der zeitgenössischen Einschätzung der Anekdote als Erzählform der mündlichen Überlieferung, die weit eher als andere Formen der Geschichtsdarstellung an die vermeintlich unmittelbare Wirkkraft ausgestellter realia heranreiche, indem sie vereinfache und „plastische, stark ausgeprägte Bilder“ gebe, also merkfähige Prägnanz erzeuge.221 Mit dem Zusatz ‚historisch‘ signalisiert der Text aber zugleich, dass mit der narrativen Re-präsentation des Verschwundenen zwangsläufig – selbst in der Form der Anekdote – auch das Verschwinden, der zeitliche Bruch, in den Blick kommt, dass also auch die Anekdote, um es mit Nora zu sagen, „im Reich der Geschichte“ bleibt.222 220 Während der erste Ort des Harz-Spaziergangs, die Villa im Wald, die populären Erzählschemata Märchen und Moritat aktualisierte, wird hier nun die populärste der historiographischen Erzählformen, die Anekdote, mobilisiert. 221 Johann Gustav Droysen etwa schreibt in seiner Historik der Anekdote wie der mündlichen Überlieferung im Ganzen eine besondere Fähigkeit der Veranschaulichung zu: „Die mündliche Überlieferung hat den Drang zu vereinfachen, von den Tatsachen nur die Spitze, von den Personen nur die bezeichnenden Anekdoten festzuhalten, plastische, stark ausgeprägte Bilder zu geben […].“ (Zitiert nach Hebekus, Klios Medien, S. 40). 222 Damit läuft diese Thematisierung der Anekdote als hybride Erzählform, die Gedächtnis gleichfalls nur ‚historisch‘, d. h. künstlich und ex post, stiften kann, diametralen Entgegensetzungen von Geschichtsschreibung und Anekdote resp. mündlicher Tradition zuwider, wie sie etwa Droysen zur wissenschaftlichen Profilierung der Historiographie vornimmt und sie sich bis hin zu Walter Benjamins emphatischer Parteinahme für den unmittelbaren Präsentismus der Anekdote im Gegensatz zur ‚Einfühlung‘ erfordernden wissenschaftlichen Geschichtsschreibung ziehen (vgl. dazu Hebekus, Klios Medien, S. 3 f.). Auch Nora geht im Anschluss an Halbwachs von der Entgegensetzung zwischen Gedächtnis (Tradition) und Geschichte aus, sieht sie an den Gedächtnisorten aber gerade aufgehoben. Der jüngere Fontane hatte in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg anekdotisches Erzählen dem mehr auf Kuriosa denn auf Interpretation gerichteten Sammeln materieller Überreste der Vergangenheit verglichen und beide im „Vorhofe der Wissenschaft“ verortet. Den ‚Wert‘ der Anekdote sieht er hier noch kritisch und ordnet sie der Interpretation des Historikers unter. Letztere könne dadurch, dass sie „Schlüsse“ ziehe, den „historische[n] Sinn“ des erzählerisch vergegenwärtigten Vergangenen erweisen, die Anekdote könne das nicht (zitiert nach Hebekus, Klios Medien, S. 2).

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Das belegt die einzige Anekdote, die in der Schloss-Passage wiedergegeben wird. Diese bezieht sich auf den „Krystallspiegel“ und macht ganz im Sinne der Spiegelungsfunktion der Gedächtnisorte einerseits die alte Zeit und die Bedeutung, der dem Spiegel damals zukam, anschaulich, bringt aber zugleich auch die neue Zeit in den Blick. Zu Beginn stellt die Rede des Kastellans – hierin ganz Anekdote – den verschwundenen Gegenstand in seiner Materialität und seinem ehemaligen Wert vor Augen, der vor allem ein emotiver war: als eigentlich bloß „Nebensächliche[s]“ war der Spiegel „Stolz“ und „Lieblingsstück“ 223 der letzten Äbtissin. Im Anschluss ist dann aber sogleich sehr ausführlich von den Umständen seines Verschwindens die Rede, so dass die Anekdote des Kastellans – nun ganz ‚historisch‘ – vor allem den Bruch mit der alten Zeit anschaulich macht, als eine politisch-religiöse Zäsur (Aufhebung des Quedlinburger Stifts und Entmachtung der Äbtissinnen), aber auch und gerade als Zäsur der Wertmaßstäbe: Die Nachgeborenen haben, anders als die vormaligen Bewohnerinnen, keinen emotiven Bezug mehr zu den materiellen Überresten der Stiftszeit und verscherbeln sie, betreiben den Ausverkauf und die Zerstreuung ihres Erbes. Die abschließende Pointe der Anekdote besteht darin, dass die letzte vertriebene Nutzerin des Spiegels ihn bei dieser Gelegenheit ersteigert hat und für ihn einen enormen Preis zu zahlen bereit war: „Wie hoch er kam, weiß ich nicht; nur das Eine weiß ich, daß es ein Vermögen gewesen sein soll. Ich habe von einer Tonne Goldes sprechen hören.“ (C 50) Der ehemalige emotive Wert ist für die Anwesenden in ‚bare Münze‘, in einen Geldwert übersetzt. Schon mit der erzählten Verscherbelung des Spiegels hat die Anekdote einen, wenn nicht den dominanten Zug des gegenwärtigen bürgerlichen Zeitalters zu Tage gefördert – die Ökonomisierung aller Lebensbereiche bis in die Privatsphäre hinein. Die Angabe des ‚sagenhaften‘ konkreten Geldwertes in der Schlusspointe macht aber nicht nur den Geldwert als zentralen Wertmaßstab der neuen Zeit greifbar, sondern verhindert auch alternative Bewertungen des narrativ evozierten Objekts im leeren Rahmen. Die Reaktion der Spaziergänger belegt, dass in ihren Augen die „historische Anekdote“ das Fehlen des Spiegels in der Tat zu kompensieren und den Goldrahmen auszufüllen vermag; deutlich wird überdies, dass die Anekdote dank ihrer Spiegelungsleistung, ihrer Übersetzung zwischen altem und neuem Gemeinsinn, einen Moment der Einhelligkeit unter den Besuchern erzeugt: „Allerliebst,“ sagte St. Arnaud. „Im Ganzen genommen ist mir die Geschichte lieber als der Spiegel,“ eine Meinung, die von Gordon und Rosa vollkommen, keineswegs aber von Cécile geteilt wurde. (C 50)

223 Hervorh. Ch. F.

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Mehr noch als an den anderen Orten hebt sich Cécile von diesem, mit großem erzählerischen Aufwand hergestellten Gemeinsinn ab. Das signalisieren auffällig-abweichende Handlungen Céciles, die der Erzähler aufmerksam registriert: „Diese hätte sich gern in dem Krystallspiegel gesehen und war während der zweiten Hälfte der ihr viel zu weit ausgesponnenen Erzählung an ein offenstehendes Balkonfenster getreten […].“ (C 50 f.) „[Z]u weit“ geht Cécile, wohl gemerkt, aber nur die „zweite[ ] Hälfte“ 224 der unanekdotisch langen „historischen Anekdote“,225 in der der ehemalige emotive Wert des Spiegels in einen ökonomischen übersetzt und pointiert beziffert wird. Die erste, eher dem Gedächtnis, d. h. der sinnlichen Veranschaulichung, gewidmete Anekdotenhälfte aber hatte Cécile noch angesprochen. Sie hatte es ihr, die sich „gern im Krystallspiegel gesehen“ hätte, erlaubt, dies imaginär zu tun und im Hier und Jetzt nach der Zäsur zwischen Vergangenheit und Gegenwart und über die Differenz von Harz und Berlin hinweg die Perspektive der früheren „Fürst-Abbatissinnen“ (C 48) einmal zu erproben, die allesamt ehemalige Fürstengeliebte waren und im Spiegel eine gesellschaftlich anerkannte und sogar politisch machtvolle Frau entdecken konnten. Ersichtlich liegt der Reiz für Cécile darin, die Denkmöglichkeit einer gesellschaftlich anerkannten ehemaligen Fürstengeliebten des alten Gemeinsinns in der Gegenwart vorstellbar zu machen. Deshalb kann sie dem Urteil der anderen nicht zustimmen, die die Anekdote ‚im Ganzen‘ nehmen und es zufrieden sind, wenn diese sich mit ihrer kunstvollen Evozierung und Übersetzung des imaginären Spiegels der alten Zeit vor diesen schiebt, ihn gewissermaßen ersetzt und den leeren Rahmen ganz ausfüllt (‚mir ist die Geschichte lieber als der Spiegel‘), mit anderen Worten: den semantisch offenen, zwischen Gedächtnis und Geschichte schillernden topischen locus des leeren Rahmens allzu sehr in geschichtlicher Perspektive definiert und andere Bewertungen ausschließt.226 Genau in diesem Moment verliert Cécile das Interesse an der anek224 Hervorh. Ch. F. 225 Diese Kritik an der Erzählung des Kastellans durch Céciles Abwendung ist auch als ironischer Selbstkommentar Fontanes zu lesen, denn gerade die Quedlinburg-Passage bzw. der Harz-Teil insgesamt waren der zeitgenössischen Kritik zu lang geraten, wodurch die Handlungsfolge übermäßig zerdehnt sei. Auch Fontanes Frau habe „eine starke Langweiligkeit“ beklagt (zitiert nach Friedrich, Die Schuldfrage in Fontanes Cécile, S. 520 und S. 526). Zur romanpoetologischen Signifikanz der Überdehnung dieses Romanteils vgl. Mittenzwei, Sprache, S. 82, sowie unten, Kapitel III.2.6 und III.2.8. 226 Diese implizite Kritik an der „Erzählungskunst“ des Kastellans durch Céciles Reaktion (sowie den Hinweis auf die barock-arabeske Ästhetik, s. u.) korrespondiert dem oben in Kapitel III.2.3 zitierten expliziten Lob, das Fontane gelungenen journalistischen Artikeln in einem seiner London-Essays aus den 1860er Jahren angedeihen lässt: Diese verstünden sich als ‚bloße‘, versuchsweise an ihren Gegenstand anzulegende Rahmungen und erhöben nicht den Anspruch, die fragliche Mitte ausfüllen zu können. Vgl. auch das Plädoyer der Malerin Rosa für ein Aufsuchen ‚uneigentlich‘-nebensächlicher

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dotischen Erzählung und plädiert damit indirekt für ein Offenhalten der Anschlussmöglichkeiten von altem und neuem Gemeinsinn, für ein bewegliches Wechselverhältnis zwischen dem leeren, interpretationsbedürftigen Rahmen und dem (narrativen) Diskurs, der diesen interpretierend ausfüllt, letztlich also für ein fortgesetztes Hin und Her zwischen Rahmen und Mitte, dekorativer Neben- und eigentlicher Hauptsache. Das belegt schließlich auch das Ende dieser ersten Besichtigungsepisode im Schloss, wo Cécile „verwirrt“ noch einmal an den Goldrahmen heran tritt, um „mechanisch und ohne zu wissen, was sie that, an die Wandstelle [zu] klopf[en], wo der Krystallspiegel seinen Platz gehabt hatte.“ (C 51) Diese unbewusste, mechanisch-körperliche Reaktion ist als ein intuitives ‚Pochen‘ auf die leere Mitte des ornamentalen Rahmens zu lesen, als Einspruch gegen die Vorstellung, die Hauptsache in seiner Mitte definitiv erfasst zu haben. Sie folgt nämlich unmittelbar auf einen spöttischen Kommentar Gordons zu dem „Denkmal für Hundetreue“ (C 51), das Cécile durch das geöffnete Balkonfenster entdeckt hat und das sie berührt. Die Idee der vorletzten Fürst-Abbatissin, ihr „Schoßhündchen“ durch das Denkmal für seine Treue, also eine Eigenschaft auszuzeichnen, die die Gattung der Hunde insgesamt kennzeichnet, ironisiert Gordon als absurd und verweist sie ins Reich barocker Verkehrte-Welt-Phantasien: „Wie sähe die Welt aus, wenn jedem treuen Hunde ein Obelisk errichtet würde. Ganz im Stil einer Barock-Prinzessin.“ (C 51) Diese hat, so Gordons Vorwurf, die allgemeine Norm für Denkmäler gebrochen, derzufolge denkwürdig nur ist, was aus der Allgemeinheit, dem Gattungsmäßigen, hervorsticht. Ein Individuum ausgerechnet für sein Aufgehen in einer allgemeinen Gattungskategorie zu würdigen, erscheint Gordon der arabesk-concettistischen Ästhetik des Barock verpflichtet, die vorzugsweise die Grenzen zwischen Gattung und Art, Norm und Abweichung, Haupt- und Nebensache, Kunstwerk und zierendem Dekor, Realität und Illusion um- und zerspielt. Im direkten Anschluss an Gordons distanzierenden Verweis auf die Verkehrungskünste des Barock ist Céciles Klopfen vor allem als ein ‚Pochen‘ auf das Beweglichhalten des Verhältnisses von Mitte und Rahmen, von gespiegelter Hauptsache und rahmendem Ornament zu nehmen. Alter und neuer Gemeinsinn sollen gewissermaßen einen beweglichen, schillernden Rahmen bilden, innerhalb dessen Cécile sich als gegenwärtige Person wahrnehmen kann.227 Orte: Sie könne gut und gerne auf die „‚eigentliche[ ] Roßtrappe‘“ (C 27) verzichten, an der „alles Kessel, Eingeschlossenheit und Enge“ sei, und ziehe den besuchten „Aussichtspunkte“ (C 26) neben der „eigentlichen Roßtrappe“ vor, an dem „‚alles Weitblick‘“ sei. „‚Und Weitblicke machen einem die Seele weit und sind recht eigentlich meine Passion in Natur und Kunst.‘“ (C 27) 227 Mitnichten indiziert Céciles Klopfen demnach ein ‚Pochen‘ auf den originalen Spiegel und damit auf ein ‚authentisches‘ Selbstbild, wie es die Cécile-Forschung mehrheitlich postuliert.

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Das leere Schloß steht disparat zur Gegenwart, öffnet sich einem Neuen, das keine Restauration des Vergangenen meint, ist aber nicht auch der Ort, an dem allein es anzusiedeln wäre. Die luftige Brücke zwischen Rahmen und Spiegel, Traum und Realität, zwischen vergangener Vollkommenheit und neuartiger künftiger Harmonie schlägt die kunstvolle Rede im Verein mit betroffenem Schweigen.228

2.5.3 Kulturelle Grenzpolitik: moralische Abriegelung der topischen loci Am topischen locus ‚Schlossmuseum‘ wird folglich in besonderer Weise erkennbar, dass mit dem kollektiven Aufsuchen und der kommunikativen Verhandlung kulturell bedeutsamer loci sogleich rahmenpolitische Fragen im Raum stehen, wie eben die nach der vorläufigen bzw. definitiven Geltung oder die nach der Durchlässigkeit bzw. Undurchlässigkeit des mit ihrer Hilfe konstituierten momentanen sensus communis. Dessen Konstituierung ist, das veranschaulicht die auf das rahmende Dekor reduzierte Ausstellung im Schloss, als ein Rahmen-

Mittenzwei etwa versteht dieses Pochen, wie Céciles stumme Körperhandlungen insgesamt, als Protestbekundung, die „das gesprochene Wort schweigend, ver-schweigend, relativier[e]“, weil es als „Wort der Konversation […] an der Sphäre des Gefühls“, dem authentischen Ich, ‚vorbeitreffe‘ (vgl. Mittenzwei, Sprache, S. 86). Ähnlich argumentieren fast alle nachfolgenden Interpretationen, vgl. Liebrand, Das Ich und die andern, S. 72 ff., Bettina Plett, Rahmen ohne Spiegel. Das Problem des Betrachters bei einem ‚Mangel an Sehenswürdigkeiten‘ in Fontanes Cécile. In: Dies. (Hg.), Theodor Fontane. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2007, S. 230– 256, hier S. 241, und, wiewohl nicht unmittelbar auf die Klopf-Szene bezogen, Sabina Becker, Literatur als ‚Psychographie‘. Entwürfe weiblicher Identität in Theodor Fontanes Romanen. In: Zeitschrift für deutsche Philologie (2001), 120. Band, Sonderheft: ‚Realismus‘? Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts, hg. v. Norbert Oellers und Hartmut Steinecke, S. 90–110, hier S. 96 und S. 98. Diese Deutungen lassen aber nicht nur den Hinweis auf die barock-arabesken Verkehrungskünste im unmittelbaren Kontext dieser Geste unbeachtet. Sie übergehen auch Céciles Anteilnahme an der ersten Hälfte der Anekdote, die belegt, dass sie nicht prinzipiell etwas gegen die „historische Anekdote“ oder, grundsätzlicher noch, gegen die Versprachlichung und Vertextung von Vergangenheit hat. Im Gegenteil ist diese doch die Voraussetzung dafür, dass Cécile Spiegel und Perspektive der ehemaligen Fürst-Abbattissinnen imaginieren kann. Cornelie Ueding zufolge ist Cécile sogar „die beste Zuhörerin des Kastellans“, weil sie mit ihrer ‚Kupierung‘ der Schlusspointe der Anekdote und mit ihrem Klopfen „denselben Mangel in der Wirklichkeit“ herausstelle, der auch „sujet der Kastellansrede war“: die radikale „Entzweiung des Menschen von der Natur und von seiner Geschichte“ – in meiner Lesart: von einem bruchlosen Gedächtnis –, in deren Folge es keine unverbrüchlichen Sicherheiten mehr gebe. Damit sei zwar auch kein authentisches Verständnis der Relikte der Vergangenheit und, so wäre zu ergänzen, der eigenen persönlichen Gegenwart mehr möglich, dafür eröffneten sich aber neue, produktive Interpretationsspielräume. Vgl. C. Ueding, Utopie auf Umwegen: Zwei Szenen in Fontanes Roman Cécile. In: Gert Ueding (Hg.) Literatur ist Utopie, Frankfurt am Main 1978, S. 220–253, hier S. 232. 228 C. Ueding, Utopie, S. 233.

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Sehen, Rahmen-Interpretieren und damit auch Rahmen-Setzen zu verstehen. Um die neuerliche Rahmensetzung im sich spiegelnden Blick auf die ausgestellten Spuren des Vergangenen und Fremden zu profilieren, kann der „Abstand“ 229 der Gegenwart zu diesem ‚Anderen‘ mehr oder weniger stark hervorgekehrt werden. Das hat die Alternative zwischen der Übersetzung des alten, fremden Gemeinsinns in die Gegenwart einerseits und seiner Ersetzung andererseits gezeigt. In dieser Hinsicht agieren die Mitglieder der Spaziergängergruppe ganz unterschiedlich. Gordon nutzt die kollektive sprachliche Bearbeitung der loci mehrfach dazu, den fremden, aus den ausgestellten Spuren nur hypothetisch zu rekonstruierenden Gemeinsinn moralisch abzuqualifizieren und damit zusätzlich zu distanzieren. Er agiert hier ganz im Sinne Ciceros, der, anders als sein Vorbild Aristoteles, die Eruierung und Profilierung des eigenen sensus communis mit Hilfe topischer loci auch und insbesondere als eine sittlich-moralische Angelegenheit verstand.230 Diese Tendenz, die sich schon an der ‚Villa im Wald‘ mit seiner moritathaften ‚Moral von der Geschichte‘ ankündigte, bricht sich im Schlossmuseum Bahn und dominiert auch die spätere Besichtigung des Jagdschlosses „Todtenrode“. Im Schlossmuseum diskreditiert Gordon die „Schönheitsgalerie“ der Äbtissinnen als „Häßlichkeitsgalerie“ (C 53), als „Galerie von Magdalenen, (selbstverständlich von Magdalenen vor dem Buße-Stadium)“ (C 54, Hervorh. im Original), um ihnen als ehemalige Fürstengeliebte nachträglich das Recht auf gesellschaftliche Anerkennung abzusprechen: „Ach, wie viele solcher ‚Galeries of beauties‘ hab’ ich gesehen und eigentlich keine darunter, die mich nicht zur Verzweiflung gebracht hätte. Schon in ihrer Entstehungsgeschichte sind sie meistens beleidigend und ein Verstoß gegen Geschmack und gute Sitte. Denn wer sind denn die jedesmaligen Mäcene, Stifter und Donatoren? Immer ältliche Herren, immer mehr oder weniger mythologische Fürsten, die Pardon, meine Damen, nicht zufrieden mit der wirklichsten Wirklichkeit, ihre Schönheiten auch noch in effigie genießen wollen.“ (C 53 f.)

Angesichts des verlassenen Jagdschlosses „Todtenrode“, das Gordon als Hort einer lästerlichen Trias aus Jagd, „Bacchus“ und „Eros“ identifiziert, assoziiert er sogleich ebenfalls freizügige Mesalliancen ältlich-lächerlicher „Duodezfürsten“ mit „Jugend und Unschuld“, wobei er letzterer keinesfalls freien Willen und Glück zugestehen kann, sondern unausweichliches Elend attestiert: „Aber was von Jugend und Unschuld mit in die Brüche geht, was so gemüthlich mit hingeopfert wird in dem ewigen Molochdienste …“. (C 98) Regelmäßig ist Gor-

229 Nora, Gedächtnisorte, S. 12. 230 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 69 f.

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don darauf bedacht, die Harzer Vergangenheit und insbesondere ihre freizügigeren Vorstellungen in Fragen der Sexualität zu distanzieren. Den ethischen Zug der ciceronianischen Topik hat Bornscheuer als Symptom krisenhafter Verunsicherung im Blick auf die eigene sozio-kulturelle Situation gedeutet.231 Entsprechend kann man in Gordons „Sittenrichterei“ (C 202) den Beleg für eine grundlegende kulturelle Verunsicherung in der Umbruchszeit des deutschen Kaiserreichs am Ende des 19. Jahrhunderts sehen.232 Dies umso mehr, als die Reaktionen der anderen Spaziergänger die Relativität von Gordons strikten Grenzziehungen anzeigen, indem sie selbst andere Anschluss- und Abgrenzungsmöglichkeiten ausloten.233 Wiederholt betonen die spöttischen Bemerkungen, mit denen die Malerin Rosa Gordons „Philippik[en]“ (C 98) kommentiert,234 deren Antiquiertheit und kennzeichnen sie als übertrieben-hilflose Absicherungsversuche. Diese Diagnose wird nicht dadurch fragwürdig, dass Rosa als alleinstehende und ihren Lebensunterhalt selbst bestreitende Künstlerin235 als besonders liberal zu gelten hat und die gesellschaftliche Mitte nicht vertritt, denn diese wird in Cécile von keinem Charakter repräsentiert.236 Außer231 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 85 f. Vgl. auch die ausführlichere Darstellung dieser Analyse Bornscheuers in Kapitel II.2. 232 Vgl. Horst Thomés sozialgeschichtliche Erklärung solcher Verunsicherung: „Die schwankende Einschätzung der Protagonistin [durch die männlichen Figuren, Ch. F.] ist Reflex einer sozialgeschichtlichen Entwicklung, die mit dem Stichwort von der ‚Verbürgerlichung des Adels‘ seit dem 18. Jahrhundert umschrieben werden kann. Im ancien régime hatte die Mätresse ihren hohen sozialen Rang. Die preußische Adelselite des späten 19. Jahrhunderts hat längst die Normen der bürgerlichen Sexualmoral angenommen, aber sie hat es nur halben Herzens getan. Der anomische Zustand, der aus dem unabgeschlossenen und inkonsequent vollzogenen historischen Prozeß resultiert, erzeugt die Unsicherheit darüber, welche Normen denn nun als verbindlich zu gelten haben. Daß Cécile weder eine reputierliche Dame der Gesellschaft noch einfach eine ‚gefallene Frau‘ wie Effi Briest ist und so aus dem Ensemble gesellschaftlicher Typen herausfällt, denen gegenüber die Verhaltensformen immer schon ritualisiert sind, verunsichert nicht nur die therapeutischen Figuren, sondern macht es auch Cécile unmöglich, zu einem definiten Selbstverständnis und damit zur Deutung ihrer eigenen Biographie zu gelangen.“ (Thomé, Autonomes Ich, S. 362 f.). 233 Cécile sucht beständig Anknüpfungspunkte an ihre persönlichen Erfahrungen (z. B. C 11, 28, 39 f., 53); Rosa stimmt Gordon mitunter zu (C 51), sucht und taxiert die ausgestellten Artefakte der alten Zeit aber auch auf ihre mögliche Vorbildfunktion für ihr eigenes künstlerisches Schaffen (C 48, 52). Am ehesten vollzieht St. Arnaud die starken Distanzierungen der HarzVergangenheit mit (C 25, 50). 234 Vgl. etwa C 54: „Ei, wie tugendhaft Sie sind,“ lachte Rosa. „Doch Sie täuschen mich nicht, Herr von Gordon. Es ist ein alter Satz, je mehr Don Juan, je mehr Torquemada.“ 235 Vgl. Lilo Weber, ‚Fliegen und Zittern‘. Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky, Bielefeld 1996, S. 89. 236 Einzig der General, der Cécile auf dem Bahnsteig grüßt, um sie dann zu meiden, könnte dieser Mitte zugeordnet werden, doch auch er verhält sich Cécile gegenüber nicht eindeutig und unsicher, vgl. Thomé, Autonomes Ich, S. 362.

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dem bestätigt Gordon die Diagnose indirekt gleich zu Beginn, wenn er erklärt, dass ihm die besuchten „Plätze“ aus seiner „Kindheit her theuer sind“ (C 22) – aus einer Zeit also, die insofern eher zu den geäußerten gesellschaftlich-moralischen Standards passt, als sich in ihr das Bürgertum gegenüber dem Adel noch stärker absetzen musste. Fontanes Text zeichnet so vor allem ein ambivalentes Bild des Kosmopoliten Gordon: Einerseits zeigt dieser sich dank seiner umfänglichen Kenntnisse fremder Länder, Sitten und Bräuche infolge seiner Reisen empfänglich für den Reiz des Fremden und Anderen und ist in besonderer Weise zum interkulturellen Vermittler befähigt. Andererseits hat er neuere Entwicklungen in der Heimat versäumt und tendiert dazu, im Prozess der Vermittlung diejenigen gesellschaftlichen Standards zu reproduzieren, die vor seinem Weggang vor fast zehn Jahren Geltung besaßen. Paradoxerweise kommt just Gordons anachronistisch-rigiden Grenzziehungen entscheidende Bedeutung für die zeitweilige „Wandlung zum Guten und Gesunden hin“ (C 150) zu, die Cécile im Laufe des Harzspaziergangs erfährt (vgl. Kapitel III.2.8). Ihre unmittelbaren Reaktionen auf Gordons ‚Philippiken‘ sind auffällige körperlich-mechanische ‚Anfälle‘ – „hysterische[ ] Paroxismen“ (C 148), wie es später psychologisch präzise heißt, die Gordon immer weiter zur Erforschung Céciles und zur noch deutlicheren Pointierung der aus seiner Sicht geltenden sittlich-moralischen Grenzen des aktuellen Gemeinsinns reizen. Insofern erlangen die an den Orten mobilisierten und von Gordon moralisch zugespitzten soziokulturellen Wissensstandards immer deutlicher die Funktion, ‚Fragen‘ an Cécile zu stellen, um mehr von ihr zu erfahren. Das zeigt der Cécile-Text bereits am Ende der Villa-Episode an, wenn der Erzähler unmittelbar im Anschluss an Gordons moralisierende „Predigt“ deren Fragecharakter herausstreicht: „Es war, als ob Gordon auf ein Wort der Zustimmung gewartet hätte.“ Dass die auf den Anschluss von alt und neu, von Gedächtnis und Geschichte bedachte Cécile die Antwort verweigert und „nur die Maschen des vor ihr ausgespannten Drahtgitters [zählt]“, (C 25) heizt Gordons Forscherdrang weiter an und zwingt ihn dazu, Céciles Befragung im Blick auf ihre Stellung zum aktuellen Gemeinsinn ‚Ort für Ort‘ weiter zu treiben und die touristischen loci im Zuge des kollektiven sightseeing im Harz zur topischen Fragenreihe zu verknüpfen. Damit tritt an den touristischen sights die zweite, herkömmliche Funktion topischer loci nach Cicero zutage. Sie werden als konkret-reale „Kristallisationspunkte eines interaktiven [Sprach-]Verhaltens“ 237 lesbar, von denen aus eine textuelle Vermittlung von res und verba in einem sachkenntnis- und wortreichen Diskurs erreicht werden kann und damit auch die diskursive Bewältigung und kulturelle Einbindung einer rätselhaft-fremden

237 Saftien, Raumwahrnehmung, S. 385.

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quaestio. Kurz gesagt: Gordon nutzt die sights intuitiv als soziokulturell bedeutsame Interpretationsrahmen für Cécile, vor deren je wechselnder Perspektivierung er ihre Erscheinung zu lesen versucht.238

2.6 Imaginäre Relektüre der loci als Verfahren realistisch-arabesker textura-Produktion Barthes hat, daran sei erinnert, die topischen loci der Rhetoriker – nicht anders als Nora die konkreten Gedächtnisorte des 19. Jahrhunderts – als vielseitig interpretierbare „Leerformen“ 239 analysiert, deren Nutzbarkeit sich ihrem Apellbzw. Fragecharakter verdanke: Mit Hilfe topischer loci könne der Diskursproduzent auch hinsichtlich eines gänzlich unbekannten „Gegenstand[s] (quaestio)“ „zumindest [soziokulturell relevante, Ch. F.] Fragen aufwerfen und versuchen, sie zu beantworten“.240 Nicht nur aus Gründen der Spannungserzeugung, sondern auch gemäß der Logik des topischen Stoff-Findungsverfahrens ist es deshalb folgerichtig, dass Cécile vor Ort Antworten schuldig bleibt und Gordon in

238 Ähnlich fällt Fohrmanns Analyse der Räume in Fontanes L’Adultera aus (vgl. ders., Bilderrahmen, S. 746 f.): Als „vorträgliche“, ‚symbolisch codierte‘ und doch sozial ‚unterbestimmte‘ hätten sie den Charakter ‚mythisch-dunkler‘ „Rahmen“, die ‚Ansprüche‘ an die Figuren stellten, auf die diese nur ‚nachträglich‘ reagieren könnten. Konkrete Gemälde bzw. deren Kopien „im Bilderrahmen der Räume“ (Fohrmann, Bilderrahmen, S. 748) spielten dann in L’Adultera deshalb „eine so entscheidende Rolle“, weil sie den Figuren Deutungshilfen anböten, um „jene grundsätzliche Inkongruenz von Figur, sozialer Genealogie und [topischer, Ch. F.] Topographie ohne Topik“ zeitweilig ins ‚Äquilibrum‘ zu bringen – nicht ohne diese Inkongruenz selbst auch auszustellen (vgl. Fohrmann, Bilderrahmen, S. 748 und S. 750). 239 Barthes, Alte Rhetorik, S. 68. 240 Barthes, Alte Rhetorik, S. 68. Hier gibt er für die Anwendung eines topoi-Rasters ein schönes Beispiel: „Angenommen, wir hätten einen Diskurs über die Literatur zu machen: Wir ‚sind aufgeschmissen‘ (kein Wunder), aber zum Glück verfügen wir über die Topik von Lamy [die „Anregungen alter Topiken folgt“ und Kriterien umfasst wie: Gattung, Unterschied, Definition, Aufzählung der Teile etc., Ch. F.]: nun können wir zumindest Fragen aufwerfen und versuchen, sie zu beantworten: in welche ‚Gattung‘ reihen wir die Literatur ein? Kunst? Diskurs? Kulturelle Produktion? Wenn sie eine ‚Kunst‘ ist, welche Unterschiede bestehen zu anderen Künsten? Wie viele Teile weisen wir ihr zu und welche? […].“ Zwar kritisiert Barthes topische Raster hier als „stumpfsinnig“, weil sie sich „keineswegs auf das ‚Leben‘, die ‚Wahrheit‘“ bezögen (vgl. Barthes, Alte Rhetorik, S. 101), in S/Z nutzt er allerdings ein selbst entwickeltes (jedoch entfernt dem klassischen Grammatik-Vers ‚quis, quid, ubi etc.‘ verwandtes) Rasterverfahren in kreativer Weise, um seine Konzeption einer produktiven Lektüre zu profilieren und in der Performanz seines eigenen Texts abzubilden. Damit plädiert er gerade für eine ‚topos-bewusste‘ Lektüre, die von der Unhintergehbarkeit eines qua Bildung vermittelten gesellschaftlichen Habitus ausgeht und beständig auf ihre eigene Prägung durch vorgängige Normen und Sichtweisen reflektiert (vgl. Kapitel III.2.4 dieser Arbeit).

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kurzen Szenen des Rückzugs und der Reflexion, die zwischen die einzelnen Ortsbesuche eingefügt sind, versucht, Antworten zu finden. Diese Szenen zeigen Gordon allein, zumeist in seinem Zimmer, wie er im Geiste die gemeinsam besuchten loci wie die gerahmten Blicke, die sie boten, noch einmal Revue passieren lässt und sich Céciles Reaktionen auf das dort jeweils Geschaute und Gesprochene ins Gedächtnis ruft (C 56 f., 124 f., 130 f., 150 f., 169 ff.).241 Es ist diese parallel mitlaufende imaginäre Rekapitulation des Spaziergangs, die den körperlich vollzogenen kollektiven Gang über die touristischen sights definitiv als topischen ausweist, denn sie zitiert den klassisch imaginären Gang des rhetorisch-dialektischen Diskursproduzenten über die topischen loci mit dem Ziel, seine quaestio vor dem Hintergrund möglichst vieler allgemein verständlicher Gesichtspunkte, d. h. sozio-kulturell bedeutsamer Seh-, Denk-, Sprachgewohnheiten, her zu erschließen: [Gordon] hatte sich’s, um den Morgen zu genießen, auf einem Fauteuil am Fenster bequem gemacht, und blies eben den Dampf seiner Havannah in die frische Luft hinaus. Er ließ dabei die Vorgänge des letzten Tages, darunter auch die Bilder der Fürst-Abbatissinnen, noch einmal an sich vorüberziehen und begleitete den Zug ihrer meist grotesken Gestalten mit allerhand spöttisch erbaulichen Betrachtungen. […] Er malte sich das alles noch weiter aus, bis sich ihm plötzlich vor eben diese groteske Gestaltenreihe die graziöse Gestalt Céciles stellte, wechselnd in Stimmung und Erscheinung, genau so wie sie der vorhergehende Tag ihm gezeigt hatte. Jetzt sah er sie, wie sie, sich vorbeugend, die Inschrift auf dem Grab-Obelisk des Bologneser Hündchens las, und dann wieder, wie sie bei dem Gespräch über die Schönheitsgalerien und die Gräfin Aurora nahezu von einer Ohnmacht angewandelt wurde. War das alles Zufall? Nein. Es verbarg sich etwas dahinter. (C 56 f.)242

Das Stoff-Findungsverfahren erscheint also zweigeteilt in ‚empirisches Beobachten vor Ort‘ und ‚distanzierte kritische Reflexion der Beobachtungen‘, in deren Zuge sie erinnernd rekapituliert, versprachlicht und geprüft werden. Noch deutlicher als bei der Vorstellung von Gordons Wegeprogramm (vgl. Kapitel III.2.4) wird im Anschluss an den zitierten Passus das topische lociVerfahren auf die line of beauty and grace der zur Banderolenarabeske gewandelten Contretanz-Szenerie bezogen: Schon Gordons Platzierung auf dem „Fauteuil

241 Danach geht die Lektüre als v. a. fixierende, zwischendurch allerdings auch nochmals schwankende weiter (C 186 f., 189 f.). 242 Vgl. die Parallelstelle hierzu auf S. 125: „Unter solchem Selbstgespräche trat er vom Fenster zurück und ließ alles, was der Tag gebracht, noch einmal an seiner Seele vorüberziehen. Wieder vernahm er das heitere Lachen, mit dem sie bei Tisch die Schmerlen-Reime begleitet hatte, wieder sah er das mondbeschienene Plateau, darauf sie heimritten, hörte wieder das langgedehnte ‚ja‘, das doch ein kurzes ‚nein‘ war, und fühlte noch einmal den erwidernden Druck ihrer Hand.“

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am Fenster“, durch dessen Rahmen er, statt Zeitung zu lesen, sinnierend blickt – ein setting, das leicht variiert in allen Rückzugsszenen wiederkehrt 243 –, erinnert an den von der Galerie bzw. vom Hotelbalkon aus das interaktive ‚Bühnengeschehen‘ beobachtenden Leser der Contretanz-Szenerie. Passend zu dieser Reminiszenz erfährt der Leser zumeist nicht, was Gordon draußen sieht, sondern was er Cécile an den besuchten, topischen ‚Schau-Plätzen‘ am ‚Schlängelwege‘ ablesen konnte. Im Blick durch den Fensterrahmen versammelt, verbalisiert und prüft Gordon seine Beobachtungen zu Cécile. An der hier zitierten Stelle, dem Einsatz der imaginären Relektüre, erfolgt dies in der Form einer „Charakteristik“ Céciles (C 62), die Gordon in einem Brief an seine Schwester zusammenstellt.244 Wenn dies auf einem mit „‚Hexentanzplatz‘“ (C 57) überschriebenen Briefbogen geschieht, ist nicht nur wiederum die Contretanz-Szenerie evoziert und damit die „Charakteristik“ als „Tanz-Schrift des Schönen“ ausgewiesen; wie in der Parkszenerie auch ist diese „Tanz-Schrift“ zudem indirekt als erotisch motivierte gekennzeichnet, denn mit der Harzer Sehenswürdigkeit des ‚Hexentanzplatzes‘ sind unweigerlich die sagenumwobenenen orgiastischen Tänze der Hexen auf dem Brocken aufgerufen.245 Bekräftigt finden sich die impliziten Andeutungen auf die arabeske Schönheitslinie durch das Vorstellungsbild Gordons, mit dem die (Re-)Lektüre Céciles im zitierten Passus einsetzt. In einer mise en abyme nämlich führt dieses Bild das Verfahrensmuster der topischen techné an einem Teilabschnitt des topischen Spaziergangs nochmals vor und formuliert seinen Ertrag in termini arabesker Kunstästhetik: Der Gang über die eingefriedeten touristisch-topischen loci mit ihrer sozio-kulturellen Rahmungsfunktion, die der leere Goldrahmen im Schlossmuseum versinnbildlicht, wiederholt sich in Miniatur in dem Gang durch die „Schönheitsgalerie“ der Äbtissinnen im Schloss. Die gerahmten Bilder der portraitierten Frauen sieht Gor-

243 Die zitierte Szene der Relektüre mündet zum Schluss in die Lektüre der „Times […], die zu lesen ihm, seit seinen indisch-persischen Tagen, ein Bedürfniß war.“ (C 63) Eine weitere setzt ein mit dem Satz: „Zu guter Zeit war er auf und bei seinem Kaffee, schob aber die Zeitungen, die die Wirthin gebracht hatte, zurück. Alles Behagens unerachtet, war er in keiner Lesestimmung und beschäftigte sich nach wie vor mit dem, was ihm der gestrige Tag gebracht hatte. Die Fenster standen auf, und er sah hinaus auf den Thiergarten.“ (C 169) 244 Wenn diese Szenen fast durchgängig explizit als „Selbstgespräche“ ausgewiesen werden und zwei Mal in die Abfassung eines Briefes münden, so wird hier wiederum der Zusammenhang von (unterbrochener) Zeitungslektüre und eigener Rede- bzw. Textproduktion, der schon in der Balkonszene signifikant war, hergestellt. 245 In der letzten Etappe des Spaziergangs wird St. Arnaud, just nach der ersten und einzigen Vertraulichkeit zwischen Cécile und Gordon, dem Handkuss, den er gar nicht gesehen hat, fragen, ob man denn oben auf dem „Hexentanzplatz“ einen „Contre“ (C 122) mittanzen wolle. Der Contretanz ist hier folglich insbesondere auf seine häßlich-groteske, d. h. unkontrollierte, grenzüberschreitende und Zusammenstöße riskierende Variante bezogen.

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don wie ein Ornamentband, eine Banderole stereotypisierter Einzelansichten, an sich vorüber ziehen, vor der „plötzlich“ (C 56) Céciles Gestalt auftaucht. Vor dem kontrastierenden Hintergrund dieser bewegten „groteske[n] Gestaltenreihe“ (C 56), deren ‚Hässlichkeit‘246 – die Groteske gilt als hässlich-verzerrte Variante der Arabeske – für Gordon eben in ihrer Stereotypik liegt,247 erscheint Cécile als „graziöse“, d. h. als hervor-ragende und bewegliche, vielfach veränderliche „Gestalt“, „wechselnd in Stimmung und Erscheinung“ (C 56). Ihre „Schönheit ersten Ranges“ bzw. ihre „beauté“ (C 59) und ihre ‚Grazie‘ bzw. ihr „Reiz“ (C 59),248 kurz: ihr „je ne sais quoi“ (C 61) – all diese einschlägigen Begriffe arabesker Kunstästhetik leiten Gordons Cécile-„Charakteristik“ ein – erklären sich diesem Bild zufolge aus dem wechselvollen und vielfältigen Abgleichen Céciles mit vorgängigen, stereotyp aufgefassten Frauenbildern. Rahmen indizieren in Fontanes Text, das zeigt diese mise en abyme wie auch die Parallele zwischen ‚realiter‘ vollzogenem Spaziergang und seinem imaginären Pendant insgesamt, die orientierende Funktion von topischen loci, von standardisierten topischen Perspektivierungen. Diese sind zwar als grotesk-hässlich ausgewiesen, erscheinen gleichwohl auch als Voraus-Setzungen für die Erfassung Céciles als lebendige „graziöse Gestalt“, mithin für die Wahrnehmung ihrer reizvollen Anders- und Einzigartigkeit.249 Mit den topoi als Rahmen und, konkreter noch, dem Bilderrahmen mobilisiert Fontanes Text ein Bild für soziales Verstehen und Lernen, das in der Soziologie seit Simmel Karriere gemacht und immer wieder dazu gedient hat, basale Wahrnehmungs- und Verstehensprozesse als sozial geprägte zu beschreiben.250 Auf diese Parallele ist kurz näher 246 Gordon nennt diese „Schönheitsgalerie“ auch „Häßlichkeitsgalerie“ (C 53). 247 „Es giebt nichts, an dem sich das Wesen der Carikatur so gut demonstriren ließe. Meist waren sie häßlich oder doch mindestens von einem unschönen Embonpoint, und alle hielten sie sich einen Kammerherrn und einen Mops, wuschen sich nicht oder doch nur mit Mandelkleie, und waren ungebildet und hochmüthig zugleich.“ (C 56) 248 Vgl. Hogarth’ Differenzierung zwischen line of beauty, der zweidimensionalen Schlangenlinie, und line of grace, der dreidimensionalen Wellenlinie. 249 Vgl. eine weitere Rückzugsszene, die wiederum die Fülle, die Vorläufigkeit und damit auch Relativität der einzelnen, auf dem Spaziergang ‚erfahrenen‘ möglichen Rahmungen Céciles aufzeigt: „Gordon war allein im Coupé und nahm einen Rückwärtsplatz, um so lange wie möglich einen Blick auf die Berge zu haben, zu deren Füßen er so glückliche Tage verbracht hatte. Hundert Bilder, während er so hinstarrte, zogen an ihm vorüber und inmitten jedes einzelnen stand die schöne Frau.“ (C 130) 250 Fontanes Schreiben ist bereits vereinzelt auf soziologische Ansätze seiner Zeit bezogen worden. Helmstetter etwa sucht die ‚Radikalität und Differenziertheit‘ der soziologischen „Problemstellung“ in Effi Briest vor der Kontrastfolie der „Gründerzeit-Soziologie“ zu profilieren (vgl. Helmstetter, Geburt des Realismus, S. 189 und S. 179). Während sich letztere „in soziozentrischen und psychozentrischen Reduktionen“ polarisiere (Helmstetter, Geburt des Realismus, S. 179), zeige Fontanes Text „verwickelte Interferenzen von ‚Individuum und Gesellschaft‘“ auf,

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einzugehen, bevor Gordons Cécile-Charakteristik als Ergebnis des topischen Verfahrens in den Blick kommen soll. 2.6.1 topoi als soziale Rahmen Dezidiert spricht Maurice Halbwachs im Jahr 1925, also vierzig Jahre nach der Veröffentlichung von Cécile, von ‚sozialen Rahmen‘ („cadres sociaux“), um die von ihm aufgezeigte Abhängigkeit individueller Erinnerungen von kollektiven Vorstellungsbildern und Kohärenzkonzepten sowie sozialer Kommunikation zu veranschaulichen.251 An einer Stelle formuliert er, dass keine Wahrnehmung im Wachzustand („perception actuelle“) ohne Erinnerung und damit ohne die Einwirkung sozialer Rahmen möglich sei.252 Spätere Sozialwissenschaftler, etwa der Anthropologe Gregory Bateson und der Soziologe Erving Goffman, nehmen den Begriff der „[s]oziale[n] Rahmen“ 253 (bzw. der „psychologische[n] Rahmen“ 254 bei Bateson) wieder auf, um, über das Phänomen individueller Erinnerung hinaus, die „Organisation von Alltagserfahrungen“,255 respektive das Erkennen, Verstehen und Weiterentwickeln der Situationselemente, die in einer Gesellschaft „Wirklichkeit“ 256 ausmachen, zu erklären.257 Im Blick auf diese die diesen „‚Gegensatz‘ sprengen“ (S. 189) und denen am ehesten Simmels Differenzierungen dieses Gegensatzes entsprächen (Helmstetter, Geburt des Realismus, S. 180, Anm. 207). Die im Folgenden aufgezeigten Parallelen zwischen der Veranschaulichung ‚sozialen Verstehens‘ in Cécile und späteren Reflexionen einer kulturalistisch ausgerichteten Soziologie bzw. Anthropologie bei Gregory Bateson und Erving Goffman sind bisher noch nicht gesehen worden. 251 Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, hg. v. Heinz Maus und Friedrich Fürstenberg, Berlin, Neuwied 1966 (Originalausgabe: Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925). Wie der topos-Begriff bei Aristoteles und Cicero bleibt Halbwachs’ Begriff der sozialen Rahmen, den er stets im Plural verwendet, auffällig unbestimmt. 252 Halbwachs, Das Gedächtnis, S. 363: „Es gibt also nichts Derartiges wie eine rein äußerliche Beobachtung. Gleichzeitig mit dem Sehen der Gegenstände stellt man sich die Art und Weise vor, in der die anderen sie sehen könnten; tritt man aus sich selbst heraus, so nicht, um mit den Gegenständen zu verschmelzen, sondern um sie vom Standpunkt der anderen ins Auge zu fassen, was nur möglich ist, weil man sich an die Beziehungen erinnert, die man zu ihnen gehabt hat. Es gibt also keine Wahrnehmung ohne Erinnerung.“ 253 Goffman, Rahmen-Analyse, S. 32. 254 Gregory Bateson, Eine Theorie des Spiels und der Phantasie. In: Ders., Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main 1981, S. 241–261, hier S. 253 ff. 255 So der Untertitel von Goffmans Studie Rahmen-Analyse. 256 Goffman, Rahmen-Analyse, S. 10. 257 Beispiele für Rahmen, die Bateson interessieren, sind etwa „Spiel“, „Drohung“, „Theatralik“ und „Täuschung“, „Ritual“, aber auch „Beruf“, „Sprache“, und „Interview“ sowie „Therapie“. (Bateson: Spiel, S. 244 ff.) Goffman schließt sich explizit an Bateson an, unterscheidet zwischen primären und sekundären Rahmen, die er auch als „Modulationen“ primärer Rahmen bezeichnet, vgl. Goffman, Rahmen-Analyse, S. 55: „Diese Bemerkungen über das Spiel bei

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soziologischen Rahmentheorien des 20. Jahrhunderts lässt sich der Erkenntnisertrag von Gordons ‚Durchblick‘ in die Tiefe der mise en abyme im Zuge der erzählten Relektüre als ein wesentlich soziologischer bestimmen. Insbesondere eine Reflexion Batesons zum Bilderrahmen als Veranschaulichung grundlegender „geistige[r] Prozesse“ 258 des wahrnehmenden Menschen ist aufschlussreich im Blick auf die doppelte Rahmung von Gordons Blick auf Cécile, die er durch den Fensterrahmen und vor den Umrissen der vorbeiziehenden Bilderrahmen, die die Rahmungsfunktion der besuchten loci erinnern, wahrnimmt. Laut Bateson ist die Grundvoraussetzung für das Wahrnehmen einer „Wahrnehmungsgestalt oder ‚Figur‘“, dass sich „außerhalb d[er] Linien“, die sie begrenzen, „ein Hintergrund oder ‚Grund‘“ findet, „der seinerseits durch einen Bilderrahmen eingegrenzt ist“:259 Diese doppelte Rahmung ist unserer Ansicht nach nicht bloß eine Angelegenheit von ‚Rahmen in Rahmen‘, sondern ein Hinweis darauf, daß geistige Prozesse der Logik ähneln, indem sie einen äußeren Rahmen benötigen, um den Grund abzugrenzen, vor dem die Figuren wahrgenommen werden sollen.260

Tieren leiten zwanglos zu einem Hauptbegriff der Rahmen-Analyse über: dem des Moduls (key). Darunter verstehe ich das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird. Den entsprechenden Vorgang nennen wir Modulation. Eine gewisse Analogie zur Musik ist beabsichtigt.“ 258 Bateson, Spiel, S. 255. 259 Bateson, Spiel, S. 255. Mit den Termini ‚Figur‘ und ‚Grund‘ bezieht sich Bateson auf Arbeiten von „Gestaltpsychologen“, die er namentlich nicht nennt (Bateson, Spiel, S. 254). Vgl. Mainbergers Hinweis darauf, dass die Schönheitslinie im „Diskurs von Klassizismus und Romantik“ sowohl „in der Bedeutung des Umrisses“ als auch in der der „von der Aufgabe der Gegenstandskonstituierung entbundene[n] Linie des Dekors“ relevant ist. (Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 197). 260 Bateson, Spiel, S. 255. Zum Realitätsstatus sozialer Rahmen bzw. des Bilderrahmens schreibt Bateson: „Wir nehmen an, daß der psychologische Rahmen in gewissem Grad real existiert. In vielen Fällen wird der Rahmen bewußt erkannt und sogar im Vokabular dargestellt (‚Spiel‘, ‚Film‘, ‚Interview‘, ‚Beruf‘, ‚Sprache‘ usw.). In anderen Fällen kann es sein, daß kein ausdrücklicher sprachlicher Bezug zu dem Rahmen besteht und daß das Subjekt kein Bewußtsein davon hat. Der Analytiker findet jedoch, daß sich sein eigenes Denken vereinfacht, wenn er die Vorstellung eines unbewußten Rahmens als Erklärungsprinzip verwendet; gewöhnlich geht er noch weiter und schließt auf die Existenz dieses Rahmens im Unbewußten des Subjekts. Aber während die Analogie der mathematischen Menge vielleicht zu abstrakt ist, erscheint die des Bilderrahmens als viel zu konkret. Der psychologische Begriff, den wir zu definieren versuchen, ist weder physisch noch logisch. Eher ist der wirkliche Rahmen, so glauben wir, von menschlichen Wesen den physischen Bildern hinzugefügt worden, weil sich diese menschlichen Wesen besser in einem Universum zurechtfinden, in dem einige ihrer psychologischen Charakteristika veräußerlicht sind. Genau diese Charakteristika versuchen wir zu dis-

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Im Gegensatz zur Logik (etwa der mathematischen Mengenlehre) allerdings versuchen soziale Rahmen (wie auch der konkrete Bilderrahmen) laut Bateson „zwischen Kategorien verschiedener logischer Typen zu unterscheiden oder eine Linie zu ziehen“ und beschleunigen so (aus Sicht der Logik) „das Auftreten von Paradoxien“.261 Anders gesagt: Soziale Rahmen stellen keine eindeutig logischen Zuordnungen, sondern ‚Als-ob‘-Identifikationen her.262 Batesons Paradebeispiel ist das „Spiel“, das Goffman als „Modulation“, d. h. zusätzliche imaginär-künstliche Rahmung primärer sozialer Rahmen bezeichnen würde, wie etwa auch die Täuschung, die Übung oder das Theaterspiel.263 Der „Rahmen des Spiels“ 264 impliziert laut Bateson „eine spezielle Verbindung von Primär- und Sekundärprozessen“, zu der etwa auch Tiere fähig sind: Im Primärprozeß werden Karte und Territorium gleichgesetzt [d. h. Zeichen und Referent, Ch. F.]; im Sekundärprozeß können sie unterschieden werden. Im Spiel werden sie sowohl gleichgesetzt als auch unterschieden.265

Etwa ist die Mitteilung ‚Biss‘ eines Tieres im Kampf ein eindeutiges „StimmungsZeichen“ für Wut (Primärprozess). Die spielerische oder drohende Mitteilung ‚Zwicken‘ simuliert die Mitteilung ‚Biss‘ (Sekundärprozess). Damit die beteiligten Individuen das Spiel aber als solches erkennen können, müssen alle sekundären Mitteilungen nochmals durch metakommunikative Mitteilungen gerahmt werden. Das geschieht in der Regel durch implizite, im logischen Sinn eben paradoxe Mitteilungen, „die den Empfänger befähigen, zwischen Stimmungs-

kutieren, wobei wir die Veräußerlichung als einen veranschaulichenden Kunstgriff verwenden.“ (Bateson, Spiel, S. 253; Hervorh. Ch. F.). Wenn Bateson derart auf den Zwitterstatus des sozialen Rahmens zwischen realem Konkretum und logischem Denkschema abhebt, dann erinnert das an Hogarth’ Bestimmung der line of beauty als zugleich geometrischer und natürlicher Elementarform, die die schönen, d. h. einsichtigen, sozialen Erscheinungen ermöglicht. 261 Bateson, Spiel, S. 257 und S. 256. 262 „Die Regel zur Vermeidung von Paradoxien schreibt vor, daß die Einzelheiten außerhalb irgendeiner einschließenden Linie von demselben logischen Typ sein müssen, wie die innerhalb, aber der Bilderrahmen, wie er oben analysiert wurde, ist eine Linie, welche die Einzelheiten eines logischen Typs von denen eines anderen scheidet.“ Und: „Genau das wurde oben mit der Aussage bezeichnet, daß der Bilderrahmen eine Anweisung für den Betrachter ist, die Prämissen, die zwischen den Figuren innerhalb des Bildes gelten, nicht auf die Tapete dahinter auszudehnen.“ (Beide Zitate entstammen Bateson, Spiel, S. 256). 263 Goffman, Rahmen-Analyse, S. 52 ff. Bateson nennt als Beispiele auch „Drohung“, „Theatralisches Verhalten und Täuschung“, „Rituale“ und „Psychotherapie“, vgl. Bateson, Spiel, S. 246 ff. 264 Bateson, Spiel, S. 251. 265 Bateson, Spiel, S. 251.

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zeichen und jenen anderen Zeichen zu unterscheiden, die ihnen ähneln“,266 wie etwa die folgende: „Das spielerische Zwicken bezeichnet den Biß, aber es bezeichnet nicht, was durch den Biß bezeichnet würde.“ 267 Derart übt das Spiel in metakommunikative Fähigkeiten ein, also in das Erkennen und Definieren sozialer Rahmen: Jede Mitteilung, die explizit oder implizit einen Rahmen definiert, gibt dem Empfänger ipso facto Anweisungen oder Hilfen bei seinem Versuch, die Mitteilungen innerhalb des Rahmens zu verstehen. […] Auch die Umkehrung […] gilt: Jede metakommunikative oder metasprachliche Mitteilung definiert explizit oder implizit die Menge von Mitteilungen, über die sie kommuniziert, d. h. jede metakommunikative Mitteilung ist ein psychologischer Rahmen oder definiert einen solchen.268

Dem Spiel kommt von daher laut Bateson „in der Entwicklung der Kommunikation“ eine zentrale Rolle zu, bringt sie „einen Schritt nach vorne […] – den entscheidenden Schritt in der Entdeckung von Karte-Territorium-Relationen.“ 269 Es sei daran erinnert, dass Fontane in seiner Freytag-Rezension die Leistung von Soll und Haben darin sah, dem Leser innerhalb eines als künstlichimaginär erkennbaren Rahmens des ‚Als-ob‘ einen ‚doppelten‘ Blick auf soziale Erscheinungen zu ermöglichen, sie nämlich sowohl als plastisch-reale ansichtig als auch auf die medialen Bedingungen ihrer Sichtbarkeit hin durchsichtig zu machen. Seine Formulierung „Es ist, als sähe man …“ „von der Galerie herab“ betont den für diese Wirkung des Texts verantwortlichen „Spiel“-Rahmen (Bateson) oder, hier passender, „Theaterrahmen“ (Goffman).270 Diese Rahmen erlaubten es dem Zuschauer in der beschriebenen paradoxen Weise, sich zugleich vom Bühnengeschehen als einem scheinbar realen (Primärprozess) gefangen nehmen zu lassen, doch zugleich auch um dessen Differenz von der Realität zu wissen. Diese paradoxe gleichzeitige Geltung zweier widersprüchlicher Deutungen (Realität und Nicht-Realität) lasse die interpretationsleitende Funktion

266 Bateson, Spiel, S. 257. 267 Bateson, Spiel, S. 244. 268 Bateson, Spiel, S. 255. 269 Bateson, Spiel, S. 251. 270 Unter ‚Theaterrahmen‘ versteht Goffman neben den räumlich-dinglichen Einrichtungen für die erkennbare Abtrennung von Bühnenzone und Zuschauerraum und damit von Schauspielern und Publikum ein ganzes „System von Transkriptionsmethoden“, etwa die „Konvention, die Innenräume aufzuschneiden, so daß ihnen die Decke und eine Wand fehlt“ sowie das Vortäuschen unterschiedlicher Kenntnisstände durch die spielenden Figuren im Blick auf das Geschehen oder auch das ‚Aufbrechen der Gesprächssituation‘ auf der Bühne, das einen „Winkel offen[lässt], so daß das Publikum buchstäblich in die Begegnung hineinblicken kann.“ Vgl. Goffman, Rahmen-Analyse, S. 158 ff.

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sozialer Rahmen, über ‚Realität‘ oder ‚Nicht-Realität‘ sozialer Phänomene zu entscheiden, hervortreten. In seiner Freytag-Rezension und deutlicher noch in Cécile ent-deckt Fontane demnach die Paradoxie sekundärer Rahmen als wichtiges psychosoziales Dispositiv im Sinne Batesons bzw. Goffmans, das den Leser auf die Relevanz sozialer Rahmen (also topoi) stoßen, ihm ihre unwillkürliche Anwendung bewusst machen271 und qua Rahmen- respektive „Toposbewußtsein“ kulturelle Kompetenz vermitteln kann.272 Mit diesem Anschluss von Gordons topischer Relektüre des Spaziergangs an den Wahrnehmungsmodus des ‚Als-ob‘ der Contretanz-Szenerie und an die ästhetischen Effekte arabesker Bildkunst ist die „Charakteristik“, die Gordon nahezu nach jedem Ortsbesuch weiter entwickelt, als topische Lektürearbeit an seiner arabesken Cécile-textura gekennzeichnet.

271 Wie die topischen Kriterien nach Bornscheuer haben sekundäre Rahmen im Sinne Batesons und Goffmans die Funktion, Kulturkompetenz zu vermitteln, denn laut Goffman bildet die Menge der „primären Rahmen einer sozialen Gruppe einen Hauptbestandteil von deren Kultur, vor allem insofern, als sich ein Verstehen bezüglich wichtiger Klassen von Schemata entwickelt, bezüglich deren Verhältnissen zueinander und bezüglich der Gesamtheit der Kräfte und Wesen, die nach diesen Deutungsmustern in der Welt vorhanden sind.“ Sich „ein Bild von dem oder den Rahmen einer Gruppe[,] ihrem System von Vorstellungen“ zu machen, heißt, so Goffman, sich ein Bild von „ihrer Kosmologie“ zu machen, wobei auch er zu bedenken gibt, „daß [etwa] in einem Gebiet wie den Vereinigten Staaten diese kognitiven Elemente nicht bei jedermann gleich sind.“ (Goffman, Rahmen-Analyse, S. 37). Nach Bateson wird dank solcher „Paradoxien der Abstraktion“ auch die „Kommunikation über eine Veränderung der Regeln“ „für das Machen und Verstehen von Mitteilungen“, möglich, also eine Weiterentwicklung der sozialen Rahmen und damit der „metakommunikativen Gewohnheiten“ (Bateson, Spiel, S. 261, S. 259: Hervorh. im Original, S. 258). Dies gilt ihm als zentraler Faktor für die kommunikative Beweglichkeit des kulturellen „Leben[s]“ (Bateson, Spiel, S. 261). 272 Vgl. Bornscheuer zum „Toposbewußtsein“ als Voraussetzung einer inneren „evolutionär[en]“ Topik-Revision: „Das von Aristoteles erstmals zum methodischen Prinzip erhobene topische Verfahren beruht auf der Einheit von Toposgebrauch und Toposbewußtsein. Natürlich enthält nicht jeder alltägliche Toposgebrauch immer seine volle Selbstreflexion. Wohl aber trägt jedes geschulte Toposbewußtsein einen hohen Anteil kritischer Selbstwahrnehmung in sich. Wer mit dem topischen Instrumentarium gut vertraut ist, durchschaut vor allem um so leichter auch den gegnerischen Toposgebrauch.“ (Bornscheuer, Topik, S. 52). Und: „Topikbesitz und Topikgebrauch stellen kein starres System dar, sondern einen Regelkreis von der Art, daß eine herrschende Topik auch von innen heraus, durch kritische Reflexion auf die eigenen Bedingungen und auf deren Legitimität angesichts neuer realer Problemlagen verändert werden kann. Solche immanent hervorgerufenen Wandlungen geschehen allerdings, ohne einschneidende Veränderungen an der habituellen Basis, nur evolutionär, weil […] die Problem- und Selbstreflexion zunächst immer von derjenigen Topik präformiert ist, deren Legitimität sie zur Diskussion stellen will.“ (Bornscheuer, Topik, S. 108).

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2.6.2 Arabeske textura der topisch erarbeiteten Cécile-„Charakteristik“ In der Tat leistet Gordons Cécile-Lektüre, näherhin seine Cécile-„Charakteristik“, eine „Spracharbeit“,273 die im Sinne Barthes’ als ‚Flecht- und Transformationsarbeit‘ an und mit den für ihn bedeutsamen sozialen Rahmen, den „Codes“ 274 oder endoxa der Berliner Gesellschaft, zu verstehen ist: Gleich zu Beginn der „Charakteristik“ kommt er korrigierend auf seine ersten „Muthmaßungen“ auf dem Balkon zurück: „Brüssel, Aachen, Sacré Coeur, so schoß es mir durch den Kopf, als ich sie zum ersten Male sah, aber dies alles war ein Irrthum. Ich finde, sie schlesiert ein wenig […].“ (C 60) Schon bei jenem ersten Versuch, Céciles Erscheinung zu verorten,275 ging Gordon in Gedanken Reihen von Namen ab, die gewissermaßen als Titel sozio-geographischer Typen und näherhin Frauenbilder fungierten,276 wobei jeder Name den zuvor genannten relativierte bzw. ablöste. Der jeweils letzte war zudem stets Teil einer ‚Oder‘Konstruktion, so dass er keinen wirklichen Abschluss bedeutete. Bowman hat auf Parallelen dieser progredierenden Charakterisierung Céciles zur semiotischen Bewegung des Romanlesers, wie Barthes sie in S/Z allgemein zu beschreiben versucht, hingewiesen.277 Diese progressive Semiose setzt sich in der „Charakteristik“ nun weiter fort, bildet Schritt für Schritt („pas à pas“), also Ort für Ort, ein immer umfänglicheres und vor allem immer mehr Gegensätze vereinendes Gemenge von „Namen“, Merkmalen und Etikettierungen. Etwa kann Gordon Cécile „Coquetterie nicht zuschreiben und auch nicht ganz absprechen“ (C 59), dem „naive[n] Minimal-Maß ihrer Bildung“ (C 60) steht ihre „vornehme Haltung und ein feines Gefühl“ (C 61) entgegen; sie hat den „freiere[n] Blick“ und „jenes je ne sais quoi“ der „Obersphäre der Gesellschaft“, ja mitunter eine „hautaine[ ] Miene“, und doch erscheint sie im nächsten Moment „bescheiden bis zur Demuth“ (alle: C 61). Schließlich folgt eine Reihe von Etikettierungen, die Gordon zwar als unpassend empfindet, gleichwohl assoziiert und die ihn, ex negativo gewissermaßen, auf ein erstes vages Fazit hin orientieren:

273 Barthes, S/Z, S. 15. 274 Barthes, S/Z, S. 23 ff. 275 „‚Das ist Baden-Baden,‘ sagte der vom Balkon aus sie Beobachtende. ‚Baden-Baden oder Brighton oder Biarritz, aber nicht Harz und Hotel Zehnpfund.‘“ (C 14) „‚Uebrigens wirkt sie katholisch, und wenn sie nicht aus Brüssel ist, ist sie wenigstens aus Aachen. Nein, auch das nicht. Jetzt hab’ ich es: Polin oder wenigstens polnisches Halbblut. Und in einem festen Kloster erzogen: Sacré coeur oder Zum guten Hirten.‘“ (C 15) 276 Vgl. Taus Ausführungen zu diesen Ortsnamen als Titel oder Etiketten komplexer Bedeutungsfelder, deren Aktualisierung der Text dem Leser überlässt (Tau, Assoziativer Faktor, S. 57). 277 Bowman, Allegory of Reading, S. 18 f. und S. 22 ff.

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Nichts in und an ihr, das an eine Tochter Thaliens oder gar Terpsichorens [d. h. Schauspielerin bzw. Tänzerin, Ch. F.] erinnerte. Noch weniger hat sie den kecken Ton unserer Offiziersdamen oder den unmotivirt [sic] selbstbewußten unseres Klein-Adels auf seinen Herrensitzen. Ihr Ton ist vornehmer, ihre Sphäre liegt höher hinauf. Ob von Natur oder durch zufällige Lebensgänge laß ich dahingestellt sein. […] Alles erinnert an ‚kleinen Hof‘. (C 62)

Dieses Zwischenfazit fasst präzise wichtige Prägungen, die Cécile durch ihre Jahre am Fürstenhof erfahren hat, zusammen („vornehme Haltung und ein feines Gefühl“, „freierer Blick“, ‚vornehmer Ton‘), gleichwohl ist mit ihm kein finaler Oberbegriff gefunden, unter dem sich alle beobachtbaren Merkmale Céciles subsumieren ließen; ihn sprengen etwa das „Minimal-Maß ihrer Bildung“ oder ihre „Demuth“. Eine vielfältige Reihe wahr-scheinlicher Kategorien gängigen sozialen Verhaltens bzw. des sozialen Status’ bietet Gordon hier auf, die er Cécile versuchsweise oder mit Bestimmtheit anmisst, ohne sie jedoch vollständig durch sie erfassen, also rahmen zu können. Weil er häufig auch Anderes und sogar Gegenteiliges in ihr sehen kann, muss er die Zuordnungen regelmäßig wieder revidieren, zumindest aber ergänzen und präzisieren. Je weiter der Gang über die touristischen sights führt, desto inkompatibler und widersprüchlicher erscheinen Gordon die plausiblen Etikettierungen und Einordnungen Céciles; er kann keine einzige aufbieten, ohne sogleich auch eine gegenteilige zu finden: „Was ist es mit dieser Frau? So gesellschaftlich geschult und so naiv! Sie will mir gefallen, und ist doch ohne rechte Gefallsucht. Alles giebt sich mehr aus Gewohnheit, als Coquetterie. Sie hat augenscheinlich in der vornehmen Welt gelebt, vielleicht in einer allervornehmsten, und hat Auszeichnungen und Huldigungen erfahren, aber wenig ächte Neigung und noch weniger Liebe.“ (C 125)

Gordon leistet, um mit Bateson zu sprechen, eine „metasprachliche“ ‚Spracharbeit‘, in der die metakommunikativen sozialen Rahmen, innerhalb derer Cécile als Person zu versprachlichen, mithin zu verstehen ist, eruiert und revidiert werden.278 Die Cécile-textura, die Gordon ausgehend von dem „Räthsel“, dem „Unbestimmte[n] und Unklare[n]“ (C 59) Céciles zu konzipieren beginnt und in den späteren Relektüre- und Reflexionsszenen immer weiter ‚ausspinnt‘, mobilisiert demnach zwar eine Vielzahl immer konkreterer und präziserer Bestimmungen; sie bleibt allerdings, solange der Contretanz durch den Harz fortgeführt wird und Cécile vor den im Hintergrund der stetig wechselnden loci und

278 Vgl. die Parallele zu Fontanes Lob des Freytag-Romans, der es dem Leser ermöglichte, aus einer Meta-Position heraus das konventionelle ‚Tanz-Figuren‘ (hier die rahmenden sozialen Kategorien) verarbeitende Webmuster der Roman-textura wie ein Schau-Spiel auf Distanz, eine artifizielle Vor-Stellung, zu beobachten.

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den an ihnen assoziierbaren sozialen (Stereo-)Typen stets Neues und Anderes zu beobachten gibt, eine bewegliche, nicht-hierarchische, weil stets veränderliche „Strukturation“ 279 hypothetischen Charakters. Schwankend zwischen Frustration und überzeugtem Aushaltenmüssen („‚Es soll dunkel bleiben.‘“, C 125) spricht Gordon selbst seiner „Charakteristik“ die Befähigung ab, Licht ins Dunkel zu bringen: Sie produziere „eine Welt der Gegensätze“ mit „Licht und Schatten“ (C 187, Hervorh. Ch. F.), erzeuge gar „Nebel“ (C 177), respektive eine „Wolke“ (C 178). Dieses topisch erzeugte ‚soziale Verstehen‘ ist kein Verstehen im rational-philosophischen Sinn, eher ein unabgeschlossenes Immer-WeiterNeu-Verstehen, letztlich ein Nicht-, zumindest Nicht-endgültig-Verstehen.280 Mitnichten kann daher das, was Gordon dank des topischen Lektüreverfahrens über Cécile zutage fördert, mit dem „Biographismus-Konzept des Positivismus“ 281 verrechnet werden. Zwar eruiert er diese Wissenselemente ansatzweise systematisch dank des vorsätzlichen „Um-“ und „Schlängelwegs“ über vorgängig etablierte Anhaltspunkte für den zeitgenössischen Gemeinsinn, so dass seine „Charakteristik“ nicht mit bloßer ‚Phantasie‘ und subjektivistischer Imagination abzutun ist, sondern angeleitet ist vom „sozialen Imaginären“.282 Doch spielen bei der Auswahl der sights, ihrer Kommentierung vor Ort sowie ihrer nachträglichen sprachlichen Bearbeitung im Blick auf die quaestio ersichtlich auch der Zufall und spontane Intuition eine wichtige Rolle. Auch hat sich an den besuchten Orten gezeigt, dass dieser Gemeinsinn, der Gordons topische Cécile-Lektüre orientiert, nichts Statisches, sondern ein orts- und zeitabhängig

279 Barthes, S/Z, S. 25. 280 Die einzige Cécile-Interpretation, die ebenfalls darauf abhebt, dass Cécile in dieser Vielfalt gerade nicht festgelegt, sondern zum „paradoxen Superzeichen[ ]“, nämlich zum „semantisch überdeterminierte[n] Zeichen“ wird, liefert Cornelia Blasberg in ihrem Aufsatz „Das Rätsel Gordon oder: Warum eine der ‚schönen Leichen‘ in Fontanes Erzählung Cécile männlich ist“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie (2001), 120. Band, Sonderheft: ‚Realismus‘? Zur deutschen Prosa-Literatur des 19. Jahrhunderts, hg. v. Norbert Oellers und Hartmut Steinecke, S. 111–127, hier S. 114. Es sei auch daran erinnert, dass schon in der arabesken Szenerie vor dem Hotelbalkon dank des Zierstrauchs als Ursprungspunkt von Céciles Sichtbarkeit die Ergründbarkeit und damit Verstehbarkeit ihrer Erscheinung sowohl suggeriert als auch verweigert wird: Gordons Frage, ob es sich bei dem „viel[en] Gelb“, das der Zierstrauch, aus dem Cécile herauswächst, „zeig[ ]e“, um „gelbe Blüthen oder nur von der Sonne verbrannte Blätter“ handle, bleibt für ihn unentscheidbar. Parallel muss auch im Blick auf Gordons Cécile-textura unentscheidbar bleiben, ob das plastische Bild von Cécile, das sie produziert, sich dem blühenden Leben (Céciles ‚Natur‘) oder toten Blättern (dem herkömmlichen Meinungs- und Buchwissen) verdankt; wie beim „Zierstrauch“ handelt es sich bei Gordons textura um ein verwickeltes Artefakt aus Natur und Kultur(technik). 281 Vgl. B. Plett, Rahmen, S. 236. 282 Vgl. v. Graevenitz, Fontane, S. 30.

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im kommunikativen Austausch mit den just versammelten Personen über das gemeinsam Besichtigte stets neu zu erzeugendes Konstrukt ist. An einer Stelle setzt Gordon selbst seine „eigene[ ] Wissenschaft“, mit deren Hilfe er „die Geheimnisse der kleinen Welt, die Cécile hieß,“ (C 124) ergründen will, von strenger Wissenschaftlichkeit ab – mit ihr „Spektral-Analyse“ (C 124) betreiben zu wollen, sei ‚närrisch‘ – und erteilt der Möglichkeit, mit ihr jemals etwas „beweis[en]“ und eindeutige ‚Wahrheiten‘ „daraus herleiten“ (C 187) zu können, eine Absage. Stattdessen bewegt er sich mit ihr im Bereich der Kunst; arabesker (Bild-)Kunst insbesondere, die bevorzugt ein Irritationsspiel mit klassischen Motiven linearperspektivischer Kunst wie dem Gegensatz von Licht und Schatten und intransparenten Formen wie Nebel und Wolken treibt.283 2.6.3 Plastischer ‚Realismus‘ als topisch-arabesker Simulationseffekt Als maßgebliches Movens romantischer Arabeskenkunst in Bild und Schrift gilt Oesterle das Bemühen, „produktionsästhetisch die Gefahr, aus dem Übermaß historischer Kunstformen und Stoffe in Eklektizismus und Historismus zu verfallen“, zu bannen. Das leiste die Arabeske durch „[i]hre Fähigkeit […], vergangene, erstarrte Kunstformen, Motiv- und Bildfelder in ein verjüngtes quasi ornamentales, das Heteronome gleichwohl bewahrendes, vielstimmiges Ensemble einzuschmelzen“.284 Dessen „‚künstliche Verwirrung‘“ 285 mobilisiere die herkömmlichen Standards, um sie im Sinne „potenzierte[r] Naturproducte“ 286 neu zu beleben. In deutlicher Entsprechung zur rhetorisch-soziologischen Deutung der arabesken line of beauty in Fontanes Freytag-Rezension lässt der Cécile-Text Gordon in seinen Rückzugsmomenten eine wirre topische copia herkömmlicher sozialer Rahmen und Bilder für Cécile erzeugen. Diese macht Cécile, gerade indem sie sie nicht definiert, plastisch anschaulich – evident: […] wenn man einen solchen [topischen] Kriterienkatalog durchgeht, sind die Personenbilder plastisch und in vielfacher Hinsicht eindeutig identifizierbar. Ein Individuum, kein Allgemeinbegriff, wird so umfassend beschrieben. […] Formal ausgedrückt: Das Ziel der Topik ist nicht die Definition einer Sache [oder Person] als Klassifikation nach dem porphyrianischen Muster von genus proximum et differentia specifica. Das Ideal der Topik ist die vollständige Prädikation [d. h. Charakterisierung, Ch. F.] eines Begriffs, einer Person,

283 V. Graevenitz, Ornament, S. 94 f. Die arabeske Kunst gilt im Klassizismus eher als ‚niedere‘ Kunst, die sich vor allem eines handwerklichen ‚Geschickes‘ verdankt, denn als ‚hohe‘ Kunst, die in genialischer Begabung gründet. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass Fontane mit Gordon einen Ingenieur die kunstvoll-arabeske Romantextura produzieren lässt. 284 Oesterle, Arabeske, S. 97. 285 Oesterle, Arabeske, S. 105. 286 Daniel Runge, zitiert nach Oesterle, Arabeske, S. 97.

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eines Sachverhalts. Wenn man die topischen Elemente dieser Prädikation durchschaut, dann wird auch deren Zusammensetzung in dem verhandelten Begriff, bei der beschriebenen Person, im rekonstruierten Sachverhalt klar; und dadurch entsteht perspicuitas, vielleicht Evidenz. Diese Evidenz – das geheimnisvollste Element der Persuasion – ist irreduzibel.287

Die zunehmende ‚Plastizität‘ der „kleinen Welt, die Cécile hieß“, verdeutlichen bereits die zitierten Bilder, in die Gordon die Effekte seiner „Charakteristik“ fasst. Vom Wechselspiel von Licht und Schatten (C 124) über den „Nebel“ (C 177) bis hin zur „Wolke“ (C 178) kommt er zu immer plastischeren Erscheinungsformen. In dieser Form läuft Gordons topisch erwanderte arabeske Cécile-textura den produktionsästhetischen Empfehlungen der zeitgenössischen Realismusprogrammatik zuwider, vor deren Hintergrund sie gleichwohl gelesen werden will. Das signalisiert der Text durch die Engführung der topischen „Glanzstellen“ mit den „grünen Stellen“ der Realismusprogrammatiker in Gordons Wegeprogramm (vgl. Kapitel III.2.4) und durch die wiederholte Rede von einem ‚dahinter Verborgenen‘, das Gordons Lektüre lesbar machen will. Aus Sicht der Programmatiker ist der Produktionsprozess realistischer Dichtung als ein zweistufiger Vorgang zu denken. Exemplarisch sei hier Otto Ludwig angeführt. Ihmzufolge nehme der wahre realistische Dichter […] den einzelnen Fall, wie er in der gemeinen Wirklichkeit ist, und zieht das Allgemeine daraus ab, dieses verbesondert er wiederum und bringt so ein höheres Wirkliches hervor, das poetisch Wirkliche. […] Das Wirkliche wird zum Ideal simplifiziert und wiederum zum poetisch Wirklichen individualisiert.288

287 Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 254. 288 Otto Ludwig, Schriften, Bd. 5, S. 418, zitiert nach Ulf Eisele, Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literarischen Theorie nach 1848 am Beispiel des Deutschen Museums, Stuttgart 1976, S. 63. In seiner Studie Realismus und Ideologie hat Eisele diese konzeptuelle Aufteilung des dichterischen Schaffensprozesses in zwei „gegenläufig[e]“ „Teilprozesse“ – die „Entsinnlichung des Empirischen“ und die nachfolgende „Versinnlichung der Idee“ (Eisele, Realismus, S. 63) – auf einen „empiristische[n] Essentialismus“ zurückgeführt (Eisele, Realismus, S. 55), der für die zeitgenössische Realismus-Programmatik insgesamt repräsentativ sei. Deren Vertreter erhöben praktisch durchgängig einen „emphatische[n] Erkenntnisanspruch“, der den Realismus strukturell mit der idealistischen „Identitätsphilosophie“ verbinde und ihn auf „wahre“ Realitätsdarstellung verpflichte (Eisele, Realismus, S. 49). Zugleich postulierten die Programmatiker streng empiristisch, dass diese ‚Wahrheit‘ bzw. das „Ideal“ im Realen selbst zu finden sei. Da aber auch sie Hegels geschichtsphilosophischem Diktum von der „Prosa der Verhältnisse“ anhingen, stelle sich auch ihnen ein solches identitätsphilosophisch begründetes Erkennen als problematisch dar: Die zeitgenössische Realität sei ‚poesieunfähig‘ geworden, d. h. „[u]nter der oberflächlichen ‚Erscheinung‘ der Dinge bleibt deren ‚Wesen‘ verborgen, mehr noch: es versteckt sich“ (Eisele zitiert hier Althusser, vgl. Eisele, Realismus, S. 51). Während Hegel des-

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Im ersten Schritt ist die „gemeine Realität“ aufzusuchen und ‚poesiefähig‘ zu machen, d. h. ihr ist das „Ideal“ auf dem Wege ‚essentialisierender‘ Abstraktion abzuringen (vgl. oben „das Allgemeine“; häufig ist in Anlehnung an den (natur-) wissenschaftlichen Diskurs auch vom ‚Gesetz‘ die Rede). Dieser erste Schritt wird typischerweise ins Bild einer zu durchdringenden Oberfläche bzw. eines aus seiner Hülle zu lösenden Kerns gefasst. Im zweiten Schritt ist die gewonnene Essenz im dichterischen Text wiederum so in einem künstlichen Verbund mit Inessentiellem zu präsentieren (zu ‚versinnlichen‘ bzw. zu ‚verbesondern‘), dass der Rezipient den Eindruck ‚wirklicher Wirklichkeit‘ erhält, die komplexe Zurichtung keinesfalls wahrnimmt und doch die Essenz, das „Ideal“ oder „Wesen“, der Realität leicht erkennen kann. Entsprechend formuliert Ludwig: „Die Welt des Gedichts“, also auch des ‚poetischen Romans‘, „sollte die wirkliche Wirklichkeit sein, nur durchsichtiger“.289 Das „zentrale[ ] Strukturmerkmal der realistischen Theorie“ liegt nach Eisele in dieser „paradoxen Tendenz, sowohl die Identität von Literatur und Realität anzustreben als auch gleichzeitig die Literatur von eben dieser Realität abzuheben“ 290 – ein laut Plumpe auch für die realistische Textpraxis geltender regelrechter „Etikettenschwindel“, der die ‚Schönheit des Realen‘ als „Erfahrung“ ausgebe, wo doch alles nur „ein Konstrukt, ein ästhetizistisches Bild [sei], das man der Realität als ihr ‚Wesen‘ andichten wollte“.291 Diese Konzeption ‚realistischen‘ Schreibens mit ihrem Zweischritt von Abstraktion und ReKonkretisation wird durch die topische Stofferwanderung im Harzteil von Cécile gleich in mehrfacher Hinsicht konterkariert: Zwar tut sich Gordon (wie dem Fontane-Leser) im Zuge der Reflexion, also der Spiegelung und kritischen Analyse, des empirisch Aufgefundenen auf der imaginären Fläche im Fensterrahmen ein ‚Tiefenblick‘ in Form der beschriebenen mise en abyme auf. Doch macht dieser analytische Blick hinter die Oberfläche des Geschauten nicht Cécile auf ihr ‚Wesen‘, ihre ‚Wahrheit‘ hin durchsichtig – im Gegenteil: Céciles Gestalt im Vorder-

halb das ‚Ende der Kunst‘ gekommen sieht, suchten die Realismus-Programmatiker, so immer noch Eisele, die Dichtung durch den erwähnten Zweischritt zu retten. 289 Ludwig, zitiert nach Eisele, Realismus, S. 64. 290 Eisele, Realismus, S. 61, Hervorh. im Original. Dieses Paradox führt Plumpe auf die platonische Mimesis-Vorstellung zurück (vgl. Plumpe, Einleitung, S. 46 ff.) und kritisiert es als „ästhetizistische[n]“ „Etikettenschwindel“ (vgl. Plumpe, Einleitung, S. 83). 291 Vgl. Plumpe, Einleitung, S. 83, und ders., Roman, S. 689. Erst Fontanes „späten Romanen“, konkret den in den 1890er Jahren entstandenen Texten, gesteht Plumpe kritische Distanz zum programmatischen Realismus zu. In ihnen werde der „Rahmen des bürgerlichen Realismus“ insofern überschritten, als die Einsicht, dass „im Wirklichen das Schöne fehl[e]“ zur „Vergleichgültigung des Inhalts, der in allen späten Romanen fast ein ‚Nichts‘ ist“, führe. Diese bedeute „eine Abwendung vom Realen und eine Hinwendung zum Eigensinn des Schreibens und zur Autonomie des poetischen Wortes“. (Plumpe, Roman, S. 687 f.).

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grund wird dank der verwirrenden Vielfalt ‚empirisch‘ aufgefundener Rahmen (topischer Kategorien) immer opaker, undurchschaubarer und gerade dadurch immer konkreter, ‚plastischer‘. Programmwidrig fördert der Tiefenblick vielmehr das Lektüre-, also Selektionsverfahren zu tage, das diesen Eindruck plastischer Individualität erzeugt. Von der imaginären Relektüre nochmals eigens als topisches kenntlich gemacht, depotenziert dieses Stoff-Findungsverfahren zudem den emphatischen, nach Plumpe ‚platonischen‘, Wahrheitsanspruch des programmatischen Dichtungskonzepts, denn sie verweist ihn in die Grenzen des rhetorischen eikos, des bloß Wahr-scheinlichen:292 Der Besuch der touristischen loci führt die kulturellen Abhängigkeiten der die Beobachtung von Cécile orientierenden Rahmen vor Augen, die folglich auch für die im Nach-Gang vor ihrem Hintergrund (also ‚empirisch‘) formulierten Abstraktionen gelten müssen. Schließlich wird das ‚Verstehen‘ von Cécile, die Erfassung dessen, was ihre Individualität ausmacht, als Effekt eines rhetorisch-topischen Simulations-Verfahrens reflektierbar. Dieser wird gerade durch die stete Wiederholung und Re-Vision des ersten abstrahierenden Schrittes erzeugt, was der von den Programmatikern geforderten hierarchisierenden Scheidung des Aufgefundenen in Essentielles und Nichtessentielles zuwider läuft. Im Unterschied zu Bowman etwas verkürzender Darstellung ist die Simulation einer plastischen („vollen“) Persönlichkeit im ‚klassischen‘, d. h. realistischen, Text nach Barthes nicht schon dadurch geleistet, dass der Leser zu einer solchen fortschreitenden Sammlung und Benennung von Persönlichkeitsmerkmalen („Semen“), wie Gordon sie betreibt, motiviert wird und dann der mitgelieferte Eigenname zusätzlich die „Illusion“ erzeugt, daß die versammelte „Summe [der Seme] durch einen kostbaren Rest ergänzt wird (so etwas wie Individualität, wenn sie als Qualitatives, Unauslöschliches dem vulgären Zählsystem der Charakterbestandteile entgeht) […]“.293 Barthes betont zuvor, dass „identische Seme wiederholt denselben Eigennamen durchqueren und sich in ihm festzusetzen scheinen“ müssen, um überhaupt die Vorstellung einer Summe zu erzeugen, von der ausgehend dann etwas wie eine Entität jenseits „der Charakterbestandteile“ imaginiert werden könne.294 Das aber leistet Gordons topische „Charakte-

292 Die mit Hilfe der topischen loci erzeugte copia und deren ‚Evidenz‘ werden so als rhetorisch-topische Effekte kenntlich gemacht. Damit erfährt hier die literarische Illusionserzeugung eine textimmanente Meta-Reflexion aus dem Blickwinkel der rhetorischen Topik, die in der Realismusprogrammatik sonst nicht begegnet. 293 Barthes, S/Z, S. 189 f., Hervorh. Ch. F. 294 Barthes, S/Z, S. 71, Hervorh. Ch. F., und: „Die Person ist also ein Produkt der Kombinatorik: die Kombination ist relativ stabil (von der Rückkehr der Seme markiert) und mehr oder weniger komplex (mit Merkmalen, die mehr oder weniger kongruent, mehr oder weniger widersprüchlich sind) […].“ (Barthes, S/Z, S. 71).

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ristik“ gerade nicht. Mit der beständigen Korrektur und Revision der auffindbaren Seme ‚macht‘ Gordon in diesen Textpassagen weniger ‚den Cicero‘ denn ‚den Aristoteles‘, der die Topik als „höchst bewegliche Technik des assoziativkombinatorischen Standortwechsels“ 295 verstand und den methodischen Ertrag seines topos-Katalogs vor allem darin sah, die jeweilige quaestio einer „Sucht des Differenzierens, Uminterpretierens, Korrigierens“ 296 auszusetzen. Diese drängte im Rückkoppelungseffekt wiederum „auf Erweiterung, Vertiefung, Verfeinerung der bewährten Typik“.297 Solche Affizierung und Relativierung der bewährten Typik, also der topischen Kategorien als orientierende Gesichtspunkte, denen die quaestio vorgeordnet bleibt – im Zweifel werden die topoi ihr angepasst und nicht umgekehrt –, drückt sich in den bereits erwähnten von Gordon imaginierten Bildern seines Verfahrens aus: Jedes Mal erscheint Cécile im Vordergrund oder als Hauptsache inmitten der Rahmen und Bilder, die in ihrem Hintergrund kommen und gehen. Cécile als quaestio ist die maßgebliche Größe, die diese weiterziehen lässt und in Bewegung hält, andererseits gewinnt Cécile gerade durch das Kommen und Gehen der sozialen Rahmen Kontur als „graziöse Gestalt“ (C 56) bzw. „schöne Frau“ (C 130). Wenn der Fokus derart stets auf Cécile als fragliche ‚Mitte‘ und Hauptsache gerichtet bleibt und sie charakteristische Kontur dadurch gewinnt, dass ihr immer neue plausible soziale ‚Wechselrahmen‘ angehalten werden können, die sie gleichwohl immer in irgendeiner Weise überschreitet, dann erlaubt Gordons Charakteristik gerade keine ‚Festsetzung‘ der Seme im Eigennamen ‚Cécile‘ und verhindert die Vorstellung einer „Summe“. Vielmehr zeigt sie Cécile als „vulgäres Zählsystem der Charakterbestandteile“ und liefert so ein differenzlogisch-offenes Formbild des Individuums, das der Simmelschen Bestimmung des Individuums als „Kreuzungspunkt unzähliger socialer Fäden“ 298 verwandt ist. Den ‚socialen Fäden‘ entsprechen beim topischen loci-Verfahren die aufzeigbaren Zugehörigkeiten der Person bzw. Sache zu vielfältigen, die sozio-kulturelle Kommunikation bestimmenden Klassifikationsschemata – hier soziale Schicht („Obersphäre“), Gruppe („Offiziersdamen“), Sozialverhalten („Coquetterie“) und ethische Normen („Demuth“).299 Die Parallele seines soziologischen Individualitätskonzepts 295 Bornscheuer, Topik, S. 46. 296 Bornscheuer, Topik, S. 60. 297 Bornscheuer, Topik, S. 60. 298 Simmel, Sociale Differenzierung, S. 241. 299 Bei Simmel sind es spezifischer die aufzeigbaren Zugehörigkeiten der Person zu den verschiedenen, das sozio-kulturelle Leben bestimmenden Gruppen, die das Individuum als unverwechselbar plastisches erscheinen lassen: „Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensystem, derart, daß jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer derselben läßt der Individualität noch einen weiten Spielraum; aber je mehre

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zu dem allgemeineren sprachlogischen Konzept topischer Gegenstandserschließung, die beide die Vorstellung einer ureigenen Essenz nicht zulassen, sieht Simmel selbst: Wie der konkrete Gegenstand für unser Erkennen seine Individualität verliert, wenn man ihn einer Eigenschaft nach unter einen allgemeinen Begriff bringt, sie aber in dem Maße wiedergewinnt, in dem die andern Begriffe hervorgehoben werden, unter die seine andern Eigenschaften ihn einreihen, […] und dadurch seine individuelle Bestimmtheit erlangt: gerade so verhält sich die Persönlichkeit gegenüber den Kreisen, denen sie angehört.300

Mit der aufgezeigten progredierenden „Charakteristik“ erarbeitet sich Leser Gordon folglich einen Cécile-Text, der die im Contretanz-Zitat der Parkszenerie erinnerten Ansprüche des Freytag-Rezensenten Fontane an einen ‚blühenden‘ realistischen Roman erfüllt: Im Sinne einer arabesken textura, einer „Tanz-Schrift des Schönen“, erschließt diese Charakteristik die ‚reale‘ Cécile insofern, als Gordons Lektüre einer verdoppelten line of beauty bzw. Banderolenarabeske folgt. Seine inventorische Suchbewegung mäandert nicht nur von Ort zu Ort, wo sich immer neue Perspektiven auf Cécile bieten, sondern sie schwingt auch beständig hin und her zwischen konkreter Ortsbegehung und deren imaginär-erinnerndem Nachvollzug.301 Dieser stete Wechsel zwischen ‚Mittanzen‘ auf der Bühne und ‚Reflektieren‘ aus der Distanz des ‚Theaterbesuchers auf der Galerie‘ setzt den in der Freytag-Rezension gelobten doppelten Lektüreeindruck in Szene, der dem Leser im Modus des ‚Als-ob‘ sowohl den Eindruck plastisch bewegten Lebens vermittelt („Nahansichtigkeit“ erzeugt), als auch die technisch-medialen Bedingungen dieses Eindrucks sichtbar macht: das topische loci-Verfahren. Konkretisiert zum Spaziergang über touristische Örter setzt dieses Verfahren die schon

es werden, desto unwahrscheinlicher ist es, daß noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination aufweisen werden, daß diese vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkte schneiden.“ (Simmel, Sociale Differenzierung, S. 240; Hervorh. im Original). 300 Simmel, Sociale Differenzierung, S. 240. Dass die derart differenzlogisch konzipierte „Persönlichkeit“ des Individuums nicht vereinbar ist mit der Vorstellung einer ureigenen Essenz, die dem Individuum unabhängig vom Sozialzusammenhang, in den es hinein geboren ist, zukäme, betont Simmel eigens: „[…] an ihrem Ursprung ist sie [die Person] doch auch nur der Kreuzungspunkt unzähliger socialer Fäden, das Ergebnis der Vererbung von verschiedensten Kreisen und Anpassungsperioden her, und wird zur Individualität durch die Besonderheit der Quanten und Kombinationen, in denen sich die Gattungselemente in ihr zusammenfinden. Schließt sie sich nun mit der Mannichfaltigkeit ihrer Triebe und Interessen wieder an sociale Gebilde an, so ist das sozusagen ein Ausstrahlen und Wiedergeben dessen, was sie empfangen, in analoger, aber bewußter und erhöhter Form.“ (Simmel, Sociale Differenzierung, S. 241). 301 Darin könnte man auch die Doppelung von inventio und iudicium sehen, die Cicero als die beiden zentralen Modi des topischen Verfahrens unterscheidet. Vgl. Cicero, Topica, § 6, S. 8.

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in der Rezension rhetorisch-soziologisch ‚pragmatisierte‘ line of beauty insofern narrativ um, als es sowohl die (topische) Simulation von lebendiger Plastizität garantiert als auch die sozialen Bedingungen dieses Eindrucks, die sprachlichsoziokulturellen Vorprägungen von Gordons Leserblick nämlich, offenlegt. Schließlich lässt die im verdoppelten Rahmen geschaute arabeske Cécile-textura ein soziographisches Formbild ihrer schönen Gestalt entdecken, das sie als stets veränderlicher und erweiterbarer „Kreuzungspunkt unzähliger socialer Fäden“, respektive sozialer Rahmen, anschaulich macht.

2.7 „Wandlung zum Guten und Gesunden hin“ Nun sind auch in Cécile sowohl die arabeske Artifizialität der erlesenen textura als auch die ‚Ent-deckung‘ der scheinbar natürlichen Einsichten, die sie bietet, als rhetorisch-topische Simulationseffekte grundsätzlich positiv zu verstehen: Dank Gordons arabesk-topischer Lektüre erfährt Cécile – ganz ähnlich wie Freytags Kaufmann gemäß Fontanes Lektüre – eine ansatzweise Befreiung aus ihrer Fixierung am Rand der Berliner Gesellschaft und erlangt im selben Zuge ein genaueres Verständnis ihrer spezifischen gesellschaftlichen Verstrickung, kommt also zu einem ‚sozialen Verstehen‘, das ihr ein „gewisses Maß“ 302 an Souveränität ermöglicht, konkret: die Befähigung zu einer bisher nicht gekannten souveränen „Beredtsamkeit“ (C 203). Diesen positiven, einerseits integrierenden, andererseits aufklärerisch-emanzipatorischen Doppeleffekt macht Fontanes Text als allmähliche ‚Belebung‘ und ‚Gesundung‘ Céciles anschaulich – nicht ohne die zentrale Funktion der an den loci erwanderten und im zusätzlichen Rahmen des Fensters erinnernd reflektierten sozialen Rahmen für beide korrelierten Prozesse hervorzukehren. Damit postuliert Fontanes Cécile-Roman nicht nur wie die Psychopathologie seiner Zeit einen engen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Normen und psychischen Erkrankungen (wie der der Hysterie), sondern er konzipiert auch im Vorgriff auf die Sozialpsychologie des 20. Jahrhunderts soziokulturelle Integration und Psychotherapie als dynamische Rahmungsprozesse.303 302 Fontane, Freytag, S. 227. 303 Diese produktive Leistung des Spaziergangs über die topischen loci und der an ihnen aktualisierten sozialen Rahmungen und Stereotypen hat die bisherige Forschung übergangen. Dass sie die wiederholten Anspielungen auf die Contretanz-Szenerie bzw. die arabeske Ästhetik der line of beauty nicht erkannt hat und von daher auch nicht die Übereinstimmungen von Gordons empirisch-imaginär ‚geschauter‘ Cécile-textura mit Fontanes propositionaler Romanpoetik der Freytag-Rezension sehen konnte, ist eines. Dass aber auch die deutlichen Texthinweise auf Céciles Belebung und Gesundung überlesen wurden, ist mehr als fragwürdig. Allzu sehr scheint das überraschend und plötzlich eintretende melodramatische Ende des Texts die

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Schon während des gemeinsamen sightseeing im Harz registriert der Text wiederholt und zusehends deutlicher die fortschreitende ‚Belebung‘ und ‚Gesundung‘ Céciles.304 Beim ersten Wiedersehen in Berlin ergreift Gordon dann „ein freudiges Staunen über die vorgefundene Wandlung zum Guten und Gesunden hin“ (C 150): Ja, die Cécile seiner Thalenser Tage war eine schöne, trotz aller Melancholie beständig nach Huldigungen ausschauende Dame gewesen, während die Cécile von heut eine heitre, lichtvolle Frau war, vor der der Roman seiner Phantasie ziemlich schnell zu verblassen begann. (C 150 f.)

Entschiedener als an anderen Stellen lautet die Formulierung hier, dass Cécile ‚heiter‘ und ‚lichtvoll‘ „war“, nicht nur ‚wirkte‘ oder ‚schien‘ – Cécile ist eine andere. Die Bedeutung von Gordons topisch-arabesker textura-Produktion für diesen Wandel ist bereits dadurch angedeutet, dass sie an diesem Punkt zur Ruhe kommt; sie hat sich mit dieser Veränderung gewissermaßen erledigt. Das zeigt auch Gordons Wechsel des literarischen Genres: Bei seinen nunmehr täglichen Besuchen bedenkt er Cécile unter den Augen ihres Mannes mit „Briefchen in Vers und Prosa“ (C 153), die dieser unter dem Label „Mondscheinpoesie“ rubriziert und durchgehen lässt: „Er lachte nur und bewunderte ‚wozu der Mensch alles Zeit habe‘, […].“ (C 153) St. Arnauds Spott ist durchaus als ironische Spitze gegen die romantische Variante arabesker Romanpoetik zu lesen: Friedrich Schlegel etwa empfahl die Ausübung arabesker Romankunst zur

bisherigen Interpreten dazu verleitet zu haben, dem Text eine Konsistenz, die vom Ende her motiviert ist, zu bescheinigen. 304 Da die Forschungsliteratur hartnäckig über diese Hinweise hinweggelesen hat, seien sie hier ausführlich angeführt: Schon die ersten Blicke Gordons und sein Gruß „mit besondrer Devotion“ (C 12) auf dem Hotelbalkon lassen sie „belebt und erheitert […] plötzlich“ (C 12) den Arm ihres Mannes nehmen und entgegen ihrer zuvor konstatierten Ruhebedürftigkeit zum Spaziergang im Park aufbrechen. Beim mäandernden Gehen auf dessen Schlängelwegen unter Gordons Beobachtung ‚scheint‘ sie sich „rasch gekräftigt zu haben und [geht] aufrecht und elastisch, trotzdem sich unschwer erkennen [lässt], daß ihr das Gehen immer noch Müh’ und Anstrengung verursacht[ ]“ (C 14). Am Ende des Roßtrappen-Ausflugs (C 37), an dem Gordon Cécile „den Arm [bietet]“ und sie den steilen Schlängelweg „geschickt bergab [führt]“, überrascht Cécile ihre Begleiter mit einer ihr nicht zugetrauten körperlichen Ausdauer, ja gar einem „Anflug kleinen Uebermuths“ (C 38). Nach dem bereits erwähnten Schwächeanfall im Schloss Quedlinburg erholt sie sich u. a. dank des gemeinsamen Besuchs der Kirche „rascher als erwartet von dieser Anwandlung“ (C 55), so dass auf ihre Initiative hin doch noch die „schon aufgegebene Partie“ zum Rathaus unternommen wird; in Gordons Relektüre dieser Szene erinnert er unmittelbar nach der „Ohnmacht“ Céciles vor allem ihr „heitere[s] Lachen“ und „wie sie, glückstrahlend, den Krug nahm und anstieß“ (C 57). Auch später zeigt sie auf den Ausflügen eine „ihr sonst nicht eigene[ ] Lebhaftigkeit“ (C 86).

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„Rückgewinnung der Poesie gegen die erdrückende Prosa der Lebensverhältnisse“ und verstand sie als „eine, wenn nicht hohe, so doch naturproduktartig verfahrende Interimskunst, die einer zukünftigen [poetischen] Kunst“ vorarbeite.305 Solch emphatisch verstandene ‚poetische‘ Vorleistung arabesker Romankunst erscheint mit der „Mondscheinpoesie“ distanziert. 2.7.1 Anfängliche soziokulturelle Integration Céciles Von der Ironie nicht entwertet wird hingegen die soziographische, nämlich integrative Leistung von Gordons Romanproduktion – das „Glück dieser Tage“ (C 153) –, auf dem der Text stark insistiert: So „[…] gestand [Gordon] sich, alles in allem nie glücklichere Tage verlebt zu haben. Auch nicht in Thale.“ (C 152, Hervorh. Ch. F.) St. Arnauds lachende Duldung von Gordons „Billets doux“ (C 153) bekräftigt vielmehr, dass nun eine Balance zwischen Nähe und Distanz gefunden ist, die noch über das Miteinander in Thale hinaus geht, wo es am letzten sight immerhin zu einer unschicklichen Berührung gekommen war, die St. Arnaud zwar nicht gesehen, wohl aber erahnt, nämlich polemisch pariert hat mit dem Fingerzeig auf das Schild „Nach dem Hexentanzplatz“ und der Frage: „‚Wollen wir einen Contre mitmachen? Oder bist Du für Extra-Touren?‘“ (C 122)306 Entsprechend wird das große „Glück dieser [Berliner] Tage“ als harmonische Interaktion in erweitertem Kreis, nämlich zwischen Gordon, den St. Arnauds, der bald auch regelmäßig hinzu kommenden Malerin Rosa und Céciles Seelsorger Pastor Dörffel ausbuchstabiert: […] man sah sich öfter, und erschien bei diesen Begegnungen auch noch der in der benachbarten Linkstraße wohnende Hofprediger, so steigerte sich der von Rosas Anwesenheit beinah unzertrennliche Frohsinn, und vom Harz und seinen Umgebungen schwärmend, erging man sich in Erinnerungen an die Roßtrappe, Hôtel Zehnpfund und Altenbrak. (C 152)

Unmissverständlich macht die nunmehr in der Gruppe vollzogene Rekapitulation des Harzer sightseeing die erlangte soziale Harmonie als Errungenschaft des Spaziergangs über die touristischen loci augenfällig. Cécile hat sich an den besuchten loci als Teil einer sich hier neu konstituierenden kulturellen Forma-

305 Vgl. Oesterle, Arabeske, S. 97 und S. 107. 306 Mit der Situierung des „Contre“ auf dem „Hexentanzplatz“ am Brocken und eindeutiger noch mit den „Extra-Touren“ wird unverholen die erotische Valenz der line of beauty and grace im Contretanz angesprochen, die, wie schon das Milton-Zitat in Hogarth’ Analysis andeutete, stets die Gefahr birgt, dass das ‚richtig schöne‘ „Tanzen der Engel um den heiligen Huegel herum“ in sein „Gegentheil“, das maßlos-orgiastische Tanzen der Hexen auf dem Brocken, umzuschlagen droht.

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tion aus Mitgliedern der Berliner Gesellschaft erfahren. Einerseits konnte sie sich vereinzelt anlässlich des dort zu Sehenden selbst in die Kommunikation der stetig anwachsenden Gruppe einbringen; andererseits konnten Gordon und die anderen Beteiligten des kollektiven sightseeing das Maß und die konkreten Aspekte von Céciles Alterität vor dem Hintergrund der verschiedenen, an den Orten jeweils aktualisierten sozialen Rahmen (topoi) ‚ermessen‘ und versprachlichen. Man kann sagen, der Spaziergang sowie dessen imaginäre, in die „Charakteristik“ Céciles mündende Relektüre durch Gordon hat Céciles Alterität dem brüchig gewordenen, nur noch punktuell zu fassenden sensus communis der Berliner Gesellschaft vermittelbar und anschließbar gemacht. In der Folge des topischen Entwurfs von Cécile als imaginärer Kreuzungspunkt sozialer Rahmen ist sie schließlich, das belegt diese Phase des „Glücks“, zu einem ‚wirklichen‘ Kreuzungspunkt sozialer Kreise in Simmels Sinn geworden: War sie zuvor in ihrer Ehe mit St. Arnaud und mit diesem in einem einzigen abgezirkelten Kreis von Berliner Randexistenzen fixiert,307 hat sie nun auch in Berlin Teil an dem im Harz erwanderten Kreis; Gordon und Rosa besuchen sie nicht nur regelmäßig, sondern nehmen auch an einer Soiree mit den Randständigen teil. Céciles soziale Fixierung am Rand der Berliner Gesellschaft ist aufgebrochen, der neue Kreis hat sich in ihrer Person mit den anderen beiden (Ehe, Randexistenzen) verschaltet, verwickelt.308 2.7.2 Topische Trauma-Bearbeitung und Sprachfindung Céciles Diese ‚Belebung‘ zu einem nunmehr potentiell ergänzungsfähigen ‚Kreuzungspunkt sozialer Kreise‘ macht der Text zugleich lesbar als Heilungsprozess, in

307 Vgl. den Gegensatz dieser doppelten Einkreisung Céciles (in ihrer Ehe im Kreis der Randständigen) zu dem von Simmels Lehrer Moritz Lazarus entworfenen ‚Kreisbild‘ des Individuums (s. o. Kapitel III.1.3). Während Lazarus das Individuum in der Mitte konzentrischer Kreise noch als souverän handlungsfähiges konzipierte, wird dasselbe Bild in Fontanes Text mit melancholischer Apathie und hysterischen Erstickungsgefühlen korreliert. Hingegen zeigt die zum Kreuzungspunkt der Kreise aufgelöste und dezentrierte Cécile die nachgezeichnete Belebung und noch auszuführende Gesundung. Dass Cécile zuvor in Berlin bereits auch Besuche von Pastor Dörffel erhielt, ist kein Gegenargument zu diesem Wandel, da diese Besuche nicht geselliger, sondern rein seelsorgerlicher Natur waren, Dörffel etwa nicht an dem Souper im Kreis der Randständigen teilnahm (vgl. C 154). 308 Als dezentrierter ‚Kreuzungspunkt socialer Kreise‘ ist Cécile wie Freytags Kaufmann laut Fontane zum ‚Durchschnittsmenschen‘ geworden (vgl. Kapitel III.1.3), ganz so wie das alle anderen von Gordon in der Balkonszene im Harz beobachteten Sommerfrischler sind („lauter Durchschnittsfiguren“ (C 18)). Stellte Cécile dort noch eine Ausnahme dar, ist sie hier in Gordons Augen nunmehr „nichts als eine Frau, die, wie tausend andere, nicht glücklich und auch nicht unglücklich ist“ (C 151).

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dessen Zuge Céciles Hysteriesymptome verschwinden. Wohl zeigt Cécile, wie erwähnt, an einigen der touristischen sights die vom Text selbst als „hysterische Paroxismen“ (C 148) bezeichneten Krankheitssymptome, die ihre Traumatisierung erkennbar machen. Doch ist Fontanes Text nicht als „Fallstudie über somatisiertes Leiden“ zu lesen, die dessen Unausweichlichkeit vor Augen führe.309 Vielmehr ist der kollektive Spaziergang über die topischen loci unter Gordons Führung, insbesondere die gemeinsame Eruierung der an ihnen aktualisierbaren sozialen Rahmen, als quasi-therapeutischer Prozess zu verstehen, als allmähliche Bearbeitung, d. h. Wiederholung und Überwindung des Traumas in mehreren Schritten, für die das Verstehen von sozialen Rahmen, also die Erlangung von Rahmenkompetenz, entscheidende Bedeutung besitzt. Auffällig ist, dass ausnahmslos alle körperlichen „Paroxismen“, die Cécile auf dem Spaziergang über die topischen loci zeigt, auf die architekturalen oder ornamentalen Rahmen der loci bezogen sind und diese hervorheben, so Céciles stummes ‚Zählen‘ der „Maschen des vor ihr ausgespannten [goldenen] Drahtgitters“ (C 25) bei der Villa im Wald oder ihr ‚mechanisches Klopfen‘ an die leere Wandstelle inmitten des Goldrahmens im Schlossmuseum (C 51), das dessen Rahmungsfunktion betont. Auf diese Weise ist das zentrale Moment von Céciles Heilungsprozess, die sozialpsychologische Aufklärungsfunktion der erwanderten Rahmen, bezeichnet: Cécile werden an den topischen loci nicht nur die erschreckenden Gewalterfahrungen aus ihrer Vergangenheit für einen kurzen Moment erinnerbar – an der Villa im Wald der Selbstmord des verschuldeten Vaters und im Schlossmuseum wie im Jagdschloss der gewaltsame Tod des Dzialinski, der sie als ehemalige Fürstengeliebte der Ehe mit St. Arnaud nicht würdig fand und von diesem im Duell erschossen wurde.310 Vielmehr lernt sie 309 Sabina Becker, ‚Psychographie‘, S. 106 im Verbund mit S. 98. Um das zu behaupten, muss man, wie gesagt, konsequent über alle Hinweise auf die Gesundung und das „Glück“ der Berliner Tage hinweglesen. 310 Zur Funktion der besuchten Orte als persönliche Erinnerungssymbole für Céciles traumatische Erlebnisse vgl. Heinz Brüggemann, Das andere Fenster, S. 217. Brüggemann hat dargelegt, dass die besuchten Orte im Harz dank der räumlichen Perspektiven, die sie eröffnen, nämlich der Bilder-, Fenster- und Spiegelblicke, die sie ermöglichen, für Cécile zu „Erinnerungssymbolen“ ihrer tragischen Kindheits- und Ehegeschichte werden, die sie deren verdrängte, traumatisierende Erlebnisse aktualisieren und nochmals durchleben lassen. Das belege etwa ganz konkret die Bildsymbolik des Fensters, das St. Arnaud anlässlich von Céciles Schwächeanfall im Schlossmuseum öffnet: „St. Arnaud, der wohl wußte, was in ihr vorging, öffnete den einen der beiden Flügel und sagte, während die frische Luft einströmte: ‚Du bist angegriffen, Cécile. Ruh’ Dich.‘ Und sie nahm seine Hand und drückte sie wie dankbar, während es vor Erregung um ihre Lippen zuckte. (C 54) Wenn es richtig ist, dass das geöffnete Fenster Céciles erinnernden Blick auf die traumatisierenden Ereignisse ihrer Vergangenheit symbolisiert, dann belegt dies aber nicht nur die Gewalt, die diese Ereignisse über Cécile immer noch haben, sondern es muss auch mitgelesen

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zugleich gerade dank der sittenstrengen Kommentare Gordons die sozialen Rahmen und deren auf rigide Grenzziehungen bedachte Interpretationen kennen, die für diese verstörenden Ereignisse gesorgt, Céciles soziale Ächtung begründet und mit ihrer tabuierenden Macht jegliche Kommunikation über diese Erfahrungen verhindert haben. Die Unverständlichkeit dieser für sie fremden Rahmen spricht Cécile einmal explizit an: „[…] es ist soviel Spott um mich her, Spott, den ich nicht mag und den ich oft nicht einmal verstehe.“ (C 185) Und auch Gordon reflektiert nach der Lektüre des Briefs seiner Schwester, der über die weitgehend moral- und bildungsfreie Sozialisation Céciles Auskunft gibt, mehrfach darauf, wie weitgehend Cécile in Unkenntnis der moralischen Grundsätze der Berliner Gesellschaft aufgewachsen ist.311 Cécile konnte in den schockhaften Momenten also gar nicht verstehen, warum das Schuldenmachen den Vater in den Selbstmord trieb oder was an ihrer Vorgeschichte als Fürstengeliebte so anstößig sei, dass ihre Eheschließung mit dem Offizier St. Arnaud als ehrenrührig bewertet wurde und Anlass gab für Duell und Tod.312 Die Forschung hat bereits auf differenzierte Entsprechungen der Hysteriedarstellung in Fontanes Cécile-Text zu zeitgenössischen populären Vorstellungen und wissenschaftlichen Konzepten der Hysterie hingewiesen.313 Der entstehenden Psychopathologie gilt sie als neurotische Erkrankung, die eng an gesellschaftliche Normen und Tabuierungen gekoppelt ist. Diese Sichtweise hat Sigmund Freud 1893, also wenige Jahre nach dem Erscheinen von Cécile, so zusammengefasst und präzisiert: Die auffälligen hysterischen Paroxysmen kämen dadurch zustande, dass sich bei einer Person infolge eines schockierenden, sie in ihrer Würde verletzenden Ereignisses (z. B. dem eigenen Erleben oder

werden, dass ihr just durch einen Rahmen Erleichterung zukommt. Durch ihn strömt „frische Luft“ ein, die signalisiert, dass der Anfall nicht als perpetuierende oder gar verstärkende Repetition der traumatischen Situation zu verstehen ist, sondern als eine Wieder-Holung, die eine lindernde Aufarbeitung des Traumas bewirkt. 311 Vgl. C 176, 190. 312 Vgl. Hugo Austs Überlegungen zu Fontanes größerem Interesse an der Schicksalstragödie im Gegensatz zur Schuldtragödie, die sich an Martin Swales Charakterisierung Fontanes als ‚Realist der Normendarstellung‘ anschließen: Die von Fontane in einer Theaterkritik als faszinierend angeführten ‚unerbittlichen Gesetze‘ der Schicksalstragödie seien „nicht unbedingt numinose Kräfte, sondern möglicherweise auch nicht klar erkannte Normen […], vorläufige Einrichtungen, die in ihrer Folge einen Bann ausüben, vor dem es kein Entrinnen gibt.“ (Hugo Aust, Kulturelle Traditionen und Poetik. In: Christian Grawe und Helmuth Nürnberger (Hg.), Fontane-Handbuch, Stuttgart 2000, S. 306–465, hier S. 461; Hervorh. Ch. F.). 313 Einschlägig hierzu v. a. Thomé, Autonomes Ich, z. B. S. 329 ff. Unter anderem sind schreckbesetzte Ereignisse in der persönlichen Geschichte des Betroffenen als mitursächlich an der beobachtbaren Syptomatik des Betroffenen zu verstehen. Vgl. auch Weber, ‚Fliegen und Zittern‘, S. 43–93, und Becker, ‚Psychographie‘, S. 109.

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auch nur Beobachten von Beleidigungen, Unfällen, gewaltsamen Verletzungen oder Todesfällen) oder auch einer ganzen „Reihe von affektvollen Eindrücken; eine[r] ganze[n] Leidensgeschichte“ 314 große psychische Spannungen aufbauten, diese aber nicht durch direkte körperliche oder verbale Reaktionen abgebaut werden könnten (z. B. durch Schreien, Zurückschlagen, Schimpfen, Beichten) und deshalb in körperlichen Zwangshandlungen Ausdruck suchten.315 Neben psychischen Vorbelastungen der betroffenen Person sind es laut Freud vor allem „soziale Gründe (so häufig im Eheleben)“,316 die eine sofortige Abreaktion der aufgebauten Spannungen und also die Wiederherstellung ihrer Würde verhinderten, eben aufgezwungene oder internalisierte soziale Konventionen (Rahmen) und Tabus (streng interpretierte und nicht kommunizierbare Rahmen). Da derart die Symptome der Hysterie in ‚direktem Zusammenhang‘ mit der auslösenden Situation stünden, habe die Therapie zu versuchen, „die Veranlassung eines Symptomes zu erfahren“, den Patienten erinnern zu lassen, „bei welcher Gelegenheit ein Symptom zum ersten Male aufgetreten ist und wodurch es bedingt war“.317 Wenn es gelingt, den Kranken zu einer recht lebhaften Erinnerung [dieser Gelegenheit] zu bringen, so sieht er die Dinge mit ursprünglicher Wirklichkeit vor sich, man merkt, daß der Kranke unter der vollen Herrschaft des Affektes steht, und wenn man ihn dann nötigt, diesem Affekte Worte zu leihen, so sieht man, daß unter Erzeugung eines heftigen Affektes diese Erscheinung der Schmerzen noch einmal mit großem Ausdruck auftritt und daß von da an dieses Symptom als Dauersymptom verschwunden ist.318

In diesem Sinne ermöglichen die kollektiven Ortsbegehungen Cécile nicht nur, die ‚Gelegenheiten‘ ihrer „Schreckaffekt[e]“ 319 „mit ursprünglicher Wirklichkeit“ 320 zu erinnern, bei denen die Paroxismen „zum ersten Male aufgetreten“ 321 sind, und noch einmal „unter der vollen Herrschaft“ dieser Affekte zu

314 Sigmund Freud in Zusammenarbeit mit Josef Breuer: Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (1893). In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Nachtragsband: Texte aus den Jahren 1885–1938, hg. v. Angela Richards unter Mitwirkung v. Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt am Main 1987, S. 181–195, hier S. 187. 315 In „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“ nennt Freud neben Lähmungserscheinungen, „Anorexie und Erbrechen“ sowie Schlaf- und Sprachstörungen auch „eigentümliche Anfälle“, in denen „das Individuum nach einer Aura plötzlich zusammenfällt, tobt, deliriert“ (Freud, Mechanismus, S. 184, S. 188, S. 189, S. 184). 316 Freud, Mechanismus, S. 194. 317 Freud, Mechanismus, S. 191. 318 Freud, Mechanismus, S. 191. 319 Freud, Mechanismus, S. 187. 320 Freud, Mechanismus, S. 191 321 Freud, Mechanismus, S. 191.

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stehen. Das gemeinsame sightseeing ermöglicht ihr auch zu verstehen, „wodurch [sie] bedingt war[en]“ 322 – eben mit Gordons Hilfe die ‚sozialen Gründe‘ (soziale Rahmen und deren restriktive Interpretationen) zu erfahren, die ihr die direkte Spannungsabfuhr, etwa die kommunikative Bearbeitung der Affekte verwehrt haben. Diese verbale Bearbeitung holt Cécile selbst zwar erst in Berlin nach, doch bereits an den sights des Harzes, die als „Erinnerungssymbol[e]“ 323 ihrer Traumata fungieren, erfahren Céciles ‚Schreckaffekte‘ eine „assoziative Verarbeitung, die Erledigung durch kontrastierende Vorstellungen“,324 etwa wenn ihr die „Schönheitsgalerie“ einen alternativen, würdevollen Umgang mit ehemaligen Fürstengeliebten vor Augen führt oder wenn Rosa Gordons strenge moralische Urteile durch spöttische Bemerkungen relativiert. Insofern sind die Ortsbesuche ‚Grenzgänge‘, die die Ausgrenzung Céciles wiederholen, ihr zugleich aber die zur Ausgrenzung genutzen Rahmen als relativier- und verhandelbare aufzeigen.325 Diese sozialpsychologische Aufklärungsfunktion des gemeinsamen Besuchs der topischen loci im Harz und damit der Heilungseffekt von Gordons arabesker Romanproduktion hat die psychoanalytisch informierte Forschung nicht beachtet.326 Bestätigt wird der Heilungseffekt aber durch Céciles bemerkenswerte ‚Sprachfindung‘ angesichts von Gordons späteren Fixierungsversuchen, die einen emanzipatorischen Gewinn an Souveränität dokumentiert und die dieser Forschung als überraschend unmotivierte Wendung des Texts er-

322 Freud, Mechanismus, S. 191. 323 Brüggemann, Das andere Fenster, S. 217. 324 Freud, Mechanismus, S. 193. 325 Vgl. die kurz hintereinander wiederholte und so betonte Formulierung Gordons: „[…] wo das Uebel liegt, liegt in der Regel auch die Heilung“ (C 34) bzw. „[…] wo die Gefahr liegt, liegt auch die Rettung“ (C 35). 326 Eine indirekte Bestätigung dieser positiven Wirkung liefert allenfalls Thomé, wenn er Fontane zunächst nachweist, für „den ‚alten hausbackenen Wege herzlicher Liebe‘“ als „eigentliches Therapeutikum“ zu plädieren (Thomé, Autonomes Ich, S. 356, Hervorh. im Original), und dann konstatiert, dass Gordon „nur so lange [aber immerhin!, Ch. F.] auf das Herz Céciles eingehen [könne], als er ihre Geschichte nicht kennt“ (ders., Autonomes Ich, S. 361). Damit bestätigt Thomé, dass die Interaktion mit Gordon in der gesamten Zeit vor Eintreffen des Briefs von Clothilde als wirkungsvolles „Therapeutikum“ zu lesen ist. Thomé hingegen sieht die eigentliche ‚therapeutische Betätigung‘ Gordons in dessen „Aufforderung zum Ehebruch“, die „so weit vom medizinischen Wissen nicht entfernt“, zugleich aber „lediglich ein Klischee des Volkswissens reproduzier[e]“, nämlich das „altehrwürdige Theorem[ ] von der Genesis der Hysterie aus dem Mangel an Liebesfreuden“ (Thomé, Autonomes Ich, S. 364). Scheitern müsse diese „‚Therapie‘“ Gordons dann, weil das „von Freud überlieferte ‚zynische Rezept‘ [also „Heilung durch sexuelle Erfüllung“, Ch. F.] die internalisierte Moralität verkennt und sich nur an den unterdrückten Wunsch statt an den pathogenen Antagonismus wendet.“ (Thomé, Autonomes Ich, S. 361 f.).

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scheinen musste.327 Dabei zeigt sich hier die bis anhin so stumme Cécile ganz in Freuds Sinn dazu in der Lage, ihrem eingeschlossenen „Affekte Worte zu leihen“ oder, wie sie selbst formuliert, „alles [zu] sagen, auch das Schlimmste“ (C 202), nämlich den „unvergeßliche[n] Tag“ zu beschreiben, an dem sie „heimlich und voll Entsetzen in das Haus schlich, wo der erschossene Dzialinski lag und mich mit seinen Todtenaugen ansah, als ob er sagen wollte: ‚Du bist Schuld,‘ […]“ (C 202, Hervorh. im Original). Dass Cécile dies gerade in dem Moment gelingt, als sie Gordon zum dritten und letzten Mal eindringlich gemahnt, von seinem neuen „freieren Ton“ (C 202) voller „Forderungen und Rücksichtslosigkeiten“ Abstand zu nehmen und doch wieder „‚zu dem Tone zurückzufinden, den Sie früher anschlugen und der mich so glücklich machte‘“ (C 188),328 also zu der Sprache zurückzukehren, die sich auf dem Spaziergang zwischen ihnen etabliert und die ‚glücklichen Tage‘ in Berlin ermöglicht hat, ist bezeichnend.

327 Weber etwa bleibt in ihrer Pathographie von Céciles Hysterie in ‚Fliegen und Zittern‘ die Erklärung dafür schuldig, warum Cécile, die vorher stets „verstummt“ ist und nur „ihren Körper sprechen“ ließ, um sich der angeblich durchgängig fixierenden Bild-Zuschreibungen durch Gordon zu erwehren (Weber, ‚Fliegen und Zittern‘, S. 76), nun plötzlich, obwohl Gordon demnach ihre Fixierung hier einfach nur fortsetzt, zu einer Sprache findet, die die traumatisierende Situation rekapitulieren und damit nach Freud bewältigen kann. In Beckers Aufsatz „Literatur als ‚Psychographie‘“ wird Céciles Sprachfindung gänzlich übergangen. Anja Haberer hingegen konstatiert, dass „[d]ie großen Reden Céciles“ an den sie bedrängenden Gordon „deutlich aus dem Textgefüge heraus[fallen]“ und besonders damit überraschen, „daß Cécile gerade in diesen Gesprächen keine Zeichen von Leiden und Schwäche zeigt“ (vgl. Haberer, Zeitbilder. Krankheit und Gesellschaft in Theodor Fontanes Romanen Cécile (1886) und Effi Briest (1894), Würzburg 2012, S. 141). Daraus folgert Haberer, dass Cécile allenfalls eine Neurasthenikerin, aber keine Hysterikerin vorstelle, denn Letztere könne laut Freud „über ihre traumatischen Erinnerungen nicht ‚wie über andere ihres Lebens verfügen‘“ (Haberer, Zeitbilder, S. 145), geschweige denn sie – außer im Zustand der Hypnose – zur Sprache bringen. Mit der überraschenden Abweichung ihrer Neurasthenie-These vom Forschungstenor hat Haberer gleichwohl den Überraschungseffekt des ‚Textgefüges‘ nicht erklärt, der Céciles Sprachfindung deutlich von ihrem bisherigen Verhalten absetzt. Laut Freud können außer der Hypnose auch äußerliche, inszenierte Wiederholungen der traumatisierenden Situation im Verbund mit kontrastiven Vorstellungen die unverfügbaren Erinnerungen greif- und formulierbar machen. Gerade das geschieht, so die Argumentation der vorliegenden Studie, auf dem kollektiven Weg über die touristischen Orte des Harzes. 328 Vgl. Schillers Rekurs auf die Contretanz-Szenerie Hogarth’, der sie ebenfalls mit der Frage des ‚guten Tons‘ verknüpft: „Es ist auffallend, wie sich der gute Ton (Schönheit des Umgangs) aus meinem Begriff der Schönheit entwickeln läßt. Das erste Gesetz des guten Tones ist: Schone fremde Freiheit. Das zweite: zeige selbst Freiheit. Die pünktliche Erfüllung beider ist ein unendlich schweres Problem, aber der gute Ton fodert [sic] sie unerlaßlich, und sie macht allein den vollendeten Weltmann. Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen Tanz.“ (Zitiert nach Mainberger, ‚Linienästhetik‘, S. 217, Hervorh. im Original).

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Diese Koinzidenz zeigt, dass Céciles Befähigung zum nachträglichen Verbalisieren ihrer Schreckaffekte einher geht und zusammenhängt mit ihrer Befähigung zu metasprachlicher bzw. metakommunikativer Kommunikation.329 Die Sprache, die Cécile hier gefunden hat und die Gordon in Erstaunen versetzt – „‚Ich wußte nicht, daß Sie so gut zu sprechen verstehen.‘“ (C 203)330 – ist eine Sprache über das Sprechen, in der Cécile mit Gordon um die Sprachregeln ihrer Kommunikation und damit gewissermaßen um den äußeren sozialen Rahmen ihrer Interaktion ringt (vgl. auch: „‚Wo steckt Ihr Titel für all dies?‘“ (C 200)). Wenn Fontanes Text Céciles Gesundung im Zuge des kollektiven Spaziergangs derart als quasi-therapeutischen Prozess darstellt, der als schrittweise Vermittlung sozialer Rahmenkompetenz und metakommunikativer Sprachkompetenz zu verstehen ist, so geht er über zeitgenössische Hysteriekonzepte hinaus. Lässt er doch an Überlegungen denken, die Gregory Bateson in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts angestellt hat. Dieser sieht einen engen Zusammenhang zwischen bestimmten psychischen Erkrankungen, insbesondere der Schizophrenie aber auch neurotischen Leiden, zu denen die Hysterie zählt, und der (partiellen) Unfähigkeit, „soziale Rahmen“ erkennen und sie in ihren Implikationen für spezifische Rollenvorgaben, d. h. Verhaltens- und Sprachregeln, verstehen und entsprechend mit ihnen umgehen zu können.331 Rahmenkompetenz aber ist für Bateson eine Grundvoraussetzung für die metakommunikative Verständigung über die Standards und Regeln sozialer Interaktion, in der auch die Chance zur bewussten Reflexion, Relativierung, Kritik, Weiterentwicklung oder Veränderung der für die jeweilige Bezugsgruppe maßgeblichen sozialen Rahmen, also ihrer soziokulturellen Topik, liegt.332 Die Psychotherapie selbst kön-

329 Auf die metakommunikative Qualität von Céciles Rede an dieser Stelle verweist auch Weber, allerdings ohne ihr Auftreten gerade an diesem Punkt der erzählten Pathographie Céciles zu erklären und ohne ihr ‚evolutionäres‘ Potential zur Erweiterung der gesellschaftlichen Topik zu erkennen. Vgl. Weber, ‚Fliegen und Zittern‘, S. 83 f. 330 Hervorh. im Original. 331 Im Blick auf die Schizophrenie etwa konstatiert Bateson: „In dem, was triadische Konstellationen von Mitteilungen sein sollten, wird die rahmengebende Mitteilung (z. B. der Ausdruck ‚als ob‘) außer acht gelassen, und die Metapher oder Phantasie wird in einer Weise erzählt und ausgelebt, die angemessen wäre, wenn es sich bei der Phantasie um eine Mitteilung der direkteren Art handelte. Das Fehlen einer metakommunikativen Rahmengebung, das im Fall der Träume festgestellt wurde […], ist charakteristisch für die wache Kommunikation des Schizophrenen. Mit dem Verlust der Fähigkeit, metakommunikative Rahmen zu setzen, geht auch die Fähigkeit verloren, die grundlegendere oder primitivere Mitteilung zu vollbringen. Die Metapher wird unmittelbar als eine Mitteilung des grundlegenderen Typs behandelt.“ (Bateson, Spiel, S. 258). 332 Vgl. Goffmans bereits zitierte Analyse der „primären Rahmen einer sozialen Gruppe“ als „Hauptbestandteil von deren Kultur“ (Goffman, Rahmen-Analyse, S. 37).

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ne, so Bateson, als ein dem „Spiel“ verwandter Rahmen verstanden werden, der übliche soziale Rahmen moduliert, d. h. ein weiteres Mal rahmt, und innerhalb dessen die Patienten im Modus des ‚Als-ob‘ (in psychoanalytischer Sprache: im Modus der „Übertragung“) in die bewusste Handhabung von Rahmen eingeübt werden können. Diese Vermittlung von Rahmenkompetenz im sekundären Spielrahmen wurde oben schon im Blick auf den Bilderrahmen angesprochen (vgl. Kapitel III.2.7.1): Oben wurde vermutet, daß die Paradoxien des Spiels charakteristisch sind für einen evolutionären Schritt. Hier nehmen wir an, daß ähnliche Paradoxien ein notwendiger Bestandteil in dem Veränderungsprozeß sind, den wir als Psychotherapie bezeichnen. […] Die ‚Übertragung‘ wird von wirklicher Liebe und wirklichem Haß durch Signale unterschieden, die auf den […] Rahmen [‚Therapie‘, Ch. F.] verweisen; und in der Tat ist es dieser Rahmen, der es der Übertragung ermöglicht, ihre volle Intensität zu erreichen und zwischen Patient und Therapeut diskutiert zu werden.333

Die Therapie betreibt dann eine „Manipulation von Rahmen“,334 um „die metakommunikativen Gewohnheiten des Patienten zu ändern“,335 versucht also eine Verständigung über die bisher angewandten Regeln und deren Veränderung zu erwirken.336 In der spielähnlichen therapeutischen Interaktion darf alles ungeschieden zur Sprache kommen, was der Betroffene, der in bestimmter Weise unfähig ist, „metakommunikative Rahmen zu setzen“,337 assoziiert: Träume, spontane Empfindungen, Erinnerungen, […] damit Patient und Therapeut zu einem Verständnis dieses Materials gelangen können. Durch den Interpretationsprozeß wird der Neurotiker dahin getrieben, in die Denkprodukte seines Primärprozesses, die er vorher verurteilt oder unterdrückt hatte, eine ‚alsob‘-Klausel einzufügen [d. h. einen sozialen Rahmen einzuziehen, Ch. F.]. Er muß lernen, daß Phantasie Wahrheit enthält.338

333 Bateson, Spiel, S. 259. 334 Bateson, Spiel, S. 258. 335 Bateson, Spiel, S. 258. 336 „Vor der Therapie denkt und handelt der Patient im Sinne einer bestimmten Menge von Regeln für das Machen und Verstehen von Mitteilungen. Nach erfolgreicher Therapie operiert er mit Hilfe einer anderen Menge solcher Regeln. (Regeln dieser Art sind im allgemeinen sowohl vorher als auch nachher unsprachlich und unbewußt.) Es folgt, daß im Prozeß der Therapie eine Kommunikation auf einer Ebene stattgefunden haben muß, die diesen Regeln nachgeordnet (meta) ist. Es muß zu einer Kommunikation über eine Veränderung der Regeln gekommen sein.“ (Bateson, Spiel, S. 258 f., Hervorh. im Original) – Cécile kann diese Veränderung der Regeln explizit zur Sprache bringen, als Gordon von den neuen, auf dem gemeinsamen Weg (Tanz) allmählich etablierten kommunikativen Standards zwischen ihnen wieder abweicht. 337 Bateson, Spiel, S. 258. 338 Bateson, Spiel, S. 261.

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Im Blick auf Cécile reformuliert heißt das: Sie lernt zu verstehen, was von ihren eigenen Vorstellungen in der aktuellen Berliner Gesellschaft ‚Realität‘ ist und was nicht,339 insbesondere lernt sie, die von ihr als albtraumhaft irrealisierten und verdrängten Erfahrungen als ‚reale‘ zu erkennen und zu benennen. Darüber hinaus findet sie ihrerseits einen metasprachlichen „Titel“ (C 200) für Gordons veränderten, sie neuerlich fixierenden Ton: den der „Alltagssprache“ (C 184). Treffsicher lässt Fontanes Text sie damit die Ebene der sprachlichen Primärprozesse bezeichnen, in denen die sozialen Rahmen identifikatorisch gebraucht werden340 – die Ebene, die Cécile vormals nur kannte, auf der sie als ehemalige Fürstengeliebte ‚realiter‘ gerahmt, d. h. auf Untreue und sexuelle Freizügigkeit fixiert wurde. Der „Titel“ für die auf dem Spaziergang über die topischen loci entwickelten Sprache, die Cécile belebt, glücklich und gesund gemacht hat und an der sie festhalten möchte, wäre entsprechend der der ‚Sonntagssprache‘. Diese ist der Alltagssprache nicht entgegen gesetzt, ist nicht ein fundamental Anderes, sondern setzt einen sekundären Rahmen des ‚Als-ob‘ um die „Alltagssprache“, innerhalb dessen die primären Rahmen kommunizier-, verhandel- und erweiterbar werden, sodass die Chance besteht, die Alltagssprache nachhaltig zu verändern. Bezeichnenderweise nutzt Cécile ihre innerhalb des sekundären Spielrahmens neu gewonnene Rahmenkompetenz (ihr topos-Bewusstsein) nicht zur nachträglichen Anklage und pauschalen Gesellschaftskritik, sondern zur souveränen Formulierung ihres Wunsches, als vollgültiges Mitglied der Berliner Gesellschaft geachtet zu werden: Nun denn, die Gesellschaft hat mich in den Bann gethan, ich seh’ es, und fühl’ es, und so leb’ ich denn von der Gnade derer, die meinem Hause die Ehre anthun. Und jeden Tag kann diese Gnade zurückgezogen werden, selbst von Leuten wie Rossow und der Baronin. Ich habe nicht den Anspruch, den andre haben. Ich will ihn aber wieder haben […]. (C 202, Hervorh. im Original)

Das kann nun nicht als bloße Bekehrung „zu einer ‚richtigen‘ ideologischen Position“, also zu totaler gesellschaftlicher Konformität gelesen werden.341 Viel339 Vgl. sie selbst zu ihrem vorherigen Wirklichkeitsverständnis: „Denn die großen Fragen interessiren [sic] mich nicht, und ich nehme das Leben, auch jetzt noch, am liebsten als ein Bilderbuch, um darin zu blättern.“ (C 185) 340 Vgl. die bereits oben zitierte Erläuterung Batesons: „Im Primärprozeß werden Karte und Territorium gleichgesetzt; im Sekundärprozeß können sie unterschieden werden. Im Spiel werden sie sowohl gleichgesetzt als auch unterschieden.“ (Bateson, Spiel, S. 251). 341 Das sieht auch Thomé so, der zudem darlegt, dass Fontane in einer Theaterkritik zu Ibsens Die Fau vom Meere gerade gegen eine solche Lösung argumentiert: Ibsen habe, so Thomés Reformulierung von Fontanes Kritik, in seinem Stück „das psychotherapeutische Problem mit der Demonstration seiner Ehedoktrin konfundiert“ und sei „dadurch zu dem Irrtum verführt [worden], die Neurose lasse sich durch die Veränderung von Überzeugungen hin zu einer ‚rich-

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mehr impliziert Céciles Wunsch, Gordon möge weiterhin an der im gemeinsamen paradoxen Spielrahmen erwanderten Sprache festhalten, die Herausforderung, mit ihr wie in den „Tagen des Glücks“ eine paradoxe Erweiterung der „Alltagssprache“ und also der sozialen Topik der Berliner Gesellschaft zu realisieren – eine Erweiterung, in der ein Drittes vorstell- und lebbar ist zwischen der ‚Fürstengeliebte‘ als gefallener Frau, der gegenüber jeder Mann sein sexuelles Begehren offen zeigen und auf Erfüllung hoffen kann, und ‚gesitteter Ehefrau‘, die auf keinerlei außereheliche Huldigungen aus sein darf. Mit Bateson formuliert, möchte sie mit Gordon weiterhin die Realität und Nicht-Realität des sozialen Rahmens ‚Liebesbeziehung‘ leben, d. h. Gordons Huldigungen sollen metakommunikative und im logischen Sinn paradoxe Mitteilungen sein wie: ‚Meine spielerischen Huldigungen (die Besuche/Liebesbriefe) bezeichnen ein Liebeswerben, aber sie bezeichnen nicht, was durch das Liebeswerben bezeichnet würde (die Hoffnung auf Erfüllung)‘.342

2.8 Melodramatischer ‚Glückswechsel‘ und kontingentes Erzählende Das Aufrechterhalten des gemeinsam ertanzten Spielrahmens aber gelingt Gordon unter dem Eindruck von Céciles Vorgeschichte nicht mehr. Mit dem Erhalt des Briefs befindet er: „Nun klärt sich alles …“ (C 178). Und, nachdem er noch einige Male kurz von Zweifeln eingeholt wird, lässt er nach Céciles Appell seine arabeske Lektüre, die eine heterogene Vielfalt von wahrscheinlichen Rahmen für Cécile ermittelte, in ihr groteskes Gegenteil, in Céciles Fixierung auf einen einzigen stereotypen Rahmen, umschlagen, wenn er ihr entgegnet: „Daß wir uns Beide getäuscht haben … Wir bleiben unserer Natur getreu, das ist unsre einzige Treue … Sie gehören dem Augenblick an und wechseln mit ihm. Und wer den Augenblick hat …“ (C 203, Hervorh. im Original)

tigen‘ ideologischen Position heilen. Dagegen ergibt sich konsequenterweise aus Fontanes Konzept vom pathogenen Antagonismus der emotionsgeladenen Wünsche die Unwirksamkeit von bloßen Bewußtseinsakten, eben weil diese keine realen Bedürfnisse befriedigen. Der Patient kann nur dadurch gesunden, daß sich seine Lebenswelt verändert und nicht einfach dadurch, daß diese nur anders interpretiert wird.“ (Thomé, Autonomes Ich, S. 355). 342 Bateson hatte, wie gesehen, die metakommunikativen und im logischen Sinn paradoxen Mitteilungen, die den beteiligten Individuen das Spiel als solches erkennbar machen, im Blick auf das Spiel von Tieren so erläutert: „Das spielerische Zwicken bezeichnet den Biß, aber es bezeichnet nicht, was durch den Biß bezeichnet würde.“ (Vgl. Bateson, Spiel, S. 244). Thomé versteht entsprechend die von Cécile erbetene „Begrenzung der Huldigung“ als ein „Surrogat des Liebesglücks, das so aber wenigstens nicht gegen die Sitte verstößt“, wobei dieses Surrogat nur funktioniert, wenn die Huldigungen „von einem erotisch nachhaltig affizierten Mann ausgehen.“ (Thomé, Autonomes Ich, S. 375).

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Dass Gordon hier das ‚Glück der Berliner Tage‘ als ‚Täuschung‘ distanziert und Céciles ‚wahre‘ „Natur“ auf Untreue und sexuelle Freizügigkeit, also den herkömmlichen sozialen Rahmen ‚Fürstengeliebte‘ festlegt, ist im Anschluss an Céciles metakommunikativen Appell als einseitige Aufkündigung des zwischen ihnen etablierten Spiel-(Tanz-)Rahmens lesbar, der eine ‚evolutionäre‘ Erweiterung der ‚Alltagssprache‘, der bisherigen soziokulturellen Topik, realisiert hatte. Gordon agiert wie ein Therapeut, der den ‚Als-ob‘-Rahmen der Therapie irgendwann zusammenbrechen lässt, um die bis dahin ‚übertragene‘ Liebe als wirkliche Liebe ausleben zu können – sei es, weil die eigenen sexuellen Wünsche überhand nehmen, sei es, weil er das Mündigwerden der Patientin als Machtverlust empfindet.343 Solche Aufkündigung des sekundären ‚Als-ob‘-Rahmens durch Gordon macht Fontanes Text zusätzlich dadurch sinnfällig, dass Gordon nach dem Erhalt des schwesterlichen Briefes nicht mehr durch Fensterrahmen blickt, wenn er seine Erlebnisse und Erfahrungen mit Cécile Revue passieren lässt (vgl. z. B. C 186 f., 188 f.). Der die spielerische Artifizialität des Rahmungsvorgangs hervorkehrende doppelte Rahmen ist aus seinem Blick verschwunden.344 Noch deutlicher ist der Zusammenbruch des ‚Als-ob‘-Rahmens dadurch herausgestellt, dass Gordons doppeltem ungebetenen Einbruch in Céciles Privatsphäre (zunächst in

343 Auch Bateson hat auf die „Labilität des Rahmens ‚Dies ist ein Spiel‘ oder ‚Dies ist ein Ritual‘“ hingewiesen. Diese Rahmen liefen aufgrund ihrer Paradoxalität immer auch Gefahr, zusammenzubrechen. Das illustriert er am Beispiel einer auf den Andamanen üblichen Friedenszeremonie, bei der „jeder Seite die zeremonielle Freiheit gegeben wurde, die andere zu schlagen“: „Die Unterscheidung zwischen Karte und Territorium kann stets zusammenbrechen und die rituellen Streiche des Friedensschlusses tendieren immer dazu, als ‚reale‘ Kampfhiebe mißverstanden zu werden. In diesem Fall wird die Friedenszeremonie zu einer Schlacht (Radcliffe-Brown).“ (Vgl. Bateson, Spiel, S. 247). Vgl. auch Thomés Aussage, dass die „Beziehungsschaukel“, die Cécile Gordon auferlege – als habe er sie nicht mitinstalliert! – den „Verehrer […] in eine prekäre und höchst instabile Situation“ bringe (Thomé, Autonomes Ich, S. 375). 344 Eine nur scheinbare Ausnahme bildet eine Szene vor dem Erhalt des Briefs, in der Gordon seinen ersten Besuch in Céciles Berliner Gartenzimmer auf einer Parkbank Revue passieren lässt und also auch nicht durch einen Rahmen blickt. Hier sieht er sie allerdings als gesunde, gewissermaßen austherapierte und des ‚Als-ob‘-Rahmens nicht mehr bedürftige „heitre, lichtvolle Frau […] die, wie tausend andere, nicht glücklich und auch nicht unglücklich ist“ (C 151). Keine Ausnahme bildet eine Szene nach Erhalt des Briefs, in der Gordon wieder durch ein Fenster blickt und im Anschluss, auf dem Hotelbalkon sitzend, Cécile einen Brief schreibt, denn hier findet er kurzfristig nochmals zum Rahmen des ‚Als-ob‘ und damit auch zum „Ton unserer glücklichen Tage“ zurück, was ihm „ein stilles Behagen wieder[gab], das er seit dem Tage, wo Clothildens Brief eintraf, nicht mehr gekannt hatte.“ (C 191) Entsprechend der semantischen Komplexität, die im sekundären Rahmen erkennbar wird, erscheint ihm Cécile hier auch wieder „wie ein hinschwindendes Nebelbild“ (C 191).

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ihre Opernloge und hernach in ihr Gartenzimmer),345 der in ihre definitive Fixierung mündet, eine signifikante Rahmenverwechslung vorausgeht: Statt im Opernhaus auf den ‚wirklichen‘ Theaterrahmen und das illusionäre Bühnenspiel zu achten, nimmt Gordon in Céciles Loge, also dem Raum ‚realer‘ Zuschauer, in dem Cécile mit dem ‚frivolen‘ (C 166), ihr aber gleichgültigen „Hausfreunde“ (C 195) Geheimrat Hedemeyer hinter ihrem Fächer tuschelt, die Performance einer bühnenreifen melodramatischen Ehebruchsgeschichte wahr und interpretiert diese als aktuelle Realität. Das veranlasst ihn dazu, selbst die Theaterrolle des eifersüchtigen Liebhabers ‚realiter‘ auszuagieren346 und ernst gemeinte Ansprüche auf die Erfüllung seiner Liebeswünsche anzumelden. Ab diesem Moment ist nunmehr der Spielrahmen des Melodrams wirksam, der auf die Verwechslung von Fakt und Fiktion zielt. Mit dieser Rahmenkonfusion kippt die bisher ereignisarme Erzählung Fontanes auf den letzten zweiundzwanzig Seiten des etwas über zweihundert Seiten langen Texts in ein wahrhaftes Melodram, das durch extreme Affektregungen, mehrfache schnelle Szenenwechsel und sich überstürzende gravierende Ereignisse wie Duell, Tod und Selbstmord bestimmt ist.347 Diesen abrupten Wechsel zwischen quasi-therapeutischem Spiel des ‚Alsob‘ und melodramatischem Durchbruch des Affekts erklärt Thomé als ein Gegeneinander zweier konträrer ‚Textebenen‘: Die erste analysiert das gesellschaftliche Schicksal des Wunsches und kann demgemäß auch eine Transformation gesellschaftlicher Mentalitäten entwerfen, in der die ‚idyllische Synthese‘ des Sinnlichen und des Sittlichen gesamtkulturell geleistet und damit auch der individuelle pathogene Konflikt ohne Rückfall in einen vorgesellschaftlich chaotischen Naturzustand aufgehoben ist. Auf der zweiten Ebene meldet sich der epochale, in Freuds Das Unbehagen in der Kultur schließlich ausformulierte Verdacht, das[s] auch eine refor-

345 Genau genommen handelt es sich um eine verdoppelte Doppelung, denn nach Erhalt des Briefes der Schwester lässt sich Gordon bereits vor dem Opernbesuch in Céciles Gartenzimmer zu eindeutigen Avancen verleiten. Diese wiederholt er an dieser späteren Stelle in gesteigerter Form: sprachlich expliziter und eben gleich zwei Mal hintereinander, zunächst im öffentlichen Raum der Oper und hernach in ihrer Privatwohnung. 346 Explizit bietet der Text mehrere Rollenvarianten für Gordon auf: Zunächst heißt es, Gordon sei im „Zweifel, ob er sich im gegebenen Moment (und der Moment mußte sich geben) lieber als ‚Böses Gewissen‘ oder als ‚Mephisto‘ geriren [sic] solle. Natürlich entschied er sich für das Letztere. Spott und superiore Witzelei waren der allein richtige Ton […].“ (C 194) Auch die Rollen des „Don Juan“ wie seines Widersachers „Masetto“ (in Anspielung auf St. Arnaud) werden evoziert (C 198). 347 Ganz anders als Gustav Freytag in Soll und Haben hält Fontane demnach nicht „den Tod aus dem Bereiche seines Romans“ fern (vgl. Kapitel III.1). Dass das gleichwohl im Sinne seines Romankonzepts arabesker Soziographie motiviert ist, sollen die folgenden Ausführungen erweisen.

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mierte Gesellschaft den pathogenen Triebverzicht erzwingen muß. […] Beiden [Cécile und Gordon, Ch. F.] kann, so scheint es, letztlich dann doch nicht ohne den Ehebruch ‚geholfen‘ werden, der die gesellschaftliche Ordnung aufheben würde. Dies aber würde heißen, daß hinter Fontanes gesellschaftskritischer Funktionalisierung der Psychopathologie die Vorstellung einer schlechthin aporetischen Kulturkonstitution auftaucht, in der Trieb und Ananke nun einmal nicht zur Deckung zu bringen sind.348

Wäre das sexuelle Begehren somit als letztlich unkontrollierbare Natur des Menschen zu verstehen, die zwar einerseits zu kulturellen Leistungen (Gordons Verstehenwollen der kulturellen Fremdheit Céciles) bis hin zur Kulturkritik anregt, diese Kulturarbeit aber beständig auch bedroht, weil zu wirklichen Abänderungen der Kultur wiederum die Unterdrückung des Begehrens notwendig ist?349 Oder zeugt Fontanes Cécile-Text von einem noch fundamentaleren Kulturpessimismus, indem er vorführt, dass der Versuch, die kulturelle Topik in Bewegung zu versetzen und zu erweitern, zwangsläufig in gewaltsamen Übergriffen, Duelltod und Selbstmord endet? Beide Lesarten mobilisieren eine kausallogische Erklärung für den „fundamental change“ 350 von Gordons Cécile-Lektüre, sehen ihn gewissermaßen durch ein kulturpessimistisches Gesetz fundiert. Dem steht entgegen, dass der Text einen erheblichen Aufwand betreibt, um diesen Wandel als kontingent und unwahrscheinlich erscheinen zu lassen. Die Unwahrscheinlichkeit des Umschlags wird zunächst dadurch betont, dass dieser selbst melodramatischen Charakter besitzt. Wie die überraschenden „rapide[n] Glückswechsel“,351 die Me-

348 Vgl. Thomé, Autonomes Ich, S. 369. Laut Thomé begegnet auch bei Freud eine ähnlich zwiespältige Einschätzung der Psychotherapie. Zunächst ihre optimistische Lesart: „Indem die therapeutische Kur den mißlungenen Bildungsprozeß wiederholt und zu einem besseren Ende bringt, humanisiert sie die Gesellschaft in zweifacher Hinsicht. Wenn sie den Kranken zu einem Kultursubjekt macht, das sich in die gemeinsame Kulturarbeit einfügen kann, beseitigt sie nicht nur individuelles Leid, sondern auch einen gesellschaftlichen Störfaktor. Zugleich kann sie in der Regel demonstrieren, daß die Kultur ihre Normen enger faßt, als es für ihre gedeihliche Konstitution erforderlich ist, so daß sich auch hier der Effekt der gesamtgesellschaftlichen Aufklärung mit der Tendenz zur Transformation von Mentalitäten und Institutionen einstellt.“ (Thomé, Autonomes Ich, S. 378) Dagegen stünden aber Freuds Zweifel, die er in Unbehagen in der Kultur formuliert, „daß auch noch die humane Kultur nicht ohne die Forderung nach einem Triebverzicht auskommt, an den die Triebwünsche nicht ohne pathogene Versagungen angepaßt werden können.“ (Thomé, Autonomes Ich, S. 378). 349 Dann ließe sich nicht nur eine Parallele zu Freuds Unbehagen in der Kultur, sondern auch zur Dialektik der Aufklärung Adornos und Horkheimers ziehen: Zugleich mit der für Cécile heilsamen Aufklärungsfunktion des topischen Spaziergangs wäre die immanente Gefährdung dieser Aufklärung durch den Triebverzicht, den sie fordert, aufgezeigt. 350 Vgl. Bowman, Allegory of Reading, S. 34. 351 Vgl. Schäfer, Menke, Eschkötter, Das Melodram, S. 14, Hervorh. im Original: „[Z]ufällig ausgelöste Geschehnisse […], die als rapide Glückswechsel erscheinen und zentrales Merkmal

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lodramen kennzeichnen, tritt er infolge eines nicht vorhersehbaren, überaus künstlich anmutenden Aufklärungsaktes ein: Der durch Zufall extrem lang ausbleibende Antwortbrief der Schwester, die zufällig eine Jugendfreundin Céciles kennt, die zufällig exakte Auskunft über Céciles gesamte dramatische Kindheit und Jugend geben kann, hat die Qualität eines deus oder vielmehr diabolus ex machina. Bowman spricht von einem „device so artificial as to be self-conscious“.352 Zudem macht die explizite Warnung der Schwester im Brief an Gordon, in seiner „durchgängerischen Gewohnheit ausnahmsweise […] das Kind nicht gleich mit dem Bade verschütten zu wollen“ (C 173), deutlich, dass es selbst aus Sicht des verbürgerlichten Adels und zumal einer seiner Vertreterinnen, die die gleiche Sozialisation wie Gordon erfahren hat, nicht nur eine mögliche Beurteilung dieser Vorgeschichte und Reaktion auf sie gibt, dass also die Macht des herkömmlichen Rahmens ‚Fürstengeliebte‘ so ungebrochen nicht mehr ist.353 Ferner arbeitet, wie auch Thomé konzediert, die auffällig umständliche Gestaltung von Gordons Rahmenüberschreitung „im doppelten Kursus“ 354 der Zwangsläufigkeit ihrer dramatischen Folgen entgegen: Sein erster „‚Antrag‘“ in Céciles Gartenzimmer bleibt dank Gordons plötzlicher beruflicher Abberufung folgenlos, und erst das zufällige Wiedersehen in der Oper führt zur definitiven doppelten Rahmenüberschreitung, die den gewaltsamen Zusammenstoß zwischen den Männern hervorruft. Damit wird nicht nur der Eindruck verhindert, „als treibe die figurale Konstellation auch ohne konkrete gesellschaftliche Implikationen notwendig auf die aggressive Konfrontation der Männer zu“,355 sondern vor allem der Eindruck, als treibe sie überhaupt notwendig auf diese

melodramatischer Dramaturgie sind“, korrelieren im Melodram mit „Steigerungen des Ausdrucks“ bzw. des „Affekts“, für die sich „gerade keine Gesetzmäßgkeit“ bestimmen lässt, „die den Zusammenhang von Reiz und Wirkung, von Ursache und Ausdruck zu erklären vermag“ (die letzten drei Zitate entstammen Schäfer, Menke, Eschkötter, Das Melodram, S. 13). 352 Vgl. Bowman, Allegory of Reading, S. 36. Auf S. 23 betont er die aus dem bisherigen Textrahmen fallende Unwahrscheinlichkeit von „[…] Klothilde’s lengthy response, in which she manages to give a fairly full biography of someone she has never met, and encloses a further letter containing details of Cécile’s upbringing which a third person, Eva Lewinsky, has provided at Klothilde’s request. The artifice here is manifest, the more so for the specious causes of the delay of several months which intervenes before Klothilde’s letter finally resolves the enigma of Cécile’s past twelve chapters later.“ 353 Thomé, Autonomes Ich, S. 375, liest hier Fontanes Text zuwider: „Die Eifersucht, die ihn dabei treibt, ist nicht nur in der schwülen Atmosphäre der gründerzeitlichen Wagnerschwärmerei lokalisiert, sondern stützt sich obendrein nicht nur auf die Wahrnehmung der hysterischen sexuellen Bedürftigkeit, sondern auf deren böswillige Verdächtigung, die allein das gesellschaftliche Vorurteil zur Rechtfertigung hat.“ 354 Thomé, Autonomes Ich, S. 375. 355 Thomé, Autonomes Ich, S. 375.

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Konfrontation zu. Schließlich kann die urplötzliche und unwahrscheinliche Entdeckung der melodramatischen Geschichte ‚hinter‘ Céciles Erscheinung nicht die Eindrücklichkeit der voran gegangenen langsamen, auf genaueste Differenzen achtenden Lektüre auslöschen. Sie denunziert Gordons plötzlichen Sinneswandel als gewaltsamen Identifikationsakt „despite clear evidence to the contrary“.356 Im Gegenzug ist so die während des Harzspaziergangs vollzogene topisch-arabeske Cécile-Lektüre als die wahrscheinlichere aufgewertet. Mit Barthes könnte man sagen, dass Gordon in dieser ersten Phase seiner inventio eine ‚schreibbare‘ Cécile-Romantextura produziert, also einen Text, der als stets fortsetzbare ‚Strukturation‘ zu verstehen ist und deshalb bewegliche Einzigartigkeit hervorbringt; seine Festlegung Céciles auf die untreue Fürstengeliebte zum Schluss jedoch nur eine ‚lesbare‘, d. h. vielfach ‚schon gesehene, -gehörte oder gelesene‘ Text-‚Struktur‘.357 Die melodramatische Wendung verweist als a-mimetischer Kunstgriff folglich vor allem auf die Fragwürdigkeit solcher ‚erlesener‘ Kausalzusammenhänge.358 Mit diesem Kunstgriff variiert und steigert Fontanes Text einen gattungstypischen Effekt des Melodrams, der sich gleichfalls einer spezifischen Verknüpfung von Tanz (oder Gesang, Pantomime etc.) und gesellschaftlicher Topik verdankt: Im Melodram haben eingeschobene, mit dem dramatischen plot zumeist nur lose verbundene Tanz- und Musikszenen die Funktion der Affektsteigerung und führen typischerweise, indem sie einen psychologisch nicht mehr erklärbaren Exzess der Leidenschaften in Szene setzen, die kausalpsychologische Logik des Dramenplots ad absurdum.359 Diese bleibt nachhaltig gestört, selbst wenn am Ende die herkömmlichen gesellschaftlichen Grenzziehungen, die der Exzess

356 So auch Bowman in „Theodor Fontane’s Cécile: An Allegory of Reading“, S. 33, der dann aber in seinem Fazit das Hauptübel gerade in Gordons Einordnungsbemühungen während des Harzspaziergangs ausmacht, die ihm zu dieser „clear evidence“ erst verholfen haben. 357 Die Geschichte des von ihm eingeforderten Ehebruchs ist ungleich stereotyper als Céciles Vorgeschichte, denn die Vergangenheit als Fürstengeliebte als Grund für eine Mesalliance ist am Ende des 19. Jahrhunderts so üblich nicht mehr. 358 Vor dem Hintergrund, dass Gordons topische textura-Produktion im paradoxen SpielRahmen des Contretanzes die ‚befreiende‘ Integration und psychische Heilung von Cécile bewirkt, muss Gordons Festlegung von ihr umso mehr als eine gewaltsame, willkürliche, d. h. seiner (und des Lesers) Erfahrungen mit Cécile widersprechende erscheinen, kurz: als groteske Kontrafaktur dessen, was z. B. Julian Schmidt als anzustrebende, dem Drama abzuschauende „Intrige“ vorgeschrieben hat: eine solche nämlich, die „klar und verständlich exponiert, in übersichtlicher Gliederung und in fortschreitender Spannung weitergeführt und zu einem Knoten vereinigt werde[ ], der schließlich eine Lösung findet“ im Sinne eines „notwendige[n] und einheitliche[n] Ineinandergreifen[s] von Ursache und Wirkung“ (s. o. Kapitel III.1.1). 359 Vgl. Schäfer, Menke, Eschkötter, Melodram, S. 10, S. 12 und S. 14 f.

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als überschreitbare sichtbar gemacht hat, wieder – gewissermaßen als Bestrafung und Eindämmung solcher Exzessivität – restituiert werden. Auch in Cécile zerdehnt der umwegig-arabeske Contretanz die anfangs nahegelegte Erkenntnisstruktur des „analytischen Drama[s]“ oder „Detektivroman[s]“ 360 und macht zugleich die Grenzziehungen der sozialen Topik als erweiterbare sichtbar (verstehbar). Doch wird in Cécile gerade im Rahmen des Tanzes eine „Transformation“ gesellschaftlicher „Mentalitäten“ 361 erfahren, dank derer der verstärkte Affektwunsch der hysterischen Frau wie ihres Verehrers konfliktfrei ausgelebt werden können. Gordons plötzlicher Exzess der Leidenschaft seinerseits ist mit logischer Notwendigkeit weder aus der entdeckten (melo)dramatischen Geschichte ‚hinter‘ Cécile noch aus dem Tanzgeschehen abzuleiten. Vielmehr beendet der Exzess das theatrale, dem dramatischen plot zuwider laufende Tanzgeschehen und verhindert dadurch, dass ein Drittes zwischen ‚Fürstengeliebte‘ und ‚Ehefrau‘ zu einem neuen sozialen Rahmen der Alltagssprache, also ‚Realität‘ wird. Gordons Exzess der Leidenschaften steht damit aber ausgerechnet – anders als Thomé konstatiert – nicht für gesellschaftliche Anarchie, sondern im Dienst der herkömmlichen (allerdings bereits anachronistischen) gesellschaftlichen Ordnung. Denn nur bei der weiterhin als ‚Fürstengeliebte‘ ausgegrenzten Cécile kann sein exzessives Begehren Erfüllung finden.362 Das bringt Cécile auf den Punkt, wenn sie Gordon abspricht, aus „Eifersucht“ zu handeln, die echte Zuneigung verrate, und stattdessen „Sittenrichterei“ zu betreiben, um ihre „Lebensgeschichte“ zu perpetuieren und sein Begehren ausleben zu können: „[…] Eifersucht ist etwas Verbindliches, Eifersucht schmeichelt uns, Sie aber sind eifersüchtig aus Ueberheblichkeit und Sittenrichterei. Da liegt es. Sie haben eines schönen Tages die Lebensgeschichte des armen Fräuleins von Zacha gehört, und diese Lebensgeschichte können Sie nicht mehr vergessen.“ (C 202, Hervorh. im Original)

Einer vergleichbaren Perpetuierung, also dem reduktiven Festzurren der im Contretanz invenierten verwickelten und beweglichen Cécile-textura zu einem festen Knoten verweigert sich aber Fontanes Romantextura. Mit dem Moment nämlich, in dem Gordon als nur noch Handelnder und nicht mehr reflektierender Beobachter in die melodramatischen Ereignisse involviert ist, werden diese nicht mehr erzählt, sondern durch kommentarlos hintereinander geschaltete

360 Heuser, Fontanes Cécile, S. 42 und S. 41 bzw. S. 55. 361 Thomé, Autonomes Ich, S. 378. 362 Gordons Ehebruchs-Angebot führt zwar zur Zerstörung der neu konstituierten Gruppe (löscht sie aus), aber gerade nicht der (veralteten) gesellschaftlichen Ordnung, die auch Dzialinski verteidigte.

2 Erzählerische Inszenierung topisch-arabesker Romanproduktion in Cécile

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Briefe und einen Zeitungsartikel kommuniziert, der journalistischen Rubriken wie den faits divers oder ‚Nachrichten aus der Gesellschaft‘ zuzuordnen wäre. Fontanes Erzähler ‚hinter‘ Gordon, der diesem seit der Harzer Balkonszene die narrative Perspektivierung der Person und Geschichte Céciles weitgehend überlassen hat und dessen Reaktivierung nach Gordons Weggang zu erwarten ist, zieht sich gänzlich zurück und lässt, statt die Verknotung mitzuvollziehen, Gordons textura in unverbundene Schriftstücke ‚ausfransen‘, löst sie in einzelne ‚Fäden‘ auf, die, vermittelt über die Zeitung und den gesellschaftlichen Tratsch, wiederum in die Zirkulation gesellschaftlich-öffentlicher Kommunikation eingehen und dort erneut aufgegriffen und verwickelt und verwebt werden können. Aus dem öffentlichen Wissens- und Stoff-Fundus seiner Zeit hatte Fontane nach eigenen Angaben selbst Anregungen zu Cécile durch einen „Fall Eulenburg“ erhalten, der ihm anlässlich eines Diners erzählt worden sei und den er in seinem Tagebuch ausführlich nachzeichnet.363 Wenn Fontanes Text durch diesen Übergang vom Erzählen zum (journalistischen) Dokumentieren die Über- oder Rückgabe von Céciles Geschichte in die Zirkulation öffentlichen Wissens suggeriert und mit seiner melodramatischen (Um-)Wendung die Kontingenz ihres gewaltsamen Endes betont, so eröffnet er die Denkmöglichkeit, die quaestio Cécile könne in einem nachfolgenden (Feuilleton-)Roman eine neuerliche Lektüre und andere ‚Lösung‘ erfahren. Die Herausstellung des Zufälligen in Cécile gibt allerdings weder Anlass zur Vermutung, dass eine neuerliche Lektüre positiver ausfallen, noch dass sie ebenfalls negativ ausfallen müsse. Einzig lässt sich festhalten, dass Fontanes Cécile-Text die Leistung eines realistischen Romans in der arabesk-mäandernden Zeichnung von Charakteren sieht, deren sozio-kulturelle Fremdheit die herkömmlichen sozialen Rahmen und damit die kulturelle Topik einer Gesellschaft herauszufordern, bewusst zu machen und in Bewegung zu versetzen erlaubt. Distanziert wird hingegen ein Erzählen von ereignisreichen plots, deren Lektüre stets Gefahr läuft, Rahmen als invariante Stereotypen zu wiederholen.364 363 Vgl. den Kommentar zum „Stoff“ des Cécile-Romans auf den S. 219 ff. der hier durchgängig zitierten Cécile-Ausgabe. 364 Nicht der qua Brief entdeckte melodramatische plot ‚hinter‘ der sichtbaren Oberfläche Céciles ist ihre erzählbare Geschichte, auf die es im realistischen Roman ankommt. Dessen textura soll vielmehr eine Heterogenes kombinierende und dieses in seiner Differenz überschaubar machende arabeske Charakteristik realisieren, die auf die sichtbare Oberfläche Céciles bezogen bleibt. Schon Mittenzwei (dies., Sprache, S. 82) hat auf die romanpoetologische Bedeutung der überdehnten „Quedlinburger Lokalbeschreibung“ für „diesen Roman eines ‚Romans‘“ hingewiesen, „der nicht die Geschichte erzählt, die er durchaus noch im Sinn hat, sondern der das Bild, das er durch sie geben will, dadurch konstituiert, daß er es der gesprochenen Sprache überläßt und diese, im wörtlichen Sinne, am Werk zeigt. […] Die Gespräche bilden nicht mehr kritische Aussichtspunkte ‚neben dem Wege‘ [der ‚geraden Straße‘ eines

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III ‚Reizende und verschlungene‘ Soziographien – Cécile

Der realistische Roman, der an der Oberfläche des Cécile-Texts entworfen und nicht nur ‚dahinter‘ oder ‚danach‘ zu vermuten ist,365 stellt sich folglich dar als ein ‚sonntäglicher‘ und also paradoxer Rahmen des ‚Als-ob‘, innerhalb dessen Leser und Leserin wechselvolle Wege der Lektüre geboten werden – topische Um-Wege der Lektüre, die ihnen Rahmenkompetenzen für das Erkennen und Beweglichhalten der sozialen Rahmen ihrer Alltagskultur vermitteln und die im selben Zuge die Vorstellung eines restlosen Verstehen-Könnens und -Müssens von (Vor-)Geschichten und „definiten Selbst[-]“ 366 wie Fremdbildern als kultur- und lebensbedrohlichen Mythos entlarven.

plots] oder darüber, sie be- und zerreden den Weg auch nicht mehr; sie sind der Weg.“ (Hervorh. im Original) Auch die gesellschaftspolitische Relevanz dieser Gespräche arbeitet Mittenzwei heraus. Verborgen bleiben ihr aber der topische Charakter der „Aussichtspunkte“ und der dort versammelten Dinge, auf deren Materialität die Gespräche angewiesen sind, sowie die Kennzeichnung der Lokale als arabeske Schau-Plätze und damit die Bezugnahmen des Texts auf die arabeske Romanpoetik. Indirekt bestätigt Mittenzwei diese aber, denn die ‚Emanzipation‘ der Lokalbesprechung „in ‚Längen und Breiten‘ von der interessanten Fabel im konventionellen Sinne“ stellt für sie eine Verkehrung von „herkömmlicherweise Wichtige[m]“ mit „anscheinend Unwichtige[m]“, von „Nebensachen“ und „Hauptsachen“ dar. 365 Anders als Hans Vilmar Geppert das generell für den europäischen realistischen Roman veranschlagt, führt Fontanes Cécile-Text also die Möglichkeit eines positiven und prozessualen Umgangs mit gesellschaftlichen (Be-)Deutungen, „a plausible ‚human reality‘“, innerhalb der Diegese selbst vor und entwirft ihn nicht bloß als utopisches Fernziel jenseits des Texts, als „an idea for a possible future, transcending the plot“. Vgl. Geppert, ‚A Cluster of Signs‘ Semiotic Micrologies in Nineteenth-Century Realism: Madame Bovary, Middlemarch, Effi Briest. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 73:3 (1998), S. 239–250, hier S. 250 und S. 249. 366 Der Grund allen Übels liegt also nicht, wie Thomé folgert, in der Unmöglichkeit für Cécile (und ihre Umwelt), zu einem „definiten Selbstverständnis“ zu gelangen (vgl. Thomé, Autonomes Ich, S. 363). Genau entgegengesetzt signalisiert die Kombination aus Harzspaziergang und melodramatischem, d. h. Kontingenz betonendem Umschlag, dass das fatale Ende durch die Vorstellung Gordons motiviert ist, dank der entdeckten Vorgeschichte nun zu einem ‚definiten Verständnis‘ Céciles gelangt zu sein.

IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“: topische Reflexion biographischer inventio in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs „Ich glaube, das ist’s! – Oder doch ähnlich so.“ Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs

1896 erscheinen Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs.1 Obschon unmittelbar vor der Jahrhundertwende entstanden, rechnet die Raabe-Forschung diesen Text nicht dem Naturalismus oder der Dekadenzliteratur2 zu, sondern mehrheitlich noch dem „poetischen“ bzw. „bürgerlichen Realismus“.3 Erzählte ‚Realität‘ und zumal eine bürgerliche steht in Raabes Akten in der Tat zur Disposition. Denn wie Fontanes Cécile präsentiert und problematisiert auch dieser literarische Text die Produktion einer ‚wahren‘ (A 304, 312) Geschichte, einer Geschichte also, die auf ein innerfiktional faktuales Geschehen referieren soll. Und ebenso wie in Cécile führt die Arbeit an dieser ‚realen‘ Geschichte ihren fiktiven Produzenten dazu, mehr oder weniger freiwillig die Grenzen bürgerlicher Identität, wenn nicht sozialer Identität überhaupt, auszuloten: Raabes Ich-Erzähler Karl Krumhardt, ein arrivierter Jurist im fortgeschrittenen Alter, hat von seiner ehemaligen Jugendfreundin Helene Trotzendorff einen Brief erhalten, der ihn über Tod und Begräbnis des gemeinsamen Nachbarjungen und engen Freunds Velten Andres unterrichtet. Spontan fasst Krumhardt den Entschluss, gleich am Folgetag nach Berlin zu reisen und Helene, die Veltens große Liebe war, in dessen leerem Sterbezimmer aufzusuchen. Statt aber von dieser Reise zu erzählen, unternimmt es Krumhardt im Folgenden, die Geschichte des Sonderlings Velten und damit auch die eigene Kindheit und Jugend im Vorstadtviertel „‚Zum Vogelsang‘“ (A 219), ihre gemeinsame Studienzeit in Berlin sowie ihr aller Weggang aus dem Vogelsang zu rekonstruieren und schriftlich zu fixieren. Erst gegen Ende des Texts kommt Krumhardt auf das Wiedersehen mit Helene in Berlin zu

1 Raabes Text wird zitiert nach Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs. In: Sämtliche Werke, BA, Bd. 19, hg. v. Karl Hoppe, Göttingen 1970, S. 211–408; im Folgenden nachgewiesen mit Sigle A und Seitenzahlen. 2 Vgl. Florian Krobb, ‚kurios anders‘. Dekadenzmotive in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 51 (2010), S. 107–123. 3 Zur Bestimmung und Problematisierung beider Begriffe vgl. Ort, Was ist Realismus? S. 21 f. https://doi.org/10.1515/9783110572919-004

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

sprechen, und man erfährt, dass sie ihm die narrative Vermittlung und schriftliche Bewahrung der gemeinsamen Vergangenheit nahegelegt hat: „[…] gehe heim zu deiner lieben Frau und deinen lieben Kindern und erzähle den letzteren zu ihrer Warnung von Helene Trotzendorff und Velten Andres, und wie sie frei von allem Erdeneigentum ein trübselig Ende nahmen. Schreib in recht nüchterner Prosa, wenn du es ihnen, der bessern Dauer wegen, zu Papier bringen willst, […].“ (A 403 f.)4

Dem Folge zu leisten, bereitet Krumhardt jedoch Mühe. Von vornherein präsentiert er das aktualisierte Geschehen der Vergangenheit nicht in einer stringent fortlaufenden Narration, sondern in einer Reihe typographisch wie erzähllogisch deutlich voneinander abgesetzter Erzählstücke.5 Angesichts abrupter „Rückblenden und Vorgriffe, Abschweifungen und Arretierungen“ 6 folgen diese Erzählstücke nur sehr bedingt der Chronologie von Kindheit, Jugend und Alter. Auch thematisieren sie nicht nur die engere Vergangenheit von Velten und Helene, sondern konfrontieren den Leser zumeist ohne Ein- oder Überleitungen mit Porträts der Bewohner des alten Vogelsangs, mit Dialogszenen aus der Vergangenheit, die das nachbarschaftliche Miteinander dokumentieren, sowie mit der unvermittelten Wiedergabe ganzer Briefe oder langer Monologe der ehemaligen Nachbarn. Aus diesen Erzählstücken kann der Leser nach und nach entnehmen, dass es dem außergewöhnlich begabten und unkonventionellen Velten nicht gelingt, seine Liebe zu Helene zu realisieren, die mit ihren zu Reichtum gekommenen Eltern nach Amerika auswandert und dort heiratet. In der Folge verbrennt und verschenkt Velten sein Erbe im Vogelsang, reist Helene jahrelang durch die Welt nach und zieht sich, lebensmüde geworden, schließlich in sein altes Studentenzimmer in Berlin zurück, wo er bald darauf stirbt. Karl hingegen schlägt erfolgreich eine juristische Karriere ein, gründet eine Familie, verlässt den Vogelsang, der zunehmend vom Industriegürtel der zur Großstadt anwach-

4 Drei weitere Nachbarn des Vogelsangs erteilen Krumhardt ebenfalls Schreibaufträge, an denen er sich allerdings nicht in einem vergleichbaren Maße abarbeitet. Vgl. dazu Anja-Simone Michalski, Die heile Familie. Geschichten vom Mythos in Recht und Literatur, Berlin, Boston 2015, S. 164 f. 5 Typographisch sind die Erzählstücke durch Absätze von einander getrennt, die zusätzlich mit Sternchen versehen sind. Diese markieren nicht etwa die Einschnitte, die der Text durch seine Veröffentlichung als Fortsetzungsroman in der Deutschen Roman-Zeitung 1895 erfahren hat, sondern erzähllogisch motivierte Bruchstellen. Näheres hierzu vgl. unten Kapitel IV.2 und IV.7. 6 Wolfgang Preisendanz, Nachwort. In: Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs, Stuttgart 1976/1988, S. 225–240, hier S. 228. Vgl. auch Preisendanz’ überarbeitete Version dieses Nachworts in ders., Die Erzählstruktur als Bedeutungskomplex der Akten des Vogelsangs. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 22 (1981), S. 210–224.

1 Erzählte Aktenlektüre als Szene der inventio

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senden Residenz absorbiert wird, und lebt als „Oberregierungsrat“ 7 mit Frau und Kindern im Zentrum der Stadt. Im Blick auf die erzählte Zeit ist es demnach zunächst nur Veltens Lebensweg, der an und über die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft und des Sozialen überhaupt hinaus führt und schließlich in totale Lebensverneinung mündet. Im Blick auf die Erzählzeit erweist sich aber auch Krumhardts soziale Position als eine prekäre. Das belegen insbesondere seine Mühen bei der Geschichtsrekonstruktion.

1 Erzählte Aktenlektüre als Szene der inventio Diese Mühen sind Krumhardts Narration nicht nur aufgrund der Bruchstückhaftigkeit der Erzählung und der Vielfältigkeit des Erzählten anzumerken. Parallel zu den rekonstruierten Vergangenheitsmomenten bringt er regelmäßig den Rekonstruktionsprozess als einen problematischen zur Sprache: Von Beginn an setzt nahezu jedes Erzählstück nicht in der erzählten Zeit, sondern der Erzählzeit ein und zeigt Krumhardt an seinem Schreibtisch, wie er sein Tun oder das im vorangegangenen Textabschnitt Präsentierte kritisch kommentiert. Zwar nehmen diese Selbstkommentare nicht viel Raum in Krumhardts Erzählung ein, doch werden sie gerade durch ihre regelmäßige Positionierung am Rand der Erzählstücke strukturell hervorgehoben. Damit rückt immer wieder der Rekonstruktionsprozess insgesamt in den Vordergrund und das rekonstruierte Geschehen in den Hintergrund. Krumhardts brüchige Vogelsanggeschichte, von ihm selbst als die „Akten des Vogelsangs“ (A 216, 404, 408) bezeichnet, liefert die Szene ihrer Entstehung also gleich mit. Dass das Erzählen in diesem Text problematisch erscheint, ist in der RaabeForschung hinlänglich bekannt.8 Kaum beachtet wurde gleichwohl, dass Raabe

7 Vgl. A 213, 219, 227. 8 Vgl. u. a. Preisendanz, Nachwort, S. 228 ff.; Wieland Zirbs, Strukturen des Erzählens. Studien zum Spätwerk Wilhelm Raabes, Frankfurt am Main et al. 1986, S. 137–152; Irmgard Roebling, Wilhelm Raabes doppelte Buchführung. Paradigma einer Spaltung, Tübingen 1988, v. a. S. 107 f. und S. 157 ff.; Berndt, Anamnesis, S. 323 ff.; Oliver Fischer, Ins Leben geschrieben – Zäsuren und Revisionen. Poetik privater Geschichte bei Adalbert Stifter und Wilhelm Raabe, Würzburg 1999, S. 280 ff.; Sigrid Thielking, Sonderbare Aktenstücke. Inszenierte Verschriftlichung bei Wilhelm Raabe. In: Zeitschrift für Germanistik II, N.F., 12 (2002), S. 25–35, hier v. a. S. 28 ff.; Nathali Jückstock, Zitierend die Welt deuten. Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs. In: Holger Helbig, Bettina Knauer und Gunnar Och (Hg.), Hermenautik – Hermeneutik, Würzburg 1996, S. 179–189; Dies., Ich-Erzählen. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes Realismus, Göttingen 2004, v. a. S. 277 f.; Sandra Krebs, Identitätskonstitution in Wilhelm Raabes IchRomanen. Ich-Spiegelungen und Erzählprozeß, Hamburg 2009; Brahim Moussa, Heterotopien

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

die erzählte Entstehungsszene in erster Linie als Lektüreszene und genauer als Szene der inventio, der Stoffermittlung durch Aktenlektüre, entwirft 9 – als Szene nämlich, in der Krumhardt sich zumeist als Leser von Schriftstücken präsentiert, die vor ihm liegen und die er darauf hin studiert, was und wie sie etwas zu Veltens Geschichte beitragen können: Mehrfach holt er alte Briefe hervor, um sie noch einmal zu lesen und für den Leser als ganze zu zitieren (A 213 f., im poetischen Realismus. Andere Räume, andere Texte, Bielefeld 2012, S. 144 ff.; Moser, Bild der Zeit, S. 270 ff. und S. 292 ff.; Nicolas Pethes, Normalität des Falls. Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896). In: Ders., Literarische Fallgeschichten. Zur Poetik einer epistemischen Schreibweise, Konstanz 2016, S. 161–179, hier S. 167 f. 9 Zumeist wird darauf verwiesen, dass Erzähler Krumhardt dem Leser seinen Schreibprozess vor Augen führt. Dass sich Krumhardt in erster Linie als Lesender erzählt, wird nur en passant in Berndt, Anamnesis, S. 317, und Thielking, Aktenstücke, S. 25 f., erwähnt: Berndt sieht in den Akten „weniger die Biographie“, „als vielmehr das Lektüre-Protokoll“, bezieht sich damit aber nicht auf die Krumhardt vorliegenden Notate, sondern auf die vielen bildungsbürgerlichen Lesefrüchte aus Philosopie- und Literaturtradition, die er in seinen „Akten“ versammelt. Thielking erwähnt summarisch die „Prozesse von Erinnern und Niederschreiben, Wiederlesen und ordnendem Zusammenstellen“. Unbemerkt geblieben ist aber auch in diesen Arbeiten Krumhardts explizites Ringen mit dem Problem der Stoff-Auswahl. Sein Schreiben verharrt demnach im ersten vorbereitenden Schritt, dem der Stoff-Findung durch Aktenlektüre. Der Fokus verschiebt sich vom Schreibprozess auf den des Auf-Lesens des Stoffes, der schreibend verarbeitet werden soll. Gleichwohl ist es lohnenswert, die v. a. von Rüdiger Campe und Martin Stingelin angeregten Forschungen zur „Schreibszene“ bzw. zur „Schreib-Szene“, in der das Schreiben als sprachlicher, instrumenteller und körperlicher Akt problematisch erscheint, zu beachten, weil auch sie das ‚Schreiben‘ u. a. als ein „sich selber lesen“ mitbedenken. Vgl. hierzu v. a. Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti (Hg.), ‚Schreiben heißt: sich selber lesen‘. Schreibszenen als Selbstlektüren, München 2008, und Sandro Zanetti, Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur. In: Uwe Wirth (Hg.), Logiken und Praktiken der Kulturforschung, Berlin 2009, S. 75–88. (Zur Schreibszene allgemein vgl. Rüdiger Campe, Die Schreibszene, Schreiben. In: Sandro Zanetti (Hg.), Schreiben als Kulturtechnik, Berlin 2012, S. 269–282, und Martin Stingelin, ‚Schreiben‘. Einleitung. In: Ders. (Hg.) in Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti, ‚Mir ekelt vor diesem tintenkleksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004, S. 7–21). Indem Raabes Akten derart vor allem das Verhältnis von biographischem Schreibverfahren und inventio, „Schreibprozess und Erfindungsgabe“, problematisiert, bietet der Text eine „Konstellation[ ]“ auf, die laut Zanetti „nach wie vor am wenigsten erforscht[ ]“ ist (vgl. Zanetti, Logiken und Praktiken der Schreibkultur, S. 86). Anschaulich macht Raabes Text zudem, dass der Schreibprozess und das schreibende ‚Selbst‘ nie in actu, sondern nur nachträglich in Unterbrechungen des Prozesses, im lesenden Nachvollzug reflektiert werden können (vgl. Giuriato, Stingelin, Zanetti, Einleitung. In: Dies. (Hg.), Selbstlektüren, S. 9–17, hier S. 15 und S. 17). Im Blick auf den Zitat-Charakter des versammelten Stoffes schließlich (s. u. Kapitel IV.3) lassen sich Parallelen zur fiktiven Herausgeber-Szene bei Jean Paul beobachten, in der die Autoridentität dank redigierender Lektüre erzeugt wird (vgl. Uwe Wirth, Die Schreib-Szene als EditionsSzene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls ‚Leben Fibels‘. In: Stingelin (Hg.), ‚Mir ekelt vor diesem tintenkleksenden Säkulum‘, S. 156–174).

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263 ff., 325 ff.). Auch auf andere, nicht näher bestimmte Dokumente, die ihm aus der Zeit geblieben sind, bezieht er sich, wenn er Daten zum alten Vogelsang liefert: „Aktenmäßig kann ich es leider bezeugen, daß er, Velten Andres, wirklich beim Maturitätsexamen durchfiel […]“ (A 262), und „[w]ie gesagt, ich habe wenig über diese Zeit in den Akten, was Velten und Helene anbetrifft.“ (A 268). Zwar thematisieren mehrere Selbstkommentare Krumhardts auch den Schreibprozess im engen Sinn, evozieren das handschriftliche Notat von Wörtern auf Papier mit Federhalter und Tinte wie seine Rede vom „Manuskript“ und Sätze wie „Schreibe ich übrigens denn nicht […] diese Blätter voll […]“ (A 318) oder auch der folgende Passus: Ich nehme wieder einmal über diesen Blättern die Stirn zwischen beide Hände und wundere mich von neuem und suche es mir zurechtzulegen, weshalb und warum in dieser Weise ich sie nun schon durch so manche lange winterliche Nacht mit solchen Zeichen und Bildern fülle. (A 357 f.)

Diese Beispiele zeigen aber nur umso deutlicher, dass Krumhardts Schreibwerkzeug in den Momenten der Selbstreflexion ruht und sich diese Reflexion im Modus der Lektüre und Relektüre vollzieht: Krumhardt legt hier Schreibpausen ein, in denen er das soeben Verfasste rekapituliert, es noch einmal liest. An einer Stelle kennzeichnet er denn auch alle Überlegungen zu seiner Geschichtsrekonstruktion pauschal als Unterbrechungen seiner Schreibtätigkeit im engen Sinn: Ich werde mir die möglichste Mühe geben, nur als Protokollist des Falls aufzutreten. Wenn ich dann und wann an dem Federhalter nage, meiner Privatgefühle, Stimmungen, Meinungen und so weiter wegen, so bitte ich die geehrten Herren und Damen auf dem Richterstuhle des Erdenlebens, hier, in Sachen Trotzendorff gegen Andres, oder Velten Andres contra Witwe Mungo, nicht darauf zu achten. (A 220)

Wer „am Federhalter nag[t]“, kann nicht zugleich Schriftzeichen auf das Papier setzen. Die hier behauptete Nicht-Schriftlichkeit und Abtrennbarkeit der Selbstkommentare („Privatgefühle, Stimmungen, Meinungen“) vom eigentlichen Vergangenheitsbericht (‚Protokoll‘) konterkariert Krumhardt aber selbst. Seine Bitte an seine Leser („die geehrten Herren und Damen auf dem Richterstuhle des Erdenlebens“), diese Stellen zu ‚überlesen‘ („nicht darauf zu achten“), markiert sie zwar als nachgeordnet, als neben-sächlich, was ihrer strukturellen Randständigkeit entspricht, weckt jedoch erst recht Aufmerksamkeit für sie. Und: Da sie Teil der von Krumhardt präsentierten Erzählstücke sind und diese zumeist zu Beginn des jeweils folgenden Stücks als soeben (wieder-) gelesene ‚(Manuskript-)Blätter‘ bezeichnet werden (vgl. etwa A 239, 244, 270), sind die Selbstkommentare indirekt doch als Bestandteile von Krumhardts Text kenntlich gemacht.

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Gleichwohl ist die Raabe-Forschung Krumhardts Bitte insofern gefolgt, als sie zwar früh die Erzählerfunktion Krumhardts in den Blick genommen, seine Selbstkommentare jedoch oft ungenau gelesen und den Fokus auf seine Darstellung der Figur Veltens als eines gesellschaftlichen Grenzgängers gerichtet hat. Krumhardt erschien ihr vor allem als „Chronist[ ]“ 10 und gutbürgerliche, doch letztlich blasse Kontrastfigur zu Velten. Mittlerweile hat eine Reihe neuerer Arbeiten Krumhardts Kommentare zum eigenen Tun in den Vordergrund gerückt.11 Dabei hat schon Wolfgang Preisendanz auf das „doppelte[ ] Sujet“ 12 der Akten des Vogelsangs hingewiesen, bestehend aus den „mit jener ehemaligen Vorstadt verknüpften Lebensgeschichten des Velten Andres, der Helene Trotzendorff und des Verfassers Karl Krumhardt“ einerseits und dem „Prozeß der Aufzeichnung“ andererseits, den Krumhardt „in der Klausur am Schreibtisch“ beständig „reflektiert, kommentiert, transzendiert“. Aus dieser Doppelung leitet Preisendanz einen „dialogische[n] Grundzug“ von Krumhardts „Niederschrift“ ab, den er in erster Linie psychologisch deutet, wenn er festhält, [d]aß sich Erinnertes und aktuelle Bewußtseinsverfassung ineinander verschränken, daß Erzählzeit und erzählte Zeit sich durchdringen, daß sich Erzählen und Selbstreflexion überschneiden, eigene und fremde Rede überlagern, daß mithin die ‚Annalen und Historien des alten Vogelsangs‘ sich zum Medium der Auseinandersetzung ihres Verfassers mit sich selber gestalten […].13

Resultat dieser Auseinandersetzung, die Preisendanz als „Aufstörung und Heimsuchung eines ‚Aufsteigers‘ durch den ‚Aussteiger‘“ 14 resümiert, sei dann eine tiefe „Sinnkrise“, die grundlegende Infragestellung des eigenen bürgerlichen Lebensentwurfs,15 zu der Krumhardts Text kein „durchschlagendes Gegenargument“ 16 liefere; hilflos könne er nur seinen sozialen Erfolg in der bürgerlichen Gesellschaft beschwören. Das belegten seine wiederholten Selbstanreden als „Oberregierungsrat Doctor juris Krumhardt“ (A 227) und seine Verweise auf Eigentum und Kinder. An Preisendanz’ Deutung knüpfen neueste Arbeiten an, die auf Krumhardts Erzählstil eingehen: Laut Brahim Moussas Akten-Lektüre 10 Irmgard Roebling, Doppelte Buchführung, S. 136 f. 11 Nach frühen Ausnahmen wie Preisendanz, „Nachwort“, Zirbs, Strukturen des Erzählens, und Roebling, Doppelte Buchführung, vgl. v. a. Berndt, Anamnesis, Fischer, Private Geschichte, Thielking, „Aktenstücke“, Jückstock-Kießling, Ich-Erzählen, Krebs, Identitätskonstitution, Moussa, Heterotopien, Moser, Bild der Zeit, Pethes, „Normalität“. 12 Dieses und die folgenden Zitate bis zum eingerückten längeren Zitat entstammen Preisendanz Nachwort, S. 227. 13 Preisendanz, Nachwort, S. 234. 14 Zu diesem wie auch dem folgenden Zitat vgl. Preisendanz, Nachwort, S. 237. 15 Preisendanz, Nachwort, S. 235. 16 Preisendanz, Nachwort, S. 238.

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etwa praktiziere Krumhardt zunächst ein „realistisches“ Erzählen, das entsprechend seiner Selbstverpflichtung auf einen „pragmatisch[en]“ 17 Erzählmodus als „lineares“ und auf ein „finales Interpretans“ zielendes Erzählen zu verstehen sei. Dieses werde mehr und mehr durch den heterotopischen Charakter von Veltens unbürgerlichen Lebensräumen, in die Krumhardt sich im Zuge seiner Rekonstruktion von Veltens Leben hinein begebe, affiziert und gestört und scheitere schließlich. In der vorliegenden Studie soll weder in Abrede gestellt werden, dass Krumhardts Geschichtsrekonstruktion und seine Reflexion auf sie im Zusammenhang mit seinem Verhältnis zu Velten und dem Vogelsang-Kollektiv zu sehen sind, noch dass seine Rekonstruktionsarbeit Inkonsistenzen zeigt und ihre Problematisierung eine Zuspitzung erfährt. Den erwähnten Interpretationen ist aber entgegen zu halten, dass Krumhardts Erzählung von Anfang an Stückwerk ist und seine Selbstkommentare sein Tun von Beginn an problematisieren. Außerdem drehen sie sich bereits mit Einsetzen der inventio-Szene nicht einfach um die Frage, „weshalb und warum“ Krumhardt „diese[ ] Blätter[ ]“ „mit solchen Zeichen und Bildern“ fülle (A 357 f.), sondern, „weshalb und warum in dieser Weise“ 18 er es tue. Bevor diese „Weise“ als Replik auf Freund Velten gedeutet werden kann, ist sie als solche genauer in den Blick zu nehmen. Mehrheitlich handeln die Selbstkommentare nämlich von ganz grundlegenden verfahrenstechnischen Schwierigkeiten, die jeden Produzenten einer Lebensgeschichte in dem Moment beschäftigen dürften, in dem er darüber zu entscheiden hat, was alles als Datum, als gegebenes Faktum dieses Lebens zu gelten hat.19 Etwa zieht Krumhardt 17 Mit den gewählten Termini „linear“ und „finales interpretans“ schließt sich Moussa in Heterotopien im poetischen Realismus, S. 144, Anm. 19, an Vilmar Gepperts Entwurf eines „pragmatischen Erzählens“ im Realismus an; vgl. Hans Vilmar Geppert, Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994. 18 Hervorh. Ch. F. 19 Ähnlich argumentiert etwa Fischer. Er konstatiert für Raabes Erzählerfiguren allgemein, dass deren „Konfrontation […] mit ihren […] Antagonisten“, die laut Forschungstenor „angeblich gewünschte Identitäten repräsentier[ten]“ „nicht so sehr für die Verunsicherung angesichts eines ‚Neuen‘, ‚Anderen‘ [spricht], sondern zuallererst für die Schwierigkeit, das Gegenüber und sein Sprechen in ein eigenes Erzählen zu übersetzen, das damit von einer Differenz diktiert wird.“ (Fischer, Private Geschichte, S. 285; Hervorh. im Original). Zwar weist Fischer zu Recht darauf hin, dass es wichtig sei, „den Akt der Selektion des Materials, der sich im Schreiben artikuliert, […] kritisch zu beleuchten“ (Fischer, Private Geschichte, S. 271, Anm. 19). Er verfolgt dies aber nicht im Detail, so dass ihm die präzise (topische) Reflexion verfahrenstechnischer Fragen der Materialselektion entgeht. Gerade diese erlaubt es aber, die Konfrontation zwischen Erzähler Krumhardt und seinem Antagonisten Velten vor allem als eine gedächtnispolitische zu bestimmen, in der differente Konzepte des kollektiven Gedächtnisses miteinander konkurrieren (vgl. Kapitel IV.8 der vorliegenden Arbeit). Im Blick auf die verfahrenstechnischen Fragen geht

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im Blick auf die von ihm versammelten Zeugnisse wiederholt deren sachliche Angemessenheit in Zweifel,20 erwägt ihre Relevanz und Exemplarität für das biographierte Leben,21 ringt um die Ordnung seiner Aktenstücke22, mithin also der für Veltens Geschichte maßgeblichen Daten, und überdenkt den Nutzen seines Tuns für die Adressaten seines Texts.23 Genau besehen schreibt sich Krumhardt mit seinen Kommentaren in die lange Tradition der rhetorischen Findelehre ein, die zur Lösung der von ihm aufgeworfenen Probleme die ars topica aufgeboten hatte. Seine Selbstreflexion wird als eine topisch orientierte Reflexion der verfahrenstechnischen und medialen Bedingungen der Stoff-Findung im Zuge faktualen Erzählens lesbar, mit der sogleich der Wirkaspekt für sein mögliches „Publikum[ ]“ (A 227) und die Anschließbarkeit der unternommenen Geschichtsproduktion an den mit diesem geteilten sensus communis in den Fokus rücken. Konsequent betitelt Krumhardt seinen fertigen Text denn auch nicht mit „Das Leben des Velten Andres“, sondern mit „Die Akten des Vogelsangs“.24

Pethes einen Schritt weiter: Ausgehend vom „bürokratischen Leitsymbol der Akte“ diskutiert er die Materialität des versammelten Stoffes in Krumhardts Text und attestiert diesem eine weniger literarische denn ‚epistemische‘ Erzählform. Raabe setze hier das Erzählen einer Fallgeschichte in Szene, „das den Fall nicht mehr als narrative Form einsetzt, sondern stattdessen reflektiert, auf welche Weise er als Einzelfall aus der Masse der archivierten Daten herauspräpariert und narrativ konstruiert werden kann.“ (Pethes, Normalität, S. 164 f.) Wenn ich demgegenüber die verfahrens- und medientechnische Reflexion in den Akten in erster Linie auf die inventio bezogen verstehe, so kommt damit einerseits ein spezielleres Moment in den Blick, das auch bei Fallgeschichtskonstruktionen den ersten Arbeitsschritt konstituiert, andererseits ein noch grundlegenderes transdisziplinäres Moment, da die Stoff-Findung für jegliche Form der Geschichtskonstruktion auch über die Fallgeschichte hinaus relevant ist. 20 „Bedenke dich, Oberregierungsrat, Doctor juris K. Krumhardt, und bleibe bei der Sache! Bei der Stange! würde dein Freund Velten zu jener Zeit – unserer Zeit gesagt haben. – “ (A 219) 21 „Ich habe diesen einen Sonntagnachmittag von vielen hunderten seinesgleichen, und nicht bloß im Sommer, sondern auch in jeder andern Jahreszeit, wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten so deutlich und farbenfrisch als möglich zu Papier gebracht.“ (A 253, Hervorh. Ch. F.) 22 „Wie habe ich dieses Manuskript begonnen, in der festen Meinung, von einer Erinnerung zur andern, wie aus dem Terminkalender heraus, nüchtern, wahr und ehrlich farblos es fortzusetzen und es zu einem mehr oder weniger verständig-logischen Abschluß zu bringen! Und was ist nun daraus geworden […]?“ (A 304). 23 Vgl. die wiederholten Überlegungen hierzu auf den Seiten A 216, 227, 239 etc. 24 Die im Folgenden entwickelten Beobachtungen zur topischen Reflexion biographischer Stoff-Findung in den Akten bilden die Grundlage für meinen kürzlich erschienenen Aufsatz „Die archivalische (Auto-)Biographie als geschichts- und kulturpoietisches Metagenre – Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs (1896)“. In: Sonja Arnold et al. (Hg.), Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft, Kiel 2018, S. 191–216. Für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks wortgleicher Passagen in der vorliegenden Studie danke ich dem Ludwig Verlag.

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2 Krumhardts topisches Archiv des Vogelsangs Mit der steten Hervorhebung seiner juristischen Profession in den selbstreflexiven Einwürfen – „Bedenke dich, Oberregierungsrat, Doctor juris K. Krumhardt, und bleibe bei der Sache!“ (A 219) – sowie der wiederholten Rede vom „Fall Velten Andres“ (A 304) bzw. von den „Sachen Andres contra Trotzendorff oder umgekehrt“ (A 227) insistiert Krumhardt nicht schlicht auf seiner bürgerlichen Arriviertheit. Vielmehr indiziert er damit seine professionelle Kenntnis des Rechts und der Rechtsprechung und evoziert mit dem Gerichtlichen den Ursprungskontext der traditionellen rhetorischen Findelehre.25 Diese avanciert in den Akten dann insofern in einem ganz basalen Begriffsverständnis zur poetologischen Metasprache des Biographen Krumhardt, als seine Selbstkommentare regelmäßig solche Fragen und Probleme aufwerfen, die von der Topik-Forschung als die grundlegenden Herausforderungen jeder inventio beschrieben werden – ganz unabhängig davon, ob die inventio im Kontext der antiken (Gerichts-)Rhetorik den Redestoff eruieren, im Rahmen der antiken Dialektik das Arsenal an Argumentations-Gesichtspunkten für ein wissenschaftliches Streitgespräch (die disputatio) erstellen oder in der humanistischen Polyhistorie die Fülle enzyklopädischen Wissens verwalten soll.26 In allen genannten Fällen versteht sich die topische Stoff-Findung als problemorientiertes Verfahren, das also von einer gegebenen Problemfrage (quaestio) ausgeht und diese in möglichst all ihren Aspekten zu erschließen sucht – etwa einen konkreten Streitfall vor Gericht (causa), eine wissenschaftlichen Hypothese oder einen abzusteckenden Wissensbereich (disciplina). Ausgehend von dieser quaestio besteht laut Wilhelm Schmidt-Biggemann […] die erste Aufgabe der Topik […] darin, sie [die „‚materialen‘ topoi“, das kollektive Erfahrungswissen, Ch. F.] zu sammeln; das ist die klassische Aufgabe der Invention. Die zweite Aufgabe der Topik besteht darin, diese Topoi in eine Ordnung zu bringen und so disponibel zu haben, das dritte Moment der Topik besteht darin, Topoi mit Hilfe von Kriterienkatalogen argumentativ wirksam an der richtigen Stelle zu plazieren [sic].27

25 Zur Entstehung der gesamten „Rhetorik (als Metasprache) […] aus Eigentumsprozessen“ vgl. Barthes, Alte Rhetorik, S. 19. Zur Herkunft der zentralen Unterscheidungen der inventio aus dem Kontext des „rein Gerichtlichen“, vgl. Barthes, Alte Rhetorik, S. 56. 26 Dass Krumhardt darüber hinaus auch konkrete Theoreme der topischen inventio zitiert, wird im Zusammenhang mit einer intertextuellen Referenz deutlich, die Gegenstand des Unterkapitels IV.6.1 ist. 27 Vgl. Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 245. Auf S. 251 heißt es noch prägnanter: „Im Procedere der Topik bildet die Erfahrung, die Topoi sammelt, den ersten Schritt. Der zweite Schritt ist die enzyklopädische disziplinäre oder auch alphabetische Ordnung dieser Topoifülle. Sie macht die Topoi verfügbar. Der dritte Schritt ist die Argumentation.“ Seine im Text zitierte

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Der erste Schritt, die Sammlung erfahrungsgesättigter Wissensdaten zur quaestio bzw. causa, hier zum „Fall Velten Andres“, geschieht nach Maßgabe der Topik zum einen durch die Mobilisierung persönlicher Alltagserfahrung, die Krumhardt mit seiner Augenzeugenschaft hervorhebt: „Er ist doch mein Freund gewesen, und ich der seinige. Ich habe sein Leben miterlebt […]“ (A 295). Diese persönliche Erinnerung reicht aber, wie der unmittelbare Folgesatz signalisiert, bei weitem nicht aus: „[…] und doch, gerade hier, vor diesen Blättern, überkommt es mich von Seite zu Seite mehr, wie ich der Aufgabe, davon zu reden, so wenig gewachsen bin.“ (A 295). Denn zum anderen und vor allem ist für die Sammlung des Erfahrungswissens zur causa das systematische Studium der sprachlich-argumentativen Texte (mündlicher wie schriftlicher) vonnöten, die in der öffentlichen Kommunikation derjenigen sozio-kulturellen Formation zirkulieren, die für die Verhandlung der „Sachen Andres contra Trotzendorff oder umgekehrt“ maßgeblich ist.28 Diese Texte – in Krumhardts Fall eben die Briefe, Dialoge und Monologe der Nachbarn aus dem Vogelsang29 – sind umfänglich und auf Rekurrenzen, also Wiederholungsstrukturen, hin zu rezipieren, denn nur so kann die topische Lektüre Begriffe, Bilder sowie Argumentations- und Denkmuster im Blick auf Veltens Leben ausfindig machen, die für diesen kommunikativen Rahmen relevant, d. h. repräsentativ sind, kurz: die topischen „Sprachstücke“ dieser Formation. Ganz in diesem Sinne begründet Krumhardt wiederholt die Relevanz der versammelten Daten mit ihrer Exemplarität für das biographierte Leben und diese mit ihrer regelmäßigen Wiederkehr in der öffentlichen Kommunikation des nachbarschaftlichen Umfelds von Velten: „So bringe ich es zu den Akten, wie der Vogelsang sprach, indem ich hundert Worte in eines ziehe […].“ (A 317) Und im Anschluss an eine im Originalton wiedergegebene Dialogszene zwischen den Nachbarn im alten Vogelsang resümiert er:

Beschreibung der drei Arbeitsschritte der Topik ordnet das Katalog-Verfahren in erster Linie dem dritten Schritt, der konkreten Argumentfindung, zu. Die narrative Inszenierung des lociVerfahrens in Cécile blendet, wie zu sehen war, die drei Schritte Schmidt-Biggemanns ineinander: Beim Abgehen der Orte wird das Archiv der Erfahrungstopoi allererst erstellt (durch die Assoziationen der Besucher), geordnet (durch die Abfolge der sights und Ausstellungsstücke) und zugleich zur quaestio Cécile befragt (durch die Beobachtung ihrer Reaktionen). Die hier unternommene Lektüre von Raabes Akten wird erweisen, dass Krumhardt die Anwendung des loci-Verfahrens im Sinne der Zuhilfenahme eines vorgegebenen Katalogs ablehnt, er aber bei der Erstellung seines Archivs von Erfahrungstopoi sehr wohl einer gewissermaßen ‚entleerten‘ Variante des loci-Verfahrens folgt. Auch der erste Schritt nach Schmidt-Biggemann, die Eruierung der Erfahrungstopoi erfolgt hier demnach nicht ohne ein bestimmtes ordnungsgemäßes Verfahren. 28 Vgl. Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 246 ff. 29 Dazu sind auch die Nachbarn Veltens in Berlin zu zählen, wo er sich eine Art ErsatzVogelsang schafft.

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Ich habe diesen einen Sonntagnachmittag von vielen hunderten seinesgleichen, und nicht bloß im Sommer, sondern auch in jeder andern Jahreszeit, wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten so deutlich und farbenfrisch als möglich zu Papier gebracht. (A 253, Hervorh. Ch. F.)

Dass die zitierte Dialogszene einen handfesten Streit um die Grenzen des Nachbarschafts-Kollektivs im Vogelsang dokumentiert und Krumhardt demnach gerade Streitgespräche als exemplarisch für die öffentliche Kommunikation im alten Vogelsang anführt, wird diese Untersuchung noch beschäftigen.30 Im Zuge der Mobilisierung topischer inventio ist dies insofern bezeichnend, als die Rhetorik-Forschung die Entstehung der topischen techné in der Streitkultur bzw. in der „agonal-dialektischen Mentalität“ der griechischen und römischen Antike begründet sieht.31 Auch der zweite Schritt des Topikers beschäftigt Krumhardt in seinen Selbstreflexionen, wenn er immer wieder um die Ordnung der versammelten Daten zur causa Velten Andres ringt: „Wie habe ich dieses Manuskript begonnen, in der festen Meinung, von einer Erinnerung zur andern, wie aus dem Terminkalender heraus […] es fortzusetzen […]! Und was ist nun daraus geworden […]?“ (A 304). Anders als man spontan meinen könnte, bezieht sich diese Klage keineswegs auf die dispositio, also die Anordnung der Daten in einem diskursiven Argumentationszusammenhang, etwa in der fertigen Rede oder Erzählung des Biographen. Vielmehr spielt sich Krumhardts Ordnungsbemühen noch auf der Ebene der vorbereitenden topischen inventio, der Materialsammlung, ab. Entsprechend heißt es „aus dem Terminkalender heraus“. Das verdeutlicht auch die folgende Selbstermahnung: „[…] referiere dir selber so werkmäßig als möglich, Oberregierungsrat Doctor juris Krumhardt, um dir selber wenigstens deinen Standpunkt in Sachen Andres contra Trotzendorff oder umgekehrt klarzuhalten.“ (A 227) Dieser ‚klare Standpunkt‘ ist mitnichten mit einer persönlichen Perspektive auf den verhandelten Fall zu verwechseln, sondern meint die allgemeine Ausrichtung auf spätere Diskursproduzenten, die eine übersichtliche Präsentation des Gesammelten als Disponibles erfordert. Das belegt die Präzisierung „oder umgekehrt“, die im Text mehrfach wiederkehrt und jeweils noch offen lässt, wer in diesem Rechtsstreit eigentlich der Kläger und wer der Beklagte sei. Denn laut rhetorischer Findelehre sollen aus dem topisch eruierten und geordneten Wissensfundus sowohl der Ankläger als auch der Verteidiger vor Gericht Argumente für ihre Reden ableiten können.

30 Vgl. die Kapitel IV.5–IV.6. 31 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 59 f.; nähere Ausführungen hierzu liefert Kapitel II.1.

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Damit deutet sich hier schon an, was anhand von konkreten intertextuellen Bezugnahmen im Folgenden noch belegt und präzisiert wird: Den dritten Schritt der Topik, die Produktion eines eigenen durchgängigen Diskurses, der aus parteiischer Perspektive ein bestimmtes Urteil nahelegt, will Krumhardt mit seinen Aufzeichnungen im Rahmen der biographischen Geschichtsrekonstruktion gar nicht tun. Von vornherein strebt er keine ‚fertige‘ Narration an, keinen anwendungsorientierten finalen Diskurs, in dem die gesammelten Erfahrungstopoi mit Hilfe des auswählenden iudiciums (also ‚angewandter‘ topoi-Kataloge) in eine argumentativ motivierte lineare Anordnung gebracht wären. Vielmehr ist Krumhardt dem topischen „Polyhistor[ ]“ vergleichbar, dessen „ingenium [sich] mit dem zweiten Schritt, der Fülle des Wissens zufriedengibt“ 32 – hier den gesammelten Aussagen von Veltens Nachbarschaft. Entsprechend folgt deren lose Verknüpfung bzw. Aneinanderreihung in Krumhardts Aktenstücken keiner erkennbaren Erzähllogik, sondern am ehesten einem listenartigen ‚Durchgehen‘ der einzelnen Positionen.33 Um die argumentative Verwendung der versammelten topoi kümmert sich der Polyhistor nicht; mit ihrer übersichtlichen archivalischen Sammlung will er vielmehr die „semantische Struktur“ 34 eines Wissensfelds – des Lebenskontexts Veltens – vermessen, darstellen und für spätere Nutzer verfügbar halten.

32 Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 249 f. 33 Ebenso radikal versteht nur Jückstock Krumhardts Schreibprojekt. Sie betont, dass die „Textsorte der ‚Akte‘ […] ganz konkret Karls Erzählen [strukturiert]“ und sieht dieses Erzählen vom Text selbst in harten Gegensatz zum literarischen Erzählen gesetzt (vgl. dies., Welt deuten, S. 181 und 184 f.). Demgegenüber beharrt Pethes darauf, dass „der Romantext durchweg Erzähltext und keineswegs Präsentation des Aktenmaterials selbst“ sei (vgl. ders., Normalität, S. 169). Rolf Parr hat in seinem Aufsatz zu den literarischen Strategien der „Archifikation“ bei Fontane und Raabe vor allem den Umgang der Texte mit dem überbordenden heterogenen „Wissen aus verschiedenen Diskursen und gesellschaftlichen Praxisbereichen“ im Blick. Die Akten des Vogelsangs führt er an als Beispiel einer typisch Raabeschen „Lösung“ für das Lesbar-Halten eines zum „Archivkasten“ tendierenden Texts (vgl. ders., Literarische Verfahren der ‚Archifikation‘. Wie Wilhelm Raabe und Theodor Fontane auf die Informationsexplosion des 19. Jahrhunderts reagieren. In: Daniela Gretz und Nicolas Pethes (Hg.), Archiv/Fiktionen. Verfahren des Archivierens in Literatur und Kultur des langen 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2016, S. 189–205, hier S. 193). Diese Lösung bestehe darin, „das Nebeneinander enzyklopädischen Wissens“ über Sammlerfiguren „an potentielle Träger von Handlung“ zurückzubinden, „die dann zumindest punktuell auch handeln, was dann wiederum im Nacheinander erzählt werden kann“ (vgl. ders., ‚Archifikation‘, S. 201). Gerade im Falle Krumhardts kann aber mit Ausnahme der Berlinreise von erzählbaren Handlungen nicht die Rede sein. Vielmehr erfolgt seine stärkste Handlung – die Depotenzierung Veltens im Streit der Erbnahmen – just in der Form archivalischen Sammelns (zu diesem Streit vgl. Kapitel IV.8.1 und IV.8.2). 34 Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 250.

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Eine solche Memorialwissenschaft kann man als den Sinn von universalen und disziplinären Lexika und Geschichten begreifen. Die Loci, die dargestellt werden, sind alle in sich interessant, stimmig und schlüssig, sie brauchen nicht argumentativ eingesetzt zu werden.35

Gerade auch die Sorge um die mögliche spätere Nutzung seiner „Akten“ bewegt Krumhardt. Mehrfach stellt er sich die Frage, wer einmal einen Nutzen aus seiner Bemühung ziehen wird („Wem zum Besten, wer mag das sagen?“ (A 218)) und ob es „dieser [seiner] Weise“ der Stoffsammlung gelingen wird, das eruierte Material auf lange Sicht für spätere Nutzer verfügbar zu halten.36 In erzähltheoretische Termini gewendet: Krumhardt, der nach seinem Wegzug aus dem Vogelsang nicht zufällig in der „Archivstraße“ (A 321, 335) wohnt, lässt seinen manifesten Text der Geschichte (discours II) mit dem Archiv der potentiellen Realisierungen dieser Geschichte (discours I 37) zusammenfallen; er will gar nicht Veltens Geschichte, sondern das Archiv zu dieser Geschichte bzw. das Archiv des Vogelsangs schreiben, aus dem sie erst gewonnen werden

35 Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 250. 36 Krumhardt bringt mehrfach seine Kinder als Adressaten und mögliche Nutzer der „Akten des Vogelsangs“ ins Spiel (vgl. A 217, 239). Allerdings deutet er bereits an einer frühen Stelle indirekt an, dass er eigentlich auf ein anderes Publikum zielt („Wenn nicht wegen eines andern Publikums, möchte es deiner Kinder wegen wohl der Mühe wert sein.“ (A 227)). Die weitere Textanalyse wird erweisen, dass Krumhardts „Akten“ als Replik auf exklusive ‚Erbnahmen‘ Helenes und Veltens im Blick auf das kollektive Vogelsang-Gedächtnis zu lesen sind, näherhin als Kompensation von face-to-face-Kommunikationen, die die beiden Krumhardt verweigert haben (vgl. A 382 f. und 404). Zur dieser argumentativen Funktion des Krumhardtschen Archivs als Ganzes im Kontext der öffentlichen Kommunikation des Vogelsangs s. u., Kapitel IV.7 und IV.8. Demnach gilt Oliver Fischers Befund, dass ‚Geschichte‘ in Raabes Prosa stets zu „[p]rivate[r] Geschichte“ domestiziert werde, nur eingeschränkt für die Akten des Vogelsangs (vgl. Fischer, Private Geschichte, S. 184). 37 Karlheinz Stierle differenziert im Blick auf den discours, „der im Gegensatz zur histoire als ‚sprachliche Seite‘ der narratio“ gefasst wird, nochmals zwischen discours I und discours II. Das sei nötig, um narratologisch auch die Möglichkeit der „Permutation der Glieder einer Geschichte zu einer subjektiven Variante“ beschreiben zu können, die nicht auf der „abschließenden Konstitutionsebene der sprachlichen Manifestation“ (also discours II), sondern gewissermaßen davor liege: „Im Hinblick auf die Geschichte bezeichnet discours I den Spielraum vielfältiger Formen des subjektiven Innehabens der Geschichte oder des Verfügens über sie. […] Der discours I kann gleichsam nur als Nullstelle, als unergriffene Möglichkeit vorhanden sein, er kann aber auch Geschichte so sehr an seine eigenen Organisationsprinzipien binden, daß die Dominanz des Narrativen verloren geht, der narrative Text in einen diskursiven umschlägt.“ Exakt an diesem Umschlag operiert Krumhardts Text, was laut Stierle „ein Kennzeichen moderner narrativer Texte“ sei, die aus der „Irritation“ dieses Umschlags „ihre textkonstitutiven Möglichkeiten gew[ö]nnen.“ Vgl. ders., Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In: Koselleck, Stempel (Hg.), Geschichte, S. 530–534, hier S. 533 f.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

müsste.38 Als topisches Archiv beansprucht es, das relevante Vogelsang-Wissen vollständig und unparteiisch versammelt zu haben, so dass die Leser sich selbst eine Vorstellung von Veltens Geschichte machen können. Explizit adressiert Krumhardt diese als „Herren und Damen auf dem Richterstuhle des Erdenlebens“ (A 220), während er sich selbst „nur als Protokollist des Falls“ (A 220) versteht. Die Überführung archivierten Materials in eine Geschichte stellt, so ist damit bedeutet, einen interpretierenden, urteilenden Akt dar, den Krumhardt vermeiden möchte. Dazu passt Krumhardts wiederholte Rede von der Zeichenhaftigkeit dessen, was er in seinen „Akten“ versammelt (vgl. die „Zeichen und Bilder[ ]“, mit denen er die Blätter fülle, A 358); sie unterstreicht die Interpretationsbedürftigkeit des eruierten Materials, das seiner interpretierenden Nutzung für ein bestimmtes Argumentationsziel noch harrt.39 Gleiches gilt für die mehrfach betonte Exemplarität der versammelten Szenen und Dialoge, denn Beispiele und Exempel, die nicht im Zusammenhang einer konkreten Argumentation stehen, vermitteln gerade keine eindeutigen Aussagen oder Lehren, sondern müssen vom Rezipienten erst auf solche hin interpretiert werden. Bestätigung findet die Archiv-These schließlich dadurch, dass Briefe und andere Dokumente aus der alten Zeit in der erzählten inventio-Szene dieselbe Behandlung erfahren wie die soeben entstandenen eigenen Notate Krumhardts. Beide werden gleichermaßen als „Akten“ bezeichnet, liegen auf derselben Ebene des zu lesenden und prüfenden Quellenmaterials. Die Lücken zwischen den Erzählstücken verdeutlichen somit die materialen Abbrüche der diversen „Aktenstück[e]“ des Vogelsang-Archivs (A 385), über die hinweg die Geschichtsrekonstruktion erst noch greifen müsste. Im Vergleich zur polyhistorischen ‚Enzyklopädie‘ ist das ‚Archiv‘ insofern die treffendere Bezeichnung für Krumhardts Unterfangen, als Krumhardt durchweg komplexe Texte, umfängliche Aktenstücke, sammelt. Zwar kann auch der polyhistorische Erfahrungstopos „mehrerlei sein, ein Klischee, ein Leitbegriff, ein Klassifikationsvorschlag, ein Sprichwort, ein Zitat, eine Allusion, eine Ge-

38 „[D]as Archiv schreiben“ will auch Wolfgang Ernst in seinem poststrukturalistischen Geschichtsprojekt Im Namen von Geschichte. Sammeln – Speichern – Erzählen. Um sowohl einer „narrative[n] Syntax“ und der „historische[n] Semantik“ zu entgehen, orientiert auch er sich erklärtermaßen an der „rhetorische[n] Technik der inventio“ (vgl. Ernst, Im Namen von Geschichte. Sammeln – Speichern – Erzählen, München 2003, S. 43 und S. 42). 39 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 99, zur „Interpretationsbedürftigkeit“ bzw. „Potentialität“ als drittes allgemeines Strukturmoment von topoi neben „Habitualität“, „Intentionalität“ und „Symbolizität“. Zum prinzipiellen Zeichencharakter von topoi vgl. Bernd Spillner, Thesen zur Zeichenhaftigkeit der Topik. In: Breuer, Schanze (Hg.): Topik, S. 256–263, sowie zur semantischen „Analogie“, die ein topos eröffne Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 252.

3 Die Medialität der „Akten“: selbstredende Quellen, lokale Augenzeugenschaft

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schichte, kurz das, was sozusagen zum gebildeten Fundus gehört“,40 doch in erster Linie sammeln und ordnen Polyhistoren Begriffe, die aus ihrer Sicht die Leitbegriffe eines Wissensbereichs darstellen. Krumhardt legt demgegenüber gewissermaßen ein „Volltext“-Archiv41 des Vogelsangs an. Es geht ihm um ganze Texte (ganze Briefe, Reden oder Dialoge) aus oder zum Vogelsang; es geht ihm allerdings nicht – wie der Terminus Volltext-Archiv mitunter auch verstanden wird – um alle möglichen ganzen Texte zum Vogelsang. Seine Betonung der Exemplarität zeigt, dass er die von ihm versammelten Texte aufgrund ihrer Rekurrenz für die Leittexte des Vogelsangs hält. Entsprechend wäre Krumhardts Archiv des Vogelsangs zwischen Enzyklopädie und Volltext-Archiv (im starken Sinn verstanden) anzusiedeln; in jedem Fall ist es ein Archiv, das für seine ganzen Texte topische Relevanz, also die Vollständigkeit des Repräsentativen, behauptet.42 Dann aber ist noch weiter gehend zu fragen, welche Relevanz- und also Selektionskriterien über die Rekurrzenz hinaus für Krumhardts inventio maßgeblich sind, etwa welcher medialen Art die versammelten Aktenstücke sind, und wie Krumhardt schließlich die „semantische Struktur“ des Wissens über Velten und den Vogelsang darstellt oder, mit anderen Worten, wie die Ordnung seines topischen Vogelsang-Archivs genau aussieht.

3 Die Medialität der „Akten“: selbstredende Quellen, lokale Augenzeugenschaft Obwohl der Aktenbegriff in der erzählten inventio-Szene derart präsent ist und die Charakterisierung von Krumhardts Text als Volltext-Archiv des Vogelsangs

40 Vgl. Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 244. 41 Zum Begriff des „Volltext“-Archivs im Unterschied zu einem Begriff des Archivs als „systemisches Set kultureller Regeln“, das für die formalere aristotelische Topik und Foucaults „Archiv“ in Anschlag zu bringen wäre, vgl. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005, S. 182 und S. 177. Mit dem Konzept des Volltext-Archivs einer Kultur sucht Baßler die Interpretations-Praxis des New Historicism, die kulturpoetischen Qualitäten von (textuellen) Artefakten durch die Hinzuziehung von Kon-Texten derselben Kultur aufzuzeigen, durch einen „pragmatische[n] Archivbegriff“ theoretisch zu fundieren (vgl. Baßler, Archiv, S. 180). 42 Damit ist für Krumhardt gerade nicht, wie Nietzsche dies der zeitgenössischen Geschichtskultur und Biographik anlastet, „die schiere Tatsache des Übriggebliebenseins [das] Kriterium für die Aufnahme ins historische Archiv“. Vgl. zu dieser Kritik: Pethes, Archive des Alltags. Normalität, Redundanz und Langeweile als Elemente einer Poetik der Prosa. In: Gretz und Pethes (Hg.), Archiv/Fiktionen, S. 129–148, hier S. 136.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

nahelegt,43 ist die konkrete Bedeutung des Aktenbegriffs für Krumhardt (und damit auch der konkrete mediale Status des invenierten Materials wie der Aktensammlung insgesamt) nicht ohne Weiteres zu bestimmen. Zwar zieht sich wie ein Leitmotiv Krumhardts differenzierende Beteuerung durch die Leseszene, er verfahre bei seiner inventio, seiner möglichst systematischen Aktualisierung der Vergangenheit, „nach den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig“ (A 239), bringe das vergangene Geschehen „wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten […] zu Papier“ (A 253) und habe insbesondere „in den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig“, wie Freund Velten „damals schon zu denken und zu reden“ (A 261 f.) wusste. Gleichwohl bleibt dabei regelmäßig offen, ob Krumhardt die ‚Aktenmäßigkeit‘ bewusst distanziert oder vielmehr als ideales Fernziel denkt, hinter dem er zu seinem Bedauern zurückbleibt. An einer einzigen Stelle ist die Differenzierung klar verständlich, sind die „Akten“ eindeutig bloße Metapher für Erinnerungen, die im Gedächtnis abgespeichert und im Zuge der Rekonstruktionsarbeit hervorgeholt und – gewissermaßen durch innerliche Rezeption – neu aktualisiert werden müssen. Die inventio qua Aktenstudium dient hier unzweifelhaft als Bild für die individuelle mémoire volontaire: Ich habe es in den Akten, wenn auch nicht aktenmäßig. Ich hole dies alles aus Ungeschriebenem, Unprotokolliertem, Ungestempeltem und Ungesiegeltem heraus und stehe für es ein. Ich muß es aber heute sehr aus der Tiefe holen […]. (A 262)

„[N]icht aktenmäßig“ markiert hier die Uneigentlichkeit der Rede von „den Akten“. Von dieser Stelle ausgehend kann man die Mobilisierung des Aktenbegriffs in Raabes Text als literarischen Beitrag zur metaphorischen Modellierung von Erinnerung und Gedächtnis bzw. ihrer beider Zusammenspiel am Ende des

43 Angesichts der besonderen Relevanz des Aktenbegriffs im Text überrascht es, dass nur wenige Forschungsbeiträge die konkreten medientechnischen und gattungshistorischen Implikationen, die mit ihm ins Spiel kommen, genauer verfolgt haben: Neben den bereits erwähnten Aufsätzen bzw. Kapiteln von Jückstock und Pethes sind zwei kurze Artikel von Sigrid Thielking zu nennen, die dem Aktenbegriff im Sinne eines „Aufschreib-Modell[s]“ Aufmerksamkeit zollen (Thielking, Aktenstücke, S. 33 f.). Sie übersehen aber die Relevanz des Lesens für die aufgerufene Medientechnik der Akten und damit dessen Relevanz für die erzählte Geschichtskonstruktion und ihre Problematisierung. Thielking erwähnt die Aktenlektüre jeweils nur mit einem Satz: „Die Prozesse von Erinnern und Niederschreiben, von Wiederlesen und ordnendem Zusammenstellen, kurz: von personaler Repräsentation mittels Schriftstücken, werden [in Raabes Texten, Ch. F.] zu zentralen Begebenheiten“ (Thielking, Aktenstücke, S. 25 f.). Und: In Raabes „späten und immer aufzeichnend arrangierten Biographenromane[n]“ herrschten „mal Freundschaftsakten, mal Racheakten, mal Archivfunde aus Zeiten tiefster Melancholie vor[ ] und [„generierten“] zu [sic] Lebens- und Überlebensformaten durch das Wieder-Lesen.“ (Thielking, Akteneinsamkeit. Archiv und Aufzeichnungsfiktion bei Wilhelm Raabe. In: Text+Kritik 172 (2006), Wilhelm Raabe, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, S. 39–50, hier S. 40 f.).

3 Die Medialität der „Akten“: selbstredende Quellen, lokale Augenzeugenschaft

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19. Jahrhunderts nehmen und den gedächtnistheoretischen Implikationen dieses Modells nachgehen. Dann veranschaulicht die Rede von den „Akten“ in erster Linie ein innerlich-psychologisches Phänomen und belegt, dass dessen Versprachlichung notwendig auf Metaphern rekurrieren muss und die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts hierfür vorzugsweise Schriftmetaphern mobilisiert.44 Doch lässt sich gerade mit Blick auf die erzählte Lese- bzw. inventioSzene die bloß metaphorische Bedeutung der „Akten“ für Krumhardts gesamten Text nicht durchhalten. Zumeist wird, wie oben beschrieben, vielmehr suggeriert, dass Krumhardt ein handgreifliches Schriftstück vor Augen hat, das vorgängig von fremder Hand oder von ihm selbst verfasst wurde und das er zitiert bzw. aus dem er dem Leser vorliest. Einmal bezeichnet Krumhardt seine Beschäftigung mit „diesen Akten“ gar als ein „[K]ollationieren“ (A 310), womit ein exaktes Abschreiben, ein wortgetreues Kopieren bereits existierender Texte gemeint ist.45 Bereits zuvor und bezeichnender Weise im Anschluss an just die beiden Erzählstücke, welche die ersten ausführlich zitierten Dialoge bringen, macht Krumhardts Wortwahl die Entscheidung zwischen metaphorischer und konkreter Verwendung des Begriffs unmöglich und gerade dadurch auf konkrete mediale Fragen im Blick auf Akten aufmerksam. Nach einer längeren Dialogpassage, in der Krumhardt als Erzähler fast nicht in Erscheinung tritt, betont er: Ich ziehe selbstredend im besten Sinne des übelverwendeten Wortes diese Unterhaltung der Mütter aus den Akten. Daß wir dummen Jungen das so nicht aufbewahrten, ist selbstverständlich. (A 231)

‚Natürlich‘ („selbstredend“) – so wird man diese Sätze spontan lesen – handelt es sich beim soeben wiedergegebenen Dialog um ein ‚aktenmäßiges‘, den Akten im O-Ton entnommenes Zitat, denn als „dumme[r] Junge[ ]“ konnte sich Krumhardt junior derart ausführliche Gespräche ja nicht merken. Etwas genauer besehen fällt allerdings die Präzisierung „im besten Sinne des übelverwendeten Wortes“ auf, mit der Krumhardt den Leser auf das Wörtchen „selbstredend“ und dessen Wortsinn stößt, der bereits im 19. Jahrhundert zugunsten der freien Bedeutung von ‚natürlich‘ oder ‚freilich‘ in den Hintergrund getreten ist. Dieser ursprüngliche Wortsinn, der in Wendungen wie die „selbstredende[ ] klare[ ] sa-

44 Vgl. Berndt, Anamnesis, S. 6. Auch Berndt liest Raabes Textspiel mit der ‚Topik der Erinnerung‘ des 19. Jahrhunderts als ein ästhetisches Modell, das dem Erzählschema des Bildungsromans und der Biographie, so sie sich an diesem ausrichtet, entgegen steht (vgl. Berndt, Anamnesis, S. 317). 45 Zur Technik des „Kollationieren[s] von Texten, ihre[r] Überprüfung auf Worttreue“ vgl. Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik des Rechts, Frankfurt am Main 2000, S. 54.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

che“ oder „selbstredende warheit“ 46 auf die Möglichkeit einer sich selbst aussprechenden Sache oder Wahrheit abhebt, passt dann zwar immer noch zur spontanen Lesart, derzufolge Krumhardt die Stimmen der Vergangenheit wahrhaft selbst reden lasse, anstatt nur von ihnen zu erzählen oder sie aus seinem unzuverlässigen Gedächtnis („nach den Akten“) zu zitieren. Weil es im Rahmen der konkreten Erzählerfiktion Raabes aber unwahrscheinlich ist, dass die angeführten Reden wie im Falle des kommentierten Dialogs Krumhardt in dieser Ausführlichkeit schriftlich vorliegen (wer soll in der Vergangenheit solch umfängliche Aussagen wortwörtlich notiert haben?), kann bzw. muss sein Kommentar doch anders verstanden werden: Dann distanziert er im Gegenteil diese ältere Verwendungsweise‚ also die Möglichkeit einer sich selbst aussprechenden Wahrheit (oder hier: Vergangenheit) als „üble“, kennzeichnet den angeführten Dialog als freie Reformulierung von ehemals Gesagtem durch ihn selbst und betont dadurch, dass jegliche Aktualisierung der Vergangenheit, und will sie sich noch so treu an (F)Akten halten („aktenmäßig“ verfahren), auf eine gegenwärtige Sprecherinstanz angewiesen sei, dass also er als Vermittlungsinstanz (und selbst als Vorleser) stets mit beachtet werden müsse. Krumhardts seltsame Formulierung mit ihrer Fokussierung des Wörtchens „selbstredend“ zwingt also dazu, die sonst getrennt evozierte Doppeldeutigkeit der „Akten“ hier parallel zu lesen, so dass gar nicht „selbstverständlich“ ist, wer nun wie was in welcher Form aufbewahrt hat. Im Zwiespalt zwischen selbst redenden Akten und selbst redendem Aktenschreiber sieht sich der Leser auf Fragen der spezifischen Selektivität und Begrenztheit sowie der Speicher- und Reaktivierungsfähigkeiten nicht nur von Krumhardts individuellem Gedächtnis, sondern auch seiner Sammlung schriftlicher und mündlicher Aussagen (Briefe und Diabzw. Monologe) in Aktenform verwiesen. Damit wird schließlich auch die Aussage- bzw. Beweiskraft der aktualisierten Vergangenheitsmomente, also des invenierten Materials, fraglich. Etwa stellt sich auch für letztere Lesart die Frage, warum Krumhardt, wenn es ihm doch nicht auf den konkreten Wortlaut der vergangenen Reden ankommt, solch großen Wert auf ihre Aktualisierung als Reden bzw., wie im genannten Dialogbeispiel, als Wechselreden legt, also auf ihre animatorische Imitation durch seine eigene Rede. Zudem kann man fragen, warum er überhaupt für seine archivalische Rekonstruktion von Veltens Geschichte dessen ehemalige Nachbarn und Weggefährten, d. h. sein lokales Umfeld, derart ausführlich (wie wortgetreu und also „aktenmäßig“ auch immer) zitieren muss. Mit dem Wörtchen „selbstredend“ stößt Krumhardt seinen Leser somit nicht nur auf die Fragwürdigkeit der Quellenlage seiner „Akten“, sondern

46 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde, Leipzig 1854–1961, hier Bd. 16, Sp. 488.

4 Disziplinäre Anschlüsse: Amateurhistoriographie und Jurisprudenz

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macht zugleich auf ein zentrales Relevanz- und also Selektionskriterium seiner inventio aufmerksam: Es geht ihm um die ausführliche Wiedergabe mündlicher Aussagen von Zeitzeugen aus dem lokalen Umfeld, die seiner archivalischen Darstellung einen dramatisch-animatorischen Effekt verleiht. Dem Leser treten in den einzelnen Aktenstücken die verschiedenen Nachbarn einzeln oder in Gruppen gewissermaßen ‚leibhaftig‘ vor Augen, an ihn direkt scheinen sich ihre Reden über Velten und den Vogelsang zu richten.47

4 Disziplinäre Anschlüsse: Amateurhistoriographie und Jurisprudenz Der animatorische Effekt sowie die indirekte Thematisierung des medialen Status’ seiner „Akten“ und damit der Selektionskriterien seiner inventio bindet Krumhardts Geschichtsrekonstruktion an eine zeitgenössische außerliterarische Debatte, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in erster Linie zwischen historiographischen Laien und professionellen Historiographen entbrannt war. Stark polemisch und daher öffentlichkeitswirksam wurde in den Gründungsschriften von Geschichtsvereinen und Museen der Amateure sowie in kritischen Repliken der Fachhistoriker auf diese Schriften um die „Geschichte und [ihre] Medien“ 48 gestritten. Die Amateure, und als ein solcher Amateurhistoriograph wird Krumhardt von Raabe entworfen, wollten in kritischer Absetzung von der Bevorzugung schriftlicher Quellen sowie der schriftlich-narrativen Darstellungsweise durch die Fachhistoriker die Quellen ‚selbst reden‘ lassen.49 Vor allem auch die 47 Neben der im Folgenden ausgeführten Funktion, die diese schriftliche Simulation von Mündlichkeit für die performative Biographie-Kritik in Krumhardts Akten erfüllt, wird die weitere Textanalyse auch eine gemeinschaftsbildende Funktion erweisen (vgl. Kapitel IV.7). Diese ist weniger auf romantische Formen erzählerischer Gemeinschaftsstiftung rückzubeziehen, die in den Akten gleichfalls – allerdings in Bezug auf Veltens Erzählen – evoziert wird (vgl. Kapitel IV.8), als vielmehr (und zur Aktualisierung der Topik passend) auf die humanistischen Gelehrten und ihr „rhetorische[s] Verfahren der simulierten Mündlichkeit und der Visualisierung von Redesituationen“, das vor allem die „Gemeinschaft der Kommunizierenden“ ‚ausstellen und bestätigen‘ sollte (vgl. Leander Scholz, Die Antike als humanistisches Gedächtnis. In: Jürgen Fohrmann (Hg.), Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 124–128, hier S. 124 f.). 48 Vgl. die Darstellungen bei Struck, Konfigurationen, S. 140 ff., und Hebekus, Klios Medien, S. 37 ff. 49 Vgl. die Bedeutung der Monumenta Germaniae Historica als Quellensammlung für die universitäre Geschichtsforschung und -schreibung. Dass die Entgegensetzung zwischen einer auf textuelle Quellen fixierten und nur an der Konstruktion übergreifender historischer Sinnzusammenhänge interessierten universitären Historiographie einerseits und einer dingbezogenen, einzig auf sinnlich-momentane Geschichtserfahrung setzenden Vergangenheitsrepräsen-

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

mündlichen und dinglichen Überlieferungsbestände sollten als „laut sprechende Zeugen“ ‚zu Wort kommen‘.50 Diesem Bestreben verdanken sich nicht nur die zahlreichen Museen51 (gerade auch die großen Nationalmuseen), Denkmäler und Monumente, die in dieser Zeit eingerichtet wurden; ihm ist auch eine schier unübersehbare Flut von Urkunden- und Aktenpublikationen geschuldet, in denen sich im Sinne eines eher kulturgeschichtlichen (oft aber nicht minder national ausgerichteten) Interesses gerade die kleinteilige Lokalhistorie materialiter aussprechen sollte.52 Auf diese Publikationsform spielt schon die von Raabe ‚übernommene‘ Titelwendung Krumhardts an, wobei mit dem nichts sagenden Namen „Vogelsang“ die bloß lokalhistorische Relevanz geradezu ironisch betont ist.53 Darüber hinaus hat Raabe seinen Krumhardt als typischen Produzen-

tation der Amateure andererseits in erster Linie polemischen Zuspitzungen folgt und für die historiographische und museale Praxis so klar nicht zu halten ist, zeigt Hebekus, Klios Medien, S. 38 ff. So simulierten auch Texte der Historiker vom Fach (etwa von Ranke und Droysen) mit Hilfe rhetorischer Verfahren die Präsenz visueller Geschichtsquellen. Und die Kuratoren der Museen, das beobachtet bereits Struck, vertrauen de facto gar nicht so sehr auf die Selbstrede der angesammelten Überlieferungsbestände, wenn sie sie zu sinnfälligen „geschlossenen Ensembles“ arrangieren. „Dabei werden zugunsten einer Konzeption des visuellen Gesamteindrucks sowohl Anachronismen in Kauf genommen als auch die Wahrnehmbarkeit von Einzelgegenständen eingeschränkt […].“ (vgl. Struck, Geschichte als Bild und als Text. Historiographische Spurensicherung und Sinnerfahrung im 19. Jahrhundert. In: Susi Kotzinger und Gabriele Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam/Atlanta 1994, S. 349–361, hier S. 357). 50 Selbst der Geschichtsprofessor und Jurist Karl von Rotteck, demzufolge „[e]rst mit der Schrift […] die eigentliche Geschichte an[fängt]“, konzediert, dass dingliche Spuren wie die „Burg=Ruinen auf so vielen Bergen […] laut sprechende Zeugen“ der Vergangenheit seien. (Vgl. ders., Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten. Für denkende Geschichtsfreunde, Bd. 1, Braunschweig 131838, S. 19, Hervorh. im Original, und S. 18). 51 Die großen Nationalmuseen wurden mehrheitlich durch Geschichtsvereine gegründet. Vgl. Struck, Geschichte, S. 354 f. 52 Vgl. die Beschreibung der Sammeltätigkeit historischer Vereine durch den Archäologen und Limes-Forscher Johann Friedrich Knapp: Diese seien bestrebt, „die im Volk erhaltenen Sagen und die Überlieferungen von dem, was gewesen und nicht mehr ist, zu vernehmen; was der Zufall an Alterthümern zu Tage fördert, vor Zerstörung zu bewahren; […] genealogische Dokumente zur näheren Untersuchung zu bezeichnen; aus Archiven und Registraturen interessante Urkunden und sonstige Aufzeichnungen zu erheben […].“ (Knapp, Über das Wirken der historischen und antiquarischen Vereine in Bezug auf die Wissenschaft. In: Archiv für Hessische Geschichte und Alterthumskunde, hg. v. Ludwig Baur, Bd. 5, 1. H., Nr. I, Darmstadt 1846, S. 3; zitiert nach Struck, Geschichte, S. 354). 53 Raabes Text ist demnach eine literarische „Archivfiktion“, die den von Foucault diagnostizierten zeithistorischen „Perspektivwechsel von ‚bedeutenden‘ Archiven des Besonderen auf ‚ruhmlose‘ Archive des Alltäglichen“ reflektiert. Zu diesem Perspektivwechsel, der in der Literatur des 19. Jahrhunderts zu einer „Recodierung der literarischen Ästhetik vom Spektakulären

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ten solcher Publikationen entworfen: Nicht nur lässt er ihn als studierten Vertreter des Bildungsbürgertums im fortgeschrittenen Alter seine Freizeit damit zubringen, solche bloß lokalhistorisch relevanten Akten zu sichten und in einer Sammlung zu vereinen; er lässt ihn im Zuge dessen auch insbesondere mündliche Reden in Form von Dialogen und Monologen ins schriftliche Speichermedium der Akten überführen und die Ausdrucksmächtigkeit der versammelten Quellen thematisieren. Auch Krumhardts Verzicht auf einen eigenen narrativargumentativen Text und die Positionierung seiner Selbstkommentare am Rand der Aktenstücke, mit der er die Nebensächlichkeit seiner Rede strukturell unterstreicht, passt in dieses Bild. Denn die Amateurhistoriographen attestierten der Selbstrede der Quellen eine Eindrücklichkeit und unmittelbare Sinnhaftigkeit, die in ihren Augen die Ausdrucksseite der Geschichte zur Geltung brachte und die diskursive Nachreichung eines „historischen Sinns“ durch den Historiographen obsolet erscheinen ließ. Gerade also die Unentscheidbarkeit zwischen konkreter und metaphorischer Verwendung des Aktenbegriffs schließt Krumhardts Rede von den „Akten“ sehr genau an einen außerliterarischen Kontext an, einen Grenzbereich der historiographischen Disziplin, in dem die mediale Befähigung von Aktensammlungen zur Vermittlung und Repräsentation von Geschichte diskutiert und erprobt wird. Diese Reminiszenz der Figur Krumhardt an die Amateurhistoriographen seiner Zeit legt nahe, dass auch andere Facetten der fiktiven Figur Krumhardts, insbesondere seine juristische Ausbildung und professionelle Betätigung als Richter in Erbschaftssachen (vgl. A 317), gleichermaßen kalkuliert und in ähnlich präziser Weise für die literarisierte Geschichtsdarstellung in Aktenform relevant sind. Mit Blick auf die miterzählte inventio-Szene ist allein schon die Tatsache bemerkenswert, dass mit der Jurisprudenz diejenige Disziplin evoziert ist, in der die Ausbildung der rhetorischen inventio als eine Technik der StoffFindung im Dienst der Gerichtsrede ihren Ausgang genommen hat.54 Erst recht kann die Koinzidenz, dass der fiktive Geschichtskonstrukteur Raabes sich als zeittypischer Amateurhistoriograph in seiner Freizeit über eine aktenmäßige Darstellung der Geschichte seines verstorbenen Freundes den Kopf zerbricht, und von Berufs wegen zugleich juristischer Fachmann in Sachen Aktenführung und -auswertung ist, kein Zufall sein. Zu augenfällig ist es, dass hier mit der Historiographie und der Jurisprudenz gerade diejenigen im 19. Jahrhundert be-

zum Alltäglichen geführt hat“, jedoch nicht zwangsläufig in Formen „‚musealer‘ Ästhetisierung“ Ausdruck finden muss, vgl. Pethes, Archive, S. 130 und S. 133. 54 Zur Entstehung der gesamten „Rhetorik (als Metasprache) […] aus Eigentumsprozessen“ vgl. Barthes, Alte Rhetorik, S. 19. Zur Herkunft der zentralen Unterscheidungen der inventio aus dem Kontext des „rein Gerichtlichen“, vgl. Barthes, Alte Rhetorik, S. 56.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

reits langfristig etablierten Disziplinen korreliert sind, die grundlegend zur Wissensermittlung, -ordnung, -speicherung und -vermittlung auf die Medientechnik der Akten angewiesen sind und die ihre epistemologische (nicht nur verwaltungstechnische) Angewiesenheit auf Akten auch methodisch reflektieren. Blickt man von Raabes Akten-Text her auf einschlägige geschichtswissenschaftliche wie juridische Methodenreflexionen der Zeit fällt ins Auge, dass sie die entscheidende Erkenntnisleistung der eigenen Disziplin – die allgemeingültige Interpretation des zu erforschenden historischen Geschehens bzw. das rechtlich valide Urteil des zu verhandelnden Streitfalls – gleichfalls an die Selektion bestimmter Daten aus den jeweils vorliegenden Aktenkonvoluten im Zuge ihrer Überführung in eine Erzählung knüpfen.55 Und im Bemühen, zur Lösung dieses Problems beizutragen, entwerfen auch sie die fragliche Auswahlsituation als Szene der inventio und differenzieren jeweils zwischen professionellen wie nicht-professionellen Verfahrensweisen: Wilhelm Dilthey etwa erklärt in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften die Biographie zum „Höchste[n] von Geschichtschreibung [sic]“,56 d. h. zum Modellfall und Grundbaustein historiographischen (und letztlich geisteswissenschaftlichen) Denkens und Schreibens. Unmittelbar vor seinen Ausführungen zur Biographie problematisiert Dilthey die „Auswahl der Züge“, die der Geschichtsschreiber „in seinen Quellen“ treffen muss. Diese Auswahl habe nicht die „Züge[ ] im Leben der einzelnen Menschen und der Gesellschaft, welche […] denen aller anderen […] gleich sind“,57 aufzufinden, sondern müsse „das Unterscheidende und Singulare“ ausmachen. Diesen entscheidenden Moment der Selektion, in dem sich die biographische Darstellung als narrative Geschichts-

55 Die Bedeutung des Erzählens für die juristische Fallentscheidung dürfte weniger geläufig sein als seine Bedeutung für die Historiographie. Dabei kannte noch die Geschichtsschreibung der Aufklärung eine Fülle anderer Repräsentationsformen neben der narrativen, die sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts als dominante Form durchsetzte (vgl. Struck, Konfigurationen, S. 67 ff.). Das Erzählen im Kontext der Rechtsprechung hingegen erfüllte dank der „Prozessmaxime[ ] Mündlichkeit“ und der Ausbildung des „Aktenversendungsverfahrens“ ab dem 16. Jahrhundert eine zentrale vorbereitende Funktion für die Urteilsfindung. Erzählt wurde (und wird bis heute) nicht nur in Zeugenaussagen und Plädoyers, sondern auch in mündlichen Falldarstellungen: Weil die „lokalen Untergerichte“ mit dem neu eingeführten „Römischen Recht nicht vertraut“ waren, sandten sie die Akten „an die gelehrten Juristen der Universitäten“, wo Aktuare oder Richter in Ausbildung die Fälle dem Richterkollegium mündlich vortragen mussten. Vgl. Vismann, Medien der Rechtsprechung, hg. v. Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, Frankfurt am Main 2011, S. 24 und S. 99 sowie S. 106 ff. 56 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. 1, Stuttgart, Göttingen 61966, S. 33. 57 Alle Zitate dieses Satzes entstammen Dilthey, Einleitung, S. 28.

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repräsentation konstituiert, fasst Dilthey, dessen Text sonst kaum Szenen entwirft, in ein räumliches Bild: Ein Typus der Menschennatur steht immer zwischen dem Geschichtsschreiber und seinen Quellen, aus denen er Gestalten zu pulsierendem Leben erwecken will; […].58

Wie Raabes Akten dreizehn Jahre später, evoziert Dilthey hier die Situation des Quellenstudiums, zeigt den Biographen als reflektierenden Rezipienten vor seinen Quellen. Auch hier geht es um die Kluft, die zwischen ihm, respektive der von ihm zu produzierenden narrativen Darstellung, und den Quellen liegt, die das vergangene Leben nur in „Zügen“ überliefern. Diltheys inventio-Szene zeigt, dass es zur Überwindung dieser Kluft eines Hilfsmittels bedarf: des „Typus der Menschennatur“.59 Dieser „steht“, wie Dilthey betont, „immer“ im Zwischenraum zwischen Geschichtsschreiber und den Quellen, bildet als Relevanzkriterium für „typische Unterschiede“ des Individuellen, wie etwa „die Einbildungskraft des Künstlers“ oder „das Naturell des handelnden Menschen“,60 gewissermaßen die Brücke über die Kluft hinweg, also den Suchbefehl, der die Auswahl der jeweils als relevant, als für das historische Individuum repräsentativ erachteten singulären „Züge“ aus den Quellen garantiert. In seinem Bemühen, die modernen Geisteswissenschaften durchgängig zu verwissenschaftlichen, damit sie den Naturwissenschaften ebenbürtig seien, verordnet Dilthey dem Biographen, sich für dieses Relevanzkriterium an die „Psychologie und Anthropologie“ zu halten. Nunmehr soll „die Wissenschaft […] diesem subjektiven Typus Richtung und Fruchtbarkeit geben“ und damit den „Platz [ausfüllen], der bisher nur von den ungenauen Generalisationen der Lebenserfahrung, den Schöpfungen der Dichter, Darstellungen der Weltmänner von Charakteren und Schicksalen, unbestimmten allgemeinen Wahrheiten […] eingenommen war.“ 61 Nicht mehr also die Orientierung an den alten vagen Erfahrungs-topoi, die die Textproduktion der Moralisten,

58 Dilthey, Einleitung, S. 32. Gleiches gilt laut Dilthey für den Politologen bzw. Soziologen: „[der Typus der Menschennatur] steht nicht minder zwischen dem politischen Denker und der Wirklichkeit der Gesellschaft, welcher dieser Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will.“ (Dilthey, Einleitung, S. 32). 59 Auch wenn hier noch allgemein vom „Geschichtsschreiber“ die Rede ist und Diltheys Ausführungen zur Biographie auf dieses Zitat erst folgen, entwirft Dilthey hier doch bereits die Schreibszene der Biographie. An späterer Stelle formuliert er diesen Punkt ohne Raumbild: „Man kann das wahre Verfahren des Biographen als Anwendung der Wissenschaft der Anthropologie und Psychologie [d. h. der von ihnen erarbeiteten Typenreihen, Ch. F.] auf das Problem, eine Lebenseinheit, ihre Entwicklung und ihr Schicksal lebendig und verständlich zu machen, bezeichnen.“ (Dilthey, Einleitung, S. 34). 60 Dilthey, Einleitung, S. 32. 61 Alle Zitate in diesem Satz aus Dilthey, Einleitung, S. 32.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

Memoirenschreiber und Dichter anleitete,62 sondern die „Anwendung der Wissenschaft der Anthropologie und Psychologie auf das Problem, eine Lebenseinheit, ihre Entwicklung und ihr Schicksal lebendig und verständlich zu machen“, gilt Dilthey als „das wahre Verfahren des Biographen“.63 Für den juristischen Kontext sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen Anleitungen für „Aktenrelationen“ von Bedeutung, die sich von der Praxis der Aktenversendung im 18. Jahrhundert herschreiben64 und das (vorgelesene) Referat aus einer Fallakte durch einen Aktuar oder Richter in Ausbildung vor einem Richterkollegium bezeichnen. Bis heute spielt diese schriftlich-mündliche Textform, nunmehr Sach- oder Tatbestandsvortrag genannt, in der Rechtsprechung insofern eine zentrale vorbereitende Rolle für die Urteilsfindung, als sie die Selektion der unstrittigen wie strittigen Falldaten zu leisten hat, die im Blick auf die geltenden Rechtsgrundsätze Relevanz besitzen, und derart die Materialbasis für die Beratungen der Richter in den Kammern und Senaten der Gerichte liefert.65 In Hitzigs Anleitung zur Abfassung einer Relation aus Criminal-Akten von 1843 etwa wird sie dezidiert als narrative Form gefasst, wenn ihr Verfasser den „Anfängern in der Referirkunst“ 66 für ihre inventio zunächst das „Hausmit62 Zur orientierenden Rolle der zwar variierten und weiter entwickelten, gleichwohl wieder erkennbaren rhetorischen topoi für die Stoff-Findung und -Anordnung in den zumeist moralphilosophisch inspirierten Gelehrten-(Auto-)Biographien bis weit ins 18. Jahrhundert hinein (vgl. Goldmann, Topos, S. 662 ff.). Näheres dazu in dieser Arbeit, Kapitel IV.7. 63 Dilthey, Einleitung, S. 34. Diese Bemühung Diltheys um eine ‚technische‘, die Selektion des biographischen Materials (Stoffes) möglichst weitgehend objektiverende Verfahrensweise des Historikers wird in Darstellungen, die Diltheys Biographie-Theorie einzig auf den methodischen Modus kongenialischen, ‚(ein-)fühlenden Verstehens‘ festlegen wollen, gerne ausgeblendet. Sigrid Weigel etwa rekurriert einzig auf den einen Satz der Einleitung, der diesen Modus in der Tat nahelegt, allerdings eher wie ein poetischer Fremdkörper in Diltheys Text figuriert: „Der Wille eines Menschen, in seinem Verlauf und seinem Schicksal, wird hier in seiner Würde als Selbstzweck erfaßt, und der Biograph soll den Menschen sub specie aeterni erblicken, wie er selbst sich in Momenten fühlt, in welchen zwischen ihm und der Gottheit alles Hülle, Gewand und Mittel ist und er sich dem Sternenhimmel so nahe fühlt, als irgendeinem Teil der Erde.“ (Dilthey, Einleitung, S. 33 f.). Vgl. Sigrid Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006, S. 166. Wenn Diltheys Empfehlung, das biographische Erzählen an den Erkenntnissen einer erneuerten Psychologie auszurichten, schließlich in einen Hinweis auf die experimentelle „Psychophysik“ Gustav Theodor Fechners mündet, könnte man hierin gar eine Öffnung der Geisteswissenschaften auf naturwissenschaftliches Wissen hin angedeutet sehen. (Dilthey, Einleitung, S. 34). 64 Vismann, Medien, S. 98 ff. 65 Vismann, Medien, S. 106 ff. 66 Hitzig, Hitzigs Anleitung zur Abfassung einer Relation aus Criminal-Akten, Berlin 1843, S. 3.

4 Disziplinäre Anschlüsse: Amateurhistoriographie und Jurisprudenz

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tel“ 67 an die Hand gibt, sich im Anschluss an ein „wiederholtes sorgfältiges Durchlesen“ der Akten einen „Dritten […] damit noch Unbekannten“ zu suchen und diesem die ganze Geschichte [zu] erzählen; dabei aber recht aufmerksam auf den Gang [zu] achten, den sie [die in den Akten enthaltenen Tatsachen, Ch. F.] unwillkürlich bei dieser mündlichen Erzählung nehmen würden, um genau denselben Gang bei ihrer schriftlichen Relation zu befolgen. Es könne auf diesem Wege nicht fehlen, daß Leben in ihren Vortrag kommen werde […].68

Mehr noch, auf diese Weise folge der erzählende Referent „einem richtigen Instinkt“ und präsentiere die Tatsachen in „einer natürlichen Reihenfolge“, statt sich, was für seine Zuhörer „unerträglich langweilig“ sei, „an dem Faden der Actenfolien in die Prozeßgeschichte hinein[zu]sp[i]nnen, die doch nur die äußere Hülle um den Kern wäre“.69 Parallel zu diesem „Hausmittel“ und als die eigentlich professionelle Handreichung arbeitet Hitzig auf der Grundlage von „Fragen“, auf die es bei jedem „Vortrag über einen Criminalrechtsfall im Allgemeinen“ ankommt, wie Was ist geschehen? Wer soll es gethan haben? Hat der, welcher es gethan haben soll, es wirklich gethan? – Nein! – So muß er freigesprochen werden. – Ja! – So muß ihn die Strafe treffen. Welche Strafe?70

ein komplexes Katalogschema aus, nach dem der Aktenreferent systematisch seine Aktenlektüre ausrichten und seine Lesefrüchte zur Fallerzählung ordnen kann. Dieses Schema folgt seinerseits sehr genau dem alten juristischen Fragenkatalog, den Cicero in seiner Topik-Schrift in Abwandlung des topischen lociVerfahrens entworfen hat – als juristische Spezialisierung desselben gewissermaßen – und das seither unter dem Namen der „Stasis-Lehre“ Karriere gemacht hat. Beide methodischen Anleitungen knüpfen die entscheidende Erkenntnisleistung ihrer Disziplin also an den Vorgang des Erzählens, dessen angeblich bereits intuitiv funktionierende Selektions- und Ordnungsleistung sie nutzen und durch methodische Reflexion professionalisieren wollen. Sie unterscheiden sich letztlich nur in der konkreten Bestimmung der relevanten Frage- oder Orientierungspunkte und darin, wie weit sie die intuitiven, durch die alltägliche Erzählpraxis eingeübten narrativen Selektions- und Ordnungskriterien distanzieren.

67 68 69 70

Hitzig, Hitzig, Hitzig, Hitzig,

Anleitung, Anleitung, Anleitung, Anleitung,

S. 3. S. 4. S. 4. S. 5.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

5 Der sozial-moralische Rechtsstreit im Vogelsang Bevor genauer in den Blick genommen werden kann, an welchen historiographischen oder juristischen, intuitiven oder wissenschaftlich fundierten Orientierungsgesichtspunkten sich Krumhardt im Zuge der erzählten inventio-Szene abarbeitet, ist nachzuzeichnen, inwiefern seine Geschichtsrekonstruktion mit seinen dienstlichen, also juristischen Akten in Bezug gesetzt wird. Das geschieht gleich in der Eingangsszene des Texts: Krumhardt präsentiert sich hier in seiner privaten „Arbeitsstube“ (A 215) am Schreibtisch sitzend, wie er Helenes Brief mit der Todesnachricht liest und diesen im Anschluss seiner hinzu kommenden Frau Anna zu lesen gibt. Mit dem Schreibtisch geraten auch Krumhardts professionelle Akten darauf in den Blick, wobei von Anna ihr erdrückender Umfang („‚Großer Gott, diese Berge von Akten!‘“, 215) und der zeitliche Aufwand ihrer Bearbeitung herausgestellt werden („‚Hast du heute wieder mal kein Stündchen Zeit für uns übrig gehabt, […]. Was haben wir denn eigentlich noch von dir?‘“, ebd.). Von ihnen wird der Brief Helenes, das erste präsentierte Dokument zur Vogelsang-Vergangenheit, zunächst abgesetzt – „‚Die bösen Akten sind es diesmal nicht‘“ (ebd.) – um ihnen kurz darauf wieder angenähert, ja beigemischt zu werden: Krumhardt lässt den Brief nun „unter [s]einen Aktenhaufen“ (A 216), um mit seiner Frau zu den Kindern zu gehen. Auf diese Weise signalisiert der Text gleich zu Beginn, dass Krumhardts private Vogelsang-Akten in materiellverfahrenstechnischer Hinsicht von seinen geschäftlich-juridischen Akten nicht zu unterscheiden und prinzipiell gleich zu behandeln sind.71 Kurz darauf nähert Krumhardt seine „Akten des Vogelsangs“ einer juristischen Prozessakte an. Diese Annäherung ist allerdings deutlich metaphorischer zu nehmen als diejenige an die amateurhistoriographische Lokalgeschichtsschreibung in Aktenform. So beteuert Krumhardt, dass „diese Akten mit allen dazugehörigen Dokumenten das Nähere“ darüber berichteten, wie die Briefverfasserin Helene Trotzendorff als „Kind [ihr] Bürgerrecht unter dem Osterberge im Vogelsang erwarb und es aufgab“ (A 220). Der Folgesatz präzisiert noch, dass dieses „Bürgerrecht“ insbesondere im Verhältnis zwischen Helene und Velten strittig sei, denn da heißt es, Krumhardt referiere „in Sachen Trotzendorff gegen Andres, oder Velten Andres contra Witwe Mungo [d. i. Helene, Ch. F.]“ (ebd.). Doch einen im strengen Sinn justiziablen Rechtsstreit fechten diese beiden nicht aus. Mit Helenes „Bürgerrecht“ ist gemeint, dass ihre Mutter mit ihr mittellos aus Amerika in den Vogel-

71 Das bestätigt eine weitere, spätere Stelle, an der Krumhardt in einer Parenthese bemerkt: „[…] (ich weiß es ja eigentlich selber nicht, wie sich dieses alles plötzlich infolge jenes Briefes aus Berlin, den Helene Trotzendorff, den Mrs. Mungo schrieb, in den tagtäglichen Aktenwechsel auf meinem Schreibtische schiebt!), […].“ (A 335 f.)

5 Der sozial-moralische Rechtsstreit im Vogelsang

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sang zurückgekehrt ist und beide hier nun auf Kosten des Nachbarschaftskollektivs untergebracht und versorgt werden. Unter den Nachbarn herrschen allerdings verschiedene Ansichten darüber, ob die Trotzendorffs angesichts ihres Unwillens, sich in die sittliche Ordnung und Gepflogenheiten des Vogelsangs einzufinden (A 230, 233, 247), überhaupt ein Recht auf diese Zugehörigkeit und Leistungen haben. Es geht also allenfalls um eine sozialmoralische und soziokulturelle Streitfrage, die den Vogelsang bewegt, um einen Streit ums Recht-haben, d. h. um die Deutungshoheit im Blick auf die sittliche Ordnung des Vogelsangs.72 Entsprechend muss Krumhardt als wirklicher Richter in dieser causa nicht professionell tätig werden, sondern erklärt seine Leser zur Richterinstanz („die geehrten Herren und Damen auf dem Richterstuhle des Erdenlebens“ (A 220)), gegenüber der er als bloßer „Protokollist des Falls“ (A 220) agieren wolle. Gleichwohl überrascht Krumhardts Bezeichnung der Prozessparteien, denn der in Liebe zu Helene entbrannte Velten steht eigentlich mit seiner Mutter Amalie auf der Seite der Befürworter des Trotzendorffschen „Bürgerrechts“. In mehrfachen Diskussionen,73 den von Krumhardt als exemplarisch herausgestellten Streitszenen, wirbt Amalie um Verständnis für die Trotzendorffs, insbesondere bei Krumhardt senior. Letzterer glaubt, als einziger vorhandener Vater im Vogelsang,74 der seine eigene Familie in strenger „Zucht“ (A 218) hält und „von der Obervormundschaft“ Veltens Mutter Amalie „als ‚Familienfreund‘ beigegeben“ (A 220) wurde, ihr wie auch den Damen aus Amerika

72 Damit fungiert der Rechtsstreit in Raabes Text aber keineswegs nur als „Form der Perspektive auf die Rekonstruktion von Kindheitserinnerungen“ (Pethes, Normalität, S. 164) und die Akte entsprechend als ‚Wahrnehmungs- und Erzählmodell‘ Krumhardts (Jückstock, Welt deuten, S. 181). Gerade vor dem Hintergrund der topischen Formreflexion erweisen sich Krumhardts „Akten“, wie in Kapitel IV.8 zu sehen sein wird, als handfestes diskurs- bzw. gedächtnispolitisches Argument im soziokulturellen Streit um das Erbe der Vogelsang-Kultur. 73 Vgl. z. B. die ausführlich wiedergegebene Streitszene (A 246–253), die Krumhardt junior als repräsentative Szene des Nachbarschaftslebens kennzeichnet, wenn er betont: „Dieser Sommer-Sonntagnachmittag, der eigentlich ganz gemütlich und vogelsangmäßig angefangen hatte, ging wieder einmal recht unbehaglich zu Ende“ (A 249, Hervorh. Ch. F.) und zum Schluss erklärt: „Ich habe diesen einen Sonntagnachmittag von vielen hunderten seinesgleichen, und nicht bloß im Sommer, sondern auch in jeder andern Jahreszeit, wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten so deutlich und farbenfrisch als möglich zu Papier gebracht.“ (A 253, Hervorh. Ch. F.). 74 Veltens Vater ist schon zu Lebzeiten als Vater kaum präsent gewesen, früh gestorben (vgl. A 220 f.) und von daher als Vorbild für die Kinder des Vogelsangs ein Ausfall (A 222); Helenes Vater hatte über viele Jahre erfolglos sein Glück in Amerika gesucht (A 227, 229), hatte sich dann wegen eines drohenden Aufenthalts in Sing-Sing in den wilden Westen absetzen und Frau und Tochter in den Vogelsang zurückschicken müssen (A 230), bevor er sie denn doch als erfolgreicher Mann und „zehnfacher Dollarmillionär“ erneut nach Amerika holen konnte (A 270, 277).

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

„Vernunft“ (A 223, 226) beibringen zu müssen. Die Diskussionen mit ihnen und Amalie, die er „nur selten ‚begriff‘“ und „recht häufig sehr ängstete [sic] und dann und wann noch viel mehr ärgerte“ (A 221), beendet er typischerweise durch den Abbruch der Kommunikation, indem er „sich in sein Reich, eine Treppe hoch, zurück[zieht]“ und auch seinen Sohn mit schmerzhaftem „Griff“ „gewöhnlich mit sich [nimmt]“ (A 254).75 Helenes „Bürgerrecht“ ist demnach eigentlich zwischen den Trotzendorffs und Amalie auf der einen Seite und Krumhardt senior nebst Gattin, die nie „einen anderen Willen haben konnte als den seinigen“ (A 218), auf der anderen Seite strittig. In den Vogelsang-Szenen allerdings, die im „Jugendphantasiereich von Velten Andres und Helene Trotzendorff“ (A 254) hoch oben auf dem Osterberg spielen – also in noch größerer Höhe als Vater Krumhardts „Reich“ –, setzt sich der Streit in veränderter Rollenaufteilung fort: Hier liegen sich in erster Linie Velten und Helene in den Haaren, so dass Krumhardt junior „zwischen sie“ (A 256) gehen muss, und hier ist es Velten, der Helene zur Raison bringen, ihr die Flausen, nicht in den Vogelsang zu passen, austreiben will und einen „noch fast schärfer[en] Griff als [Krumhardts] Vater“ (A 257) praktiziert, um dessen Sohn auf seiner Seite zu halten. Noch einmal anders stellt Krumhardt im weiteren Textverlauf die Parteienlage dar, wenn er paradox formuliert, er verstehe sich als „nüchterner Protokollführer in seinem [d. h. Veltens, Ch. F.] siegreich gewonnenen Prozeß gegen meine, gegen unsere Welt“ (A 295, Hervorh. im Original). Unklar bleibt in der Zusammenschau dieser Stellen somit nicht nur, wer der Kläger und wer der Beklagte sei, sondern noch grundsätzlicher, welche nun eigentlich die streitenden Prozessparteien wären: Helene gegen das Nachbarschaftskollektiv des Vogelsangs? Velten gegen Helene? Oder Velten gegen Krumhardt bzw. die gesamte bürgerliche Welt? Wenn aber derart unklar ist, wer hier gegen wen streitet, wer also in welcher Rolle spricht, ob als Partei oder als unbeteiligter Zeuge, dann wird auch in der Variante juristischer Aktenführung die Rolle Krumhardts fraglich – ist er nun „nüchterner Protokollführer“, der mündliche Zeugenaussagen unbeteiligt eins zu eins schriftlich fixiert,76 oder ist er seinerseits betroffener Aktenrezipient, der dem Leser doch eine an den eigenen Interessen ausgerichtete oder gar manipulative Aktenlektüre präsentiert? Entsprechend kann dem Leser auch mit Blick auf den juristischen Kontext die Beweiskraft der scheinbar im Originalton

75 Zur Angst verbreitenden Position des Vaters vgl. auch A 221, wo Krumhardts Kommentar zum Begriff „gut nachbarschaftlich“ – „(ich gebrauche das Wort trotz allem, was nachher hierüber zu den Akten kommt)“ – die soziale Problematik des Kollektivs herausstellt. 76 Zur Bedeutung der mündlichen Verhandlung für die zeitgenössische Rechtsprechung und damit auch zur Relevanz mündlicher Zeugenaussagen während des Prozessverlaufs (vgl. Vismann, Medien, S. 24).

6 Strittige Grenzziehungen: die Rahmung des Vogelsang-Archivs

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zitierten Zeugenaussagen über Velten und den Vogelsang bedenklich werden. Das trifft insbesondere auf ihren inter- oder polymedialen Charakter zu, sind sie doch von Krumhardt schriftlich aus der Erinnerung protokollierte mündliche Aussagen über (auch für die Zeugen) zurückliegende, also mental erinnerte und nachträglich verbalisierte Sachverhalte. So metaphorisch und unklar Krumhardts Rede von seinen „Akten“ als juristische sein mag, so wenig ist sie damit abzutun, dass Raabe mit ihr schlicht Krumhardts bürgerliche Beschränktheit und ordo-Fixierung ausstellen wolle.77 Schließlich erzeugt Krumhardt mit der expliziten Annäherung seiner „Akten“ an juristische Prozessakten mindestens zwei Effekte: Zum einen fokussiert und problematisiert er so auch die juristische (Re-)Konstruktion einer (Streit-)Fallgeschichte auf der Grundlage von Prozessakten. In ihnen sind die strittigen Handlungen und antagonistischen Positionen sowie protokollierte Zeugenaussagen in vielfältigen Aktenstücken ohne narrativen Zusammenhang schriftlich niedergelegt und müssen erst vom Rezipienten in eine erzählbare Ordnung gebracht werden. Zum anderen stellt Krumhardt damit sein nicht-argumentatives Archiv des Vogelsangs gleichwohl in den Rahmen einer agonalen Auseinandersetzung, eines handfesten sozialmoralischen Streits (vgl. den gewaltsamen „Griff“) um das „Bürgerrecht“, also um die Zugehörigkeit zum VogelsangKollektiv und damit auch um dessen Umfang und Grenzen, wie unklar die Fronten hier zunächst auch erscheinen mögen.

6 Strittige Grenzziehungen: die Rahmung des Vogelsang-Archivs Der doppelte disziplinäre Anschluss von Krumhardts Vogelsang-Archiv an den amateurhistoriographischen und den juristischen Kontext wird durch die besondere strukturelle Rahmenkonstruktion von Krumhardts Sammlung unterstrichen. Indem er das Wiedersehen mit Helene in Berlin aus der Chronologie der Erzählzeit herausnimmt und seine Schilderung mitsamt dem Protokoll von Helenes Velten-Erzählung an das Ende seiner „Akten“ setzt, rahmt Krumhardt sein Archiv zitierter Originalreden der Vogelsang-Nachbarn durch Helenes Aussagen: Ihr Brief eröffnet die Sammlung, und ihre Erzählung von der gemeinsamen Vergangenheit mit Velten beschließt sie.78 Krumhardt betont diesen Rahmen 77 Vgl. Jückstock-Kießling, Ich-Erzählen, S. 271 ff. 78 Danach berichtet Krumhardt nur noch von seinem Abschied von Helene, seiner Heimreise sowie einem kurzen Gespräch mit seiner Frau und zeigt sich ein letztes Mal an seinem Schreibtisch. Dieser Rahmen ist in der Forschungsliteratur weitgehend unbeobachtet geblieben. Preisendanz deutet ihn an und versteht die Wiedersehensszene mit Helenes Erzähl- und Schreibempfehlung am Ende als ‚entscheidende‘ Szene (vgl. Preisendanz, Nachwort, S. 229).

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

seines Archivs noch dadurch, dass er unmittelbar vor dem Bericht über seine Berlinreise und Helenes Erzählung den Leser kurz hintereinander gleich zwei Mal ausdrücklich an die Eingangsszene mit der Brieflektüre erinnert, sie ihm noch einmal szenisch vor Augen führt, indem er sich neuerlich mit Helenes Brief in der Hand am Schreibtisch zeigt.79 Beide Rahmentexte von Helene bringen die angekündigten disziplinären Kontexte seiner „Akten“ ins Spiel und zwar so, dass sich die Bezugnahmen gattungshistorisch präzisieren lassen und sich die Funktion seines Archivs im geschilderten Streit um die Grenzen des Vogelsangs genauer erschließt: Die Szene der Brieflektüre zu Beginn umfasst die beiden ersten Erzählstücke von Krumhardts Text. Im ersten zitiert Krumhardt nach einer knappen Selbstvorstellung Helenes Brief, der ihn gänzlich umstandslos über Veltens Tod informiert: „Lieber Karl! Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er ist nun tot, und wir haben beide unsern Willen bekommen. – Er ist allein geblieben bis zuletzt, mit sich selber allein. Daß ich mich als seine Erbnehmerin aufgeworfen habe, kann er freilich nicht hindern; das liegt in meinem Willen, und aus dem heraus schreibe ich Dir heute und gebe Dir Nachricht von seinem Tode und seinem Begräbnis. […]“ (A 213)

Aufgrund der Voranstellung muss Helenes Brief vom Leser zwangsläufig als Anlass von Krumhardts Bemühung um die Geschichte Veltens und des Vogelsangs genommen werden. Die umstandslose und damit akzentuierte Nachricht vom Tod des Freundes verweist diese Bemühung in den Kontext (amateur-)historiographischer Freundesbiographik. Als eine Art erweiterter Nekrolog war die Freundesbiographie insbesondere in der Zeit des Vormärz eine „unerhört beliebt[e]“ „Form der zeitgeschichtlichen Biographie“,80 in der „‚denkwürdige Person[en]‘“ 81 bald nach ihrem Tod durch einen Freund oder Bekannten portraitiert wurden – so beliebt übrigens, dass sie „öfters als Ersatz für den Roman“ 82 gehandelt wurde. Als Vorläufer gelten die „Biographische[n] Denkma-

79 „Wir sind im März eines neuen Lebensjahres, und ich halte wieder den Brief in der Hand, den mir Mrs. Mungo im November des vorigen Jahres aus Berlin schrieb.“ (A 385) Daraufhin zitiert Krumhardt noch einmal die ersten Zeilen von Helenes Brief und zwei Seiten später insistiert er: „Ich bin wieder auf dem ersten Blatt der Chronik des Vogelsangs“ (A 387, Hervorh. im Original), um dann auch den Dialog mit seiner Frau über die geplante Berlinreise vom Textanfang ansatzweise zu wiederholen. 80 Friedrich Sengle, Biographie. In: Ders., Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd. 2: Die Formenwelt, Stuttgart 1972, S. 306–321, hier S. 318. 81 Sengle, Biographie, S. 308. 82 Sengle, Biographie, S. 320.

6 Strittige Grenzziehungen: die Rahmung des Vogelsang-Archivs

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le“ (1824–30) des Varnhagen von Ense, der mehrheitlich noch bekannte und weniger bekannte Geistesgrößen des 18. Jahrhunderts versammelte. Einschlägig sind etwa die Publikationen des ersten Goethe-Biographen Heinrich Döring, der neben den klassischen Dichtergrößen Weimars auch zeitgenössische Schriftsteller und Theologen portraitierte, mit denen er teilweise befreundet war. Mit ihrer „Vorliebe für die Dokumentation“ 83 interessierten die Freundesbiographien weniger als wissenschaftliche oder künstlerische Werke,84 sondern galten vor allem „wie die Statuen der Walhalla […] als Denkmäler der Nation“;85 ByronBiograph Wilhelm Müller spricht von „nekrologische[n] Denkm[älern]“.86 „Deshalb war es auch eine Pflicht für die Freunde großer Geister, solche Denkmäler selbst aufzurichten und nicht nur wissenschaftlichen Biographen ‚Stoff‘ für ihre Arbeit zu liefern“.87 Gerade das in den Texten versammelte authentische Material aus dem Nachlass (meistenteils Briefe oder andere Ego-Dokumente) des Verstorbenen und die persönliche Nähe des Freundesbiographen, der im Doppelsinn ‚Amateur‘ – liebender Laie – ist, galten als Garanten der Denkmal-Funktion der Freundesbiographien: „Es geht um die Wiedergabe einer Erscheinung, die nicht absolut einmalig ist, sondern eine bestimmte Idee und eine ihr dienende Gruppe repräsentiert.“ 88 Entsprechend sind die meisten derart Biographierten eher „Helden zweiten Ranges“ 89 und deshalb bezeugt die persönliche Nähe und Betroffenheit des Biographen gerade die Repräsentativität des Helden für die

83 Sengle, Biographie, S. 316. 84 Späteren Historikern und Vertretern der „neuen realistischen ‚Portraitmalerei‘“, die dem „Ideal einer individuelleren, intimeren Menschendarstellung“ anhängen, erscheinen sie deshalb als „farblos, abstrakt, idealisierend“ (Sengle nennt beispielhaft Heinrich von Sybel, vgl. Sengle, Biographie, S. 306 f.). 85 Sengle, Biographie, S. 316. 86 Sengle, Biographie, S. 318. 87 Sengle, Biographie, S. 316. Angesichts der bereits erwähnten Bevorzugung mündlicher und dinglicher Überlieferungsbestände durch die Amateurhistoriographie ist es bemerkenswert, dass die Biographieforschung auf die funktionale Entsprechung zwischen dokumentarischen Freundesbiographien und Statuen bzw. Denkmälern für die Geschichtsrepräsentation im Vormärz abhebt. Der zeitgenössisch empfundene Ding-Charakter der Freundesbiographie wird noch wichtig sein für die Verhältnisbestimmung von Veltens dinglicher Vogelsang-Erzählung und Karls Vogelsang-Archiv (vgl. Kapitel IV.8.1). 88 Sengle, Biographie, S. 313 f. Sengle begründet die Tendenz zur Idealisierung in der Biographie des Vormärz damit, dass hier zwar die „Entfaltung des neuen Individualismus und der Einzelbiographie nach 1848“ beginnt, zugleich aber „der Zweifel an der Bedeutung des isolierten Einzelmenschen“ wächst, weil „die Geschichte der Staaten, der Völker, der revolutionären oder restaurativen Ideen sich in der napoleonischen Zeit immer bemerkbarer machte und die Menschen in ihren Dienst zog“. (Sengle, Biographie, S. 312 und S. 309). 89 Sengle, Biographie, S. 307.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

jeweilige Gruppe,90 der sich der Biograph selbst auch zugehörig fühlt.91 Ziel der biographischen Betätigung ist dann nicht nur, „den Helden [in seiner Repräsentativität und damit auch die Idee der Gruppe, Ch. F.] lieben zu lehren“, sondern zugleich die autobiographische Bewältigung der persönlichen Betroffenheit des Biographen vom Tod des Freundes. Dieser erschüttert ihn nicht nur in seiner Identität als Freund, sondern auch in seiner Identität als Mitglied der Gruppe. Eben dieses Motiv der verunsicherten Identität des Freundesbiographen setzt Krumhardt mit dem Arrangement seiner ersten beiden Erzählstücke deutlich in Szene. Darin präsentiert er sich nicht als Erzähler, der über eine souveräne Erzählerrede verfügte. Schon für seine knappe Selbstvorstellung im ersten Satz findet er kaum eigene Worte und rekurriert zur näheren Bestimmung seines „ich“ sogleich auf Dokumente.92 Indem er unmittelbar danach Helenes Brief als ganzen zitiert und mit ihm das erste Erzählstück enden lässt, bringt er sich zudem als Erzähler hinter oder neben dem Dokument zum Verschwinden – der Leser kann es gewissermaßen an ihm vorbei selbst einsehen. Im zweiten Erzählstück ist es nicht etwa Krumhardt, der seine Reaktion auf den Brief mitteilt, sondern seine unvermittelt hinzu kommende Frau Anna. Sie kennzeichnet seine Lesehaltung am Schreibtisch als diejenige des verzweifelten und handlungs-, also auch erzähl- und schreibunfähigen Melancholikers („‚Was hältst du so den Kopf mit beiden Händen?‘“, A 215)93 und evoziert mit ihrem Hinweis auf die

90 Sengle schreibt: Die Freundesbiographie „erscheint, gerade weil sie oft ein Werk der Liebe ist, dem kritischen Historiker unentbehrlich. Die zeitgeschichtliche Perspektive sowohl wie die persönliche Nähe zu der historischen Persönlichkeit ist durch keine spätere Forschung zu ersetzen.“ (Sengle, Biographie, S. 318). 91 Sengle, Biographie, S. 318. 92 Der erste Satz lautet: „An einem Novemberabend bekam ich (der Leutnant der Reserve liegt als längst abgetan bei den Papieren des deutschen Heerbanns), Oberregierungsrat Dr. jur. K. Krumhardt, unter meinen übrigen Postsachen folgenden Brief […]“. (A 213) Sein ungefähres Alter verrät Krumhardt hier nur indirekt unter Verweis auf die abgelegten „Papiere[ ] des deutschen Heerbanns“ und die Angaben zu seinem Namen, seiner beruflichen Qualifikation wie gesellschaftlichen Stellung überlässt er der Fremdrede des erhaltenen Briefs, wenn er hier ersichtlich seine postalische Adressierung auf dem Umschlag vorliest. 93 Vgl. die wiederkehrenden Selbstdarstellungen Krumhardts in der typischen Pose des Melancholikers, (z. B. A 215, 335: „mit dem Kopfe in der Hand“), die durch Hamlet-Zitate bestärkt werden (A 334). Nach Roebling werde Raabes eigene „humoristische[ ]“ Schreibweise in seinem Spätwerk immer mehr durch eine „melancholische Erzählhaltung und -gestaltung“ modifiziert, was Roebling in erster Linie an Raabes Zum wilden Mann belegt (vgl. Roebling, Doppelte Buchführung, S. 29 und 60 ff.). In den Akten hat die ‚melancholische Erzählhaltung‘ vor allem inszenatorischen Charakter; sie kann angesichts der archivalischen Selbstbehauptungsstrategie Krumhardts weder innerfiktional durchgängig für dessen Schreibweise noch für diejenige Raabes geltend gemacht werden. Anders Krebs, die „die Melancholie Karl Krumhardts […] als potentiell zur Depression steigerungsfähig betrachtet“ (dies., Identitätskonstitution, S. 103 f.).

6 Strittige Grenzziehungen: die Rahmung des Vogelsang-Archivs

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ungewöhnliche Länge der Zeit, die Krumhardt an diesem Abend bei seinen Akten verbracht hat, auch das notorische, ergebnislose Brüten des Melancholikers. Das suggeriert: Krumhardt ist kein Agens, nicht einmal ein sprachlich Handelnder, sondern er ist Patiens im Wortsinn, ist Leidender, ist betroffener Leser.94 Schließlich kann Annas Ausruf „‚Aber das ist ja ein entsetzlicher Brief!‘“ (A 215) im Anschluss an ihre eigene Lektüre des Briefs wörtlich genommen werden, denn unmittelbar zuvor zeigt sich Krumhardt (denn doch in eigenen Worten) im buchstäblichen Sinn ent-setzt: „Die Pfeife war mir längst ausgegangen; ich stand auf, um sie in einem Wirrwarr von Gedanken gedankenlos wieder anzuzünden, und ging nun in meiner Arbeitsstube auf und ab […].“ (ebd.) Als Fortsetzung dieses unwillkürlichen Drangs nach Bewegung und Ortsveränderung muss Krumhardts kurz danach angetretene Reise nach Berlin gelten, als ein Ent-setzen seiner Person von ihrem sicheren Platz in Familie und Haus hinein in die Todeskammer Veltens. Diese hatte Helene in ihrem Brief als Ort des absoluten Alleinseins und damit der endgültigen Auflösung des Vogelsang-Kollektivs charakterisiert: „Er ist allein geblieben bis zuletzt, mit sich selber allein.“ (A 213) Wenn Krumhardt diese Reise im Anschluss nun nicht gleich erzählt, sondern an deren Stelle seine problematische Geschichtsrekonstruktion im heimischen Arbeitszimmer setzt, dann kennzeichnet er diese als eine drangvolle und reiseähnliche Bewegung von der Gegenwart in die Vergangenheit, aus dem pulsierenden Leben („inmitten der Stadt“ (A 334) und Familie) in den Raum des Todes („eine[n] so leeren Raume“, A 213) und wieder zurück ins Leben. Sein im Zuge der Rekonstruktion wieder eingenommener Platz am Schreibtisch muss entsprechend von vorn herein als ein prekärer verstanden werden, der erst durch die freundesbiographische Arbeit erneut zu definieren ist. Dass es Krumhardt bei dieser Arbeit auch und gerade um die Restitution und Bestärkung seiner verunsicherten Identität als Mitglied der durch den Verstorbenen repräsentierten Gruppe geht, machen die Hinweise auf Veltens Beerdigung in Helenes Brief deutlich. Sie informiert Krumhardt nicht nur über Veltens Tod, sondern gibt ihm „Nachricht von seinem Tode und seinem Begräbnis“ (A 213, Hervorh. Ch. F.). Und unmittelbar bevor sie an das freundschaftliche Dreiecksverhältnis zwischen Velten, ihr und Krumhardt im alten Vogelsang erinnert, konstatiert sie, dass ihr von den Berliner Freunden Veltens – einer Art zweiter Ersatz-„Vogelsang“ – „das Recht zuerkannt [worden sei, Ch. F.], das Be-

Zu Recht hebt sie aber auf Krumhardts „unentschiedene Sprachlosigkeit“ aufgrund seiner Verstörung durch die Todesnachricht an dieser Stelle ab (Krebs, Identitätskonstitution, S. 105). 94 Dadurch erfährt die unmittelbar vorangegangene Textlücke eine semantische Aufladung, sie wird zum Zeichen der momentanen Unfähigkeit des Erzählers Krumhardt, Zusammenhänge zu sehen und herzustellen.

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gräbnis zu besorgen“ (A 214). Damit erklärt sie sich als verantwortlich dafür, dass Krumhardt, dessen vormalige Zugehörigkeit zum inner circle des alten Vogelsangs sie selbst bezeugt, erst jetzt, nachdem das Begräbnis schon stattgefunden hat, informiert wird. Mit anderen Worten: Es lag in Helenes „Willen“, dass Karl Krumhardt die Teilnahme an Veltens Beerdigung verwehrt wurde. Damit hat sie ihn ex post aus diesem inner circle ausgeschlossen – aus dem Kreis derer, die vor allen anderen zur Pflege von Veltens Andenken und damit auch des Andenkens an die gemeinsame Vergangenheit berufen sind und die mit diesem Andenken die Identität der Gruppe bezeugen. Das bestätigt sich einmal mehr in der Szene des Wiedersehens, in der Krumhardt Helene wörtlich zitiert: „Ich wollte dich ja auch nicht bei seinem Begräbnis haben, Karl.“ (A 405). Als Veltens „Erbnehmerin“ (A 213) und Begräbnisorganisatorin hat sie dafür gesorgt, dass Krumhardt nicht zum Kreis der Altvertrauten gehört, die sich um Veltens Grab versammeln und Abschied nehmen, die mit ihrem Kommen und ihren Erinnerungen – etwa in Form einer Grabrede – dem Verstorbenen und seinem gesamten Leben nachträglich Bedeutung verleihen und ein öffentliches Denkmal setzen. Krumhardt ist das bürgerliche Beerdigungsritual mit seiner Funktion, insbesondere die gesellschaftlich-kollektive Bedeutung eines Lebens abzuwägen, ja zu (er)messen, sehr wichtig. Das macht er später im Text anlässlich der Beerdigung seines Vaters explizit: Wie oft hat er von dem Fenster unseres Wohnzimmers aus die Kutschen gezählt, die bei solchen Gelegenheiten die Teilnahme der Besten im Volke leer, aber würdig zur Darstellung bringen! … Und nicht, daß ich nun von einem erhabenern Standpunkt hierüber hinweggesehen hätte: o, als der rechte Sohn meines Vaters habe ich sehr genau darauf geachtet, wer ihm und mir die gebührende Ehre gab und wer nicht! – (A 338 f.)

Gesellschaftlich relevant ist das Begräbnis vor allem für die Hinterbliebenen. Im Kontext der auf Öffentlichkeit zielenden „Familienkultur“ 95 des 19. Jahrhunderts hatten größere Familienfeste und erst recht die Beerdigung als „die bürgerlichreligiöse Feierlichkeit schlechthin“ 96 die Funktion, die Geladenen zu einer „Erinnerungsgemeinschaft“ zusammenzuschließen. Deshalb ist deren physische Anwesenheit, sei sie auch nur durch leere Kutschen symbolisiert, von großer Bedeutung. Hatte Velten mit seiner überraschenden Teilnahme an Vater Krumhardts Beerdigung noch die Zugehörigkeit Krumhardts junior zur Erinnerungsgemeinschaft des alten Vogelsang (trotz seines Wegzugs) attestiert, schließt Helene ihn hier nun aus. Dass dieser Ausschluss vor allem auf die Kontrolle und

95 Martin Kazmaier, Die deutsche Grabrede im 19. Jahrhundert. Aspekte ihrer Funktion innerhalb der bürgerlichen Bestattungsfeierlichkeiten, Stuttgart 1977, S. 144. 96 Kazmaier, Grabrede, S. 146.

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Verhinderung eines kommunikativen Beitrags bei Veltens Beerdigung zielt, macht eine weitere Aussage Helenes am Schluss deutlich: „Ich, ich, ich, die Witwe Mungo hatte allein das Recht, in diesem leeren Raum mit ihm den Kampf bis zum Ende zu ringen. Auch ihn zu begraben, hatte ich keinen von euch nötig, […]. Was hättet ihr ihm […] hineinsprechen können, was ihm den alten Glanz in seinen Augen festgehalten hätte?“ (A 402, Hervorh. Ch. F.)

Explizit wird hier die Bedeutung des „Hineinsprechens“ in die Runde der Hinterbliebenen für die Fixierung (das ‚Festhalten‘) und damit auch Tradierung eines lebendigen Bildes vom Verstorbenen („ihm den alten Glanz in seinen Augen fest[ ]halten“) betont. Doch statt in personam am Rand von Veltens Grab und inmitten des alten Vogelsang-Kollektivs gestanden und in einem öffentlichmündlichen Nachtrag zu Veltens Leben seine Anteilnahme an diesem Leben formuliert (oder sie auch nur symbolisch angezeigt) haben zu können, sitzt Karl nun einsam lesend am Rand von Helenes Text und kann nur nach-nach-träglich auf Veltens Tod reagieren und dessen Leben sowie die Rollen, die er selbst und andere darin spielten, schriftlich kommentieren. Damit ist die Nekrologfunktion von Krumhardts Vogelsang-Archiv angekündigt und mit der verhinderten Grabrede zugleich das öffentlich-mündliche Textgenre evoziert, dessen Rhetorik der Nekrolog und mit ihm die Freundesbiographie typischerweise beerben.97

6.1 Hitzigs Biographiemodell „actenmaeßigen Erzaehlen[s] eines fremden Lebens“ als rahmendes Formativ Der abschließende Rahmenteil von Krumhardts Erzählstücken bestätigt nicht nur seine Verbannung an den Rand des Vogelsang-Kollektivs durch Helene wie auch sein freundesbiographisches Bemühen, sich als Mitglied dieses Kollektivs zu behaupten; er macht darüber hinaus sein Vogelsang-Archiv auf ein ganz bestimmtes freundesbiographisches Textformat hin durchsichtig: auf die „actenmaeßigen“ Freundesbiographien des bereits erwähnten Julius Eduard Hitzig.98 Dieser hatte nicht nur die oben zitierte einschlägige Anleitung zu Aktenrelatio97 Zur Vorprägung insbesondere der Freundesbiographie, aber auch der späteren „historischen“ Biographie durch den Nekrolog, dessen Rhetorik wiederum die der Grabrede, der funebris laudatio, beerbt, vgl. v. Graevenitz, Geschichte aus dem Geist des Nekrologs. Zur Begründung der Biographie im 19. Jahrhundert. In: DVjs 54 (1980), S. 105–170, hier S. 158 ff. Diese Rhetorik, die insbesondere das Größenverhältnis zwischen Biograph und Biographiertem regelt, wird im Blick auf das Verhältnis von Karls archivalischem Erzählen zu Velten als Erzählervorbild noch zur Sprache kommen (vgl. unten, Kapitel IV.7 und IV.8). 98 Das „actenmaeßige[ ] Erzaehlen eines fremden Lebens“ propagiert Hitzig v. a. in der „Vorrede“ seiner Hoffmann-Biographie, vgl. Julius Eduard Hitzig, Aus Hoffmann’s Leben und Nach-

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nen verfasst, sondern mit Biographien zu seinen Dichterfreunden Friedrich Ludwig Zacharias Werner, E. T. A. Hoffmann und Adelbert von Chamisso in den 1820er und 1830er Jahren große Bekanntheit erlangt 99 – einer Biographieform indes, die insofern sowohl von Diltheys als auch seinen eigenen Vorgaben für die Konstruktion einer Lebens- respektive Fallgeschichte auf der Grundlage von Akten abwich, als sie in erster Linie Nachlass-Dokumente des Verstorbenen versammelte. Deutliche Anspielungen auf Hitzig finden sich vor allem in Helenes Erzählbzw. Schreibauftrag, mit dem sie ihre Velten-Erinnerungen beschließt. Diesen Auftrag leiten allgemeine Überlegungen zu Krumhardts Befähigung zum Vermittler und Bewahrer ihrer Vergangenheitserzählung ein: „[…]: oh wie schade, daß du kein Versmacher bist, du guter Freund Karl, sonst solltest du über Velten Andres’ und Helene Trotzendorffs Sterne, Wege und Schicksale ein Lied machen. Ob du ein Philosoph bist, weiß ich nicht; aber daß du ein kluger, guter, verständiger Mann bist, das weiß ich; […].“ (A 403)

Dann folgen auffallend differenzierte Vorgaben zur epistemologischen Zugehörigkeit (moralische Erzählung), stilistischen Verfasstheit (‚nüchterne Prosa‘) sowie medientechnischen Ausformung (Aktenform) des von ihm zu produzierenden und möglicherweise auch schriftlich zu fixierenden Erzähltexts: „[…]; und so, wenn wir jetzt, wohl auf Nimmerwiedersehen, voneinander scheiden, dann gehe heim zu deiner lieben Frau und deinen lieben Kindern und erzähle den letzteren zu ihrer Warnung von Helene Trotzendorff und Velten Andres, und wie sie frei von allem Erdeneigentum ein trübselig Ende nahmen. Schreib in recht nüchterner Prosa, wenn du es ihnen, der bessern Dauer wegen, zu Papier bringen willst, und laß sie es in deinem Nachlaß finden, in blauen Pappendeckeln, wie ich sie immer noch unter deines guten Vaters Arme sehe; und da er darauf schreiben würde: ‚Zu den Akten des Vogelsangs‘, so kannst du das ihm zu Ehren auch tun, ehe du sie in dein Hausarchiv schiebst – ein wenig abseits von deinen eigensten Familienpapieren.“ – – – (A 403 f.)

Mit den erwogenen Befähigungen, den poetologisch-technischen Präzisierungen und nicht zuletzt dem programmatisch-fordernden Ton macht Raabes Text

lass, hg. v. dem Verfasser des Lebens=Abrißes Friedrich Ludwig Zacharias Werners, Erster Theil, Berlin 1823, S. V–XIV, hier S. VIII. 99 In freundschaftlichen Kontakt zu diesen namhaften Dichtern seiner Zeit war der Jurist Hitzig als Mitbegründer von literarischen Gesellschaften und Verleger gekommen. Heute ist er fast nur noch als Verleger der Kleistschen Berliner Abendblätter (1810–1811) und als (Mit-) Herausgeber der Porträtreihe Gelehrtes Berlin (1826–1846), der Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege (1828–1845) sowie des Neuen Pitaval (1842–1890) bekannt.

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Anleihen bei Hitzigs „Vorrede“ zu seiner Hoffmann-Biographie von 1823.100 In ihr hat Hitzig das Textprogramm „actenmaeßigen Erzaehlen[s] eines fremden Lebens“ 101 am deutlichsten profiliert. Der Vorrede stellt Hitzig ein Sonett voran, in dem er Hoffmann seinen Text Aus Hoffmann’s Leben und Nachlass zueignet und bereits sein Anliegen formuliert. Mit dem Sonett erweist sich Hitzig als passabler Dichter, in jedem Fall aber als Literaturkenner und damit eines Dichterbiographen würdig. „Für diejenigen Leser [aber], die keine Freunde von Versen sind“, erläutert nun die Vorrede sein Anliegen noch einmal „in schlichter Prose“. Hieran erinnert Helenes Distanzierung des Freunds vom „Versmacher“ und ihre Empfehlung einer „recht nüchterne[n] Prosa“. Kunstferne und Nüchternheit des Stils proklamiert Hitzig erst recht für den biographischen Text selbst, mit dem er kein „Kunstwerk, sondern eine wahre Geschichte […] liefern“ 102 wolle. Von daher erhebe er keinen Anspruch „[a]uf geschickte Composition und Zierlichkeit der Darstellung“, sondern würde es im Gegenteil „fuer keinen Vorwurf achten, wenn man in der letztern vielleicht eine gewisse Trockenheit und Nuechternheit faende“.103 Zur Erläuterung seines biographischen „Ideal[s]“ zitiert Hitzig zudem einen „verstaendige[n] Mann“ 104 – so wird auch Krumhardt von Helene bezeichnet –, der es in wenigen Zeilen auf den Punkt gebracht habe: Es gehe darum, daß der Verfasser den Verewigten, so oft, als möglich, selbst reden laeßt, und durch breites, Kunst- und Lebensphilosophisches Raisonnement, (womit kleine Maenner, wenn sie ueber große schreiben, so freigebig zu seyn pflegen) den Leser selten in dem angenehmen Geschaefte stoert, das Bild dieses Lebens […] selbstthaetig aus den gegebenen Zuegen sich zusammenzusetzen.105

100 Diese befand sich laut Gabriele Henkels Rekonstruktion in Raabes Privatbibliothek, vgl. dies., Studien zur Privatbibliothek Wilhelm Raabes: vom ‚wirklichen Autor‘, von Zeitgenossen und ‚ächten‘ Dichtern, Braunschweig 1997, S. 170. Die konkreten intertextuellen Bezugnahmen auf Hitzig, die, wie gleich zu sehen sein wird, in erster Linie als Systemreferenzen auf die Gattung ‚Biographie‘ zu verstehen sind (vgl. auch Falk, Metagenre, S. 195 ff.), haben meines Wissens in den einschlägigen Forschungsbeiträgen zu den Akten des Vogelsangs noch keine Beachtung gefunden. 101 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VIII. 102 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VIII f. Im Unterschied zum Autor Raabe übrigens, denn „Sterne, Wege und Schicksale“ zitiert den Untertitel seiner Leute aus dem Walde von 1861– 1863, das hiermit indirekt als „Lied“ eines „Versmachers“, also als Kunstwerk charakterisiert ist. 103 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VIII. 104 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. V. Hitzig meint hier einen namentlich nicht genannten Rezensenten der Schiller-Biographie Heinrich Dörings. 105 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VI, Hervorh. im Original. Vgl. auch Hitzigs Anmerkung zum Verzicht auf „Zierlichkeit der Darstellung“: „Eine so chamaeleonartige Individualitaet, wie Hoffmann’s, anders, als aus sich selbst, darstellen zu wollen, wuerde auch […] dem Beginnen

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

Hitzigs Problematisierung lebensphilosophischer Exkurse klingt in Raabes Text an, wenn Helene sich unsicher bezüglich Krumhardts philosophischer Qualitäten zeigt. Dass die ‚Selbst-Rede‘ der Quellen auch Krumhardt ein Anliegen ist und er seine „Akten“ gleichermaßen nur als Vorarbeit für mögliche Rezipienten versteht, die später interpretierend auf sie zugreifen können, ist bereits deutlich geworden. Hitzigs Charakterisierung der von ihm zusammengetragenen „Actenstuekke“ 106 als einzelne „Zuege[ ]“ oder „Pinselstrich[e]“,107 die erst der Leser zum fertigen Bild oder Gemälde zusammensetzen solle, und damit die Charakterisierung seines Gesamttexts als Skizze oder Entwurf, d. h. als technische Vorform eines Kunstwerks,108 spielt in Krumhardts Selbstkommentaren indirekt, wie noch zu sehen sein wird, gleichfalls eine Rolle.109 Wichtig ist hier, dass sich dank der konkreten Hitzig-Referenzen die Randposition spezifizieren lässt, die Helene für Krumhardt im Gedächtnis des Vogelsangs, vorsieht. Trotz ihrer freundlichen Anreden („guter Freund“, „deiner lieben Frau“ etc.) sind ihre Empfehlungen nicht freundlich gemeint. Zu deutlich setzt sich bereits am Anfang der Wiedersehensszene der autoritäre Gestus der „Erbnehmerin“ fort: Unmittelbar nach Krumhardts Eintritt in die leere Todeskammer Veltens weist Helene ihm den „Platz ihr zur Seite“ (A 400) auf dem leeren Totenbett an110 und beginnt sofort „hastig“ zu erzählen; weder kommt Krumhardt dann in ihrer Vergangenheitserzählung als Akteur vor, noch darf er sie unterbrechen und kommentieren („Sprich nicht zu mir, Karl! Was könntest du mir sagen? Laß mich sprechen!“, A 401). Er soll nur aufschreiben, was sie ihm erzählt, gewissermaßen diktiert hat; schließlich folgt die bereits zitierte unmissverständliche Erklä-

gleichen, ‚einen feuerspeienden Berg in eine Windrose zu bannen.‘“ (Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VIII). 106 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. XII. 107 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VI und VII. 108 Dass seiner Schrift Skizzencharakter zukommt, bedeutet nach Hitzig nicht, dass sie „Fragment“ geblieben wäre. Vgl. Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. XIV. 109 Auch auf Seiten des versammelten Quellenmaterials spielt der Entwurfs- oder Skizzencharakter eine Rolle; es zählen nicht nur die abgeschlossenen Werke des Biographierten, sondern die „Pietaet“ gebietet es dem Freundesbiographen, jeden noch so unbedeutend scheinenden „Zettel“ oder „Croquis“, eben Entwurfzeichnung, aus dem Nachlass des Verstorbenen auf seine mögliche Eignung zu einem solchen „Pinselstrich“ hin zu prüfen (vgl. Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VII). 110 Diese Platzanweisung ist signifikant: Krumhardt darf nicht ihr gegenüber auf einem Stuhl Platz nehmen, wie er das spontan möchte. Helene verweist ihn auf den Platz neben sich auf dem leeren Sterbebett. Damit indiziert sie, dass sie ihn nicht als gleichwertiges Gegenüber nimmt in einem Austausch der Erinnerungen auf Augenhöhe, sondern nur als protokollierenden Beisitzer.

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rung ihres Exklusivitätsanspruchs als Veltens Erbin.111 Von daher darf hier über den programmatisch-fordernden Ton von Helenes Hitzig-Anleihen nicht hinweg gelesen werden: Krumhardt soll sich wie Hitzig mit der Rolle eines „Herausgebers“ 112 zufrieden geben, soll nicht „suchen […], was sein, vielmehr nur, was des Andern ist“.113 Gerade die autobiographische Motivation der Freundesbiographie möchte Helene mit dem Rekurs auf Hitzig bei Krumhardt ausschließen. Hitzig ist mit seiner Selbstbeschränkung als Freundesbiograph sogar so weit gegangen, seine Person noch in der Rolle des bloßen Herausgebers zum Verschwinden zu bringen, indem er seine Texte zu Hoffmann und Werner anonym veröffentlichte.114 Auf die Eindämmung der autobiographischen Erzählabsicht Krumhardts durch Helene verweisen auch ihre letzten beiden Maßgaben im zitierten Passus. Das ist zum einen die Festlegung seiner Narration auf eine moralische Erzählung („erzähle den letzteren zu ihrer Warnung“), denn deren Pragmatik war von jeher stärker auf die Bildungs- und Erziehungsfunktion, denn auf die Autorfunktion ausgerichtet.115 Das ist zum andern ihre medientechnische Vorgabe, Krumhardts kunstloser, vielleicht philosophischer, in jedem Falle aber moralisch erbaulicher und nüchtern geschriebener, skizzenhafter Text solle in der Form einer Aktensammlung in seinem „Hausarchiv“ zu liegen kommen – „in blauen Pappendeckeln, wie ich sie immer noch unter deines guten Vaters Arme sehe; und da er darauf schreiben würde: ‚Zu den Akten des Vogelsangs‘“

111 Vgl. auch ihre Absage an die weitere Kommunikation mit Krumhardt beim Abschiednehmen: „[…] – sein Gesicht, sein gutes Lachen eine Stunde nach seinem Tode, das gehört nun mir für alle Zeit, mein einziges Eigentum für alle Zeit. So mein Eigentum, daß auch niemand mit mir nur darüber reden soll, und deshalb kann ich auch mit dir nicht nach Hause gehn: die Heimat würde mir und ihm nur zu verwirrend dreinreden und mir an meinem einzigen Besitz auf Erden zerren und zupfen.“ (A 405) 112 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. V. 113 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. IX. 114 Vgl. Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. XI. Damit glaubt er, den Leser noch besser von der Authentizität des Materials überzeugen zu können. So sollen die Querverbindungen zwischen der Hoffmann- und Werner-Biographie sichtbar machen, dass sich beide Leben „an mehreren Punkten durchschneiden, und daß der Herausgeber darueber Actenstuekke mittheilt, die, nur durch ein sehr genaues Verhaeltnis zu beiden, in seinen Besitz gekommen seyn koennen. Es dient also die eine Schrift wesentlich mit zum Beweise fuer die Authentizitaet der andern […]!“ (Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. XII) Zugleich ist seine Zugehörigkeit zum engen Umfeld der beiden Dichter umso stärker ausgewiesen. 115 Nach Andreas Härter kommt der Dichter als individueller Produzent poetischer Sprache erst mit der Befreiung der Dichtung aus ihrer Indienstnahme durch die ihr vorgeordnete (moral-)„philosophische Lehre“ in den Blick; eine Entwicklung, deren erste Ansätze er in Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey beobachtet (Andreas Härter, Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian, Opitz, Gottsched und Friedrich Schlegel, München 2000, S. 98).

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

(A 404). Das aber heißt, Krumhardt soll ihre Erinnerungen an Velten und die gemeinsame Zeit entsprechend dem professionell-aktentechnischen Umgang des „alten Obergerichtssekretär[s] Krumhardt“ (A 345) mit realen Streitfragen aufzeichnen und verwalten. Damit wird die ‚Aktenmäßigkeit‘ von Hitzigs Freundesbiographien auf die juristische Aktenführung bezogen und indirekt als subalterne Tätigkeit gekennzeichnet. Mit der Empfehlung dieser Verfahrensform will die erklärte Velten-Erbin Helene Krumhardt Junior auf das Erbe seines Vaters festlegen; mit der Übernahme dieser Verfahrensform würde er sich nicht nur im amateur-, also vor-historiographischen und vor-künstlerischen, sondern ebenso im vor-juristischen Raum bewegen, im Grenzbereich seiner Disziplin. Dass Krumhardt diesen Wink verstanden hat, zeigt das dritte Erzählstück, in dem er seine Eltern portraitiert (vgl. A 217 f.). Hier widmet er die meisten Zeilen der Sekretärstätigkeit seines Vaters und macht deutlich, dass diese den Vater, der nicht studieren konnte, nie befriedigte, worunter Frau und Sohn zu leiden hatten.116 Mit all dem, der Verhinderung von Krumhardts Teilnahme und also auch Grabrede an Veltens Begräbnis, mit ihrer Geste, ihm Anweisungen geben zu können, mit seiner Verdrängung als Akteur aus der Vogelsang-historia, mit ihrem Diktat, mit der Vorgabe, in medial-verfahrenstechnischer Hinsicht das Erbe des Vaters, des subalternen Justizbeamten, anzutreten, verordnet Helene Krumhardt eine verwaltungstechnische Außenposition zur Vergangenheit Veltens und des Vogelsangs. Ganz in Entsprechung zu dieser Außenposition lautet ihre abschließende Anweisung, das Resultat der in Auftrag gegebenen aktenmäßigen Vertextung der Vogelsangvergangenheit „ein wenig abseits von [s]einen eigensten Familienpapieren“ aufzubewahren (A 404). Mit Helenes Erzähl- und Fixierungsauftrag setzt sich somit der alte Streit im Vogelsang um dessen Grenzen und das Recht, diese zu bestimmen, fort. Schon der leicht, aber entscheidend von Helenes Vorgabe abweichende Titel von Krumhardts Sammlung zeigt an, dass er dieses Erbe und mit ihm Helenes Empfehlungen nicht ohne Abweichungen und Absetzungen aufgreift und er mit seiner Erbnahme ein eigenständiges Projekt verfolgt. Denn wenn Krumhardt statt

116 „In welchem juristischen Sonderfach er ein Beamteter war, ist wohl gleichgültig, daß er aber ein sehr tüchtiger Beamter war, haben alle seine Vorgesetzten anerkannt und viel häufiger von seinem Verständnis in den Geschäften Gebrauch gemacht, als sie ihren Vorgesetzten gegenüber laut werden ließen. Es handelte sich in seinem Amt viel um Zahlen, und er hatte einen hervorragenden Zahlensinn, womit, beiläufig gesagt, meistens auch ein entsprechender Ordnungssinn verbunden ist. Beides gab ihm eine Stellung in unserer heimischen Bürokratie, die für unser häusliches Behagen nicht immer von dem besten Einfluß war; denn die Vorstellung, nicht studiert und es dadurch zu etwas Besserm [sic] gebracht zu haben, verbitterte nur zu häufig nicht nur ihm, sondern auch uns, das heißt meiner Mutter und mir, das Leben.“ (A 217)

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„Zu den Akten des Vogelsangs“ „Die Akten des Vogelsangs“ als Titel für seine Zusammenstellung wählt, dann bestätigt das ihren topischen Repräsentativitätsund Universalitätsanspruch, den die Überlegungen zur miterzählten inventioSzene bereits nahe gelegt haben: Krumhardt will mit seiner Sammlung das ‚ganze Feld‘ des einschlägigen Vogelsangwissens präsentieren, das auch seine persönlichen Velten-Erfahrungen und die autobiographische Motivation seines nekrologischen Nachtrags mit einschließt. In dieselbe Richtung weist sein Kommentar im direkten Anschluss an Helenes Vorgaben, der ihre Zumutung an ihn als fragwürdige Grenzziehung und seine „Akten“ als deren Korrektur ausweist: Diese Blätter beweisen es, daß ich – diesmal ein wenn auch treuer, doch wunderlicher Protokollführer – nach ihrem Willen getan habe, doch abseits von meinen und der Meinigen Lebensdokumenten werden sie nicht zu liegen kommen. Die Akten des Vogelsangs bilden ein Ganzes, von dem ich und mein Haus ebensowenig zu trennen sind wie die eiserne Bettstelle bei der Frau Fechtmeisterin Feucht und die Reichtümer der armen Mistreß Mungo. (A 404)

Unübersehbar stellt Krumhardt die Ambivalenz seiner Erbnahme heraus: „treuer, doch wunderlicher Protokollführer“, „nach ihrem Willen […], doch abseits von meinen und der Meinigen Lebensdokumenten werden sie nicht zu liegen kommen“ und schließlich: „Die Akten des Vogelsangs bilden ein Ganzes“. Beachtet man also die spezifische Rahmung von Krumhardts VogelsangArchiv, wird deutlich, dass Krumhardt mit seinen „Akten“ nicht etwa (wie Preisendanz meint) darum kämpft, weiterhin, d. h. trotz seiner Verunsicherung durch den unbürgerlichen Velten, dem Kreis der bürgerlich Arrivierten zuzugehören. Vielmehr kämpft er um die Anerkennung des Faktums, dass sich seine aktuelle, bürgerliche Identität auch der Prägung durch seine Zugehörigkeit zu dem Kreis, für den Velten steht, verdankt: dem Vogelsang-Kollektiv, das beständig um seine Grenzen gestritten und Krumhardt unterschiedliche Umgangsweisen mit heterogenen Vorstellungen nahe gebracht hat.117 Auch kann nicht von

117 Der Ort „Vogelsang“ hat in vielfacher Hinsicht den Charakter eines Grenzbereichs: Er ist als „Vorstadt“ der Residenz Grenzbereich zwischen Stadt und Land, zwischen Natur und Zivilisation; ist als Ort unvollständiger Familien Grenzbereich zwischen Kernfamilie und Gesellschaft (vgl. die Nachbarschaft als Ersatz für verstorbene Geschwister, A 218); ist ein Ort, an dem heterogene Lebensentwürfe hart aufeinander prallen und sich nicht aus dem Weg gehen können wie in der Anonymität der Großstadt (Krumhardts vs. Andres’ vs. Trotzendorffs) und an dem zugleich sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit dieser Heterogenität gepflegt werden (vgl. Amaliens offen-endloses Diskutieren, Kompromisse-Suchen und ‚Gelten-lassen‘ der anderen Meinung im Gegensatz zum diktatorischen Griff des Vaters bzw. Veltens, der mit dem (gewaltsamen) Abbruch der Diskussion einhergeht). Als Grenzbereich erfährt der Vogelsang genau im Moment seines Verschwindens eine karikaturhaft zugespitzte Symbolisierung durch die Figur des Affenmenschen, den Velten (im Unterschied zu Krumhardt) nicht begreifen kann.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

einem „Gespräch“,118 so wieder Preisendanz, zwischen Helene und Krumhardt in der Wiedersehensszene die Rede sein, das Krumhardt zum Modell für die „dialogische“ Form seiner „Akten“ hätte nehmen können. So man diesen einen Gesprächscharakter zubilligen möchte, wäre der eher als Erbe von Amalies streitbarer, möglichst alle Nachbarn einbeziehende Diskussionsfreudigkeit und als Absetzung gegen Helenes Diskursstil zu verstehen. Den rückt Krumhardt vielmehr gleich im ersten Satz, in dem er sonst so wenig zu sagen weiß, mit einer Bemerkung zur „festen“ und eher männlichen „Handschrift“ Helenes implizit in eine Reihe mit dem autokratischen Diskursstil von Vater Krumhardt und Velten. Wenn später nämlich deren beider „schmerzhafter Griff“ regelmäßig mit dem Abbruch der Gruppenkommunikation einher geht, wird im Rückbezug auch die „feste[ ] Handschrift“ Helenes auf dieses Motiv hin lesbar.119 Unmittelbar nach Krumhardts Bemerkung spricht Helene im Brief selbst von ‚Erbnahme‘, die „kein Griff in die Zukunft“ sein will, und doch, wie gesehen, auf die Eindämmung bzw. das Ende der Gruppenkommunikation zielt. Ihre Erbnahme be-greift die Gruppenidentität des Vogelsang-Kollektivs nicht dadurch, den kommunikativen Rahmen des Kollektivs im Gespräch auszuhandeln, sondern ihn autokratisch abzustecken. Mit der Hintanstellung der Berlinszene in seinem Vogelsang-Archiv dann, die den Textrahmen erst sichtbar macht, signalisiert Krumhardt noch einmal deutlich Distanz zu Helenes Verfahrensempfehlungen. Krumhardt stellt sie eben nicht seinen „Akten“ voran wie zu seiner eigenen und des Lesers Orientierung, sondern (fast ganz) ans Ende, was der Aufforderung an den Leser gleichkommt, das Resultat nochmals zu lesen und auf Entsprechungen oder Nichtentsprechungen mit Helenes Entwurf hin zu überprüfen. Und mehr noch: Mit der Rahmung seiner Sammlung durch Helenes Beiträge bringt Krumhardt seine ambivalente Befolgung von Helenes Schreibauftrag performativ zur Anschauung: Einerseits scheint die Rahmung Helenes Auftrag in besonderer Weise zu entsprechen; signalisiert sie doch, dass Helenes Reden im O-Ton vor-gehen und sie de facto rahmende, also konstitutive Funktion für seine Aktualisierung der Vogelsang-Vergangenheit haben, indem sie deren Anlass liefern, die Kompetenzen des Schreibers wie die Form des Texts definieren und so deren orientierende Formative sowie unausgesprochene „Imperative“ 120 kenntlich machen. Andererseits steht das restliche von ihm versam-

118 Vgl. Preisendanz, Nachwort, S. 229. Etwas ausführlicher dazu mit Bezugnahmen auf Bachtin und Mukařovský vgl. ders., Erzählstruktur, S. 214 f. 119 Das Motiv des „Griffs“ als Voraussetzung fürs ‚Be-greifen‘ deutet sich auch in Annas Geste im Zuge ihrer Lektüre von Helenes Brief an, wenn sie mit der Hand über das Blatt des ihr unverständlichen Briefs streicht, „wie um es zu glätten“ (A 215). 120 Vgl. Campe, Schreibszene, S. 277.

6 Strittige Grenzziehungen: die Rahmung des Vogelsang-Archivs

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melte Material – seine eigene, in ihrer Nebensächlichkeit herausgestellte Erzählerrede eingeschlossen – dank der Rahmung gerade nicht am Rand, sondern in der Mitte des Texts.

6.2 inventio solo ohne iudicium: die Entscheidungsverweigerung des Freundesbiographen Die Rahmung von Krumhardts Vogelsang-Archiv durch Helenes Reden macht Hitzigs Modell „actenmaeßigen Erzaehlen[s] eines fremden Lebens“ als formgeschichtlichen Bezugspunkt zu Krumhardts Erzähltext erkennbar. Dadurch werden auch einige Selbstkommentare Krumhardts im Zuge seiner miterzählten inventio-Szene als Repliken auf Hitzigs Textprogramm lesbar, deren Zitatcharakter bei der ersten Lektüre kaum zu erkennen ist. Besondere Beachtung verdient hier ein längerer Kommentar etwa in der Mitte von Krumhardts Aktensammlung, der mit dem bereits erwähnten Terminkalender-Passus einsetzt: Wie habe ich dieses Manuskript begonnen, in der festen Meinung, von einer Erinnerung zur andern, wie aus dem Terminkalender heraus, nüchtern, wahr und ehrlich farblos es fortzusetzen und es zu einem mehr oder weniger verständig-logischen Abschluß zu bringen! (A 304)

Krumhardt erklärt hier die Befolgung der freundesbiographischen Selbstbeschränkung im Sinne Hitzigs zu seiner ursprünglichen Absicht: Hatte Hitzig die Briefe des Biographierten nach Datum geordnet, soll in seinen „Akten“ die Zusammenstellung der Originalreden („wie“) aus dem „Terminkalender“ heraus erfolgen; seine stilistischen Vorsätze („nüchtern, wahr und ehrlich farblos“) zitieren Hitzigs „Nüchternheit“ des Stils, die dem zufolge die Kunstferne und damit historische „Wahrheit“ seiner Texte bezeuge.121 Auch mit „ehrlich farblos“ referiert Krumhardt auf Hitzig: In seiner „Zueignung“ in Sonettform kündigte dieser an, dass „Farbenglanz“ sein skizzenhaftes Hoffmann-Bild „nicht zieret“.122 Schließlich ist auch der von Krumhardt erhoffte „mehr oder weniger verständig-logische[ ] Abschluß“ auf Hitzigs Vorsatz zu beziehen, mit seiner Hoffmann-Biographie ein Ganzes und kein „Fragment“ 123 zu liefern. Gemeint

121 Direkt im Anschluss an die „Nuechternheit“ der Darstellung, die „von dem actenmaeßigen Erzaehlen eines fremden Lebens […] kaum zu trennen“ sei, hieß es in Hitzigs programmatischer Vorrede: „Es kam ihm nicht darauf an, ein Kunstwerk, sondern eine wahre Geschichte, zu liefern […].“ (Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VIII f.; Hervorh. Ch. F.) 122 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. III. 123 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. XIV.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

ist damit bei Hitzig aber eine rein serielle Zusammenstellung der Aktenstücke, was seine Rede von den versammelten „Zuegen“, „Strichen“ oder „Perlen“, die den Stückwerkcharakter seiner Biographien betont, belegt: „Er, der mit ungeübter Zunge stammelt, hat Deine Perlen nur zur Schnur gesammelt.“ 124 Wenn Hitzig den Biographen davor warnt, „mehr vom Eigenen hinzuzuthun, als was unumgaenglich nothwendig ist, den Zusammenhang, da wo die schriftlichen Urkunden Luecken lassen, herzustellen“,125 so vermag ihm zufolge gerade die unterbrochene, an sich keinen Sinn transportierende Biographenrede (‚Stammeln‘) einen im Aktenmaterial vorfindlichen Zusammenhang erkennbar machen. Diesen heraus zu finden und auf einen finalen Sinn hin zu interpretieren, soll dem Leser überlassen bleiben.126 Aufgrund der dichten, doch erkennbaren Hitzig-Referenz an dieser Stelle kann Krumhardts Formulierung also nicht, wie in der Forschungsliteratur häufig behauptet, als Ausweis seines anfänglichen Bemühens um einen durchgängig-linearen und auf ein eindeutiges „finales interpretans“ zielenden Erzählerdiskurs genommen werden.127 Anvisiert war von Beginn an nur der „mehr oder weniger verständig-logische[ ] Abschluß“ einer seriellen Zusammenstellung von Aktenstücken. Nachdem schon die unmittelbar folgenden Sätze Abweichungen der Krumhardtschen „Akten“ von diesen stilistischen und formalen Vorsätzen andeuten („was ist nun daraus geworden“, A 304), signalisiert der abschließende Passus des Selbstkommentars deutliche Differenzen zu Hitzigs Biographiemodell. In leicht abweichender Formulierung greift Krumhardt hier Hitzigs rhetorische Bestimmung der Kunstferne seines „actenmaeßigen Erzaehlen[s]“ bzw. seiner Selbstbeschränkung als Autor auf, um sie aus rhetorischem Blickwinkel zu schärfen und zu verschärfen:

124 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. III. 125 Hitzig, Vorrede. In: Ders. (Hg.), Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso, Erster Band, Berlin 1839, S. VII–VIII, hier S. VII. Vgl. etwa die biographischen Abrisse zu Beginn eines jeden kapitelartigen „Abschnitts“ seiner Hoffmann-Biographie, in denen Hitzig über den beruflichen Werdegang, das private Umfeld und besondere Handlungen und Erlebnisse des Freundes an dem jeweiligen Wohnort Hoffmanns berichtet. 126 Hitzig adressiert seine Leser als diejenigen, die die einzelnen Züge zum fertigen „Bild dieses Lebens […] selbstthaetig zusammen[ ]setzen“ (Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VI); an anderer Stelle spricht er sie wie Krumhardt auch als „unpartheiische[ ] Richter[ ]“ an, denen das abschließende Urteil über seinen Text zustünde (Hitzig, Vorrede, S. VIII). Zum „logischen Zusammenhang“ von Krumhardts „Akten“ als (scheinbar) ‚bloße‘ Reihenfolge vgl. auch das folgende Zitat: „[…]: ich kann es eben nicht genug wiederholen, daß das meiste aus dieser Vergangenheit mir selber erst klar und deutlich wird und einen logischen Zusammenhang gewinnt, wie ich diese Blätter beschreibe und – paginiere.“ (A 292) 127 Vgl. Moussa, Heterotopien im poetischen Realismus, S. 144.

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Ich fühle seine [Veltens, Ch. F.] feste Hand auf meiner Schulter, und sein weltüberwindend Lachen klingt mir fortwährend im Ohr. Ach, könnte ich das nur auch zu Papiere bringen, wie es sich gehörte; aber das vermag ich eben nicht, und so wird mir die selbstauferlegte Last oft zu einer sehr peinlichen, und alles, was ich über den Fall Velten Andres tatsächlich in den Akten habe und durch Dokumente und Zeugen beweisen kann, reicht nicht über die Unzulänglichkeit weg, sowohl der Form wie auch der Farbe nach. (A 304)

Krumhardt bedauert es hier, die nonverbalen, sinnlichen Begleiterscheinungen der vergangenen Reden Veltens (das Gefühl der „festen Hand“, den Klang seines „Lachens“) im aktenmäßigen Text nicht wieder geben zu können und resümiert das als „Unzulänglichkeit“ seines Texts, „sowohl der Form wie auch der Farbe nach“. Das ist eine weitere, weniger offensichtliche Referenz auf Hitzigs Hoffmann-Biographie, denn mit „Form“ und „Farbe“ übersetzt Krumhardt, wie zu zeigen ist, Hitzigs Doppelausdruck „geschickte Composition und Zierlichkeit der Darstellung“. Beide seien laut Hitzig, wie gesehen, für seine Freundesbiographien nicht in Anschlag zu bringen, ihr Fehlen bedinge und garantiere die Kunstferne seiner Texte, erkläre die „Nüchternheit“ ihres Stils. Mit beiden Ausdrücken greift Hitzig rhetorische Fachbegriffe auf, wie ein Blick ins Historische Wörterbuch der Rhetorik belegt: „Composition“ (compositio) bezeichnet seit dem Mittelalter hauptsächlich die Aufteilung des invenierten Stoffes auf die Abschnitte der Rede, d. h. „das Anordnen der aufgefundenen Hauptgesichtspunkte (Themen, Argumente, Bilder), von den Rhetorikern dispositio (griech. […] táxis) genannt […].“ 128 „[G]eschickte Composition“ als Synonym zur dispositio artificialis und Gegenbegriff zur dispositio naturalis konnte in der Rhetorikgeschichte die regelkonforme Anordnung des Stoffes bezeichnen, also die Anordnung, die den Regeln der ars rhetorica für die Einteilung der Rede entsprach. Ebenso konnte sie – vor allem in späterer Zeit – aber auch die nicht regelkonforme Anordnung meinen, also eine, die „der Situation, gemäß dem Urteil des Redners (oratoris iudicio)“ 129 angemessen ist. Auch „Zierlichkeit der Darstellung“ ist nicht alltagssprachlich zu verstehen. Darauf verweist die Wahl des Substantivs, das zu Hitzigs Zeit nicht mehr geläufig ist.130 Mit ihm wurde seit Ende des

128 Aldo Scaglione, Compositio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 1994, Sp. 300–305, hier Sp. 301. 129 Lucia Calboli Montefusco, Dispositio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Sp. 831–839, hier Sp. 833. 130 Ingo Stöckmann, Zierlichkeit. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9, Sp. 1534– 1539, hier Sp. 1538. Darauf verweist auch die Kombination mit der „Composition“, denn die Zierlichkeit (elegantia) gilt als die zweite Stiltugend nach der compositio (Stöckmann, Zierlichkeit, Sp. 1534).

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

15. Jahrhunderts die lateinische Stiltugend der elegantia übersetzt;131 später wird „Zierlichkeit“ zum Synonym für den Redeschmuck (ornatus) und kann schließlich die „Schönheit des Stils überhaupt“ meinen, also für die elocutio insgesamt stehen. Beide Begriffe, „Composition“ und „Zierlichkeit“ als Statthalter für dispositio und elocutio, richten das Augenmerk stärker als manch andere Synonyme auf den Rede- bzw. Textproduzenten132 und seine individuelle Gestaltungsfähigkeit, die sich seiner Urteilsfähigkeit (iudicium) hinsichtlich der situativen Angemessenheit (aptum), also auch der jeweiligen Erwartungshaltung der Rezipienten (sensus communis) im Blick auf dispositio und elocutio, verdankt.133 Hitzigs Verzicht auf „geschickte Composition“ alias dispositio artificialis und auf „Zierlichkeit der Darstellung“ alias elocutio (elegantia) zielt somit auf einen Text, der weder in seiner Ordnung noch sprachlichen Ausdrucksweise (bzgl. Stilhöhe, Tropen, Figuren) individuelle Entscheidungen des Redeproduzenten erkennen lässt, die auf einen starken Effekt beim Rezipienten rechnen.134 An diesen Entscheidungen, am iudicium im Rahmen von dispositio 131 Die elegantia hatte die „Gewähltheit“ der Rede (eligere: wählen, auslesen) zu gewährleisten, was zunächst gerade im Gegensatz zur verwandten ‚Geziertheit‘ sprachliche Reinheit und sachliche Angemessenheit meinte (Stöckmann, Zierlichkeit, Sp. 1534). 132 Beide werden mit der ‚Verschmelzung‘ von „Rhetorik und Poetik“ „ungefähr zur Zeit des Augustus (mit Ovid und Horaz) und etwas später (Plutarch, Tacitus)“ auch auf die Produktion von schriftlichen und dichterischen Texten bezogen, vgl. Barthes, Alte Rhetorik, S. 24. 133 Im Gegensatz zur „Struktur“ etwa, die sich „auf den Zusammenhang eines Werkes“ bezieht, „untersucht die Komposition, wie es zusammengefügt wurde“ und betont „die Leistung des Autors, seinem Werk Gestalt zu verleihen, […], was vor allem seine Intention wie auch sein unbewußtes kulturelles Erbe, das in ihm und durch ihn wirkt, miteinschließt.“ (Vgl. Scaglione, Compositio, Sp. 301). Von daher gilt sie als „notwendige Bedingung für Literatur und besonders Dichtung, also für das Künstlerische im eigentlichen Sinne.“ (Scaglione, Compositio, Sp. 301). Ähnliches kann für „Zierlichkeit“ veranschlagt werden. Nicht nur verrät ein ‚zierlicher Stil‘ die sprachkulturelle Zugehörigkeit des Redners (vgl. Stöckmann, Zierlichkeit, Sp. 1535); seit dem Barock erhalten die maßgeblichen Normen des „Schicklichen und Angemessenen (aptum, decorum)“, mit denen die Zierlichkeit für die konkrete Wortauswahl „kriterielle Sicherheit her[zu]stellen“ sucht, zudem eine stärker sozialethische Prägung – „Zierlichkeit ist Stil und Haltung zugleich“ (vgl. Stöckmann, Zierlichkeit, Sp. 1536 und Sp. 1534). 134 Hitzigs Verzicht auf eine effektvolle Ausgestaltung von dispositio und elocutio kann ihrerseits als Echo auf Schillers Kritik an einer „Methode“ der Geschichtsschreibung gelesen werden, die dieser ca. 30 Jahre zuvor zu Beginn seiner Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte“ profiliert: Manche der „besten Geschichtsschreiber[ ] neuerer Zeit und des Altertums“ hätten „das Herz ihres Lesers durch hinreißenden Vortrag bestochen“, um die „Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem Leser, die alle Möglichkeit einer Vergleichung oder Anwendung abschneidet“ zu schließen. „Aber diese Manier ist eine Usurpation des Schriftstellers und beleidigt die republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukömmt, selbst zu Gericht zu sitzen; sie ist zugleich eine Verletzung der Grenzengerechtigkeit, denn diese Methode gehört ausschließend und eigentümlich dem Redner und Dichter. Dem Geschichtsschreiber bleibt nur die letztere übrig.“ (Friedrich Schiller, Der Verbre-

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und elocutio also, hängt für Hitzig die Autorfunktion des Textproduzenten. Wenn der erklärte Verzicht gewissermaßen die Null-Varianten von dispositio und elocutio vorschreibt, dann bleibt als Betätigungsfeld für das iudicium des Produzenten schriftlicher Rede aus Sicht der Rhetorik nur noch der Arbeitsschritt der inventio übrig.135 Hitzigs Programm „actenmaeßigen Erzaehlens eines fremden Lebens“, das das ‚Sich-Zur-Sprache-Bringen‘ des Freundesbiographen in seiner Erzählerrede auf ein Minimun reduzieren will, um dem ‚SichZur-Sprache-Bringen‘ des biographierten Gegenstands, des toten Freundes, maximalen Raum zu geben, lässt sich gemäß seines Rhetorik-Rekurses somit auf die Formel ‚inventio solo‘ bringen. Angesichts der beobachteten Herausstellung der (auto-)biographischen ‚Schreib-Szene‘ als Szene der inventio durch Erzähler Krumhardt ist sein Aufgreifen von Hitzigs rhetorischer Bestimmung des freundesbiographischen Interpretationsverzichts beachtlich und genau in den Blick zu nehmen: Mit „Form“ und „Farbe“ wählt Krumhardt scheinbar alltägliche Wörter, die nicht als rhetorische termini technici ins Auge stechen. Vor dem Hintergrund des Hitzig-Bezugs werden sie aber durchaus als solche lesbar. In der deutschen Rhetoriktradition standen sie ebenfalls für dispositio und elocutio: „Farbe“ etwa ist nicht nur Krumhardts Äquivalent zur Zierlichkeit, sondern beide Begriffe werden seit dem Mittelalter traditionell aufeinander bezogen.136 Und auch Hitzig korrelierte bereits ‚Farbe‘ und ‚Zierlichkeit‘, wenn er betonte, dass „Farbenglanz“ sein skizzenhaftes Hoffmann-Bild „nicht zieret“. Wie „Zierlichkeit“ kann auch „Farbe“ im engeren Sinn nur die Redefiguren (z. T. auch nur bestimmte) bezeichnen,137 umfasst aber häufig die elocutio insgesamt, dient als „allgemeine[r] Begriff für jede Art von figurativer oder geschmückter Sprache“.138 Bemerkenswert ist, dass die gewöhnlicher scheinende Wortwahl Krumhardts noch stärker als die-

cher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte. In: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 1, hg. v. Herbert G. Göpfert, Mitwirkung und Nachwort v. Gerhard Fricke, München 1966, S. 564–581, hier S. 565, S. 564 und wieder S. 565). 135 Die letzten zwei Arbeitsschritte (officii) des Redners, die die Rhetorik für die Redeproduktion nach inventio, dispositio und elocutio noch veranschlagt, nämlich die memoria und actio, sind nur im Falle der mündlichen Präsentation der Rede relevant: für das Auswendiglernen und gestisch-mimische Ausagieren des Texts. 136 In einem mittelalterlichen Traktat heißt es: „colores rethoricales: daz ist die farwen und zierung“, vgl. Niklas von Wyle, zit. nach Udo Kühne, Colores rhetorici. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Sp. 282–290, hier Sp. 289. (Auch Hitzig hatte im Vorwort seiner Hoffmann-Biographie angekündigt, dass „Farbenglanz“ sie nicht „zieren“ werde, vgl. ders., Hoffmann’s Leben, S. III.) 137 Vgl. Arthur Quinn, Color. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Sp. 273–279, hier Sp. 275 f. 138 Quinn, Color, Sp. 276 f.

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jenige Hitzigs den persönlichen Gestaltungswillen des Redeproduzenten hervorhebt. Die „colores rhetorici“ wurden so sehr der Phantasiebegabung des Redeproduzenten angerechnet, dass rationalistische Philosophie und Erkenntnistheorie ihnen ein andauerndes „philosophisches Misstrauen“, wenn nicht strikte Ablehnung entgegen brachten.139 Auch verweist die Rede von den „Farben“ (sowie die vom „Schmuck“) noch mehr als der technischere Ausdruck „elocutio“ auf die Vorstellung, es gebe „eine nackte Basis, eine eigentliche Ebene“ des Sprechens, der gegenüber die zweite (rhetorische) Schicht […] eine belebende Funktion [besitzt]: der ‚eigentliche‘ Zustand der Sprache ist leblos, der zweite Zustand ist ‚lebendig‘: Farben, Lichter, Blumen (colores, lumina, flores); die Ausschmückungen stehen auf seiten [sic] der Leidenschaft, des Körpers […].140

Im Umkehrschluss impliziert Krumhardts Wortwahl also erstens, dass die „selbst [und nicht von Helene] auferlegte Last“ seiner Hitzig-Nachfolge als noch größerer Verzicht auf die eigene Selbst-Aussprache und den eigenen Gestaltungswillen, als noch stärkere Zurücknahme des freundesbiographischen iudicium zu verstehen sei. Und zweitens, dass mit diesem Verzicht zugleich die Vorstellung einer möglichen Annäherung der biographischen Rede an das Leben aufgegeben sei. Das bekräftigt Krumhardts ausführliche Klage über den Verlust der Sinnlichkeit seines Texts, die bei Hitzig nicht zu finden ist. Insbesondere die Wendung „Ach, könnte ich das [Veltens Griff und Lachen] nur auch zu Papiere bringen, wie es sich gehörte“ ist aufschlussreich. Indem Krumhardt formuliert „wie es sich gehörte“ (statt, wie zu erwarten: ‚wie es sich anhörte‘), referiert er exakt auf die erwähnten rhetorischen Standards, die der Redner kennen sollte, das aptum seiner Redeproduktion. Dank des ausdrücklichen Bedauerns über die „Unzulänglichkeit“ seines Texts erfahren diese Standards zudem eine historische Konkretion: In seiner Klage spricht sich just die Kritik aus, die vormärzlichen Freundesbiographien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuteil wird – in der Zeit, in der Raabe Krumhardt sein Vogelsang-Archiv anlegen lässt: Diese Zeit vermisst ‚Leben‘ in den freundesbiographischen Texten. Etwa disqualifiziert der Ranke-Schüler und „führende jüngere Historiker der realistischen Epoche“,141 Heinrich von Sybel, die gesamte Biographie vor 1848 als „fast leblosen Zweig[ ] der Geschichtsschreibung“,142 der erst mit „dem neuen historischen Stil“ seiner Zeit ‚rasch und glänzend aufblühe‘. Gemessen an seinen „Maßstäben der neuen 139 und 140 141 142

Etwa bei Johannes v. Salisbury und Francis Bacon, vgl. Kühne, Colores rhetorici, Sp. 276 Sp. 278. Barthes, Alte Rhetorik, S. 87; beide Hervorh. Ch. F. Sengle, Biographie, S. 306. Zitiert nach Sengle, Biographie, S. 306 f.

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realistischen ‚Portraitmalerei‘“ erscheinen ihm die dokumentarischen Freundesbiographien als „farblos, abstrakt, idealisierend“.143 Auch Friedrich Nietzsche, der sich in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen von 1874 kritisch mit den Texten des Leben Jesu-Autors und Freundesbiographen David Friedrich Strauß auseinandersetzt, stößt sich an der „simple[n] Manier“ 144 und „angehungerte[n] Nüchternheit“ 145 dieser „Magister“-Biographien.146 Mit der Reformulierung dieser Kritik kehrt Krumhardts Kommentar die Paradoxie des freundesbiographischen Textprogramms hervor: Gerade der Verzicht des Biographen auf ‚lebendige‘ Darstellung qua ‚Form und Farbe‘ solle garantieren, dass sich das ‚Leben‘ selbst ausspreche – in Hitzigs Worten die „chamaeleonartige Individualitaet“ 147 Hoffmanns bzw. „der durch und durch eigenthuemliche Mensch[ ]“ 148 Chamisso. Alles andere – eben eine auffällig nicht-schematische Darstellung – hieße, diese Individualität des „fremden Lebens“, in ein Schema zu pressen: „‚einen feuerspeienden Berg in eine Windrose zu bannen‘“.149 Wenn hier aber Hitzigs Null-Varianten von dispositio und elocutio als möglichst schematische Einlösungen rhetorischer Schemata kenntlich gemacht werden, ist zugleich bedeutet, dass dem Leben weder mit der „nackte[n] Basis“ noch den „Farben“ der Rede wirklich bei zu kommen ist; stets bleibt eine Kluft zwischen Erfahrung (respektive den Daten in den Quellen) und ihrer Diskursivierung bestehen. Allenfalls die – in Bezug auf die zeitgenössisch geltenden Form- und Stilstandards – möglichst unauffällige Verwendung rhetorischer Schemata, so wäre Hitzigs inventio solo-Programm zu reformulieren, kann die Aufmerksamkeit des Rezipienten weg vom Redeproduzenten (und also auch der Kluft) hin zum Redegegenstand lenken. Demnach aber gibt es keine prinzipielle Differenz, keine „Grenzengerechtigkeit“ zwischen „Redner und Dichter“ einerseits und „Geschichtsschreiber“ 150 andererseits und die Rhetorik kann zum Reflexionsrahmen der Biographie werden. Darüber hinaus weist Krumhardts Kommentar seinen, über Hitzig hinaus gehenden Verzicht auf den Gestaltungswillen des Freundesbiographen als ei-

143 Sengle, Biographie, S. 307. 144 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York 1972, S. 153–423, hier S. 216. 145 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 222. 146 V. Graevenitz, Geschichte, S. 122. 147 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VIII. 148 Hitzig, Vorrede, S. VII. 149 Hitzig, Hoffmann’s Leben, S. VIII; Hervorh. Ch. F. Die Windrose (stella maris) ist ein graphisches Schema, das seit der Antike herangezogen und beständig variiert wurde, um für einen Ort die Anzahl und Richtungen der Winde zur Darstellung zu bringen. 150 Schiller, Verbrecher, S. 565.

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nen starken, den zeitgenössischen Standards extrem zuwiderlaufenden Gestaltungswillen aus. Seine noch stärkere Eindämmung der Entscheidungen des freundesbiographischen iudicium markiert er so, seinem Klageton zum Trotz, als starke Entscheidung, als Entscheidungsverweigerung, die beachtet werden will.151 Diese schlägt sich in Krumhardts Aktensammlung zunächst darin nieder, dass er nahezu vollständig darauf verzichtet, die „Luecken“, die seine „Urkunden […] lassen“, zu füllen. Vorbild Hitzig hatte stets die Originalbriefe des biographierten Freundes in chronologischer Reihenfolge angeführt, sie nach ihren Entstehungsorten, den jeweiligen Aufenthaltsorten des Freundes, zu „Abschnitten“ gebündelt und diese durch eine selbstverfasste (etwa ein Drittel der Abschnitte einnehmende) Darstellung der jeweiligen beruflichen sowie privaten Umstände an diesen Orten eingeleitet. Eine solche, zwar untergeordnete, gleichwohl regelmäßige Diskursivierung des „fremden Lebens“ leistet Freundesbiograph Krumhardt nicht. In nur sehr wenigen Passagen seines Texts und in unregelmäßigen Abständen stellt er selbst die vergangene Erlebniswelt Veltens dar.152 Stattdessen betont er die Lücken zwischen seinen Aktenstücken typographisch (durch Sternchen, oft auch durch Gedankenstriche oder drei Punkte153), sachlich (durch das Ende eines zitierten Briefs oder einer zitierten Rede) oder durch die Selbstkommentare zu Beginn der Aktenstücke, die zwar oft einen Bezug zum jeweils voran gegangenen herstellen, diesen aber gerade als einen problematischen ausstellen (vgl. Kapitel IV.1) oder ganz offen die Lücke thematisieren: „Ich habe mich nun wirklich erst für eine Periode von anderthalb Jahren des näheren zu besinnen. Man hatte damals so viel mit sich selber zu tun, […], daß es in der Tat seine Schwierigkeiten haben würde, ganz Genaues darüber zu Papier zu bringen.“ (A 268) Und: „Wie gesagt, ich habe wenig über diese Zeit in den Akten, was Velten und Helene anbetrifft.“ (A 268)

151 Vgl. v. Graevenitz zum „Stil ‚angehungerter Nüchternheit‘“ von Strauß’ Christian Märklin. Ein Lebens- und Charakterbild aus der Gegenwart von 1851: Dieser Stil gelte den Freundesbiographen als „eine Form ästhetischer Angemessenheit“ und erfülle gerade damit Nietzsches Forderung nach einem gegenstandskonformen Stil. Denn bei dieser Freundesbiographie „in autobiographischer Absicht“ handle es sich wie etwa auch Anton Reiser um „‚nüchterne‘ Darstellungen ‚nüchterner‘ Lebensläufe“. Von daher habe der nüchterne Stil „Gattungswürde“ und zeige eine Persistenz „in der deutschen Literatur“, die „vermuten [lässt], dass sich weniger Unfähigkeit als ein bestimmter, zweifellos Nietzsches Idealen sehr fremder Gestaltungswille hinter der Oberfläche des Straußschen Stils verbirgt.“ (V. Graevenitz, Geschichte, S. 122). 152 So in nur 13 von insgesamt 36 Kapiteln (vgl. die Kapitel 3 + 4, 6, 8 + 9, 13 + 14 (nur jeweils zu Beginn), 18, 23, 26 + 27, 32 + 33). 153 Vgl. etwa die Textlücken auf den Seiten A 267, 295, 310, 330, 341, 345 und 404. Was zu Beginn des Texts als ein Unvermögen infolge seines ‚Ent-setzens‘ zu lesen gegeben ist, wird im Laufe des Texts als topisch-archivalisches Kompositionsprinzip erkennbar.

7 ‚Topik der Zeugenschaft‘

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7 ‚Topik der Zeugenschaft‘ Krumhardt treibt die Zurücknahme des freundesbiographischen iudicium aber noch weiter, will auch innerhalb der inventio die Schemata, deren Realisierung dem Biographen eine Entscheidung abverlangt, auf ein Minimum reduzieren. Angekündigt ist das gleichfalls im zentralen, oben zitierten Selbstkommentar, wenn er dort die „selbstauferlegte Last“ seiner gesteigerten Hitzig-Nachfolge durch den Hinweis präzisiert, sich für seine Geschichtsrekonstruktion allein auf „Dokumente und Zeugen“ als Beweismittel verlassen zu können („was ich durch Dokumente und Zeugen beweisen kann“, Hervorh. Ch. F.). Diese Präzisierung bezieht sich auf eine zentrale Unterscheidung innerhalb der klassischen inventio, diejenige zwischen außertechnischen und innertechnischen Beweisquellen.154 Sie markiert exakt den Einsatzpunkt der topischen techné, denn außertechnische Beweisquellen sind eben die einem Fall zugehörigen Dokumente und Zeugenaussagen, aus denen der Redner ohne Zuhilfenahme der topischen techné Argumente (pisteis atechnoi) für seine Redeproduktion entnehmen kann. Innertechnische Beweisquellen sind demgegenüber die allgemeinen Argumentationsgesichtspunkte, die die topische techné in ihren topoi-Katalogen für jedweden Fall bereit stellt und aus denen der Redner im Blick auf den konkreten Fall und seinen Redezweck Argumente (pisteis technoi) ableiten (d. h. erzeugen)155 kann. Die Anwendung solcher Kataloge hatte Schmidt-Biggemann, wie oben dargelegt, als die dritte Aufgabe der Topik innerhalb der rhetorischen und dialektischen Stoff-Findung beschrieben, die gerade der Polyhistor nicht mehr erfülle.156 Hierbei komme inbesondere das topische iudicium zum Tragen, das die fall- und zweckbezogene Auswahl des passenden topoi-Katalogs wie der (möglichst zahlreichen) topoi aus diesem Katalog steuert und schließlich der eruierten Fülle von aufgefundenen Argumentationsgesichtspunkten eine „‚hermeneutische‘ Richtung“ 157 gibt. Als passend und also maßgeblich für die Abfassung von Lebensläufen und (Auto-)Biographien galt traditionell bis weit ins 18. Jahrhundert hinein der topische Kriterienkatalog a persona.158 Das hat 154 Vgl. z. B. Barthes, Alte Rhetorik, S. 55 ff. 155 Die rhetorisch-topische „Findelehre“ unterscheidet demnach intern zwischen einem ‚Finden als Finden‘ und einem ‚Finden als Erfinden‘. 156 Vgl. Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 245, S. 249 und S. 252. 157 V. Graevenitz, Mythos, S. 56. 158 Die Topik a persona schreibt sich wie ihr Gegenstück, die Topik a re, von der Gerichtsrede her. Vgl. dazu Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 253 f.: „Quintilian hat, wieder im Anschluß an Cicero, dem sachorientierten Kriterienkatalog [a re, Ch. F.] einen weiteren zur Seite gestellt, der zur argumentativen Charakterisierungshilfe von Personen benutzt werden konnte. Das lag deshalb nahe, weil das römische Zivilrecht nach Sachen- und Personenrecht unterteilt wurde.“

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

Stefan Goldmann anhand der „Gelehrtenautobiographien“ des 18. Jahrhunderts herausgearbeitet.159 Als Beleg gilt ihm ein „variable[s] Grundschema“,160 das auf dieser topischen Reihe fußt, das „über die Kompendien der Rhetorik, über die literarischen Vorbilder der Gattung und die mündliche Praxis der Grabrede“ vermittelt wird und nachweislich viele Selbstbiographien, u. a. die von Christoph Wilhelm Hufeland und Johann Gottfried Seume, aber auch Christoph Martin Wielands Agathon organisiert. Diese „produktionsästhetischen Fixpunkte[ ] der Argumentation“ sowie zusätzliche Stereotype, die auch deren konkrete semantische Füllung prägen,161 diese „Topoi eines Lebenslaufs lassen sich in sozialanthropologischer Perspektive als Schwellensituationen auffassen. Geburt, Taufe, Heirat, Krankheit und Tod, Erziehungszeremonien und Berufspraktiken bezeichnen Stationen des Wandlungs- und Reifungsprozesses eines Individuums“, an denen gesellschaftliche Konventionen in besonderer Weise prägend wirksam werden:162 Topoi sind demnach diskursive Plätze sozialer Bedeutsamkeit, Prägestätten des zoon politikon. Sie markieren Zäsuren, Brüche in jeder Form: Einbrüche der Gesellschaft in das sogenannte ‚Individuum‘, triebhafte ‚Durchbrüche‘ und Abbrüche innerhalb des Sozialisationsprozesses auf dem Weg zur ‚Identität‘.163

Diese, von den topoi a persona abgeleiteten, (auto-)biographischen topoi definieren als Relevanzkriterien also, was aus sozialer Sicht im Blick auf eine Per-

159 Er führt aus: „Das Leben schreibt sich vom Tode her, der als Zäsur, als einschneidende Grenze überhaupt erst die Bedingung von Erinnerung schafft. Die Erinnerung orientiert sich dabei an einer Topik, die zur Gliederung eines Lebenslaufes gesellschaftlich relevante Gesichtspunkte vermittelt. Zur Charakterisierung einer zu betrauernden, zu lobenden oder zu verteidigenden Person verfügt die Rhetorik über sogenannte ‚argumenta a persona‘, Beweisgründe, die aus dem Leben einer Person genommen werden, wie genus, natio, patria, sexus, aetas, educatio et disciplina, habitus corporis, fortuna, conditio, animi natura, studia, acta dictaque, commotio, nomen et cognomen. […] Diese Topoi sind noch für die überwiegend chronologisch verfahrenden Autobiographien des 18. Jahrhunderts bindend […].“ Vgl. Goldmann, Topos, S. 662 f. Goldmanns Aufzählung weicht leicht von dem bei Schmidt-Biggemann angeführten Katalog Quintilians ab: „genus, natio, patria, sexus, aetas, educatio, habitus corporis, fortuna, conditio, animi natura, studia, affectatio, antefacta, antedicta, commotio, consilium, nomen“ (vgl. Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 254). 160 Goldmann führt es in der Formulierung von Friedrich Andreas Hallbauer in seinen Anweisungen zur verbesserten Teutschen Oratorie von 1725 an, vgl. Goldmann, Topos, S. 664. 161 Nach Goldmann orientiert sich insbesondere die (auto-)biographische Darstellung der Kindheit an Mythologemen einerseits (Goldmann, Topos, S. 669) und Erfahrungsmomenten andererseits, die sich einem neueren „entwicklungsgeschichtliche[n], zunehmend organizistische[n] anthropologische[n] Modell“ verdanken (Goldmann, Topos, S. 666). 162 Goldmann, Topos, S. 668. 163 Goldmann, Topos, S. 668.

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son und ihr Leben überhaupt ein ‚(Eck-)Datum‘164 ist und welche grundlegenden Zäsuren bzw. Stationen einen Lebensweg als solchen ausmachen. Zugleich helfen sie dabei, diese Zäsuren diskursiv auszufüllen, zu überbrücken: Gerade dort, „wo Amnesie herrscht, setzt die topisch geleitete Phantasie mit ihren bekannten Mechanismen der Verdichtung und Verbildlichung, der Verschiebung und der Verkehrung ins Gegenteil ein.“ 165 Darüber hinaus geben sie, die zunächst nur die Stoffsammlung organisieren sollten, typischerweise gleich noch die Kapitelgliederung der autobiographischen Texte vor, greifen somit auf die dispositio des zu produzierenden Texts über.166 Mit der erklärten Beschränkung auf außertechnische Beweise („Dokumente und Zeugen“) behauptet Krumhardt also den Verzicht auf die Anwendung eines solchen topischen Kriterienkatalogs. Auch innerhalb der inventio will er gewissermaßen nur ‚finden, nicht erfinden‘, auch für sie soll dank maximaler Eindämmung des freundesbiographischen iudicium Kunstferne gelten. Bereits bei Krumhardts Vorbild Hitzig finden sich die alten topischen Relevanzkriterien eines Lebens relativiert: Zwar folgt Hitzig ihnen noch grob in seinen ‚Lücken füllenden‘ biographischen Abrissen; ihre ‚Ordnungsmacht‘ ist allerdings durch seine übergreifende „Abschnitt“-Ordnung eingeschränkt. Diese wäre als eine Kombination aus ‚reiner‘ Chronologie und ‚reiner‘ Topologie zu beschreiben: Die Reihung der Hoffmannschen Briefdokumente erfolgt streng nach Datum, eben – mit Krumhardts Worten – „wie aus dem Terminkalender heraus“; ihre Bündelung zu „Abschnitten“ orientiert sich dann aber streng topologisch an den geographischen (nicht mehr topischen) Orten, die der Biographierte auf seinem Lebensweg der Reihe nach abgeschritten hat. Damit beinhaltet diese Reihe zwar auch die topischen Stationen eines Lebensweges in chronologischer Reihenfolge wie Geburt, Schuleintritt, Matura, Hochzeit etc.; die übergreifende Ordnung der „Abschnitte“ ‚Königsberg‘, ‚Glogau‘, ‚Berlin‘, ‚Posen‘, ‚Plotz‘, ‚Warschau‘, ‚Berlin‘, ‚Bamberg‘, ‚Dresden‘ und ‚Leipzig‘ und wieder ‚Berlin‘ ist hingegen nur schwerlich verallgemeinerbar. Ähnliches gilt für die Abfolge von Krumhardts Aktenstücken. Auch sie geben durchaus noch Aufschluss über die personalen Eckdaten und Lebenswegstationen, deren Abgleich oder Ausfüllung mit konkreten Falldaten die topische a persona-Reihe für die diskursive Darstellung eines Menschenlebens empfiehlt.

164 Im Ausdruck ‚Eckdaten‘ steckt noch die topische, von der Mnemotechnik übernommene Raummetaphorik. 165 Goldmann, Topos, S. 669. Vgl. auch Lamys Topikbestimmung: Sie sei eine Gesamtheit von „kurzen und leichten Mitteln zur Stoffindung, um sich selbst über gänzlich unbekannte Gegenstände auslassen zu können“. (Zitiert nach Barthes, Alte Rhetorik, S. 68). 166 Goldmann, Topos, S. 663.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

Doch wie bei Hitzig bestimmen diese Daten und Stationen nicht Einheit und Umfang der Erzählstücke. Anders als bei Hitzig allerdings geben auch nicht die Chronologie der originalen Briefbeiträge des Biographierten die Feinstruktur Texts und die Topologie seiner Aufenthaltsorte die Abschnittgliederung vor. Es sind vielmehr die zitierten individuellen Monologe bzw. Dialoge der Nachbarn des Biographierten (begleitet, d. h. zumeist eingeleitet von Krumhardts Selbstkommentaren), die die einzelnen Aktenstücke konstituieren; nicht nur der Biographierte, sondern auch sein direktes Umfeld, die ihm im konkreten Sinn nahe Stehenden, die ‚Umstände‘167 seines Lebens gewissermaßen, geben Auskunft über ihn und dieses Leben.168 Entsprechend sieht sich Krumhardt mit seiner Unternehmung nicht etwa beim „toten Freund[ ]“ angelangt, sondern „in die Welt des toten Freundes hineingestellt“ (A 304, Hervorh. Ch. F.). Was die Abfolge der Aktenstücke angeht, ist zu unterscheiden zwischen den Erzählstücken des Rahmens und denen, die er umfasst. Erstere folgen der Reihe von Krumhardts Aufenthaltsorten in der Erzählzeit (seinem Gang von seinem Arbeitszimmer hinaus nach Berlin in das „Witwenstübchen“ der „Fechtmeisterin Feucht“ (A 281, 390) und hinein ins Totenzimmer Veltens); die Reihenfolge der letzteren lässt sich am ehesten als imaginärer Gang Krumhardts durch die Nachbarschaft im alten Vogelsang-Quartier erklären, von Haus zu Haus gewissermaßen, bei dem jedes Zusammentreffen mit einem oder mehreren Nachbarn zur Wiedergabe von deren Reden motiviert. Die gründlichere Eindämmung des iudicium des Freundesbiographen auch innerhalb der inventio ist demnach als doppelte Distanzierung des topischen Katalog- oder loci-Verfahrens zu beschreiben: Zum einen sind (wie bei Hitzig) die Relevanzkriterien eines Lebens, wie sie die traditionellen (auto-)biographischen topoi definierten, in ihrer Relevanz relativiert; zur diskursiven Vermittlung individuellen Lebens zählt nicht die (im traditionellen Sinn) topisch organisierte Biographenrede, sondern (weiter gehend als bei Hitzig) einzig der Zeugenbeweis.169 Dabei vermeidet Krumhardt (im Gegensatz zu Hitzig) die Se167 Vgl. Vismann über die gerichtliche Herkunft des Ausdrucks ‚Umstände‘ – das waren ursprünglich die umstehenden Personen, die in einem Fall urteilen sollten (dies., Medien, S. 133). 168 Solche Augenzeugenberichte hatte Hitzig nur vereinzelt im Anhang seiner Biographien angeführt, in seinem programmatischen Vorwort aber ihre Bedeutung für die ‚Ganzheit‘ seiner Darstellung betont (vgl. Hitzig: Hoffmann’s Leben, S. XIV). Damit entspricht Krumhardt vom Prinzip her weit mehr als Hitzig dem kulturhistorischen, auf das lokale Umfeld einer historischen Erscheinung gerichtete Interesse der Amateurhistoriographie. 169 Versteht man die Zeugenaussage als ‚demokratisierte‘, allein durch räumliche Nähe und Augenzeugenschaft motivierte Form des Autoritätsbeweises, dann könnte man hierin auch die Reduktion des topischen Katalogprinzips auf einen einzigen topos verstehen. Der topos ab auctoritate war ein Gesichtspunkt der sachtopischen Reihe a re und empfahl zur Auffindung von Argumenten den Rekurs auf Autoritäten, die sich aufgrund ihrer Sachkenntnis, ausgewie-

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lektion des Biographierten als primären Zeugen und lässt stattdessen alle möglichen Augenzeugen von Veltens Leben zu Wort kommen.170 Damit pluralisiert er sowohl den biographierten Gegenstand – vom „toten Freund“ zur „Welt des toten Freundes“ (A 304) – als auch die biographische, diese „Welt“ aktenmäßig erzählende Rede – von der (schriftlichen) Selbstrede des ‚großen‘ Biographierten, deren Lücken der ‚kleine‘ Freund nur assistierend füllt, zur (mündlichen) Selbstrede aller ‚Umstände‘ seines Lebens bzw. seiner Welt. Zum andern wird das prozedurale Verfahren der topischen techné auf das ältere mnemotechnische Verfahren zurückgeführt, dessen räumliches Speicher- und Reaktivierungskonzept die Topik ursprünglich für ihre Sammlung topischen Wissens adaptiert hatte:171 auf das imaginäre Abschreitens eines vertrauten Raums (des alten Vogelsangs), in dem an markanten Orten (den Orten der Nachbarn) das zu memorierende Wissen, zu einprägsamen imagines verdichtet (den lebhaft sprechenden Zeugen), abgestellt (gespeichert) und wieder hervorgeholt (aktualisiert) werden kann. Die Ordnung dieses Ganges und damit die Anordnung der Zeugnisse gibt somit in erster Linie der alte Vogelsang mit den Orten der Nachbarn vor; es ist die Nachbarschaft selbst, die beides bestimmt.172 Damit tritt in Krumhardts Aktensammlung die „vergessene Verbindung“ zwischen topoi der inventio und topoi der memoria hervor. Die ethnographische

sener Fachkompetenz oder einfach allgemein empfundener Wertschätzung als solche auswiesen. Der Augenzeuge wäre demnach eine gewissermaßen ‚demokratisierte‘, weil rein technische Autorität durch seine belegbare Präsenz am Ort und zur Zeit des fraglichen Geschehens wie durch seine gleichfalls zu dokumentierende Wahrnehmungs- und Aussagefähigkeit. 170 Demgegenüber ist in Hitzigs Hoffmann-Biographie der Biographierte der Hauptzeuge, nur im Anhang kommen drei ihm Nahestehende zu Wort. 171 Vgl. Emrich, Topik und Topoi, S. 228; Hebekus, Topik/Inventio, S. 85 und v. a. Goldmann, Topos, S. 672: „An dieser Stelle ist auf die Vorstellung der antiken Mnemotechnik zurückzugreifen und an ihre vergessene Verbindung zur rhetorischen Findungslehre zu erinnern. Die Topoi der inventio, die Fundgruben der Argumentation, entsprechen den Topoi der memoria, ja, sind mit ihnen identisch.“ 172 Mitnichten belegt Raabes Text also die pauschale These von der Ablösung des „in der Rhetorik (memoria) relevante[n], räumliche[n] mnemotechnische[n] Modell[s] der loci et imagines […] durch das zeitlich orientierte Paradigma der Erinnerung‘“, wie Krebs meint (vgl. Krebs, Identitätskonstitution, S. 17). Der These von Berndt, dass Krumhardt sich bei seinem imaginären Gang durch die Vergangenheit durch Velten führen lasse, wie Virgil Dante in der Divina commedia führe, laufen die steten Betonungen, dass Krumhardt sich von Velten ‚frei machen‘ wolle, zuwider: Bei seinem Aufenthalt in Berlin verzichtet Krumhardt nach kurzem Schwanken dezidiert auf die Führung durch andere ‚Erben‘ Veltens, die diesem zum Schluss näher standen (Helene/Leon des Beaux). Und während des Erinnerungs- und Erzählprozesses, der erst nach dieser Reise einsetzt, bildet Velten zwar den Gegenstand fast aller Zeugenaussagen, Krumhardt hingegen das verborgene Zentrum dieser Zeugenbefragung, die Instanz, die über Aufnahme, Abfolge und Länge der protokollierten Aussagen entscheidet.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

Erklärung, die Goldmann für diese Verbindung anführt, ist im Blick auf den Ausschluss Krumhardts von Veltens Begräbnis aufschlussreich: Die ursprüngliche Identität von Gedächtnis- und Argumentationsort läßt sich durch ethnographische Forschung noch heute belegen. Vorbild des locus communis ist das Grab des Stammvaters (Eponym), um den herum die Gesellschaft sich gruppiert und an den sie sich gebunden fühlt. Im Rhythmus der Feste und in Krisenzeiten versammelt sich die Gesellschaft um sein Grab, steht auf gemeinsamen [sic] Boden und gewinnt von hier aus Argumente, die den Zusammenhalt der Gruppe gegenüber dem ‚Anderen‘ beschwören; […].173

Mit seinem topisch-mnemotechnisch organisierten Vogelsang-Archiv reinszeniert Krumhardt die von Helene verhinderte Versammlung der Vogelsang-Nachbarn um Veltens Grab. Dessen Geschichte als zentraler Gestalt („Stammvater“) des Vogelsangs scheint nur bruchstückhaft in den Zeugnissen der Gruppenmitglieder auf; wichtiger ist die Repräsentation und Bekräftigung des „gemeinsamen [argumentativen, Ch. F.] Boden[s]“ (bzw. des ‚semantischen Feldes‘) der Gruppe als Ausweis ihrer Identität, ihres „Zusammenhalt[s] [ ] gegenüber dem ‚Anderen‘“. Diese Gruppenidentität ist nicht als „Idee“ 174 zu fassen und zu beschreiben, sondern als ein Reservoir von topoi, das im Zuge der Kommunikation des Kollektivs entsteht.175 Trotz der Reduktion der herkömmlichen (auto)biographischen Topik auf ein allein mit Zeugenaussagen befülltes konkretes Raumschema (die Nachbarschaft des Vogelsangs) ist immer noch von Topik und nicht etwa nur von Mnemotechnik zu sprechen, weil Krumhardt mit dessen ‚Anwendung‘ gerade den sprachlich-argumentativen Zusammenhalt der Gruppe als topische Einheit erkennbar macht – man könnte von einer ‚Topik der Zeugenschaft‘ sprechen. Goldmanns Hinweis ist auch im Blick auf die herausgestellte Leblosigkeit von Krumhardts Aktensammlung aufschlussreich: Mit der Reduktion der Lebens(weg)-Topik auf ein bloßes, einzig mit Zeugenaussagen befülltes Raumschema – operiert Krumhardts freundesbiographisches „actenmaeßiges Erzaeh-

173 Goldmann, Topos, S. 672. 174 Sengle hatte die Gruppenidentität, in deren Dienst die Freundesbiographie stehe, als „Idee“ gefasst: „Es geht um die Wiedergabe einer Erscheinung, die nicht absolut einmalig ist, sondern eine bestimmte Idee und eine ihr dienende Gruppe repräsentiert. (Vgl. Sengle, Biographie, S. 313 f.). 175 Wie in Cécile (vgl. Kapitel III.2.6.3) zielt das variierte topische Verfahren auch in Raabes Text nicht auf „die Definition einer Sache als Klassifikation […]. Das Ideal der Topik ist die vollständige Prädikation eines Begriffs, einer Person, eines Sachverhalts.“ Sie verleiht dem jeweiligen Sachverhalt ‚Eindringlichkeit‘, ja „Evidenz“ – hier also dem sprachlich-argumentativen Zusammenhang eines Kollektivs. (Vgl. Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 254).

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len“ nah am Tod (Grab): Seine biographische Rede ist im Vergleich zu Hitzigs Texten kaum noch vorhanden, und es ist (hauptsächlich) ein verschwundener, ‚toter‘ Raum, der dieses ‚Erzählen‘ in Archivform organisiert. Anschauliche Lebendigkeit kommt aber den eindrücklichen imagines, den erinnerten Zeugnissen der Nachbarn zu. Krumhardts Beschränkung auf sie im Sinne von außertechnischen Beweismitteln (pisteis atechnoi) macht aus ihnen – über den animatorischen Effekt hinaus – in zweifacher Hinsicht ‚lebendige Rede‘: Zum einen erscheinen selbst die Zeugnisse von bereits vor Velten verstorbenen Nachbarn als Nachrufe der Überlebenden an Veltens Grab; zum anderen stellen sie als pisteis atechnoi per se Bruchstücke der Vogelsang-Wirklichkeit dar: „[…] sie [die pisteis atechnoi i. A., Ch. F.] sind einfach Elemente eines Dossiers, das von außen, von einem bereits institutionalisierten Wirklichen kommt […].“ 176 Von daher vollzieht Krumhardts Archiv in der Tat einen Gang vom Leben an die Grenze des Todes und zurück ins Leben. In Anlehnung an Barthes kann man Krumhardts Aktensammlung als ‚Dossier-Biographie‘ beschreiben, […] die auf jegliches zusammenhängende Schreiben, auf jede entwickelte Darstellung verzichtet[ ] und nur Bruchstücke einer von der Gesellschaft bereits sprachlich konstituierten Wirklichkeit enth[ält]. Darin besteht der Sinn der atechnoi: Sie sind konstituierte Elemente der gesellschaftlichen Sprache, die direkt in den Diskurs einfließen, ohne durch irgendeine technische Operation des Redners, des Autors, umgewandelt zu werden.177

Die Pointe, die in Krumhardts ‚Topik der Zeugenschaft‘, in seiner Sammlung von pisteis atechnoi liegt, kann ein Satz des bereits zitierten Historikers Sybel verdeutlichen. Dieser hatte die Devise vertreten: „Die Sache oder nur Bruchstücke selbst sehn ist besser, als sich von den besten Augenzeugen darüber erzählen lassen.“ 178 Demgegenüber lässt Krumhardt seine Leser in seinem exemplarischen Volltext-Archiv des Vogelsangs zwar einerseits die „Sache oder Bruchstücke selbst sehen“ (= lesen) und gibt sich selbst (und auch Velten) nicht als „beste[n] Augenzeuge[n]“ aus. Andererseits sind die Bruchstücke der „Sache […] selbst“, die die Leser zu sehen bekommen, doch wieder nichts anderes als „Augenzeugen“-Erzählungen. Mit ihrer Präsenz in seinem topischen Archiv gibt Krumhardt vor, sie seien die „besten“, die einschlägigsten, die es gebe. Dank seiner ‚Topik der Zeugenschaft‘ signalisiert er, dass über sprachlich verfasste Zeugnisse über die Vergangenheit und damit über sprachlich-narrative Schemata für die Rekonstruktion von Geschichte nicht hinaus zu kommen ist. Diese Schemata können immer nur den Eindruck erzeugen, die „Sache selbst“ zu

176 Barthes, Alte Rhetorik, S. 57. 177 Barthes, Alte Rhetorik, S. 57; alle Hervorh. im Original. 178 Heinrich von Sybel, Ueber die Gesetze des historischen Wissens, Bonn 1864, S. 6.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

sein – Geschichte als „Sache selbst“ gibt es nicht, es gibt sie nur als Produkt bzw. rhetorischen Effekt sprachlicher Darstellung (poiesis). Zwangsläufig lenkt Krumhardt so den Leserblick nicht auf Veltens Geschichte in diesen Zeugnissen als die „Sache selbst“, sondern auf die ‚Zeugnisse selbst‘ und die sprachlichnarrativen Schemata, die sie zur poiesis von Veltens und des Vogelsangs Geschichte aufbieten.179 Mit dieser meta-poetischen Perspektive, die sein Vogelsang-Archiv eröffnet, löst Krumhardt seine im Selbstkommentar angedeutete Kritik Hitzigs performativ ein. Das verdeutlicht ein letzter Seitenblick auf dessen Freundesbiographien: Zwar verweisen auch sie ihre Leser mit den versammelten Originalbriefen des biographierten Freundes auf die ‚Ausdrucksseite der Geschichte‘, allerdings hauptsächlich auf den sprachlichen Ausdruck des jeweils portraitierten ‚großen‘ Dichters, der im doppelten Sinn singulär erscheint: Nur seine Worte werden im Original zitiert, und seine Bekanntheit als Sprachkünstler verleihen ihnen den Nimbus des Einzigartigen, Unvergleichlichen. Zudem handelt es sich um den sprachlichen Ausdruck der biographierten Person selbst; dieser enge Konnex befördert die metonymische Identifizierung des sprachlich-poietischen Produkts mit seinem Produzenten, also die Vorstellung, in der Sprache des Biographierten gleichwohl ihn und seine ‚Geschichte selbst‘ zu haben. Einer solchen Identifizierung wirkt die konstatierte Pluralisierung der Zeugnisse in Krumhardts Vogelsang-Archiv entgegen. Sie schafft die Möglichkeit, die vielfältigen versammelten Reden über Velten und den Vogelsang auf ihre unterschiedlichen Darstellungsschemata hin zu vergleichen und so zu übergreifenden, allgemeinen Überlegungen (einer Meta-Ebene) zu gelangen. Auf diese Weise kommt die sprachliche poiesis von Lebensgeschichte (bzw. Geschichte allgemein) als beachtenswertes, weil basales und variables Alltagsphänomen in den Blick. Die so viel deutlicher eröffnete meta-poetische Perspektive ist bei Krumhardt aber nicht nur eine rhetorisch inspririerte, die auf die Hervor-

179 Harro Müller hat an Raabes Das Odfeld gezeigt, dass dieser „historische[ ] Roman“ „die Textualität von Geschichte, die Wahrscheinlichkeitspoetiken mit ihren Unmittelbarkeitseffekten stets zu verbergen suchen“, deutlich herausstellt. Das Odfeld treibe „den Desillusionierungsprozeß so voran, daß die Geschichte als Text keine Entzifferungsregeln mehr bereitstellt. Die Buchstaben der Geschichte, das Buch der Geschichte geben keinen ‚sicheren‘ Sinn mehr her. Damit wird nicht nur das transzendentale Signifikat Geschichte ausgehöhlt und fragmentiert, sondern zugleich die poetische Abbildbarkeit von Welt radikal in Frage gestellt.“ (Müller, Historische Romane. In: McInnes, Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus, S. 690–707, hier S. 706 f.) Demgegenüber kann man die ausgestellte Textualität von Geschichte in den Akten zwar auch als desillusionierte Resignation lesen: Es gibt die Geschichte des Vogelsangs nur dank ihrer Vermittlung durch die Aktenprotokolle, also als Vielzahl strittiger und machtpolitisch nutzbarer Narrationen, doch pocht Krumhardt noch auf die Möglichkeit von Re-Signation(en), voraus gesetzt, der Dialog um die strittigen Darstellungen wird immer wieder aufgenommen und weiter geführt. Vgl. unten Kapitel IV.8.1.

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bringungseffekte sprachlicher Schemata achtet. Sie ist vor allem eine topisch inspirierte, die diese sprachlich-narrativen Schemata zusätzlich insofern als argumentative ausweist, als sie als Beiträge zur agonal geprägten Kommunikation der Gruppe lesbar werden, Beiträge, die die Grenzen des Vogelsang-Kollektivs abstecken oder, nochmals mit Goldmanns Worten, „den Zusammenhalt der Gruppe gegenüber dem ‚Anderen‘ beschwören“. Krumhardt geht es also vor allem darum, „zu den Akten [zu bringen, Ch. F.], wie der Vogelsang sprach […]“ (A 317, Hervorh. Ch. F.), damit die spezifische Reihe sprachlich-narrativer Schemata, die auf der Grundlage der von ihm versammelten Augenzeugenerzählungen entdeckt werden kann – als die vogelsangtypische (auto-)biographische Topik, die kulturelle Topik des Vogelsangs.180

8 Latenz oder Präsenz der Vogelsang-Topik: Kulturkonzepte im Widerstreit Aus rhetorisch-topischer Sicht sind demnach in Krumhardts „Akten“ drei unterschiedliche Topiken virulent: erstens die zurückgewiesene traditionelle (auto-) biographische a persona-Topik, zweitens ihre reduzierte Variante eines bloßen, einzig mit Zeugenaussagen befüllten Raumschemas, d. h. die von Krumhardt realisierte ‚Topik der Zeugenschaft‘, und drittens die im Zuge der Aktenlektüre erst noch zu eruierende vogelsangtypische (auto-)biographische Topik, zu deren Entdeckung sein Vogelsang-Archiv einlädt. Ausbuchstabiert wird diese letzte Topik von Krumhardt nicht. Mehrheitlich bleibt es dem Leser überlassen, die sprachlich-narrativen Schemata, denen die Zeugenaussagen folgen, als solche zu erschließen. Nur teilweise werden sie von den Sprechenden oder ihren Zuhörern selbst benannt.181 Das verstärkt den Impuls beim Leser, auf die narrative

180 Auch Krebs spricht von der „diskursiven Polyphonie“ der Akten (Krebs, Identitätskonstitution, S. 142), die sich als ‚Pseudo-Dialogizität‘ erweise (Krebs, Identitätskonstitution, S. 144). Krebs sieht aber v. a. den negativ-bedrohlichen Effekt dieser „verwirrenden Polyphonie der Stimmen und Meinungen“, der darin liege, „das einzelne Individuum in seinem eigenen Ausdruck zu irritieren (Krebs, Identitätskonstitution, S. 145), und beachtet nicht deren biographiekritische Implikationen, geschweige denn den kulturpolitischen Selbstbehauptungseffekt, den Krumhardt mit seinem topischen Archiv erzielt. Für Fontanes Immensee konstatiert Michael Neumann einen vergleichbaren Effekt des ‚sammelnden Erzählens‘ – hier auf die „Verschriftlichung der zuvor tradierten mündlichen Märchen“ bezogen: „[…] der Erzählstoff der Kindheit wird ins Medium ‚Schrift‘ transferiert, das ihn dem Erzählraum entfremdet und ins ‚Verzeichnis‘ der ‚Cultur‘ aufnimmt“ (vgl. ders., Wandern und Sammeln. Zur realistischen Verortung von Zeichenpraktiken. In: Ders. und Stüssel (Hg.), Magie der Geschichten, S. 131–154, hier S. 149). 181 Krumhardts Frau Anna bringt ihre eigene Kommentierung von Veltens Ende als „Komödienschluß“ selbst auf den Begriff (A 216, zu divergierenden Deutungen des Theatermotivs

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poiesis der zitierten Originalreden zu achten und die Schemata, wo möglich, zu identifizieren. Versucht man dies, gelangt man interessanterweise nicht zu einer Reihe unterschiedlicher Lebensweg-Schemata, die letztlich doch wieder auf die alte Topik a persona zurückzuführen wären, sondern zu einer weit allgemeineren Reihe sprachlich-narrativer Gebrauchsformen, wie etwa dem Märchen, der Legende, der Predigt oder der Komödie.182 Sie sollen hier nicht im Einzelnen weiter verfolgt werden. Wichtiger an dieser Beobachtung sind die meta-poietischen Implikationen, die sie erlaubt: Ganz grundlegend ermöglichen Krumhardts „Akten“ die Entdeckung, dass nicht nur schriftlich elaborierte Geschichtsdarstellungen, wie die von ihm unterlassene, sondern auch spontan geäußerte mündliche, wie die zitierten Augenzeugenerzählungen, tradierten Erzählschemata folgen; Erzählschemata, die die jeweilige Auswahl (inventio) und Kombinatorik (dispositio) überlieferter Daten steuern.183 Seine versammelten pisteis atechnoi erweisen sich also auch von ihrer

vgl. Roebling, Doppelte Buchführung, S. 107 f. und S. 110, und insbes. Berndt, Anamnesis, S. 330 ff.). Krumhardt und Velten kennzeichnen die Äußerungen des Backfischs Helene über Velten und den Vogelsang als märchenhaften Diskurs, rekurrieren dabei mit „Allerleirauh“ sogar auf ein konkretes Märchenexemplar. 182 Umfang und textsystematischer Status der meisten dieser auffindbaren Erzählformen lassen an die „Einfachen Formen“ denken, unter die der Erzählforscher André Jolles zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine aus seiner Sicht prinzipiell ergänzbare Reihe von Narrativen fasst, wie Legende, Exempel, Kasus etc. (vgl. Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 61982). Sie wurden ursprünglich zumeist mündlich tradiert und formieren erzählende Rede gewissermaßen neben bzw. ‚unterhalb‘ literarischer Textgattungen. Jolles versteht seine Reihe ‚Einfacher Formen‘ eher überhistorisch und weniger als Ausweis eines zeitspezifischen kulturellen Zusammenhangs. Demgegenüber lädt Krumhardts Text dazu ein, die spezifische Reihe sprachlich-narrativer Schemata, die auf der Grundlage der von ihm versammelten Augenzeugenerzählungen entdeckt werden kann, als die vogelsangtypische (auto-)biographische Topik kennen zu lernen. 183 Sich derart auf die meta-poietische Perspektive von Raabes-Krumhardts Text einzulassen und zu versuchen, die Poetiken der einzelnen Vogelsang-Reden dingfest zu machen, wäre im Ansatz dem vergleichbar, was Hayden White in seinen Analysen zur Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert praktiziert. In Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (Frankfurt am Main 1991) untersucht er eine Reihe einschlägiger historiographischer Texte deutscher Historiker dieser Zeit – die Einschlägigkeit bestimmt er wie Krumhardt mit seiner Auswahl – und weist nach, dass sich ihre Darstellungweisen, d. h. die Auswahl und Anordnung ihrer Argumente, an je einer der traditionellen Dramenformen Romanze, Komödie, Tragödie und Satire orientieren. Zusätzlich ordnet er diesen Formen je einen Typus formaler Schlussfolgerung, ideologischer Implikation und rhetorischer Stilmittel zu, die sie tendentiell präferieren. Die Gesamtschau dieser Formen bildet dann auch insofern für White die ‚Topik‘ dieser raumzeitlich benachbarten Historiographengruppe, als er die erarbeitete Formenreihe als adäquate Charakterisierung von deren, in der Geschichte der Historiographie abgrenzbaren Besonderheit behauptet.

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konkreten narrativen Form her mehrheitlich als Elemente einer „von der Gesellschaft bereits sprachlich konstituierten Wirklichkeit“,184 die Auswirkung auf die Stoffwahl der erzählenden Augenzeugen haben. Zugleich ist zu präzisieren: Die im Vergleich zu Hitzig gesteigerte Eindämmung des freundesbiographischen iudicium liegt nicht nur in Krumhardts Verzicht auf einen eigenen, im traditionellen Sinn topisch produzierten und strukturierten biographischen Diskurs (Anwendung von Topik 1) sowie in der Beschränkung auf eine Sammlung von relevanten Augenzeugenerzählungen (pisteis atechnoi), die an dessen Stelle treten und ihn vervielfältigen (Anwendung von Topik 2). Eindämmung des iudicium meint auch, dass Raabes fiktiver Vogelsang-Archivar mit seiner erklärten und praktizierten Beschränkung auf pisteis atechnoi zwar zu einer topisch inspirierten meta-poetischen Lektüre einlädt (ihr im konkret-räumlichen Sinn das „Feld“ bereitet, die Materialbasis liefert), er selbst aber im Zuge seiner miterzählten Aktenlektüre darauf verzichtet, diesem Feld qua Abstraktion vom konkreten Sprachmaterial einen neuerlichen topischen Schematakatalog (Topik 3) abzuringen. Für das Aufzeigen und Abstecken des kulturellen Zusammenhangs reicht ihm, das zeigt dieser Verzicht an, ein topisch-archivalisches Inventar dieses Sprachmaterials, das nur den Rahmen der kommunikativen Beiträge absteckt. Innerhalb dieser archivalischen Sammlung darf interpretatorische Vielfalt oder gar Widersprüchlichkeit herrschen. Deutlich wird damit die Differenz zu den Augenzeugenerzählungen der anderen Kollektivmitglieder, die dank der Anwendung eines je spezifischen sprachlich-narrativen Schemas die VogelsangAkteure in je unterschiedliche bestimmte Verhältnisse sowie die Ereignisse in jeweils andere vorgezeichnete Sukzessionen bringen und so differierende, mitunter widersprüchliche Interpretationsansätze der Geschichte Veltens und des Vogelsangs liefern. Zugleich nimmt Krumhardt mit diesem Verzicht Abstand zur traditionellen Vorstellung vom topischen sensus communis, die diesen als eine latente, sprachlich-gedankliche Entität ‚hinter‘ den sprachlichen Oberflächenerscheinungen versteht – als eine langue, wenn man es in linguistischen Termini ausdrücken möchte, die ein von ihren konkreten Realisierungen in der parole unabhängiges Eigenleben führt und vom Topiker in der Form des toposKatalogs aus ihrer Latenz hervorgeholt und ansichtig gemacht wird.185 Dieses herkömmliche Topik-Konzept kennzeichnet Krumhardts topisches Archiv als eine fragwürdige Form der Abstraktion, wenn er demgegenüber das ‚semantische Feld‘186 des Vogelsang-Kollektivs als eine Reihe exemplarischer sprach-

184 Barthes, Alte Rhetorik, S. 57. 185 Vgl. Barthes’ Bestimmung der Topik als „Geburtshelferin des Latenten“ (Barthes, Alte Rhetorik, S. 69, Hervorh. im Original). 186 Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 250.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

licher Oberflächenerscheinungen repräsentiert – im Gegensatz sowohl zur Enzyklopädie als auch zum Volltext-Archiv (vgl. Kapitel IV.2).187 Sein topisches Archiv zeugt somit von einer Konzeption von Kultur, die kulturelle Einheit im Sinne des topischen Kulturmodells nicht als ideelle Einheit, als „normativen platonischen Ideenhimmel“ 188 entwirft, sondern als kommunikativ erzeugtes Reservoir von Erzähl- und Argumentationsschemata, dessen Nutzung unabhängig von den jeweils produzierten Deutungen zur (engeren oder weiteren) sozialen Abgrenzung dient; ein Reservoir zumal, das – nun abweichend vom traditionellen Topikverständnis – nicht als latente langue aufzufassen, also nicht jenseits des konkreten Sprachmaterials der kommunikativen Beiträge dingfest zu machen ist. Krumhardts Projekt topischer Geschichtsrekonstruktion nach der Maßgabe des beschriebenen Kulturmodells erschöpft sich aber nicht darin, die kulturellen Abhängigkeiten und kulturstiftenden Funktionen des freundesbiographischen (und allgemein historiographischen) Erzählens im genauen Blick auf dessen „Weise“ der inventio frei zu legen. Krumhardts Text zielt darüber hinaus auch auf die Durchsetzung der eigenen Kulturkonzeption. Dieses Bemühen Krumhardts zeigt sich an dem Argumentcharakter, der seinem topisch-archivalischen, nicht-argumentativen Vogelsang-Archiv aufgrund seiner Form gleichwohl zukommt. Dieser Argumentcharakter hat sich bereits darin gezeigt, dass performative Aspekte von Krumhardts „Akten“ als Reaktion auf Helenes ‚Erbnahme‘, auf seinen kommunikativen Ausschluss aus der Erbengemeinschaft des Vogelsangs, gelesen werden können: Mit seinen „Akten“, insbesondere mit der indirekten Evokation der Begräbnisszene realisiert Krumhardt seinen imaginären Wiedereintritt in die Erbengemeinschaft des Vogelsangs, und mit der Rahmung seines Archivs durch Helenes Reden den textuellen Wiedereintritt seiner randständigen Biographenrede ins Feld des kommunikativen Zusammenhangs der Vogelsang-Nachbarn. Auf diese Weise löst Krumhardt als ‚Biograph am Rande‘ Helene als Hüterin der Grenzen dieses soziokulturellen Zusammenhangs ab. Der Gegensatz zu Helene, die Krumhardt die Form aktenmäßigen ‚Erzählens‘

187 Vgl. die Parallelen dieser Krumhardtschen Deutung der Topik zu neueren Aktualisierungen der Topik in der Soziologie bei Knoblauch, Topik und Soziologie, S. 651–668. Dieser setzt dem traditionellen „tiefenmetaphorischen Modell der Topik“ dasjenige einer „kommunikativen Topik“ entgegen, die „nicht mehr auf ein wie immer verstandenes kollektives Wissen zurückgeführt wird, das selbst nur indirekt zugänglich sei“ und „durch das hindurch die eigentlichen Bedeutungen und Sinnkomplexe erfaßt werden könnten.“ ‚Kommunikative Topik‘ bezeichne vielmehr „reziproke Typisierungen des Sinns“, die sich „[i]m Zuge der wechselseitigen [Sprech-]Handlungen bilde[ten]“ und „ihren Ausdruck in objektivierten kommunikativen Formen f[ä]nden“ (Knoblauch, Topik und Soziologie, S. 658; Hervorh. im Original). 188 Hebekus, Topik/Inventio, S. 88.

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ja nahegelegt hat, liegt aber innerhalb desselben funktional-kommunikativen Modells von Kultur, denn fraglich ist zwischen beiden nur die engere oder weitere Grenzziehung zwischen inner und outer circle des sozialen Felds. Auf anderer, grundsätzlicherer kulturtheoretischer Ebene liegt das ‚Argument‘, das Krumhardts „Akten“ im Blick auf Veltens Umgang mit dem kollektiven Wissen und Erbe des Vogelsangs bereit halten. Obgleich Krumhardt die Originalbeiträge des biographierten Freundes, seine Briefe und Reden, depotenziert, indem er sie in seinen „Akten“ als Beiträge unter vielen anderen wiedergibt, verdienen sie besondere Beachtung. Denn sie belegen, dass Veltens Form des Sprechens und Erzählens im und über den Vogelsang eine zentrale kulturstiftende Funktion für das Kollektiv erfüllt und zuletzt in einen gegenläufigen, radikal fixierenden Entwurf der Vogelsang-Kultur mündet: Die Erzählstücke, die Momente der Kindheit und Jugend von Velten, Helene und Krumhardt im Vogelsang aktualisieren, zeigen Velten mehrheitlich als Wortführer; so etwa bei den Zusammenkünften der Kinder im oberen Vogelsang auf der Bank am Osterberg, später dann im Berliner ‚Ersatz‘-Vogelsang in der „Dorotheenstraße 00“ (A 270, sic) sowie kurz vor seinem endgültigen Weggang aus dem Vogelsang im Kreis der letzten dort verbliebenen Nachbarn. Flankiert werden die zitierten Originalreden Veltens regelmäßig durch Bemerkungen Krumhardts oder anderer Zuhörer, die die Aufmerksamkeit auf Velten als Erzähler und auf die Art seines Erzählens lenken. Wenn Velten erzählt, geht es nicht um Informationsvermittlung, sondern darum, die Erlebnisse im Vogelsang, die Krumhardt durchaus bekannt sind, „noch einmal“ zu vergegenwärtigen und dabei als gemeinsame emotional zu verarbeiten („mir und sich […] zu Gemüte führen“, A 274)189 – um VogelsangGedenkfeiern gewissermaßen. Ein rauschhaftes, erotisch aufgeladenes Nähegefühl entsteht, wenn der „Narr und Phantast“ (A 274) Velten erzählt.190 Gebannt nimmt ihn Zuhörer Krumhardt als Erzählenden umgehend auch körperlich in den Blick, muss jede seiner Regungen genauestens verfolgen: „Er lag auf dem Sofa, mit den Beinen über der Lehne, er saß auf dem Stuhl, er saß auf dem

189 Bei ihrem Wiedersehen als Studenten in Berlin betont Krumhardt, dass Velten ihm nichts Neues erzählt: „Was ich aus eigener Erfahrung und aus den Briefen meiner Eltern von den letzten Vorgängen im Vogelsang wußte, konnte er mir und sich nun noch einmal, wie unsere damalige Redensart lautete, zu Gemüte führen. Er tat es; […].“ (A 274). 190 Die euphorisierende Wirkung solcher Gedenkfeier schildert Krumhardt, noch bevor er überhaupt ein Wort von Velten wiedergibt: „Wenn ich in dem einen Augenblick den vernünftigen Leuten zu Hause recht geben und sagen mußte: er ist wirklich ein unzurechnungsfähiger Narr und Phantast, so wurde mir doch schon im nächsten Moment so heiß bei seinen Worten, Blicken und Gesten, daß ich ihm um den Hals hätte fallen mögen: ‚Du bist und bleibst doch der famoseste, beste Kerl in der Welt, Velten! […].‘“ (A 274).

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Tische, er lief auf und ab, während er jetzt mir erzählte von dem Vogelsang und Helenen Trotzendorff.“ (A 274) Veltens Erzählen ist hier eines, das ihn selbst nicht nur als handelnde Person und Augenzeugen im alten Vogelsang, sondern auch als aktueller Erzähler sichtbar macht. Dabei mobilisiert er vielfältige Vergleiche und Bilder (die Kinderzeit als auszulöffelnde „Kindersuppe“, Helene als „Kröte“ (A 275) bzw. „Wurm“ (A 276)), ergeht sich in Personifizierungen („Der Vogelsang hat Gott sei Dank! gesagt“ (A 275)) und zitiert geistreich aus literarischen Werken („Braut von Messina“ (A 275)), Mythologie (A 268) und Bibel („grade wie der alte spitzbärtige Jüd und Schriftgelehrte [Nikodemus]“ (A 278)). Um es mit Krumhardts Worten zu sagen: Velten setzt ein erhebliches Maß an „Farbe“ ein und lässt sein persönliches iudicium (v. a. hinsichtlich der elocutio) stark hervortreten, indem er sich eines auffälligen, weil eigenwilligen Umgangs mit rhetorischen Stilmitteln und anderen Bildungsgütern befleißigt.191 Resultat ist ein bewegtes, lebendiges Erzählen, das auch die Zuhörer durch Anrufungen und Fragen miteinbezieht, allerdings nicht ohne die Grenzen ihrer Beteiligung genau zu bestimmen (z. B. A 279). Dass Velten derart als Stifter der Einheit des Vogelsang-Kollektivs wirkt und sich so zugleich die Deutungshoheit im Kollektiv sichert, macht eine Zwischenbemerkung Krumhardts deutlich. Sie zeigt die (auto-)suggestive Wirkung von Veltens Erzählen auf – er scheint sich als Erzähler in seiner Körperlichkeit zu verändern, an Größe zu gewinnen: Er hob den linken Arm, dessen gelähmtes Handgelenk ihn nur für den vaterländischen Kriegsdienst untauglich gemacht hatte.

191 An einer Stelle, an der Velten Krumhardt durch große „philologisch-mythologische Kenntnisse über Verhältnisse in Erstaunen“ versetzt, „von denen ich keine Ahnung aus der Schule mitgebracht hatte“ (A 267), betont Velten seine Eigenständigkeit auch hinsichtlich des Erwerbs (inventio) und der dispositionellen Verwendung seines Wissens, wenn er sagt, er habe „dieses alles“ „[s]ehr aus mir selber“ (A 268). Demgegenüber lässt Krumhardt es sich nicht entgehen, die Aussagen anderer dazu zu nutzen, das Erborgte von Veltens Redeweise auszustellen. Besonders augenfällig wird das in einem Passus, der einer weiteren wichtigen Erzählszene Veltens vorangeht und Krumhardt als Literaturkenner ausweist, der die Quellen des Erborgten zu entdecken weiß. Hier richtet sich Krumhardts Schwager Schlappe bei einer zufälligen Begegnung auf den Spazierwegen des Osterbergs an Velten: „‚Man trägt ein Wort von dir in der Stadt herum über Ausschlafenmüssen‘, sagte der Schwager. ‚Der Freiherr von Münchhausen beim seligen Landgerichtsrat Immermann hat ein ähnliches. Nicht wahr, du machtest mich neulich darauf aufmerksam, Karl? Unsereiner kommt ja zu dergleichen Lektüren leider zu selten, und ich habe wirklich noch nicht Zeit gefunden, in dem Buche nachzulesen, inwieweit deine Redewendung uns gegenüber eine scherzhafte Reminiszenz daraus ist. […]‘“ Die folgende doppeldeutige Formulierung zum Schluss pointiert noch die Spitze gegen Velten: „– so geht das eben immer, wenn ältere Zeit- und Altersgenossen, Schulbankgenossen, auf solchen altbetretenen Wegen einander begegnen!‘“ (A 355).

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Es leuchtete eine solche siegessichere, lachende, unverschämte Zuversicht aus seinen Augen, klang so sehr aus seiner Stimme, dass er wirklich nicht nötig hatte, mich auch noch derartig mit der gesunden, eisernen Rechten auf die Schulter zu klopfen, dass ich nicht nur körperlich in die Kniee [sic] knickte, sondern mir auch seelisch niedergedrückt, zusammengeschnurrt – kurz, klein vorkam. – (A 276)

Es ist dies ein Erzählen, das Krumhardt in Abhängigkeit von Velten bringt, ihn Velten als übergroß und übermächtig empfinden lässt. Nicht von ungefähr leitet Krumhardt die gesamte Berlinszene mit dem Satz ein: „In Berlin verfiel ich ihm sofort wieder“ (A 270).192 Den Aspekt einer die Vogelsang-Nachbarn vereinenden Gedenkfeier stellt Krumhardt noch einmal anlässlich von Veltens letztem (offensichtlichen) Erzählauftritt im alten Vogelsang aus, nicht ohne weitere, scheinbar gegenläufige Merkmale seiner Erzählweise kenntlich zu machen: Er wußte jedenfalls sein gefühllos gewordenes Herz […] wie vordem leichtbewegt in all den Lichtern, Farben und Schatten, die Menschen im wahrsten Sinne miteinander verwandt machen, spielen zu lassen. Wie da der Schatten der hohen Brandmauer […] wieder sich lichtete! Wie es wieder wie Abendsonne aus unserer, Veltens und meiner, Kinderzeit […] durch Baumgezweig nur tanzende Schatten auf die kleine Laube warf […]. (A 355)

Wieder wird auf die Gemeinschaft stiftende Funktion von Veltens Erzählen hingewiesen („die Menschen im wahrsten Sinne miteinander verwandt machen“). Krumhardt erklärt diese Funktion hier indirekt mit der Befähigung des Erzählers zum rhetorischen Pathos, d. h. der Befähigung, sich wie ein Schauspieler unabhängig von den eigenen Emotionen (dem „gefühllos gewordene[n] Herz[en]“)193

192 Veltens erzählerische Integrationskraft vergleicht Krumhardt etwas später einem „Wunder“: „[…] und wie sich die Vögel mit demselben Gefieder sofort wieder um ihn zusammengefunden hatten, das musste ein Wunder sein auch für den, der an keine Wunder in dieser nüchternen Welt glaubte.“ (A 280) Auch andere Zuhörer bestätigen die verbindende und zugleich verführerisch-bannende Wirkung von Veltens Erzählen: Nachbar Hartleben konstatiert, dass Velten „einem mit seinen Schnurren, Abenteuern, Meinungen und Ansichten wie mit einem Schnaps aufwartet“ (A 333). Leonie des Beaux entbrennt in stiller, doch derart großer Liebe für Velten (A 292), dass sie später allen anderen Männern entsagt und „Diakonissin zu Kaiserswerth“ wird (A 387). Ihr Bruder Leon kann nach einem Spaziergang durch den alten Vogelsang, auf dem Velten an allen wichtigen Orten der Vogelsang-Kinder ihre vergangenen Erlebnisse evoziert, nur stammeln: „Oh, Herr, – wenn ich es doch nur sagen könnte, wie mir zumute ist. Welch ein wundervoller Tag das wieder war –“ (A 299). Und selbst Anna, Honoratiorentochter und vernünftige Frau Krumhardts, gesteht nach einer durchwachten Nacht, in der Velten als „Scheherazade oder […] Märchenerzähler im Karawanserai zu Bagdad“ (A 345) gewirkt hat, die durchaus auch erotische Faszination ein, die Velten auf sie ausübt (A 347 f.). 193 Hier übernimmt Krumhardt Veltens Charakterisierung seiner Gefühlslage nach der Zurückweisung durch Helene, die er ihm aber nicht abnimmt; aus Krumhardts Sicht ist Velten so gefühlvoll wie eh und je und leidet an gebrochenem Herzen.

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in vielfältige Gefühle hinein versetzen zu können, um diejenigen Figuren und Tropen zu finden („Lichter[ ], Farben und Schatten“), die diese Emotionen auch beim Zuhörer wecken können. Damit weist Krumhardt den „Narr[en] und Phantast[en]“ Velten als begabten Rhetoriker aus, der großes Gespür dafür besitzt, was „die Menschen im wahrsten Sinne miteinander verwandt macht“: nicht etwa das Vorhandensein identischer Emotionen, die seine Erzählung nur noch in Worte übersetzen müsste, sondern geteilte Vorstellungen (also topisches Wissen) davon, wie Emotionen sich sprachlich ausdrücken, sodass mit der gezielten Anwendung dieser Ausdrücke einhellige Gefühle beim Publikum hervorgerufen werden können.194 Starker Effekt dieser Technik ist, dass wie auf einer Bühne das Licht angeht („der Schatten […] wieder sich lichtete!“), Bewegung entsteht („nur tanzende Schatten auf die kleine Laube warf“) und längst verschwundene Akteure der Vergangenheit wieder leibhaftig als dramatis personae in Erscheinung treten: Da gewann eine liebe Vergangenheit ihr Recht wieder und behielt es für eine gute Stunde von neuem mit seinem: Weißt du wohl noch, Mutter? […] Wir sind Kinder – junges Volk – und das schönste Mädchen des Vogelsangs lehnt sich als Jungfrau über Veltens Mutter […]. Ja, weißt du noch Velten? Erinnerst du dich wohl noch daran, Krumhardt? – – „Wie steht es denn mit euren Schularbeiten für morgen, Jungen, wenn ich fragen darf?“ Es ist mein eigener braver, sorglicher Vater, mein seliger Vater, der in Schlafrock und Hauskäppchen mit der langen Pfeife an die Hecke gekommen ist, wo jetzt die hohe Brandmauer des Nachbarhauses sich erhebt. Und meine Mutter mit dem Strickzeug in der Hand und dem Garnknäul unterm Arm kommt auch aus unserer Laube heran. Es ist mehr und mehr wie eine Wiederbringung […] in Fleisch und Blut, mit jedem Gestus und Tonfall sind sie wieder da bei der Frau Doktorin Andres, alle sind sie wieder heraufgestiegen und – am lebendigsten für den Mann neben der heiter-schönen Greisin […]. (A 355 ff.)

Nachdem Velten den Erzähleinsatz geleistet hat, tritt er an dieser Stelle mehr und mehr hinter dem Erzählten zurück, scheint nur noch die Funktion eines Stichwortgebers zu haben, die er zusehends an seine Zuhörer (Mutter Amalie) abgibt. Durch das variantenreiche Spiel der Emotionen zu Beginn, dann das Zurücktreten des Erzählers bei gleichzeitigem Einsatz von Farbe (vgl. die Evokation von „Gestus und Tonfall“) und dem Assoziieren markanter „objets réels“ („Schlafrock und Hauskäppchen“, „Strickzeug“ und „Garnknäul“) rückt dieses Erzählen die „Schatten“ des alten Vogelsangs, d. h. die vom Dunkel des Vergessens bedrohten ehemaligen Akteure, ins Licht, setzt sie in Bewegung und lässt sie als Wesen „in Fleisch und Blut“ wie auf einer Bühne „spielen“ und „tanzen“.

194 Vgl. Barthes über aristotelische topische Pathos-Lehre in „Die alte Rhetorik“, S. 76 f.

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Damit leistet es eine eindrückliche Verlebendigung der Vergangenheit, also genau das, was der Kritiker der „leblosen“ Vormärz-Biographien, Heinrich von Sybel, dem neuen „historischen Styl“ 195 der Geschichtsschreibung attestierte und auch von ihm verlangte. Geschichte solle vor allem in der Form von Lebensgeschichten einzelner Persönlichkeiten, also biographisch, zur Darstellung gebracht werden, und diese sollten sich einer „individuelleren, intimeren Menschendarstellung“ befleißigen. Großes Vorbild in dieser Hinsicht sind für Sybel die narrativen Geschichtsdarstellungen Leopold von Rankes, des „Vater[s] der deutschen Geschichtswissenschaft“.196 Aus der kritischen Perspektive seines Kollegen Gustav Droysen betreibt Ranke allerdings gerade kein wissenschaftliches, sondern ein literarisches Erzählen, das an dem Vorbild des historischen Romans geschult sei.197 Ärgerlich konstatiert Droysen in seiner Historik von 1857, man feiere „als den größten Historiker unserer Zeit denjenigen, der in seiner Darstellung dem Walter Scottschen Roman am nächsten“ 198 stehe. Der Eindruck eines „vollständigen Verlaufs“,199 einer „organischen Entwicklung in der Geschichte“ 200 sowie schließlich eines „objektiven Bildes der Vergangen-

195 Vgl. Sybel, Ueber den Stand der neueren deutschen Geschichtschreibung, Marburg 1856, S. 15: „[…] zum ersten Male in der deutschen Geschichtsschreibung [sic] beginnt sich ein fester, den verschiedensten Persönlichkeiten gemeinsamer, den mannichfaltigsten Stoffen passender historischer Styl zu bilden.“ 196 Müller, Historische Romane, S. 693. Vgl. von Sybels euphorische Bemerkung zu dem von ihm beobachteten und propagierten neuen „historischen Styl“, in der er seine Bewunderung für Ranke ausdrückt: „Wohl sind es auch in dieser Beziehung erst Anfänge – niemand könnte behaupten, daß einer der Jüngern an subjectiver Meisterschaft z. B. Ranke erreichte – aber es sind Anfänge einer reichen Zukunft, einer richtigen Bahn, einer neuen Epoche unserer Geschichtschreibung [sic].“ (Sybel, Geschichtschreibung, S. 15). 197 Hans Robert Jauß bringt dieses Erzählen mit den drei Kennzeichen der „materielle[n] Erschließung und poetisch-anekdotische[n] Verlebendigung des Vergangenen“ sowie der „dramatische[n] Erzählform“ auf den Punkt. (Jauß, Geschichte der Kunst und Historie. In: Koselleck, Stempel (Hg.), Geschichte, S. 175–209, hier S. 185). 198 Zitiert nach Jauß, Geschichte, S. 183. 199 Droysen, zitiert nach Jauß, Geschichte, S. 184: Der künstlerisch verfahrende Historiker „macht sich das Gesetz der Fiktion zunutze, daß sich auch disparate Elemente einer Geschichte für den Leser in einen wachsenden Zusammenhang fügen und am Ende zu einem Bild des Ganzen zusammenschließen; […]“. Damit es nicht zu diesem ästhetischen Effekt, dass die Imagination die Lücken schließt, kommt, „bedarf es besonderer Vorkehrungen, die der modernen Kunstprosa paradoxerweise geläufiger sind als der Historiographie“ (Jauß, Geschichte, S. 184). 200 Droysen bezeichnet die Vorstellung „der sog. organischen Entwicklung in der Geschichte“ als „falsche Doktrin“: „Es liegt völlig außer dem Bereich der historischen Forschung, zu einem Punkt zu gelangen, der in vollem und eminentem Sinn der Anfang, das unvermittelt Erste wäre.“ Weder sind in „dem Früheren alle Bedingungen für das Spätere vorhanden“, noch kann das Spätere der Zielpunkt des Früheren sein, denn „das Gewordene trägt alle Elemente neuer Unruhe in sich“. Genetisch zu verfahren hieße, „erneut einem Gesetz der Fiktion“ zu verfallen,

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heit“,201 der im Zuge dieses Erzählens entstehe, sei bloße „Illusion“ und habe ebenso wenig Zeugniskraft wie die Bilder der „Poeten und Romanschreiber“.202 Den letzten Punkt, die Objektivitätsillusion des historischen Romans, ergänzt Hans Robert Jauß durch den Hinweis auf die „dramatische Erzählform“, mit der Scott sich einen „Ruhmestitel“ erworben habe, und beschreibt damit exakt den Effekt, den die zuletzt zitierte Erzählszene aus Krumhardts „Akten“ dokumentiert: […] da der Erzähler des historischen Romans ganz im Hintergrund bleibe, könne die Geschichte selbst wie ein Schauspiel hervortreten und den Leser in die Illusion versetzen, daß er dem Drama der agierenden Personen selbst beiwohne. Damit sei der Leser nun aber auch in die Lage versetzt, selbst das Urteil und moralische Fazit zu ziehen, das ihm von räsonierenden Historikern wie Hume oder Robertson bisher immer vorweggenommen wurde.203

Die Rolle des Erzählers wird aber sowohl im Blick auf Scott als auch auf Ranke durchaus ambivalent gesehen: Während Jauß auf das Zurücktreten des Scottschen Erzählers hinter das erzählte Vergangenheitsgeschehen abhebt, sieht Harro Müller ein Merkmal der Romane Scotts darin, dass sie Erzählerfiguren entwerfen, die das vergangene Geschehen merklich perspektivieren.204 Ranke selbst gibt vor, in seinen Texten die Maxime zu befolgen, „von seinem interessierten Selbst abzusehen und seine Gegenwart vergessen zu machen“; gleichwohl besteht die starke Wirkung seiner historischen Darstellungen auf seine Zeitgenossen darin, dass gerade seine „subjective[ ] Meisterschaft“ 205 als Erzähler gesehen wird. Exakt darauf zielt Droysens Kritik, wenn er betont: „Nur scheinbar sprechen hier die ‚Tatsachen‘ selbst, allein, ausschließlich ‚objektiv‘. Sie wären stumm ohne den Erzähler, der sie sprechen lässt.“ 206 Denn schließlich sei das „Maß für das Wichtige und Bezeichnende“ 207 nicht im überlieferten

„nämlich der aristotelischen Bestimmung der poetischen Fabel, die Anfang, Mitte und Ende haben muß, und zwar einen Anfang, der selbst nicht notwendigerweise auf ein anderes folgt, und ein Ende, nach dem es nichts anderes mehr gibt.“ (Droysen, zitiert nach Jauß, Geschichte, S. 184). 201 Hier richtet sich Droysen gegen Rankes Postulat, mit der Absehung des Geschichtsschreibers „von seinem interessierten Selbst“ und dem Vergessenmachen seiner Gegenwart sei „die Vergangenheit unverstellt zu erreichen“. (Droysen, zitiert nach Jauß, Geschichte, S. 184). 202 Droysen, zitiert nach Jauß, Geschichte, S. 184. 203 Jauß, Geschichte, S. 185. 204 Müller, Historische Romane, S. 691. 205 Sybel, Geschichtschreibung, S. 15. 206 Droysen, zitiert nach Jauß, Geschichte, S. 185. 207 Droysen, zitiert nach Jauß, Geschichte, S. 184.

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Material selbst zu finden. Im Gegensatz zum „Poeten und Romanschreiber“ 208 habe der Historiograph über dieses „Maß“ Auskunft zu geben, über seine Auswahlentscheidungen im Zuge der inventio also. Erst mit der expliziten Rechenschaft über die Selektionskriterien seines persönlichen iudiciums, die auch dessen Prägung durch den zeitgenössichen sensus communis mitreflektiert, sei eine akzeptable, dabei stets relative Form von ‚Objektivität‘ zu erlangen.209 Eine vergleichbare ambivalente Erzählerrolle, die mit der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des persönlichen iudicium hinsichtlich von Form und Farbe spielt und damit das eigentlich Entscheidende – die Auswahl des ‚Wichtigen und Bezeichnenden‘ – überspielt, belegen Krumhardts Erzählwiedergaben im Blick auf Erzähler Velten. Die Kontingenz der spezifischen Auswahl des Erzählstoffes wird entweder durch die Übergröße des sichtbaren Erzählers Velten als repräsentativen Vertreters des Vogelsangs überblendet oder aber durch sein Verschwinden hinter dem Erzählten dissimuliert. In keinem Fall macht Velten, wie Droysen es für das historische Erzählen fordert und Krumhardt es beständig tut, die Auswahlkriterien seiner inventio zum Thema. Das brauche er auch nicht, könnte Velten unter Berufung auf Droysen einwenden, denn er selbst rückt sein Erzählen vom Vogelsang in die Nähe des literarischen Erzählens eines „Poeten und Romanschreiber[s]“:210 Mit Goethe, dem der „Genius“ „die Stirn berührt“ (A 353) habe, verbinde ihn just die unwillkürliche, quasi angeborene Auffassungsgabe für ‚objektive‘ Erzählgegenstände: „Verse habe ich nie gemacht; aber die Fähigkeit habe ich doch, im Komischen wie im Tragischen das momentan Gegenständliche, wenn du willst, das Malerische, das Theatralische jedesmal mit vollem Genuß und in voller Geistesklarheit objektiv aufzufassen […].“ (A 353)211

Schon Kant attestierte ja dem Dichtergenie, dass es sich mit den um Systematisierung bemühten Fragekatalogen der topischen Stoff-Findung nicht herumschlagen müsse, weil es unmöglich wissen könne, „wie sich seine phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in seinem Kopfe hervor und zusammenf[ä]nden“.212

208 Droysen, zitiert nach Jauß, Geschichte, S. 184. 209 Droysens Kritik (wie Jauß’ Reflex auf sie) übergeht, dass Ranke seinen Umgang mit den Quellen in seinen historiographischen Texten durchaus auch mit in den Blick bringt (vgl. Hebekus, Klios Medien, S. 44 ff.). Der meta-narrative Fokus seiner Mitinszenierung der eigenen inventio ist aber ein anderer als bei Krumhardt, vgl. unten Kapitel IV. 210 Droysen, zitiert nach Jauß, Geschichte, S. 184. 211 Vgl. auch seine Versicherung, sein Erzählen käme „[s]ehr aus mir selber“ (A 268) sowie seine Attribuierung von anderer Seite als „junges Genie“ (A 341). 212 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 244.

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8.1 Das Ende der Vogelsang-Kultur? Veltens Erbeverbrennung als fixierendes Ding-Narrativ und Initiation Krumhardts zum topischen Kulturstifter Dass gleichwohl auch das Erzählen des „junge[n] Genie[s]“ Velten (A 341) mitnichten auf einer unwillkürlich-„objektiv[en]“, nur durch Musenkuss erklärbaren Stoffauswahl beruht, sondern auf einer „äußerst systematisch[en]“ (A 371) inventio, die sehr wohl im kollektiven sensus communis des Vogelsangs fußt, die dessen agonal-dialektische Vielstimmigkeit aber in einem autokratisch-gewaltsamen Zu-Griff zum Verschwinden bringen will – diese topisch motivierte Kritik von Veltens vermeintlich genialischer inventio geben die beiden Erzählstücke zu lesen, die Veltens letzte spektakuläre Handlung im Vogelsang aktualisieren: die Verbrennung und Auflösung seines Erbes nach dem Tod von Mutter Amalie. Als eine der eindrücklichsten Szenen in der Prosa des Spätrealismus hat die Verbrennungsszene in Raabes Akten des Vogelsangs vielfältige Kommentierungen nicht nur in der Raabeforschung, sondern auch der Realismusforschung insgesamt erfahren.213 Diese deuten Veltens Vernichtungsaktion vornehmlich als Akt der Selbstbefreiung, als Verzicht auf die Bewahrung von Ideen bzw. Idealen, die in der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht mehr realisierbar seien, sondern nur noch in privaten Rückzugsräumen künstlich-museal konserviert werden könnten und damit der Lächerlichkeit preisgegeben seien – in Veltens Fall: die Idee einer idealen Gemeinschaft, für die der alte Vogelsang stehe und deren Weiterführung Velten in der Verbindung mit Helene angestrebt habe, die aber etwa durch die attraktivere amerikanisch-materialistische Lebensart, für die sich Helene entscheidet, desavouiert sei. Die Materialisierung und künstliche Konservierung der alten Gemeinschaftsidee im „Herzensmuseum“ (A 372) Amalies auf dem Speicher ihres Hauses hinter der letzten „grünen Hecke“ des Vogelsangs mute angesichts der „[v]eränderte[n] Dekorationen“ (A 329) – das belegten die durch die Hecke gedrungenen „Liebhaberphotogra-

213 Vgl. u. a. Eberhard Geisler, Abschied vom Herzensmuseum. Die Auflösung des Poetischen Realismus in Wilhelm Raabes Akten des Vogelsangs. In: Leo Lensing und Hans-Werner Peter (Hg.), Wilhelm Raabe. Studien zu seinem Leben und Werk, Braunschweig 1981, S. 365–380; Moussa, Heterotopien im poetischen Realismus, S. 156 ff.; Roebling, Doppelte Buchführung, S. 160 ff.; Sabine Schneider, Vergessene Dinge. Plunder und Trödel in der Erzählliteratur des Realismus. In: dies. und Barbara Hunfeld (Hg.), Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, Würzburg 2008, S. 157–174; Ralf Simon, Übergänge. Literarischer Realismus und ästhetische Moderne. In: Begemann (Hg.), Realismus, S. 207–223, hier: S. 210 f.; Barbara Thums, Vom Umgang mit Abfällen, Resten und lebendigen Dingen in Erzählungen Raabes. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 48 (2007), S. 66–84; Ulrike Vedder, Das Testament als literarisches Dispositiv. Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts, München 2011, S. 330–334.

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phen“ (A 338) – anachronistisch, ja „kümmerlich-lächerlich“ an (A 339) und werde deshalb konsequenterweise von Velten zerstört.214 Fazit ist dann, so etwa bei Eberhard Geisler, dass Raabe mit Veltens Desillusionierung und Zerstörungsakt das Festhalten an nischenhaften Ideal-Realisierungen im Sinne der zeitgenössischen Realismusprogrammatik (vgl. Vischers „grüne Stellen“) als unsinnig ausweise und ihm eine Absage erteile. Dieser Lesart nach gilt Raabes Text zwar als Beleg eines desillusionierten, gleichwohl gerade in der melancholischen Resignation des Freundes und Zeugen Krumhardt immer noch erkennbaren Ideal-Realismus. Zu wenig beachtet wird hierbei jedoch Krumhardt als ambivalente Vermittlungsinstanz von Veltens Vernichtungsakt. Wie sonst kaum in seinen „Akten“ ergreift Krumhardt in diesen Erzählstücken selbst das Wort und liefert ein äußerst doppeldeutiges ‚Protokoll‘ der Szene. Vorderhand gibt es Veltens Zerstörungswerk in der Tat als Verzicht auf sein privates Vogelsang-Erbe zu lesen, zugleich aber auch als exklusive Erbnahme, als rigorosen Zugriff auf das kollektive Ding-Gedächtnis des Vogelsangs in Form eines letzten, radikalen Erzählakts, eines Erzählens in oder mit Dingen. Krumhardts Erzähleinstieg in die Szene ist noch um Eindeutigkeit bemüht. Lakonisch konstatiert er, dass Velten anfing „zu heizen, und zwar mit seinem Erbteil an und vom Vogelsang. Er heizte mit seinem Hausrat.“ (A 368) Vagen Andeutungen von Seiten anderer Nachbarn und Krumhardts Familie, das Ungeheuerliche von Veltens Zerstörungswerk indiziere ‚gefühllosen‘ Wahnsinn (A 369), setzt Krumhardt in wünschenswerter Klarheit die von der Forschung übernommene Selbstbefreiungsthese entgegen, die diesem Ungeheuerlichen eine sinnvolle Logik unterstellt: Und dann war es doch wieder ein anderer Übergang aus meinem ruhigen, behaglichen Heim […] zu dem Ofen im Vogelsang, vor dem der wunderliche Freund sich frei machte – nicht von den Sachen, sondern von dem, was in der Menschen Seele sich den Sachen anhängt und sie schwer und leicht, kurz, zu dem macht, was wir anderen im Leben ein Glück oder Unglück zu nennen pflegen. (A 369 f., Hervorh. Ch. F.)

Krumhardt nimmt hier Veltens zuvor mehrfach geäußerte Kritik am bürgerlichen Anhäufen von materiellen Dingen, die als buchstäbliche ‚Erbteile‘ den „Nachkommen schwer aufl[ä]gen“ (A 365), wieder auf. Konsequent scheint Velten sich nun selbst dem Prinzip des Ererbens und Vererbens, das Generationen verbindet, ihm seit dem Verlust Helenes aber unsinnig und belastend erscheint, zu verweigern und sich so aus bürgerlichen Zwängen zu befreien.215 Krumhardt 214 Paradigmatisch ist hier Geislers Lektüre in „Abschied vom Herzensmuseum“ (vgl. die vorangegangene Anmerkung). 215 Vgl. etwa auch seine Frage an Freund Karl, ob er dieses „Spiels“ noch nicht „überdrüssig“ sei, worauf Krumhardt antwortet: „‚Nein!‘ […] Ich habe und halte meiner Kinder Erbteil. Das

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hebt auf Veltens „Eigentumsmüdigkeit“ im Unterschied zur eigenen „Besitzfreudigkeit“ (A 373, Hervorh. im Original) ab, und Velten selbst fragt, ob er denn nicht „die Fäden abschneiden dürfe[ ], die ihn mit dem Erdenballast verknüpf[t]en?“ (A 370). Ausführlich dokumentiert Krumhardt jedoch auch, dass Velten die im mütterlichen „Herzensmuseum“ (A 372) versammelten Dinge einer trennscharfen Selektion unterzieht und „das Ding äußerst systematisch“ ‚treibe‘ (A 371): Aus den Gegenständen, die der Mutter bedeutend und bewahrenswert erschienen, weil sie den Familienmitgliedern im Alltagsleben des Vogelsangs einmal nützlich und „lieb gewesen“ waren,216 wählt der Sohn gezielt diejenigen zur Vernichtung aus, an denen auch für ihn eine Bedeutung, „ein pretium affectionis haftet[ ]“ (A 373). Die restlichen, denen er keine Bedeutung beimisst, verschenkt er in einem „letzten Kehraus“ (A 375) an die „noch vorhandenen alten guten Bekannten der Nachbarschaft“ (A 375).217 Mit dieser gezielten Auswahl aus Amalies Sammlung von Dingsymbolen der Familienvergangenheit im Vogelsang gibt Velten darüber Auskunft, welche dieser Symbole er als ‚wichtig und bezeichnend‘ für seine Person erachtet. Er trifft also eine autobiographische Stoffauswahl im handgreiflichen Sinn. Bei dieser inventio, die der ungebetene, doch zugelassene Zeuge Krumhardt und mit ihm der Leser in actu beobachten kann, bleibt Velten aber nicht stehen. Anders als Amalie erstellt er keine persönliche Vogelsang-Sammlung aus Dingsymbolen, die sicht- und greifbar und damit prinzipiell umdisponierbar bliebe.218 Gerade durch die sukzessive Zerstö-

Spielzeug des Menschen auf Erden, das ja auch einmal meinen Händen entfallen wird, wollen sie aufgreifen, und ich – ich fühle mich ihnen gegenüber dafür noch verantwortlich! –“ (A 345). 216 Sie haben Bedeutung für Amalie, weil sie Lieblingsstücke ihrer Familienmitglieder waren: „Sie hatte sich von nichts trennen können, was je dem Gatten und dem Sohn lieb gewesen und überdrüssig geworden war. Sie hatte es ihnen aus den Augen gerückt und sich selber, sozusagen, ein Herzensmuseum draus gemacht.“ (A 372) Mitnichten betreibt Velten hier, wie Roebling meint, die „Vernichtung des väterlichen Erbes“, sondern des mütterlichen, so dass Roeblings von Lacan inspirierte Interpretation, Velten habe „die ödipale Identifikation nicht geleistet“ und laufe „weiter hinter der Mutterfigur her“ zweifelhaft bleibt (vgl. Roebling, Doppelte Buchführung, S. 145 f.). 217 Einzig Thums misst Veltens Selektion ebenfalls Bedeutung bei (vgl. dies., Abfälle, S. 68 f.). Allerdings nimmt sie Veltens autoritäre Unterscheidung zwischen wertvollen und wertlosen Überresten (‚Abfällen‘) für maßgeblich und beachtet weder den impliziten Kampf zwischen ihm und Krumhardt um die Deutungshoheit über die Dingsymbole des Vogelsangs noch die poetologische Wertschätzung, die in Krumhardts Archiv implizit gerade der wertlose Plunder („Trödel“) erfährt (s. u.). 218 Vgl. auch Krumhardts Archiv aus prinzipell umdisponierbaren Aktenstücken, die konkretes Sprachmaterial aus dem Vogelsang dokumentieren.

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rung der ihm ‚wichtigen und bezeichnenden‘ Vogelsang-Materialien ‚Stück für Stück‘ bringt er diese in eine lineare, definitiv irreversible Reihenfolge mit klar bestimmbarem Anfangs- und Endpunkt. Als erstes zerschlägt und verbrennt Velten den „Nähtisch“ der Mutter (A 369), das Utensil, das deren Stammplatz und als solchen auch den Treffpunkt der Nachbarskinder im Haus markierte (z. B. A 323, 347). Mit diesem Dingsymbol für die Mutter bezeichnet Velten sowohl den Ursprung seines biologischen als auch seines sozial-nachbarschaftlichen Lebens219 und zugleich den Ursprung seiner (Ding-)Sprache über dieses Leben. Zuletzt zerstört Velten die „Bronzeuhr“ (A 373), die für die ‚Eigenzeit‘ des Vogelsangs steht, da man auf sie „nie rechnen konnte, wenn man einmal im Hause Andres die richtige Tageszeit zu wissen wünschte, und die doch mit ihrem zirpenden Glockenschlag so viele gute Stunden ein- und ausgeläutet hatte“ (A 373). Mit der Vernichtung der Uhr scheint das Ende der Vogelsang-Zeit endgültig besiegelt. Veltens inventio mündet demnach nicht in eine umkehrbare, listenartige Reihe von Dingsymbolen. Ihr ist vielmehr eine zeitliche Logik inhärent, die seine Vogelsang-Vergangenheit als Geschichte sichtbar macht. Velten produziert ein dinglich-visuelles curriculum vitae. Überdies sind die ausgewählten und verbrannten Dingsymbole und mit ihnen Veltens curriculum im Ofenfeuer nicht einfach zum Verschwinden gebracht. Gerade das letzte Aufleuchten der Dinge im Feuer des Ofens macht sie als Erinnerungssymbole besonders eindrücklich, brennt sie mitsamt den Bedeutungen, die sich ihnen angelagert haben, ins Gedächtnis des Zeugen Krumhardt ein: Es war ein Zurück- und Wiederdurchleben vergangener Tage sondergleichen. Die Woche, in der wir uns mit der Entleerung der Boden-Rumpelkammer des Hauses beschäftigten, vergesse ich in meinem ganzen Leben nicht […]! (A 372)

Krumhardts Rede vom „Autodafé“ (A 371) im Blick auf Veltens Zerstörungswerk stilisiert die ausgewählte Dingsymbolreihe, die im Zuge der Vernichtung allererst als narrative Vogelsang-Interpretation sichtbar wird, vollends zum künstlerisch-literarischen ‚Text‘. Denn im Anschluss an die ausführliche Thematisierung des Dichtergenies Goethe im vorangegangenen Erzählstück muss der Terminus „Autodafé“ hier als Zitat aus Dichtung und Wahrheit gelesen werden, wo Goethe mit ihm auf die Verbrennung eigener dichterischer Texte referiert.220 219 Der „Nähtisch“ ist insbesondere im kommunikationstechnischen Sinn Dingsymbol der Mutter, vgl. die argumentativ-kommunikativen ‚Nähkünste‘ der Mutter: Ihre Diskussions- und Streitbeiträge sind es, die maßgeblich zur agonalen Verständigung des Nachbarschaftskollektivs im alten Vogelsang beitragen (s. o. Kapitel IV.5). 220 Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 16, hg. v. Peter Sprengel, München, Wien 1985, S. 281 und S. 376; an der zweiten Stelle ist explizit vom „Autodafé“ die Rede.

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Subtil wird Veltens letzter Erzählakt somit als Versuch gekennzeichnet, sich die Deutungshoheit über den eigenen Text (und zugleich über den Großteil von Amalies Vogelsang-Sammlung) zu sichern, Lektüre und Anschlusskommunikationen zu verhindern. Das bestätigen Sätze in Krumhardts Protokoll, die im diametralen Gegensatz zur oben zitierten Befreiungsthese suggerieren, dass Velten mit seinem visuellen curriculum zwar die Dinge als Signifikanten, die „Sachen“ als materielle Bedeutungsträger, zerstören will, er mitnichten aber die aus dem ‚alten Vogelsang‘ ererbten und ihm lieb gewordenen Bedeutungen, das, „was in der Menschen Seele sich den Sachen anhängt“ (A 370), aufgibt. Sein erzählendes Zerstörungswerk hat vielmehr konservierende und exkludierende Funktion, da es verhindern soll, dass die zeichenhaften Dinge des Vogelsangs „in anderer Leute Hände[ ] oder Besitz, sei es zu Nutzen oder Vergnügen“ (A 374) geraten und dort in neuen Gebrauchszusammenhängen eine neue Bedeutungsaufladung erfahren können: [Velten] wollte […] auf seinen ferneren Wegen sich nicht mit der Vorstellung plagen, wer jetzt die Feder in seines Vaters Dintenfaß tauche und aus seiner Mutter Mundtasse trinke und auf welcher Kommode, im Trödel erhandelt, die Bronzeuhr stehe […]. (A 373)

In radikalerer, weil endgültiger Form wiederholt Velten Amalies Musealisierung der Vogelsang-Relikte: Wie die Mutter sie der Familie „aus den Augen gerückt und sich selber, sozusagen, ein Herzensmuseum draus gemacht“ (A 372) hat, entzieht auch Velten die für ihn bedeutsamen Erbstücke dem sich auflösenden, in Teilen aber „noch vorhandenen“ (A 375) Nachbarschaftskollektiv. Während Amalie nach ihrem Tod ihren Vogelsang-Erben die Museumsstücke aber zur freien Verfügung überlässt, zerstört Velten sie als materielle Bedeutungsträger. Mit der Zerstörung der Signifikanten sind die Signifikate, die für ihn in der Nachfolge der Mutter an diesen Dingen hängen, als die einzig wahren Sinnstiftungen im Kontext des ehemaligen Vogelsang-Kollektivs gesichert und verabsolutiert.221 Anstatt die Erbstücke als „Trödel“ in die Freiheit zu entlassen, entmaterialisiert Velten sie gewissermaßen zu reinen Ideen und lässt sie durch den Kamin in den platonischen Ideenhimmel aufsteigen.222 Dass die weitere Zir221 An einer Stelle weist Krumhardt darauf hin, dass Velten in seiner Erklärung, er heize mit seinen „Habseligkeiten“, das Wort „Hab-Seligkeiten“ (A 371) in auffälliger Weise betone. Damit deutet er an, dass es Velten nicht um die Beendigung ihrer Existenz als bedeutende Dinge, sondern um die quasi-religiöse Exklusivität und Bewahrung seiner eigenen Bedeutungszuweisungen geht. Mitnichten wird durch Veltens „Autodafé“ demnach das „‚Einander-Besitzen‘“ als „kleinfamiliäre Eigenart, die auch in den besten alternativen Familien vorkommt“, symbolisch desavouiert (vgl. Michalski, Heile Familie, S. 173). 222 Veltens Kulturkonzept ist ein rückwärts gewandtes, das sich an das platonische Erinnerungskonzept der anamnesis anschließen lässt. Diesem zufolge gelten spätere Deutungen nur als blasse Abbilder, als Korrumpierungen der ursprünglichen wahren Ideen. Entsprechend

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kulation der Dinge unter den verbliebenen Nachbarn, die zu abweichenden Interpretationen führen könnte, definitiv unterbunden ist, verdeutlicht auch der „Zusammenlauf“, den Velten mit seinem abschließenden „Kehraus“ produziert und der „den Verkehr in der Gasse beinahe völlig unterbr[icht]“ (A 375). Nicht etwa dadurch, dass sich Velten von seinem Eigentum trennt, kommt der Verkehr im Vogelsang zum Erliegen, sondern dadurch, dass Velten – das unterstreicht der Text durch Kursivdruck – nur „alles das preis[gibt], was ohne eine Bedeutung für ihn“ (A 375) ist. Das für die Öffentlichkeit des Vogelsangs eigentlich Aufsehen erregende und ihre Kommunikation hemmende Moment dieses Spektakels liegt somit nicht darin, dass der desillusionierte Velten sich nicht mehr um seine Familientradition scherte, wie es die Forschung vor allem verstanden hat. Es liegt vielmehr darin, dass er sich den exklusiven interpretatorischen Zugriff auf die gemeinschaftlichen Dingsymbole des Vogelsang-Kollektivs sichert. Diese Lesart stützen Anmerkungen Krumhardts, die darauf hindeuten, dass es sich bei den zerstörten Museumsstücken Amalies nicht allein um Veltens privates Familienerbe handelt, sondern um das aller „Vogelsangkinder[ ]“ (A 303), für die Amalie Ersatzmutter war223 und das Haus der Familie Andres das Zentrum des alten Vogelsangs bildete:224 macht es für Velten ‚Sinn‘, mit dem Abschluss seines curriculum auch das Ende der VogelsangKultur festzuschreiben. 223 An einer Stelle erklärt sich Amalie Karl Krumhardt gegenüber zu seiner und Helenes ‚Vogelsang-Mutter‘: „‚Sieh, Kind, ich rede ja nur so offen und frei mit dir, weil du […] mit deinem Herzen und Gemüte doch auch zu mir und Helene und deinem Freunde gehörst – weil du zu meinen Vogelsangkindern gehörst!‘“ (A 303) Vgl. außerdem Krumhardts wiederholte Rede gegenüber Velten von Amalie als „Mutter“ („‚Was macht die Mutter?‘“), die er erst im zweiten Anlauf korrigiert: „‚Die Mutter – deine Mutter –‘“ (beides A 362). Zur Rolle Amalies als Mutter aller Vogelsang-Kinder, die für „familiäre Strukturen [steht], die sich als Alternative zur Kleinfamilie lesen lassen“, vgl. Michalski, Heile Familie, S. 163 f. 224 Vgl. etwa die Stelle, an der Krumhardt das Haus der Familie Andres als den innersten Ort innerhalb des Vogelsangs ausweist: „im Vogelsange in den Vogelsang“ (A 254). Diese Kritik findet sich zugespitzt in der Szene mit der alten Hebamme und Kinderfrau Rieckchen Schellenbaum während Veltens „Kehraus“. Als eine der „noch vorhandenen alten guten Bekannten der Nachbarschaft“ (A 375) kritisiert sie sein Vorgehen als anmaßend, hält ihm vor, wie der wiederkehrende Christus den Weltenrichter zu spielen und eigenmächtig – „Wie beim Jüngsten Gericht!“ (A 379) – die „Menschenordnung“ aufzuheben, und droht ihm mit dem eigentlichen, noch ausstehenden „Jüngsten-Gerichts-Tage“, an dem „noch die Frau Mutter gegen Sie auferstehen und Ihnen sagen [werde], daß dieses hier wirklich nicht in der Ordnung ist […].“ (A 379) Zwar deutet Erzähler Krumhardt im Bezug auf sie auch materielle Interessen und eine Abwehr des im Vorstadtviertel neu entstehenden Proletariats an, gleichwohl betont er ihre emotionalen Bindungen an Amalies Museumsstücke und ihr Leiden an Veltens Missachtung ihrer gemeinschaftlichen Bedeutung: Das „[…] vor Gift und Galle zitternde[ ] alte[ ] Mädchen […], die ihn bei seinen ersten Schritten auf der Erde mitgehalten und ihm

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Wohl selten ist je einem Menschen die Gelegenheit geboten worden, seine ‚besten Jahre‘ in die unruhvolle Gegenwart so zurückzurufen wie mir in Velten Andres’ Krematorium. Wie wir im Vogelsang in der Nachbarschaft trotz allem doch wie eine Familie gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal im reichsten Maße und konnte meine Lebensakten in wünschenswertester Weise dadurch vervollständigen. Der Wanderer auf der wankenden Erde schob in seinem Hausrat kaum ein Stück in den Ofen oder auch auf den Küchenherd, an dem nicht auch für mich eine Erinnerung hing und mit ihm in Flammen aufging und zu Asche wurde. (A 372, Hervorh. im Original)

Hier wie im weiteren Verlauf des Protokolls stellt Krumhardt seine autobiographische Anteil-Nahme an Veltens autobiographischem curriculum des Vogelsangs heraus und bringt sein Anrecht auf den Überlieferungs- und Erinnerungsschatz in Amalies Museum zur Geltung.225 An den Dingen hängt auch für ihn, teilweise vor allem für ihn ein pretium affectionis: Wie kam mir mit dem Schaukelpferd, das ich unter dem Dachwinkel hervorzog, jener Weihnachtsabend zurück, an welchem wir es zuerst ritten und Velten meinte: „Ich hatte mir ein Tier mit Rädern und wirklichem Fell auf den Wunschzettel geschrieben; aber sage nur nichts davon.“ Er hat es damals auch bald mir allein überlassen, es war nichts für ihn; ich aber hätte ihn auch nun noch gern gefragt: „Auch das in den Ofen?“ und ihn gebeten: „Laß es mir für meinen Jungen!“ (A 372, Hervorh. im Original)

Darüber, „weshalb [er] weder die Frage noch die Bitte tat, sondern selbst es [sich] auf die Schulter lud und es [Velten] die Treppe hinunter zum Küchenherd trug“, ist weniger „eine psychologisch-philosophische Abhandlung […] zu schreiben“ (A 373), als vielmehr eine gedächtnis- und kulturpolitische. Denn zu lesen gibt Raabes Text hier eine fulminant doppelbödige Erzähl- bzw. inventioSzene, in der Krumhardt und Velten zugleich als Erzähler agieren und um die Stoff-Findung zur Geschichte des Vogelsangs und deren Fundierung in der materiellen Überlieferung der Vogelsang-Kultur ringen, mithin um differente (konkurrierende) Weisen der Modellierung und Bewahrung dieses kulturellen Zusammenhangs: Veltens „Autodafé“ als Höhe- und Endpunkt seiner bisherigen kulturstiftenden Erzählungen vom Vogelsang ist für Krumhardt, den „Zuschau-

geholfen hatte, seine Mutter auf dem Totenbett für den Sarg zurechtzulegen […,] fuhr […] ab, und zwar mit einem Laut wie ein verwundetes Tier […].“ (A 380) Veltens Zerstörungswerk, das stellt Krumhardts Darstellung deutlich heraus, nimmt den noch vorhandenen Kollektivmitgliedern mit der materiellen Basis der kollektiven Erinnerungen des Vogelsangs auch ihr humanum. 225 Vgl. auch das betonte „wir“ im folgenden Passus: „Es war ein Zurück- und Wiederdurchleben vergangener Tage sondergleichen. Die Woche, in der wir uns mit der Entleerung der Boden-Rumpelkammer des Hauses beschäftigten, vergesse ich in meinem ganzen Leben nicht, und ich schreibe nicht ohne Grund: wir! Was wühlten wir da alles auf aus dem Familienplunder der ‚Frau Doktern‘?“ (A 372).

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er und Teilnehmer“ (A 371, Hervorh. Ch. F.), nicht nur eine besonders eindrückliche Vogelsang-Gedächtnisfeier, sondern kommt zugleich seiner Initiation in die Praxis kulturstiftenden Erzählens gleich. Des Freundes radikal autobiographische Stoffauswahl aus Amalies Museumsstücken bewirkt auch bei ihm die eindrückliche Aktualisierung längst vergessener Geschehensmomente aus der gemeinsamen Vergangenheit im Vogelsang, die ihn einen machtvollen „Zauber“ (A 371) empfinden lässt. Gebannt nimmt er an Veltens Stoffwahl teil, fungiert nicht nur als „Protokollist“ (A 220), sondern schreibt als aktiver Ko-Erzähler an dem dinglich-visuellen curriculum des Vogelsangs mit. Zugleich überschreibt Krumhardt dieses curriculum, schreibt ihm seine eigene Autobiographie mit ein. Die „Akten des Vogelsangs“ sind damit auch Krumhardts „Lebensakten“ (A 372). Dazu ist es gar nicht nötig, bei jedem einzelnen Gegenstand eigene Erinnerungen und Emotionen zu assoziieren und einfließen zu lassen; allein das Schaukelpferd-Beispiel und die Evokation der wechselvollen Nutzerreihe genügen, um die zerstörten Dingsymbole als im Nachbarschaftskollektiv mehrfach verwendete und unterschiedlich kodierte Vogelsang-Zeichen – man könnte sie Ding-topoi oder materielle Kollektivsymbole nennen – auszuweisen. Doch wirkt Krumhardts Erzählen nicht nur dem exklusivierenden und vereindeutigenden Effekt von Veltens Zerstörungswerk entgegen. Sein Protokoll konterkariert auch dessen abstrahierenden und fixierenden Zug, ‚rettet‘ neben der semantischen Polyvalenz der ausgewählten Museumsstücke auch ihre Materialität in seine „Akten“ hinein. Denn in seinem Protokoll stellt er Veltens Zugriff auf die Dingsymbole derart ‚handfest‘ dar, dass sie dem Leser seines Archivs in ihrer Plastizität als dreidimensionale Objekte vor Augen stehen: „Wie wog der Sohn des Vaters den Ziegenhainer in der Hand, wie holte er aus einem Kasten mit allerhand abgängigen chirurgischen Instrumenten seine Zerevismütze hervor und drehte sie in den Händen!“ (A 372). Nicht trotz, sondern gerade dank Veltens Zerstörungswerk gehen Amalies Museumsstücke in Krumhardts „Akten“ ein, „vervollständigen“ sie „in wünschenswerter Weise“. Da sie darin als materiell-handgreifliche und vielfältig interpretierte, also auch unterschiedlich interpretierbare erscheinen, sind sie entgegen Veltens Intention nun doch zum Trödel befreit, können zumindest von Krumhardts Nachkommen mit neuen Bedeutungen belegt, neu interpretiert werden. Das gilt zumal im relativierenden Blick auf die ebenfalls dokumentierten mündlichen oder schriftlichen Beiträge der anderen Kollektivmitglieder, die Krumhardt als Kon-Texte zu Veltens Narration(en) hinzuzieht und gleichfalls unbeschränkter Relektüre und Reinterpretation aussetzt.226 Demnach liegt in Krumhardts erzähle226 Auch in seiner Replik auf Helenes Erbnahme führt Krumhardt seine „Akten“ als erweiterndes Korrektiv an, das gerade die materiellen Dingsymbole des Vogelsangs miteinbezieht, vgl. A 404: „Die Akten des Vogelsangs bilden ein Ganzes, von dem ich und mein Haus ebenso-

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risch-archivalischem Reflex auf Veltens Zerstörungswerk durchaus ‚melancholische Resignation‘. Allerdings ist diese nicht im Sinn einer aufgezwungenen Verabschiedung überlebter idealistischer Ideen zu verstehen, sondern im Sinn ihrer kritischen Überschreibung, die durch das durchgängige Brüten über der rechten inventio und den erklärten Verzicht auf eine stringente (auto-)biographische Narration das Re-Signieren der archivierten Vogelsang-Relikte ermöglicht.227 Gegen Veltens curriculum, das aus den Relikten durch radikale Abstraktion und Vereindeutigung eine quasi-religiöse Ideen-Essenz der Vogelsang-Kultur destilliert, setzt Krumhardt die poetische Kraft des Trödels oder, in der Sprache humanistischer Topiker: die curiositas der topischen Sammlung.228 Solche „‚Poesie des Plunders‘“ 229 läuft der Sakralisierung von Kultur zuwider, sei es in Amalies Form des

wenig zu trennen sind wie die eiserne Bettstelle bei der Frau Fechtmeisterin Feucht und die Reichtümer der armen Mistreß Mungo.“ 227 Die viel beschworene, mehrheitlich aporetisch verstandene Raabesche „Resignation“ (vgl. Geppert, Der realistische Weg, S. 597) hat bereits andernorts positive Umdeutungen im Sinne einer poetischen „Re-Signation“ erfahren: zum einen bezogen auf das „Recyclingprinzip“ von Raabes eigener Textproduktion (vgl. Moser, Bild der Zeit, S. 161), zum anderen bezogen auf die Wirkmacht „rhetorisch poetischer Sprache als Ort der Kritik“, die Raabe in Meister Autor zur Geltung bringe (vgl. Marie Drath, ‚[D]en Keil in den Stamm zu treiben‘. Zur kritischen Sprachform in Wilhelm Raabes Meister Autor oder die Geschichten vom versunkenen Garten. In: Jahrbuch der Internationalen Raabe-Gesellschaft, hg. v. Rolf Parr und Florian Krobb, Berlin, Boston 2016, S. 94–112, hier S. 112). 228 Vgl. Schmidt-Biggemann zum Reiz, den die vom Polyhistor versammelten curiosa nur aufgrund ihrer derart dokumentierten Verwendungsrelevanz besitzen; sie gelten an und für sich als Quellen der Überzeugungskraft (Schmidt-Biggemann, Probable Argumentation, S. 250). 229 Vgl. Katharina Grätz, Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe, Heidelberg 2006, S. 441. Grätz beobachtet im Blick auf Raabes Figuren allgemein eine ‚Beschwörung‘ der „Poesie des Plunders“, die die Geschichte in „das alte Raritätenkabinett, in eine Art Warburgschen Mnemosyne-Atlas“ verwandle. Auch Grätz versteht dies als Rückverweis auf „die Kuriositätensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts“ sowie als literarische Anknüpfung an „romantische Autoren wie Brentano und Jean Paul […], die das Kuriose zu einer ästhetischen Kategorie aufwerteten“ (Grätz, Historismus, S. 441). Allerdings lässt sich gerade Krumhardts, inmitten der Großstadt erstelltes topisches Archiv nicht mit ‚mortifizierender‘ Rückwärtsgewandtheit verrechnen, wie Grätz sie bei Raabes Erzählerfiguren sonst beobachtet. Vielmehr sucht er mit seinem Schreibprojekt die von Velten negierte Vermittelbarkeit von alter und neuer Zeit herzustellen, zu garantieren und, wie noch zu sehen sein wird, auch zu kontrollieren. Aus diesem Grund wäre auch zu hinterfragen, ob sich Krumhardts Text unter Kerstin Stüssels Rubrik „Erzählen der Verschollenheit“ subsumieren lässt, mit der sie das realistische Erzählen am Ende des 19. Jahrhunderts allgemein zu fassen sucht. Zwar kann sein archivalisches Schreiben durchaus als Reflex auf ein verlorenes mündliches, an konkrete Kommunikationssituationen gebundenes Erzählen, das noch Gemeinschaft stiften konnte, verstanden werden – das ‚verschollene‘ Erzählen im Vogelsang nämlich. Auch zeigt Krumhardts Text die von Stüssel postulierte Ambivalenz, diesen Verlust einerseits durch Hinweise auf neue verkehrs- und medi-

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Museums, das der Materialität der Relikte huldigt, sie anhäuft und konserviert, indem es sie dem allgemeinen Gebrauch entzieht; sei es in Veltens Form des curriculum repräsentativer Individualität, das die Bedeutungen, die den Relikten im Zuge der autobiographischen Narration abgewonnen werden können, absolut setzt. Aus Krumhardts Sicht erzeugt paradoxerweise auch und erst recht Veltens ideell-fixierender Zugriff auf die Dingsymbole des Vogelsangs einen „Druck der Materie“, der im Gegensatz zur ‚Poesie des Trödels‘ nachfolgende Erbnahmen und damit kulturelle poiesis in der Form kritischer Re-Signation erstickt. Das konstatiert er bei seinem Eintritt in Veltens Sterbezimmer, in dem dieser außer einer Handvoll Leihbibliotheksbücher und einer einzigen Goethezeile an der Wand keinerlei Spuren hinterlassen hat: [Bei] dem trüben Licht der kleinen Lampe […] empfand [ich] nichts von einer Befreiung von der Schwere des Erdendaseins in dieser Leere, sondern im Gegenteil den Druck der Materie schwerer denn je auf der Seele. Ich hätte freier geatmet im Staube, der aus hundert Fächern die Wände uns verenget, unter dem Trödel, der mit tausendfachem Tand in dieser Mottenwelt uns dränget. Die Luft entging mir […]. (A 400)

Die Stelle liest sich wie eine Veranschaulichung des von Simmel fünfzehn Jahre später formulierten Unbehagens gegenüber dem Überhandnehmen und Erstarren der „objektiven Kultur“, die das Individuum seiner „subjektiven Kultur“ 230 kaum mehr anverwandeln könne, ihm die Luft zum Atmen nehme. Zur objektiven Kultur, das lässt Raabe Krumhardt hier andeuten, zählen aber nicht nur materielle Produkte, technische Erfindungen und Institutionen (vgl. Kapitel V), sondern auch Texte oder Textzeilen, die einen quasi-sakralen Status erlangen. Angesichts dieser objektiv gewordenen Kulturprodukte ließe es sich „freier atmen“, wenn es gelänge, sie als ‚staubigen Trödel‘ wahrzunehmen, als Ansammlung kurioser topoi, die einerseits den reizvollen Nimbus des für das Kollektiv

entechnische Verhältnisse anthropologisch zu erklären – etwa die Zerstörung des VorstadtViertels durch die Großstadt – und ihm andererseits eine Hypostasierung ‚kollektivierter Erzählpraktiken‘ – seine ‚Topik der Zeugenschaft‘ – als „Antidot“ entgegenzusetzen (Stüssel, Verschollen, S. 281). Gleichwohl kann Krumhardts topisch-archivalisches Erzählen nicht als ‚verschollenes‘ in Stüssels Sinn bezeichnet werden, ist er doch der einzige des ehemaligen Nachbarschaftskollektivs, der sich ohne Probleme in den neuen verkehrs- und medientechnischen Verhältnissen zurecht gefunden hat und ‚inmitten‘ der Großstadt in funktionierenden familiären Bindungen lebt. Vor allem aber ist Krumhardts „Erzählversage[n]“ (Stüssel, Verschollen, S. 270) kein hilfloses, sondern ein strategisches im Kampf gegen Veltens ‚idealistischen‘ Entwurf der Vogelsang-Kultur. 230 Georg Simmel, Vom Wesen der Kultur. In: Ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, hg. v. Michael Landmann im Verein mit Margarete Susman, Frankfurt am Main 1993, S. 84–91, hier: S. 90.

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ehemals Bedeutungsvollen, Habitualisierten besitzen, andererseits in ihrer materiellen Handgreiflichkeit anschaulich werden und zum neuerlichen Aufgreifen und Interpretieren in neuen Gebrauchskontexten einladen. In ihrem fortgesetzten Gebrauch, der vielfältige Re-Signationen motiviert, liegt für Krumhardt die wesentliche Bedingung für das Funktionieren und Weiterwirken der Kultur des Vogelsangs, gründet ihre poiesis, die sie als „objektive Kultur“ aus sprachlichen und dinglichen Hervorbringungen wandelbar und anpassungsfähig an „veränderte Dekorationen“ (A 329) hält.231

8.2 Kontingente Wiederauferstehung der Vogelsang-Kultur aus dem Geist des ‚Gemeinplatzes‘ Im Übergang zum abschließenden Rahmenteil von Krumhardts „Akten“, der unmittelbar auf die protokollierte Verbrennungsszene folgt, wird diese Differenz zwischen Veltens narrativer, ideell-fixierender und Krumhardts topischarchivalischer Erbnahme schließlich als eine zwischen Tod und Auferstehung der Vogelsang-Kultur inszeniert. Die aufgezeigte Ambivalenz von nachfolgendem Weiterschreiben und kritischem Überschreiben von Veltens curriculum durch Krumhardts topisches Archiv wird zugespitzt zur christologischen Zeitenwende, aus der Krumhardts „Akten“ als gesteigerte Erfüllung von Veltens kulturstiftendem und, qua Ding-Erzählung, kulturfixierendem Erzählen hervorgeht. Das wird augenfällig dank einer Ersetzungsfigur, mit der Krumhardt auf seiner Berlinreise am leeren Sterbebett Veltens diesen und sich selbst ins Verhältnis von irdischem (sterbendem) und auferstandenem Christus setzt.232 Bereits zuvor werden beide, Krumhardt und Velten, mit Christus assoziiert. Im Fall Krumhardts geschieht das insbesondere in einem frühen Erzählstück, das den Streit der Jugendlichen auf der Bank auf dem Osterberg wiedergibt und dabei die biblische Kreuzigungsszene evoziert: Auf dieser Bank am Waldrande im tiefsten Frieden der Natur fand ich auch diesmal die beiden ärgsten Störenfriede des Vogelsangs, den Sünder in die eine Ecke gedrückt, die

231 Von daher ist Moritz Baßlers Urteil, dass sich in realistischen Texten am Ende des 19. Jahrhunderts generell und in Raabes Akten des Vogelsangs im Besonderen nicht der „Hauch einer positiven Alternative“ zur ‚radikalen Infragestellung des genügsamen bürgerlichen Lebens‘ andeute, zu relativieren. (Vgl. Moritz Baßler, Gegen die Wand. Die Aporie des Poetischen Realismus und das Problem der Repräsentation von Wissen. In: Stüssel, Neumann (Hg.), Magie der Geschichten, S. 429–442, hier S. 441). 232 Bereits in Raabes Roman Das Odfeld wird die Christusfigur für symbolische Verweisungen, mithin zur „symbolischen Demontage“ eines Protagonisten des Romans genutzt. Vgl. Mojem, Held, S. 141.

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Sünderin in die andere, so daß in der Mitte vollkommen Raum für mich, den guten Freund, übrigblieb. […] Es war höchste Zeit, dass ich mich zwischen sie setzte, […]. (A 255 f.)

Krumhardt nimmt hier wie der sterbende Christus bei seiner Kreuzigung auf dem Berg Golgatha die Mittelposition zwischen den beiden gemeinsam mit ihm gekreuzigten Verbrechern ein, den „Sündern“, wie es in den Evangelien heißt, und sucht kurz vor seinem Tod den Streit, der zwischen ihnen entbrannt ist, zu schlichten. Wie in der Bibel der eine Sünder die Allmacht des Vaters Jesu infrage stellt, so zweifelt Velten hier die Geltung von Helenes und insbesondere Krumhardts Vater an, eine Anmaßung, die Helene – parallel zum anderen Sünder neben Jesus – vehement kritisiert: „[…] laß unsere Väter zufrieden!“ (A 260). Die scheinbar harmlose Holzbank korrespondiert den Holzkreuzen als Marterinstrumenten insofern, als sie im weiteren Textverlauf als Ort von Gewalt und Folterqualen erscheint.233 Mit dem „vollkommen[en] Raum“ „in der Mitte“ für „den guten Freund“ klingt der „gute Hirte“, der Frieden bringt, an. Schließlich ist der „Osterberg“ als Korrelat zum Berg Golgatha (‚Schädelstätte‘) zu verstehen, wobei sein Name bereits auf das Wunder der Auferstehung verweist. Im Folgenden wird auch Velten mehrfach von Krumhardt und anderen VogelsangNachbarn mit Christus assoziiert, genau besehen mit dem auferstandenen Christus.234 Am deutlichsten (allerdings zugleich kritisch distanziert) wird das, wenn die alte Kinderfrau des Vogelsangs Veltens spektakulären „Kehraus“ (A 375) seines Hausstands mit dem „Jüngsten Gericht“ (A 379) vergleicht – der Wiederkehr

233 Der Streit ist durch nur mühsam unterdrückte Gewalt gekennzeichnet („Nun war er doch, nicht aufgesprungen, sondern langsam aufgestanden, und sie duckte sich wirklich vor ihm […].“ (A 258) Und: „Sie machte eine Faust und holte wie zum Schlage aus, drückte ihm aber doch nur diese geballte kleine Hand auf die Stirn […].“ (A 261)), verursacht vor allem Helene, aber auch Krumhardt Qualen (A 260: „bitterlich und zornig weinend“) und wird von Velten auf den voran gegangenen Streit der Erwachsenen unten im Vogelsang bezogen, bei dem er und Helene „auf demselben Rost gelegen“ hätten, „während die liebe Verwandtschaft und gute Nachbarschaft die Kohlen unter uns schürte“ (A 258). 234 Die Zusage Jesu nach seiner Auferstehung „[…] seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh. 16, 33) findet sich im Blick auf Velten gleich mehrfach zitiert: Von Veltens „weltüberwindend Lachen“ war bereits die Rede, seinen Tod kommentiert Krumhardt mit dem Satz „Er hat die Welt überwunden und ist mit sich allein gestorben. – – –“ (A 296). Freund Leon spricht ihn einmal mit „‚Oh, Herr!‘“ an (A 299). Zudem stehen wiederholt in den Reden der Nachbarn nur Personal- oder Possisivpronomina an Stellen, wo Veltens Name zu erwarten ist (A 294, 297, 299, 337) – ein im Text durch Kursivdruck hervorgehobenes Indiz für den Eingang Veltens in die Heiligkeit Gottvaters, denn auch der heilige Name Jahwes darf im Alten Testament nicht genannt werden. Schließlich vergleicht Krumhardt Veltens „Kehraus“, die Verteilung seines Hausstands unter den restlichen Vogelsang-Bewohnern, dem „Festmahl“, zu dem der „König im Evangelium das Volk“ (A 376) einlädt.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

des auferstandenen, in den Himmel gefahrenen Christus, die der „Menschenordnung“ (A 379), der geschichtlichen Zeit und Welt, ein Ende setzt. Die entscheidende Verkehrung dieser Relationierung, die nun Velten an die Stelle des sterbenden und Krumhardt an die des auferstandenen Christus setzt, vollzieht eine Bemerkung Krumhardts, die er in Klammern ins Protokoll seiner Begegnung mit Helene in Berlin einfügt, unmittelbar nachdem Helene ihn an die „Bank auf dem Osterberge, von welcher aus wir vor hundert Jahren einmal die Sterne fallen sahen“ (A 400), erinnert hat: „Seht“ (sie sprach, als ob Velten noch wie damals zwischen uns sitze), „ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen als ganz wahr davon gesprochen, wie ich mir mein Lebensglück dachte.“ (A 400, Hervorh. Ch. F.)

Das ist keine unbedeutende Ungenauigkeit des Archivars Krumhardt, kein kleiner Lapsus, der ihm in einer nebensächlichen Anmerkung unterläuft, sondern eine machtpolitisch motivierte argumentative Ersetzung beider Christusfiguren. Zu deutlich verweisen neben der evozierten Bank auf dem Osterberg auch der neutestamentarische Duktus von Helenes „Seht“ und die Frage des ‚WahrSprechens‘ auf das zitierte Bibelgeschehen in der Streitszene zurück.235 Dass mit Veltens Umsetzung an den Platz des gekreuzigten Jesus nun Krumhardt seinerseits an denjenigen des auferstandenen Christus zu setzen ist, wird dadurch deutlich, dass Krumhardt den Wechsel zu den rahmenden Erzählstücken am Schluss als Neu-Einsatz nach einem Abbruch präsentiert, als Wiederaufnahme von Aktivität und Leben in anderer, neuer Qualität nach einem Moment des Verlusts und Stillstands – und dies in mehrfacher Hinsicht: Auf der Ebene des erzählten Geschehens im alten Vogelsang geht es an dieser Stelle darum, dass Krumhardt nach der Verbrennungs- und Kehraus-Szene den Kontakt zu Velten verloren hat („Ich habe den Freund im Leben nicht wiedergesehen.“ A 384). Für die im Folgenden wieder gegebenen Erzählungen zu Veltens letzten Jahren kann er nicht mehr wie zuvor als Zeitzeuge mitbürgen236 – der Leser kann diesen Erzählungen, wie er selbst auch, nur noch glauben. Auf der Ebene der Erzählzeit, des Aktenstudiums und der Archivproduktion, hat Krumhardt an besagter Stelle „eine längere Pause in der Abfassung oder Niederschrift dieser

235 Selbst wenn dies als Lapsus gelesen werden soll, lässt Krumhardt mit seiner Nebenbemerkung den irritiert zurück blätternden Leser ihn als den eigentlichen, wahren Christus in den Dokumenten seines Archivs entdecken. 236 Vgl. seinen Impuls, einem anderen Zeitzeugen (Helene oder Leonie des Beaux) „die Feder in die Hand [zu] geben“ (A 385). Auch das ist eine Parallele zu Hitzigs Hoffmann-Biographie: Im Anhang bringt der die Erzählungen dreier anderer Zeitzeugen zu Hoffmann, die das, was er selbst nicht bezeugen kann (Kindheit und frühe Jugend), ergänzen.

8 Latenz oder Präsenz der Vogelsang-Topik: Kulturkonzepte im Widerstreit

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Annalen und Historien des alten Vogelsangs“ (A 384) einlegen müssen, weil sein Sohn auf den Tod erkrankt war. Erst seit er ins Leben zurückgekehrt ist, kann Krumhardt seine Arbeit am Vogelsang-Archiv wieder aufnehmen.237 Mit dem doppelten Rückverweis auf den Anfang der „Akten“ – die Lektüre von Helenes Brief mit der Todesnachricht – ebenfalls an dieser Stelle (A 385, 387) wird diese Wiederaufnahme, dieser Neueinsatz zugleich als Relektüre wie ‚eigentlicher‘ Beginn der Vogelsang-inventio ausgezeichnet.238 Dass diese Abbrüche wie ihre ‚wundersame‘ Überwindung in Krumhardts archivalischer Rekonstruktionsarbeit mit Tod und Auferstehung konnotiert sind, wird vollends deutlich, wenn Krumhardt kurz darauf seinen leidvollen Übergang vom „Witwenstübchen“ (A 281) der Zimmerwirtin Veltens hinüber in dessen dunkles und leeres Sterbezimmer erzählt. Auf dieser konkret erfahrenen Schwelle zum Tod nämlich, rettet sich Erzähler Krumhardt mit einem abrupten Sprung zurück in die inventio-Szene, die ihn unvermittelt am hellen Ostersonntag, dem Fest der Auferstehung, am Schreibtisch mit seinen „Akten“ beschäftigt zeigt. Zu achten ist auf die narrativen Übergänge an dieser Stelle, die gar keine sind; vielmehr vollführt Krumhardt hier einen ‚wundersamen‘ Sprung mit Hilfe eines Gemeinplatzes: „Bitte, gehen Sie jetzt hinüber; ich komme mit der Lampe nach“, sagte die Frau Fechtmeisterin, und zögernd, bangend erhob ich mich, betäubt, mühsam nach Atem ringend, stand ich und suchte vergeblich nach irgend etwas in mir, was mir den wunderlich schweren, schreckensvollen Weg zu der Tür da drüben leichter und lichter machen konnte. Es gibt so Augenblicke, Zeiten, Umstände im Menschenleben, wo man es vollkommen vergessen hat, daß sich in der Welt im Grunde nachher ‚alles von selber macht‘. Wie ist eben jetzt, da ich dieses bei offenem Fenster und Frühlingssonnenschein an einem geschäftslosen Feiertagsmorgen zu den Akten des Vogelsangs bringe, dem alten Gemeinplatz wieder sein volles Recht geworden! – Der Frühlingsanfang fällt immer in den Monat März, aber in diesem Jahr sind auch die hohen Ostern hineingefallen. Ich schreibe am Morgen des ersten Ostertages, und über das Nachbardach sieht mir noch immer, unverbaut, die höchste Kuppe des Osterbergs auf den Schreibtisch. […] Gegenwärtig blendet mich über meinem Protokoll der Glanz von

237 Vgl. den konkreten Satz dazu in den Akten, der Krumhardts Weiterschreiben- und Vererben-Wollen an das nicht ausprechbare, erklärbare, im Semikolon versteckte Wunder der ‚Auferstehung‘ bindet: „Wir hatten viel Sorge im Hause. Wir fürchteten, unsern ältesten Sohn, den seinerzeit Velten nicht aus der Taufe hatte heben wollen, am Typhus zu verlieren; aber der Junge ist uns erhalten geblieben und munter wieder auf den Beinen, und ich habe die Feder zum Besten seines Hausarchivs von neuem aufgenommen.“ (A 385, Hervorh. Ch. F.). 238 Nach Krumhardts Maßgabe wäre die Rückanbindung des Textendes an den Textanfang entsprechend nicht als Kreis-, sondern als Spiralbewegung zu beschreiben. Die Re-Lektüre, zu der Krumhardt hier implizit auffordert, hätte seine inventio nun auf einer anderen, ‚höheren‘ Sinnebene zu lesen.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

Himmel und Erde, und ich muß dagegen mit der Linken die Augen verdecken, wenn die Rechte die Feder weiterführen soll. […] Von selber hatte es sich trotz meines innerlichsten schaudernden Widerstrebens gemacht, daß ich in dem Gemache stand, wo Velten Andres gestorben war und Helene Trotzendorff auf seiner leeren Bettstatt saß. (A 397 f.)

Nicht nur im erzählten Handlungsvollzug des Lebens macht sich die Integration extremer Differenzerfahrung (Leben/Tod, Vergessen/Erinnern, Nicht-Wissen/ Wissen) nicht „von selbst“ bzw. gelingt gar nicht: „und suchte vergeblich nach irgend etwas in mir, was mir den […] Weg zu der Tür da drüben leichter und lichter machen konnte“ (Hervorh. Ch. F.). Auch in der nachträglichen textuellen Rekonstruktion des Lebens stellt sich Zusammenhang – dem „alten Gemeinplatz“ zuwider – nicht von selbst ein, schon gar nicht der Zusammenhang zwischen (Er-)Leben und Text: Es ist vielmehr die umständliche Reflexion auf diesen Gemeinplatz, die es Erzähler Krumhardt erlaubt, die Nicht-Integrierbarkeit der Schwellenerfahrung ex post in Szene zu setzen und damit textuell erfahrbar zu machen. Erst mit dem Rekurs auf den Gemeinplatz bewältigt Krumhardt scheinbar „von selbst“ den ‚Sprung‘ zwischen Veltens Todeskammer und seinem Schreibtisch, seinen „Akten“, die nun im Lichte der österlichen Auferstehung zu lesen sind. Damit wird die Vermittlungsfunktion von Gemeinplätzen (hier: von Sprichwörtern) für scheinbar natürliche diskursive ex post-Konstruktionen von Sinnzusammenhängen deutlich. Zugleich wird die topische Vermittlungstechnik dadurch, dass hier der Gemeinplatzgebrauch die Gemeinplatzaussage konterkariert, implizit ironisiert. Das darf nicht überlesen werden, denn ein uralter Gemeinplatz ist auch Krumhardts Zuspitzung seiner Relation zu Velten in der Christusfigur, deren Verkehrung dieses Erzählstück vornimmt. Mit ihr legt Krumhardt seinen Lesern eine Vergleichsoperation nahe, die als bibelexegetisches Verfahren im Rahmen der christlichen Offenbarungstheologie, aber auch als säkularisierte „Denkform der Geschichtsbetrachtung“ 239 eine lange Geschichte hat und die ihm dazu ver239 Friedrich Ohly, Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung. In: Volker Bohn (Hg.), Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt am Main 1988, S. 22–63. „Mit der Kirchengeschichte eng genug verschränkt, konnte auch politische Geschichte einbegriffen werden, ich nenne Constantinus als den neuen Moses, Karl der Große als den neuen David.“ (Ohly, Typologie, S. 30) Die Ausweitung des typologischen Verfahrens wurde insbesondere durch die Kunst befördert: „Jede Erstfindung einer typologischen Beziehung hat etwas Künstlerisches, und es darf nicht überraschen, daß eben auch die europäische Dichtung […] und die bildenden Künste die typologische Denkform als eine Möglichkeit zusammenschauender Gestaltung sich zu eigen machten.“ (Ohly, Typologie, S. 24) Vgl. auch Northorpe Frye, Typologie als Denkweise und rhetorische Figur. In: Bohn (Hg.), Typologie, S. 64–96. Speziell zum 19. Jahrhundert vgl. Hebekus, Klios Medien, S. 99–115, der eine geschichtsphilosophische Funktionalisierung der typologischen Argumentationsfigur in Droysens Historik nachweist.

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hilft, seine „Akten“ zum ‚neuen‘ Gesetz des Vogelsangs zu stilisieren. Diese Vergleichsoperation, auch Figuraldeutung240 oder Typologese genannt, diente ursprünglich der Anbindung von Altem Testament und Neuem Testament, die sich der Frühkirche als Problem darstellte. Um Akzeptanz in der jüdischen und heidnischen Welt zu erlangen, musste das neue, von Christus gestiftete ‚Gesetz‘ – die ‚Frohe Botschaft‘ der Gnade – als fraglose Kontinuität und Überwindung des alten jüdischen Gesetzes (der Thora), eben des Alten Testaments, ausgewiesen werden. Ein Ansatz zur Lösung dieses Problems fand sich in den Evangelien, in denen Jesus sich selbst mehrfach auf die jüdischen Propheten des Alten Testaments bezieht, sein Wirken und Wort zur Erfüllung (antítypos) ihrer Prophetien (typós) und sich selbst zum verheißenen Messias erklärt. Entsprechend sucht die Typologese der Frühkirche und spätantiken Kirchenväter stets nach Ereignissen, Personen oder Dingen im Alten Testament, die sich als Vorausdeutungen auf die Lebensgeschichte Jesu im Neuen Testament lesen lassen: Die Opferung Isaaks durch Abraham im Alten weist voraus auf das Kreuzesopfer Jesu durch Gottvater im Neuen Testament, der Durchzug durch das Rote Meer im Alten auf Jesu Taufe im Jordan in dem Neuen Testament, das Passahopfer in dem Alten auf das Abendmahl im Neuen Testament.241

Abstrakter gesprochen setzt die Typologese mit ihrer christologischen, also auf Christus zentrierten242 Vergleichsoperation zwei historisch (und kulturell) getrennte Erscheiungen in ein zeitliches Kontinuum, in denselben (heils-)geschichtlichen Rahmen.243 Einerseits erzeugt sie mit „ihrer Zusammenschau des in der Zeit Getrennten, in der Zusammenrückung zweier aus der Sukzession der Zeit

240 Vgl. Erich Auerbach, Figura. In: Ders., Neue Dantestudien, Istanbul 1944, S. 11–71, hier S. 28. 241 Ohly, Typologie, S. 22. Zumeist bildet, wie in diesen Beispielen, Christus den antítypos, doch kann er auch selbst als typós zu späteren Figuren der Kirchengeschichte gelesen werden (vgl. Ohly, Typologie, S. 30). Indem Krumhardt die Differenz von typós und antítypos in die Figur Christi hinein verlegt, unterstreicht er die typologische Vorstellung von Christus als „Zeitenmitte“ bzw. Zeitenwende (Ohly, Typologie, S. 27.). 242 Ohly, Typologie, S. 27. 243 „Das typologische Denken wurzelt im Glauben an die das Alte und das Neue Testament überbindende Einheit der Offenbarung Gottes, deren Geschiedenheit in der Zeit durch ihre Einheit in der Hingerichtetheit auf Christus aufgehoben wird.“ (Ohly Typologie, S. 23; Hervorh., Ch. F.). Dieses Argumentationsmuster hat später in der Patristik und stärker noch im Mittelalter Konjunktur, erlaubt es doch, etwa zum Zwecke der Heidenmission, nicht nur wesentliche Elemente der Naturgeschichte, sondern auch der antiken Mythologie der jüdisch-christlichen Tradition anzuverwandeln. (Vgl. Ohly, Typologie, S. 30 ff.).

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

gehobener Szenen“ eine „Simultaneität des Ungleichzeitigen“;244 andererseits ist sie, insofern sie eine „Theorie des historischen Prozesses“ impliziert, „eine rhetorische [Überbietungs-]Figur, die sich in der Zeit bewegt“.245 Während der „dem typologischen Verhältnis zugrunde liegende Kampf“ etwa in der idealistischen Geschichtsphilosophie Schellings als notwendige „negative[ ] Erfüllung“ und gewaltfreie Überwindung der dämonisierten Typen des Alten Testaments gedeutet wird,246 insistiert Friedrich Nietzsche auf dem agonalen und rhetorischen Charakter des typologischen Vergleichens: [W]as soll man von den Nachwirkungen einer Religion erwarten, welche in den Jahrhunderten ihrer Begründung jenes unerhörte philologische Possenspiel um das Alte Testament aufgeführt hat: ich meine den Versuch, das Alte Testament den Juden unter dem Leibe wegzuziehen, mit der Behauptung, es enthalte nichts als christliche Lehren und gehöre den Christen als dem wahren Volke Israel: während die Juden es sich nur angemaßt hätten. Und nun ergab man sich einer Wut der Ausdeutung und Unterschiebung, welche unmöglich mit dem guten Gewissen verbunden gewesen sein kann: wie sehr auch die jüdischen Gelehrten protestierten, überall sollte im Alten Testament von Christus und nur von Christus die Rede sein, überall namentlich von seinem Kreuze, und wo nur ein Holz, eine Rute, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird, da bedeute dies eine Prophezeiung auf das Kreuzesholz; […] – alles Anspielungen und gleichsam Vorspiele des Kreuzes! Hat dies jemals jemand geglaubt, der es behauptete? […] Man war eben im Kampfe und dachte an die Gegner und nicht an die Redlichkeit.247

Nicht nur legt Nietzsche hier den mitunter ans Absurde grenzenden typologischen Vergleichszwang als Mittel des Kulturkampfes zwischen christlicher und jüdischer Glaubenstradition offen. Seine Polemik stellt auch die zentrale Funktionsweise der Typologese heraus, deren Vermittlungsleistung sich nicht in differenzierten Argumentationsschritten vollzieht, sondern sich – wie bei Krumhardts Plätzetausch auf der Holzbank auch – der unmittelbaren ‚Ineinanderblendung‘ der Vergleichsglieder mittels eines einzelnen, oft äußerlichen und so auch in den entferntesten, unterschiedlichsten Phänomenen auffindbaren tertium comparationis verdankt.248 244 Ohly, Typologie, S. 29. 245 Frye, Typologie, S. 67. 246 Olaf Hansen und Jörg Villwock, Einleitung. In: Bohn (Hg.), Typologie, S. 7–21, hier S. 13 und S. 14. 247 Nietzsche, Morgenröte. In: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 1, hg. v. Karl Schlechta, München 91982, S. 1067 (Aph. 84); Hervorh. im Original. 248 Von daher kann die Typologie als spezifisch theologische Ausprägung des topischen Vergleichs gelten: „Grundbedingung alles Typologischen ist das Moment der Steigerung. Beim gleichen Vorgang der Erhöhung entspricht in der Steigerung Gottvater dem Moses, Christus der Ehernen Schlange und beim Heil der an das Erhöhte Glaubenden das ewige Leben der Gesundheit. Nach der Sprache des Paulus ist die Erhöhung der Schlange am Stamm der Typus und die Erhöhung Christi am Kreuz der Antitypus. Stamm und Kreuz nennen die biblischen

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Vor diesem Hintergrund erweist sich Krumhardts typologisch-christologische Ersetzungsaktion zwischen sich und Velten, die über die Holzbank am Osterberg vermittelt ist, als „rhetorische Figur“, die denn doch „Farbe“ und damit ein deutliches, in der Raabe-Forschung gleichwohl nicht beachtetes ‚Argument‘ in seine archivalische Geschichtsrekonstruktion bringt: Diese soll als ‚gesteigerte Erfüllung‘ von Veltens narrativer Aktualisierung seiner und des Vogelsangs Geschichte gelesen werden, als ihr antítypos also, der zu Veltens Entwurf der Vogelsang-Kultur als seinem präfigurierenden und legitimierenden typós in einem Verhältnis gleichzeitiger Kontinuität und Diskontinuität steht. Dass und inwiefern Krumhardts topisches Vogelsang-Archiv die gewaltsame semantische Fixierung und materielle Auslöschung der Vogelsang-Kultur durch Velten aufhebt und kritisch überschreitet, ist in der Verbrennungsszene deutlich geworden: Mit deren Protokollierung rettet Krumhardt zugleich die zerstörten, doch im ‚Feuer‘ von Veltens letzter Vogelsang-Erzählung nochmals luzide aufscheinenden Ding-Symbole des Vogelsangs als materielle und vielfältig interpretierbare in sein Archiv hinein und stellt sie dessen späteren Rezipienten, seinen Nachkommen, vor Augen und für Re-signationen zur Disposition. In gesteigerter Form wiederholen Krumhardts „Akten“ aber auch Veltens letzten Akt als eigenmächtiger Kulturstifter, indem sie zwar keine inhaltlich-semantische Fixierung versuchen, dafür aber die äußerlich-materielle Schließung der Vogelsang-Kultur vollenden. Paradoxerweise prädisponiert sie just die prinzipielle Disponibilität, die Aktensammlungen als Lose-Papier-Sammlungen (im Gegensatz z. B. zu Rollenakten) auszeichnet, dazu, Gesetzescharakter zu erlangen. Diese medientechnische Voraussetzung für Texte, die Gesetzeskraft erlangen sollen, hat Cornelia Vismann in ihrer rechts- und mediengeschichtlichen AktenStudie aufgezeigt.249 Hinzukommen müssen räumliche und zeitliche Hürden, die den allgemeinen Zugriff auf das Aktenmaterial verhindern oder stark einschränken. Eben solche Hürden errichtet Krumhardt, wenn er die „Akten“ seinen Nachkommen als rechtskräftiges Erbe hinterlässt und sie bis zu seinem Tod im privaten Familienarchiv verschwinden lässt.250 Mit dem Einschluss seines topischen Archivs in diesen äußersten materiellen Rahmen erhält das kulturelle

Texte nicht. Die Bildkünste haben sie hinzugebracht, um das Gemeinsame im Sichunterscheidenden bei der Erhöhung am Holz dem Auge zu verdeutlichen. Typus und Antitypus bedürfen einer Ähnlichkeit, in der das Gemeinsame und das Unterschiedene sich darstellt.“ (Ohly, Typologie, S. 28). 249 Vgl. Vismann, Akten, S. 100 ff. 250 Die räumliche und zeitliche Unzugänglichkeit der Krumhardtschen „Akten“ im Privatarchiv seiner Familie, die ihre Gesetzeskraft stabilisieren hilft, konterkariert wiederum Autor Raabe mit der (fiktiven) Eins-zu-eins-Veröffentlichung von Krumhardts „Akten des Vogelsangs“ als literarischer Text.

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IV „Wenn nicht aktenmäßig, so doch aus den Akten“ – Die Akten des Vogelsangs

Archiv des Vogelsangs den Charakter einer letztgültigen Setzung. Während Veltens Schließung der Vogelsang-Kultur, die Krumhardt als kontingent-eigenmächtig und unmenschlich entlarvt hat, sich als notweniger Akt präsentierte, gibt Krumhardt allerdings gerade durch den nahegelegten typologischen Vergleich, demzufolge er Veltens Schließungsakt in gesteigerter Form wiederhole, das Dezisionistische, also Kontingente, seiner neuerlichen Schließung zu erkennen. Diesen Dezisionismus vollends hervorkehrend lautet der Schluss-Satz seiner „Akten“: Ich könnte auf dem Blatte den spätesten Nachkommen noch einmal mit hinaufnehmen auf die Bank im Sonnenschein von heute auf dem Osterberge; aber ich schließe die Akten des Vogelsangs.251

251 A 408. Diese drucktechnische Absetzung der Titelwendung findet sich so im Originaltext. Zum Dezisionismus des Schluss-Satzes vgl. auch Preisendanz, Nachwort, S. 238 f. Das Verhältnis von Gemeinplätzen, Gemeinschaft und Gewalt wird zwanzig bis fünfzig Jahre später in den sprachpolitischen Reflexionen von Jean Paulhan, Maurice Blanchot und Samuel Beckett in noch radikalerer Weise wieder virulent (vgl. Wim Peeters, Die Gemeinplätze der Gemeinschaft: Paulhan, Blanchot, Beckett. In: Margot Brink, Sylvia Pritsch (Hg.), Gemeinschaft in der Literatur. Zur Aktualität poetisch-politischer Interventionen, Würzburg 2013, S. 261–277). Ihre aufeinander bezogenen Reflexionen, deren Einfluss auf „die Theoriebildung in Frankreich“ „kaum zu überschätzen“ ist (Peeters, Gemeinplätze, S. 265), münden in eine „Literaturbetrachtung“, die „– von der Seite der Rhetorik her – eine Gemeinplatztheorie [erhält], die zugleich über den Nexus mit dem Terror eine Gemeinschaftstheorie ist.“ (Peeters, Gemeinplätze, S. 264 f.).

V Schluss: Erzählte topische Stoff-Findung als roman- und kulturpoietisches Reflexionsverfahren „[Rankes] Standpunkt ist nicht der des Erzählens, sondern der der Reflexion über den Erzählungsstoff.“ 1 – Was David Friedrich Strauß im Blick auf den meist gelesenen Produzenten historiographischer und insbesondere auch biographischer Erzählungen des 19. Jahrhunderts, Leopold von Ranke, konstatiert, gilt gleichermaßen für die fiktiven Textproduzenten in Fontanes Cécile und Raabes Die Akten des Vogelsangs. Wie der Historiker Ranke etwa im Falle seiner Beschäftigung mit Friedrich dem Großen oder Friedrich Wilhelm IV. verfolgen die Figuren Gordon und Krumhardt das Projekt, eine aus ihrer Sicht ‚faktuale‘ Geschichte zu rekonstruieren. Anders als Ranke widmen sich die beiden letzteren nicht einer Person, die in der Vergangenheit politische oder geistige Großtaten vollbracht hat und deren gesellschaftlich-kulturelle Relevanz von daher auf der Hand liegt, sondern einer Person, die in engem Zusammenhang mit ihrer eigenen ‚Privatgeschichte‘2 steht und der sie aufgrund ihres unklar-rätselhaften ‚Reizes‘ oder ‚Zaubers‘3 ein besonderes Interesse entgegenbringen. Obwohl ihnen also der Gegenstand ihrer Forschungen viel vertrauter ist als der historische Friedrich der Große Ranke, reflektieren auch sie als Erforscher und Erzähler von Lebensgeschichten über weite Strecken der Texte darauf, was der Stoff zu der von ihnen angestrebten Erzählung jeweils sei, wie er aufzufinden, zu beurteilen, zu ordnen und gegebenenfalls zu verdichten oder exemplarisch auszuwählen sei. Wenngleich Krumhardt als Jugendfreund des von ihm Biographierten und also Zeuge des vergangenen Geschehens über persönliche Erinnerungen und Notizen, Briefe und offizielle Dokumente aus der alten Zeit verfügt und damit über weit günstigere Voraussetzungen für die Stoff-Findung als der im Blick auf Céciles Geschichte zunächst unwissende und auf reine Beobachtung und Konversation verwiesene Gordon, stellt sich doch beiden der Nachvollzug der anderen bzw. fremden Lebensgeschichte als problematische Rätselfrage dar. Von der Fülle der eigenen empirischen Beobachtungen sowie der vielfältigen Daten in mündlichen und schriftlichen Quellen zu einer erzählbaren

1 David Friedrich Strauß über Leopold von Ranke, zitiert nach Patrick Bahners, Geschichte. Eine Kolumne. Die Entstehung des Historismus. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 51 (1997), S. 1122–1128, hier S. 1127. 2 Vgl. Fischer, Private Geschichte, S. 181. 3 C 186 und A 226. https://doi.org/10.1515/9783110572919-005

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V Schluss

Ereignisfolge zu gelangen, die die ‚Wahrheit‘4 der fraglichen Person aus ihrer Vergangenheit verstehbar machte, ist nicht ohne Weiteres möglich. Damit machen beide Texte am Ende des 19. Jahrhunderts die Reflexion auf die problematische Stoff-Findung faktualen Erzählens und deren mögliche Verfahrensweisen in einer fiktiven ‚inventio-Szene‘ zu ihrem zentralen Gegenstand. Die textimmanente Stoff-Reflexion bei Ranke war vor allem durch eine „aisthesis materialis“ 5 gekennzeichnet, die das Aufsuchen der textuellen Quellen in den jeweiligen Archiven als sinnlichen Wahrnehmungsakt in die biographische Erzählung mit hineinnahm, als eine sie beglaubigende, weil für den Leser nachvollziehbare „Reise[ ] zu den Quellen der Quellen“.6 Demgegenüber gehen Cécile und Die Akten des Vogelsangs einen Schritt weiter bzw. näher heran: ‚Mikroskopischer‘ gewissermaßen rücken sie ihren Lesern auch die interpretative Auswertung der Quellen in den Blick – ganz konkret den Moment, in dem der Geschichtsforscher die Kluft zwischen Quellenstudium und eigenem Text zu überbrücken hat. In beiden Fällen wird diese Überbrückung, dieser vermittelnde Übergang, als (Re-)Lektüre inszeniert, die nach Maßgabe der topischen techné verfährt. Zugleich wird Letztere in einer für die Topiktradition überraschend dezidierter Weise als ein Verfahren reflektiert, das nicht nur für die Hervorbringung (poiesis) von Geschichte(n) sondern auch von sozio-kulturellen Zusammenhängen Relevanz besitzt – topisches Lesen erscheint als geschichts- wie kulturpoietische Praxis. Raabes Text etwa setzt Lektüre als Verfahren der topischen inventio unmittelbar und unmetaphorisch dadurch in Szene, dass sich Erzähler Krumhardt weit mehr ins Aktenstudium vertieft als schreibend zeigt. Fontanes Text evoziert Lektüre eher im metaphorischen Sinn bzw. im Sinn von legere, der lateinischen Wurzel von ‚lesen‘, also im Sinn des (Auf-)Sammelns von Wissenselementen

4 C 187 und A 312. 5 Hebekus, Klios Medien, S. 49. 6 Hebekus, Klios Medien, S. 44. Vgl. auch S. 47: „Wie jede quellenkritisch fundierte Historiographie hebt auch Rankes Text in der ‚Erzählung‘ die Ebene der Dokumentation des Materials ab von der Erzählung im engeren Sinne. Es ist jedoch in einer zunehmend konkreteren Bedeutung der Blick des Forschers, der – ‚vor‘ aller solchen Erzählung im engeren Sinne – an den Quellen deren poetische Verfaßtheit erkennen will, an ihnen ein ästhetisches Potential auszumachen bestrebt ist, das die Differenz von Dokumentation und Erzählung neu reguliert. Anders formuliert: Der historiographische Text entwirft selbst ein Modell der ‚Forschung‘, man könnte auch sagen: skizziert eine Rhetorik der Präsenz der Quellen, die nicht einfach reduziert werden darf auf einen Widerschein der Inanspruchnahme eines sets von invarianten quellenkritisch-philologischen Grundsätzen, die ein für allemal bestimmten, was ‚Forschung‘ ist.“ (Vgl. Hebekus, Klios Medien, S. 47, Hervorh. im Original).

V Schluss

233

im Zuge persönlichen „Beobachten[s] und Schlüsse-ziehn[s]“.7 Dass gleichwohl auch hier die Lektüre im nicht-metaphorischen, textuellen Sinn mitgedacht werden soll, signalisiert der Text dadurch, dass Gordon ‚hinter‘ Cécile einen „Roman“ vermutet und seine Beobachtungen ihrer Person regelmäßig von Zeitungslektüren flankiert werden, gewissermaßen über den Rand einer Zeitung hinweg erfolgen. Schon diese Signale weisen darauf hin, dass Gordons Cécileinventio im Blick auf eine durch das Zeitungsmedium mitgeprägte zeitgenössische Textform hin gelesen werden soll: die des realistischen Feuilletonromans. Das bestätigt die Szene der ersten Begegnung zwischen Beobachter Gordon und Cécile, denn sie kann als literarische Postfiguration von William Hogarth’ Contretanz-Szenerie gelesen werden, die Fontane bereits in einer Rezension von Gustav Freytags Soll und Haben in den 1850er Jahren als poetologisches Bild für den Lektüre-Effekt eines gelungenen realistischen Romans aufgeboten hatte. Diesem Bild zufolge ist es der Leser, der hauptsächlich die Strukturierung und also Produktion der Geschichte, die der Roman erzählt, im Sinne einer arabesken textura leistet. Wenn die Hogarthsche Contretanz-Szenerie in Cécile darüber hinaus nach dem Vorbild der arabesken Titelblätter der Gartenlaube variiert erscheint, dann bindet der Text die durchgängige Thematisierung und Problematisierung der Stoff-Findung zu Céciles Vorgeschichte nicht nur an die von Fontane früher propagierte arabeske Poetologie des realistischen Romans an; er stellt auch heraus, dass dieser üblicherweise zunächst in Form von Fortsetzungsgeschichten im Medium der Presse an die breite Öffentlichkeit vermittelt wird, und präzisiert die nunmehr innerliterarische Poetologie als Reflex auf die arabeske Bildsprache der Zeitschriften, in der diese selbstreferentiell die eigenen Einheitskonstruktionen aus vielfältigstem heterogen – textuellem und bildlichem, faktualen und fiktionalem – Datenmaterial vor Augen führen. Mit der Figur Gordons wandert der typische Leser des realistischen Romans, der diesen in der Zeitung liest, in den Feuilletonroman hinein und wird dort bei seiner geschichtskonstituierenden Aktivität beobachtbar. Auch Raabes Akten des Vogelsangs stellen die erzählte problematische inventio mittels topischer Lektüre in einen präzisen formgeschichtlichen und medialen Kontext. Als juristischer Profi und historiographischer Laie, der die Geschichte seines unbürgerlich-genialischen Freundes nach dessen Tode auf der Grundlage von Akten präsentieren will, ist Krumhardt als literarische Reminiszenz des Juristen Eduard Julius Hitzig erkennbar, der nicht nur mit seinen ‚ac-

7 Fontane über seine Lieblingsbeschäftigung während eines für die Entstehung von Cécile wichtigen Harzaufenthalts 1883, währenddessen er fast alle Orte, die in Cécile eine Rolle spielen, aufsuchte. (Vgl. „Stoff“. In: Theodor Fontane, Cécile, hg. v. Hans Joachim Funke und Christine Hehle, Bd. 9 der Großen Brandenburgischen Ausgabe, Berlin 2000, S. 221).

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V Schluss

tenmaeßigen Freundesbiographien‘ zu den Dichtern E. T. A. Hoffmann, Werner Zacharias und Adelbert von Chamisso eine publikumswirksame, explizit an der rhetorischen inventio ausgerichtete Form der Laienbiographie prägte, sondern auch eine Anleitung für angehende Juristen zur Abfassung von Aktenrelationen, also narrativer Falldarstellungen vor einem Richterkollegium, veröffentlichte. Auffällig ist, dass Fontanes Cécile wie Raabes Akten vorderhand nicht etwa die Stoff-Findungsmühen eines Dichters oder Künstlers zur Darstellung bringen, sondern große Sorgfalt darauf verwenden, ihre Geschichts-(Re-)Konstrukteure als Kenner spezifischer, zeitgenössisch einschlägiger Medientechniken auszuweisen – der journalistischen Nachrichtentechnik bzw. der biographischen und juridischen Aktentechnik. Als solche haben sie Erfahrung mit umfänglichen Textkonvoluten, die eine Fülle diskreter und heterogener Schriftund, noch allgemeiner, Sprachstücke (im Falle der Zeitung auch Bilder und Graphiken) versammeln, deren ‚Einheit‘ durch einen rein funktional-medialen Zusammenhang konstituiert ist: die konkrete, auf die neuesten Informationen verpflichtete Ausgabe einer Zeitung oder Zeitschrift bzw. die Aktensammlung zu einem konkreten historischen oder juristischen Fall. Gleichwohl werden jeweils wieder Affinitäten der von Krumhardt und Gordon produzierten Texte zum Roman herausgestellt. Für Cécile ist das bereits deutlich geworden; Die Akten des Vogelsangs ihrerseits spielen paratextuell darauf an, dass Hitzigs und andere aktenmäßige Biographien zeitgenössisch „öfters als Ersatz für den Roman“ 8 galten, indem Raabe als Titel für seinen literarischen Text einfach denjenigen übernimmt, den sein fiktiver Erzähler dem eigenen archivalischen Machwerk gibt. Auf diese Weise rückt die problematisierte Soff-Findung als eine epistemisch und ästhetisch, also für Wissens- und literarisch-narrative Formzusammenhänge relevante Entscheidungssituation in den Blick, die – über die sich ausdifferenzierenden Diskurse hinweg – eine methodische Herausforderung darstellt. Die Auswahl- und Entscheidungsprozesse im Zuge der Geschichtsinventio auf der Basis von dokumentarischen Quellen oder empirischen Beobachtungen ‚im Feld‘, die diskursiviert werden müssen, werden angesichts ihrer disziplinären Kontextualisierungen (Journalismus, Historiographie, Jurisprudenz) und der aufgebotenen Medienvielfalt (Texte und Bilder der Presse, Unterhaltungsliteratur, Kunst, Quellen- und Aktensammlung) als transdisziplinäres und transmediales Problem kenntlich. Als topische Relektüren sind die jeweils inszenierten inventio-Prozesse schon deshalb zu verstehen, weil sie mit dem Feuilletonroman und der aktenmäßigen Freundesbiographie vorgängige und zeitgenössisch zu literarischen Standards,

8 Sengle, Biographie, S. 320.

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also topoi, gewordene Erzählformen (und Poetikkonzepte) im Grenzgebiet zwischen literarischem und nichtliterarischem Diskurs aktualisieren und im Medium des Romans wiederholt zu lesen geben. Von topischen Relektüren ist darüber hinaus aber noch in einem weit präziseren Sinn zu sprechen, denn beide erzählten inventio-Prozesse rekurrieren erkennbar auf das topische loci-Verfahren – das Verfahren, das im Rahmen der antiken Topik als ein vorwissenschaftliches Verfahren „differenzierende[r] Problembetrachtung“ oder „Problemaufschließung“ 9 für den Rhetor und Dialektiker entwickelt wurde. Es sollte diejenigen Diskursproduzenten, die sich an ein breites, unspezifisches Publikum zu richten hatten (Juristen, Politiker, Festredner, über Fachgrenzen hinweg debattierender Wissenschaftler und später auch Dichter), bei der Stoff-Findung helfen. Auswahl und Ordnung des jeweils problemrelevanten Stoffes sollten vorgängig systematisierte loci erleichtern, Sammelorte von Seh-, Denk- und Sprachgewohnheiten, also des für den kulturellen sensus communis des Publikums maßgeblichen Wissens (endoxa), die der Diskursproduzent im Blick auf sein Problem hin der Reihe nach befragen konnte. In Cécile suggerieren versteckte, aber einschlägige Cicero-Zitate, dass der erzählte Spaziergang über die touristischen Orte des Harzes, den Gordon in der ersten Texthälfte mit Cécile und einer wachsenden Zahl Berliner Touristen unternimmt, als narrative Konkretion des klassisch-imaginären Ganges des rhetorischen Textproduzenten über die topischen loci zu verstehen ist. Dessen Ortsund Bewegungsmetaphorik ist wörtlich genommen: Schritt für Schritt, Ort für Ort eröffnet der Spaziergang Gordon neue Perspektiven auf das Rätsel (seine quaestio) Cécile; Gordon gewinnt dank dieser Perspektiven immer neue Bedeutungsaspekte, die Cécile plausibel charakterisieren und ihre rätselhafte Schönheit als kulturelle Fremdheit diskursiv präzisierbar und plastisch anschaulich machen.10 Die touristischen Orte des Harzes fungieren vor allem insofern als materialisierte topische loci und also bedeutungstragende Örter der Berliner Gesellschaft, als sich die Berliner Touristen hier über ihre eigene kulturelle Identität zu verständigen suchen, indem sie anlässlich der versammelten Spuren der Harzer Vergangenheit ihr (noch) sozial geteiltes Wissen aktualisieren – eine soziokulturelle Analyse touristischen Sightseeings, die stark dem hundert Jahre später entwickelten Konzept der lieux de mémoire des französischen Historikers

9 Bornscheuer, Topik, S. 34 und S. 35. 10 Was v. Graevenitz in seiner Studie Das Ornament des Blicks auf S. 231 f. zu Textlektüren allgemein sagt, kann hier auf Cécile übertragen werden: „Was am Text individuell ist, bleibt unverständlich, bis der betrachtende oder lesende Blick es zurückholt in die kulturelle Wahrnehmung, es in der Lektüre anschlußfähig macht für ein ‚vergesellschaftendes‘ Verstehen.“

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Pierre Nora ähnelt.11 Céciles Reaktionen auf das aktualisierte Wissen liefern Gordon demnach Bedeutungsaspekte zu ihrer Person, die sie als quaestio seiner Romantextura an den kulturellen sensus communis anschließbar machen. Dass der Gang über die touristischen sights regelmäßig durch Momente des Rückzugs unterbrochen wird, in denen Gordon, durch einen Fensterrahmen blickend, die einzelnen Ortsbesuche und das dort über Cécile aufgelesene Wissen nochmals imaginär rekapituliert und in eine kunstvolle, arabesk-verwickelte textura überführt, belegt einmal mehr die Evokation des loci-Verfahrens als imaginär-mentale Befragung soziokulturell relevanter Gesichtspunkte und Denkgewohnheiten im Blick auf eine diskursiv zu lösende Problemfrage. Diese Re-Lektüre durch den Fensterrahmen hindurch belegt darüber hinaus, dass es das solchermaßen konkretisierte loci-Verfahren ist, mit dessen Hilfe Fontanes Cécile-Text das realisiert, was in der poetologischen Contretanz-Szenerie propagiert wird – der Anspruch nämlich, im Roman eine arabeske Soziographie zu bieten, die die gesellschaftlichen Verstrickungen des zeitgenössischen bürgerlichen Menschen sowie seine begrenzten Möglichkeiten, diese zu verstehen und zu beeinflussen, in einer quasi-theatralen Aufführung, in einem Rahmen des ‚Als-ob‘, anschaulich macht.12 In Raabes Akten des Vogelsangs verdeutlicht ebenfalls ein erzählter Rahmen, in diesem Fall eine textuelle Rahmenstruktur, dass der rhetorischen Topik nunmehr die Funktion eines geschichts- und kulturpoietischen Reflexionsrahmens für die erzählte inventio-Problematik zukommt: Dank des einzigen erkennbaren Eingriffs von Krumhardt in die Chronologie der von ihm versammelten „Akten“ aus dem Vogelsang wird seine Stoffsammlung von Helenes Beiträgen zur Vogelsang-Vergangenheit gerahmt, die nicht nur Auskunft über Krumhardts nachträgliche Ausgrenzung aus dem inner circle des alten Vogelsang-Kollektivs Auskunft geben, sondern auch dank wörtlicher Zitate das freundesbiographische Textmodell von Hitzig als Vorbild für die Akten des Vogelsangs ins Spiel bringen. In der Folge sind Krumhardts stete Reflexionen in der ‚Mitte‘ dieser Rahmung auf die grundlegenden verfahrenstechnischen Fragen der Topik nach der sachlichen

11 Zu den Ähnlichkeiten, die die touristischen Orte in Cécile zu den lieux de mémoire aufweisen, die Nora als die zentralen Anhaltspunkte der französischen Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts analysiert, vgl. Kapitel III.2.5. 12 Wenn es richtig ist, dass die „kombinatorische Hermeneutik der arabesken Texte […] nicht wie die ältere Hermeneutik die Domestizierung und teleologische Reduktion von Bedeutungsvielfalt um der Zentrierung willen“ praktiziert und „Differentes um einer hierarchischen Ganzheit willen“ harmonisiert, andererseits aber auch nicht „Pluralität und Differenz zur Krise der Repräsentation“ dramatisiert (vgl. v. Graevenitz, Ornament, S. 233), dann wäre für Fontanes Cécile zu sagen, dass dieser arabeske Text umgekehrt die Verneinung von „Pluralität und Differenz zur Krise der Repräsentation“ dramatisiert, die nicht nur das Ende des Erzählens, sondern auch die Erstarrung des gesellschaftlichen Zusammenhangs bedeutet.

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Angemessenheit, der sozialen Relevanz sowie nach der – spätere Verfügbarkeit garantierenden – Ordnung des zu versammelnden Wissens zu verstehen als eine Auseinandersetzung mit Hitzigs Biographiekonzept der inventio solo in dem Bestreben, sich als ‚Biograph am Rande‘ in das ehemalige Vogelsang-Kollektiv zurück zu schreiben. Dabei radikalisiert er noch Hitzigs programmatische Selbstbeschränkung auf bloße Stoff-Findung (inventio solo), derzufolge bereits die archivalische Stoffsammlung zur biographierten Person die biographische ‚Erzählung‘ sei, will er doch auch innerhalb der inventio alle interpretativen Entscheidungen, also die Erzeugung innertechnischer Beweise mit Hilfe topischer loci, vermeiden und sich nur auf außertechnische Beweise, Dokumente und Zeugenaussagen (pisteis atechnoi) beschränken. Wenn hier einerseits das topische loci-Verfahren distanziert erscheint, insbesondere in der Form des für Biographien lange Zeit maßgeblichen a persona-Katalogs, so praktiziert Krumhardt es doch als rein mnemotechnisch-imaginäres Abgehen der altvertrauten Orte des Vogelsangs, an denen er die Originalreden und -dialoge der Kollektivmitglieder ‚aufsammelt‘. Die ‚Topik der Zeugenschaft‘, die er so eruiert, erzeugt mit der Vermischung von Briefzeugnissen sowie protokollierten Augenzeugenerzählungen und Dialogen einen intermedialen Polyperspektivismus, in dem sowohl der Biograph als auch die biographierte Person pluralisiert erscheinen. Das kann als emphatische Steigerung des amateurhistoriographischen Interesses an auch nicht-schriftlichen Überlieferungsbeständen sowie an lokaler Alltagsgeschichte verstanden werden, in der vor allem die Ausdrucksseite von Geschichte, ihre ‚Selbstrede‘, zur Geltung kommt. Man könnte darin gar eine (um briefliche Dokumente erweiterte) oral history avant la lettre sehen, dann allerdings eine rhetorisch geschulte, die um die sprachlich-narrative Konstruktivität vergangenen Geschehens auch in Augenzeugenerzählungen weiß und die deren Authentizität nicht als unmittelbaren Weg zur Geschichte, geschweige denn zu einer ‚lebendigen‘ Vergangenheit nimmt.13 Krumhardt problematisiert nämlich in seinen Kommentaren zugleich die Beweisfunktion der Zeugnisse, indem er ihre ‚Selbstrede‘ prinzipiell in Zweifel zieht und mit dem Pochen auf der ‚Farblosigkeit‘ seiner eigenen Darstellung auf die ‚Farbe‘, d. h. die Rhetorizität, der zitier-

13 Zu Praxis und Kritik der oral history in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vgl. Lutz Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ‚Oral History‘, Frankfurt am Main 1985. Im Kontext dieser Praxis wurde erst im Nachgang der ersten Euphorie, eine lebensnahe historiographische Methode gefunden zu haben, darauf reflektiert, wie sehr die individuellen Zeugenaussagen von vorgängigen Geschichts- oder Erzählschemata geprägt sind und wie weitgehend der oral historian als Interviewer Einfluss auf die Befragten nimmt, etwa dadurch, dass er darüber entscheidet, wer wann wie lange sprechen darf, und mit seinen Fragen und mimisch-gestischen Reaktionen bewusst und unbewusst die Aussagen in bestimmte Richtungen lenkt.

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ten Selbstreden verweist. Damit signalisiert er nicht nur, dass zur Geschichte als der ‚Sache selbst‘ auch dank authentischer Selbstreden nicht ohne Weiteres zu gelangen ist, sondern er lädt zugleich zu einer vergleichenden Fokussierung der vielfältigen (auto-)biographischen Beiträge der Kollektivmitglieder und ihrer heterogenen „Weise[n]“ 14 der Geschichtsrekonstruktion ein. Diese rhetorisch-topische Biographiereflexion eröffnet dem Raabe-Leser aber nicht nur die aufgezeigte geschichtspoietische, sondern auch eine dezidiert kulturpoietische Perspektive, denn Krumhardts „Akten des Vogelsangs“ werden so lesbar als topisches Vogelsang-Archiv, d. h. als nicht-narrative und (vorderhand) nichtargumentative Repräsentation des sozial geteilten Wissens (sensus communis) von Veltens ehemaligem nachbarschaftlichen Umfeld über Velten und sein ehemaliges nachbarschaftliches Umfeld. Die Geschichte des verstorbenen Freundes wird vom Biographen nicht erzählt und etwa durch ihre Einpassung in eine kausallogisch motivierte storyline interpretatorisch erschlossen, sondern im vielstimmigen Nachbarschaftsarchiv des Vogelsangs ‚aufgehoben‘ – im doppelten Sinne von ‚bewahrt‘ und (in ihrer Einlinigkeit respektive Eindeutigkeit) ‚zersetzt‘. Und gerade indem Krumhardts Archiv das nachbarschaftliche Sprechen über Velten und den Vogelsang dokumentiert, zeichnet sich für Leser und Leserin die kulturelle Topik, also das „semantische Feld“ (Schmidt-Biggemann) bzw. der „sozial-sprachliche Horizont“ (Bachtin), des Nachbarschaftskollektivs ab, aus dem sich die Selbstreden der Kollektivmitglieder speisen und den sie zugleich variierend aktualisieren. Im selben Zuge nutzt Krumhardt seine randständige und brüchige Erzählerrede dazu, sich als ‚Biograph am Rande‘ in die Mitte des ‚semantischen Felds‘ des Vogelsangs zu versetzen. Anders als Hitzig nämlich inszeniert er sich auf der Ebene der invenierenden Lektüre durchgängig als sichtbarer Freundesbiograph bei der Stoffsuche und bildet auf der Ebene des Invenierten als oral historian, der imaginär durch den alten Vogelsang streift und die ehemaligen Weggefährten von Velten erzählen lässt, dessen unmerkliche, da auf dieser Ebene nicht ins Bild gesetzte Zentralfigur, an die sie sich alle mit ihren Reden richten und die letztlich darüber bestimmt, wer wann wie lange im Vogelsang-Archiv zur Sprache kommt. Als Biograph am Rande und also ‚bloß‘ kommentierender Organisator des topischen VogelsangArchivs fungiert Krumhardt demnach zwar nicht als interpretierend-erzählender Biograph und Autor, wohl aber als Grenzhüter der Vogelsang-Kultur, der den materiellen Rahmen ihres Archivs festsetzt, wenn nicht sogar ihr ‚Gesetz‘ instituiert, wie es seine implizite figuraltypologische Selbstermächtigung als auferstandener Velten-Christus nahelegt.

14 Vgl. das Insistieren Krumhardts auf seine besondere „Weise“ der Geschichtsdarstellung (A 358).

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Wie in Raabes Akten führt das topische Vorgehen im Zuge der inventio auch in Fontanes Cécile zur Distanzierung eines linear fortschreitenden und ‚finalen‘, durch Kausalzusammenhänge durchgängig motivierten Erzählens, mit der zugleich eine kritische Verhandlung und Neuaushandlung sozio-kultureller Grenzziehungen absehbar wird. Der topische Gang über die touristischen Orte fördert keine erzählbare Geschichte zutage, sondern eine kopiös-heterogene „Charakteristik“, die Cécile ihrem Leser als lebendig-plastische Person vor Augen stellt. Diese wird von Fontanes Text in mehrfacher Weise als positive Lektüreleistung gekennzeichnet: Nicht nur ist die „Charakteristik“ als kunstvolle arabeske textura ausgewiesen, die die aus der Rezension aufgegriffene Romanpoetologie Fontanes einlöst; als solche bildet sie auch die Basis für ein ‚glückliches‘ soziales Miteinander, das Céciles soziale Fixierung am Rand der Berliner Gesellschaft insofern aufhebt und ihre hysterische Traumatisierung ‚heilt‘, als es – als Effekt des Spaziergangs – die sozio-kulturellen Rahmungen (endoxischen topoi) dieser Gesellschaft, die für Céciles Ausschluss und ihre Traumatisierung verantwortlich waren, kenntlich und als veränderliche (erweiterbare) kommunizierbar macht. Wenn demgegenüber die zum Schluss doch noch wie durch einen diabolus ex machina aufgefundene und in der Form eines melodramatischen plot-Stereotyps nacherzählbare Duellgeschichte ‚hinter‘ Cécile Gordon zu ihrer neuerlichen Fixierung am Rand motiviert und es infolgedessen zum unheilvollen Ende von Geschichtsforscher und seiner quaestio kommt, so konterkariert Fontanes Cécile-Text die Vorstellung, dass die psychosoziale ‚Wahrheit‘ der fraglichen Person in einem einsinnigen Verstehen ihrer (Vor-)Geschichte zu suchen sei. Da also im Zuge der erzählten selbstreferentiellen topischen Lektüren von (Lebens-)Geschichten in den untersuchten Texten jeweils sozio-kulturelle Fragen verhandelt werden wie die, was eine Gruppe zur Gruppe macht, wo deren Grenzen verlaufen, wer noch dazu gehört und wer nicht, oder anders gesagt: da die erzählte topische Reflexion auf den Stoff einer (Lebens-)Geschichte – seine Medialität und mögliche Konstellierung zu einem Zusammenhang – jeweils einher geht mit der Reflexion auf den Stoff, der kulturelle Zusammenhänge fundiert, können die Aktualisierungen der topischen techné in Fontanes Cécile und Raabes Die Akten des Vogelsang als frühe Wiederentdeckung und neuerliche Erprobung der Topik als ein Verfahren zur Eruierung und Vermittlung kulturellen Wissens – nunmehr unter den Bedingungen der Moderne – verstanden werden. Damit nehmen beide Texte die von der Rhetorikforschung erst im 20. Jahrhundert geleistete (Wieder-)Entdeckung der Topik als ein vormodernes Konzept kultureller Heuristik wie auch des kulturellen Archivs vorweg. Vorgängige reduktionistische Auffassungen der Topik hatten sie mit veralteten feststehenden Rastern von „Titeln“ oder Ordnungsgesichtspunkten identifiziert, deren Konsultierung an jedweder quaestio immer nur die gleichen semanti-

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schen Aspekte zutage fördern und diese immer gleich konstellieren würde.15 Demgegenüber stellen die untersuchten Texte die Prozessualität und prinzipielle Unabschließbarkeit der topischen techné und damit auch des mit ihrer Hilfe eruierten Wissensbestands sowie die sozio-kulturelle Variabilität (Gruppenabhängigkeit) der topischen loci im Sinne kulturheuristischer Erschließungsgesichtspunkte in den Vordergrund: Zum einen zeigen sie das topische StoffFindungsverfahren in actu als Gang der Lektüre, der beständig voranschreitet, allerdings nicht linear, sondern intermittierend – von Ort zu Ort und von Rahmen zu Rahmen an den einzelnen Orten im Harz bzw. von Aktenstück zu Aktenstück und von Haus zu Haus im Vogelsang – und dabei differenzierende Hin- und Her-Wendungen wie korrigierende Um- und Zurückwendungen (ReLektüren) vollzieht. Zum anderen erscheinen die topischen loci, die die Lektüre orientieren, als veränderliche und (z. B. moralisch) plural interpretierbare soziokulturelle Rahmen, die für die jeweilige soziale Formation eigens und immer wieder neu zu eruieren und sprachlich zu bearbeiten sind. Wenn aber die topischen loci, die die Stoffsuche orientieren, jeweils nur punktuell und stets neu in kommunikativer Interaktion der jeweiligen Beteiligten zu bestimmen und zu interpretieren sind – in beiden Texten vollzieht sich diese Interaktion hauptsächlich in der Form des Streits, zumindest aber in konfrontativen Diskussionen der Gruppenmitglieder –, so erscheinen die mit ihrer Hilfe produzierten Wissenssammlungen, Gordons Cécile-„Charakteristik“ und Krumhardts VogelsangArchiv, als sozio-kulturell plausibilisierte, doch prinzipiell ergänz- und veränderbare, kurz: als kontingente und beweglich-dynamische Rahmungen. Letztlich sind alle für die versuchten Geschichtskonstruktionen relevanten oder in ihrem Zuge produzierten ‚Einheiten‘ als solche dynamisch-veränderlichen Rahmungen ausgewiesen, an denen persönliche und „gesellschaftliche[ ] Einbildungskraft“ 16 respektive das individuelle und „kulturelle Imaginäre“ 17 unauflöslich miteinan-

15 Vgl. die in Kapitel II.1 dieser Arbeit zitierte Kritik Kants an der Topik. 16 Bornscheuer, Topik, s. den Untertitel; Bornscheuer versteht seine Topik-Studie als einen „erste[n] Schritt auf dem Weg zur Rehabilitierung der schöpferischen Einbildungskraft als einem spezifisch gesellschaftlichen Vermögen“ (vgl. Bornscheuer, Topik, S. 19). 17 V. Graevenitz, Fontane, S. 27. Das Verhältnis der alten „gesellschaftlichen Einbildungskraft“, innerhalb der nach Bornscheuer die antike Topik operierte, zum „soziale[n], […] politische[n] oder […] kulturellen Imaginäre[n]“ (v. Graevenitz, Fontane, S. 27), das „seit dem 19. Jahrhundert auch in den avancierten Konzepten vom Subjekt“ auftaucht, versteht v. Graevenitz „nicht [als] Wechsel vom Subjektiven zum Kollektiven der Phantasie“, sondern als „nachdrückliche Verschiebung der Akzente und Gewichte. […] Anders gesagt, die subjektive Einbildungskraft war immer eingebettet in kollektive Vorstellungen, von denen sie zehrte und an denen sie mitgearbeitet hat. […] Aber nun kommt eine Art dritter Dimension hinzu, ein auf neue Weise technisch, kollektivistisch und visuell pointiertes Imaginäres, das die alten privaten und öffentlichen Imaginationen einhüllt, sie verändert und sie vor allem auch in ihrem Verhältnis zueinander verän-

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der verquickt (verwickelt) erscheinen: die unterschiedlich interpretierbaren touristischen Orte, der an ihnen eruierbare gesellschaftliche sensus communis, die arabeske Romantextura zu Cécile, die narrativen (mündlichen wie schriftlichen) Geschichtskonstruktionen bzw. Zeugenaussagen in den „Akten“, sowie das kulturelle Archiv des Vogelsangs insgesamt. Die beiden Texten ablesbaren positiven Effekte der topischen Lektüren – das erfolgreiche ‚writing back‘ des ausgegrenzten Krumhardts in die Mitte der Vogelsang-Kultur und die zeitweilig gelungene Integration und Therapierung der gesellschaftlichen Randfigur Cécile in einer erweiterten Topik der Berliner Gesellschaft – lassen das im Sinne einer beweglich-dynamischen Heuristik aktualisierte topische loci-Verfahren gerade in Momenten der Verunsicherung über die kollektiven Selbstverständlichkeiten der eigenen kulturellen Formation als geeignete techné zur neuerlichen Orientierung erscheinen. Kultur, das signalisieren beide Texte überdeutlich, ist nichts Statisches, sondern bewegliche Rahmungs- und Interpretationspraxis, die sich stets an neuen Herausforderungen, die ihr von ihren Rändern her zukommt, bewähren muss. Entsprechend sind der Abbruch oder die Stillstellung der inventorischen Lektürebewegung in beiden Texten mit dem Ende der Kultur, wenn nicht gleich mit dem Ende des Lebens überhaupt assoziiert. Veltens Verbrennungsakt in den Akten, mit dem dieser nicht nur sein Ende als Stifter und Hüter der Vogelsang-Kultur besiegeln will, sondern auch die weitere Zirkulation und Re-Signation der Ding-topoi des Vogelsangs im restlichen Kollektiv zu verhindern sucht, ist der letzte Akt Veltens, den Krumhardt vor dessen Tod dokumentarisch bezeugen kann.18 In Cécile führt Gordons Aufkündigung der im topischen Gang über die touristischen sights ermittelten komplex-heterogenen Cécile-textura wie des auf ihr beruhenden erweiterten kulturellen Kommunikationsrahmens ganz unmittelbar zum Tod von Romanproduzent und seiner quaestio und also zur Auslöschung des neu gestifteten sozio-kulturellen Zusammenhangs. Demgegenüber propagieren die Texte ein progredierendes Offenhalten, ein Weitergehen, Weiterschreiben (in Cécile als Spaziergang mit steten Orts- und damit Perspektivwechseln, in den Akten als Wiederlesen, Neusortieren, Weiter-/Umschreiben des archivierten Materials) in dem Bewusstsein, dass jeder vorgängige Akteur (Wan-

dert. Seine neue kollektivistische Pointe macht das Imaginäre zum Gegenstand gesellschaftsund kulturwissenschaftlicher Analysen.“ (V. Graevenitz, Fontane, S. 29). 18 Von späteren Handlungen Veltens kann Krumhardt selbst kein authentisches Zeugnis mehr geben; er bringt sie dem Leser nur indirekt über Helenes Vogelsangerzählung zur Kenntnis. Parallel zu diesen ‚Abbruch‘-Signalen könnte man die unkommentierte Eins-zu-eins-Veröffentlichung von Krumhardts „Akten des Vogelsangs“, die er eigentlich nur für sein privates Familienarchiv angelegt hat, durch den Autor Raabe als indirekten Hinweis auf Krumhardts Tod im Anschluss an den dezisionistischen Abschluss seiner Aktenlektüre am Schluss des Texts lesen.

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derer/Archivar) machtpolitisch motivierte, von daher kontingente und relativierbare Grenzziehungen vollzogen haben kann. In Cécile wie in den Akten rückt damit auch die Bedeutung in den Blick, die konkrete Orte und Gegenstände für die erzählte Praxis der kulturellen Selbstvergewisserung im Zuge der Geschichtsprojekte haben – also die Materialität oder der ‚Stoff‘ der Kultur, und zwar im doppelten Sinn als etwas von der Kultur Gemachtes sowie etwas die Kultur Konstituierendes:19 Als zentrale Orientierungspunkte für die Eruierung und Aktualisierung des (noch) sozial geteilten Wissens im Zuge der Relektüren fungieren vor allem materielle Orte (Museen, Denkmäler, die Häuser der Nachbarn oder die Bank auf dem Osterberg), konkrete Dinge (gerahmte Bilder, Ausstellungsstücke, familiäre Erbstücke) und schriftliche wie mündliche Sprachstücke (Erzählungen, Aktenstücke, Dokumente), die selbst in und für Praktiken oder auch Techniken der kulturellen Selbstvergewisserung wie kollektives Gedenken und Erinnern, Vererben, Aufzeichnen, Speichern und Beweisen ausgebildet wurden.20 Wenn diese Orte und Dinge derart als materiell-handgreifliche topoi zu lesen gegeben werden, so erweitern die Texte das bereits in der Antike kategorial äußerst heterogene, gleichwohl durchgängig mentalistisch verstandene Sammelsurium topischer loci-Kataloge21 um die Kategorie materieller Objekte. Die auf sie zurückgreifende Kulturarbeit ist demnach als vielfältige Assoziations- und Verknüpfungsleistung des Einzelnen wie des Kollektivs zu verstehen, in der materielle Gegebenheiten und immaterielle Deutungen sich wechselseitig bestimmen und unauflöslich ineinander verwickelt werden. Schließlich erscheinen die kultursymbolisch relevanten Orte und Dinge in Cécile und den Akten weniger als Speicher eines objektiv-unzweifelhaften Wissensbestands, denn als trigger individuel-

19 Vgl. Bornscheuer, Topik, S. 44, der betont, dass der topos bei Aristoteles „gleichzeitig Interpretandum und Interpretament“ sei. 20 Damit geht es in den Texten nicht nur um eine „Form des ‚Lesenlernens‘ der materiellen Dinge“, wie Julia Bertschik sie für Stifters Nachsommer treffend aufzeigt (vgl. dies., NebenSachen. Literatur als Gehäuse der ‚nächsten Dinge‘ im 19. Jahrhundert. In: Neumann, Stüssel (Hg.), Magie der Geschichten, S. 321–336, hier S. 324), sondern um ein ‚Lesenlernen‘ der Kultur durch die stete kollektive Relektüre der an öffentlichen Orten versammelten materiellen Dinge. Die gewaltsame semantische Fixierung und Schließung der Vogelsang-Kultur durch Veltens Erbeverbrennung konterkariert und überschreitet Krumhardt dann, indem er mit ihrer Protokollierung zugleich die zerstörten Ding-Symbole des Vogelsangs, die im ‚Feuer‘ nochmals luzide aufscheinen, als materielle und vielfältig interpretierbare in sein Archiv hinein rettet und sie dessen späteren Rezipienten, seinen Nachkommen, vor Augen und für Re-Signationen zur Disposition stellt. 21 Vgl. die Ausführungen im Kapitel II zu den schon in der Antike in sich stark heterogenen topoi- und loci-Kataloge aus abstrakten Denkmustern, ethischen Themen, Exempeln, Gleichnissen und „fertigen Sprachstücken“ wie Sprichwörter, Klassikerzitate und geflügelte Worte, die aus logischer Sicht ‚wilde‘ Kategorienmischungen darstellen.

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ler und durchaus heterogener Assoziationen, die ihrerseits aber wiederum häufig als durch vorgängige kulturelle Schemata geprägte kenntlich werden. Damit konzipieren die untersuchten Texte einen Kulturbegriff, der dem Individuum wenig Raum zur freien Entfaltung und zu souveränem Sprach- (und Schreib-)Handeln lässt, und machen es vielfach als „Struktureffekt, als Produkt gesellschaftlicher Zwänge, sozialer Determinanten, technischer Logiken, oder – kulturwissenschaftlich formuliert – als Knotenpunkt in einem diskursiven Gewebe“ 22 anschaulich. Gleichwohl führen beide Texte auch vor, dass gerade die vorgängigen Ding-, Text- und Sprachstrukturen Impulsgeber und Orientierungshilfen für individuelle Verstehens- und Selbstbehauptungsprozesse sein können. Von daher führt die beschriebene Aktualisierung der topischen techné in den beiden Texten eher zu einer Art „Synthesemodell“, das den auch aktuell noch diskutierten „Dualismus zwischen ‚kulturellen Strukturen‘ und ‚interpretierenden Akteuren‘“ 23 nicht akzentuiert, geschweige denn – wie ihr Zeitgenosse Simmel – zu einer „Tragödie der Kultur“ 24 verschärft.25 Dieser diagnostiziert am Ende des 19. Jahrhunderts ein immer größeres Auseinanderstreben von ‚subjektiver‘ und ‚objektiver Kultur‘, eine immer stärkere Abtrennung der kulturellen Akteure von den objektivierten Kulturleistungen (Kunstwerken, technischen Gegenständen, Institutionen etc.). In der Überhandnahme und Verfestigung der letzteren sieht er die „Tragödie“ des modernen Menschen begründet, der die Ob-

22 Jakob Tanner, ‚Kultur‘ in den Wirtschaftswissenschaften und kulturwissenschaftliche Interpretationen ökonomischen Handelns. In: Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart 2004, S. 195–224, hier S. 200. 23 Andreas Reckwitz, Die Kontingenzperspektive der ‚Kultur‘. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm. In: Jaeger, Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, S. 1–20, hier S. 16. 24 Simmel, Wandel der Kulturformen. In: Ders., Das Individuum und die Freiheit, S. 94–99, hier S. 95. 25 Vgl. Bornscheuers Annäherung des topischen Kulturmodells an Bourdieus handlungstheoretisches Habituskonzept, das diesen Dualismus ebenfalls dank der Fokussierung sozialer Praktiken überwindet. (Bornscheuer, Topik, S. 96 f. und 105). Bornscheuer sucht diesen Ausgleich in dem im Blick auf Aristoteles und Cicero erarbeiteten topos-Begriff theoretisch mit den vier Strukturmomenten der „Habitualität“, der „Potentialität“, der „Intentionalität“ und der „Symbolizität“ zu fassen: „Als reines Partikel der Tradition und Konvention betrachtet, erscheint der Topos als trivialer Gemeinplatz, als reines Moment geistreich-assoziativer Gedankenspiele tendiert der Topos zum Bonmot, als reiner Ausdruck intentionaler Lebensbedeutsamkeit nimmt der Topos die Form von Sentenz und Sprichwort an.“ Und schließlich steht „die symbolisch-formale Konzentration und Vereinzelung des Topos […] in Spannung zu seiner habituell veranlagten semantischen Polyvalenz und zu seiner Assoziierbarkeit an andere Topoi.“ (Bornscheuer, Topik, S. 102 und S. 105). Jeder konkrete topos-Gebrauch muss letztlich gesondert darauf hin untersucht werden, wie weit er die vier Strukturmomente ausreizt.

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jektivierungen der Kultur immer weniger verstehend durchdringen, geschweige denn souverän handzuhaben vermag. Etwas näher scheint dem topischen Kulturkonzept der untersuchten Texte dasjenige der Völkerpsychologen zu kommen, für die hier stellvertretend Heymann Steinthal und Moritz Lazarus, ein Lehrer Simmels, genannt seien.26 Ihr Zentralbegriff ist der der „Verdichtung“,27 der „alle kulturellen Objektivationen“ wie „Wörter, Begriffe, Ideen, Maschinen, Kunstwerke“ umgreift. Um diese „in einem Prozeß fassen“ und an ihnen „unterschiedliche Grade der Verdichtung“ ablesen zu können, „ist ein formales und quantifizierendes Denken nötig“.28 Dieses vor allem übernimmt Lazarus’ Schüler Simmel und begründet damit seine spätere „‚formale Soziologie‘“,29 die nach Andreas Reckwitz auf eine Abschwächung der Kontingenzperspektive hinausläuft, nämlich, so wäre zu ergänzen, auf die ‚gesetzmäßige‘ „Tragödie der Kultur“. Demgegenüber stellen die Völkerpsychologen der „Verdichtung“ die „Apperzeption“ 30 zur Seite, die den „Kernprozeß eines in Tätigkeit gezeigten Systems [bezeichnet, Ch. F.], das es erlaubt, Handlungen, Prozesse und Produkte auf den Ebenen des Individuellen, Sozialen und des Kulturellen als bruchlosen Zusammenhang von Differenzrelationen zu konstruieren.“ Dank der Erforschung dieses ‚Kernprozesses‘ entdecken die Völkerpsychologen immer wieder auch vielfältige Formen und Maße neuerlicher ‚Verflüssigungen‘ des Objektivierten durch Individuen, Techniken oder Institutionen, so dass sie zu einer „nicht kontra- sondern intra-soziale[n] Definition des Individuellen“ 31 gelangen. Bedenkt man, dass Studien zum Kulturkonzept der Völkerpsychologen ebenfalls Aktualisierungen von „uralten Vorstellungen der Inventionslehre und der Metaphern-Theorie aus der rhetorischen Tradition“ 32 verzeichnen 26 Zur persönlichen Bekanntschaft Fontanes und Lazarus’, die sich auf beider Konzepte eines ‚kollektiven Imaginären‘ ausgewirkt haben dürfte, vgl. v. Graevenitz, Fontane, S. 90 ff. Stüssel sieht in der realistischen Literatur generell „Moritz Lazarus’ kulturtheoretisches Konzept der ‚Verdichtung‘ literarisiert.“ Vgl. Stüssel, Verschollen, S. 267. 27 Alle Zitate in diesem Satz vgl. v. Graevenitz, ‚Verdichtung‘. Das Kulturmodell der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. In: kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 12 (1999): … Der teilnehmende Leser … Erkundungen zwischen Ethnologie und Literatur, hg. v. Peter Braun, Peter J. Bräunlein und Andrea Lauser, S. 19–57, hier S. 56. 28 V. Graevenitz, ‚Verdichtung‘, S. 56; die beiden letzten Hervorh. im Original. 29 Reckwitz, Kontingenzperspektive, S. 10. 30 V. Graevenitz, ‚Verdichtung‘, S. 46 f. (Hervorh. im Original) und S. 56. Diesen Begriff übernehmen sie von Johann Friedrich Herbart, der ein „systemisch zu nennendes Verständnis von Psychologie“ entwickelte (vgl. v. Graevenitz, ‚Verdichtung‘, S. 30, Hervorh. im Original). 31 V. Graevenitz, ‚Verdichtung‘, S. 56. 32 V. Graevenitz, ‚Verdichtung‘, S. 48 f. Vgl. auch Christian Köhnke, Einleitung. In: Moritz Lazarus, Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, hg., mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen v. Klaus Christian Köhnke, S. IX–XLII, hier XXXII ff. Köhnke macht insbesondere Cicero als Impulsgeber für Lazarus’ Kulturbegriff und vor allem für den von ihm

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konnten, erhalten die hier angesprochenen Ähnlichkeiten zum Kulturkonzept der Texte Fontanes und Raabes besonderes Gewicht. Der stark eingeschränkte, aber vorhandene Spielraum des Individuums wird gerade in den fiktiven Leserfiguren anschaulich, die im Zentrum der behandelten Texte stehen. Im Zuge ihrer Geschichtsforschungen werden diese Figuren zu Kulturbeobachtern zweiter Ordnung und nehmen mit ihren inventorischen Lektüren eine reflexive Distanz zur jeweiligen kulturellen Formation ein: Gordon als Beobachter auf dem Balkon und durch das Fenster in den Momenten des Rückzugs, Krumhardt allein beim Aktenstudium in seinem nächtlichen Arbeitszimmer. In beiden Fällen können realer Leser oder Leserin als nunmehr Beobachter dritter Ordnung beobachten, wie ihr fiktives alter ego in seiner zweifach metapoietischen Position (bzgl. der Konstituierung von Geschichte und kultureller Formation) unvermeidlich zugleich Involvierter und Betroffener ist, der die eruierten sozio-kulturellen Rahmen seinerseits mehr oder weniger unwillkürlich und offensichtlich zu machtpolitischen Grenzziehungen nutzt. Der distanzierte Standpunkt topischer Reflexion ist ersichtlich kein gesicherter, die Involviertheit des Textproduzenten in den Stoff seiner projektierten Erzählung ist immer wieder sowohl als Problem als auch als Chance erkennbar. In Cécile ist es gerade Gordons erotische Interessiertheit an Cécile und paradoxerweise seine starke Ausrichtung an (anachronistischen) gesellschaftlichen endoxa sowie deren stereotyp-moralischer Ausdeutung, die ihn zu einem Beobachter werden lassen, der das sozio-kulturelle Rahmengefüge um Cécile in ‚heilsame‘ Bewegung zu versetzen vermag – etwa im Sinne eines im ‚Spiel-Rahmen‘ der Übertragung teilnehmenden Therapeuten. Und der nahe liegenden kausallogischen Lesart, Gordons unvermittelte Aufgabe seiner ‚distanzierten Teilnahme‘ im paradoxen Rahmen des ‚Als-ob‘ ließe sich eindeutig auf eben diese sexuelle bzw. gesellschaftliche Interessiertheit zurück führen, widerspricht Fontanes Text, indem er mit Hilfe melodramatischer Strukturelemente die Zufälligkeit dieser melodramatischen Wende von Gordons Cécile-Lektüre herausstellt. Ähnlich

geprägten Begriff der ‚objektiven Kultur‘ aus: „‚Natura altera‘, ‚zweite Natur‘ oder eben Kultur im Sinne eines Inbegriffes aller ‚Kulturgüter‘, – diese Vorstellung und dieser Aspekt einer ‚materiellen Kultur‘ geht unzweifelhaft auf die Cicero-Lektüren von Lazarus zurück, diesmal aus ‚De natura Deorum‘, ‚Vom Wesen der Götter‘, wo Cicero den stoischen Pantheismus referiert. Denn ‚natura altera‘ bezeichnet freilich schon seit Cicero einerseits jenes äußere, inselgleiche Reich der freilich erst von Lazarus und seinen Nachfolgern so bezeichneten ‚materiellen Kulturerrungenschaften‘. Und andererseits erwirbt in dieser selbstgeschaffenen Lebenswelt auch der ‚innere Mensch‘ eine ‚zweite Natur‘, und jetzt ist gemeint: eine andere und veränderte Lebensweise, und zwar durch ‚Gewöhnung‘, die sich – so Lazarus – dann zur Sitte und zu sozialen Formen verdichtet, und die so als zweiter Pol, neben den materiellen Kulturgütern, in den ‚objektiven Geist‘ eingeht.“ (Köhnke, Einleitung, S. XXXIV; alle Hervorh. im Original).

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verwickelt stellt sich Krumhardts Beobachterstatus in den Akten dar: Auch sein noch so ‚nüchternes‘ und auf interpretative Offenheit gerichtetes Protokollieren der sozio-kulturellen Praxis (auto-)biographischen Erzählens im Vogelsang, auch seine noch so große Bemühung um Selbstaufklärung über die eigenen Selektionsgesichtspunkte (topoi/Vor-Urteile) führen nicht aus der sozio-kulturellen Rahmungspraxis und damit aus der Setzung von Grenzen heraus. Einerseits ist sein autobiographisches ‚writing back‘ in die alte Gemeinschaft des Vogelsangs als Selbstbehauptung und kritische Überwindung gewaltsamer Grenzziehungen zu lesen, andererseits wird es spätestens mit der (denn doch argumentativen) Überbietung Veltens als Kulturstifter des Vogelsangs auch als gesteigerte Wiederholung solcher Grenzziehung kenntlich. Es gibt keine Er-setzung, die nicht auch Setzung, keine Ent-grenzung, die nicht neuerliche Grenzziehung, keine Re-vision, die nicht auch Vision wäre. Bezeichnender Weise verdanken sich die abschließenden Grenzziehungen wiederum vorgeprägter topoi, denn beide Geschichtsforscher rekurrieren, wenn sie die Eruierung und Konstellierung der sozio-kulturellen Rahmen machtpolitisch für sich zu nutzen suchen, auf überkommene Erzählschemata: In Cécile ist dies die melodramatisch-stereotype Ehebruchs- und Duellgeschichte, in den Akten die noch ältere figuraltypologische Überbietungsfigur christlicher Heilsgeschichte. Beachtlich ist schließlich die Herausstellung des Kontingenzcharakters der neuerlichen stereotypen Grenzziehungen, der die Folgerung plausibilisiert, dass alles auch hätte anders kommen können im positiven wie negativen Sinn, etwa mit denselben Beobachtern an einem anderen Ort in einem anderen Moment oder mit anderen Beobachtern am selben Ort im selben Moment. Mit dem „Fortschrittsoptimismus“ und „Modernisierungsoptimismus“, der den Kulturanalysen der Völkerpsychologen noch eignet,33 ist dies nicht mehr kompatibel. Diese Ausführungen zeigen: Vorweggenommen sind in Fontanes und Raabes Texten sowohl theoretische Reflexionen zum Leser (und dessen kulturellen Codes) als ‚eigentlichem‘ Textproduzenten in der späteren Literaturwissenschaft (z. B. bei Barthes) als auch Problematisierungen des ‚teilnehmenden Beobachters‘ in der neueren, ethnographisch inspirierten Kulturwissenschaft.34 Obwohl die erzählten topischen Lektüren in beiden Texten fraglos auch und insbesondere auf die Lektüre von Texten im wörtlichen Sinn bezogen werden sollen, ist der Kulturbegriff, den sie implizieren, nicht ausschließlich textualistisch zu fassen

33 V. Graevenitz, ‚Verdichtung‘, S. 56, Hervorh. im Original. 34 Vgl. stellvertretend für viele Publikationen zum Thema die 12. Ausgabe der Zeitschrift kea mit dem Titel „… Der teilnehmende Leser … Erkundungen zwischen Ethnologie und Literatur“ von 1999.

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(im Sinne der Formel ‚Kultur als Text‘).35 Vielmehr wäre von einem praxeologischen Kulturbegriff zu sprechen, der den „‚Ort‘ von Kultur“ 36 im Zusammenspiel von Diskursen, Akteuren, Orten, Techniken und Dingen unterschiedlichster Medialität (also auch Texten) ausmacht und dieses Zusammenspiel für jeden Einzelfall praktischer Betätigung eigens und neu zu bestimmen hat. Das bestätigen auch die in den Textanalysen jeweils herausgearbeiteten Linien, die sich von Fontanes und Raabes inventio-Inszenierungen zu konkreten soziologischen und kulturhistorischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts ziehen lassen. Mit Noras Studie zu den ‚Gedächtnisorten‘ als Brennpunkten der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts, den sozio- bzw. ethnologischen ‚Rahmenanalysen‘ Goffmans und Batesons sowie der Amateurhistoriographie bzw. oral history sind jeweils wissenschaftliche Ansätze assoziierbar, die, vom heutigen Standpunkt der Kulturwissenschaften aus gesehen, innerhalb ihrer Disziplinen eine kulturalistische Perspektive befördern. Dies insofern, als sie den herkömmlichen Gegenstandsbereich ihrer Fächer um alltagspraktische Phänomene erweitern (Museen, Gedenkfeiern, Lehrbücher, alltägliches Erzählen, Spiel, Täuschung, Lokalgeschichte und die Geschichte des ‚kleinen Mannes‘) und deren Entstehung und Funktionieren mehrheitlich auf das Zusammenwirken „übersubjektive[r] symbolische[r] Strukturen“ und „subjektiv interpretativer Leistungen“ 37 zurückführen. Speziell der Cécile-Text mit seinem kollektiven Spaziergang über die topischen loci, der als getanzte Schönheitslinie und ciceronianisch inspirierte ‚Jagd‘ nach einer copia rerum et verborum zu Céciles Geschichte gelesen werden kann, und den oft narrativen Erschließungen der aufgesuchten loci im Sinne von kulturellen Rahmen zeigt darüber hinaus Affinitäten zu Tim Ingolds seit den späten 1980er Jahren entwickeltem Verständnis von Kultur,38 das deren Zusammenhang stiftendes Wissen als „storied knowledge“ 39 konzipiert, das in und durch Geschichten als initiatorische Einweisungen im Zuge eines gemeinschaftlichen „wayfaring“ 40 (Wanderns, Umherstreifens) weitergegeben wird. Kulturellen Zusammenhang beschreibt Ingold entsprechend als dynamisch-variables, gleichwohl bewährten und eingeübten Fährten folgendes, aber nicht teleologisch gerichtetes „inter-

35 Vgl. zu diesem kulturwissenschaftlichen Schlüsselbegriff insbesondere die Sammelpublikation von Doris Bachmann-Medick (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1998. 36 Reckwitz, Kontingenzperspektive, S. 16. 37 Reckwitz, Kontingenzperspektive, S. 15. 38 Vgl. insbesondere Tim Ingold, Stories against classification: transport, wayfaring and the integration of knowledge. In: Being alive. Essays on moving, knowledge and description, New York 2011, S. 156–164. 39 Ingold, Stories, S. 159. 40 Ingold, Stories, S. 161 f.

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laced meshwork“ 41 – ein Bild, das dem verwickelten Durcheinander der im Contretanz beschriebenen Schönheitslinien sehr nahe kommt. Raabes Fiktion archivalischer Geschichtsforschung und -repräsentation in den Akten wiederum lässt sich zwanglos an die neuere kulturwissenschaftliche Diskussion zum Archiv anschließen. Diese hat sich, angeregt durch Michel Foucaults wissensarchäologische Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre sowie Jacques Derridas Plädoyer für das „Projekt einer allgemeinen Archiviologie“ 42 aus den 1990er Jahren, zu einem „‚Diskurs des Archivs‘“ entwickelt, der „quer durch verschiedene Bereiche der Kultur, durch Kunst und Wissenschaft, Theorie und Praxis, historische und philosophisch durchsetzte Wissenskulturen“ 43 verläuft. Wichtige Einsichten dieser ‚Archiviologie‘ zur epistemologischen und soziokulturellen Funktion des Archivs führt auch Krumhardts topisches Archiv vor, indem es sich zunächst als ein Projekt schriftlicher Gedächtnissicherung und objektiver Speicherung des Vorgängigen präsentiert, das dann auch als kritische Neu- und Umschrift von Geschichte kenntlich wird (‚actenmaeßige‘ vs. ‚durcherzählte‘ Biographie), die gleichwohl selbst wieder die Grenzen (Foucault: das „Gesetz“) dessen, „was gesagt werden kann“ zu Veltens und des Vogelsangs Geschichte festschreibt. Mit seiner spezifischen Archivierung von Veltens Verbrennung des „Herzensmuseums“ insinuiert Krumhardt, dass selbst noch die Zerstörung von Archiven der Erhaltung solcher Gesetzeskraft, hier der Deutungshoheit über die Vogelsang-Kultur, dienen kann. Auf diese Weise führt Krumhardts Archiv vor, dass die zentralen ‚Versprechen‘ des Archivs44, die Krumhardt auch formuliert – seine Nutzbarkeit (Produktivität), seine Vollständigkeit (Universalität) und seine Ermöglichung von Neujustierungen des Vergangenen (Transformativität)45 – nicht ohne ihre problematischen Kehrseiten der „Macht“, ja „Gewaltfömigkeit“, des ausgeschlossenen „Rests“ und des prozessierten „Verlusts“ zu haben sind.46 Mit den erzählten topisch verfahrenden Suchprozessen gewinnen die Texte also eine Perspektive, die man heute ‚kulturalistisch‘ nennen würde und aus 41 Ingold, Stories, S. 163. 42 Vgl. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997, S. 61. 43 Vgl. Knut Ebeling und Stephan Günzel, Einleitung. In: Dies. (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin 2009, S. 7–26, hier S. 7. 44 Jürgen Fohrmann, ‚Archivprozesse‘ oder Über den Umgang mit der Erforschung von ‚Archiv‘. Einleitung. In: Hedwig Pompe und Leander Scholz (Hg.), Archivprozesse: Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 19–23, hier S. 22 f. 45 Zu diesen drei Archiv-Bestimmungen und ihren problematischen Kehrseiten vgl. Hedwig Pompe und Leander Scholz, Vorbemerkung der Herausgeber. In: Dies. (Hg.), Archivprozesse, S. 9–18, hier S. 10 ff. 46 Derrida fasst diese negative Seite als das „Achivübel (mal d’archive)“; so lautet auch der Titel der französischen Originalausgabe von 1995 (vgl. Derrida, Archiv, S. 40).

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der sich schließlich ein Literaturbegriff ableiten lässt, der den Roman nicht vor die Alternative stellt, entweder eine autonom-artistische Kunstform oder ein quasi-philosophisches, etwa soziologisches oder kulturanalytisches und also heteronomes Erkenntnismedium des Realen zu sein.47 Vielmehr zeigen die Texte eine enge, nicht entwirrbare Verschränkung bzw. Verwicklung zwischen Kunst und Realität, Fiktionalität und Faktualität im Sinne künstlerischer Realitätsillusion und epistemologischer Realitätsanalyse auf. Gerade dank der auf der Ebene der histoire problematisierten inventorischen Prozesse wird deutlich: Auch eine vermeintlich autonome künstlerisch-artistische Literatur (wie die in Cécile zitierte arabeske) vollzieht einen sozialen Akt,48 und auch eine faktuale Literatur, die sich als getreuer Spiegel der Realität versteht (wie die in den Akten inszenierte aktenmäßige Freundesbiographie), kommt nicht ohne imaginärartistische Konstruktionen aus, schon allein deshalb nicht, weil es die alltäglichen Verständigungsformen und -prozesse über das Reale auch nicht können. Von ‚realistischer‘ Literatur wäre im Blick auf beide Texte in dem Sinn zu sprechen, dass sie vorgängigen sozialen Rahmen der zeitgenössischen Gesellschaft in Form der fiktiven inventio-Szene, also performativ, einen imaginärkünstlichen Rahmen des ‚Als-ob‘ hinzufügen, innerhalb dessen sie, um mit Goffman zu sprechen, diese realen Rahmen ‚modulieren‘. Das im logischen Sinn Paradoxale des modulierenden Spielrahmens, nämlich zugleich die Realität wie auch die Nicht-Realität des Gezeigten zu behaupten, verdecken die Texte nicht, sondern sie thematisieren immer wieder die Unsicherheit der dank dieses Rahmens gewonnenen Einsichten. Sie betreiben also gerade keinen „Etikettenschwindel“ 49 gegenüber dem Leser oder der Leserin, sondern heben den fiktiven Spielrahmen der Literatur als wichtiges psychosoziales Dispositiv im Sinne Batesons und Goffmans hervor, das den Leser auf die Relevanz sozialer Rahmen zu stoßen, ihre unwillkürliche Anwendung bewusst zu machen vermag, und ihm durch dieses Rahmen- oder ‚topos-Bewußtsein‘ kulturelle Kompetenz vermittelt.50 Gemeint ist damit die Kompetenz zur meta-kommunikativen Verstän47 So noch Plumpe, Einleitung, S. 82. Beides zugleich realisieren zu wollen, kommt für ihn einem „Etikettenschwindel“ gleich (vgl. Plumpe, Einleitung, S. 83). Demgegenüber kann man mit Pethes festhalten, dass das „Genre der Archivfiktionen […] eine Perspektive auf die Theorie von Prosa erlaubt, die nicht der Alternative von immanent-ästhetisch oder kontextuell-sozialhistorischen Ansätzen folgt.“ Raabes Akten, so hoffe ich deutlich gemacht zu haben, zeigen aber nicht nur, dass ihre archivalische „Prosa zwischen den Polen ‚Ästhetik‘ und ‚Gesellschaft‘ vermitteln kann“ (vgl. Pethes, Archive, S. 141), sondern dass auch jede vermeintlich noch so ‚immanente‘ Ästhetik unmittelbar ‚gesellschaftlich‘ wirkt. 48 Vgl. Karen Burke LeFevres Studie Invention as a Social Act, Carbondale, Edwardsville 1987. 49 Plumpe, Einleitung, S. 83. 50 Zur Funktion von topoi oder ‚sozialen Rahmen‘, ein topos- bzw. Rahmenbewusstsein und damit auch kulturelle Kompetenz zu vermittlen, vgl. die Ausführungen in den Kapiteln III.2.6.1 und III.2.7.2.

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digung über die innerhalb des Rahmens theatralisch inszenierten Primär- und Sekundärprozesse, so dass diese als nicht-natürliche Gegebenheiten, als kontingente kulturelle facta verstanden werden können, die sich Setzungen der „gesellschaftlichen Einbildungskraft“ verdanken und deshalb prinzipiell verhandelbar, mithin veränderlich sind.51 Damit eröffnen Fontanes und Raabes Texte eine ganz andere Sicht auf das von Eisele und Plumpe beklagte „Paradox“ des poetischen Realismus, das am ehesten für dessen programmatische Profilierungen als „Etikettenschwindel“ zu beklagen sein mag. Diese alternative Sicht misst der Literatur und näherhin dem Roman einen gesellschaftlichen Stellenwert für die Eröffnung einer kulturpoietischen Meta-Perspektive bei. Mit seiner performativen Setzung eines paradoxen Spielrahmens bildet er, wie andere Modulationen auch (z. B. Theater, Therapie, Spiel), ein unterscheidbares Sekundärphänomen zu alltäglichen Primärrahmen, ist von diesen aber nicht fundamental geschieden und hat auch keinen höheren Stellenwert, als er anderen Modulationen zukommt. Beide Texte vermitteln die Einsicht, dass Realität von Nicht-Realität zu unterscheiden, keine Frage der Ontologie ist, sondern eine der Einübung in die gesellschaftliche Kommunikations- und Interpretationspraxis, zu der der Roman (nach dem Vorbild des Theaters) beitragen kann. Das hat nichts Revolutionäres – aus der gesellschaftlichen Topik, dem unentwirrbaren „meshwork“ soziokultureller, also real-imaginärer Rahmungen ist prinzipiell, auch durch den Roman nicht herauszukommen. Er fügt diesem „meshwork“ ‚bloß‘ einen weiteren real-imaginären Rahmen (respektive eine weitere „storyline“ im Sinne einer wiederum in sich verwickelten textura) hinzu. Doch ebenso wenig ist dies mit unkritischem Positivismus oder resigniertem Konservatismus zu verrechnen. Die Texte insistieren vielmehr auf dem so gewonnenen Spielraum, in dem sie eine kulturkritische und wiederum -poietische, nämlich Kultur (potentiell) erweiternde, Funktion erfüllen können.

51 Von hier aus lässt sich die von Fontane in seiner Freytag-Rezension empfohlene Orientierung des Romans am Drama präziser fassen: Wie sich darin schon mit der zitierten ContretanzSzenerie andeutet, die dem Leser eine Meta-Perspektive von der ‚Galerie‘ aus eröffnet, geht es bei dieser Orientierung weniger um die erzählerische Realisierung eines dramentypischen plots oder um die narrative Erzeugung einer möglichst ungebrochenen Realitätsillusion. Solche Realitätsillusion ist dem Drama auf der Theaterbühne auch gar nicht abzuschauen, weil es sie nicht ohne Weiteres herstellt – das zumindest hält der Cécile-Text im Blick auf „Theater und Theaterbesuch“ (C 139) fest: „‚man muß oft hingehen, um Vergnügen daran zu finden; wer selten hinkommt, leidet unter der Unwahrheit dessen, was er sieht.‘“ (Hervorh. im Original) Weit eher dürfte es Fontane also um ein am ‚Theater-Rahmen‘ zu schulendes Verständnis von ‚Theatralität‘ gehen, die auch der Roman einsetzen kann, um Realität in einem Rahmen des ‚Als-ob‘ sowohl ‚als reale‘ zu zeigen als auch ihren ‚Realitäts‘-Status zu reflektieren und zu problematisieren.

Bildnachweise Abb. 1:

Abb. 2: Abb. 3:

Abb. 4:

Vergrößerter Bildausschnitt aus „Tafel 2“. In: Hogarth, William, Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen, Berlin 1754. Tafel 2. In: Hogarth, William, Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen, Berlin 1754. Moritz von Schwind, Titelkupfer zu Der gestiefelte Kater. In: Günzel, Klaus, Die deutschen Romantiker. 125 Lebensläufe. Ein Personenlexikon, Zürich 1995, S. 315. Erstveröffentlichung im Münchner Bilderbogen Nr. 48, München 1850. Jahrgangstitelblatt der Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt von 1876, Leipzig 1876.

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Personenregister Antal, Frederick 44, 48 Aristoteles 7–9, 15, 19–24, 30–32, 36, 77, 84, 88, 101, 108, 112, 120, 242 f. Auerbach, Erich 227 Aust, Hugo 127

Doebeling, Marion 16, 72 Downes, Daragh 57, 73 Drath, Marie 220 Droysen, Johann Gustav 25 f., 95 f., 162, 209–211, 226

Bachleitner, Norbert 68–70 Bachmann-Medick, Doris 247 Bahners, Patrick 231 Barthes, Roland 9, 17, 19 f., 32, 34, 51, 73– 75, 81, 84, 104, 113, 115, 119, 139, 151, 163, 188, 190, 193, 195, 199, 203, 208, 246 Baßler, Moritz 12, 157, 222 Bateson, Gregory 108–112, 114, 131–135, 247, 249 Becker, Sabina 12, 100, 126 f., 130 Beckett, Samuel 230 Begemann, Christian 12, 28, 41, 80, 212 Berndt, Frauke 12, 145 f., 148, 159, 197, 202 Bertschik, Julia 242 Blanchot, Maurice 230 Blasberg, Cornelia 115 Bornscheuer, Lothar 9 f., 13, 16–18, 20 f., 23–25, 30–37, 74, 77 f., 84 f., 88, 90, 93, 101–102, 112, 120, 153, 156, 235, 240, 242 f. Bourdieu, Pierre 34 f., 243 Bowman, Peter James 73, 75, 113, 119, 137– 139 Brüggemann, Heinz 71, 92, 126, 129 Burckhardt, Jacob 55, 77 Burke LeFevre, Karen 249 Busch, Werner 62

Ebeling, Knut 248 Eisele, Ulf 117 f., 250 Emrich, Berthold 9, 79, 197 Ernst, Wolfgang 156 Eschkötter, Daniel 71, 137–139 Falk, Christine 39, 150, 179 Fischer, Oliver 145, 148 f., 155, 231 Fohrmann, Jürgen 6, 14 f., 17, 51, 75, 104, 161, 248 Fontane, Theodor 3 f., 6 f., 10–14, 16, 28, 38–143, 154, 201, 231–234, 236, 239– 241, 244–247, 250 Foucault, Michel 21 f., 31, 157, 162, 248 Freud, Sigmund 127–130, 136 f. Friedrich, Gerhard 89, 98 Frye, Northorpe 226, 228

Calboli Montefusco, Lucia 187 Campe, Rüdiger 146, 184 Chamisso, Adelbert von 178, 191, 234 Cicero, Marcus Tullius 7, 9, 15 f., 18–20, 22, 24, 30, 32, 34, 36 f., 76–78, 80 f., 83 f., 87 f., 90, 101–103, 108, 120 f., 167, 193, 235, 243–245, 247 Curtius, Ernst Robert 8, 17, 28–30, 33 f.,

Geisler, Eberhard 212 f., Genette, Gérard 13 Geppert, Hans Vilmar 142, 149, 220 Geulen, Eva 16, 26 f., 30 Giuriato, Davide 146 Goethe, Johann Wolfgang von 25, 45, 173, 211, 215, 221 Goffman, Erving 43, 108, 110–112, 131, 247, 249 Goldmann, Stefan 19, 25, 29, 166, 194 f., 197 f., 201 Grätz, Katharina 81, 220 Graevenitz, Gerhart v. 17, 20, 22–25, 27 f., 32 f., 35, 41, 43, 45–48, 50, 53, 55 f., 61 f., 65 f., 68, 70 f., 79, 115–117, 191– 193, 235 f., 240 f., 244, 246 Günter, Manuela 62, 68 Günzel, Stephan 248

Derrida, Jacques 248 Dilthey, Wilhelm 41, 164–166, 178

Haberer, Anja 130 Härter, Andreas 181

https://doi.org/10.1515/9783110572919-008

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Personenregister

Hagedorn, Christian Ludwig von 45 Halbwachs, Maurice 96, 108 Hansen, Olaf 228 Hebekus, Uwe 8, 11 f., 14 f., 17, 23, 25 f., 30, 34–37, 71, 74, 79, 87 f., 93, 96, 161 f., 197, 204, 226, 232 Hellmann, Winfried 1, 6 Helmstetter, Rudolf 4, 11, 28, 53, 62, 68, 71 f., 107 f. Henkel, Gabriele 179 Herder, Johann Gottfried 45 Heuser, Magdalene 73, 140 Hitzig, Julius Eduard 166 f., 177–182, 185– 193, 195–197, 199 f., 203, 224, 233 f., 236–238 Hoffmann, E. T. A. 45 Hogarth, William 44–50, 52, 60 f., 66 f., 78, 107, 110, 124, 130, 233 Höltgen, Karl Josef 20 Hoffmann, Konrad 30, 178, 181, 185–187, 191, 195, 224, 234 Hufeland, Christoph Wilhelm 194 Ingold, Tim 247 f. Jauß, Hans Robert 209–211 Jolles, André 202 Jückstock(-Kießling), Nathali 145, 148, 154, 158, 169, 171 Kant, Immanuel 19 f., 52, 78, 90, 211, 240 Kazmaier, Martin 176 Kiefer, Sascha 73 Knape, Joachim 17 Köhnke, Christian 244 f. Koselleck, Reinhart 14, 155 Krebs, Sandra 145, 148, 174 f., 197, 201 Kühlmann, Wilhelm 18, 79 Kühne, Udo 189 f. Lachmann, Renate 17, 28, Lausberg, Heinrich 8 Lavater, Johann Caspar 45 Lazarus, Moritz 53, 55, 125, 244 f. Lessing, Gotthold Ephraim 45 Liebrand, Claudia 53, 100 Lohmann, Ingrid 26

Luhmann, Niklas 69 Ludwig, Otto 41–43, 117 f. Mainberger, Sabine 45, 48–50, 52, 66 f., 78, 109, 130 Martínez, Matías 58 Martini, Fritz 1, 5 Mendelssohn, Moses 45 Menke, Bettine 71, 137–139 Merck, Johann Heinrich 45 Michalski, Anja-Simone 144, 216 f. Milton, John 49 f., 124 Mittenzwei, Ingrid 92, 98, 100, 141 f. Mojem, Helmut 12, 222 Moser, Natalie 68, 146, 148, 220 Moussa, Brahim 145, 148 f., 186, 212 Müller, Harro 200, 209 f. Neumann, Michael 201 Nicolosi, Riccardo 17 Niethammer, Lutz 237 Nietzsche, Friedrich 157, 191 f., 228 Nora, Pierre 85–92, 94–96, 101, 104, 236, 247 Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 14, 45 Oesterle, Günter 44 f., 47–49, 59, 61, 116, 124 Ort, Claus-Michael 80 Parr, Rolf 154 Paul, Jean 45, 146, 220 Paulhan, Jean 230 Peeters, Wim 230 Pethes, Nicolas 14, 16, 146, 148, 150, 154, 157 f., 163, 169, 249 Plett, Bettina 100, 115 Plett, Heinrich F. 17, 21–23 Plumpe, Gerhard 6, 41 f., 52, 79, 118 f., 249, 250 Pöggeler, Otto 28, 33 Pompe, Hedwig 248 Pornschlegel, Clemens 41 Preisendanz, Wolfgang 144 f., 148, 171, 184, 230 Quinn, Arthur 189

Personenregister

Raabe, Wilhelm 2 f., 6–8, 10, 12–14, 16, 28, 68, 143–230, 231–234, 236, 238 f., 241, 245–250 Ranke, Leopold von 162, 190, 209–211, 231 f. Reckwitz, Andreas 243 f., 247 Reimbold, Ernst Thomas 93 Roebling, Irmgard 145, 148, 174, 202, 212, 214 Rosenfeld, Hans-Friedrich 4 Sabry, Randa 13 Saftien, Volker 9 f., 20, 34, 40, 53 f., 79, 103 Sagarra, Eda 71 Sammons, Jeffrey L. 1, 5 f. Scaglione, Aldo 187 f. Schäfer, Armin 71 f., 137–139 Schanze, Helmut 17 Scheffel, Michael 58 Schiller, Friedrich 45, 52, 55, 78, 130, 179, 188, 191, Schirren, Thomas 17 Schmidt, Julian 41 f., 139, Schmidt-Biggemann, Wilhelm 9, 14–16, 18– 20, 22, 24, 79, 117, 151 f., 154–157, 193 f., 198, 203, 220, 238 Schneider, Sabine 212 Scholz, Leander 161, 248 Schwind, Moritz von 62 f. Scott, Walter 25, 209 f. Sengle, Friedrich 172–174, 190 f., 198, 234 Seume, Johann Gottfried 194 Simmel, Georg 52 f., 107 f., 120 f., 125, 221, 243 f. Simon, Ralf 212 Spielhagen, Friedrich 1–8, 13, 41, Spillner, Bernd 156 Steinecke, Hartmut 41, 100, 115 Steinthal, Heymann 244 Stierle, Karlheinz 43, 155

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Stingelin, Martin 146 Stöckmann, Ingo 187 f. Strätling, Susanne 17 Struck, Wolfgang 93, 161 f., 164 Stüssel, Kerstin 220 f., 244 Sybel, Heinrich von 173, 190, 199, 209 f. Tanner, Jakob 243 Tau, Max 60, 113 Thielking, Sigrid 145 f., 148, 158 Thomé, Horst 89, 102, 127, 129, 133–138, 140, 142 Thums, Barbara 212, 214 Todorow, Almut 17, 25 Torra, Elias 26 Ueding, Cornelie 100 Ueding, Gert 17 Vedder, Ulrike 212 Viehweg, Theodor 17, 25, 28 Villmar-Doebeling, Marion 16, 72 Villwock, Jörg 228 Vischer, Friedrich Theodor 42, 45, 79, 213 Vismann, Cornelia 159, 164, 166, 196, 229 Volkmann, Richard 26 Warburg, Aby 29 f., 220 Weber, Lilo 102, 127, 130 f. Weigel, Sigrid 166 White, Hayden 95, 202 Wiedemann, Conrad 18, 20, 74 Wieland, Christoph Martin 45, 194 Wieland, Wolfgang 24 Wirth, Uwe 146 Zanetti, Sandro 146 Zirbs, Wieland 145, 148 Zola, Emile 69 f.

Sachregister Die Begriffe ‚locus‘, ‚topos‘‚ ‚Topik‘, ‚Rhetorik‘, ‚Kultur‘ und ‚Roman‘ sowie die zugehörigen Adjektive und Komposita werden wegen ihrer häufigen Verwendung nicht eigens im Sachregister angeführt.

Actio 189 Agon/-istik, agonal 21, 23, 35 f., 153, 171, 201, 212, 215, 222, 228 Akten 7, 11, 13, 143, 145–147, 150, 152–172, 177 f., 180–187, 192, 195–205, 210, 213 f., 218 f., 222, 224–227, 229 f., 232– 234, 236, 238, 240–242, 245, 249 Amateurhistoriographie 161–167, 173, 196, 247 Anekdote 93–100 Antike, antik 3 f., 7–9, 12, 17–21, 29, 31, 35, 49, 79, 87, 151, 153, 161, 191, 197, 227, 235, 240, 242 Arabeske 38 f., 42–50, 52, 55 f., 59–68, 70–83, 98, 100, 104–107, 112 f., 115–117, 121–124, 129, 134, 136, 139–142 Archiv 10, 12, 17 f., 28, 30, 85, 150–152, 154–158, 160–163, 171–174, 177–179, 181, 183–185, 190, 192, 198–201, 203 f., 214, 219–222, 224 f., 229 f., 232, 234, 237–42, 248 f. Argument, argumentieren, argumentativ 8 f., 17–20, 23–25, 31–36, 66, 77, 84, 88, 151–156, 163, 169, 171, 187, 193 f., 196– 198, 202–204, 215, 224, 226–229, 238, 246 Ars memoriae 9 f., 12, 79 Ars topica 10, 12, 26, 75, 79, 150 Augenzeugen, Augenzeugenschaft 152, 157, 196 f., 248 f., 199, 201–203, 206, 237

Christologisch 222, 227 Contretanz 38–56, 62, 66 f., 71, 73, 76, 80, 82 f., 90, 105 f., 112, 114, 121 f., 124, 130, 139 f., 233, 236, 248, 250 Copia 20, 37, 77, 116, 119

Barock, barock 19, 22, 24, 72, 98–100, 188 Biographie, Biograph, biographisch 7, 11, 19, 25, 102, 115, 138, 143, 146, 150–152, 154, 157–159, 161, 164–166, 172–205, 209, 214, 218–221, 232, 234, 236–238, 246, 248 f.

Facta, Faktum, Fakten, faktual 4, 7 f., 13, 69–71, 136, 143, 149 f., 183, 231–233, 249 f. Feuilletonroman 13, 67–70, 233 f. Figura, figuraltypologisch 227–238, 246 Figura serpentinata 48, 50

https://doi.org/10.1515/9783110572919-009

Dialektik, dialektisch 21, 23 f., 27, 31, 36 f., 56, 74, 76, 105, 151, 153, 193, 212, 235 Dichtung, Dichter/-in, dichten, Dichtungsverständnis 1–6, 8, 13 f., 16, 19, 25, 42 f., 71, 80, 117–119, 165 f., 173, 178 f., 181, 188, 191, 200, 211, 215, 226, 234 f. Dinge, Ding- 48, 60, 70, 81, 85, 94, 95, 117, 123, 142, 212–219, 222, 227, 229, 241– 243, 247 Dispositio 153, 187–189, 191, 195, 202, 206 Elocutio 78, 188–190, 206 Endoxa, endoxisch 8, 10, 14, 31, 92, 113, 235, 239, 245 Enzyklopädie, enzyklopädisch 9, 79, 151, 154, 156 f. Erbe/-n, ver-, beerben 97, 144, 169, 182, 184, 188, 197, 204 f., 212–217, 225, 229, 242 Erzählen, Erzähl- 1, 3–8, 10–14, 38–40, 42– 45, 55 f., 58, 61, 68–71, 75, 78 f., 81, 95–99, 103, 109, 131, 134, 136, 140 f., 143–150, 153–161, 163 f., 166–169, 171– 175, 177 f., 180–183, 185 f., 188 f., 196 f., 199, 201–213, 215–222, 224–226, 229, 231–239, 242, 245–248

270

Sachregister

Findelehre 8, 151, 153, 193 Freundesbiographie, freundesbiographisch 172–175, 177, 185, 189–193, 195, 198, 200, 203 f., 234, 236, 249 Gedächtnis 9 f., 12, 21, 28, 79, 85–87, 94– 96, 98, 100, 103, 105, 108, 149, 155, 158 f., 160, 169, 180, 198, 213, 215, 218 f., 237, 248 Gedächtnisort 85–97, 104, 247 Gegenwartsroman 5, 7 Gemeinplatz, gemeinplätzig 9, 18, 32, 34, 37, 51, 78, 222, 225 f., 230, 243 Gemeinsinn 10, 12, 75, 85 f., 95, 98 f., 101, 103, 115 Genie, Genieästhetik, genieästhetisch 1, 3, 6, 19 f., 211 f., 215 Geschichtskultur 11, 87, 93, 236, 247 Gewebe 20, 40, 43 f., 73, 75, 243 Grazie 48, 50, 107 Groteske, grotesk 65, 105–107, 134, 139 Heuristik, kulturelle 10, 12, 17, 28–30, 239, 241 Ingenium, ingeniös 19 f., 23, 73, 154 Intrige 40–42, 139 Inventio 7 f., 12, 16, 20, 24, 57, 76–78, 84, 121, 139, 143, 145 f., 149, 151, 153, 156– 159, 161, 163–166, 168, 183, 185, 189, 191, 193, 195–197, 202, 204, 206, 211 f., 214 f., 218, 220, 225, 232–237, 239, 244, 247, 249 Iudicium 20, 24, 75, 77, 121, 154, 185, 188– 190, 192 f., 195 f., 203, 206, 211 Jurisprudenz, Jurist, juristisch 11, 20, 33, 143 f., 151, 161, 163 f., 166–168, 170 f., 178, 182, 233–235 Katalog(verfahren) 4, 9 f., 17–22, 25–27, 37, 74, 116, 120, 151 f., 154, 167, 193–196, 203, 211, 237, 242 Kombinatorik, kombinatorisch 4, 11, 13 f., 20, 42, 44, 58 f., 61, 65, 83, 120, 202, 236

Kontingenz, kontingent 134, 137, 141 f., 211, 222, 230, 240, 242, 244, 246 Lektüre, Lektüreszene 10, 20–22, 25, 37 f., 40, 44, 60, 72–75, 104–106, 109, 112– 115, 117, 119, 121–123, 125, 127, 134, 137, 139, 141 f., 145–148, 152, 158, 167, 170, 172, 175, 184 f., 201, 203, 206, 216, 219, 225, 232–236, 238–242, 245 f. Leser/-in, lesen 7, 10, 21 f., 25–27, 38 f., 42, 44, 46, 55, 58, 62, 65–70, 72–75, 80, 82, 92, 104, 106, 111–114, 118 f., 121 f., 139, 142, 144, 146 f., 156, 158–161, 166–170, 172, 174 f., 177, 179 f., 184, 186, 188, 199–201, 206, 209 f., 214, 218, 224–226, 232 f., 235 f., 288 f., 241 f., 245 f., 249 f. Line of beauty 45, 48–50, 61 f., 65 f., 68, 71, 76, 78, 82, 105, 107, 110, 116, 121 f., 124 Loci-Verfahren 7, 10, 19, 21, 25, 39, 56, 73, 75 f., 105, 120 f., 152, 167, 196, 235–237, 241 Loci communes 18, 21 f., 27, 36 f., 78, 84 Massenmedium, massenmedial 28, 61, 68 f., 92 Melodrama, melodramatisch 57, 71, 92, 122, 134, 136–142 Memoria 9 f., 12, 79, 87, 155, 189, 197 Metakommunikativ 110–112, 114, 131 f., 134 f. Mise en abyme 83, 106 f., 109, 118 Mnemotechnik, mnemotechnisch 9, 19, 28, 79, 87, 95, 197 f., 237 Modell, -modell, modelliert 2–5, 7, 24, 30, 50, 75, 79, 158 f., 164, 169, 177, 181– 186, 194, 197, 204 f., 218, 243 Moderne, modern 1 f., 5, 10, 14, 16, 55, 71, 155, 165, 209, 239, 243 Objektivität 2, 6, 210 f. Ornament/-ik, ornamental 27, 45–48, 52–55, 59, 61 f., 72, 78, 82 f., 95, 99, 107, 126, 235 Phantasie, Phantast, phantastisch 1–4, 7 f., 13, 19, 23, 41, 43, 58 f., 67, 93, 99, 115, 123, 131, 132, 170, 190, 195, 205, 211, 240

Sachregister

Plastik, -stizität, plastisch 46, 96, 111, 115– 117, 119–122, 219, 235, 239 Polyhistor/-ie, polyhistorisch 22 f., 151, 154, 156 f., 193, 220 Pragmatisch, Pragmatisierung, pragmatisiert 13, 36, 50 f., 122, 149, 157 Prosa, prosaisch 2, 12, 68, 80, 90, 92, 117, 123 f., 144, 155, 178 f., 209, 212, 249 Psychologie/-e, psychologisch 49, 51 f., 71, 81, 103, 107–109, 111 f., 139, 148, 159, 165 f., 218 Psychopathologie, psychopathologisch 122, 127, 137 Psychotherapie, psychotherapeutisch 110, 122, 131–133, 137 Quaestio 37, 72, 77, 84, 101 f., 115, 120, 141, 151 f., 235 f., 239, 241 Readymade 4 Realismus, realistisch 1–6, 11–13, 16, 28, 38, 41 f., 51, 53, 55, 59, 62, 67 f., 70, 73, 75 f., 79 f., 104, 116–119, 121, 127, 141– 143 149, 173, 190 f., 212 f., 220, 222, 233, 244, 249 f. Realismusprogrammatik/-er 6, 41 f., 117, 119, 213 Recht, rechtlich, Rechtsstreit, Rechtsprechung 17, 19, 26, 28, 38, 54, 57, 93, 101, 151, 153, 164, 166 f., 171, 175, 177 f., 182, 193, 205, 208, 218, 225, 229 Relektüre 104, 106, 109, 112, 114, 119, 123, 125, 147, 219, 225, 234 f., 242 Romanpoetik/-poetologisch 38 f., 76, 81, 123, 141 f., 239 Romantheorie 1, 38 Romantik, romantisch 1 f., 20, 42, 48, 56, 61 f., 68, 70–72, 116, 123, 161, 220 Schönheitslinie 44 f., 47, 49 f., 52, 58, 66, 78, 106, 109, 247 f. Schreibszene 146, 165, 184 Schriftsteller 2, 68, 71, 188, 261

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Sensus communis 8, 10–12, 16–18, 22, 27 f., 30, 33–35, 79, 87–90, 92, 100 f., 125, 150, 188, 203, 211 f., 235 f., 238, 241 Simulation 44, 116, 119, 122, 161 Sozialpsychologie, sozialpsychologisch 53, 122, 126, 129 Soziographie, soziographisch 39, 122, 124, 136, 236 Soziologie/-e, soziologisch 34, 49–52, 81, 107–109, 116, 120, 122, 165, 204, 244, 247, 249 Spracharbeit 72, 113 Sprachfindung 125, 129 f. Stereotyp/-ik, stereotyp 10 f., 32, 69, 92, 107, 122, 134, 139, 141, 194, 245 f. Stoff-Findung 1–8, 10–13, 19, 72, 75, 77, 79 f., 104 f., 119, 146, 150 f., 163, 166, 193, 211, 218, 231, 232, 233, 234 f., 237, 240 Techné 8, 10, 12, 16, 25, 31, 78, 84, 106, 153, 193, 197, 232, 239, 240, 241, 243 Textura 43 f., 50–52, 54 f., 66–68, 71, 73, 75, 80, 104, 112–117, 121–123, 139–141, 233, 236, 241, 250 Textualität, textualistisch 2, 44, 200, 246 Therapie, therapeutisch 102, 110, 122, 126, 128–137, 241, 245, 250 Trauma, traumatisch 125–130, 239 Typologie, typologisch 226–230, 238, 246 Völkerpsychologie/-e, völkerpsychologisch 53, 244, 246 Wissen(sgenerierung, -sammlung, -ordnung) 8–10, 14–16, 18, 21 f., 24– 28, 30 f., 51, 69 f., 72, 74, 77, 79, 89, 92, 96, 103, 111, 115 f., 118, 129, 141, 151–153, 156 f., 165 f., 183, 197, 204– 206, 211, 226, 231 f., 234–240, 242, 247 f. Zeugen, Zeugnisse, Zeugenschaft 85, 152, 157, 161 f., 164, 170 f., 187, 193, 195– 203, 206, 213, 215, 221, 224, 237, 241